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Full text of "Pädagogische Studien"

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Pädagogische 
Studien 


■9 


L 

3  1 


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Pädagogische  Studien. 

Neue  Folge. 


Gegründet 

Ton 

Professor  Dr.  W.  Rein. 


XXIX.  Jahrgaug. 


Herausgegeben 

von  Schutrat  Dr.  M.  Schillino, 

in  BocUitB. 


Dresdwn-Blasewitz. 
Ocrlag  von  Bkyl  *  Kaemmerer  (0.  S((Hirol»ad)). 

1908. 


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Jiil)alt$uerzejd)nis 

dts 

XXIX.  Jahrganges  (1908). 

 ^  

Ü.  mibandlungen. 

1.  M.  Srhiiltz,  11.18  (Ireifachc  rrobk-in  der  Willi>n;.fivibeit.    S.  1— 11. 

2.  Dr*  £•  Koiie,  Die  Eefonn  de«  aaturwiwenacbaftliciiea  üntemctits  im 
fllUihaischen  Seminar.  12— .Sl:  S.  98—121. 

S.  Pr.  K.  IVilk,  Nene  Rechennu  tliode,  gej^rtindet  auf  dag  natürliche  Werden 
der  Zablou  nnd  des  Kechneus.   S.  31— ö&;  S.  122—141;  S.  215—225. 

4.  Dr.  H.  Teltffe,  Die  Bedeutan^  nnd  Verwendnoup  de«  Zeielmen«  im  geo* 
sraiihischei)  Unterricht.   S.  5<i — 73. 

5.  €1.  Nitzschc,  Die  Erziehiuit?  scbwaohniuuijirer  Kinder  zur  Selbsttätigkeit. 
S.  81—98. 

H.  Dr.  H.  Zimmer.  I'i.'  Ilerbartfor-  limii;  im  Jiihn-  liK.)7.    S.  141  151). 

7.  K.  liCiipolt,  Reli^iuu  und  Kinheiitum  im  Leb^u  unserer  Kiudor.    S.  Ui  1-189. 

8.  1>.  HieroiiymaH,  HäuHliche  Kiudererziehung  in  der  Gegenwart.  8.  ISii^iüj!. 

9.  F.  Heider,  Die  ueiueitliclie  Dichtung  iu  der  Schale.  S.  202—215;  S.  292—303. 

10.  Dr.  M.  Sclillllug,  WaiMtsbildung  und  Interesse.  S.  241—263. 

11.  K.  Ehrhardt«   Die  Methode  des  modenien  erdkundlichen  üntcrrichts. 

12.  M.  IiOlMlen,  Psychogene«!»  nnd  PSdftgogik.  S.  381—841. 

i^.  J.  L.  Jetter,  Hoiniat  und  Unterricht.   S.  S41— 361;  S.  a»l-429. 
14.  Dr.  L.  tirimm,  Korpsgeist.  S.  385— 3i)l. 

B.  Kleinere  Betträfle  und  mmeilungen. 

I.  Fr.  Franko,  I'ber  E.  v.  .^iiHwürks  „Priuziiiien  und  Methoden  der  Erziehung" 
ttud  die  dritte  Auflage  der  „Didaktischen  ^tormalformeu^.  S.  73 — 78; 
S.  225-232. 

2.  J.  HonkOy  ProfeiiKnr  Bousset  über  Bibelforschung.   S.  232—234. 
8.  J.  ('olbnH,  Heimatkunde  im  Freien.  S.  304—310. 
4.  A.  I»letst8ih,  .Tutrendvereine.   8.  310—318. 
h.  Ferienkuree.   S.  318  :Uit. 

().  Fr.  Franke,  Bericht  über  die  4U.  Jithie.-,VLjsainiulnug  des  Vereins  filr 
^vis-ell^<  b^lttl^che  Pädagogik  in  Magdeburg:.   S.  362—366;   S.  4.%— 4:13. 

7.  P.  Marten,  Das  Schulwesen  in  Württemberg  1905|6.   S.  366— 3ß8. 

8.  P.  Marten,  Das  Volksschuhvosen  iu  Budapest.   S.  368—372. 

9.  Der  e]^t4^  internationale  Kougress  fUr  Moralpädagogik.   8.  372. 
lü.  J.  UoBke,  Die  sozialen  Utopien.  &  434—438. 

C  Beurteilunflen. 

1.  U.  Schreiber,  Niemand  kommt  znm  Vater,  denn  <liir<  Ii  mich.   S.  78— 7W. 

2.  .\.  (teyer.  Die  Wiederhol nnir  iiu  Unterrichte.   S.  79.  (Hempricb.) 

3.  J.  1«  Jetter.  Neue  Schulkuusi.    S.  79—80.  (Schilling.) 

4.  Hrettüchneider,  (iesohicbtliches  Hilfsbuch  für  Lehrer-  und  Lehrerlttiieiiseminare 
und  verwandte  liildungsanstaiten.  S.  159.  (Wagner.) 


—  m  — 

&.  BMmlrarv,  Die  Oeschiclite  ftr  Pritparandenaniitaltdii.  S.  9B5. 

6.  Ileinxe*Ro8eiiT)iirf?.  Die  Geschichte  für  Lehrorl)ililuii?rsim-;r;:lri  n    S.  235. 

7.  Heüue-Dagüfürde,  Die  Geschichte  iu  tabeüarlscher  l.bemckt.   ä.  23ö. 

8.  5e«1iatter-!S«yfert,  Lehrbuch  der  Geschichte  fttr  sSehsiMhe  BetÜBdiiileii  tind 

verwandte  Lehranstalten.   S.  236 — 236. 

9.  Karze,  Deatsche  (iesebichte.   ä.  23^. 

10.  Mogk,  Germanische  Mjthologi«.  8.  23^. 

11.  Meriüfer.  lh\^  dent«che  Hans  und  sein  Hausrat.   S.  236—237.  (Wagner.) 

12.  Dr.  S.  K.  Na>f«'U  Deutscher  Liiemturatlas.   S.  237. 

13.  A.  Otto,  .Iosi>|)h  Viktor  v.  Scheffel.   S.  237—238.  (Meinhold.) 

14.  F.  LekmeiiAiclü  Kerolieder  der  Kirche  iu  ätimrauugsbildern.  238. 
16.  Dr.  B.  Kotte,  Lehrbneh  der  Chemie.  8.  238—239.  (FreyO 

16.  Prof.  Dr.  A.  MflUer,  Wandtafeln  zur  £rklftning  der  Foraum  der  fird* 
oberdäcbe.  .s.  23».  (Schuue.) 

17.  O.  Hoiop,  Lehrbneb  der  dentachen  Literatur.  S.  819. 

18.  P.  Tesch,  Deutsch<>  Grammatik  für  FMparandeji,  Seminaristen  vnd  Lehror. 
S.  3iy— 320.  (Meiuboia.^ 

19.  Dr.  R.  WIekert,  Die  Pädafrogik  Scbleiermachen  in  ihrem  VerhUtnis  m 
seiner  Ethik.   S.  372-373. 

20.  ¥.  X.  Thalhofer,  Die  sexuelle  Pädag^ogik  bei  den  Philautrupen.  S.  37H— 374. 
^ritzschO 

21.  Dr.  H.  Komundt,  Kant»  Kritik  der  reinen  Vemitttft  abgekilrst  auf  Qrond 

ihrer  Entsteliuu&rMi^eschichte.   S.  374. 

22.  Dr.  H.  Ronuindt,  Dt  r  l'rnf.ssoreukant.   S.  374-376. 

23.  L.  dloldschmidty  Kantä  „Privatmeinnugen"  Aber  das  Jenseits  and  Die 
K«nt*Aus|rabe  der  köuigl.  preossisdien  Akademie  der  Wissensehaften.  S.  376. 

34.  L.  Gold»ebniIdt,  T^auniannä  Anti-Kant    8.  376—370 

25.  L.  Uoldsehniidt,  Kant  und  Haeckel.  Freiheit  und  Notwendigkeit.  376. 
(Grimm.l 

26.  Prof.  Dr.  .1.  Weiss,  Die  Schriften  des  Nenen  Testaments.  S.  376—377. 

27.  F.  Schiele,  Religion  und  Schale.   S.  377. 

28.  Dr.  H.  Meltxer,  Geschichtlieher  Belisions-Unterricht.  s.  377—378. 

29.  Dr.  R.  Stande,  Piiiiiarationen  im  den  biblischen  Geschichten  des  Neuen 
Testaments.   S.  37h— vi79. 

dl>.  Prof.  Dr.  E.  Thrindorf  iin<l  Dr.  H.  Meltaer,  Der  Pro]»bedsmtts  ond  das 
nachexilische  .Judentum.   8.  379. 

31.  Dr.  F.  Kesa,   Die  Propheten.  S.  379. 

32.  Prof.  Dr.  thrgndorf  und   Dr.  Meltier,  Die  Geschichte  Isntels  Ton 

Moses  bis  Elias.  8.  379—380. 

33.  Prof.  Klein,  Biblische  OeseMehte  fttr  die  Mittel-  nnd  Oberstufe.  8.  380. 
G.  Krauf,  Materialien  für  den  genetischen  Relii>'i«iis-T'nterrieht,    S.  380— .381. 

3ö.  K.  Kabisch,  Religions-Buch  für  evangeliäche  Lehrer-  und  Lehreiinnen$;eminare 
und  Pniparaudcnanstalten.   S,  381—382. 

36.  K.  Lötz-sch.  Gemeinsame  .^ehnle  filr  beide  Geschlechter.    S.  .W.    i  Lntzsch.) 

37.  H.  Suauutn,  Prsiparatioiieii    fiir  ilen  evaiigeU.scheu  Keligions- Linierricht. 
S.  382—383.  (Grabs.) 

38.  Th.  Franke,  l'rakti^rhes  Lelirljiicli  der  dent8chen  Rechtschreibung. 

•  lers.  I'nifende  Satzdiktute  über  alle  rechtschreiblichen  J^^chwierigkeiten. 
Heutsrhe  Sprachlehre.   S.  438  440. 
3*J.  Hieger  &  Wohlrabe,  Fibel  fttr  den  ersten  Unterricht  im  Deutschen,  8.  440. 

40.  Born  k  Kranx,  Fibel.  S.  440. 

41.  F*  Ilollkumm,  Lüben  und  Nackes  Lfötebueb:  Übel.  S.  440. 
—  Die  Muttersprache.  S.  440—443. 

42.  H.  Kasto»;  LoWn  und  Naekes  Lesebuch.  8.  443—444.  (Franke.) 

43.  I.nn?.  1  He  TMbnik  der  Feder,  der  Weg  der  Schreiblehrkiinit  8. 444—445. 

(Scbauberger.) 

44.  Prof.  Dr.  F.AnerbMh»  Die  Gmndbegnffe  der  modernen  Natorlehie.  8.446. 


206848 


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45.  Prof.  Dr.  S.  Oupenbeini,  Da,-«  astroiioroisclie  Weltbild  iiu  Wandel  der  Zeit. 

8.  446-447.  (Wlnlcler.) 
4H.  P.  XRtorp,  (^«sRmmelte  .^.bhandlun^eu  znr  Sozial))äda^^k.   8.  447 — 449. 

47.  F.  Meyernok.  Erkenntnisbeirnff  nnd  Erkeniitniserwerb.  449. 

48.  Dr.  W.  Ostermanii,  I';is  Intoress'-  mi  1 

id.  A.  Walseiuaun,  Dbü  Interesse.  £>.  4411—400. 

50.  Dr.  P.  Vofel,  Fiebtet  pbilowpMsch-pädaj^ügisehe  Ansiebten  in  ihrem  Yer- 

bältni    '11  Pestalozzi.    S.  450.  {Sr-hilliiiii:.) 

51.  O.  Hügel,  Herbart«  Lebxeu  und  Leben.  8.  450—461.  (Thrändoil) 
28.  dl.  €hnib«ry  WirtMbftftIteh«  £rdknnde.  8.  451. 

53.  A.  Klelnschmldt,  Pi'  t'f^ntrrnyhi^rben  Gmndbegriffe.   S.  451—452. 

54.  A.  Oppel,  Landeskuiuie  d«s  biuiscben  Nordamerika.   S.  452. 

55.  W  .  l  hie,  Alfred  Kirchhoff.   S.  468. 

56.  H.  Uscher,  SchulatlftÄ  für  AnfaiiL'-njiterriolit  und  Mittelstufen.  S. 452^45H. 

57.  rt  oi.  Dr.  F.  Umlaaft,  Deutsche  Rundschan  für  Geographie  und  Statistik. 
S.  453.  (Zemmrich.) 

58.  6.  Friese,  Die  Technik  des  Zeichenunterricht«.  S.  453 — lö4. 
öü.  K.  Mangold,  Zeichnen  und  Zeidienunterricht.  8.  454. 

00.  O.  Uppminiif  Zeicbengerftte  nu4  Lehmittei.  8.  4ö4.  (Hftder.) 


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A.  jlbliamdliiiigei. 

L 

Das  dreitelM  ProbiM  der  WHIentfroilieit 

Von  Max  Schultz  in  Berlin. 

Welches  sind  die  wichtigsten  Probleme  der  Philosophie? 

Ein  Fachgelehrter  wird  vielleicht  auf  die  grundlegenden  Fragen 
der  PhiloBoptüe,  auf  die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Substanz  und 
des  Absoluten,  auf  die  Frage  nach  der  Veränderung  oder  nach  dem 
Zusammenhang  des  Seienden  mit  dem  Gegebenen  hinweisen.  Für 
den  Laien,  der  bei  seinen  philosophischen  Betrachtungen  dem  inneren 
Trieb  folgt  und  sich  mit  seinem  natürUchen  Verstand  an  die  grossen 
Ratsei  des  Lebens  wagt,  werden  einige  bedeutungsschwere  Fragen, 
die  schon  von  Anbeginn  die  Menschen  beschäftigt  haben,  die 
wichtigsten  Aufgaben  der  Philosophie  erscheinen:  Gibt  es  eine  Un- 
sterblichkeit der  Seele?  Gibt  es  einen  Gott,  der  transzendent  die 
Welt  regiert?  Wie  ist  es  um  die  eigene  Freiheit,  die  Freiheit  der 
Entscheidung  für  gut  und  böse^  Diese  Fragen  haben  itlr  jeden 
denkenden  Menschen  die  höchste  Bedeutung  und  haben  von  jdier 
die  Menschen  zu  philosophischen  Untersuchungen  angeregt. 

Die  Frage  nach  der  Willensfreiheit  ist  von  einschneidender 
Bedeutung  in  vielen  Lebensfragen.  Vor  allem  interessiert  sie  den 
Päda^gen,  dessen  Tätigkeit  doch  nur  beim  Determinismus  Sinn 
und  ^weclc  hat.  Der  Jurist  gelangt  zu  ganz  verschiedenen  An- 
schauungen  über  die  Bedeutung  des  Strafrechts  je  nach  dem  Stand- 
punkt, den  er  zu  dieser  philosophischen  Grundfrage  einnimmt. 
Selbst  im  praktischen  Leben  mag  es  vorkommen,  dass  man  sich 
auf  seine  philosophischen  Ansichten  über  diese  Streitfrage  beruft, 
wenn  man  einen  Entschluss,  den  man  zwar  gern,  aber  doch  mit 
inneren  Bedenken  gefasst  hat;  vor  sich  selbst  beschön^;en  und  ver- 
teidigen will. 

Es  ist  eine  bekaimte  Wahrheit,  dass  man  das  glaubt,  was  man 
wünscht.  Dieser  Umstand  erklärt  es  auch  zum  TeU,  dass  bei  den 


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—    2  — 


philosophischen  Grundfrajyen  vielleicht  niemals  unter  den  Mensclicn 
Einstimmigkeit  erzielt  werden  wird  und  es  wenigstens  bei  einer 
Verschiedenheit  der  Meinungen  bleibt,  da  viele  oder  vielleicht  gar 
die  mosten  Mensdien  ihre  Weltanschaiiung  nicht  allein  mit  dem 
Verstände»  sondern  hauptsächlich  mit  dem  Gefühle  aufbauen,  eben 
das  glauben,  was  sie  wünschen,  was  ihrer  Gemütsanla<^e  am  meisten 
zusagt.  Auch  in  der  Krage  nach  der  Willensfreiheit  wird  vielleicht 
deswegen  so  schwer  Einigkeit  erzielt,  weil  so  viele  sich  durch 
Urteile  Ober  den  Wert  jder  Willensfreiheit  bestimmen  lassen  und 
für  kühle,  unbefangene  Überlegungen  bei  dieser  wichtigen,  tief  ein- 
schneidenden Frage  nicht  zugänglich  sind. 

Vielleicht  empfiehlt  es  sich  bei  der  Frage  nach  der  Willens- 
freiheit streng  zu  unterscheiden  zwischen  dem  theoretischen  und 
dem  praktischen  Ftoblem.  Die  Unabhängigkeit  der  Ethik  von  der 
theoretischen  Philosophie,  die  sowohl  für  den  besonnenen  Aufbau 
der  ethischen  Grundgedanken  wie  auch  für  die  Entwicklung  einer 
theoretischen  Weltanschauung  so  nützlich  ist,  wird  auch  hier  sicher 
von  Vorteil  sein. 

Die  Frage  nach  der  Willensfreiheit  ist  zunächst  ein  Problem 
der  theoretischen  Philosophie;  die  Bedeutung  des  Determinismus, 
bezw.  des  Indeterminismus  für  unser  Handeln  und  für  die  ethische 
Beurteilung  ist  alsdann  Gegenstand  einer  besonderen,  selbständigen 
Untersuchung.  Das  Problem  der  Willensfreiheit  als  Aufgabe  der 
theoretischen  Philosophie  gehört  sowohl  der  Metaphysik  wie  auch 
der  Psychologie  an.  Eine  definitive  Entscheidung  kann  nur  die 
Metaphysik  treffen,  obgleich  es  sich  um  die  Genesis  eines  seelischen 
Zustandes,  nämlich  des  Willens,  also  um  ein  Problem  der  Psycho- 
logie handelt;  denn  da  durch  Beobachtung  und  Erfahrung  allein  die 
Frage  wohl  kaum  gelöst  werden  kann,  so  muss  man  von  meta- 
physischen  Prinzipien  ausgehen,  wenn  man  in  dieser  Kontroverse 
zu  einem  bestimmten  Standpunkt  gelangen  will.  Wir  werden  indes 
sehen,  dass  trotzdem  auch  für  die  Psychologie  ein  eigenes,  selb- 
ständiges Problem  bleiben  wird. 

h 

Das  mlapliyilNiM  ProUtn. 

Für  die  Metaphysik  ist  das  Problem  der  Willensfreiheit  nur  em 
besonderer  Fall  der  Frage  einer  kontinuierlichen  Kausalität   Ist  das 

Gesetz  der  Kausalität  allgemein  gültig  oder  ist  unter  Umständen 
ein  spontanes,  durch  nichts  bedingtes  Geschehen  möglich?  Werden 
Widerspruch,  der  im  absoluten  Werden  liegt,  nicht  einsieht,  wird 
auch  kein  Bedenken  tragen,  einen  freien  Wülen  in  metaphysischem 
Sinne  anzunehmen.  Umgekehrt  ist  für  den  Philosophen,  der  an 
einer  ausnahmslosen  Gül^keit  des  Kausalgesetzes  festhält,  ein  un- 


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—  3  ~ 


moüviertes,  rem  vUlkürficfaes  Wollen  eine  völlige  Absurdität,  ihre 
Widerlegung  ergibt  skih  ihm  von  selbst 

Nun  gehört  zwar  die  Kausalität  xu  den  menschlichen  Denk- 
formen und  man  konnte  einwenden ,  wir  hätten  kein  Recht  zu  der 
Behauptung,  dass  die  Wirklichkeit  sich  nach  unscrn  subjektiven 
Denkformen  richten  müsse.  Indes  hat  ein  solches  Argument  keinen 
Sinn;  denn  da  -mr  uns  nun  einmal  weder  eine  raumlose  Welt  noch 
eine  Welt  ohne  kausalen  Zusammenhang  der  Vorgänge  denken 
können,  so  sinci  snlrhc  Finwände  müssige  Phantasien,  und  wer  eine 
derartig  gestaitcii  \\ dt  für  real  und  möglich  hält,  ist  ein  Phantast 
ohne  Anspruch  daraul,  ernst  genommen  zu  werden.^)  Auch  wird 
die  Aprioritat  der  Kausalität  wie  die  der  übrigen  Kategorien 
durchaus  nicht  allgemein  anericannt;  die  neuere  Psychologie  be- 
streitet fast  einstimmig,  dass  die  Kategorien  angeboren  sind;  sie 
hat  demnach  die  Aufgabe,  die  Entstehung  der  Anschauungs-  und 
Denkformen  zu  erklären.  Nun  könnte  umgekehrt  auch  daraus,  dass 
die  Kausalität  von  der  Psychologie  genetisch  gedeutet  werden  kann, 
uns  das  Recht  bestritten  werden,  die  Kausalität  als  ausnahmslos 
geltendes  Geset?:  anzusehen.  Darauf  ist  zu  erwidern,  dass  zwar  die 
kausale  Auffassung  der  Dinge  nichts  Apriorisches  ist,  sonticrri  all- 
mählich entsteht,  indem  wir  durch  Induktion  die  Erkenntnis  erlangen, 
wie  immer  ein  Ereignis  dem  andern  voraufgeht,  und  demnach  an- 
nehmen, dass  ein  Ereignis  das  andere  bedingt  Femer  ist  zuzugeben, 
dass  jede  durch  Induktion  und  Empirie  gewonnene  Erkenntnis  durch 
eine  neue  Erfahrung  umgestosscn  werden  kann.  Unsere  metaphy- 
sische Überzeugung  von  der  Allgemeingültigkcit  des  Kausalgesetzes 
beruht  aber  niäit  auf  dieser  durdi  Induktion  gewonnenen  Erkenntnis 
(im  Grunde  beobachten  wir  nur  die  Aufeinanderfolge  der  Ereignisse, 
nicht  ihre  kausale  Bedingtheit],  sondern  auf  der  theoretischen  Über- 
legung, dass  ein  tieschehen  ohne  Ursache  ein  unerträghcher  Wider- 
spruch ist.  a  kann  nicht  von  selbst  zu  b  werden,  es  muss  vielmehr  c, 
nämlich  die  Ursache,  hinzukommen.  Übrigens  wird  das  absolute 
Werden  in  seiner  krassen  Form  wohl  kaum  noch  v  i  Philosophen 
angenommen  und  verteidigt;  jede  P^orschung,  jede  Erkenntnis  hört 
eben  bei  diesem  Standpunkt  auf,  jede  Wissenschaft  wird  zum  Nonsens. 

Die  Verteidiger  des  Indeterminismus  berufen  sich  wohl  dnnuf, 
dass  doch  die  Reihe  der  Ereignisse,  von  denen  eins  immer  die 
Folge  des  andern  ist,  einen  Anfang  haben  muss,  dass  ein  erstes 
Friimp  vorhanden  gewesen  sein  muss,  das  spontan  gewirict  hat. 

^)  Die  Welt  der  Dinge  an  sich"  hat  für  uns  doch  nur  Interesse ,  weil  sie  auf 
uas  trirktf  weil  wir  die  Welt  der  Vontdliiogea  in  um  fllr  ein  Abbild  der  realen  Welt 

hallen  und  -weil  nnsrrc  Stclr  al>  fin  rralrs  Wrsrn  selbst  zu  den  „Dingen  an  sich" 
gehurt.  5oli  nun  für  die  , Dinge  .in  sich"  das  Kausalgesetz  nicht  gelten,  so  dürfen  wir 
auch  nicht  mehr  behaupten,  dass  die  „Dinge  an  aich**  rnfttas  wirken;  dieselben  werden 
dadurch  für  uns  zu  bedeutungslosen  Phantomen,  die  nni  im  Gninde  weiter  nichts  an- 
gehen.   Das  Resultat  ist  schliesslich  der  Solipsismus. 

1» 


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Indem  sie  glauben,  dass  ihnen  dies  zugestanden  werden  muss» 

meinen  sie  mit  demselben  Recht  für  jedes  Glied  die  Spontaneität 
fordern  zu  dürfen,  damit  also  auch  für  jedes  Individuum  das  Ver- 
mögen ,  sich  frei  zu  entschliessen.  Die  Widerlegung  ist  eigentlich 
schon  mit  obiger  Darstellung  gegeben.  Wenn  man  in  Konsequenz 
dieses  Standpunktes  jedem  Gfiede  die  Spontaneität  zuspricht,  so  ist 
damit  das  tollste  Tohuwabohu  gegeben,  ein  absolutes  Werden  in 
der  höchsten  Potenz.  Wenn  sich  in  der  Natur  Gesetzmässigkeit  zu 
offenbaren  scheint,  so  ist  dies  nur  Zufall  und  Täuschung.  Gewiss 
muss  die  Reihe  der  ursäclilich  bedingten  Glieder  einmal  einen 
Anfang  genommen  haben;  am  Adang  darf  aber  nicht  das  absolute 
Werden  stehen.  Die  Schwierigkeiten  kann  man  nur  lösen,  wenn 
man  den  Standpunkt  des  Monismus  aufgibt  und  eine  Mehrheit  von 
selbständigen  realen  Weesen  annimmt,  die  durch  ihr  Zusammen- 
treffen und  durch  die  mannigfaltigen  Wirkungen,  die  sie  hierbei 
aufeinander  ausüben,  die  unendBdi  zusammengesetzten  Erscheinungen 
des  Lebens  bewirkt  haben.  Das  dnzelne  Wesen  wirkt  dabei  nidit 
spontan,  sondern  es  müssen  wenigstens  zwei  Reale  sich  gegenseitig 
bestimmen,  wenn  daraus  eine  Veränderung,  irgend  ein  Vorgang 
resultieren  soll. 

Selbst  in  die  abstrakten  Untersuchungen  der  Metaphysik  mischt 
sich  der  Grundsatz,  dass  man  das  zu  beweisen  sucht,  was  man 

wünscht,  und  darum  verstandesmässige  Schlussfolgerungen  mit  Wert- 
urteilen zu  widerlegen  sucht.  Mancher  \  erwirft  den  Determinismus, 
weil  er  aUes  auf  Ursache  und  Wirkung  zurückführt  und  demnach 
mechanisch  erklärt;  man  will  aber  den  Mechanismus  nur  in 
den  Naturwissenschaften,  nicht  im  Leben  des  Geistes  gelten  lassen. 
Das  Wort  „Mechanismus"  darf  uns  indes  nicht  erschrecken;  es  gilt 
von  demselben  ebenso  wie  von  dem  Wort  ,. Freiheit",  dass  es  in 
der  Sprache  in  verschiedenem  Sinne  gebraucht  wird.^)  Wir  be- 
kennen uns  keineswegs  zu  jener  „mechanischen''  und  „materialisti' 
sehen"  Weltanschauung,  die  auch  das  geistige  Geschehen  aus 
Bewegungen  der  Materie  ableiten  will.  Der  Materialismus  als  Welt- 
anschauung wird  heute  selbst  von  den  Vertretern  der  Nat  irwissen- 
schaft  wohl  fast  allgemein  abgelehnt;  vor  dem  strengen  I^orum  der 
Philosophie  hat  er  nie  bestehen  können.  „Mechanisch"  muss 
aber  jede  Weltanschauung  sein  in  dem  Sinne,  dass  die  Erklärung 
einer  Tatsache  auch  in  den  „Geisteswissenschaften"  nur  darin  be- 
stehen kann,  c!ass  eine  Folge  auf  ihren  Grund  zurückgeführt  wird. 
Der  Indetenninist,  der  dies  für  den  Willen  nicht  zugeben  will,  stellt 
ach  damit  ausser  den  Bereich  der  Gesetzmässigkeit  und  erhebt  den 
Zufall  zum  Prinzip ;  es  ist  unmöglich,  mit  ihm  weiter  in  verständiger 
Webe  nach  den  Gesetzen  der  Logik  zu  diskutieren. 


>)  Im  dritten  Teile  wird  ausgeführt  werden,  dus  wir  in  gewissem  Sinne  anch  dcft 
sprachlichen  Ausdruck  „Der  Mensch  ist  frei  geboren"  akzeptieren  können. 


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—    5  — 


Du  psychologlMiM  ProMlM. 

Der  Streit  zwischen  Determinismus  und  Indeterminismus  kann 
im  Grninde  nur  von  der  Metaphysik  entschieden  werden;  absolute 
Willensfreiheit  ist  ein  Unding,  sie  dem  Kausafitätsgesetz  wider- 
spricht. Es  bleibt  aber  auch  für  den  Deterministen  noch  ein 
psychologisches  Problem:  Woher  kommt  dor  Schein  der 
Willensfreiheit?  Denn  ein  solcher  Schein  besieht j  sonst  hätte 
der  ganze  Streit  nicht  entbrennen  können. 

In  den  meisten  Fällen  sind  wir  uns  der  Motive  unserer  Hand> 
lungen  bewusst;  wir  können  sogar  bei  andern  im  voraus  angeben, 
wie  sie  in  gewissen  Fällen  handeln  werden,  wenn  wir  die  Motive 
kennen,  durch  die  sie  sich  gewöhnlich  bestimmen  lassen.  In 
manchen  Fällen  scheint  es  freilich  ganz  in  unserm  Belieben  zu 
liegen,  ob  wir  uns  so  oder  so  entscheiden  wollen,  ob  wir  etwa  in 
einer  GeseUschaft  noch  länger  verweilen  oder  dieselbe  verlassen 
wollen,  ob  wir  in  der  Lage  des  hcriihmien  Esels  das  rechte  oder 
das  Unke  Heubündel  wählen.  Liegen  diese  Handlungen  nicht  völlig 
in  unserm  Belieben?  Können  wir  nicht  nach  Willkür  bei  unsern 
Handlungen  die  Ratschläge  des  Verstandes  beachten  oder  Über- 
hören? Mitunter  erscheinen  uns  selbst  am  andern  Tage  unsere 
Handlungen  rätselhaft  und  unbegreiflich.  Wie  kamrn  wir  zu  jenem 
trotzigen  Wort,  zu  jener  unüberlegten  Tat?  Solche  Erfahrungen 
und  Beobachtungen  können  wohl  zu  dem  Glauben  an  einen  freien, 
durch  nichts  botimmten,  selbständig  und  unbeeinflusst  sich  ent- 
sdiliessenden  Willen  föhren. 

Jene  Ansicht  einer  spontanen  Freiheit  des  Willens  ist  indes 
unhaltbar;  es  ist  erster  Grundsatz  aller  verständigen  Weltbetrachtung, 
dass  jede  Erscheinung,  also  auch  jeder  Willensentschluss  auf  eine 
Ursache  zurückgeführt  werden  muss.  Nun  ist  aber  unser  Ich,  die 
Summe  der  Vorstellungen  und  GrefÜhle,  die  unser  geistiges  Leben 
ausmachen,  ausserordehtlich  zusammengesetzt,  „ein  Kosmos  im 
Kleinen",  wie  man  es  mit  Recht  bezeichnet  hat  Die  „Enge  des 
Bewusstseins"  verbirgt  uns  gewöhnlich  diese  Tatsache;  sie  verhüllt 
den  grossen  Reiehtum  unserer  geistigen  Welt  da  zur  Zeit  immer 
mu  wenig  VorsteDtu^ren  klar  bewusst  sein  können.  Es  werden  ja 
in  der  Regel  diejenigen  Vorstellungen  unser  Handehi  am  meisten 
beeinflussen,  die  gerade  auf  der  Stufe  der  Klarheit  in  unserm  Bc- 
wusstsein  sich  befinden.  Nun  sind  aber  die  zahlreichen  Vorstellungen 
in  der  mannigfaltigsten  Weise  miteinander  veiflochten  nach  dem 
Gesetz  der  assoziativen  Verwandtschaft;  eine  VonU^ung  weckt  und 
reproduziert  tausend  andere,  wenn  nicht  etwa  neue  Anregungen 
hemmend  in  dies  Spiel  der  Vorstellungen  eingreifen.  Unsere  Willens- 
entschlü^e  sind  nun  nicht  etwa  nur  durch  die  wenigen  Vorstellungen 


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—  6  — 


bedingt,  die  wir  klar  bewusst  haben,  sondern  aucii  durch  die 
Übrigen  zahlreichen  Vorstellungen,  die  gewissermassen  unter  der 
Decke  des  Bcwusstseins  schlummern.  Diese  latenten  Vorstdltingen 
greifen  mittelbar,  nämlich  durch  ihre  Konstellation,  mitbestimmend 
ein  und  können  Kinfliiss  auf  unsere  Entschlüsse  ausüben.  Da  wir 
die  i  uile  dieser  Faktoren,  die  für  die  Entstehung  unserer  liand- 
luogen  bedeutsam  sein  können,  nicht  immer  klar  zu  überschauen 
vermögen,  entsteht  der  Schein  der  Freiheit  und  Willkür,  der  häufig 
unsern  Taten  und  Handlungen  anhaftet.  Durch  die  Mitwirkung  der 
latenten  Vürstelhingen  erklärt  es  sich  auch  leicht,  dass  wir  oft 
nachträglich  über  die  von  uns  begangenen  Handlungen  selbst  am 
meisten  erstaunt  sind  und  über  unser  seltsames  Verhalten,  das  wir 
bei  irgend  einer  Gelegenheit  gezeigt  haben,  verwundert  den  eigenen 
Kopf  schütteln. 

P.s  ist  ferner  Aufgabe  der  Psychologie,  zu  zeigen,  welche  Be- 
deutung den  einzelnen  Faktoren  des  Seelenlebens  bei  der  Ent- 
stehung des  Willens  zukommt  Es  herrscht  hier  noch  lange  keine 
Einstimmigkeit  unter  den  Fachgelehrten;  entscheidend  ist  dabei 

nicht  nur  die  einzelne  Beobachtung,  sondern  vielleicht  noch  mehr 
fwenn's  auch  nicht  immer  ein^^estandcn  wird),  der  allgemeine  Stand- 
punkt, den  der  Forscher  einnimmt,  ob  er  l.  B.  einen  aktuellen  oder 
einen  substantiellen  SeelenbegrÜT  annimmt  Geht  der  Weg  zum 
Willen  durch  das  Gefühl  oder  durch  die  Vorstellungen?  Wer  hat 
überhaupt  die  Kraft,  die  Vorstellung  oder  die  Seele.'  Wovon  sind 
Stärke  und  Gfiihlston  der  Vorstellungen  abhängig?  Auch  Hie  Be- 
deutung somatischer  Einflüsse  muss  berücksichtig  werden,  namentlich 
bei  pathologischen  Erscheinungen.  Femer:  Wie  kommen  die  Be- 
wegungen des  Körpers  zu  Stande,  durch  welche  wir  in  zweck- 
mässiger Weise  unser  Wollen  realisieren  ?  Man  lic  l  irf  zur  Krklärung 
der  Annahme  besonderer  Bewe<:,rung[svorstellungen ,  von  denen 
vielleicht  noch  die  Bewegungsempfindungen  (Muskelgefiihle)  zu 
unterscheiden  sind.  AUe  diese  Untersuchungen  Ober  die  Ent- 
stehung der  Wiüenshandlungen  werden  noch  dadurch  erschwert, 
dass  die  Forscher  oft  in  der  Terminologie  \  nn einander  abweichen, 
z.  B.  nicht  immer  den  Willen  im  engern  Sinne  vom  Begehren 
unterscheiden  und  nicht  berücksichtigen,  dass  der  Wille  den 
subjektiven  Glauben  an  die  Ausf&hrbarkeit  als  notwendiges  Er- 
fordernis zur  Voraussetzung  hat  —  Es  sind  dies  aUes  spezielle 
Probleme  der  Psychologie;  sie  berühren  nicht  die  grosse  Hauptfrage, 
deren  Lösung  Aufgabe  der  Metaphysik  ist,  ob  überliaupt  eine 
Bestimmung  durch  Motive  stattfindet  oder  der  Wille  spontan 
auftritt. 

Es  sei  hier  zum  Schluss  noch  ein  wichtiger  Einwand  erörtert. 

Wir  müssen  dem  Indeterminismus  vorwerfen,  dass  bei  dirsrm  Stand- 
punkt eine  Bestimmung  des  Willens,  also  auch  eine  Erziehung  der 
Menschen  unmögUch  ist.    Könnte  auch  umgekehrt  der  Indcterminist 


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—  7  — 


dem  Determuusnius  seine  pädagogische  Unfruchtbarkeit  vorhalten? 
Wie  ist  z.  B.  dne  Selbsteriiehung  des  Menschen  möglich,  da  dodi 
alle  seelischen  Vorgänge  kausal  bestimmt,  also  dem  Mechanismus 
unterworfen  sind?  Wie  kann  ein  „Mechanismus"  sich  selbst  be- 
stimmten? Wäre  dies  nicht  so  widersinnig'  wie  ein  Uhrwerk,  das 
sein  eigener  Uhrmacher  ist  und  etwaige  Beschädigungen  selbst  aus- 
bessert?') Wenn  im  Leben  eines  Menschen  etwas  vorkommt,  das 
wie  Selbsterziehung  aussieht,  so  würde  dies,  wenn  dieser  Einwand 
richtig  wäre,  nur  ein  bedeutungsloser  Zufall  sein,  eine  Folge  der 
glückUdien  Konstellation  der  VorsteUuogen  bei  jenem  Menschen. 

Nun  ist  zunächst  zuziij^eben,  dass  die  Selbsterziehun^  ein 
schweres  Ding  ist,  das  nicht  einem  jeden  gcHngt,  wie  ja  auch  nicht 
jeder  zur  Erziehung  anderer  bciaiiigt  ist.  Dennoch  ist  die 
M^Ikhkeit  der  Ernefaung  wie  auch  der  Selbsterziehung  leicht  ein- 
zusehen. Es  handelt  sich  hier  um  einen  ähnlichen  Fall  wie  bd 
einem  Eingriff  in  die  Nntiir,  in  die  Aussenwelt.  Auch  die  Natur 
ist  in  allen  Stücken  dem  Kausalgesetz  unterworfen,  und  es  gibt  von 
seiner  Herrschaft  nirgends  eine  Ausnahme.  Doch  schon  ein  Kind, 
das  einen  Stein  wirft,  ja  schon  ein  Hund,  der  eine  Tür  öffnet,  ver- 
steht  die  Kunst,  die  Natur  in  seinen  Dienst  zu  stellen.  Das  Kind, 
das  den  Stein  wirft,  hebt  keineswegs  das  Naturgesetz  der  Schwer- 
kraft auf;  der  Wurf  des  Steines  ist  nicht  nur  heding^t  durch  die 
Kraft,  die  der  schwingende  Arm  aul  den  Stein  ubertragt,  sondern 
auch  durch  die  Anziebungiskraft  der  Erde  Das  Kind  kennt  aus 
Er&hnine  die  Bahn  des  geworfenen  Steines  und  weiss  Nutzen  aus 
seinem  Wissen  zu  ziehen.  Der  Mann,  der  die  Gesetze  der  Natur 
genauer  erforscht  hat,  kann  mit  Hillr  (Irr  Elektrizität  SOgar  den 
Stein  bcwegcfi,  der  mcilc':iv,'cit.  cnticrnt  ist. 

Ahnlich  ist  es  mit  der  Erziehung,  mit  dem  bewussten  Eingrifl' 
in  das  Seelenleben  eines  andern.  A^>raussetsung  ist,  dass  man  die 

Gesetze  des  Seelenlebens  kennt;  das  Fundament  der  Pädagogik  ist 
die  Psychologie.  Dies  psychologische  Wissen  braucht  durchaus 
kein  Gelehrtentum  zu  sein;  auch  Völker  auf  niedriger  Kulturstufe 
kennen  aus  Erfahrung  die  einfachsten  seelischen  Vorgänge  und 


')  Es  SCI  hier  in  c'.r.rr  Anmerkung  gleich  die  Bemerkung  gestattet,  dass  auch  diese 
Annahme  nicbl  gaoz  widcrsiDoig  ist.  Jeder  Organismus  ist  für  die  Zeit  seines  Lebens 
dne  loldie  Ihi^be.  NatSrlich  stdlt  «in  mIcIms  Ulmrerk,  4ia  etwaige  Beichl<B|pingeit 
selbst  ausbessert,  ein  hohes  Kunstwerk  dar,  wie  ja  nr.  -h  .-die  mit  Leben  begabten  Wesen, 
selbst  ein  eioselliges  Protoplasmatiercben ,  in  der  \  ulikümmenheit  ihres  inneren  Baues 
alle  Werke  menschlicher  Kunstfertigkeit  weit  übertreffen.  Wir  können  uns  aucb  gar 
wohl  eine  vom  Menschen  konstruierte  Maschine  denken .  die  etwaige  Beschädigungen, 
die  häutig  vorkommen,  selbst  ausbessert,  wu  für  solche  Falle  Reserveteile,  die  alsdann 
in  Funktion  Uvten,  vorgesehen  sind.  —  Ein  wichtiger  Unterschied  besteht  zwischen 
einena  Wesen  tob  menschlicher  VoUkommeoheil  und  einer  Maschine  oder  dem  vegetai> 
ttven  S^em  etnn  Organismus:  leutere  beiden  verdanken  die  VoUkommenhett  ihm 
inneren  Baues  nicht  der  eigenen  Intellifens;  ibaen  feUen  Empfindmig,  DenkvcnnOgea 
und  damit. auch  —  Selbstbestimniing. 


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—   8  — 


wenden  in  der  Erziehung  dieselben  fast  unbewusst  an,  sei  es  auch 
nur»  dass  einer  die  Eraiehungsmethode  des  andern  mechanisch 

nachahmt.  Je  weiter  die  p^chologischen  Kenntnisse  entwickelt 
sind,  desto  reicher  ist  natürlich  auch  der  Nutzen,  den  die  Erziehungs- 
kunst hiervon  hat  Auch  die  Selbsterziehung  hat  zur  Voraussetzung 
ein  Verständnis  der  seelischen  Vorgänge,  die  unser  Tun  und 
Handeln  bedingea  Wer  über  sein  Seelenleben  nachgedacht  hat, 
kann  sich  vielleicht  selbst  von  einem  Laster  heilen.  Man  weade 
nicht  ein,  dass  Erkenntnis  der  Fehler  nicht  ausreicht,  sondern  vor 
allem  grosse  Energie  nötig  ist,  wenn  man  ein  Laster  ablegen  will. 
Gewiss  kann  eine  Kraft  nicht  aus  Nichts  geschaffen  werden,  und 
der  gute  Vorsatz  allein  reicht  nicht  aus,  wenn  die  Willenskraft  fehlt 
Nachdenken  und  Obeil^ung  lässt  aber  vielleicht  ein  Mittel  finden, 
wodurch  der  Willensschwache  die  Kraft  erlangen  kann,  sei  es  die 
kluge  und  systematische  Vermeidung  der  Versuchuncf.  sei  es  die 
Hingabe  an  eine  Beschäftigung,  die  von  dem  unseligen  Hang  be- 
freien kann.  Wenn  z.  B.  &a  Säufer  die  Erkenntnis  seiner  ^lergie^ 
losigkeit  veranlasst,  freiwillig  eine  Heilanstalt  aufzusuchen,  so  ist 
auch  diese  Tat  ein  bedeutsamer  Schritt  der  Selbsterziehung.  Auch 
in  der  Heilanstalt  wird  kein  psychologisches  Wunder  vollführt ;  man 
hält  nur  von  den  Kranken  jede  Versuchung  fern  und  maciit  ver- 
standige Anwendung  von  dem  wichtigen  Mittel  der  Gewöhnung 
zum  Guten. 

m. 

Das  ethlMlM  PrsMsa. 

Wie  verträgt  sich  der  Determinismus  mit  der  Zurechnung 
unserer  Handlungen?  Wenn  ich  mich  nicht  willkürlich  und  frei  für 
das  (-rute  oder  für  drxs  Böse  entscheiden  kann,  wie  kann  ich  dann 
für  meine  Taten  vcrauLwortlich  gemacht  werden? 

Zunächst  ist  zu  erwidern,  dass  das  ethische  UrteU  von  allen 
theoretischen  Obedegungen  unabhängig  ist  Die  gemeine,  selbst» 
süchtige  Handlungsweise  muss  ich  vor(iammen  niirh  v/enn  irh  zur 
'Entschul di (TU ni^^  die  schlechte  Kr/iehung  des  Ijctrctfi  ndcn  Menschen 
und  das  unselige  soziale  Milieu,  in  dem  er  lebt,  anführen  kann. 
Das  ethische  Urteil  gleicht  darin  dem  ästhetisdien  UrteiL  Das 
schlechte  Bild  erregt  unser  Missfallen,  mag  es  auch  als  Knt* 
schuldigung  des  Malers  gelten  können,  dass  ihn  etwaige  ungünstige 
Verhältnisse  zwingen,  übermässicr  schnell  zu  produzieren;  das  Bild 
selbst  wird  durch  diese  EnUschuidigung  des  Malers  nicht  besser. 
Man  nenne  den  Standpunkt  des  Ethikers,  der  ohne  ROcknchtnahme 
die  schlechte  Tat  verdammt,  deswegen  nicht  rigoros;  das  ethische 
Urteil  ist  nicht  das  lieblose  Urteil  eines  Pharisäers,  der  nach  dem 
Missetäter  den  ersten  Stein  wirft;  auch  dem  Sünder  soll  die  .Nächsten- 
liebe nicht  entzogen  werden;  aber  die  absolute  Scheidewand  zwischen 


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—  9  — 


Gut  und  Bose  darf  nicht  niedergerissen,  das  Böse  darf  nicht  als  ^ut, 
wenn  auch  nur  im  geringeren  Grade  gut  angesehen  werden.  Auch 
verurteilt  das  eigene  Gewissen  uns  selbst  bei  einer  schlechten  Tat; 
wenn  es  unserm  Verstände  auch  leicht  gelingt,  uns  mildernde  Um- 
stände vorzureden,  die  unbestechliche  innere  Stimme  lässt  sich  nicht 
so  leicht  zum  Schweigen  briI^sen,  wenn  wir  eine  niedrige  Handlungs- 
weise begangen  haben. 

Was  bisher  ausgeführt  wurde,  trifft  noch  nicht  den  Kern  des 
Ebwandes.  Das  etUsche  Urteil  (das  Grewtssen)  sagt  uns  freilich, 

was  gut  und  was  bose  ist  Aber  mit  welchem  Rechte  darf  einem 
Menschen  die  Int  /u gerechnet  werden,  wenn  schliesslich  die 
Entscheidung  zwischen  Gut  und  Böse  nicht  frei,  sondern  durch  die 
in  uns  herrschenden  Vorstellungen  und  Gefühle  notwendig  be- 
stimmt ist? 

Darauf  ist  zu  erwidern,  dass  eben  die  Gefiihle  und  Vorstdlungen, 

die  unser  Handeln  bestimmen,  unser  Wesen  ausmachen,  dass  unser 
Ich  mit  ihnen  identisch  ist.  Gewiss  ist  unser  Ich  nichts  Angeborenes, 
sondern  etwas  im  Leben  Gewordenes,  und  die  Art  und  Weise,  wie 
wir  geworden  sind,  mag  ']  teilweise  vom  Zufall  abhängig  sein.  Unser 
Ich  ist  indes  nicht  nur  etwas  Gewordenes,  sondern  audi  etwas  Ein- 
heitUches;  die  Art  und  Weise  unserer  Vorstellungen  und  Gefühle 
und  die  Konstellation  derselben ,  das  sind  wir  selbst ,  darin  kenn- 
zeichnet sich  unser  Charakter,  und  jedes  Urteil  hierüber  trifft  uns 
selbst  Eine  Tat,  die  wir  vollbringen  auf  Grund  der  Eigenart 
unseres  Sedenlebens,  unseres  wich",  muss  uns  darum  auoi  zu- 
gerechnet werdea 

Man  kann  umgekehrt  behaupten,  beim  Indeterminismus  kann 
nicht  von  Zurechnung^  die  Rede  sein.  Bestände  zwischen  dem  Ich 
und  seinen  Willenshandlungen  kein  notwendiger  Zusammenhang 
mehr,  wäre  also  dem  Ich  dieses  Wollen  ebenso  zufallig  wie  ein 
anderes,  so  würde  jede  Verantwortlichkeit  des  Ich  für  diesen  Willen 
aufhören,  und  ein  von  allen  Motiven  unabhängiges  Wollen  könnte 
niemals  einer  sittlichen  Beurteilung  unterworfen  werden. 

Unter  „Zurechnung"  versteht  man  das  Urteil,  dass  eine  be- 
stimmte Tat  aus  dem  Vorstellungsganzen  des  Ich  der  betreffenden 
Persönlichkeit  hervorgegangen  ist  Damit  ist  dn  Zwiefaches  aus- 
gesagt Die  Tat  muss  erstens  aus  dem  eigenen  Willen  hervor- 
gegangen sein  und  demselben  entsprechen ;  die  Tat  muss  beab- 
sichtigt und  vor.iiissätzlich  geschehen,  nicht  durch  einen  unvorher- 
gesehenen Zufall  veranlasst  sein,  wenn  sie  zugerechnet  werden  soll 
Wer  z.  B.  einen  Menschen  versehentlich  getötet  hat  kum  nicht  als 

')  Hier  berührt  sich  die  Frage  mit  einem  anderen  grossen  Problem,  zu  dem  die 
ReligioQsphiiosophic  bczw.  der  Glaube  Stellung  aehmea  mu&s ;  es  ist  hier  nicht  der  Ort, 
auf  die  Frage  einer  göttlichen  Weltregierang  und  die  FHft  der  ZwcckmlMi^Mit  aller 
memchlicben  tcbciwchlckuJe  nftlier  eiazagehea. 


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—    10  — 

Mörder  betrachtet  werden;  doch  muss  der  Totschlag  als  Schuld 
zugerechnet  werdeo,  wenn  eine  Fahrlässigkeit  das  Versehen  ver« 
anbsst  hat;  auch  die  Unterlassung  einer  durch  die  Vorsicht  ge- 
botenen Handlun;:^  muss  als  Schuld  zugerechnet  werden.  Zweitens 
kann  eine  1  at  nur  dann  zugerechnet  werden,  wenn  in  dem  Willen 
wirklich  die  herrschenden  Vorstellun^smassen  des  Ich  zum  Ausdruck 
kommen;  denn  nur  in  diesem  Falle  ist  die  Handlung  wirklich  meine 
TaL  Mauidierlei  Einflüsse  —  somatischer  und  psychischer  Art  — 
können  dies  unmöglich  machen.  Einem  Seelenkrankcn ,  der  im 
„Dämmerzustande"  handelt,  oder  einem  Kinde,  dem  die  Fähigkeit 
fehlt,  seine  Handlung  und  deren  Folgen  zu  beurteilen,  und  das 
seinen  Willen  noch  nidit  durch  verstandige  Überlegungen  be- 
stimmen kann,  kann  auch  eine  Tat  nicht  zugerechnet  werden.  Das 
Strafgesetz  verneint  darum  auch  die  Strafbarkeit  einer  Handlung, 
wenn  dem  Täter  bei  Ausübung  derselben  die  Zurechnungsfahigkeit 
abging.  Wir  dürfen  demnach  durchaus  nicht  identifizieren  Willens- 
freiheit und  Zurechnungsfahigkeit ,  Willensunfreiheit  und  Unzurech- 
nungsfähigkeit ;  Zurechnungsfahigkeit  kann  vorhanden  sein  oder 
fehlen,  atoolute  Freiheit  des  Willens  kann  es  nicht  geben. 

Es  wurde  schon  hervorgehoben,  dass  die  Sprache  infolge  der 
Vieldeutigkeit  der  Ausdrücke  uns  doch  gestattet,  in  gewissem  Sinne 
von  einer  Freiheit  des  Willens  zu  sprechen.*)  Freilich  ist  es  nicht 
die  absolute  Freiheit  im  metaphysisdien  Sinne.  Das  Wort  ,J^reiheit" 
besticht  uns  nun  einmal  durch  seinen  schönen  Klang,  und  wir 
sprechen  darum  alsdann  von  Freiheit,  wenn  jemand  seinem  Wesen 
gemäss  handelt.  Man  kann  in  diesem  Sinne  sogar  schon  bei  Tiaren 
von  Freiheit  sprechen.  Der  Hund  z.  B.  handelt  frei,  wenn  er  seinen 
Instinkten  sich  überlasst,  wie  der  Jagdhund,  der  dem  Wilde  nach- 
spürt; der  Hund  ist  unifrei,  wenn  er  unter  dem  Zwang  der  Dressur 
handelt  und  den  ihm  zugeworfenen  Bissen  Fleisch  nicht  anrührt 
In  gleichem  Sinne  können  wir  von  einem  Menschen  sagen,  er 
handelt  frei,  wenn  er  seinem  Wesen  gemäss  handeln  kann,  wenn  er 
sein  Leben  völlig  nach  seinen  Neigungen  und  Wünschen  gestalten 
kann;  er  ist  unfrei,  wenn  er  fremdem  Willen  dienen  muss.  Der 
Knecht,  der  Gefangene  sind  unfrei,  der  freie  Mann  bestimmt  sein 
Sciiiclcsal  selbst^ 

In  diesem  Sinne  ist  es  wohl  gestattet,  von  der  Freiheit  des 
Menschen  zu  reden.    Wir  beklagen  den  Unglücklichen,  der  die 

*)  Wir  mflnen  dies  sogar,  wenn  wir  nicht  roisiventaadeo  sc'm  wollen,  da  voB 
jeher  die  innere  Ifaiiiioilie  all  wahre  Freiheit  voa  deo  IMcbten  ond  Denkern  geprieictt 

worden  ist. 

•)  Vgl.  die  trefflichen  Ausruhrungen  über  die  Freiheit  des  Willens  in  AUihns 
„GmndriM  der  Ethik",  nenbearbeitet  von  O.  Flügel,  ä.  313.  „Freiheit  ist  nicht  eine 
Atunahme  im  GtgamHx  mm  Unlerworfecadn  unter  die  allgemeine  Kanialiltt,  londem 
es  wird  damit  nur  ein  Znitnnd  bewldinct,  wekher  der  eigenen  Natur  genbs  oder  ihr 

zuwider  ist." 


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—  II  — 


Kerbtschaft  erdulden  muss,  und  preisen  die  Freiheit  als  hohes  Gut. 
Das  Wort  „Freiheit"  hat  indes  noch  einen  tieferen  Inhalt,  noch  eine 
höhere  Bedeutung.  Diese  höchste  Stufe  ist  die  sittliche  Freiheit 
Unfrei  ist  auch  der  Mensch,  der  in  den  Ketten  eines  Lasters  liegt 
und  sich  von  einer  unglückseligen  (iewohiiheit  nicht  frei  machen 
kann.  Wahrhaft  frei  ist  nur  derjenige,  der  in  allen  Stücken  der 
innem  Stimme  folgt  und  nur  den  Geboten  der  Sittlichkeit  gehorcht. 
Das  ist  die  höchste  Freiheit,  die  sittliche  Freiheit,  man  kann  auch 
sagen:  die  christliche  Freiheit.^)  Wer  sie  errungen  hat,  ist  frei,  auch 
wenn  er  in  äusseren  Banden  liegt;  voll  Begeisterung  ruft  Schiller 
aus:  „Der  Mensch  ist  frei  geschaffen,  ist  frei,  und  würd'  er  in  Ketten 
geboren  l" 

In  der  Lehre  von  der  Freiheit  kommt  die  völlige  Unabhängigkeit 
der  Ethik  zum  Ausdruck.    Wir  bezeichnen  diese  Anschauung  als 

Autonomie.  Die  sittlichen  Gebote  sind  uns  nicht  von  einer  fremden 
Macht  auferlegt;  in  den  Forderungen  der  Sittlichkeit  kommt  unser 
eigenes  Wesen  zum  Ausdruck,  das  nur  in  einem  sittlich  reinen 
Handdn  Genüge  finden  kann. 

Der  Mensch  ist  frei;  nicht  das  einzelne  Wollen,  sondern  der 
Wollende  selbst,  dem  das  Wollen  zukommt,  ist  autonom.  Der  Mensch 
ist  auch  nicht  ursprünglich  frei,  sondern  wird  frei,  indem  und  da- 
durch, dass  seine  sittlichen  Motive  zur  Herrschaft  gelangen,  und  die 
Freiheit,  die  man  erworben  hat,  bleibt  immer  weit  zurück  hinter 
dem  Idealbild  der  Freiheit.  Die  Freiheit  zeigt  verschiedene  Stufen, 
sie  ist  verschieden  bei  verschiedenen  Personen  und  verschieden  bei 
derselben  Person  7u  verschiedenen  Zeiten.  Die  Freiheit  ist  „Einheit 
des  Wissens  und  Woilens,  die  beide  in  sich  aufhebende  höchste 
Entwicklungsstufe  des  Seelenlebens".^ 

Nur  der  wahrhaft  sittliche  Mensch  ist  frei;  denn  sein  sittliches 
Handeln  entspricht  seinem  innersten  Wesen,  und  keine  Reue,  keine 
Scelenqual  kann  ihn  treffen.  Das  ist  die  höchste  Freiheit;  ihr  Ideal, 
das  wir  auf  Erden  nicht  verwirklicht  finden,  nennen  wir  Gottheit. 
In  Christo  ist  es  uns  offenbart  worden.  Wir  Menschen  aber  können 
nur,  um  mit  Schiller  zu  sprechen,  „nach  der  göttlichen  streben". 

„Ad  sieb  ist  ja  jeder  Charakter,  gerade  je  abgeschlossener  er  ist,  ganz  indi* 
^sdl  and  ebeuo  leioe  FrdheH;  worin  er  sich  frei  flihlt,  filhlen  die  andern  rieh 

▼iellciclil  unfrei,  nnd  eine  Gesct7ß:ebung,  welche  seine  Maximen  zu  allgcmeinrn  Gr-.ct7.cn 
«iiebt  und  unter  welcher  er  sich  glücklich  ftihlt,  macht  möglicherweise  alle  anderen 
nn^flcklidi.  Die  Grandlitte  de»  tittUchen  Charakters  allein  sind  fähig,  rar  «Ugeineincn 
Gcsr-t'p-'hiinj:  erhoben  ixi  werden,  so  dass  die  Mii  (jl  i  chkeit  geboten  ist,  dass  jeder 
sich  unier  solchen  Gesetzen  frei  fühlen  kann.  D<'m\  der  sittliche  Charakter  adicin  bildet 
den  vollendeten  AbschlmB  jedes  Cbarakt  :  (Flügel  a.  a.  O.,  S.  243.) 
^  Vgl.  VoUniann  von  Volkmar,  „Lehrbuch  der  Psychologie".  Bd.  II. 


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—    12  — 

n. 

Die  Reform  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts 
im  sächsischen  Seminar.^ 

Von  Oberkbm  Dr.  L  Ktttti  in  Dresden. 

In  der  grossen  Reihe  der  bedeutsamen,  bei  der  Fortentwicklung 
des  hochstehenden  sächsischen  Lehrcrbildungswesens  zu  lösenden 
organisatorischen  und  Lehrplanfragen  nimmt  das  1Vo!ilem  der  Reform 
des  natur%visscnschaftlirhen  Unterrichts  nicht  die  let/.te  Stelle  ein. 
Langst  bevor  die  aaLurwissenschaftliche  Unterrichtsbewegung  der 
Gegenwart  mit  ihren  Reformbestrebungen  fiir  die  höheren  Schulen 
einsetzte,  längst  bevor  die  Volksschullehrerschaft  ihre  Forderungen 
bezüglich  diese?  Punktes  näher  formulierte,  hat  sich  bei  denen,  die 
in  erster  I.iiite  imstande  sind ,  die  {gegenwärtig  herrschenden  Ver- 
iiäitnisse  zu  beurteilen,  bei  den  naturwissenschaftlichen  Lehrern  der 
sächsschen  Seminare,  die  Überzeugung  b«fes^t,  dass  die  gegen» 
irartigen  Lehrplanvorschriften  schon  längst  nicht  mehr  den  fort- 
geschnttenen  Zeitverhältnissen  Rechnung  tragen.  Darüber  geben 
die  Sitzungsprotokolle  der  mathematisch  -  naturwissenschaftlichen 
Sektion  des  sächsischen  Seniinarlehrervereins  genügende  nähere  Aus- 
kunft. Zuletzt  im  Jahre  1901  hielt  Herr  Professor  Ulbrtcht-Boma 
einen  Vortrag:  Einige  Wünsche  betreffs  des  naturwissenschaftlichen 
Unterrichtes  im  Seminar,*)  in  dem  er  nachdrücklich  auf  die  überaus 
beschämende  Lage  hinwies,  in  der  sich  der  naturwissenschaftliche 
Unterricht  gegenwärtig  an  den  Seminaren  ähnlich  wie  an  den 
meisten  anderen  höheren  Lehranstalten  befindet  und  in  dem  er 
dngdiend  die  Notwendigkeit  einer  vertieften  und  nach  der  Seite 
praktischer  naturwissenschaftlicher  l'bungen  hin  erweiterten  natur- 
wissenschaftlichen  Bildung    der    zukünftigen   Volksschullehrer  be- 

ßiindete.  Seine  erste  These,  die  für  den  naturwissenschaftlichen 
nterricht  im  Seminar  eine  grössere  Stundenzahl  und  zwar  für  den 
Fall  einer  Verlängerung  der  Seminarzeit  um  ein  Jahr  liir  jede  Klasse 
einen  dreistündigen  L^nterricht  forderte,  fand  /war  damals  nach 
längerer  Debatte  einstimmige  Annahme;  aus  1  in  kurzen  Sitzungs- 
protokoll lässt  sich  jedoch  erkennen,  dass  man  sich  hinsichtlich 
einer  baldigen  Durchführung  dieser  These  keinen  aDzugrossen 
Hoffnungen  hingab.  Man  sprach  von  Zukunftsmusik  usw.,  und  der 
Vorsitzende  der  Versammlung,  Herr  Schulrat  Stcner-Borna,  schlug 
vor,  es  sei  das  Beste,  zu  erklären,  dass  es  an  Zeit  zur  Durchführung 

')  Nach  einem  in  der  mathemaliseh-iutarwissenäcIialUiclicn  Seklioo  des  lichiisclwn 

Seniinarlehrervereins  gehahencn  Vortrage,  Scptf  m1>cr  1907. 

*)  Vgl,  6.  Bericht  des  sächsischen  Seminarlchrervereiü»  1900^1901,  S.  72 — 93. 


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—   13  — 


der  These  fehle.  Wie  sieht  es  heute,  nach  sechs  Jahren,  aus? 
Idi  scheue  mich  nicht,  die  freifich  uiumgefiehm  klingende  Wahrheit 
auszusprechen,  dass  wir  nicht  um  einen  Schritt  vorwärts  gekommen 

sind.  So  grosse  Fortschritte  auch  innerhalb  der  letzten  Jahrzehnte 
der  naturwissenschafthche  Unterrichts-  wie  der  gesamte  Seminar- 
betrieb innerlich  aufzuweisen  haben  mag,  ausserlich  müssen  sich 
diese  Fächer  noch  immer  mit  jener  kärglichen  Anzahl  von  Stunden 
begnügen,  die  ihnen  in  der  Lehrordnung  vom  29.  Januar  1877,  abo 
vor  30  Jahren,  zugebilligt  wurde.  In  diesem  langen  Zeiträume  haben 
sich  indessen  die  in  den  realen  Verhältnissen  wurzelnden  Wider- 
stände nicht  verringert :  vielmehr  ist  durch  die  in  Aussicht  stehende 
Einf&hrang  einer  zweiten  Fremdsprache  in  das  SeminaTp  sowie  durch 
die  Forderungen  der  Reformer,  die  obersten  Klassen  zu  pädago- 
gischen I^'achklassen  auszugestalten,  die  Gefahr  gewachsen,  dass  der 
naturwissenschaftliche  Unterricht  im  säciisischen  Seminar  völlig  an 
die  Wand  gedrückt,  zum  mindesten  mit  der  jetzt  vorhandenen  un- 
genügenden Stundenzahl  noch  weiter  nach  den  unteren  Klassen  hin 
verschoben  wird.  Ist  es  angesichts  dieser  Sachlage  nicht  das  Beste, 
zu  resignieren,  auf  Anschauungen  und  Forderungen  zu  verzichten, 
von  deren  Richtigkeit  und  Durchführbarkeit  man  innerlich  noch  so 
sehr  überzeugt  sein  mag,  deren  in  allen  Tonarten  iornier  von  neuem 
wiederholte  Begründung  aber  man  als  eine  Sisyphusarbeit  ansehen 
muss?  Ist  es  nicht  besser,  allen,  die  die  Reform  des  naturwissen- 
schaftlichen Unterrichtes  auf  ihre  Fahne  geschrieben  haben,  zuzu- 
rufen: Lasciate  ogni  speranzal  Stellt  euch  r\uf  den  Standpunkt  des 
Gehenlassens  j  denn  die  gegenwärtigen  ruckständigen  Verhältnisse 
sind  zwar  höchst  beklagenswert  und  verbesserungsbedürftig;  aber 
die  allgemeine  Sachlage,  die  zu  dem  gegenwärtigen  Zustande  gefuhrt 
hat,  ist  einstweilen  derartig  unangreifbar  und  unabänderlich,  dass 
in  naher  Zukunft  nichts  zu  erhoffen  ist. 

Zu  solchem  kleinmütigen  Glauben  möchten  wir  wohl  berechtigt 
sein,  wenn  wir  hier,  völlig  alleinstehend,  Forderungen  für  eine  ver- 
tiefte naturwissenschaftliche  Bildung  im  I^hrerseminar  erheben 
würden;  aber  so  liegen  die  Verhältnisse  nicht  mehr.  Es  ist  all- 
gemein bekannt,  dass  im  Herbst  des  Jahres  1901  in  TT^mburg  jene 
denkwürdige  Sitzung  der  Naturforscher-  und  Ärzteversammlung  statt- 
fand, von  der  die  neuen  Bestrebungen,  insbesondere  den  biologischen 
Fächern  den  ihnen  zustehenden  &flu88  auf  die  jugendbildung  und 
-erztehung  zu  erkämpfen,  ihren  Ausgang  nahmen.  Und  wenn  auch 
das  in  der  Zwischenzeit  Erreichte  noch  lange  nicht  dem  Erstrebten 
entspricht,  da  die  unsterblichen  Widerstände  jeglichen  Bildungs- 
fortschrittes, Unverständnis  und  Scheu  vor  dem  Neuen  neben  der 
vielfach  zu  beobachtenden  Gleichgültigkeit  breiter  Schichten,  hindernd 
im  Wege  stehen,  so  kann  der  aufmerksame  Beobachter  doch  ander- 
seits erkennen,  dass  diese  Bewegung  nicht  im  Abflauen  begriffen 
ist,  dass  sie  vielmehr  von  Jahr  zu  jstht  mehr  an  innerer  Krau  und 


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—    14  — 


Klarheit  gewonnen  hat  Die  Erkenntnis  wächst,  dass  es  sich  hier 
um  Dinge  handelt,  die  mit  der  zukünftigen  geschichtlichen  Entwick- 
lung; unseres  Volkes  eng  zus«imnienhängcn ,  dass  eine  die  Grund- 
lagen moderner  Kultur  vermittelnde  Bildung  und  Erziehung  des 
gesamten  Volkes  einer  der  wichtigsten  Faktoren  ist,  ohne  den  wir 
auf  die  Dauer  unseren  „Platz  an  der  Sonne"  gegenüber  unseren 
Rivalen  unter  den  Nationen  nicht  zu  behaupten  vermögen;  muss 
man  sich  doch  beschämend  eingestehen,  dass  Deutschland  auf 
diesem  Gebiete,  wo  es  sich  um  die  Anerkennung  und  Gleich- 
berechtigung der  naturwissenschaftlichen  Bildungsmittel  gegenüber 
dem  Übergewichte  althergebrachter  philologisch-historischer  Schulung 
handelt,  längst  von  Nordamerika,  aber  auch  von  England  und  in 
letzter  Zeit  von  Frankreich  schon  weit  überflügelt  ist.  So  ist  es 
gekommen,  dass  sich  die  von  Hamburg  ausgegangenen  biologischen 
Bestrebungen  zu  einer  grossen,  mathematisch-naturwissenschafthchen 
Refprmbewegung  ausgestaltet  haben. 

Die  von  der  Naturforsdierversammlung  eingesetzte  Kommission 
hat  eine  Reihe  von  Berichten  veröffentlicht,  in  denen  die  Minimal- 
forderungen für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht  der  \er 
schiedenen  9-  und  öklassigen  höheren  Lehranstalten  zusammen- 
gefosst  sind;  se  hat  aber  davon  abgesehen,  auch  für  die  Lehrer« 
Seminare  allgemeine  Forderungen  aufzustellen.  Es  heisst  darüber  in 
dem  allgemeinen  Kommissionsbericht  vom  Jahre  1906:*) 

„Bevor  wir  nun  zu  dem  naturwissenschaftlichen  und  mathe- 
matischen Unterrichte  an  den  höheren  Mädchenschulen  übergehen, 
sei  es  gestattet,  mit  wenigen  Worten  noch  einige  andere  Schularten 
zu  streifen,  die  eine  grosse  nationale  Bedeutung  besitzen  und  an  denen 
der  naturwissenschaftliche  Unterricht  gleichfalls  der  Verbesserung 
bedarf.  Es  sind  das  die  Volksschulen,  die  Fortbildungsschulen,  die 
Fachschulen  verschiedenster  Art  und  die  Lehrerseminare.  Die 
Kommission  hat  sich  sehr  emsthaft  mit  der  Frage  beschäftigt,  ob 
sie  auch  für  diese  verschiedenen  Schulgattungen  etwa  Normen  be- 
treffend den  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Unterricht 
aufstellen  sollte,  sie  hat  sich  von  kompetenten  Fachleuten  eingehende 
ikrichte  als  Unterlage  ihrer  Beratungen  erbeten,  ist  aber  zu  dem 
Entschluss  gekommen,  von  einer  speziellen  Behandlung  oder  gar 
von  AufsteUung  lehrplanmässiger  Forderungen  abzusehen.  Der 
Gegenstand  ist  zu  verwickelt,  als  dass  er  in  der  Kürze  der  zur 
V^erfügung  stehenden  Zeit  hätte  erledigt  werden  können.  Indessen 
hat  die  Kommission  sich  nicht  der  Erkenntnis  verschliesscn  können, 
welche  ausserordentlich  grosse  Bedeutung  ein  richtig  erteilter  natur- 
MrissenschaiUieher  Unterricht  für  die  nationale  Volkserziehung  besitzt, 
die  doch  als  das  letzte  und  höchste  Ziel  jedes  Unterrichtes  zu  be- 
trachten ist    Würde  z.  B.  das  Kurpfuscbertum  bei  einem  nur 


i)  Vgl.  Nalur  und  Schule  V,  S.  480. 


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—    15  — 

einigennassen  naturwissenschaftlich  aufgeklarten  Volke  wohl  je  zu 
solcher  Blüte  habe  gelangen  können,  wie  es  jetzt  tatsächlich  der 
Fall  ist?  Diejenige  Stelle,  wo  zuerst  der  Hebel  zu  einer  Besserung 
ang^tzt  werden  muss,  sind  die  Lehrerseminare.  Hier  muss  vor 
allein  ein  sacbgemässer,  wenn  auch  auf  das  Notwendigste  zu  be- 
schränkcfider  Betrieb  der  Naturwissenschaften  und  der  Mathematik 
einziehen;  es  ist  unbedingt  erforderlich,  durch  fachmännisch  vor- 
gebildete Seminarlehrer  die  Bücherweisheit  durch  lebendiges  Wissen 
zu  ersetzen,  um  den  zukünftigen  Lehrern  die  grundlegende  Bedeutung 
der  Naturwissenschaften  für  die  gesamte  Kultur  der  Gegenwart,  für 
Handel  und  Verkehr,  für  Industrie,  Gewerbe  und  Landwirtschaft 
einigennassen  verstandlich  zu  machen.  Es  ist  das  eine  Saat,  die 
auch  im  Interesse  der  ökonomischen  Käinpfe  der  Volksschichten 
sowie  für  den  Wettbewerb  der  Völker  und  eine  friedliche  Weiter- 
entwicklung unserer  Kultur  gesät  werden  muss  und  die  sicher  reiche 
Fiudite  tragen  wird,  wenn  ihr  eine  verständnisvolle  Pflege  zu  teil 
wird." 

Es  herrscht  ganz  allgeincin  eine  Stimme  der  Anerkennung  über 
die   grossartige   und  umtasscnde  Tätigkeit,  die  die  Unterrichts- 
kommission der  deutschen  Naturforscher  und  Ärzte  in  den  letzten 
Jahren  entfaltet  hat  Trotzdem  darf  gerade  die  voriiegende  Stelle 
des  Kommissionsbcridites  nicht  völlig  unwidersprochen  bleiben;  sie 
nötigt  vielmehr  zu  einer  kritischen  Bemerkung.    Ich  habe  leider 
nicht  erfaliren  können,  wer  der  „kompetente  Fachmann'*  gewesen  ist, 
der  einen  eingehenden  Bericht  über  die  Verhaltnisse  am  sächsischen 
Lehrerseminar  erstattet  hat  Ich  habe  die  nicht  unbegründete  Ver- 
mutung, dass  man  wie  in  den  jüngsten  Veröffentlichungen  des  sonst 
so  verdienten  Geheimrats  Klein-Göttingen  ül^cr  den  mathematischen 
l  nterricht  im  wesentlichen  die  Verhältnisse  am  preussischen  Lehrer- 
seminar untersucht  und  diese  dann  etwas  vorschnell  als  für  das 
deutsche  Lehrerseminar  im  allgemeinen  geltend  angesehen  hat 
Auf  jeden  Fall  ist  zu  protestieren  gegen  den  Passus,  dass  es  un- 
bedingt erforderlich  ist,  durch  fachmännisch  vorgebildete  Seminar- 
lehrer die  Bücherweisheit  durch  lebendiges  Wissen  zu  ersetzen  usw. 
Es  ist  hier  nicht  meine  Aufgabe,  zu  untersuchen,  inwieweit  diese 
Vorwurfe    gegenüber    den    naturwissenschafUicfaen   Lehrern  der 
preussischen  Präparandenanstalten   und  Seminare  berechtigt  sind. 
Ich  mochte   aber  fhe   Fraji^e    aufwerfen ,    ob    es    den  sächsischen 
Vertretern  in  der  Konimission  so  völlig  unbekannt  ist,  dass  an  den 
sächsischen  Seminaren  schon  jetzt  ganz  allgemein  akademisch  vor> 
gebildete  und  praktisch  tüchtig  geschulte  Naturwissenschaftler  tatig 
und   damit    die   ersten   Bedingungen  fiir  einen  tüchtigen  natur- 
wissenschaftlichen Unterricht,  der  sich  nicht  auf  „Bücherweisheit" 
beschränkt,    erfüllt    sind.     Auf  jeden   Fall    haben    die    an  den 
sächsischen  Anstalten  wirkenden  Akademiker  allen  Grund,  solche  in 
der  breitesten  Öffentlichkeit  ganz  allgemein  erhobenen  Vorwürfe 


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energisch  zurückzuweisen ;  und  das  um  so  mehr,  als  man  durch  die 

Statistik  weiss,  wie  die  Verhältnis<;e  nn  den  anderen  höheren  Schulen 
bestellt  sind ,  welcher  Mangel  insbesondere  an  tüchtigen  Biologie- 
iehrerii  allgemein  besteht  Nach  Norrenberg  entfielen  im  Schul- 
jahr 1901/02  von  den  214  Biologiestunden,  die  an  den  21 
(19  hum.  ^-  2  real.)  höheren  Lehranstalten  der  Provinz  Posen  erteilt 
wurden,  nur  106,  also  weniger  als  50*^/,,  auf  akademisch  gebildete 
Lehrer,  die  für  Zoologie  und  Botanik  qualifiziert  waren;  unter  diesen 
befanden  sich  aber  sicher  noch  zahlreiche  Mathematiker,  die  eine 
biologische  Fakultas  nur  zur  Ergänzung  des  Zeugnisses  erworben 
haben.  Nach  einer  Mitteilung  im  Bayrischen  Realschulmännerverein 
„wird  an  den  bayrischen  humanistischen  Gymnasien  und  Pro- 
gymnasien der  Unterricht  in  der  Naturkunde  (und  ebenso  in  der 
Erdkunde)  in  weitaus  den  meisten  Fällen  von  Lehrern  (besondere 
Altphilologen  I)  erteilt,  die  keinerlei  Prüfung  in  den  Naturwissenschaften 
abgelegt,  bisweilen  nidlt  einmal  die  geringste  Vorbildung  darin 
haben!"  Gegenüber  solchen  Missständen  können  die  Personal- 
Verhältnisse  an  den  sächsischen  Seminaren  als  vorbildlich  bezeichnet 
werden.  Das  hier  vorliegende  Urteil  ist  aber  typisch  für  die  Art 
und  Weise  der  Beurteilung  der  sächsischen  Seminarverhaltnisse.  Es 
ist  den  aUerweitesten  Kreisen  völlig  entgangen,  welche  Umgestaltungen 
der  gesamte  Unterrichtsbetrieb  an  diesen  Anstalten  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten durchgemacht  hat.  Es  mag  daher  hier  an  die  weiteste 
Öffentliclikeit  die  Bitte  gerichtet  werden,  in  Zukunli  bei  der  Be- 
urteilung der  Seminare  zu  indtvidualideren  und  nicht  die  Ver- 
hältnisse, wie  sie  an  den  preussischen  Lehrerbildungs-,  insbesondere 
den  Präparandcnnnstalten  und  zum  grossen  Teile  auch  in  Süd- 
deutschland besiehen,  als  für  das  deutsche  Lehrerseminar  im  all- 
gemeinen geltend  anzusehen.  Die  Verhältnisse  an  den  hanseatischen 
Seminaren  und  den  sächsischen  Anstalten  liegen  durchaus  anders. 
Die  sächsische  VolksschuUehreischaft  aber  mag  erneut  auf  die  Stelle 
aufmcrk-^am  gemacht  werden,  wo  zuerst  der  Hebel  des  Fortschritts 
anzusetzen  ist,  und  daran  erinnert  sein,  dass  an  eine  Realisierung 
ihrer  vielfach  berechtigten,  weitergehenden  Forderungen  ui  dem 
räumlich  beschrankten  Sachsenlande  solange  nicht  gedacht  werden 
kann,  als  sich  nicht  der  grosste  deutsche  Bundesstaat  dazu  ent- 
schliesst,  seinem  Lehrerbildungswesen  einen  kräftigen  Ruck  vorwärts 
zu  geben. 

Die  Frage,  mit  der  wir  uns  beschäftigen,  bietet,  wie  auch  von 
der  Unterrichtskommission  mit  Recht  anetkannt  wird,  ausser- 
ordentliche  Schwierigkeiten.  Was  zunächst  die  Formulierung  der 
Ziele  anbelangt,  die  sich  der  naturwissenschaftliche  Unterricht  am 
Seminar  zu  stecken  hat,  so  erscheint  es  ausgeschlossen,  dass  die 
von  der  Kommission  sowohl  für  9-  als  auch  ökiassige  höhere  Lehr- 
anstalten aufgestellten  Lehrplane  ohne  weiteres  auf  das  Seminar 
fibertragen  werden  könnten,  da  hier  neben  den  för  die  allgemeine 


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—   17  — 


Bildung  der  Zöglinge  nötigen  Kenntnissen  auch  auf  jene  hesonderert 
Fordern HLTcn  Rücksicht  zu  nehmen  ist,  die  sich  aus  der  speziellen 
Berufbausbildung  in  physiologischer  Psychologie,  in  Physiologie, 
Schulhygiene  usw.  ergeben.  Doch  dürfte  sich  hierin  noch  ver- 
hältnismässig leicht  eine  Übereinstimmung  erzielen  lassen;  viel 
schwieriger  gestaltet  sich  das  Problem  der  srhiiltechnischen  Durch- 
führung, Wir  alle  kennen  die  Überbürdungsirage ;  wir  wissen,  dass 
schon  längst  die  äusserste  Grenze  dessen  erreicht  ist,  was  billiger 
Weise  von  unseren  Schülern  sfefordert  werden  kann;  ja  wir  stehen 
auf  dem  Standpunkte,  dass  bei  einer  Neuordnung  des  Lehrplans 
in  einem  siebenjährigen  Kursus  den  Forderungen  einer  gesunden 
körperlichen  und  vor  allem  geistigen  Hygiene  in  ganz  anderer  Weise 
als  bisher,  namentlich  in  den  Jahren  der  Pubertätsentwicklung, 
Rechnung  getragen  werden  müsse.  Wenn  wir  darum  hier  Neu- 
forderungen erheben,  die  sich  praktisch  nur  durch  Gewährung  einer 
grosseren  Stundenzahl  für  die  Naturwissenschaften  werden  ver- 
wirklichen lassen,  so  mochte  ich  vom  hygienischen  Standpunkte  aus 
vor  allem  den  Satz  an  die  Spitze  stellen: 

Eine  Reform  und  eine  lu^eiterung  des  natumrissenschaftUdien 
Unterrichts  im  Seminar  darf,  SO  wünschenswert,  ja  notwendig  de 
erscheint,  auf  keinen  Fall  auf  Kosten  einer  Vermehrung  der  Gesamt- 
stundenzahl oder  einer  Steigerung  des  Gesamtwissens  erreicht 
werden;  es  ist  vielmehr  bei  einer  Neuordnung  des  Lehrplans  in 
einem  siebenjährigen  Kursus  dahin  zu  wirken,  dass  die  wöchentliche 
Stundenzahl  in  den  einzelnen  Klassen  herabgemindert  wird. 

Reide  Forderungen  scheinen  sich  diametral  gegenüberzustehen', 
ein  Ausweg  aus  diesem  Dilemma  erscheint  unmöglich  und  so  haben 
wir  denn  auch  von  Geheimrat  Grüliich  in  der  „Seminararbeit"  hören 
müssen,  dass  es  ausgeschlossen  ist,  zur  Zeit  weitere  Stunden  für  die 
Naturwissenschaften  frei  zu  machen.  Diese  Antwort  gibt  man  aber 
nicht  nur  uns,  wir  hören  sie  allgemein  von  allen  höheren  Lehr- 
anstalten.   Wo  liegen  die  Ursachen  dieser  Erscheinung? 

R.  Fricke  hat  in  seinem  auf  der  ßreslauer  Naturforscher- 
versammlung 1904  gehaltenen  Vortrage^)  naher  ausgeführt,  dass 
man  diese  Erscheinung  nur  aus  der  geschichdichen  Entwicklung  des 
höheren  Schulwesens  in  Deutschland  heraus  verstehen  könne,  aus 
dem  Kampfe,  den  die  beiden  grossen  Geistesrichtungen  des  Huma- 
nismus und  des  Realismus  seit  den  Tagen  der  Reformation  in  den 
Schulen  filhren.  Vfit  in  den  Kloster-  und  Domschalen  des  Mittelalteti 
das  Latein«  die  allgemeine  Kirchensprache»  den  wesentlichsten  Unter- 
richtsgegenstand ausmachte ,  so  konnte  auch  der  Humanismus  des 
15-  Jahrhunderts  bei  der  Bekämpfung  der  Scholastik  sein  Ziel,  die 
Verbreitung  einer  rein  menschlichen  Geistesbildung,  dem  entlehnten 


')  Vgl-  ^-  ^^a^gerin,  VerliaiMUnqgai  der  Bresbuier  Natitrfonelier-VefSMmnlniig  über 
den  natonrissenschafUiehien  und  nwIhniiitiiclieD  Unterricht,  S.  9  ff. 

FMafOgitelM  Stndiea.  ZZIX.  U  8 


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—   i8  — 


Charakter  der  damaligen  Kultur  entsprechend,  nur  durch  Wieder- 
belebung der  klassischen  Studien  zu  erreichen  suchen.  Auch  die 
Refoniiation  hat  an  ihrem  Teüe  dazu  beigetragen,  in  einseitiger 
Wdse   den  Betrieb   der  alten  Sprachen  zu  begünstigen.  „Die 

Sprachen  sind  die  Scheiden,  darinnen  das  Messer  des  Geistes 
steckt;"  dieses  Wort  Lutliers  bezeichnet  deutlich  den  Wert,  den 
man  in  dem  Kampfe  um  die  Auslegung  der  Überheferungen  den 
Sprachen  und  der  durch  sie  vermittelten  formalen  Schulung  bei* 
messen  musste.  Zwar  haben  von  Anbeginn  an  die  Proteste  gegen 
den  in  den  Lateinschulen  in  durchaus  einseitiger  Weise  auf  blosse 
Wortgelehrsamkcit  hinauslaufenden  Schulbetrieb  nicht  «^eiehlt.  Die 

Sössen  Reformatoren  der  folgenden  Zeit,  ein  Ratichius,  ein  Comenius, 
ssend  auf  dem  von  Baco  v.  Verulam  verkündeten  neuen  Greist 
wissenschaftlicher  Forschung:  Omnia  per  iuductionem  et  experi- 
mentum.  hnbcn  immer  wieder  darauf  hingewiesen,  dass  die  Menschen 
nicht  aus  iiuchern  klug  werden  könnten,  sondern  ,,aus  Himmel  und 
Erde,  aus  Eichen  und  Buchen,"-)  d.  h.  dass  sie  die  Dinge  selbst 
kennen  lernen  müssten,  nicht  aber  einzig  und  allein  fremde  Be> 
obachtungen  und  Zeugnisse  über  die  Dinge.  So  sehr  man  aber 
auch  pjencigt  sein  mag ,  die  Bestrebungen  der  Pietisten  und  Ratio- 
nalisten, diejenigen  im  l'Vankcschen  Pädagogium  wie  in  den  Ritler- 
akademien und  in  den  Schulen  der  i'liüantropen  anzuerkennen,  die 
ein  sachliches  Wissen  in  Mathematik,  Geographie  und  Naturwissen- 
Schaft  vermitteln  wollten,  nicht  nur  aus  rein  utilitarischen  Gründen» 
sondern  um  der  erzieherischen  Bedeutung  dieser  Dinge  willen,  so 
wenig  kann  anderseits  geleugnet  werden,  dass  alle  diese  Bestrebungen 
auf  den  hergebrachten  Betrieb  der  Lateinschulen,  aus  denen  weitaus 
überwiegend  die  gebildeten  Stände  des  Volkes  ihre  Bildung  bezogen, 
keinen  wesentlich  umgestaltenden  Einfluss  ausgeübt  haben.  Vielmehr 
lässt  sich  beobachten ,  dass  das  19.  Jahrhundert  durch  das  vom 
NeuluimRnismus  geprc^lijlo  Ideal  der  vollkominenen  Menschlichkeit, 
das  man  im  llellenenium  verkörpert  sah,  /u  einer  abermaligen 
Stärkung  der  philologisch-historischen  Ausbildung  geführt  hat,  die 
in  ihrer  späteren  tlinseit^keit,  ihrer  teilweisen  P^ngherzigkeit  und 
vielfachem  Eigendünkel  wohl  kaum  von  den  Begründern  dieser 
Bewegung,  einem  Alexander  v.  Humboldt  z.  B.,  vorausgeahnt  worden 
ist  Auch  in  dem  neuiiumanistischen  Gymnasium  siegte  das  Prinzip 
der  fonnalen  Bildung.  „Es  ist  einzig  und  allein  das  fonnale  Prinzip, 
welches  der  Philologie  als  Mittel  der  Gymnasialbildung  ihren  evrigeup 
durch  nichts  zu  ersetzenden  Wert  verleiht  und  dieselbe  zugleich 
zum  universalen  Bildungsmittel  macht."''')  Zwar  setzt  im  Laufe  des 
19.  Jahrhunderts  abermals  eine  bis  in  unsere  Tage  gehende  Protest- 


*)  Joh.  Arnos  Comenius,  Didaktika  magna,  herausgegeben  von  G.  A.  Lindner. 
Lriptig  1886.    .S.  128. 

>)  Vgl  F.  Paulsen,  Geschichte  des  gelehrten  Untemchy.  Ldpsig  1897.  II.  Bd.  S.  500. 


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—   19  — 


bewcf^ng^  mit  der  Gründung  der  Realgymnasien,  der  latcinlosen 
Realschulen  und  Oberrealschulen  ein;  aber  unschwer  lässt  sich  er- 
kennen, dass  auch  diesen  Sdiu^ttungen  die  Traditionen  des 
humanistischen  Grymnasiums»  das  nur  die  Vergangenheit  anbetet, 
aber  keine  Gegenwart  kennt,  zum  Fluche  geworden  sind;  drnn  dr^ 
Pudels  Kern  ist  doch  der,  dass  alle  unsere  höheren  Sf  fi  ilen  jm 
letzten  Grunde  höchst  einseitig  entwickelte  Sprachschulcn  sind  und 
dass  alle  anderen  im  Laufe  der  Zeit  aufgenommenen  Lehrgegen- 
stande nur  mehr  oder  weniger  als  Nebenfacher  figurieren.  Ganz 
allgemein  herrscht  die  Anschauung,  dass  das  Sprachenstudium  der 
Kern  und  Mittelpunkt  der  Bildung  sein  müsse ,  obwohl  doch  die 
Sprache  immer  nur  ein  Werkzeug  und  nicht  der  Inhalt  sein  kann, 
„äründliche  naturwissenschaftliche  Schulung  insbesondere,  der  künst- 
lerischer Sinn  nicht  fehlen  darf,  die  daher,  nicht  beschreibend  und 
nicht  nebensächhch,  sondern  in  vollem  Krnste,  mit  wahrhafter  Natur- 
beobachtung betrieben  werden  ^oüte,  ist  bisher  immer  nur  ein 
frommer  Wunsch  geblieben,  genau  so  wie  plastisches  Denken, 
Raum-  und  Formvorstellung." Selbst  in  den  Refonnschulen  ver> 
schicdener  Systeme  erscheint  das  Schwergewicht  des  Unterrichtes 
in  den  Oberklassen  in  recht  einseitiger  Weise  in  den  spraclilichen 
Unterricht  verlegt,  eine  Tatsache,  die  um  so  auflalligcr  und  hefremd- 
hcher  ist,  als  der  erste  Anstoss  zur  Schaffung  von  Reformschulcn 
durchaus  von  den  Vertretern  der  exakten  iinssenscha^chen  Fächer, 
namentlich  von  den  deutschen  Tn<,'enieuren,  ausgegangen  ist.  Die 
Unterrichtskommission  findet  die  Erklärung  darin,  dass  die  Lehrer 
der  altsprachlichen,  historischen  Fächer  in  erster  Linie  die  Reform- 
schulen einrichteten,  dabei  den  Wert  einer  Stunde  in  den  über- 
Idassen  gegenüber  dem  in  einer  Unterklasse  unterschätzten  und 
daher  eine  grossere  Stundenzahl  verlangten  als  bei  einer  Ver- 
schiebung des  S[)rachunterrichtcs  nach  oben  hin  erforderlich  gewesen 
wäre.  So  wurde  dann  abermals  auch  in  den  Rcformschulpläncn 
dem  exakt  wissenschaftlichen  Unterrichte  gerade  der  Platz  zu- 
gewiesen, der  nach  Erfüllung  der  für  den  Sprachunterricht  als  un- 
eriassUch  erachteten  Forderungen  übrig  blieb." 

Ich  möchte  es  hier  nicht  unterlassen,  die  schwere  Befürchtunfj 
auszusprechen,  dass  auch  das  Seminar  tlurcli  die  Aufnahme  einer 
zweiten  Fremdsprache  immer  mehr  in  diese  Schablone  der  übrigen 
höheren  Lehranstalten  als  reiner  Sprachschulen  hineingedrängt  wird. 
Wenn  es  vor  allem  die  Führer  der  Volksschullehrer  sind,  von  denen 
die  Fordenmg  moderner  Fremdsprachen*)  neben  dem  Latein  aus- 
gegangen ist,  so  beweist  das  nur  die  Tatsache,  dass  auch  unsere 

1)  Kämmerer,  „Ist  die  UafircibeU  unterer  Kiiltw  «ine  Folge  der  logeaieorkonst  }** 
Nalor  und  Schule,  Bd.  II,  S.  254. 

*)  Die  sächsische  Volksscholiehrerschaft  fordert  bekanntlich  in  einem  sieben- 
jährigen Semiaarlcnnai  oUigaUiriKhes  Latein«  oblic»torisebcs  Fnuuöslieh  und  fiünthativei 

2» 


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20  — 


Voiksschullehrerschaft  gegenwärtig  noch  vollkommen  im  Banne  der 
sprachlich-historischen  Schulung  steht  und  dass  sie  Stondesrück- 
sichten,  nämlich  die  Annäherung  ihrer  Bildung  an  die  der  übrigen 
GrebÜdeten,  höher  stellt  als  die  Rücksichten  auf  den  wahren  Bildungs- 
wert. Wenn  sich  fjegenwärtig  die  Stimmen  mehren ,  die  in  allen 
höheren  Lehranstalten  eine  Beschränkung  auf  zwei  Fremdsprachen 
für  durchaus  notwendig  erachten,  tim  eine  Entlastung  der  Schüler 
herbeizuführen  und  eine  Verwirldichung  der  durch  das  moderne 
Bildungsideal  gegebenen  Forderungen  zu  ermöglichen,  dann  bedarf 
es  m.  E.  nochmals  der  eingehendsten  Erwägungen,  ob  das  Seminar 
in  einem  6-  oder  auch  7jährigen  Kursus  imstande  sein  wird,  die 
Belastung  mit  einer  zweiten  Fremdsprache  zu  ertragen,  ohne  dass 
das  Ziel  einer  vertiefteren  Allgemein-  und  BerufsbUdung  emstlich 
gefährdet  wird.  Ich  bin  indessen  der  Überzeugung,  dass  sich  unter 
dem  geschilderten  Drucke  der  Zeitanschauungen  die  Einführung 
einer  modernen  Fremdsprache  neben  dem  Latein  kaum  wird  auf- 
halten lassen  und  dass  die  Durchführung  dieser  Forderung  in  einem 
7  jährigen  Seminarkursus  —  wenn  auch  zunächst  fakultativ  —  unter 
bestimmten  Voraussetzungen  möglich  erscheint 

Wenn  nämlich  die  höheren  Schulen  im  allgemeinen  gegenwärtig 
an  einem  Überwiegen  des  sprachlichen  Wissens  kranken,  so  das 
gegenwärtige  Seminar  an  einem  unertrag^chen  Obermass  historischen 
Wissens.  Man  sehe  sich  daraufhin  nur  unsere  Lehr*  und  Stunde»' 
pläne  einmal  genauer  an  I  In  den  mündlichen  Prüfungen  erfahrt  man 
immer  wieder  mit  Krstriunen,  mit  welcher  Gründlichkeit  die  Kriegs- 
und Staatengesciiichte  laugst  vergangener  Zeiten,  die  ältere  Kirchen- 
geschichte mit  ihren  dogmatischen  Streitigkeiten  behandelt  worden 
ist  Dafür  steht  aber  ja  genügend  Zeit  zur  Verfügung.  Welche 
Summen  von  Kraft  und  Zeit  verwendet  man  auf  die  sorgßUtq^ 
Registrierung  sämtlicher  verunglückter  Erziehungsversuche,  von  den 
alten  Chinesen  angefangen.  Ich  selbst  denke  noch  mit  nicht  gerade 
angenehmen  Empfindungen  an  die  Unmenge  von  Büchertiteln,  In- 
haltsübersichten und  ähnlichen  historischen  oder  besser  historistischen 
Notizen,  die  uns  die  spezielle  Methodik  bescherte.  Wir  leiden  im 
Seminar  tatsächlich  an  einem  derartij^en  Übermass  geschichtlichen 
Wissens,  dass  man  verzweifelnd  mit  Nietzsche  ausrufen  möchte: 
„Lasst  die  Toten  die  Lebendigen  b^raben."  Dazu  kommt  das  in 
der  historischen  Entwicklung  der  Volksschule  und  des  Lehrer- 
bildungswesens begründete  Übermass  an  Religionsunterricht,  den  man 
bekanntlich  zu  allen  Zeiten  als  eines  der  besten  Mittel  betrachtet 
hat,  um  einwandfreie  Krzieher  für  die  grosse  V'olksmenge  zu 
schaffen  (man  denke  an  die  Debatten  des  preussischen  Abgeord- 
netenhauses in  den  letzten  Jahren  I)»  endlich  die  bevorzugte  Stellung 
des  Musikunterrichtes,  den  man  schon  um  der  Erziehung  zum  kirch- 
lichen Organistenamt  willen  nicht  entbehren  zu  können  glaubt  und 
der  meiner  Meinung  nach  eines  der  grössten  Hindemisse  ist,  um 


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—     21  — 


sowohl  die  Allgemein-  als  auch  die  Berulsbildung  des  Volksschul- 
Ichrcrs  lircitcr  und  tiefer  anzulegen,  ihm  eine  Ausbildung  mit- 
zugeben, die  der  der  anderen  p^elehrten  l^cnife  gleichwertig  ist  und 
damit  auch  äusserlich  die  gleichberechtigte  Anerkennung  der  Seminare 
unter  den  übrigen  h61ieren  Lehranstaken  zu  erkSmpfen. 

Es  ist  eine  der  aufialGgsten  Beobachtungen,  die  sich  beim 
Lesen  amerikanischer  Krzichungszeitschriften  aufdrängt,  dass  dort 
viel  häufiger  als  bei  uns  die  Ziele  des  Unterrichten  cnirtert  werden 
und  die  Frage  aufgeworfen  wird,  welche  Lehrgegenstande  und  Lern- 
methoden för  das  Individuum  wie  für  die  Gesamtheit  den  grossten 
Wert  befntzen.  Es  ist  eine  Grundforderung  des  amerikanischen 
Pädagogen,  die  Fähigkeiten  des  Individuums  auf  die  ökonomischste 
Weise,  d.  h.  mit  möglichst  geringem  Zeit-  und  Kraftaufwand  mög- 
lichst stark  auszubilden.  Dabei  fallen  natürlich  die  Anforderungen 
der  Gegenwart  ganz  anders  ins  Gewidit  als  die  Rücksichtnamne 
auf  die  von  früher  her  überlieferten  Methoden  der  Erziehung.  Wie 
aber  ist  es  um  die  Ökonomie  in  unserem  deutschen  Schulwesen, 
von  den  Volksschulen  angefangen,  bestellt?  (Ich  kenne  keinen 
irgendwie  und  irgendwo  \  on  Menschen  geschaffenen  Mechanismus, 
der  mit  dnem  «krartig  grossen  Aufwände  an  ßiergie  und  einem 
derartigen  geringen  NutzungskoefHzienten  arbeitete  als  die  Schule. 
Seit  langem  wissen  wir  aus  der  Energielehre,  dass  die  uns  zur  Ver- 
fugung stehende  Ge?^amtmenge  an  Rnergie  nicht  einen  unendlichen 
Wert,  sondern  eine  bestimmte  endliche  Grösse  repräsentiert,  und 
von  ebenso  allgemeiner,  aber  ftir  das  praktische  Leben  weiter- 
reichender  Bedeutung  ist  die  Erkenntnis,  die  man  gewöhnlich  unter 
dem  zweiten  Hauptsatze  der  mechanischen  Wärmetheorie  zusammen- 
fasst,  dass  es  nie  möglich  ist,  eine  Energieform  restlos  in  eine 
andere,  B.  in  Arbeit,  umzusetzen,  sondern  dass  stets  ein  be- 
stimmter, mathematisch  genau  feststehender  Energiebetrag  verloren 
geht,  dass  demnach  die  gesamte  Tätigkeit  unserer  Technik  nur 
darauf  gerichtet  sein  kann,  den  Nutzungskoeffizienten  mögUchst  zu 
steigern  und  die  bei  jedem  Prozess  abfallenden  nutzlosen  Späne  auf 
ein  möglichst  geringes  Mass  zurückzuführen.  Der  Begriff  der  Ge- 
samtkultur liesse  sich  unter  diesem  Gesichtspunkte  definieren  und 
die  Linie  festlegen,  auf  der  sich  die  zukünftige  Kulturentwicldung 
zu  bewegen  haben  würde.  Nur  unsere  Pädagogik  scheint  gegen- 
wärtig von  diesen  allgemeinsten ,  den  gesamten  Naturhaushalt  be- 
herrschenden Grundgesetzen  nichts  zu  wissen.  Sie  wirtschaftet  mit 
der  psychischen  Energie  des  Individuums  in  einer  Weise,  als  ob 
diese  völlig  ausserhalb  dieser  Gesetze  Stande,  als  ob  äe  einem  un- 
Cfscbopflichen  Reservoir  entquelle  und  ihrer  Leistungs-  und  Um- 
6etzungsfa.higkeit  keine  Grenzen  gezogen  seien.  Wenn  man  darum 
in  naher  Zukunft  vielleicht  der  Revision  der  Seminarlehrplänc  näher- 
tritt, wenn  man  von  neuem  die  Frage  erwägt,  welche  Bildung  wir 
unseren  Zöglingen  mit  hinaus  ins  Leben  zu  geben  haben,  um  sie 


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22  — 


zu  befähigen,  voll  Verständnis  an  dem  Kulturleben  der  Gegenwart 
teilzunehmen  und  dieses  durch  die  Krziehung  der  jungen  Generation 
an  ihrem  Teile  zu  fördern,  so  kann  es  wahrlich  nicht  schwer  sein 
zu  sagen,  an  welchen  Stdlen  zuerst  dn  möglichst  scharfes  und 
scheinbar  rücksichtslos  ver£alirendes  geheimrätliches  Messer  anzu- 
setzen sei,  um  eine  Entlastung  der  Lehrpläne  herbeizuführen.  „Wir 
müssen  eben um  abermals  mit  Nietzsche  zu  reden ,  ,,die  Kraft 
haben  und  von  Zeit  zu  Zeit  auch  anwenden,  eine  Vergangenheit 
zu  zerbrechen  und  aufzulösen,  um  leben  zu  können." 

Soweit  daher  auch  die  Vertreter  der  naturwissenschaftlichen 
Fcächcr  davon  entfernt  sein  wollen,  die  sprachlich- geschichtlichen 
Fächer  um  ihres  hohen  formalen,  sachlichen  und  ethischen  Bildungs- 
wertes willen  zu  unterschätzen,  so  sehr  sie  auch  geneigt  sein  werden, 
die  ihnen  innewohnende  Macht  anzuerkennen,  die  vorzugsweise  auf 
der  engen  Konzentration  des  Lehrstoffs  dieser  Fächer  beruht,  so 
wenig  werden  sie  sich  anderseits  davon  abhalten  lassen,  treu  zu 
ihrer  Überzeugung  zu  stehen ,  und  mit  allen  ihrer  guten  Sache 
reichlich  zur  VeHugung  stehenden  Gründen  -  daran  gehen,  den 
Bildungswert  dieser  f^lUsher,  der  sogen.  Humaniora,  in  seiner  Be- 
deutung ftir  die  Gegenwart  zu  untersuchen.  WiSL  die  Schule  der 
Gegenwart  ihren  Zweck  erfüllen,  so  muss  sie  eine  Tendenz  nach 
vorwärts  haben.  Das  noch  so  Ehr^^'ürdige ,  aber  Minderwertige 
wird  früher  oder  später  den  mit  grosser  Arbeit  neugeschaftenen, 
hodiwicfat^n  und  unentbehrlich  gewordenen  BUdungselementen  der 
Neuzeit  Platz  machen  müssen.  Diese  Neuzeit  aber  mit  ihrer  un- 
ermesslichen  Fülle  selbständiger  und  schöpferischer  Ideen  ist  im 
wesentlichen  durch  die  Tendenz  gekennzeichnet,  die  Natur  in  einer 
früher  niegeahnten  Weise  zu  erforschen  und  zu  beherrschen.  Zwar 
hat  ^ch  der  menschliche  Geist  seit  seinem  Erwachen  mit  den 
Problemen  der  Natur  beschäftigt;  aber  eine  in  der  Menschheits- 
geschichte einzig  dastehende  Tatsache  ist  das  rasche  Emporblühen 
der  Naturwissenschaften  im  19.  Jahrhundert,  ihre  vielseitige  Ent- 
wicklung und  der  mächtige  Einfluss,  den  sie,  ganz  abgesehen  von 
den  Leistungen  auf  ihrem  eigenen  Arbeitsfelde ,  den  bedeutungs- 
vollen  Ergebnissen  der  Biok^ie,  den  erstaunlichen  Fortschritten  der 
Technik,  auf  alle  anderen  Gebiete  der  \\'issenschaft,  auf  Philosophie, 
Kunst  und  soziales  Leben  ausgeübt  haben.  Dem  bis  in  die  erste 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  rein  auf  Spekulation  gerichteten  Geistes- 
leben wiesen  sie  eine  völlig  neue  Richtung;  sie  gaben  ihm  jenen 
Zug  nach  Beobachtung,  jdnen  Sinn  fiir  &s  Reafe,  der  auch  auf 
ethischem  Gebiete  alles,  was  mit  Erdenflucht  zusammenhängt,  zer- 
störte und  angesichts  dieser  Begleiterscheinungen  idealistischer 
Systeme  eine  Daseinslust,  einen  Wirklichkeitssinn  schuf,  der  in 
Philosophie  und  Kunst,  auf  dem  Gebiete  der  Moral,  der  Soziologie 
und  Greschichtsauflassung  einen  Umschwung  der  Ansdiauungen 
hervorrief  wie  er  nur  als  Nachwirkung  höchster  Triumphe  mensch- 


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—    23  — 


lieber  Erkenntnis  cinzuirt  tcn  pflegt.  Diesen  Zeitströmungen  wird 
sich  die  Sciiulc  nicht  mehr  entziehen  können;  mit  Recht  be- 
anspruchen die  Naturwissenschaften  eine  fährende  Stellung  in  der 
Schule,  nicht  nur  auf  diese  ihre  grosse  Bedeutung  för  die  Kultur- 
entwicklung und  die  Lösung  gegenwärtif'^cr  und  zukünftiger  Zeit- 
aufgaben hinweisend,  sondern  auch  auf  jene  wertvollen  erzieherischen 
Momente,  die  in  der  Ausbildung  und  Schärfung  der  Sinne,  der 
Weckung  der  Selbsttätigkeit  und  des  Forschungstriebes,  der  Förde- 
rung des  Kunstsinnes,  der  Einsicht  in  das  gesetzmässige  Walten 
und  in  die  cwig^  Entwicklung^  Her  Natur  liegen  und  die  eine 
sprachlich-historische  Schulung  nimmer  zu  bieten  vermag.  Gerade 
diese  Vielseitigkeit  der  bildenden  Elemente  ist  es,  die  zu  der 
Forderung  zwingt,  die  Naturwissenschaften  als  einen  notwendigen, 
in  seiner  Eigenart  durch  nichts  zu  ersetzenden  Bestandteil  einer 
allgemeinen  l^ildung  anzuerkennen  und  ihnen  einen  grösseren  Raum 
im  Lehrplane  einzuräumen. 

Und  dennoch  getraue  ich  mir  nicht,  die  Frage  mit  einem 
freudigen  Ja  zu  beantworten,  ob  die  täglidi  gröner  werdende 
Diskrepanz  zwischen  der  Auswahl  unseres  Bildungsmaterialcs  in  den 
Srhulcn  einerseits  und  den  Forderungen  und  Bedürfnissen  unseres 
Kuliuriebens  anderseits  bereits  im  gegenwärtigen  Zeitpunkte  eine 
derartige  unerträgliche  Spannung  erreicht  hat,  dass  sich  Konzessionen 
an  die  Naturwissensdiaften  nidit  mehr  aufhalten  lassen.  Es  lässt 
sich  nämlich  gar  nicht  bestreiten,  dass  das  führende  Preussen  als 
auch  Sachsen  7;vnr  der  naturwissenschaftlichen  Untcrrichtsbcwcg-un{^ 
unserer  Tage  ein  gewisses  Wohlwollen  entgegenbringen,  sich  aber 
doch  bis  jetzt  im  grossen  und  ganzen  mehr  passiv  verhalten  haben. 
Den  Grund  hierfür  erblicke  ich  darin,  dass  ich  infolge  der  im  all- 
gemeinen doch  rein  philologischen  Schulung  fast  aller  in  leitenden 
und  mas-^rhcnden  Stellungen  sich  befindenden  Persönlichkeiten 
noch  lri[i<^'^e  nicht  die  rechte  Ül>cn'eii<;^ung  von  der  Betlcutung  des 
Bildungsgehaltes  der  Naturwissenschaften  Bahn  gebjcochen  hat.  Viel 
zu  sehr  hängt  eben  noch  an  unseren  Sohlen ganze  S^wer- 
^  Vicht  einer  langen  Kulturentwicldung  der  Bücherwc^dt  und  des 
Historismus;  „viel  zu  tief  gewurzelt  ist  jener  remancnte 
Scholastizismus,  der  sich  bis  auf  die  Gegenwart  erhalten  hat,  jene 
durch  die  Gewohnheit  langer  Jahrhunderte  fest  gewordene,  fast 
zwangsmässig  wirkende  IdA,  <uiss  man  Kultur  und  Wissenschaft 
doch  irgendwie  und  irgendwo  aus  Bttchem  lernen  könne  und 
müsse;"')  viel  zu  sehr  ist  man  noch  immer  geneigt,  den  geistigen 
und  ideellen  (rehalt  moderner  Technilt  zu  verkennen  und  in  der 
Formung  und  Beherrschung  von  Stoff  und  Kraft  nichts  anderes  als 
die  Jagd  nach  Nutzen,  als  Banausentum  und  öden  Utilitarismus  zu 
erblicken.   Und  wie  häufig  macht  man  die  Erfahrung^  wie  gering 


*)  K.  Fricke     d.  O.  S.  lo. 


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—    24  — 


selbst  bei  den  rein  mathematisch-physikalisch  Gebildeten  die  Kin- 
schätzung  der  modernen  Biologie  zu  sein  pflegt.  Da  Lniit  man 
immer  wieder  auf  Vorstellungen,  als  ob  die  Botanik  noch  jene 
scientia  amabilis  sei,  die  in  dem  Zählen  von  Pistillen  und  Staub- 
gefac;'=en  nuf<7eht,  oder  die  Zoologie  jene  Wissenschaft,  die  die 
Kenntnisse  der  Käfer-  und  Schncckenspezialisten  umfasst,  während 
die  moderne  Biologie  (tir  die  allermeisten  Gebildeten  eine  völlige 
terra  incognita  darstellt  Ist  etwas  anderes  aber  unter  den  an 
unseren  Mittelschulen  herrschenden  Verhältnissen  zu  erwarten? 
„Muss  nicht  bei  dem  herrschenden  Gcschlechte  der  Sinn  für  Freude 
und  Farbe,  für  Naturverständnis  und  Kunstempfindun^  erstickt  sein, 
wo  in  den  Schulen  bisher  immer  nur  das  körperlose  Wort 
geschichtlicher  Mitteilung,  aber  nicht  die  lebendige  Anschauung  zur 
Vermittlung  dient  ?" ')  Darum  glaube  ich  auch  nicht,  dass  irgend  eine 
Macht  der  Welt  lic  Denkrichtung  des  gegenwärtigen  Geschlechtes 
wandeln  kann,  ihm  Schönheit  und  Natur  erfassen  lehren  und  ihm 
innerliche  Freiheit  bringen  kann.  Die  gegenwärtig  herrschenden 
Anschauungen  werden  sidi  erst  dann  ändern,  wenn  das  vorwärts 
drängende  Leben  einem  neuen  Geschlechte  täglich  und  stündlich 
durch  bittere  Krfahrungen  H'c  fühlbare  Lücke  demonstriert,  die  die 
Allgemeinbildung  ohne  eine  tüchtige  biologische  wie  exakt  natur- 
wissenschaftliche Schulung  aufweist  i  dann  erst  wird  sich  mehr  und 
mehr  die  Überzeugung  Bahn  brechen,  dass  Abhilfe  gesdiaffen 
werden  muss.  Diejenige  deutsche  Schulbeh5rde  aber,  die  zuerst 
einer  gründlichen  Reorganisation  de?  höheren  wie  des  Volksschul- 
wesens nach  dieser  Seite  iün  nachgibt,  wird  einen  epochemachenden 
Schritt  vorwärts  tun. 

Infolge  dieser  Sachlage  kann  es  sicii  mi  gegenwärtigen  Zeit- 
punkte nicht  daruip  handeln,  etwa  Vergleiche  mit  den  Gymnasien 
und  Realgymnasien  anzustellen  und  die  gegenwärtig  dort  dem 
naturwissenschaftlichen  Unterrichte  zugebilligte  Stundenzahl  und  die 
Art  ihrer  Verteilung  als  eine  ideale,  für  unsere  Seminare  an- 
zustrebende Norm  hinzustellen ;  wird  doch  z.  B.  mit  Recht  von  allen 
Kritikem  der  neuen  sächsischen  Lehrpläne  för  Realgymnasien  vom 
22.  Dezember  1902  hervorgehoben,  dass  die  Bestrebungen,  die  Pflicht- 
stundenzahl herabzusetzen  und  einen  gemeinsamen  Unterbau  für 
humanistisches  und  Realgymnasium  zu  schaffen,  nur  dazu  geführt 
haben,  dass  die  Naturwissenschaften  abermals  m  bedauerlich  hohem 
Grade  haben  Opfer  bringen  müssen,  dass  insbesondere  die  Biologie 
mit  ihrem  Abschluss  in  Untertertia  völlig  zurücl^edrängt  erscheint 
Uberhaupt  würden  wir  unserer  Sache  wenig  dienen,  wenn  wir  hier 
immer  nur  mit  den  kh mcii  Mitteln  arbeiten  wollten:  Ist  e^-  vielleicht 
möglich,  hier  eine  Stunde  wegzunehmen,  dort  eine  andere  anzusetzen? 
Hauptsache  ist  vielmehr^  dass  das*  was  wir  erstreben,  von  grossen 

*)  Kaimnerer  a.  d.  O. 


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4 


—   25  — 


Gesichtspunkten  aos  angefasst  und  in  seiner  Notwendigkeit  be> 
gründet  werde. 

I. 

Dfe  erste  unserer  Forderungen  bezieht  Mch  auf  die  Biologie. 
Ich  vermeide  mit  Absicht  den  alten  nuf  unseren  Lehr-  und  Stunden- 
plänen noch  immer  figurnerendcn  Namen  Naturbeschreibung,  der 
wohl  zum  ^ten  Teile  an  dem  Misskredit  schuld  ist,  dem  dieses 
Fach  noch  tmmcr  auf  Schritt  und  Tritt  in  der  Form  von  Gering- 
Schätzung  begegnet.  Man  entferne  daher  diesen  Namen,  wie  dies 
srhrin  mehrfach  in  neueren  Lehrplänen  geschehen  ist  und  ersetze 
ihn  durch  Biologie,  wobei  man  diesen  Begriff  in  dem  weiteren 
Sinne  als  die  Lehre  vom  Leben  und  von  den  lebendigen  Geschöpfen, 
den  Tieren  und  Pflanzen,  gebrauche,  so  dass  man  unter  Biologie 
die  Gesamtheit  der  zoologischen  und  botanischen  Disziplinen  mit 
Einschluss  der  Anatomie,  T'h\  sinloc^ic  und  Hygiene  des  menschlichen 
Körpers  versteht.  Wir  verlangen  nun.  dass  die  organische  Natur- 
wissenschaft aus  ihrer  jetzigen  beschämenden  Lage  befreit  wird,  in 
der  sie  sich  mit  je  2  Stunden  Botanik  und  Zoologie  in  Sexta  und 
Quinta  und  i  Stunde  Anthropologie  in  Quarta  befindet,  und  halten 
es  flir  dringend  notwendig,  dass  der  biologische  Unterricht  auch 
am  Seminar  durch  alle  Klassen  hindurchgeführt  wird.  Wir  stehen 
damit  vollkommen  auf  dem  Boden  der  Hamburger  Thesen,  die 
diesen  Standpunkt  auf  Grund  der  formalen,  sachOchen,  ethischen 
und  ästiietischen  Bedeutung  des  biologischen  L'^nterrichtes  in  einer 
Form  bestimmt  haben,  die  die  allgemeine  Zustimmung  aller  be- 
teiligten Kreisen  gefunden  hat.  Die  uns  hier  in  erster  Linie 
interessierenden  Thesen  sind  die  folgenden: 

1.  Die  Biologie  ist  eine  Erfahrungswissenschaft,  die 
zwar  bis  zur  jeweiligen  Grenze  des  sicheren  Naturerkennens  geht, 
aber  dieselbe  nicht  überschreitet.  Für  metaphysische  Spekulationen 
hat  f]ie  Biologie  als  solche  keine  Verantwortung  und  die  Schule 
kerne  Verwendung. 

2.  In  formaler  Hinsicht  bildet  der  naturwissenschaftliche 
Unterricht  eine  notwendige  Ergänzung  der  abstrakten  Lehrfächer. 
Im  besonderen  lehrt  die  Biologie  die  sonst  so  vernachlässigte 
Kunst  des  Beobachtens  an  konkreten,  durch  den  Lebensprozess 
Standigem  Wechsel  unterworfenen  Gegenständen  und  schreitet,  wie 
die  Physik  und  Chemie,  induktiv  von  der  Beobachtung  der  Eigen- 
schaften und  Vorgänge  zur  logischen  Begriffsbiidung  vor. 

3.  Sachlich  hat  der  naturgeschichtliche  Unterricht  die  Auf- 
gabe, die  her;^nwarhsende  Jugend  mit  den  wesentlichsten  Formen 
der  organischen  Welt  bekannt  zu  machen,  die  Erscheinungen  des 
Lebens  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  zu  erörtern,  die  Beziehungen  der 
Organismen  zur  unorganischen  Natur,  zueinander  und  zum  Menschen 
daizulegen  und  einen  Überblick  fiber  die  wichtigsten  Perioden  der 


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Erdgeschichte  zu  geben.  Besondere  Berücksichtigung  bedarf  auf 
der  Grundlage  der  gewonnenen  biologischen  Kenntnisse  die  Lelirc 
von  der  Einrichtung  des  mensddidien  Körpers  und  der  Funktion 
seiner  Organe  einschUesslich  der  wichtigsten  Punkte  aus  der  all- 
gemeinen Gesundheitslehre. 

4.  In  ethischer  Beziehung  weckt  der  biologische  Unterricht 
die  Achtung  vor  den  Gebilden  der  organischen  Welt,  das  Empfinden 
der  Schönheit  und  Vollkommenheit  des  Naturganzen,  und  wird  so 
zu  einer  Quelle  reinsten,  von  den  praktischen  Interessen  des  Lebens 
unberührten  Leben^enusses.  Gleichzeitig  fuhrt  die  Beschäftigung 
mit  den  Krscheinuncrcn  der  lebenden  Natur  zur  Einsicht  von  der 
UnvoUkommenheit  menschlichen  Wissens  und  somit  zu  innerer  Be- 
scheidenheit 

5.  Eine  solcbe  Kenntnis  der  organischen  Welt  muss  als  not- 
wendiger Bestandteil  einer  zeitgemässen  allgemeinen  Bildung 
betrachtet  werden:  Sic  kommt  nicht  etwa  nur  dem  zukünftigen 
Naturforscher  und  Arzt  zu  gute,  dem  sie  den  Eintritt  in  seine  Fach- 
studien erleichtert,  sondern  sie  ist  in  gleichem  Masse  fiir  diejenigen 
Abiturienten  der  höheren  Schulen  von  Wichtigkeit,  denen  ihr  späterer 
Beruf  keinen  direkten  Anlass  zum  Studium  der  Natur  bietet 

6.  Der  gegenwärtige  naturgeschichtliche  Unterricht  kann  dieses 
Ziel  nicht  erreichen,  weil  er  von  der  Oberstufe  ausgeschlossen  ist 
und  weil  die  Lehre  von  den  Lebensvorgängen  und  den  Beziehungen 
der  Organismen  zur  umgebenden  Welt  enahrungsgemäss  nur  von 
Schülern  reiferen  Alters  verstanden  wird,  denen  die  physikalischen 
und  chemischen  Grundlehren  bereits  bekannt  sind. 

Inzwischen  sind  in  den  letzten  Jahren  die  in  diesen  Thesen 
zusammengefassten  Gedanken  von  hervorragenden  Schuhnännem 
und  den  bedeutendsten  naturwissenschaftlichen  Fachgelehrten  so 
eingehend  vor  Versammlungen  und  in  zahlreichen  Schriften  be- 
gründet worden,  dass  es  gegenwärtig  beinahe  unmöglich  erscheint 
7Ai  (Jiesem  Thema  noch  neue  Gedanken  beizubringen.  Trotzdem 
duiitc  CS  wertvoll  sein,  alle  die  Schäden,  die  durch  die  Ver- 
nachlässigung der  biologischen  Fächer  bedingt  werden,  in  jener 
Beleuchtung  zu  kennzeichnen,  die  sie  durdi  die  eigene  Unterrichts- 
erfahrung empfangen.  Wenn  im  mathematischen  Unterrichte 
wesentlich  das  deduktive  Denken  zu  seinem  Rechte  kommt,  so  hat 
der  biologische  Unterricht  ergänzend  das  induktive  Denken  und  die 
Gewöhnung  an  vorurteilsfireie  Beobachtung  zu  üben.  Die  Biologie 
bietet  hierzu  durch  die  Beobachtung  der  uncischöpflichen,  in 
ständigem  Wechsel  hegrift'enen,  den  Menschen  umgebenden  Natur 
die  reichste  (rclcgenheit.  Sie  übt  das  Lernen  aus  Tatsachen,  sie 
iehrt  urteilen  durch  Vergleichen,  durch  die  Feststellung  des  Zu- 
sammenhangs von  Organ  und  Funktion.  Sie  will  ja  nicht  mehr 
I^lanzen  und  Tiere  rein  beschreiben,  sondern  den  inneren  Zusanunen- 
hang  der  an  den  Ocgantsmen  beobachteten  Tatsachen  feststellen. 


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—    27  — 


Sie  lehrt  also  den  Menschen  beobachten,  denken  und  sprechen  und 
zwar  selbst  beobachten,  selbst  denken  und  selbst  sprechen  und 
nicht  bloss  die  Beobachtungen,  Gedanken  und  sprachlichen  Dar- 
stellungen anderer  wiederholen.  Mit  Recht  wird  besonders  die 
Pflege  der  Anschauung  allseitig  als  eine  der  wichtigsten  Aufgaben 
des  biologischen  Unterrichtes  lungestcllt,  aber  auch  allseitig  hervor^ 
gehoben,  da'=s  diese  in  formaler  Hinsicht  durch  den  empirischen 
Charakter  des  Unterrichtes  gegebenen  Vorzüge  erst  dann  zur  vollen 
Geltung  konunen  können,  wenn  eine  hinreichende  Zeit  für  die 
Schulung  nach  dieser  Seite  hin  zu  Gebote  steht 

Man  hat  sich  nachgerade  an  das  ausserordentlich  geringe 

Mass  von  positiven  Kenntnissen  gewöhnt,  das  unsere  Schüler  von 
der  Vnlkt^schule  mitzubringen  pflegen  und  namentlich  wir  hier  in 
der  Grossstadt  sind  gewöhnt,  bei  dem  Grossstadtjungen,  was 
zoologische  und  botanische  Kenntnisse  anbelangt,  eine  völlige  tabula 
rasa  vorzufinden.  Dieser  Mangel  an  Vorkenntnissen  und  eigenen 
Beobachtungen  und  Erfahrungen  Hesse  sich  indessen  immer  noch 
ertragen;  was  aber  viel  schlimmer  ist  und  was  auch  während  der 
Seminarzeit  eher  zu-  als  abnimmt,  das  ist  die  bemitleidenswerte 
Unbehilflichkeit  und  Blindheit  mit  der  die  jungen  Leute  der  Natur 
gegenöbeistehen,  und  die  aus  ihrer  Unfähigkeit  zur  Beobachtung, 
zur  Wiedergabe,  Zergliederung  und  Kritik  der  Erfahrung  entspringt. 
Ich  mache  immer  von  neuem  die  Beobachtung,  dass  die  in  den 
meisten  anderen  Unterrichtsstunden  zur  blossen  Rezeptivität  ver- 
dammten Schüler  stets  bereit  sind,  sobald  man  sie  vor  ein  Problem 
stellt,  Bücher  zu  wälzen  statt  die  Erscheinungen  zu  befragen  und 
ihre  Bedingungen  zu  prüfen.  Sie  erweisen  sich  eben  in  jeder  Be« 
Ziehung  noch  heute  als  echte  Scholastiker.  Ich  kann  nur  bestätigen, 
was  A.  Maurer  vor  kurzem  hierüber  ausgeführt  hat:*) 

„Man  erstaunt  immer  von  neuem,  wie  schwer  es  dem  Schüler 
wird,  eine  einfache  klar  angeschaute  Tatsache  in  guter  Sprache 
und  richtig  darzustellen.   Man  merkt  ihm  deutlich  an,  dass  er  viel 

zu  wenig  daran  gewöhnt  ist,  seine  Sprache  mit  konkreten  An- 
schauungen in  Übereinstimmung  zu  bringen,  wie  es  doch  dem  kleinen 
Kinde  natürlich  ist  Überall  ein  Suchen  nach  einer  Gedanken- 
stütze, die  er  in  einem  Begriflisworte  oder  einer  Satzform  zu  finden 
meint  Hat  sich  aber  im  Unterridite  aus  der  Anschauung  indirekt 
ein  neuer  Begriff  ergeben,  so  bringt  er  am  liebsten  sofort  bei  der 
Wiederholung  das  neue  Begriffswort  und  behandelt  den  Begriff  wie 
eine  gegebene  Tatsache.  Weil  die  Schüler  viel  zu  sehr  gewöhnt 
sind,  ihr  Denken  gegebenen  Begriffen,  Regeln  usw.  zu  subsumieren, 
so  versa^n  sie  hier,  wenn  sie  den  zusammenfassenden  Btgnf[  oder 
ein  Gesetz  als  das  Ergebnis  einer  Anschauungsreihe  erkennen  sollen. 
Im  übrigen  Unterrichte,  besonders  im  Sprachunterrichte  überwiegt 

1)  Vgl.  Natur  nad  Schule  V.  380. 


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—    28  — 


eben  viel  zu  sehr  das  deduktive  Element,  drihcr  die  täglich  zu  be- 
obachtende Unfähigkeit  induktiv  zu  denken."  Line  intensive  Übung 
in  der  Methode  der  Induktion,  die  auf  aUen  Forschungsgebieten  zu 
den  grössten  Fortschritten  geführt  hat,  wird  nur  ein  tüchtiger 
biologischer  Unterricht  gewähren  können.  Er  besch^gt  sich  mit 
den  kompliziertesten  Objekten  und  ist  daher  auch  in  erster  I  inie 
berufen,  die  Geschicklichkeit  im  rbrrblirkcn  und  hrlassen 
komplizierterer  Verhältnisse,  die  Gewandtheit  im  Kombinieren  und 
Erkennen  von  Beziehungen  und  Zusammenhängen  zu  üben. 

Mit  der  rein  empirischen  Seite  ist  indessen  der  Bildungswert 
der  Biologie  nicht  erschöpft.  Diese  würde  allein  wohl  auch  nicht 
als  ausreichend  angesehen  werden,  um  eine  Ausdehnung  des 
biologischen  Unterrichtes  auf  die  mittleren  und  oberen  Klassen  zu 
rechtfertigen.  Ich  verzichte  darauf,  hier  eingehend  die  ethische  Be- 
deutung dieses  Unterrichtes  zu  erörtern,  auszuführen,  wie  er  frühzeitig 
subjektive  und  objektive  Wahrheit  trennen  lehrt,  eine  Scheidung, 
die  von  grundlegender  moralischer  Bedeutung  ist,  wie  er  aus  der 
ungeheuren  Mannigfaltigkeit  der  Natur  immer  nur  einen  kleinen 
Ausschnitt  zu  geben  und  auch  hinsichtlich  der  Unvollkommenheit 
unseres  Wissens  bei  den  Schülern  keinen  Zweifel  zu  hinterlassen 
vermag,  auf  diese  Weise  wertvolle,  zur  Bescheidenheit  führende 
Gegengewichte  schaffend  gegenüber  zahlreichen  anderen  Schul- 
wissenschaften, die  zu  leicht  den  Eindruck  des  in  sich  Ab- 
geschlossenen und  Fert^n  machen  und  daher  in  dem  Schüler  die 
falsche  Meinung  erwecken,  als  habe  er  nun  den  Inbegriff  alles 
Wissens  erworben  und  damit  die  Fähigkeit  wie  die  Berechtigung 
über  alle  Dinge  in  unfehlbarer  Weise  abzuurteilen,  eine  geistige 
Verfassung,  die  man  namcnthch  auch  im  VolksschuUehrerstande  nicht 
gar  so  selten  antrifft 

Ich  gehe  auch  nicht  näher  auf  die  ästhetische  Seite  hin,  wie 
die  Bekanntschaft  mit  den  Naturformen  den  Schüler  an  die  Pforten 
der  Kunst  hinführt  und  seinen  Blick  für  das  Schöne  zu  öffnen 
vermag.  Ich  erinnere  nur  an  das  schöne  Wort,  das  Professor 
Waldeyer,  ein  entschiedener  Anhänger  der  humanistischen  Bildung, 
in  Hamburg  gesprochen  hat:  „Die  Pflege  der  biologischen  Wissen- 
schaften wird  wieder  ein  verfeinerndes,  ein  veredelndes  und  schützen- 
des Moment  in  unsere  Erziehung  hineinbringen,  ja  ich  wage  es  aus- 
zusprechen, das  Beste,  was  dem  Menschen  gegeben  werden  kann." 

Die  durchschlagendsten  Gründe,  die  für  eine  Fortführung  des 
biologischen  Unterrichtes  in  den  Oberklassen  sprechen,  liegen  in 
erster  Linie  auf  dem  rein  sachlichen  Gebiete.  In  unseren  Unter- 
klassen besitzen  die  Schüler  absolut  nicht  die  ^^eistige  Reife,  vor 
allem  mangeln  ihnen  die  unbedingt  notwendigen  physikahschen, 
insbesondere  chemischen  Tatsachen,  die  für  eine  tiefere  Erfassung 
des  Lebcisproblemes  erforderlich  sind;  denn  ich  verhehle  mir  gar 
nicht  die  Tatsache,  dass  alles,  was  14 — i6jahrigen  Menschen  vor- 


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—    29  — 


gefuhrt  werden  kann,  immer  ein  in  usum  delphini  zu^^estutztes 
Wissen  ist  und  bleiben  wird.  Ich  halte  es  für  äusserst  schwer, 
wenn  nicht  tur  unmöglich,  die  Schüler  bereits  in  diesem  Alter  zu 
einer  klaren  Auflassung  der  Lebensfunktionen  und  der  Abhängigkeit 
der  Lebewesen  von  den  äusseren  Bedingungen  hinzuführen*  Um 
nur  an  ein  Beispiel  zu  erinnern,  wie  soll  unser  Quintaner  oder 
Quartaner  die  Ernäh'^unrTsbeding^ungcn  der  Pflanzen  klar  erfassen, 
wenn  ihm  die  Zusaniaiciisetzung  und  LÖslicbkeit  der  Bodensalze,, 
die  physikalischen  Eigenschaften  des  Bodens,  die  Bedeutung  der 
Bodenluft,  die  Zusammensetzung  der  Luft,  die  chemische  Wirkung 
des  Lichtes,  der  Ox-ydations-  und  Redu]<:tionsvorg'ang  böhmische 
Dörfer  sind'  Darauf  wird  mir  geantwortet;  Dann  sorge  nur  zur 
rechten  Zeit  daiur,  dass  diese  Dinge  mit  in  deinen  biologischen 
Unterridit  eingeflochten  und  vor  allem  durch  einige  schöne 
Experimente  verdeutlicht  werden.  Ich  glaube,  man  befindet  sich 
hier  in  einer  schweren  I  auschun«::: :  denn  es  dürfte  gar  nicht  schwer 
sein,  den  Quartaner  dazu  zu  bringen,  das  auszusprechen,  was  man 
ihm  iiber  den  Sauerstoft-  und  KoMensäuregehalt  der  Luft  und  deren 
Bedeutung  för  den  Stoffwechsel  der  Tiere  und  Pflanzen  sagt, 
namentlich  wenn  man  ihm  durch  einige  Experimente  die  wichtigsten 
Eigenschaften  beider  Gase  zci^  und  ihm  den  (Tcc^enstand  mit  Hilfe 
von  Vergleiclicn  und  Bildern  notdürftig  plausibel  macht.  Aber  ich 
glaube  trotzdem  nun  und  nimmermehr,  dass  er  ohne  einen  voraus- 
gegangenen soigsam  aufgebauten  Chemieunterricht  imstande  ist,  den 
Zusammenhang  der  Erscheinungen  als  eine  gesetzmässige  und  not- 
wendige Folge  von  Ursache  und  Wirkung  zu  begreifen.  Erst  nach- 
dem der  physikalisch-cliemische  Unterricht  die  nötigen  Vorkenntnisse 

Beliefert  hat,  wird  die  MögUchkeit  gegeben  sein,  den  Kreislauf  des 
lohlenstofl&f  Sauerstoffs,  Stickstoffe,  Phosphors  usw.  in  der  orga- 
nischen Welt,  nebst  den  Voi^ängen  der  Atmung,  Ernährung,  Ver- 
d  iuun«:^,  Verwesung,  Vergährung,  Wärmezeugung  und  Wärmebindung, 
kurzum  den  gesamten  Stoff-  und  Energiewechsel  im  lebenden 
Organismus  im  Zusammenhang  zu  erörtern.  Es  ist  meiner  Meinung 
nach  einer  der  schwersten  didaktischen  Fehler,  zu  dem  die  gegen* 
wärtige  Lehrordnung  verleitet,  schon  dem  jüngeren  Schüler  mit  un- 
zureichenden Mitteln  Dinge  erklären  zu  wollen ,  für  die  ihm  noch 
die  Reife  abgeht.  Zu  leicht  erlangt  der  Schüler  dadurch  jenen 
Schein  von  Wissen,  der  viel  schlimmer  ist  als  Unwissenheit 

Besonders  auflallig  zeigen  sich  diese  Nachteile  in  unserem 
Anthropologieunterrichte.  Was  wir  hier  zu  bieten  verminen,  unrd 
im  ganzen  besehen,  citie  zwar  etwas  vertiefte,  aber  sonst  nur  mit 
einem  wissenschaftlichen  Mäntelchen  versehene  Darstellung  dessen 
bleiben  müssen,  was  man  dem  14jährigen  Voiksschülcr  mitzugeben 
pflegt,  eine  durch  eine  Anzahl  schöner  Gesundheitsregeln  gewürzte, 
im  übrigen  aber  sich  wesentlich  auf  die  anatomischen  Verhältnisse 
beschränkende  Kost,  obgleich  es  bei  dem  im  sächsischen  im  Gegen- 


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_   30  - 


satz  zum  preussischen  Seminarlehrplan  vollständigen  Fehlen  eines 
bestimmten  vorausgegangenen  Kursus  in  pflanzlicher  und  tierischer 
Gewebelehre  immer  noch  schwer  genug  faUen  mag,  eine  durch 

mikroskopische  Präparate  gestützte  Darstellung  der  feineren  Bau- 
verhältnisse der  wichtif^sten  Organsj^teme  zu  geben.  Viel  wichtiger 
als  die  Anatomie  ist  aber  doch  die  Physiologie.  Es  ist  mir  vöUig 
unverständlich,  wie  man  sich  eine  intensive  Unterweisung  in  der 
Lehre  von  der  Ernährung  über  die  physiologischen  Leistungen  des 
Nervensystems  und  der  Sinnesorgane  ohne  Kenntnis  physikalischer 
und  chemischer  Tatsachen  denkt,  «^anz  zu  schweigen  von  den  not- 
wendip^en  Belehrungen  über  Gifte  und  Gegengifte,  Antisepsis  und 
Asepsis,  Narkose  und  Reizung,  die  wohl  kaum  denkbar  sind,  ohne 
auf  die  Erscheinui^en  der  auszuwählenden  Löslichkeit,  der  Sättigung, 
Neutralisation,  Coagulierung  usw.  zurückzugreifen.  Wie  die  Studien- 
pläne der  Universitäten  den  Unterricht  in  der  Hygiene  nicht  an  den 
Anfang,  sondern  an  das  Ende  des  medizinischen  Studienganges  ver- 
weisen, so  gehört  auch  unser  anthropologischer  Unterricht  entschieden 
in  eine  höhere  Klasse,  in  der  die  Beziehungen  zu  Physik  und  Chemie 
möglich  sind.  Nur  dann  wird  er  dem  zukünftigen  Lehrer  jene 
Kenntnisse  mitgeben  können,  die  er  auf  schulhygienischem  Gebiete 
als  tägliches  Handwerkszeug  gebraucht  und  die  ihn  auf  dem  Gebiete 
rationeller  persönlicher  Hygiene  zu  der  hohen  Mission  befähigt,  die 
ihm  als  Pionier  der  Hygiene  unter  den  breiten  Volksschichten,  in 
der  Arbeiterbevölkerung  der  Grossstadt  wie  draussen  im  einfadien 
Walddorf  zugewiesen  ist.  Nur  in  der  Oberklassc ,  aber  nicht  vor 
unseren  unreifen  Quartanern  vers])reche  ich  mir  einen  Erfolg  von 
Belehrungen  über  Themen  wie  diese;  die  Bedeutung  der  xMikro- 
organismen  för  die  öffenttiche  Gesundheitspflege.  Die  Ernährung 
unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Alkoholfrage.  Die  indivi- 
duelle Hygiene  mit  Berücksichtigung  des  Sportes.  Die  Hygiene 
der  geistigen  Arbeit  und  die  Pflege  der  Sinnesorgane.  Auch  an 
das  noch  wenig  geklärte  Problem  der  Beiiandlung  der  sexuellen 
Hygiene  sei  hier  erinnert 

Dann  erst  wird  das  Seminar  an  seinem  Teile  an  der  Lösung 
der  hohen  Kulturaufgabc  teilnehmen,  die  darin  bestellt,  die  Mensch- 
heit zu  einer  verimnftgemässen  Lebensweise  zu  erziehen,  sie  :^u  be- 
wahren vor  den  Folgen  einseitig  und  rücksichtslos  betriebenen 
Sportes,  sie  zu  warnen,  jedem  neuen  einseitigen  Ernährungsfanatiker 
zuzujubehi,  sie  zu  heilen  von  jenem  modernen  Aber-  und  Wunder- 
glauben, der  sich  sofort  jeder  Kurf  fu  rherci  und  Marktschrcierei 
ausliefert  und  der  uns  in  den  Erscheinungen  des  Gesundbetens  und 
ähnlicher  Dinge  erst  in  letzter  Zeit  abermals  einen  Beweis  dafür 
geliefert  hat,  welche  Folgen  die  grauenhafte  Unkenntnis  der  Ein» 
richtungen  und  Eigentümlichkeiten  des  lebenden  Organismus  selbst 
bei  den  Gebildetsein -Wollenden  der  höchsten  gesellschaftlichen 
Kreise  mit  sich  bringt.   Ich  scheue  mich  gar  nicht,  die  Ketzerei 


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—   31  — 


ai)S7\j«;prechen ,  dass  vieles,  sehr  vieles,  was  gegenwärtige  in  den 
Obcrklassen  breiten  Raum  beansprucht,  leicht  wiegt  gegenüber  dem, 
was  unseren  Abiturienten  vorenthalten  wird  und  dass  die  Zukunft 
ganz  sieber  daran  gehen  wird,  die  entscheidende  Frage  zu  unter«; 
suchen,  ob  nicht  der  Schwerpunkt  des  naturwissenschaftlichen  Unter» 
richtes  in  den  Obcrklassen  in  die  Biologie  verlegt  werden  müsse. 
Es  sei  hier  nur  an  den  Ausspruch  Rud.  Virchows  auf  der  Schul- 
konferenz von  1901  erinnert:  „Wir  haben  begründete  Hoffnung,  es 
werde  mdit  mehr  lange  dauern,  bis  die  Forderung  anerkannt  wird, 
dass  jeder  gebildete  Mann  ein  grosses  Stück  Biologie  Uennen  muss, 
um  diejenige  Stellung  einzunehmen,  die  für  die  Beurteilung  der 
Welt  erforderlich  ist"  und  an  die  sciiünen  Worte,  in  denen  Friedrich 
Paulsen  die  Aufgabe  der  Biologie  erblickt  und  zusammengefasst  hat. 

Scbluss  folgt. 


Iii. 

Haue  Rechenmethode.  gegründet  auf  das  natürliche  Werden 
der  Zahlen  und  des  Rechnens. 

Von  Dr.  E.  Wllk-Gotha. 
Vorwort 

An  meine  Untersuchung  über  das  Werden  der  Zahlen*)  bin  ich 
mit  dem  redlichen  Bestreben  hcrangegant^en .  mir  selbst  Klarheit 
zu  schaffen  über  die  Methodik  des  Rcciinens  und  einen  festen 
Standpunkt  zu  gewinnen  im  Widerstreit  gegensätzlicher  Meinungen 
der  heutigen  Rechenmethodiker,  die  man,  in  Bausch  und  Bogen 
genommen,  in  die  beiden  Gruppen  der  Anschauer  und  der  Zähler 
zu  scheiden  sich  gewöhnt  hat.  Nichts  lag  mir  ferner  als  die  Absicht, 
eine  neue  Rechenmethode  aushndig  zu  machen.  Im  Gegenteil, 
indem  ich  auf  beiden  Seiten  besten  Wülen  und  nicht  ungewöhnliche 
psychologische  Einsicht  voraussetzte,  war  ich  der  Überzeugung,  dass 
hüben  und  drüben  ein  gut  Teil  W'ahrheit  zu  finden  sein  müsse» 
dessen  Vereinigung  auf  eine  richtige  Mittelstrasse  fuhren  werde. 

Es  kam  anders,  als  ich  gedacht  Im  Laufe  der  Untersuchung 
sticss  ich  auf  einen  Hauptpunkt,  der  beim  Werden  der  Zahlen 
im  Geiste  der  Völker  eine  fuhrende  Rolle  gespielt  hat,  der  aber 
von  den  Zählern  sowohl  wie  von  den  Anschauera  übersehen,  auf 
jeden  Fall   in  seiner  grundl^enden  Bedeutung  nicht  genügend 

Das  Werden  der  ZaUen  mnd  des  Reebnens  raf  Grand  von  Fiyeliokgie  und 
Gctehichte  von  Dr.  E.  Wi\k,  BJeyl  &  Kaemmerer,  Dresden  1905.  Preis  1,80  M . 


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—   32  — 


ewürdigt  worden  ist    Es  wurde  mir  klar,  dass  erst  die  Kmpor- 
ebune  dieses  Hauj)tmoinentes  im  BUdungsprozess  der  Zahlen  in 
den  Mttelpunkt  des  Rechenunterrichts  diesen  in  seine  natürlichen 

Bahnen  lenken  und  ihn  befreien  würde  von  den  Künsteleien  der 
Anschauer  und  von  den  UmständUchkeiten  der  Zähler.  Und  damit 
war  die  Grundlage  pfcwonnen  fiir  eine  neue  Methode  des  Rechnens. 

Den  Herren  Kritikern,  die  sich  pflichtgemäss  mit  meiner  Schrift 
haben  beschäftigen  müssen,  scheint  die  Tragweite  meiner  Ergebnisse 
nicht  zum  Bewusstsein  gekommen  zu  sein  trotz  aller  Anerkennui^» 

die  sie  meiner  Arbeit  haben  zukommen  lassen.  Eine  bemerkenswerte 
Ausnahme  machen  zwei  Kollegen  aus  Süddeutschland ,  die  meine 
Schrift  offenbar  nicht  im  Zwange  der  Berufskritik,  sondern  aus 
Interesse  am  Stoffe  gelesen  haben,  angezogen  von  Gedanken,  die 
sie  selbst  schon  in  der  Seele  gehegt  und  bewegt  liaben.  Der  eine, 
1  11(1  wig  Wagner-Marquartstein,  g^bt  einer  empfehlenden  Besprechung 
meiner  Arbeit  (Bayr.  Lehrerzeitimg  1906  No.  41)  die  Uberschrift: 
„Neue  ßalinen  für  den  Rechenunterricht"  und  beginnt  mit  den 
Worten:  „Eine  Schrift,  welche  dem  Rechenunterricht  neue  Bahnen 
weist,  hat  Anspruch,  in  grösseren  Kreisen  bekannt  zu  werden,  um 
so  mehr,  wenn  diese  Bahnen  nicht  nur  neu,  sondern  wahrhaft 
natürlich  sind."  Und  der  andere ,  der  bekannte  Rechenmethodiker 
Oberlehrer  Knilling-Traunstcin  kündigt  ein  „neues  Lehrverfahren  für 
den  gnindl^enden  Unterricht  im  Zahlenraume  i — 20**  an  (Bayr. 
Lehrerzeitung  1907  No.  10)  unter  Berufung  auf  sein  eigenes  Werk: 
,,Die  natur^cmässc  Methode  des  Rcchcnunterrichts",  ebenso  aber 
auch  unter  Berufung  auf  meine  Schrift  und  auf  einige  Aufsätze 
anderer  Autoren.  Er  nennt  das  neue  Lehrverfahren:  ,J)ie  Methode 
des  sinnlich-darstellenden  Rechnens."  ,J>ies  dritte  Leluverfahren  — 
meint  er  —  besitze  die  vermeintlichen  Vorzüge  der  Zahlbilder- 
rcchcnmethode  seinerseits  wirklich  und  vermeide  zugleich  die  zcit- 
und  kraftraubende  Umständlichkeit  der  Zählmethode." 

Ich  habe  in  meiner  Schrift  über  „Das  Werden  der  Zahlen" 
Knilling  noch  zu  den  Z-aiiliactliüdikern  gerechnet  entsprechend  seiner 
früheren  Stellung.  Wie  er  mir  brieflidi  mitteilt,  Imt  er  sich  aber 
„schon  lange  von  den  Einseitigkeiten  der  Zählme^ode  losgemacht 
und  sich  zu  rationelleren  Überzeugungen  durchgeningen".  Kr  be- 
weist dies  durch  Anziehung  einer  Reihe  ausschlaggebender  Stellen 
aus  seinem  zweibändigen  Werke :  Naturgemässe  Methode  des  Rechen- 
unterrichtes,^)  „auf  daas  Sie  sich  —  so  schreibt  er  wörtlich  —  sdbrt 
übeizeugen  können,  dass  ich  mich  in  der  Hauptsache  ganz  und  gar 
zu  den  von  Ihnen  vertretenen  rechenmethodischen  Überzeugungen 
bekenne".  In  der  Tat  beweisen  die  angeführten  Stellen  eine  erfreu- 
liche Übereinstimmung  unserer  Ansichten.    Ich  ergreife  daher  gerne 

*:  München,  Oldenboore,  BUlige  Ana^,  TeU  I  a,$o  M.  TeO  11  1,50  M 
1897  uad  1899. 


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—   33  — 


diese  er^te  Gelegenheit,  meinen  Irrtum  zu  bekennen  und  Herrn 
Knilling  als  Mitstreiter  t&r  die  neue  Rechenmethode  zu  begriissen. 
Ich  hofle,  dass  das  Gewicht  seiner  bekasuiten  Persönlichkeit  dem 
neuen  Unterrichtswege  zugute  kommen  wird. 

EhMtni. 

Wir  haben  also  jetzt  drei  Rechenmethoden:  die  Methode  der 
Anschauung^,  die  Methode  des  Zählcns  und  endlich  die  Methode  der 
sinnUchcn  Darstellung.  Diese  Bezeichnungen  können  nicht  recht 
befriedigen.  Wer  sie  hört,  kann  sich  des  Gefühles  nicht  erwehren, 
als  könnten  die  Rechenmethoden  ins  Unbegrenzte  vermehrt  werden, 
als  könnten  bei  einigem  Fleisse  noch  ein  paar  Dutzend  anderer 
hinzugefunden  werden.  Die  Schuld  lie<^t  in  dem  ungenügenden 
lo'jisrhen  Gegensatze,  auf  welchem  die  obigen  Bezeichnungen  ge- 
gründet sind.  Die  prinzipiellen  Gegensätze  sind  nicht  getroffen, 
man  hat  bei  jenen  Bezeidmungen  nebensächliche  Merkmale  zu  Paten 
genommen  und  noch  dazu  solche,  die  nicht  einmal  jeder  der  drei 
Methoden  eigentümlich  zukommen.  Wollen  die  Anschauer  nicht 
auch  zählen?  Vermeiden  etwa  die  Zähler  jede  sinnliche  Veranschau- 
Uchung  der  2^1en?  Und  was  soll  vollends  der  Unterschied  zwischen 
Anscluiuen  und  sinnlichem  Darstellen  sein?  Hier  möcbte  ich  zunächst 
ein  Wort  zur  Klärung  sagen.  Die  Sache  verhält  sich  folgender« 
massen: 

In  Bezug  auf  die  Mntenr  welche  den  Stoff  des  Rechnens  bilden, 

ist  dreierlei  zu  unterscheiden : 

1.  die  Zahlen  selbst,  jede  für  sich  als  Individuum  be- 
trachtet, 

2.  die  Zahlen  geordnet  nach  ihrer  Grösse  zur  natürlichen 

Zahlen  reihe, 

3.  die  Zahlen  geordnet  zum  Zehnersystem. 

Je  nachdem  man  nun  entweder  die  Zahlindividuen  oder  die 
Zahlenreihe  oder  das  Zahlensystem  zum  Ausgangspunkte  der  unter- 
richtlichen Betrachtung  macht,  erhält  man  je  eitie  besondere  Methode 
des  Recfaenuntenlchts.  Diese  drei  müssen  also  heissen:  die  Methode 
der  Zahlindividuen  oder  die  monographische  Betrachtung  der 
Einzelzahlen,  die  Methode  der  Zahlenreihe  oder  des 
Zählens  und  endlich  die  Methode  des  Zehnersystems. 

Diese  letztere  ist  unsere  neue  Methode,  wie  sich  zeigen  wird. 
Daraus  ergibt  sich,  dass  nur  diese  drei  Methoden  möglich  sind, 
wenigstens  wenn  man  annimmt,  dass  die  Ordnung  des  Lehrverfahrens 
nach  der  Reihe  der  4  Grundoperationen  des  Rechnens  seit  länger 
als  einem  Jahrhundert  für  immer  abgetan  ist 


Padsgosische  Stodtoo.  XXIX.   l.  8 


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—   34  — 


Das  System  das  Erste  im  Rechenunterrichte,  die  Wuizd,  die 
Qudk  der  Zahlen?  Unglaublich!  Soll  denn  die  Pädagogik  wieder 

zurückgeworfen  werden  in  ihre  Uranlange,  in  die  Zeiten  vor  Locke 
und  Bacon?  sollen  die  Errungenschaften  von  Jahrlmnderten  auf  dem 
Gebiete  de'r  Psychologie  wieder  beiseite  geschoben  werden?  Die 
beiden  genannten  Männer  haben  doch  schon  gelehrt,  dass  nichts  im 
Geiste  ist,  was  nicht  seinen  Weg  durch  die  Sinne  genommen  hat 
Alle  &rkenit&iis  geht  '•sgmit  aus  von  der  Anschauung  der  Dinge, 
den  Einzelwesen.  So  entsteht  die  zeitliche  Reihe:  a)  Empfindung, 
b)  Sinnenbild  oder  konkrete  Vorstellung,  c)  abstrakte  Vorstellung 
und  parallel  dazu  der  Begrifl^^)  ^jjcj^ch  d^  System  der  Über-  uqj4 
Unterordnung.  Das  System  whrd  erst  'g(<0DQd0tü  ^eiVi .  ^ie^  Menge 
der  konkreten  Vorstellungen  so  stark  angewachsen  isb,  'dass  ein 
seelisches  Bedürfnis  nach  Ordnung  und  Übersicht  entsteht.  In  j 
einem  psychologisch  betriebenen  Ünterrichte  wird  demnach  das 
System  an  letzter  Stelle  stehen,  wird  Schlusswirkung  sein,  nicht 
aber  Ausgangspunkt  So  mag  Grrube,  auf  den  die  monographische 
Behandlung  der  Einzelzahlen  zurückgeht,  geurteilt  haben;  so  noch 
heute  die  Anschaucr;  so  habe  auch  ich  einstmals  ([gedacht. 

Und  trotzdem  1  Das  Gesagte  hat  mit  dem  System  der  Zahlen 
gar  nichts  zu  tun,  es  ist  nur  richtig  für  das  naturwissenschaftliche 
System.  Hier  liegt  eine  Begrif&verwimii^  vor,  verursacht  durch 
das  gleiche  Wort.  Ich  behaupte,  dass  das  Wort  System  in  seiner 
arithmetischen  Anwendung  eine  ganz  andere  Bedeutung  hat  wie  in 
seiner  naturwissenschaftlichen. 

Sinnenbilder   der  Dinge   hat  der  Mensch  in  grosser  Menge 

Sehabt  ehe  er  anfing,  ein  umfassendes  System  derselben  zu  bilden; 
agegen  ist  es  keinem  Volke  der  Welt  gelungen,  mehr  als  lO  Zahlen 
zu  er7eugen  —  in  Wirklichkeit  nur  4,  wie  sich  bald  zciji^en  wird  — , 
ohne  das  Viele  zur  Einheit  jrusammenzufassen.  Diese  Gruppen- 
einheiten aber  sind  das  Grundelement  des  Zahlensystems.  Man 
nehme  das  naturwissenschafüiche  System  wieder  weg;  und  alle 
Naturgegenstande,  alle  Sinnenbilder  davon  bleiben  dieselben  wie 
zuvor;  man  nehme  das  Zahlen'^\  •^tem  weg,  und  alle  Zahlen  über  10 
laufen  zusammen  in  ein  unbeslimnites  Viel,  jede  Zahl  verliert  üir 
bestimmtes  Gepräge.  Es  ist  das  aller  wichtigste  Resultat 
meiner  Untersuchung  über  das  Werden  der  Zahlen, 
dass  diese  nur  durch  Einführung  eines  Zahlensystems 
gebildet  werden  konnten.  System  und  Einzelzahlen  sind 
gleichzeitig  in  die  Höhe  <,a'wachsen.  In  j^fewif^sem  Sinne  kann  man 
sogar  behaupten,  dass  das  System  früher  da  war  als  die  Zaüien: 
es  war  naitUich  vorgebildet  in  den  Händen.    Diese  gegenständ- 


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—   35  — 

Hebe,  diese  Zweckeinheit  der  5  (resp.  10)  Finger  der  Hände  ist 
natürlich  erst  bei  der  Zahlenbildung  selbst  zu  einer  Zahleneinheit 
geworden.  Iinmerhin  kann  man  sagen,  dass  der  Mensch  die  Einheit 
des  Vielen  abgelesen  hat  von  seinen  Händen. 

Das  Zahlen^tem  ist  also  mit  den  Zahlen  unlöslich  verbunden, 
es  gehört  von  einer  bestimmten  Stufe  an  zu  deren  Wesen.  Sein 
oder  Nichtsein  der  Zahlen  fallt  zusammen  mit  dem  Sein  oder 
Nichtsein  eines  Systems.  Das  naturwissenschaftliche  System  dagegen 
ist  eine  in  die  vorhandenen  Dinge  nachträglich  hineingedachte  Be- 
griffsordnung, die  nicht  einmal  richtig  passen  will  Überall  drückt 
der  Schuh.  Die  Natur  mit  üven  ineinander  fliessenden  Formen  will 
sich  dieser  reinlichen  Scheidung  so  wenig  fügen,  dass  die  Wissen- 
schaft schon  in  Verlegenheit  gerät,  wohin  sie  die  einfachsten  Wesen 
einordnen  soll,  ob  in  das  Pflanzen-  oder  das  Tierreich. 

£s  ist  bedauerlich,  dass  für  zwei  so  grundverschiedene  Begriffe 
dasselbe  Wort  geprägt  worden  ist  Nur  das  eine  haben  beide 
Systeme  gemeinsam,  dass  sie  eine  gewisse  Ordnung  und  Über- 
sichtlichkeit in  ihre  P'inzelwesen  bringen.  Darin  mag  auch  der 
Grund  zu  suchen  sein  für  die  gleiche  Bezeichnungsweise.  Aber 
diese  Übersichtlichkeit  entspringt  doch  ganz  verschiedenen  Gründen. 
Das  naturwissenschaftliche  System  schafft  sie,  indem  es  Gleiches 
oder  Ähnliches  in  einer  Gruppe  vereinigt.  Aber  der  Inhalt  der 
einen  Gruppe  ist  ganz  verschieden  von  flem  Inhalt'-  der  anderen. 
Wer  die  Familie  der  Zweihänder  kennt  1:  mn  daraus  keinen  Schluss 
ziehen  auf  das,  was  in  der  Raubtiergruppc  zu  finden  sein  wird. 

Ganz  anders  beim  2^ahlensystenL 

Dies  ist  zu  vergleichen  mit  dem  Bauplane  zu  einem  Gebäude, 
in  dem  jedes  folgende  Stockwerk  nach  einem  bestimmten  Gesetze 
^mäss  dem  vorhergehenden  gebUdet,  etwa  —  man  verzeihe  diese 
unnatürUche  Annahme  —  zehnmal  so  hoch  wie  dieses,  sonst  aber 
mit  ihm  vollständig  gleich  werden  soll.  Ist  das  erste  Stockwerk 
gebaut,  so  kann  sich  jedermann  mit  Hilfe  jenes  Abhängigkcite- 
Verhältnisses  vorstellen ,  wie  das  2.  und  3.  Stockwerk  künftig  aus- 
sehen wird.  Das  Zalilensystem  ist  nichts  weiter  als  ein  nach  einem 
bestimmten  Gesetze  aufjgebautes  vielstöckiges  Zahlengebäude.  Wie 
die  Einer  gebaut  sind,  so  auch  die  Zehner,  die  Hunderter,  Infolge 
dt^er  Gleichmässigkeit  wird  sich  jeder,  wer  sich  in  den  Einem 
zurechtfindet,  auch  in  den  Zehnern,  Hundertern  usw.  auskennen. 
So  erklärt  sich  die  Übersichtlichkeit,  weiche  das  System  in  die 
2Sahlen  hineinbringt:  die  Ordnung  der  Einer  wiederholt  sich  immer 
wieder. 

Man  soUte  daher  nicht  von  einem  Zahlensystem  sprechen, 
sondern  von  einem  n.nrh  bestimmtem  Gesetze  errichteten  Zahlcnbau, 
von  einem  gesetz massigen  Zahlengebäude.  Und  nunmehr 
wird  niemandem  mehr  befremdlich  erscheinen,  dass  dieses  System, 
Äeser  gesetzmasstge  Aufbau  ganz  wesentlich  zu  den  Zahlen  gehört, 


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-   36  - 


dass  diese  erst  in  jenem  sich  verwirklichen  konnten,  dass  beide, 
Zahlen  und  System,  so  unzertrennlich  verbunden  sind  wie  etwa  die 
Materie  und  ihre  Form 

Aus  der  Übereinstimmung  der  verschiedenen  Stockwerke  im 
Bau  de»  Zahlenraumes  folgt  mancherlei  flir  die  Methode  des  Rechen- 
unterrichts. 

a)  Wenn  diese  nicht  gleichmäissig  in  allen  Abschnitten  des 
Zahlenraumes  durchführbar  ist,  muss  ihre  Zweckmässigkeit  und 
Natürlichkeit  von  vornherein  bezweifelt  werden.  Dies  trifft  sowohl 
die  Etnselbehandlung:  der  Zahlen  wie  das  Zahlen. 

Nidit  einmal  der  Erfinder  der  allseitigen  Zahlenbetrachtung  hat 
es  gewagt,  seine  Unterrichtsweise  über  roo  auszudehnen.  Seine 
Nachfolger  sahen  ein,  dass  selbst  in  diesem  Zahlenraume  schon, 
sobald  man  zu  höheren  Zahlen  hinauisticg,  ein  Wirrwarr  lawinen- 
artig anwachsender  Beziehimgen  sich  ergab,  in  dem  niemand  mehr 
sich  auszufinden  vermochte.  Man  beschränkte  daher  die  Methode 
Grubes  gar  bald  auf  die  beiden  ersten  Zehner;  heute  will  man  sie 
häufig  sogar  nur  noch  im  Zaiilenraume  l  —  lO  (resp.  12)  Liehen  lassen. 
Der  Sturm  der  Begeisterung  ist  abgeflaut,  nur  in  der  Klasse  der 
Sdiulanfanger  duselt  nodi  ein  Ideines  Lüftchen. 

Und  die  Zahler?  Ihre  Methode  auf  höhere  Zahlenräume  zu 
übertragen ,  scheitert  schon  an  der  für  das  Zählen  erforderlichen 
Zeit.  Bis  ur  Million  zu  zählen,  das  dauert  etwa  einen  Monat  bei 
täglich  etwa  zehnstündiger  Arbeit,  wenn  überhaupt  die  Nerven  des 
Menschen  eine  solche  Kraftprobe  aushalten.  Das  Zählen  lasst  sich 
ja  ganz  gewiss  nicht  aus  der  Welt  schafien,  denn  die  Zahlmomente 
ungeordneter  Dinggruppen  lassen  sich  gar  nicht  anders  bestimmen. 
Ebenso  gewiss  ist  aber  auch,  dass  das  einfache  Ablaufenlasscn  der 
Zahlenreihe  die  schlechteste  und  unsicherste  Methode  des  Zählens 
ist,  die  nur  angewandt  wird,  wenn  alle  anderen  versagen.  Wenn 
beispielsweise  der  Hirte  wissen  will,  wieviel  Stück  seine  Herde  hat, 
so  bleibt  ihm  '-.rin  anderer  Weg  wie  eben  das  Hersagen  der  Zahlen- 
reihe. Ist  er  fertig,  so  ist  aber  auch  schon  die  Ungewissheit  da, 
ob  er  sich  rücht  etwa  doch  verzählt  haben  könnte.  Ist  die  Herde 
gross,  so  wird  er  ein  zweites,  drittes,  sogar  ein  Wertes  Mal  zählen, 
bis  er  mehrere  übereinstimmende  Resultate  hat  Diese  Unsicherheit 
und  Umständlichkeit  hat  ein  zweites  X'crfahren  gezeitigt,  das  immer 
angewandt  wird,  wenn  die  zu  zählenden  Gegenstände  handlich  sind, 
wie  7.  B.  das  Geld.  Man  macht  Häufchen  von  10  Stück,  stellt  je 
10  Häufchen  in  eine  Reihe  usw.  Kurz  und  gut:  man  ordnet  die 
Gegenstande  nach  dem  Zehneisystem.  Dabei  braucht  man  itnmer 
nur  bis  10  zu  zählen;  mit  dieser  kurzen  Reihe  zählt  man  die  Einer, 
die  Zehner,  die  Hunderter  usw.  Dies  Verfahren  hat  den  Vorteil 
der  grösseren  Sicherheit  und  der  leichteren  Nachkontrolle. 

So  erzwingt  sich  das  Zahlensystem  sein  Recht,  indem  es  die 
Unnatur  der  Methoden  über  den  Haufen  wirft.   Sowohl  die  An- 


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—  37  — 


schauer  wie  die  Zähler  müssen  schliesslich  zum  System  greifen, 
einfach  deshalb,  weil  ihre  Methode  auf  grossere  Zahlen  nicht  mehr 

anwendbar  und  durchführbar  ist.  Diese  Tatsache  ist  recht  be> 
denklich ,  wenn  man  sie  misst  an  der  Gleichartigkeit  des  Zahlen- 
baucs  in  allen  Stockwerken.  W^er  diese  beachtet,  kann  den  Ge- 
danken nicht  von  der  Hand  weisen:  Ein  Verfahren,  welches  für 
die  Zehner  zweckmässig  ist,  muss  auch  fiir  die  Hunderter  und 
Tausender  passen;  und  wenn  es  für  diese  nicht  mehr  durchführbar 
ist,  so  muss  es  auch  für  jene  falsch  gewesen  sein.  Die  Fehler 
treten  nur  nach  oben  hin  schärfer  hervor,  sie  häufen  sich  schliesslich 
so,  dass  die  Methode  von  selbst  zu  Falle  kommL 

b)  In  der  Tat,  die  Zahlenbildung  kann  nur  dann  in  ihrer  un- 
endlichen Einfachheit  •  offenbar  werden ,  wenn  der  gesetzmässige 
Bau  und  die  auf  ihm  beruhende  Form  der  Zahlen  in  den  Vorder- 
grund der  Betrachtung^  gerückt  werden.  Wer  z.  B.  im  zweiten 
Zehner  begriffen  hat,  wie  man  zweigliedrige  Zahlen  aus  Zehnern 
und  Einem  zusammensetzt,  der  kann  das  auch  in  jedem  anderen 
Zehner,  und  es  wird  ihm  ein  Leichtes  sein,  in  analogem  Verfahren 
selbst  drei-  und  viergliedrigc  zu  bilden. 

Gleiches  gilt  für  das  Rechnen.  Die  Einsicht  in  das  formale 
Rechnen  beruht  auf  einer  kleinen  Anzahl  von  Operationsgesetzcn. 
Diese  Gresetze  sind  samtlich  ein  unmittdbarer  Ausfluss  aus  dem 
21ehnersystem  und  der  Zahlcnformen,  die  ja  ihrerseits  wiederum  tane 
Folge  des  Systems  sind.  Wer  gelernt  hat  bei  der  Addition  und 
Subtraktion  die  lo  und  20  zu  überschreiten,  wird  das  auch  bei 
jedem  anderen  Zehner  fertig  bringen ;  und  17  mal  2  ist  nicht  ein- 
facher herauszubringen  wie  38  mal  2  usw. 

Wenn  die  alten  Rechenmeister  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
die  ganze  unendliche  Zalilenrcihe  auf  einmal  entwickelten,  um  dann 
gleich  ganz  unbeschränkt  im  Umfange  die  einzelnen  Operations- 
gesetze durchzunehmen,  so  kann  ich  von  meinem  eben  gezeichneten 
Standpunkte  aus  ihrem  Verfahren  ein  Kömchen  Wahrheit  nicht  ab« 
sprechen  trotz  aller  Verurteilung,  die  ihre  Methode  in  der  neueren 
Pädagogik  gefunden  hat.  Aber  nur  ein  Körnchen,  nicht  mehr. 
Weil  sie  ihr  .Augenmerk  immer  nur  auf  die  Sache  gerichtet  haben, 
übersehen  sie  das  Kind.  Völker  und  Menchen  wachsen  aber  nur 
allmählich  in  die  Zahlen  hinein,  der  arithmetische  Horizont  dehnt 
ach  mit  dem  wirtschaftlichen.  Das  Kind  in  seinen  kleinen  Ver- 
hältnissen hat  kein  Bedürfnis  nach  hohen  Zahlen.  Diesen  seelischen 
Zustand  des  w-erdenden  Menschen  zu  berücksichtigen,  daran  haben 
die  alten  Rechenmeister  gar  nicht  gedacht  \  sie  wollten  nichts  weiter, 
als  der  Natur  ihrer  Wissenschaft  gerecht  werden. 

Zusammenfassend  können  wir  sagen:  Das  Zahlensystem  ist  von 

gundlegender  Wichtigkeit  für  die  gesamte  Methodik  des  Rechnens, 
as  System  gehört  zum  Wesen  der  Zahlen  von  10  ab  aufwärts, 
nur  unter  seiner  Mitwirkung  konnten  diese  entstehen,  ohne  es  sind 


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~    38  - 


sie  nicht  denkbar.  Und  dieser  Prozess  der  Zahleobildung  findet  fiir 
den  einzelnen  Menschen  noch  heute  jederzeit  statt.    Wer  könnte  von 

sich  behaupten,  dass  er  alle  iinendlicli  vielen  Zahlen  schon  einmal 
gedacht  oder  ausgesprochen  habe  ?  Einen  Gegenstand,  den  ich  noch 
nicht  gesehen  habe,  kann  ich  mir  nicht  vorstellen;  aber  eine  Zahl, 
die  ich  niemals  gedacht,  kann  ich  in  jedem  Augenblicke  bilden. 
Das  ist  die  Macht  des  Zahlensystems:  Das  Baugesetz  befähigt  uns, 
jede  beliebige  Stelle  des  Gebäudes  zu  treffen. 

Vom  Zahlensystem  hängt  weiter  ab  die  äuj>scre  Form  der 
Zaiilcn,  ob  sie  einfache  Grundzahlen  sind,  ob  zwei-,  drei-  oder  mehr- 
gliedrige  Summen  usw.  Und  endlich,  ein  Ausfiuss  beider,  des 
Zahlensystems  und  des  formalen  Baues  der  Zahlen,  sind  die  Rechen- 
gesetze und  Rechenregeln.  Daraus  folgt,  dass  nicht  bloss  der 
Zahlenbildungsprozess,  sondern  auch  das  t{csamte  formale  Rechnen 
unlössUch  an  das  Zehnersystem  gebunden  sind,  jede  Methode, 
wddie  das  nicht  ^  von  Anfang  an  beachtet,  muss  zweifellos  die 
ausserordentliche  Übersichtlichkeit  und  Einfachheit  des  Rechnens 
verwirren,  weil  sie  seine  Gesetzmässigkeit  nicht  klar  genug  zutage 
fördert.  Insbesondere  hat  die  ganze  Gruppierung  des  Zahlen- 
materials, die  Stoffanordnung  des  Rechenunterrichts,  nach  Massgabe 
des  Systems  zu  erfolgen.  Das  Genauere  hierttber  wird  sich  später 
etgebea 

Die  finntfialilML 

Die  Monographcn  sowohl  wie  die  Zähler  müssen  zugeben,  dass 
in  den  höheren  Stockwerken  die  Zahlbildung  und  das  Rechnen  auf 
das  System  gegründet  werden  müssen ;  sie  müssen  eingestehen,  dass 
jedermann  mit  solchen  für  den  Augenblick  gebildeten  Zahlen  rechnen 
kann,  auch  wenn  ergeradedieseZahl  noch  niemals  der  Rechnung 
unterworfen  hat,  ^^  ^  1  eben  die  Gesetze  allgemein  gelten  wegen  der 
Gleichartigkeit  des  Zahlenbaues  in  allen  seinen  Stockwerken.  Weniger 
schroffe  Anhänger  der  beiden  Methoden  werden  schliesslich  auch 
zugeben,  dass  das  System  schon  von  der  lO  ab  zu  seinem  Rechte 
kommen  muss.  Was  aber,  so  werden  sie  sagen,  haben  die  Gnind> 
zahlen  l  bis  9  mit  dem  System  zu  tun  ?  Hier  bleibt  nur  die  Einzel* 
bchandlung  oder  das  Zählen  übrig,  ein  drittes  gibt  es  nicht:  im 
ersten  Zehner  fällt  das  System  ganz  von  selbst  aus.  Es  scheint,  als 
wäre  dagegen  nichts  einzuwenden. 

a)  Zahlenanschauung, 

Wir  fragen  uns  zunächst,  ob  die  P  inzclbehandlung  der  Zahlen 
befriedigen  kann,  ob  sie  der  Natur  der  Zalücn  entspricht  Die  An- 
sdiauer  behaupten:  Ein  verständnisvolles  Rechnen  ist  nur  möglich, 


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39  — 


wenn  der  Zahlenbeg^riff  auf  klaren  Vorstellungen  fusst;  sonst  wird 
alles  mechanischer  Formalismus,  gedankenloses  Anwenden  ein- 
gelernter Regeln.  Daher  müssen  die  Zahlvorsteliungen  durch  An- 
schauung gewonnen  werden.  Es  ist  recht  bezeichnend  fUr  Grabe, 
dass  er  die  Zahlenbehandlung  in  Parallele  stellt  mit  der  Betrachtung 
von  Gegenständen  im  Anschauungsunterrichte  oder  der  Pflanzen  in 
der  Botanik,  hin  Verfahren,  das  für  diese  unpassend  erscheine, 
könne  unmöglich  richtig  sein  für  zahlen.  ,^bs  elementare  Rechnen 
nach  den  Spezies  auseinander  fallen  zu  lassen,  ist  dassdbe  (d.  h. 
ebenso  falsch.  D.  V.),  als  im  Aiisdiauungsuntenichte  dem  Kinde 
die  Gegenstände  nach  den  Rubriken  von  Grrösse,  Gestalt, 
Fnrbe  usw.  vorzuführen.  Wie  aber  das  Kind  den  Gegenstand  nicht 
kennen  lernt,  wenn  es  nach  einem  Merkmale  verschiedene  Gegen- 
stande ansdiaut,  sondern  wenn  es  den  einen  Gegenstand  nach 
seinen  verschiedenen  Merkmalen  betrachtet,  so  lernt  der  Schüler 
auch  z.  B.  die  Zahl  4  nicht  kennen,  wenn  er  heute  2  -f  2  —  4  lernt, 
nach  einigen  Wochen,  wenn  das  Subtrahieren  an  die  Reihe  kommt, 
4  —  2  =  2  usw."  (Kehr,  Geschichte  des  Rechenunterrichtes.)  In 
kurzen  Worten :  Die  Zahlen  sollen  behandelt  werden  wie  die  Gegen* 
Stande  auf  Grund  der  Anschauung  durch  analj^sche  Zerlegung  des 
Ganzen  in  seine  Teile. 

Diese  Theorie  der  Anschauer  beruht  auf  einer  ganz  falschen  An- 
sicht von  dem  Wesen  der  Zahlen.  Ist  die  Zalil  ein  Objekt  der  An< 
schauung  wie  ein  Baum  oder  besser  wie  eine  Gruppe  von  turnen  f 

Ein  Baum,  eine  Gruppe  von  Bäumen  hat  Grösse,  Gestalt,  Farbe, 
Geruch  usw.  Jedes  dieser  Merkmale  zieht  durch  einen  besonderen 
Sinn  in  unsere  Seele.  Wirkt  auf  den  Nerv  des  Auges,  des  Ohres, 
des  Tastsinnes  ein  bestimmter  Reiz,  so  ist  die  Seele  gezwungen, 
auf  eine  bestimmte  Weise  zu  antworten:  wir  haben  Empfindungen 
bestimmter  Qualität,  denen  wir  uns  nicht  entziehen  können.  Wir 
müssen  dem  Reiz  entsprechend  empfinden,  wir  möc^cn  wollen  oder 
nicht.  Ganz  anders  bei  dem  Zahlmoment  (irr  Raunigruppc.  Selbst 
wenn  wir  diese  mit  der  grössten  Aufmerksamkeit  betrachten,  so  ist 
dodi  nicht  gesagt,  dass  uns  die  Zahl  der  Baume  dabei  zum  Be> 
wusstsein  kommen  müsste.  Die  Farbe  der  Blätter,  die  Form  müssen 
wir  sehen;  dass  aber  eine  Zahl  mit  im  ^iele  ist,  das  kann  uns 
ganz  entgehen. 

Woran  hegt  das?  Man  könnte  vermuten,  dass  uns  ein  be- 
sonderer Sinn  rar  die  Perzeption  der  Zahlen  fehlt,  wie  das  z.  B.  der 
Fall  ist  inbezug  auf  den  Magnetismus  und  die  Elektrizität.  Auch 
diese  Kräfte  sehen,  hören,  fühlen  wir  nicht,  wir  nehmen  sie  mit 
keinem  unserer  Sinne  wahr,  obgleich  sie  Naturkräfte  sind  von 
dcichem  Wesen  wie  das  Licht,  der  Schall,  die  Wärme.  Bei  den 
Zahlen  liegt  die  Sache  aber  doch  wesentlich  anders.  Die  Zahl  ist 
weder  eine  Qualität  eines  Objektes,  noch  das  Objekt  selbst,  d.  h. 
eine  Summe  von  solchen  Qualitäten,  die  durch  einen  realen  Träger 


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zusammcncfchalten  werden.  Es  fnbt  aber  noch  ein  Dnttes, 
Zwischen  den  Gegenständen  einer  Gruppe  können  noch  Beziehungen 
wirldich  bestehen  oder  wenigstens  in  sie  hineingedacht  werden. 
Ein  Stein  wird  von  der  Erde  angezogen.  Das  ist  eine  tatsächliche 
Kcz.iehung.  Die  Wirkung  dieser  gegenseitigen  Anziehung  ist  die 
Schwere  des  Steines.  Diese  letztere  ist  unseren  Suincn  zugänglich; 
wir  brauchen  bloss  den  Stein  auf  die  Hand  zu  legen,  so  empfinden 
wir  sein  Gewicht  Für  die  Anziehung  sdbst  aber  sind  unsere  Sinne 
taub.  Auch  „die  Ehe"  ist  ein  Beziehungsbegriff.  Was  sehen  wir? 
Wir  sehen  einen  Mann,  eine  Frau  und  Kinder;  wir  sehen  r^ie  ::^e- 
meinschaftlich  wohnen,  essen  und  trinken;  wir  haben  vielicjcln  auch 
einst  die  Trauungsfeierhchkeit  gesehen.  Aber  alles  das,  Irauung, 
Essen,  Wohnen,  Kinder,  Frau  und  Mann,  ist  doch  noch  nicht  die 
Ehe.  Diese  selbst  ist  ein  ideelles  Verhältnis,  eine  hinzugedachte 
Beziehung  zwischen  Frau  und  Mann  und  deshalb  nicht  sichtbar. 
Ein  anderes  Beispiel:  der  Winkel.  Was  sehen  wir:  Von  einem 
Punkte  läuft  hier  eine  Linie  in  bestimmter  Richtung  und  von  dem- 
selben Punkte  aus  da  eine  in  bestimmter  Richtung.  Diese  keil- 
fönnige  Fläche  aber  ist  noch  nicht  der  Winkel.  Der  BegriiT  von 
ihm  entsteht  erst,  wenn  wir  die  eine  Linie  in  Beziehung  setzen  zur 
anderen,  indem  wir  etwa  fragen:  wie  gross  ist  der  Unterschied 
zwischen  beiden  Richtungen,  wie  muss  ich  die  eine  Linie  drehen,  dass 
sie  in  die  Lage  der  zweiten  kommt  Beäehungen  sind  demnach 
unsichtbare  Brücken  zwischen  den  Dingen,  meistens  Zutaten  unseres 
Geistes,  Synthesen  des  Denkens.  Man  sage  nicht,  die  sinnliche 
Unfassbarkeit  liege  in  der  Abstraktheit  der  genannten  Wr Stellungen. 
Nein,  ich  habe  von  diesem  Steine,  von  diesem  besonderen  VVmkel, 
von  der  Ehe  zwischen  diesem  Manne  und  dieser  Frau  gesprochen, 
also  von  Beziehungen  zwischen  ganz  konkreten  Einzelwesen. 

Auch  die  Zahlen  sind  Beziehungsbegriffe.  Die  Beziehung  be- 
zeichnen wir  hier  mit  dem  Worte  Addition  und  wollen  damit  sagen: 
Denke  dir  getrennte  Dinge  oder  getrennte  Gruppen  von  Dingen  zu 
einor  IQnheit  verdnigt  nach  dem  Genditspuniae:  wieviel  sind 
es  ihrar  zusammen.  Was  sehen  wir^  Hier  einen  Baum,  da  einen 
Baum;  kurz:  Baum,  Baum,  weiter  nichts.  Alles  was  der  Begriff 
„zwei  Räume"  mehr  enthält  ist  geistiges  Frzeugnis,  Zutat  unseres 
Inneren.  Die  Addition  ist  nicht  sichtbar.  Man  verwechsele  nur 
nicht  Addieren  mit  räumlicher  Annäherung  oder  zeidicher  An- 
reihung. Beides  ist  nicht  dasselbe.  Das  beweist  schon,  dass  wir 
Dinge,  welche  noch  so  nahe  sind,  zahlenmässig  auseinander  denken, 
und  Dinge,  welche  noch  so  weit  voneinander  entfernt  sind,  zahlen- 
mässig zur  Einheit  zusammendenken  können.  Nur  soviel  kann 
iiugcgeben  werden,  dass  räumliche  und  zeitliche  Nähe  oder  An- 
näherung sinnliche  Vorgänge  sind,  die  uns  anreizen,  jene  additive 
Beziehung  in  die  Dinge  luneinzutragen  einfach  aus  dem  Grunde, 
weil   nahe  Gegenstände  auch  in  räumlicher  Beziehung  als  ein 


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Ganzes  angesehen  zu  werden  pflegen.  Wenn  zwei  Herden  Schafe 
zusammenlaufen,  so  bilden  sie  nach  unserer  Meinung  eine  einzige 
Herde.  Diese  räumliche  Einheit  der  Gruppen  erzeugt  das  Be- 
dürfnis, auch  ihre  Zahlmomente  su  vereinigen. 

Die  Zahlen  sind  demnach  in  der  Aussenwdt  gar  mcht  vor* 
handen,  wir  erzeugen  sie  erst  in  unserer  Seele  und  denken  sie 
hinein  in  die  Dinge  und  Geschehnisse.  Und  das  ist  der  (irund, 
warum  wir  eine  Gruppe  von  Gegenständen  noch  so  aufmerksam 
betrachten  können,  ohne  dass  uns  auch  nur  der  Gedanke  an  eine 
Zahl  konnunt  Die  Zahl  kann  uns  von  aussen  nicht  aufgezwungen« 
werden  wie  eine  Farbe,  sie  ist  nicht  sichtbar,  nicht  hörbar,  nicht 
fühlbar,  sie  ist  kein  Objekt  der  Anschauung  wie  ein  Gegenstand  der 
Natur;  sie  entsteht  nur  in  uns,  wenn  wir  eine  bestimmte  Frage 
stellen,  die  Frage  nach  dem  Wieviel  einer  Dinggruppe.  Dann  erst 
denken  wir  uns  jene  Beziehung,  Addition  genannt,  zu  den  Einzel* 
dingen  hinzu.  Nennen  wir  das  Wieviel  eines  £inzdding«s  i,  so 
sehen  wir  i,  i  (genau  genommen  nicht  einmal  soviel,  wir  sehen 
bloss  die  Dinge;  die  i  als  das  Wieviel  eines  Dinges  ist  schon  eine. 
Idee);  unter  2  aber  haben  wir  uns  zu  denken:  14-1. 

Es  gibt  also  überhaupt  keine  Vorstellungen  von 
Zahlen,  sondern  nur  Begriffe  von  solchen.^)  ^ 

Wenn  nun  auch  die  Beziehunf^en  unter  den  Dingen  selbst  nicht 
wahrnehmbar  sind,  so  bietet  doch  anderseits  die  Aussenwelt  recht 
vieles  den  Sinnen  7vr  IVrzeption  an,  was  uns  auffordert,  uns  geradezu 
zwingt,  den  Gedankcnschluss  auf  eine  bestehende  Beziehung  zu 
machen  oder  eine  solche  hinzuzudenken.  Wer  Mann,  Weib,  Kmder* 
zusammenleben  sieht,  muss  auf  die  Idee  kommen,  eine  besondere  Be- 
ziehung zwischen  ihnen  zu  konstruieren,  die  zwischen  diesem  Mann  und 
allen  anderen  Frauen  nicht  besteht.  Nicht  die  Beziehunj^cn.  wohl 
aber  die  Dinge,  zwischen  welchen  sie  gedacht  werden,  sind  unseren  " 
Sinnen  zugänglich;  zu  dem  noch  Nebendinge,  Nebenumstände,  be- 
sondere Zustände  und  Vorgänge,  welche  uns  jene  Beziehungen  ^ 

*)  Wir  biidcu  uns  nicht  ein,  mit  unicjcr  Erklärung,  die  Zahl  sei  das  Wieviel,  das 
Wesen  der  7MI  erschöpft  zu  haben.  Wir  wissen  wohl,  dass  damit  eigentlich  nur  eine 
Worterklänmg ,  eine  Umschreibung  gegeben  ist ,  weil  der  Begriflf  des  Wieviel  keine 
höhere  Abstraktheit  nnd  keinen  weiteren  Umfang  hat  als  der  Begriff  der  Zahl.  Wir 
sind  überh.iupt  der  Arisicht,  dass  eine  rcjjelrechtc  Definilion  iles  Zahlhegrifts  nicht 
ta^gUch  ist,  weil  kein  ttbcrgeordnetcr  BegritT  zu  linden  ist;  die  Zahl  oder  das  Wieviel 
ist  tellMt  der  büchtte  B^iiff  seiner  Kategorie.  Versdiiedene  FliUosoph««  haben  nch 
abgemüht,  die  Zahl  auf  Raum  und  Zeil  bezieh,  n.  Ftwas  Befriedigendes  ist  dabei 
nicht  beniasgckommcn.  Man  wird  gut  tun,  die  drei  Begriffe:  das  Wo  des  Raumes, 
du  Wann  der  Zeit  nnd  das  Wievid  der  Zahl  tb  nnTcrgkichbar  anzanehmeo.  Wer 
*om  Wesen  drr  '/^hl  handeln  will,  kann  demnach  nur  verschiedene  Zitpe  desselben 
hervorheben ;  er  kann  auch  wohl  sagen,  was  die  Zahl  nicht  ist  und  damit  ihren  Begriff 
gegen  andere  ab(;reaaen;  er  kann  aber  nimmermehr  ihr  Wesen  ausschöpfen. 

Im  Grunde  genommen  kommt  auch  darauf  für  den  Unterricht  nichts  an.  Wir 
wlirdcQ  uns  nait  solchen  Erörterungen  gar  nicht  abgeben,  wenn  nicht  der  VVeg  erst 
wieder  fireigemacbt  werden  mflHte  doich  Abtrugn^g  fgu  kttnstUcb  an^ebaiilcr  Metfaoden. 


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nahcle^j^pn  Die  Aii'^cpnwpl!  ^n'bt  uns  Anhaltspunkte  Lritmotive  zur 
Er/.cugung  von  Be2iehun<:[sbe^'^rirlen.  Und  diese  Tnebledern  sind  oft 
so  offensichtlicher,  so  zwingender  Natur,  sie  zeitigen  den  Beziehungs- 
begrifif  so  leicht,  so  sicher,  so  prompt,  dass  wir  meinen,  wir  sahen 
die  Verbindungsbrüdce  selbst  mit,  obwohl  wir  doch  nur  lit  Grund- 
pfeiler wahrnehmen,  /wischen  denen  sie  t;n«;:rhtbar  schwebt. 

Und  so  ist  es  auch  bei  den  Zahlen.  Die  Zahlen  selbst  nehmen 
wir  nicht  wahr,  aber  sehr  wohl  die  Unterlagen,  auf  Grund  deren 
wir  sie  bilden,  die  Dinge  und  Gresdiehnkse.  Nun  gibt  es  im  Leben 
tausenderlei  Veranlassung,  diese  nur  als  Seiende  oder  als  Akte 
zu  nehmen,  d.  h.  ganz  ah7i^sehen  von  ihrer  besonderen  Qualität 
Und  das  sind  die  VorbediiiL;ungen  zur  Zahlenbildung.  Wenn  in 
einer  Dinggruppe  die  bcsuiidere  Qualität  jedes  Eünzelwesens  ganz 
gleichgültig  ist,  dennoch  aber  jedes  Wesen  seinen  Wert  behält 
gerade  durch  die  Besonderheit  seines  Seins,  so  gibt  es  nur  noch 
eine  Frarc  an  die  Gruppe,  die  Frage  nach  dem  Wieviel. 

Wenn  man  somit  in  der  Methodik  des  Rechnens  von  sinnlicher 
Anschauung,  von  klaren  Zahlvon>teiiungen  spricht,  so  muss  man 
unter  diesem  Worte  etwas  ganz  anderes  verstehen  wie  im  An- 
schauungs-  oder  Naturgeschichtsuntcrrichte.  Das  Anschauen  der 
Sinne,  die  Deutlichkeit  des  Vorstellens  (d.  Ii.  des  geistigen  Schauens) 
bezieht  sich  nicht  auf  die  Zahl  selbst,  sondern  nur  auf  die  Dinge, 
auf  die  Vorgänge,  die  immer  vor  aller  Zahienbildung  vor- 
handen sind,  auf  die  sinnlichen  Motive  zu  ihrer  Erzeugung. 

Das  können  auch  die  Anschauer  zugeben.  Sic  werden  aber 
hinzusetzen:  In  der  Rechcnstnnde  wird  der  Sinn  drs  Kindes  durch 
die  Unterrichtskunst  des  Lehrers  in  die  Richtung  gelenkt,  dass  es 
eine  üruppe  von  Dingen  auf  ihr  Zahlmoment  hin  ansieht  und  nicht 
etwa  hinsichtlich  ihrer  Qualität  Für  den  Unterricht  ist  demnach 
die  Unterscheidung  zwischen  Sichtbarkeit  der  Zahl  selbst  oder  bloss 
ihrer  Unterlagen  ganz  belanglos.  Vielmehr  darauf  kommt  es  an, 
ob  das  Kind  beim  Anblicken  einer  Gruppe  von  Dingen  sofort  und 
mit  Sicherheit  angeben  kann,  ob  sie  aus  2,  3  oder  4  Gegenständen 
besteht  Woher  es  sein  Wissen  hat,  von  aussen  oder  von  innen, 
das  kann  uns  dabei  einerlei  sein. 

Wir  wollen  das  zugestehen  und  auch  unserseits  nach  alter  Ge- 
wohnheit von  anschaulicher  Vorstellbarkeit  der  Zahlen  sprechen  in 
dem  Falle,  dass  es  möglich  ist,  das  Wieviel  der  Dinge  oder  Vor- 

fänge  alldn  auf  Grund  der  sinnlichen  Wahrnehmung  (d.  h.  ohne 
ählen)  richtig  und  sicher  anzugeben. 

Es  entsteht  nunmehr  die  Frage:  Sind  die  Zahlen  in  diesem 
Sinne  des  Wortes  verstellbar  ? 

Wir  sehen  eine  Herde  Schafe,  jedes  einzelne  Stück  ist  sichtbar 
und  scharf  geschieden  von  den  anderen  und  dennoch  ist  es  un- 
möglich, durch  blosses  Sehen  ihre  Zahl  anzugeben.  Die  Regel- 
losigkeit der  Anordnung  ist  nicht  die  Ursache  unserer  Unfähigkeit 


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Selbst  wenn  ynr  die  Dinge  ordnen  zu  Zweien,  Dreien,  Vieren,  es 
hilft  alles  nichts:  Sobald  es  sich  um  eine  grössere  Vielheit  handelt, 
versagt  die  Zahlbildung  durch  Anschauui^  vollständig.    Das  ist 

noch  niemals  bestritten  worden. 

Ebenso  unbezweifelt  ist  im  Gegensatz  dazu  die  Vorstellbarkeit 
der  Zahlen  t,  2,  $  und  s<^ies8tidi  auch  noch  der  4,  mag  die  An> 
<Mxinui%  der  Gegenstände  im  Räume  (das  geometrische  ^lüenbild) 
sein,  wie  sie  will.  Sobald  wir  die  Dinge  erblicken,  wissen  wir  auch, 
wieviel  es  ihrer  sind.  Die  Zahlerzeugung  geht  so  schnell,  so  sicher 
vor  sich,  dass  tatsächlich  die  Täuschung  entsteht,  als  sähen  wir  die 
Zahlen  wie  eine  Farbe.  Daraus  erklärt  sich  auch  die  merkwürdige 
grammatische  Erscheinung,  dass  in  den  indogermanischen  Sprachen 
die  ersten  drei  Zahlwörter  (im  Griechischen  auch  das  Wort  für  4} 
dekliniert  werden  wie  Eigenschaftswörter,  während  die  übrigen  Zahl- 
wörter nicht  wandelbar  sind.  Tatsache  ist  auch  —  ich  habe  seit 
einer  Reihe  von  Jahren  die  Probe  darauf  gemacht  dass  üet 
ausnahmslos  alle  Schulanianger  bei  ihrer  Aufnahme  die  ersten  vier 
Zahlen  nach  momentanem  Sehen  der  aufgehobenen  Finger  sicher 
erkennen,  während  die  wenigsten  wissen,  dass  die  Hand  5  Finger 
haL  Auch  das  beweist,  dass  jene  vier  eine  von  allen  anderen 
Zahlen  abweichende  Art  ihrer  Entstehung  haben. 

Der  Streit  konzentriert  sich  in  Wirldidikeit  ai^  die  Zahlen  $ 
bis  10  (resp.  12).  Einige  Anschauer  gehen  wohl  noch  weiter  und 
glauben  auch  die  Zahlen  bis  20  verstellbar  machen  zu  können. 
Man  sagt:  Man  muss  nur  die  Körper  (Kugeln,  Würfel,  schwarze 
Punkte)  in  eine  recht  diarakteristische  Form  bringen,  dann  aeht 
man  die  Zahl  sofort  Würde  man  z.  B.  6  Kugeln  ganz  regelmässig 
auf  die  Peripherie  eines  Kreises  vertf^ilen,  so  ist  das  sinnliche  Er- 
kennen des  Zahlmomentes  ausgeschlossen.  Wenn  man  aber  die 
Kugeln  in  zwei  Reihen  zu  je  drei  ordnet,  so  dass  ein  Rechteck 
entsteht,  so  sieht  Jedermann  auf  den  ersten  Blick,  dass  es  6  Kugeln 
sind.  Und  nun  hat  man  experimentiert,  man  hat  die  Kugeln  in 
einer,  in  zwei,  drei  Reihen  f^^f^ordnet,  man  hat  quadratische  Vieren 
gebildet  usw..  um  herauszul)nru;  n,  in  welcher  P'orm  der  Bilder  die 
Zahlen  am  leiciitesten  zu  erkennen  seien. 

Bemerkenswert  ist,  dass  fiir  jede  Versuchsreihe  aUe  Körper 
^dche  Grösse  und  regelmässige  Entfernungen  voneinander  hatten, 
so  dass  die  räumliche  Ausdehnung  des  Bildes  wuchs  mit  der  Zahl 
der  Körper,  sowie  dass  jede  Zahl  eine  ihr  eigentümliche  Bildform 
immer  beibehielt,  so  oft  sie  aucii  aulLrat.  Um  das  Zählen  zu  ver- 
hüten, wurden  die  Bilder  nur  einen  kurzen  Augenblick  gezeigt; 
aber  vor  Beginn  der  Experimente  hatten  die  Kinder  jedes  einzelne 
Bi1d  mit  Müsse  betr:\rhtet  .und  die  in  ihm  dargestellte  Zahl  fcst- 
}^^estc]lt  und  sich  eingeprägt.  Und  das  Resultat  dieser  Versuche 
Das  Zaiilmoment  eines  jeden  Bildes  wurde  von  einem  Bruchteil  der 
Kinder  richtig  getroffen,  von  den  übrigen  dagegen  falsch.  Ein 


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widersprechendes  Resultat.  In  voller  Vcrkeiinung  dieses  negativen 
Ergebnisses  halben  di>  Herren  Experimentatoren  ihre  Versuche  ab- 
geändert und  probiert  oh  nicht  bei  anderer  Anordnung  der  Körper 
ein  grösserer  Prozentsatz  Treffer  zu  erreichen  sei.  Sie  zielten  auf 
die  Nieten  und  suchten  sie  auszumerzen.  Hatten  sie  den  Blick  auf 
die  Treffer  gerichtet  und  gefragt,  vermittels  welcher  Anzeichen  diese 
zustande  gekommen  seien,  so  würden  sie  einen  be'jseren  Einblick 
in  den  Wert,  vielmehr  in  den  Unwert  ihrer  Versuche  gewonnen 
haben. 

Worauf  —  so  fragen  wir  —  kommt  es  denn  eigentlich  an  bei 

der  Vorstellung  einer  Zahl,  d.  h.  bei  der  Bildung  des  ZahlbejijrifTcs  auf 
Grund  vorfrestcllter  Dinge?  Auf  nir-hts  weiter  als  auf  das  Wieviel 
der  gesehenen  oder  vorgestellten  de^'enstände.  Dieses  Wieviel, 
dieses  Viele  in  bestimmter  Höhe  ist  das  allem  Wesentliche.  Aiies 
andere  ist  nebensächlich.  Die  Gr^enstände  im  Räume,  die  in  die 
Aussenwelt  projizierten  Punkte  haben  zwar  immer  ir^^end  eine  An* 
Ordnung,  sie  besetzen  den  Raum  in  ir-^^cn  l  einer  Ausdehnung  und 
Figur.  Aber  diese  Figur,  diese  Ausdehnung  sind  voll^tändi«^  be- 
liebig, sie  können  von  jeder  Form  und  jeder  Grösse  scni.  Wenn 
demnadi  die  Kinder  bei  jenen  Versuchen  das  Wesentliche  der 
Zahl,  das  Wieviel  einer  Gruppe  von  Gegenständen  d.  h.  die  Be- 
ziehunc:  der  Zahl  zu  ihren  P'inheiten,  unmittelbar  auf  (itunrl  des 
Gesehenen  in  ursprünglicher  Weise  richtig  erzeugt  hätten,  so  müsste 
ihnen  das  auch  möglich  sein,  wenn  die  Bilder  für  jede  Zahl  in 
beliebig  wechselnder  Gestalt  und  Ausdehnung  aufträten,  *und  es 
müsste  ihnen  das  sogar  noch  möglich  sein,  auch  wenn  sie  sich 
nicht  vor  l^eginn  der  Versuche  Bilder  und  Zahlwörter  dafür  tlem 
Gedächtnis  eingeprägt  hätten,  gerade  so,  wie  das  bei  den  Zahlen  i 
bis  4  wirklich  der  Fall  ist.  Diese  besonderen  Eigentümlichkeiten 
der  Versuche  beweisen,  dass  keine  Zahlerzeugung  stattfindet,  dass 
vielmehr  die  Treffer  auf  Grrund  einer  ganz  äusserlichen ,  einer  ganz 
mechanischen  Assoziation  zustande  gekommen  sind,  durch  die 
.Assoziation  zwischen  geometrischer  Form  und  Ausdehnung  des 
Bildes  einerseits  und  dem  Zahlwort  anderseits,  also  auf  Grund  von 
Anzeichen,  die  mit  dem  Wesen  der  2^hl  gar  nichts  zu  tun  haben. 
Die  BUder  für  die  Zahlen  von  5  aufwärts  haben  nur  den  Wert  von 
mnemotechnischen  Hilfsmitteln.  Man  weiss,  dass  solche  dem  Ge 
dächtnisse  —  und  nur  diesem  —  recht  gute  Dienste  leisten  können, 
aber  nur  bei  sehr  sparsamer  Verwendung.  Preten  diese  Mittelchen 
massenhaft  auf,  so  wird  aus  der  Gedächtniserletdhterung  eine  Be- 
schwerung des  Geistes  mit  unnützem  Ballast.  So  kann  z.  B.  die 
quadratische  Neun  (3  Dreien)  sehr  wohl  das  Kind  daran  erinnern, 
dass  3X3  =  9  ist.  Man  soll  sich  nur  nicht  einbilden ,  dass  es 
diese  Beziehung  gesehen  habe.  Was  sieht  esr  3  Dreien,  nichts 
vmter;  vor  allem  kone  9  Einsen.  Wer  nun  auswendig  weiss,  dass 
3X5  =  9  ist,  der  kann  natürlich  sofort  sagen,  dass  jenes  BiM 


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die  9  darstellL  Beim  Kinde  aber,  das  diese  Beziehung  erst  lernen 
soll,  miiss  voriier  eist  jenes  quadratische  Bild  mit  der  Zahl  9 
assoziiert  worden  sein,  dann  wird  es  natüriich  auch  aus  jenem  Bilde 

die  Beziehung  3  X  3  ==  9  herauslesen  können  und  es  wird  sich 
stets  daran  erinnern,  wenn  es  jenes  Quadrat  sieht  So  dürften  noch 
einige  andere  Beispiele  denkbar  sein,  in  denen  da«;  G^cometrische 
Bild  eine  bestimmte  Beziehung  festhält  Aber  eine  ganze  Rechen- 
methodik lasst  sich  auf  solche  Zahlenbilder  nicht  gründen,  weil  man 
nicht  mit  Erkenntnissen  arbeitet,  sondern  mit  mechanischen  Asso- 
ziationen. Vor  allem  aber  müssen  jene  Experimente  über  die  Frage, 
in  welcher  Bildform  die  Zahlen  am  leichtesten  zu  erkennen  sind,  in 
das  Gebiet  zweckloser  Spielereien  verwiesen  werden. 

Wir  fassen  das  Renutat  unserer  Überlegung  über  die  Anschau- 
lichkeit oder  Vorstellbarkcit  der  Zahlen  folgendermassen  zusammen: 
Es  £3nbi  überhaupt  keine  Vorstellungen  von  Zahlen ,  es  gibt  nur 
Zahlen begriflfc,  d.  h.  Zusammengriffe  gedachter  additiver  Beziehungen 
zwischen  gruppenweise  auftretenden  Dingen  und  Geschehnissen  nach 
dem  Ge»chtspunkte  des  Wieviel  SinnUch  wahrgenommen  werden 
nur  die  räumlichen  oder  zeitlichen  Unterlagen,  die  Dinge  und  Vor- 
gänge, die  vor  aller  Zahlbildung  vorhanden  sind.  Die  Bestimmung 
des  2^hlmomentes  ist  eine  stete  Neuschöpfung,  auch  wenn  es  sich 
um  Zahlen  handelt,  die  der  Mensch  schon  tausendmal  gedacht  hat 
Diese  Neuschöpfung  auf  Grund  des  Wahrgenommenen  erfolgt  aber 
für  die  Zahlen  i  bis  4  so  schnell  und  sicher,  dass  tatsachlich  der 
Schein  entsteht,  als  würden  diese  Zahlen  selbst  preschen.  In 
methodischer  Beziehung  wird  man  daher  kaum  fehlgehen  können, 
wenn  man  diese  ersten  Zahlen  zu  den  Vorstellungen  rechnet  Alle 
anderen  Zahlmomente  von  s  aufwärts  dagegen  können  nur  nach 
und  nach  durch  Zählen  festgestellt  werden.  Die  Enge  unseres 
Bewusstseins  verhindert  die  momentane  Überschaubarkeit  des  Vielen 
und  damit  die  sichere  Bildung  des  Zahlbegrififs.  Ks  ist  nur  noch 
eine  ungefähre  Schätzung  des  Vielen  möglich,  die  um  so  unsicherer 
wird,  je  grösser  das  Zahlmoment  ist 

b)  Analyse  oder  Synthese? 

Aus  dem  über  das  Wesen  der  Zahlen  Gesagten  geht  femer 
hervor,  dass  jede  neue  Zahl  entsteht  durch  S3mthese  oder  Addition 

niedriger  bekannter  Zahlen.  Nicht  einmal  die  2  ist  ohne  eine 
solche  additive  Zusammenfassung^  denkbar.  Bei  den  Zahlen  2  bis  4 
mag  diese  Addition  dem  volkstümlichen  Denken  nicht  recht  zum 
Bewusstsein  kommen,  eben  wegen  ihrer  scheinbaren  momentanen 
Wahmehmbarkeit  Biei  allen  anderen  aber  ist  sie  offensichtlich  und 
sogar  in  die  ZaliKvorte  aufgenommen  worden,  wie  die  Zahl- 
be7eichnungen  der  Naturvölker  beweisen  (siehe  die  Schrift:  ,.T)r\^ 
Werden  der  Zahlen").   Nun  ist  aber  nicht  etwa  notwendig,  dass 


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eine  Zahl  immer  aus  Einsen  zusammeng^esetzt  gedacht  mrd.  Diese 

Einheiten  können  auch  gruppenweise  auftreten.  Die  6  ist  6  Einsen, 
sie  ist  aber  auch  5  +  1,  4-|-2,  3-|-3,  3  Zweien  usw.  Alle  diese 
und  noch  unendlich  viele  andere  Beziehungen  sind  in  der  Zahl  6 
enthalten;  denn  sie  hat  doch  nicht  bloss  Beziehungen  zu  den 
niedrigeren  Zahlen;  sondern  auch  zu  den  höheren  (6  =s  lO  —  4  = 
12 : 2  usw.).  Irgend  eine  dieser  Relationen  steht  im  Bewusstsein 
der  Menseben  im  Vordergründe  und  wird  dalier  als  Haupt- 
beziehung angesehen ,  die  übrigen  sind  logische  Ableitungen.  Hei 
den  Zahlen  des  ersten  Zehners  pflegt  der  heutige  Kulturmensch 
zuerst  an  die  Beaehung  zur  Einheit  zu  denken,  die  9  ist  ihm 
9  ^nsen.  Aber  es  ist  nicht  von  vornherein  ausgemacht,  dass  die- 
jenige Relation,  die  heute  als  die  Hauptbeziehung  angeschen  wird, 
auch  zeitlich  die  erste  gewesen  sein  muss,  damals  als  die  Zahl 
erzeugt  wurde.  Ausschlaggebend  für  die  Gestallung  der  Rechen- 
methodik muss  die  Feststellungen  dieser  ursprönglichen  Relationen 
im  natürlichen  Werden  der  ^hlen  sein.  Darüber  später.  Hier 
handelt  es  sich  zunächst  um  die  Tatsache,  dass  alle  Zahlen  synthe- 
tischer Natur  sind. 

Muss  demnach  die  analytische  Behandlung  der  Zahlen  im 
Unterrichte,  wie  sie  von  den  Anschauem  betrieben  wird,  nicht 
naturwidrig  sein?  Aber  die  Monographen  werden  sagen:  Auch  wir 
bilden  ja  die  Zahlen  ebenfalls  zunächst  synthetisch,  indem  wir  jede 
folgende  aus  dem  geometrischen  Bilde  der  \  orhergchenden  erzeugen 
durch  Hinzufügung  einer  Einheit  (Würfel,  Kugel,  Punkt).  Erst  das 
so  entstandene  neue  Bild  bdiandeln  wir  analytisch,  d.  h.  wir  zer- 
legen es  in  seine  Teile  wie  eine  Pflanze  und  erhalten  so  alle 
übrigen  abgeleiteten  Beziehungen,  die  im  Begriffe  einer  Zahl  ver- 
einigt sind. 

Dagegen  ist  manches  zu  erwidern: 

a)  Die  Relation,  welche  jede  Zahl  darstellt  durch  Hinzufügung 
einer  Eins  zur  vorhergehend«!,  ist  im  natürlichen  Werden  der  Z^en 
nicht  die  ursprünglichste  gewesen. 

b)  Die  Relationen,  die  in  einer  Zahl  liegen,  sind  ganz  un- 
erschupfhch,  weil  sie  auch  Beziehungen  zu  lioliercii  Zahlen  hat. 
Der  Zahlbegriir  ist  ein  Ideal,  das  deiv  Mensch  in  seinem  begrenzten 
Denken  niemals  auszuschöpfen  vermag.  Die  Allseitigen  bes<äranken 
sich  natürlich  auf  die  Relationen  zu  den  niedrigeren  Zahlen  und 
tun  weise  darin,  wenn  sie  auch  ihrem  Namen  damit  nicht  gerecht 
werden. 

c)  Aber  auch  in  dieser  Beschränkung  können  wir  ihnen  nicht 
zustimmen.  Denn  nicht  bloss  die  Zahl  ist  synthetischer  Natur, 
sondern  das  ganze  Rechnen  überhaupt.  Das  Kind  soll  doch  wohl 
im  Rechen  unterrichte  rechnen  lernen,  zahlentheoretische 
Untersucliungen  wollen  wir  getrost  den  Mathematikern  überlassen. 
Für  das  Redhnen  ist  notwendig,  dass  das  Kind  weiss,  wieviel  5  -f~ 


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-   47  — 


4  "f"  2,  3  -f-  3  ist,  nicht  aber  umgekehrt,  dass  die  6  zerlegt  werden 
kann  in  5  -|-  i,  4  4*  2,  3  +  3.  IMese  ^Ziehungen  der  6  alle  im 
Geiste  zusammcfi  zu  haben,  ist  iiir  das  Rechnen  vollständig  über- 
flüssig.  Aber  umgekehrt  muss  e*^  ic  7v:ü[  Zahlen  schlagfertig 
addieren  können.  Die  Anschauer  Verstössen  demnach  gegen  die 
natürlichsten  Gedankengänge  des  Rechnens,  sie  sind  in  Wahrheit 
Zahlentheoretiker;  erst  durdi  Umkehrung  ihrer  Besidiungen  werden 
diese  rechenfertig;  Nun  weiss  aber  jeder  Psychologe»  dass,  wenn 
zwei  Vorstellungen  assoziativ  verbunden  sind,  es  ganz  und  gar  nicht 
einerlei  i^^t ,  von  welcher  der  beiden  Vorstellungen  aus  die  Repro- 
duktion erfolgt.  Wer  ganz  geläufig  auswendig  gelernt  hat:  „mensa 
der  Tisch"  der  wird  doch  noch  hälfen  bleiben,  wenn  man  ihn 
plötdich  fragt:  wie  heisst  „der  Tisch"!  Das  Aufwärtszahlenkönoen 
schliesst  nicht  das  RückwErtszählenkönnen  ohne  weiteres  ein.  Dazu 
bedarf  es  einer  besonderen  Übung.  Wer  also  weiss,  dass  6  = 
54'l=4"t"2  ist,  weiss  noch  lange  nicht,  wieviel  5  -f-  1  und 
4+1  ist  Die  Analytiker  müssen  ihre  Umkehrungen  von  neuem 
üben,  sie  kommen  an  ihre  Relationen  aus  einer  falschen,  für  das 
Rechnen  ganz  nebensächlichen  Richtung  lieran ,  sie  machen  einen 
Umweg  und  verschwenden  die  Kraft  des  Kindes. 
Wir  ziehen  einige  Folgerungen. 

a)  Wenn  die  2ah1enl3lder  wirkliche  GedächtnbhiUen  werden 
sollen  für  gewisse  Beziehungen,  dann  müssen  sie  von  unten,  von 

den  Teilen  aus  aufgebaut  werden.  Soll  z.  B.  dargestellt  werden, 
dass  3  Dreien  eine  9  ergeben,  so  muss  man  sein  Augenmerk  in 
erster  Linie  auf  diese  Dreien  richten.  Jede  muss  sofort  auffallen 
ab  eine  geschlossene  Gruppe,  eine  muss  gebaut  sein  wie  die  andere, 
jede  muss  im  Ganzen  auf  gleiche  Weise  stehen;  denn  auch  in  der 
begriffsmässigen  Beziehung  (3  X  3  =  9)  spielt  jede  Drei  dieselbe 
Rolle.  Das  sinnliche  Bild  wird  demnach  nur  dann  einen  natürlichen 
Parallelismus  zum  Begriffe  haben,  wenn  die  3  Dreien  ganz  gleich- 
massig  in  3  Rdhen  geordnet  sind,  so  dass  das  bekannte  Quadrat 
entsteht  Sollte  dagegen  die  Beziehung  4  -{-  5  =  9  dargestellt 
werden,  so  muss  die  4  für  sich  eine  Grruppe  bilden  und  ebenso 
die  5.  Das  Bild  der  9  wird  dann  eine  andere  Figur  ergeben  wie 
in  jenem  ersten  Falle.  Die  synthetische  Natur  der  Zahlen  und  des 
Rechnens  verlangt  demnach,  dass  die  Teile  immer  in  derselben 
diaiakteristischen  Gestalt  auftreten,  das  Bild  des  Ganzen  dagegen 
veränderlich  wird,  so  dass  dieselbe  Zahl  bald  in  dieser,  bald  in  jener 
Figur  sich  zeigt  je  nach  der  dargestellten  Beziehung.  Bei  den 
Analytikern  ist  das  umgekehrt;  bei  ihnen  soll  das  Ganze  un- 
veränderlich sein  för  alle  seine  Beri^ungen.  Man  hat  sich  schon 
den  Kopf  zerbrochen  und  Künstelei  am  Künstelei  gehäuft,  um 
Figuren  zu  ersinnen,  welche  auch  den  Teilen  gerecht  werden. 
Vergebliche  Mühe!  Jeder  Methodiker  verwirft  die  Bilder  des  anderen 
und  baut  neue  auf,  die  aber  ebensowenig  befriedigen  können.  Das 


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macht:  die  Forderung  ist  unerfüllbar.  Und  ihre  Erfüllung  vrare  noch 
nicht  einmal  wünschenswert.    Denn  nur  dann,  wenn  jede  dargestellte 

Beziehung  ein  besonderes  Bild  liefert,  das  sich  von  den  anderen 
recht  charakteristisch  abhebt,  nur  dann  kann  die  f^co metrische  Figur 
eine  Gedächtnishilfe  werden  für  die  Beziehung.  Auch  daraus  ist 
ersichtlich,  dass  dieses  mnemotechnische  Hillsmittd  recht  spärlich 
angewandt  werden  darf.  Brauchbar  vielleicht  bt  es  noch  für  die 
Darstellung  der  geraden  Zahlen  (paarweise  Anordnung  der  Einheits- 
korper),  der  ungeraden  Zahlen  (paarweise  Anordnung  mit  vor- 
springender Eins),  der  4  als  2  X  2  (Quadratj,  der  6  als  2  X  3 
(Rechteck).  Ob  noch  andere  Fälle  praktisch  sind,  mag  dahin- 
gestellt sein. 

Alldn  in  Bezug  auf  die  ersten  vier  Zahlen  kann  man  die  Be- 
hauptung, ihre  Bilder  hätten  nur  den  Wert  von  mnemotechnischen 
HUfsmitteln,  nicht  aufrecht  erhalten.  Hier  wird  tatsächlich  das  Viele 
erkannt.  Da  man  dabei  dem  Ganzen  jede  beliebige  Gestalt  geben 
kann,  so  liegt  die  Möglichkeit  vor,  für  jede  Beziehung  eine  charak- 
teristische Form  des  öanzen  zu  finden,  welche  auch  den  Teilen  ihr 
Recht  gibt  Wir  konnten  uns  demnach  hinsichtlich  dieser  Zahlen 
mit  der  Analyse  der  Anschauer  einverstanden  erklären,  wenn  nicht 
die  synthetische  Natur  des  Rechnens  dem  widerspräche.  Mit  Rück- 
sicht auf  das  Rechnen  fordern  wir  auch  für  sie  den  synthetischen 
Aufbau  ihrer  gegenseitigen  Beziehungen  und  stellen  dadurch  Ein- 
klang her  zu  unserem  ganzen  übrigen  Verfahren. 

b)  Das  Rechnen  müsse  auf  klare  Einsicht  in  die  Zahlen  be- 
gründet werden,  wenn  es  nicht  zu  einem  mechanischen  Formalismus 

werden  solle,  sagen  die  Anschauer.  Wenn  damit  die  Klarheit  des 
VorsteUens  gemeint  ist,  wenn  es  bedeuten  soll,  man  müsse  die  Ein- 
heiten einer  Zahl,  die  Einheiten  ihrer  Posten  gleichsam  vor  dem 
geistigen  Auge  stehen  sehen,  so  ist  der  Unverstand  dieser  Forderung 
schon  oben  bei  Gelegenheit  unserer  Kritik  der  Anschauung  be> 
sprochen  worden.  Wir  haben  gefunden,  dass  es  überhaupt  keine 
Vorstellungen  von  Zahlen  gibt,  sondern  nur  Begriffe  solcher.  Wenn 
jene  Redensart  aber  die  Deutlichkeit  des  Zahlbegriffs  meint,  wenn 
sie  also  fordert,  dass  man  sich  aller  Beziehungen  des  Zahlbegrif!s 
bewusst  sein  müsse  und  sie  gleichsam  an  den  Hngem  herzählen 
könne,  wie  z.  B.  die  Eigenschaften  der  Parallelogramme,  so  ist  das 
unmfM'lirh  wegen  der  unendlichen  Vielheit  dieser  Beziehungen  und 
ausserdem  übertiussig  für  das  Rechnen.  Jene  methodische  Forde- 
rung der  Anschauer  ist  falsch,  man  mag  sie  wenden,  wie  man  vnlL 
Das  einzige,  was  gefordert  werden  kann  und  gefordert  werden  muss, 
ist,  dass  das  Kind  jene  Zahlbeziehungen  nicht  bloss  aufnimmt, 
sondern  sich  selbst  überzeugt  hat,  dass  sie  richtig  sind  und  auf 
Notwendigkeit  beruhen,  dass  es  also  nicht  bloss  Worte  lernt,  nicht 
bloss  Kenntnisse  sich  aneignet,  sondern  Erkenntnisse  sich  schafft. 


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—   49  — 


Wenn  es  diese  Einsicht  gewonnen  hat,  dann  ist  weiter  nichts  zu 
tun,  wie  feste  Einpragung  der  Zahleat>eztehungen  in  das  Gedächtnis. 

c)  Die  Fünfergruppierung. 

Nachdem  wir  die  monog^phische  Methode  abgelehnt  haben, 

ist  zu  zeigen,  dass  wir  etwas  weniger  Anfechtbares  an  ihre  Stellen 
zu  setzen  "Vossen.  Es  bliebe  zunächst  das  Zählen,  Wenn  man  aber 
unter  21ählen  etwas  mehr  versteht  als  ein  sinnloses  Aufsagen  der 
festen  Wortreihe,  wenn  man  dabei  in  die  W<Mte  auch  ehien  Inhalt 
legen  will»  so  ist  Idar,  dass  das  Zahlen  den  Begriff  der  Zahlen 
schon  voraussetzt.  In  neuster  Zeit  ist  daher  ganz  folgerichtig  auch 
der  Vorschlag  gemacht  worden,  die  Zahlwortreihe  zuerst  ver- 
ständnislos auswendig  lernen  zu  lassen  und  dann  nachträglich  diese 
leeren  Helsen  mit  Inhak  zu  ftOea.  Für  uns  ist  dieser  Vorschlag 
nicht  diskutierbar. 

Wir  wollen  jetzt  zeigen,  dass  die  Ableitung  der  dem  Rechnen 
zugrunde  liegenden  Zahlenbeziehungen  des  langwierigen  Zählens 
entraten  kann,  dass  diese  Beziehungen  bei  unserer  neuen  Methode 
mit  derselben  Augen  blicklichkeit  ericannt  werden  können,  wie  das 
(fie  Anschauer  bei  ihrer  Behandlungswdse  wenigstens  behaupten. 

Wir  setzen  voraus,  was  von  niemandem  bezweifelt  wird,  dass, 
solange  das  Zahlmoment  einer  Gruppe  die  4  nicht  übeisteigt,  die 
anschauliche  Unterlage  genügt  zur  sicheren  momentanen  Erzeugung 
des  WievieL  Diese  ersten  sozusagen  empirischen  Zahlen  buden 
nun  das  Material  für  den  Bau  der  folgenden. 

Es  ist  der  Fehler  der  Anschauer,  dass  sie  glauben,  die  Zahlen 
5  9  ganz  in  derselben  Weise  behandeln  tu  müssen  wie  die 
Zahlen  i  bis  4,  weil  jene  sowohl  wie  diese  uns  im  heuligen  Zehner- 
system als  eifdache  Zahlen  als  Grundzahlen  erscheinen,  d.  1l  als  ein 
Aggregat  gleichwertiger  Einheiten,  in  welchem  jede  Eins  die 
gleiche  Stellung  zum  Ganzen  hat  und  keine  ein  Vorrecht  vor  der 
anderen  geniesst.  So  aber  wie  das  Zehnersystem  sich  heute  dar- 
stellt, ist  es  von  Anfang  an  nicht  gewesen.  Als  zweites  Haupt- 
ergebnis  meiner  Untersuchung  über  das  Werden  der 
Zahlen  muss  ich  den  Nachweis  ansehen,  dass  alle 
Zahlensysteme  in  ihren  Entwicklungsanfängen  Fünfer- 
gruppierungen gehabt  haben.  Auch  unser  Zehnersystem, 
wie  sich  noch  daran  erkennen  lässt,  dass  das  Zahlwort  für  10 
in  den  indogermanischen  Sprachen  die  Bedeutung  von  „zwei 
Händen"  d.  h.  von  „zwei  Fünfern"  hat.  Es  gab  demnach 
anfänglich  nur  4  Grundzahlen,  nur  eben  die  Zahlen,  welche  vor- 
stellbar waren;  die  5  war  schon  die  erste  höhere  Einheit.  Ur- 
sprügUch  erzeugt  aus  44-1,  entsprechend  den  4  Fingern  und  dem 
Daumen,  musste  sie  aus  einer  Vidheit  zu  emer  Einheit  zusammen- 
schmelzen aus  einem  inneren  und  einem  äusseren  Grunde.  Aus 


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—  50  — 


einem  inneren,  weil  die  5  Einheiten  nicht  mehr  als  Vieles  klar 
verstellbar  waren;  aus  einem  äusseren,  weil  die  5  Finger  ein  Zweck- 
ganzes,  nämlich  die  Hand,  bildeten.  Daiaus  ist  ersiditlich,  dass  die 
Fünfergnippierang  die  natürlichste  von  allen  ist.    Sie  allein  steht 

in  vollkommenem  P^inklang  mit  der  Vorstcllbarkeit  oder  momentanen 
Erkennbarkeit  der  Zahlen.  Das  will  sagen :  Beim  Fünfersystem  — 
und  nur  bei  diesem  allein  —  werden  keine  Zahlen  weiter  als 
Grrundzahlen,  d.  h.  ak  ein  gleichmäsages  Aggregat  von  ^heiten, 
angesehen  wie  diejenigen,  deren  Vielheit  noch  überschaubar  ist; 
sobald  aber  diese  Möglichkeit  aufhört,  wird  das  Viele  durch  es  in 
eine  neue  Einheit  umgewandelt  und  dadurch  wieder  überschaubar 
gemacht. 

Daxaus  geht  nun  weiter  hervor,  dass  mit  Hilfe  der  Fünfer- 
gnippierung  auch  die  Zahlen  6  bis  10  momentan  überschaubar 

werden,  wenn  man  sie  nämlich  darstellt  als  5  i»  5  "f"  2,  5  -j-  3» 
5  -|-  4,  5  -|-  5  (2  Fünfer)  d.  h.  als  Hand  und  i  Finger,  Hand  und 
2  Finger  usw.  bis  2  Hände.  Und  das  sind  nun  wirklich  die  ge- 
schicMich  ersten  Bezidiungen,  in  denen  <Üe  Zahlen  6  bis  10  ins 
Leben  getreten  sind.  Sie  sind  nicht  als  Grundzahlen  erstanden, 
wie  wir  sie  heute  auffassen,  sondern  als  zusammengesetzte  aus 
Fünfern  und  Einern.  Wenn  wir  sie  nun  im  Unterrichte  auf  gleiche 
Weise  erzeugen,  wie  sie  im  Geistesleben  der  Völker  geworden  sind, 
so  können  wir  die  Zuversicht  haben,  in  der  Methodik  des  Rechnens 
wieder  auf  natürlidhe  Wege  zu  kommen ;  wir  werden  die  momentane 
Bestimmbarkeit  der  Grundzahlen,  welche  die  Anschauer  trotz  aller 
Aufwendung  von  mancherlei  Kunstgriffen  vergeblich  erstrebt  haben, 
nunmehr  unserseits  auf  einfachste  Weise  wirklich  hergestellt  haben. 
Diese  Ffinfergruppierung  der  Zahlen  S  bis  10  ist  das  Fundament 
der  neuen  Rechenmethode.  Diese  benutzt  also  nicht  zusammen- 
gesetzte Zahlbilder,  d.  h.  solche,  welche  aus  den  einfachen  Bildern 
der  I,  2,  3  und  4  zusammengestellt  sind,  sondern  gemischte,  d.  h. 
solche,  welche  aus  einer  höheren  Einheit  (der  5)  und  aus  den  ein- 
fachen Bilder  (1—4)  bestehea 

Daraus  folgt:  die  Zahlen  6  bis  10  gehen  in  ihrer  ersten 
Konzeption  nicht  auseinander  hervor,  die  7  setzt  die  6  nicht  voraus, 
die  8  nicht  die  7  usw.  Das  Material  für  ihren  Aufbau  wird  viel- 
mehr in  den  ersten  4  Grundzahlen  und  dem  Fünfer  gefunden.  Sind 
diese  im  Unterricht  erledigt,  so  liegt  dem  Kinde  die  eine  jener 
Zahlen  so  nahe  wie  die  andere.  Die  Gruppe  6—10  kann  daher 
im  Unterrichte  auf  einmal  dargeboten  werden.  Die  momentane 
Überschaubarkeit  von  5 — 10  Dingen  setzt  nun  aber  voraus,  i.  dass 
sie  schon  gruppiert  sind,  und  2.  dass  wir  wissen,  dass  die  höhere 
Gruppe  wirklich  5  Dinge  enthält.  Ist  das  nicht  der  Fall,  so  kann 
uns  kein  Mensch  und  kein  Gott  über  das  Zahlen  der  Dinge  weghelfen. 
Und  hier  nun  ersehen  wir  die  ausserordentliche  Wichtigkeit  der 
Hand  für  die  Zahlbildung.  Dass  die  Hand  5  Finger  hat  weiss 


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jedermann  und  auch  das  Kind  in  der  Schule  prägt  sich  das  sehr 
scbnett  ein.  Ist  das  geschehen,  so  ist  mit  der  Hand  immer  auch 

die  Zahl  5  gesttzt  und  umgekehrt  mit  der  5  auch  die  Hand.  Aber 
wir  bilden  uns  nicht  etwa  ein,  dass  dns  Kind  das  Viel  des  Fünfers 
aus  den  Fingern  heraussehe;  wir  wissen,  dass  hier  nur  eine  ge- 
dächtnismässige  Assoziation  vorliegt,  aber  eine  natürliche,  wie  sie 
aUe  Menschen,  alle  VSlker  haben,  nicht  eine  künstliche  (Ur  das 
ingeniöse  Gedächtnis  nach  Art  der  Zahlenbilder  der  Anschauer. 

Ebenso  fest  wird  nun  eingeprägt  das  Bild  der  6  als  S  4*  < 
(Hand  und  I  Finder),  der  7  als  5  -f-  2  {Hand  und  2  Finger)  usw.  bis 
10  als  5  "T  5  (2  Hände],  so  dass  die  Kinder  beim  Selit-n  der  Bilder 
sofort  an  die  entsprechenden  Zahlen  denken  und  umgekehrt  beim 
Denken  der  Zahlen  sofort  die  Bilder  sehen.  Die  Umbildung  dieser 
zusammengesetzten  Zahlen  zu  einfachen  Grundzahlen,  wie  solche 
das  Zehnersystem  fordert,  ist  erst  der  2.  Akt  im  Werden  dieser 
Zahlen.  Er  vollzieht  sich  unter  dem  Drucke  der  Einfachheit  des 
Zahlwortes.  £in  zweiteiliges  Wort  (z,  B.  drei-zehn)  zieht  immer 
auch  die  Vorstellung  eines  zweiteiligen  Zahlbegrifies  nach  «ch 
(10  und  3),  unter  den  einfachen  Zahlwörtern  df  und  zwölf  würden 
wir  dagegen  einfache  Zahlen  uns  vorstellen,  wenn  nicht  ihre  zwei- 
teiligen Schreibbilder  (ll;  12),  die  mit  den  Worten  assoziiert  sind, 
iaimer  wieder  ihre  Zweiteiiigkeit  uns  ins  Bewusstscin  riefe*  So 
wer(ten  auch  die  Zahlen  6  bis  9  unter  dem  Drucke  der  einfachen 
Zahlwörter  aus  zusammengesetzten  zu  einfachen. 

Die  Ableitung  der  Additionsrelationen  des  Einszueinses  erledigen 
sich  nun  in  einfachster  Weise.  Soll  z.  B.  6  und  2  addiert  werden, 
so  hebt  das  Kind  6  P'inger  (Hand  und  i  Finger),  dann  die  folgenden 

2  Finf^er.    jetzt  sieht  es   mit  einem  Blicke,   dass  die  Hand  und 

3  Finger  gehoben  sind  und  mit  diesem  Bilde  ist  die  8  assozüert. 
Somit  hat  es  die  Beziehung  6-f-2  =  8  erkannt.  Alles  geschieht 
momentan  ohne  Zählen,  ganz  wie  bei  den  Anschauern.  Wir  be- 
trachten nunmehr  die  Grundzüge  unsrer  neuen  Unterrichtsweise 
etwas  näher. 

UI. 

fimizlfe  dar  mhmi  üsslHiBrtims. 

a)  Der  Zahlenaufbau. 

Die  21ahlen  treten  gruppenweise  in  den  Ge^cfatakreis  des 

Schülers. 

1.  (jruppc!  Die  empirischen  Zalüen  l — 4. 

Sic  entstehen  aul  Grund  der  Anschauung  von  räumlichen  und 
zeitlichen  Gruppen  bei  beliebiger  Anordnung  der  Gegenstände  oder 

4» 


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—    S2  — 


Geschehnisse.  Die  Gestalt  des  Zahlenblides  ist  somit  ohne  Einfluss 
auf  die  Erkennunjr  des  WievieL 

Das  Erkennen  wird  zu  einer  momentanen  Fertigkeit.  Diese 
Fähigkeit  bildet  sich  schon  in  der  vorschulpflichti^cn  Lebenszeit 
des  Kindes  aus.  Mit  ihr  kann  und  muss  der  beginnende  Unterricht 
rechnen. 

Die  ersten  vier  Zahlen  entstellen  zunächst  unabhängig  von- 
einander, jede  für  sich  allein.  Die  Zahl  2  setzt  die  t  nicht  voraus, 
die  3  nicht  die  2,  keine  wird  aus  der  anderen  erzeugt.  Eine  schon 
gebildete  Zahl  kann  aber  doch  ihrerseits  einen  psychologischen 
Druck  ausüben  zur  Erzeugung  der  anderen.  Nehmen  wir 
an  —  was  wohl  zweifellos  ist  — ,  dass  die  2  (das  Paar)  die 
erste  Zahl  ist,  welche  in  der  Seele  des  Menschen  entsteht 
Tritt  nunmehr  eine  Gruppe  vor  AujT^en,  derpn  Moment  nicht  zwei 
ist,  so  muss  das  auffallen  wegen  des  Gegensatzes  zum  bekannten 
2Uihlenbild  der  2  und  die  Frage  zeitigen,  wieviel  Dinge  das  sein 
mögen.  Nur  ein  einzii^es  (nur  eines)  oder  5  oder  4,  so  wird  die 
Antwort  lauten.  In  dieser  Hinsicht  ist  besonders  bemerkenswert, 
dass  die  Eins  aus  der  Triebkraft  des  Gegensatzes  zum  Vielen  ent- 
steht, also  nicht  die  erste  Zahl  ist  in  der  Seele  des  Kindes. 

Die  Einordnung  der  ersten  4  Zahlen  zur  Reihe  ist  erst  der 
zweite  Akt  in  ihrem  Werden.  Nachdem  der  beginnende  Untenidit 
sich  von  der  Fertigkeit  der  Kinder  im  momentanen  Erkennen  der 
Zahlen  2,  i,  3,  4  überzeugt  und  sie  durch  zahlreiche  Bestimmungen 
befestigt  hat,  setzt  er  mit  der  Herstellung  der  Bezieliungen  unter 
ihnen  ein  und  betritt  damit  sofort  das  Gebiet  des  Rechnens.  Die 
erste  Beziehung,  die  im  Unterrichte  hergestellt  wird»  ist  die  Hinzu- 
fögung  der  i,  wodurch  die  ersten  Zahlen  zur  Reihe  geordnet  werden. 

Im  gcschiclitiichen  Werden  haben  dabei  die  Finger  ganz 
hervorragend  mitgewirkt  Indem  bei  Bestimmungen  von  Zahl- 
momenten von  Gruppen  gewohnheitsgemass  för  jeden  Gegenstand 
ein  Finger  gesetzt  wurde,  entstanden  nacheinander  die  Fingerbilder 
der  1,  2,  3,  4  und  damit  die  Reihe. 

Ganz  im  Sinne  der  Völkerpsychologie  werden  auch  wir  im 
Unterrichte  die  Finger  als  bedeutendstes  Hilfsmittel  benutzen.  „Das 
Fingern"  der  Kinder  beun  Rechnen  ist  ein  naturlicher  Trieb.  Es 
wäre  das  Verkehrteste,  was  wir  tun  könnten,  wollten  wir  ihn  mit 
Gewalt  unterdrücken.  Wenn  wir  diesen  Trieb  in  den  Dienst  des 
Unterrichts  stellen,  werden  wir  nicht  bloss  einem  seelischen  Be- 
dürfnis des  Kindes  gerecht,  sondern  zugleich  auch  der  Sache  selbst, 
dem  Zahlenaufbau.  Es  ist  ja  eine  bekannte  Tatsache,  dass  das 
Zehnersystem  seine  Entstehung  den  10  Fingern  verdankt. 

Beim  Gebrauche  der  Finger  ist  eine  feste  Reihenfolge  ein- 
zuhalten, die  mit  dem  kleinen  Finger  der  linken  Hand  beginnt  und 
mit  dem  kleinen  Finger  der  rechten  schlicsst.  Um  körperliche  Über- 
anstrengung zu  vermeiden,  werden  die  Hände  nicht  in  die  Höhe 


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—   53  - 


gcfaobeoi  sondern  auf  die  Tischkante  gelegt,  die  gebrauchten  Finger 
über,  der  Rest  unter  die  Tischplatte  Vorschlag  von  Knilling). 

Als  gemeinschaftliches  Daistdlui^mittel  lur  die  ganze  Klasse 

dient  eine  russische  Rechenmaschine  mit  2  Stäben.  Auf  jeden 
Stab  lO  Kugeln,  die  ersten  5  anders  gefärbt  wie  dir  zweiten  5, 
so  dass  die  Kugeln  ebenso  gruppiert  sind  wie  die  Finger  an  den 
Händen.  Die  Kugeln  (3  cm  Durchmesser)  werden  in  Abständen 
gleich  dem  Durchmesser  gestellt.  Indem  man  die  Kugeln  beider 
Drähte  benutzt  zur  Aufstellung  der  Zahlenbilder  2  bis  4,  kann  man 
diese  in  allen  möglichen  Gestalten  zeigen  mit  der  Absicht,  aus  den 
Zahlbegntten  die  Gestalt  der  Bilder  zu  eliminicfen,  wenn  das  nicht 
schon  durch  eigene  Er&hmng  des  Kindes  vor  seinem  Antritt  in  dxt 
Schule  geschehen  sein  sollte. 

2.  Gruppe:  Die  5.  Sie  entsteiil  aus  4  -j"  ^»  entsprechend  dem 
Gegensatz  der  4  Finger  zum  Daumen.  Sit  wird  durch  das  einfache 
Zahlwort  und  das  Zweckganze  der  Hand  zu  einer  einfachen  Zahl 

und  zu  einer  neuen  höheren  Kinheit  erhnbefi  Dass  die  Hand 
5  Finger  hat,  wird  nunmehr  gedachtüiMTuissig  festgehalten  so  dass 
die  Hand  stets  die  5  und  umgekehrt  die  5  stets  die  iiand 
reproduziert  An  dem  Kugelapparat  werden,  sobüd  die  5  von  nun 
ab  als  Ganzes  auftritt,  die  5  gleichfarbigen  Kugeln  ohne  Abstände 
aufgestellt  Treten  die  Kugeln  niso  ohne  Zwischenräume  auf,  so 
weiss  das  Kinci,  dass  die  >  i^;csct:'t  slIh  soll,  ohne  dass  es  sich  durch 
Nachzählen  davon  zu  überzeugen  braucht.  Auf  diese  Weise  wird 
beim  Kugelapparat  ebenso  wie  durch  die  Hand  die  momentane 
Oberschaubarkeit  dieser  Zahl  gesichert,  und  anderseits  ist  auch 
jederzeit  durch  Auseinanderrücken  der  Kugeln  möglich,  die  Kinheit 
der  5  wieder  aufzulösen  in  ihre  Vielheit,  ganz  wie  bei  den  Fmgern. 

Die  Einreihung  der  5  in  die  Zahlenreihe  geschieht  infolge  ihrer 
Entstehung  aus  4  -|~  ^  ganz  von  selbst.  Das  Kind  kann  nunmehr 
bis  5  zahlen. 

3.  Gruppe:  Die  Zahlen  6  bis  10.  Sic  werden  zuerst  konzipiert 
als  5  -j-  1  (Hand  und  1  Finger),  5  -|-  2  (Hand  und  2  Finger)  usw. 
bis  5  4-  5  (2  Hände).    Durch  diese  Fünfergruppierung  werden  auch 

sie  momentan  überschaubar  gemacht,  so  dass  nunmehr  alle  Grund- 
zahlen momentan  erkennbar  sind.  Die  Umwandlung  in  einfache 
Grundzahlen  geschieht  unter  dem  Drucke  des  einfachen  Zahlwortes 
und  der  nicht  gruppierten  oder  anders  gruppierten  Dinge  der 
Aussenwelt  (s.  o.). 

Die  Einreihui^  in  die  Zahlenreihe  geschieht  durch  for^csetzte 

Hinzufügung  der  l.  Nunmehr  können  die  Kinder  bi^  lO  zählen. 
Zur  Bestimmung  der  Zaliimomcnte  von  Dingen,  die  nicht  nach 
Fünfern  gruppiert  sind,  bleibt  als  einziges  Mittel  das  Zählen  übrig. 
Ein  anderes  gibt  es  nicht 


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—    54  — 


4-  Gruppe:  Die  Reihe  dcT  reinen  Zehner.   „Diese  ist  ganz  un- 

abhängijj^  von  den  Zwischenzahlcn,  denn  der  2.  Zehner  wird  nicht 
etwa  hergestellt  durch  Ablauf  der  Reihe  ii,  I2  usw.,  sondern  genau 
so  wie  der  erste  durch  Zählen  von  i  —  la  Ebenso  die  folgenden 
Zehner.  Die  Reihe  der  Zehner  setzt  nichts  weiter  voraus  als 
Gnippcnbildung  und  Zählen  der  Gruppen.  Dieser  Vorgang  ist  viel 
einfacher  als  derjenige  bei  der  Bildung  der  Zwischenzahlen.  Denn 
diese  verlangt  zudem  noch  die  Bestimmung  des  Überschusses  und 
die  Zusammenfassung  des  letzteren  mit  der  Anzahl  der  Zehner  zu 
einer  einzigen  Zahl,  ein  ziemlich  schwieriger  Akt,  weil  die  zwei- 
gliedrige Benennung  ein  Hindernis  bildet  für  die  einheitliche  Ver- 
bindung. Die  Analyse  der  seelischen  Vorgänge  lässt  keinen  Zweifel, 
dass  im  Zehnersystem  die  Reihe  der  Zehner  vor  und  ganz  un- 
abhängig von  den  Zwischenzahien  entstanden  ist."  (Aus  ,J)as 
Werden  der  ZaMen".  Ebenda,  S.  82  und  83,  wolle  den 
historischen  Beweis  nachlesen.) 

Beim  AuflDau  der  Zehner  handelt  es  sich  zuerst  darum,  das 
Viele  der  Zehn  in  eine  neue  grössere  Einheit  umzuwandeln,  in  die 
Grundeinheit  des  ganzen  Zahlensystems.  Es  geschieht  dadurch,  dass 
sie  äusseili^  durch  einen  einngen  Körper  versinnbildKcht  wird. 
Dieser  braucht  aber  nicht  etwa  10  mal  so  gross  zu  sein  wie  der 
Kinerkörper.  weil  nun  einmal  ein  solches  Crrössenverhältnis  der 
momentanen  Anschauung  nicht  zugänglich  ist.  Das  Kind  würde  in 
Wirklichkeit  nichts  weiter  sehen,  als  dass  der  eine  Körper  grösser 
ist  wie  der  andere.  Das  genaue  Verhältnis  könnte  nur  durch 
Messung  und  Rechnung  gefunden  und  müMte  schliesslich  doch  für 
die  Zukunft  gediichtnismässig  festgehalten  werden.  Der  Rechen- 
apparat selbst  aber  würde  dabei  einen  ganz  unhandlichen  Umfang 
annehmen.  Bei  solcher  Bewandtnis  glauben  wir  unseren  Zweck 
ebensogut  zu  erreichen  und  mit  einfocheren  Mitteln,  wenn  wir  den 
besonderen  Wert  des  Zahlenkörpers  nur  andeuten  durch  die  be* 
sondere  Stelle,  an  welche  er  gestellt  wird,  ^anz  so,  wie  es  im  ge- 
schichtlichen Werden  der  Zahlen  immer  und  überall  der  Fall 
gewesen  ist.  Beim  Kugelapparat  können  wir  ein  Übriges  tun  und 
die  Zehnerkugetn  ein  wenig  grösser  machen  als  die  unerkugcin, 
um  die  Kinder  durch  den  sichtbaren  Grrossenunterschied  stets  daran 
zu  erinnern,  dass  die  einen  etwas  grösseres  bedeuten  als  die  anderen. 
Dass  die  grösseren  Kugeln  aber  gerade  10  mal  so  grosse  Zahlen 
vorstellen  sollen  wie  die  kleineren,  das  ist  eine  Feststellung,  die 
dem  Kinde  gesagt  und  von  ihm  gedächtnismassig  festgehalten  wird. 
Neben  den  Kugelapparat  der  Einer  wird  also  ein  zweiter  gestellt  und 
zwar  links  daneben,  so  dass  Zehner  und  Einer  dieselbe  Stellung 
zueinander  haben  wie  später  die  Ziffern  der  Positionszahlschrift 
(Vorbereitung  derselben).  Dieser  2.  Apparat  braucht  indes  nur 
einen  Draht  mit  5  roten  und  5  weissen  Kugeln  zu  haben  oder 
besser  zwei  Drähte  mit  je  s  Kugeln. 


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-  SS  - 


So  oft  nun  bei  Bestimmung  eines  grossen  Zahlmomentes  von 
Dingen  der  eine  Schüler  bis  lo  gezahlt  hat,  hebt  ein  zweiter  einen 
Finger  oder  schiebt  eine  grössere  Kugel  vor.  So  entsteht  die  Reihe 
der  Zehner  (der  Zig)  als  Anzahlen  von  £inheiten  höherer  Ordnui^. 

5.  Gruppe:  Die  zweigliedrigcni  aus  Zehnem  und  Einem  zu- 
sammengesetzten Zahlen. 

Hier  arbeiten  beide  Kugeiapparate  zusammen.    Die  DaisLeÜung 
der  Zahlen  durch  die  Finger  wird  jetzt  fallen  gelassen. 

Es  werden  grössere  Zahhnomente  bestimmt,  etwa  die  13,  14 
oder  15.  Erst  werden  /ufr^t  ro  »^fczählt  (grössere  Kiiijcl'.  dann  die 
übrigen  (kleinere  Kugeln)  uik!  diese  wie  ein  Überschuss  zum  Zehner 
hinzugefügt.  Tür  die  Vcrcmheitlichung  der  beiden  l'eile  zu  einem 
Ganzen  sind  die  Zahlen  11  bis  19  vorbildlich,  weil  diese  Zahlen 
des  2.  Zehners  sprachlich  eine  viel  schärfere  Einheit  bilden  als  die 
der  übrigen  Stufen,  indem  die  Teihvortc  zu  einem  ein:'i<:cn  Worte 
zusarimiengezugcn  sind,  was  innerhalb  den  übrie^en  Zcliiicr  nicht 
der  Fall  ist.  Wir  sagen  z.  B.  dreizehn,  aber  drei  und  zwanzig.  Dort  ♦ 
kann  man  noch  von  einem  einheitlichen  Empfinden  sprechen,  hier 
nur  von  einem  verstandesmässigen  Zusammenhalten. 

Ist  der  zweite  Zehner  gebildet,  so  rrr^eben  sich  die  übrigen 
ganz  von  selbst  nach  Analogie  von  icnrin.  Scharfe  Kinübung, 
gesetzte  Zaiilcn .  aiu»zusprechen  und  umgekehrt  genannte  Zahlen  zu 
setzea   Zahlen  bis  locx 

6.  Gruppe:  Der  Aufbau  der  Zahlen  über  100  hinaus  hat  sein 
Vorbild  im  ersten  Hundert.  Ist  die  Hundert  als  neue  höhere  Einheit 
begriffen,  so  ist  das  Gesetz  des  Zahlenbaues  vollständig  festgelegt. 
Alles  andere  erfolgt  aus  der  Triebkraft  des  Zehnersystems.  Von 
jetzt  ab  halten  wir  eine  Versinnbildlichung  der  Zahlen  nicht  mehr 
für  notwendig.  Die  Rechenapparate  werden  überflüssig,  weil  etwas 
wirklich  Neues  weder  im  Zahlenbau  noch  im  Rechnen  mehr  vor- 
kommt Alles  weitere  i^^t  nur  Erweiterung  bekannter  Tatsachen. 
Sollte  irgendwo  ein  Stocken,  eine  Schwierigkeit  entstehen,  so  ist 
auf  den  entsprechenden  Fall  im  ersten  Hundert  zurückzugreifen 
und  das  Neue  nach  Analogie  zu  bewältigen.  Im  schlimmsten  FaOe 
kann  eine  Zeichnung  als  Illustration  dienen. 

Zum  Schlüsse  dieses  Abschnittes  möchten  wir  noch  bemerken, 
dass  wir  dem  ersten  Schuljahre  den  Zahlenraum  i — 10  zuweisen. 
Sollte  dieser  nicht  genug  Stoff  bietet»,  so  ist  nicht  etwa  bis  12 
oder  bis  20  zu  gehen,  wie  das  jetzt  üblich  ist,  sondern  es  sind 
die  reinen  Zehner  zu  behandeln,  wdl  alles  Rechnen  mit  diesen  nur 
ein£ache  Anwendung  des  ßnerrechnens  ist 

Schhus  fiolgt. 


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-    56  - 


IV. 

Die  Bedeiitung  und  Verwandung  des  Zeidinens  im 
geograpliitclieii  Unterrieiit. 

Von  Realgymnasialoberlehrer  Dr.  Hant  Teltge. 

Der  <^eofn-aphische  Unterricht  gründet  sich  gleicti  dem  natur- 
kundlichen auf  Anschauung.  Die  wirksamste  Art  der  Anschauung 
ist  die  unmittelbare,  die  auf  sinnlicher  Wahrnehmung  der  Natur 
beruht.  Aber  nur  ein  verschwindend  kleiner  Teil  unserer  Erde,  oft 
nur  der,  den  die  nächste  Umgebung^  des  Schulortes  bietet,  v/ird  auf 
diese  Weise  von  dem  Schüler  crfasst,  während  die  weitaus  meisten 
Gegenstände,  von  denen  im  geographischen  Unterricht  die  Rede 
ist,  sich  seiner  unmittelbaren  Beobachtung  entziehen.  Alle  diese 
Anschauungsobjekte  können  der  Vorstellung  nur  durch  künstliche 
Mittel  nähergebracht  werden.  Daher  sind  Modelle,  Reliefs,  Karten, 
I^ndschafts-  und  Völkcrbilder  unentbehrlich.  Neben  diesen  jederzeit 
fertig  vorliegenden  Hilfsmitteln  dient  zur  Förderung  klarer  An- 
schauungen audi  das  Zeichnen,  das  schon  Rousseau  in  diesem 
Sinne  verwendet  wissen  wollte  und  das  Karl  Ritter  in  den  geo- 
graphischen Unterricht  einführte. 

Das  ZeishaM  als  Ersats  Mitador  AaMfesasapnlttsl. 

Das  Zeichnen  kommt  in  Betracht  zunächst  überall  da,  wo 
anderweitige  Anschauungsmittel  fehlen  oder  wo  sie  die  geographi- 
schen Objekte  und  Frscheinungsformen  nicht  in  voller  Klarheit 
hervortreten  lassen,  i^auhger,  als  es  auf  den  ersten  Blick  scheinen 
möchte,  wird  dieser  FaU  eintreten.  So  lohnt  es  in  der  matiie- 
matischen  Geographie  bei  der  ersten  Besprechung  des  Globus  die 
wichtipf-^ten  T.inicn  wie  Äquator,  Wende-  und  Polarkreise,  Längen- 
und  Breit rrv^^ridc  besonders  zu  skizzieren  oder  die  Drehung  des 
Mondes  uia  die  Erde,  der  Erde  um  sich  selbst  und  um  die  Sonne, 
die  Lage  der  wichtigsten  Sternbilder  u.  a.  durch  Skizzen  zu  ver- 
anschaulichen. Hierbei  wird  der  Lehrer  uin  so  häufiger  zur  Kreide 
greifen  müssen,  je  mehr  es  ihm  an  anderweitigen  I  filf«;mitteln  fehlt 
Aber  auch  wenn  Demonstrationsapparate  in  hinreichen  dein  Masse 
zur  Verfügung  stehen,  lassen  sich  derartige  Zeichnungen  keineswegs 
ganz  entbehren.  Denn  nicht  immer  zeigen  die  Apparate  die  zu 
Ulustrierenden  Vorgänge  genügend  deutlich  und  einfach;  und  ausser- 
dem liegt  bei  Heren  Verwrndunc^  die  Gefahr  nur  zu  nahe,  dass  die 
Schüler  ihr  Interesse  durch  Nebendinge  von  dem,  auf  dessen  scharfe 
Betrachtung  es  ankommt,  abziehen  lassen.  Auch  in  der  allgemeinen 
physilcalischen  Geographie  sind  in  mancher  Beziehung,  etwa  sur 


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—  57  — 


Exlautenii^  der  einzelnen  Arten  der  Gebirgsformation,  der  mannig- 
&cben  Ii^bildungnen,   der  verBcfaiedenen  Flussmündungcfi,  der 

DGnenbildung,  der  Entstehung  von  Ebbe  und  Flut,  Wandtafel- 

«ki77en  recht  förderlich.  Weiterhin  leisten  bei  der  Einpräfjiing  der 
Statistik,  die  man  mit  Recht  das  „Schmerzenskind  des  geographi- 
schen Unterrichts"  genannt  hat,  Zeichnungen  sogenannter  Grrössen- 
bilder,  die  geographische  Grössenvcrhältnisse  durch  Linien  und 
Figuren,  meist  Rechtecke  und  Kreise,  veranschaulichen,  namentlich 
für  den  Schüler  der  Unterklassen  recht  gute  Dienste.  Schon  Ritter 
hat  sie  empfohlen.*)  Durch  sie  lassen  sich  u.  a.,  mehr  als  es  durch 
Angabe  von  Zahlen  geschehen  kann,  das  Grössenverhältnis  der 
Planeten  untereinander  und  zur  Sonne,  die  Verteilung' von  Wasser 
und  Land  auf  der  Erde,  die  Grössenverhältnisse  der  Erdteile  und 
Einzelländer  nach  Flächeninhalt  und  Einwohnerzahl,  die  Verbreitung 
der  Religionen,  Menschenrassen  und  Sprachen  auf  der  Erde,  der 
Wert  der  Ein-  und  Ausfuhr  verschiedener  Länder  u.  dgl.  in  ge- 
lungener Weise  dem  Schüler  nahebrii^en«  In  allen  diesen  FMen 
ist  ein  Mitzeichnen  der  Schüler  nicht  erforderlich,  da  die  schnell 
hinc^rworfenen  Skizzen  des  Lehrers  ihren  Zweck  erfüllt  haben,  wenn 
sie  seinem  Worte  zum  Verständnis  verholfen  haben. 

Endlich  muss  hier  noch  auf  das  Profilzeichnen  hingewiesen 
werden.  Es  ist  in  hohem  Grade  dazu  geeignet,  namentlich  bei 
jüngeren  Schülern  plastische  Vorstellungen  von  der  Bodengestaltung 
eines  Landes  zu  erzeugen,  die  die  Plankarten,  d.  h.  die  grewöhnlichen 
Landkarten  nur  unvollkommen  hervorzubringen  vermögen.  Sowohl 
Durchschnitte  ganzer  Länder  und  Erdteile  wie  auch  einzelner  Ge- 
birgszüge und  Bodenerhebungen  kommen  hierbei  in  Betracht  Im 
Interesse  der  Deutlichkeit  wird  steh  bei  ihnen  eine  massige  Über* 
höhung  nicht  vermeiden  lassen,  doch  muss  diese  in  den  richtigen 
Grenzen  bleiben.  Profile,  wie  sie  sich  noch  mehrfach  in  Srhul- 
atlanten  finden,  auf  denen  sanfte  Höhen  der  Mittelgebirge  zu  spitzen 
Zacken,  die  Alpengipfel  zu  orgelpfeifenälmlichen  Figuren  verzerrt 
werden,  können  leicht  den  Schiuem  ein  falsches  Bild  von  der 
Steilheit  der  Böschungswinkel  geben.  Bei  diesen  Profilzeichnungen 
werden  die  Schüler,  sobald  sie  die  notwendige  Handfertigkeit  be- 
sitzen, mitzeichnen  können;  so  lange  dies  noch  nicht  der  Fall  ist, 
wird  der  Lehrer  sie  wenigstens  für  seine  l'afelskizzen  die  nötigen 
Feststellungen  machen  lassen.*)  Ein  konsequent  durchgeführtes 
Profilzeichnen  dürfte  übrigens  die  von  vielen  empfohlenen,  aber 
äusserst  zeitraubenden  Modellierübungen  entbehrlich  machen, 

1)  tfDtr  riditige  Gebnnich  nncl  die  besoanene,  vei^eietieiide  Ajiwettdiitig  geo- 
metrischer Figoren  fßr  physikalische  Räume  wäre  in  einer  geoKrapliisclien  Verbältnis- 
khrc  gua  dazu  geeignet,  auf  eine  sehr  einfache  und  verständliche  Weise  zu  bestimmten 
Vontelliingen  zu  filhreo^" 

*)  Musterbeispiele  fllr  die  Einführung  in  das  PiofiltcieluMii  gibt  Maliat  in  leiiier 
„Methodik  des  gcogr.  Unterr."  S.  I93if.  uad  220  f. 


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-   58  - 


Das  ZtMmm  zor  ElBflKrini  !■  dtt  M«i— witttodiito. 

In  allen  bisher  genannten  Fällen  dient  das  Zeichnen  dazu, 
fehlende  Anschauungstnittel  zu  ersetzen.    Nun  ist  ja  aber  fiir  den 

Hauptinhalt  der  Erdkunde  bildliches  Anschauungsmaterial  bereits 
vorhanden,  namentlich  in  den  Karten.  Indes  dem,  der  ihre  Sprache 
nicht  versteht,  bieten  sie  ebensowenig,  wie  etwa  dem  Laien  der 
AnbUck  der  Partitur  eines  Musikstückes.  Denn  „Landkarten  sind 
Steine  der  Weisen  und  Sinnbilder,  die  in  geheimer  Sprache  zu  uns 
reden,  und  vor  allem  sollte  daher  der  Unterricht  für  ein  volles 
Verständnis  dieser  Bildersprache  sorgen"  (Pcschel,  Abhandlungen  I, 
S.  436).  Das  erste  Verständnis  der  Kartensymbole  wird  man  nun 
natürlich  nicht  so  dem  Schüler  beibringen,  dass  man  einfach  in  medias 
res  geht,  eine  Karte  aufhängt  und  die  Bezeichnungen  der  Karten - 
Sprache  nach  dem  gedruckten  Kartenbilde  selbst  erklärt,  wo  sie  dem 
Auge  alle  auf  einmal  in  verwickelten  Gestalten  und  mannigfaltigen 
Kombinationen  entgegentreten.  Man  muss  sie  dem  Schüler  getrennt 
von  dem  übrigen  Stoff  des  Kartenbikles  nacheinander  und  in  ver- 
einfachter Form  nahebringen.  Das  meiste  Verständnis  wird  man 
finden,  wenn  man  sie  allmählich  vor  seinen  Augen  entstehen  lasst, 
wie  es  durch  das  Zeichnen  geschieht. 

Dass  man  dabei  von  der  nächsten  Umgebung  des  Schülers 
ausgeht,  bt  naturgemass.  2^ichen  können  eben  am  besten  ver- 
standen werden,  wenn  sich  die  Erklärung  derselben  mit  der  gleidi- 
zeitigen  Anschauung  des  Bezeichneten  verbindet,  so  dass  Gegenstand 
und  Bezeichnung  miteinander  verglichen  werden  können.  So  wird 
der  erste  Unterricht  im  Kartenverständnis  Hand  in  Hand  gehen  mit 
der  Aneignung  der  geographischen  Grundbegriffe  aus  der  Heimat- 
kunde. Der  Lehrer  wird  dabei  ausgehen  vom  Klassenzimmer,  das 
er  mit  allem,  was  es  an  Bänken,  Tischen  und  Schränken  enthält, 
nach  Länge  und  Breite  durch  die  Schüler  vermessen  lässt  und  dann 
im  Grundrissbild  an  der  Tafel  entwirft.')  Dann  wird  er  in  ver- 
kleinertem Massstabe,  weil  —  wie  die  Schüler  einsehen  werden  — 
der  Raum  der  Tafel  sonst  nicht  ausreicht,  eine  Ghrundrisszeichnung 
des  Schulgebäudes  folgen  lassen  und  daran  in  wiederum  verkleinertem 
Massstabe  eine  Darstellung  des  Stadtteils,  der  das  Schulgebäude 
umgibt,  anschhessen.  Alsdann  kann  er  einen  Stadtplan,  natürlich 
möglichst  grossen  Massstabes,  aufhängen  und  mit  den  Schülern 

*)  Vj^l.  zu  f!ic<;rr  Pinfühninp  in  das  Knrtf-nvrr=tSndnis ;  Kirchhoff,  (leographic 
{Baumeisters  llaudbuch  .XIIi  S.  17 — 21  ;  Lehmann,  Vorlesungen  übtr  HilfsnaiUcl  und 
Methode  des  geographisclien  l  iu.  rrichts  S.  271 — 287;  Trunk,  Die  Anschaulichkeit  des 
geogr.  Uoterr.  S.  135 — 153;  Ebcling,  Einnihrnng  in  das  KartcnTcrständnis  (1892); 
Jungelc,  Verhandlungen  der  preuss.  Direktorenkonferenzen  Bd,  43,  S.  132 — 137;  die 
graphischen  Darstellungen  auf  den  ersten  Seiten  der  Elementaratlantcn ,  besonders  aber 
die  an  die  Umgcbuog  von  Wetlborg  a&geknttpftcn  Lchrprobea  in  Matzat,  Methodik  des 
geographischen  Untexridits  S.  160  ff. 


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—   59  — 

besprechen.  Durch  diese  Vorübungen  werden  die  Schüler  erstlich 
daran  gewöhnt,  körperliche  Gegenstände  in  ihrem  GnindrissbUd 
wiederzuerkennen,  d.  h,  sie  gewinnen  Verständnis  für  die  Horizontal- 
projektion, auf  der  alle  unsere  Knrtendarstellungen  beruhen.  Ausser- 
dem lernen  sie  an  diesen  einfachen  Verhältnissen  die  Massstab- 
verjuiigung  und  deren  Wirkungen  verstehen.  Sie  bekommen  schon 
jetzt  einen  Begriff  davon,  dass  man  die  ganze  £rde  auf  einem  oder 
mehreren  Blättern  Papier  darzustellen  imstande  ist.  Und  sie  ge- 
langen, wenn  sie  beispielsweise  auf  dem  Stadtplan  die  Einzelheiten 
ihres  Schulzimmers  vermissen,  zu  der  Einsicht,  dass  es  nicht  möglich 
bt,  auf  Karten  mit  kleinen  Massstaben  jede  Einzelheit  zur  Darstellung 
zu  bringen,  dass  unsere  Karten  vielmehr  notgedrungen  generalisieren 
müssen.  Diese  Einsicht  ist  aber  notwendig,  weil  sonst  die  Schüler 
gr>n7  falsche  Vorstclluni^en  von  einzelnen  Geg^cnden  erhalten,  welche 
nach  der  allgemein  gehaltenen  Darstellung  ausserordentlich  monoton 
aussehen  und  doch  sehr  reich  an  Formen  sind,  die  aber  bei  der 
Kleinheit  des  Massstabes  nicht  mehr  zum  Ausdruck  kommen  können. 

Nun  kann  der  Lehrer  weiter  zur  Aufnahme  der  Umgebung  der 
Stadt  schreiten.  Er  wird  seine  Schüler  auf  passend  gewählten 
Klassenausflügen  die  geograpliischen  Grundanschauungen  gewinnen 
lassen  und  sie  nachträglich,  vielleicht  unter  Heranziehung  von  ReUefs, 
durch  Skizzen  an  der  Wandtafel  mit  den  S}rRibolen,  die  unsere 
Kartendarstellung  für  sit  gefunden  hat,  vertraut  machen.  Schwierig- 
keiten bereitet  dabei  nur  die  Zcichnunj^  der  Bodenerhebungen.  Der 
Lehrer  muss  hier  darauf  aufmerksam  machen,  dass  der  Karto^^raph 
bei  ilinen  ebenso  wie  bei  den  Häusern  das  Grundrissbild  zu  Grunde 

dass  er  aber  hier  auch  aussondem  die  Ausdehnung  der  Hänge 
wieder^bt  und  deren  Steilheit  bezeichnet.  Er  wird  alsdann  einige 
den  Schiüprn  bekannte  Ber^e  oder  Hüg^el  zunächst  als  einfache 
Grundrissbiider,  dann  in  kartographischer  Darstellung  in  Schraffen- 
und  daneben  in  Schummerungs-  und  in  Höhenschichtenmanier  auf 
der  Tafel  entwerfen.  Dann  kann  er  zur  weiteren  Übung  eine  Reihe 
von  Bci^ormen  aus  der  Phantasie  an  der  Tafel  zeichnen  und  die 
Schüler  aus  der  Anlage  der  SchraflTen  usw.  über  die  Böschuni^s- 
verhältnisse  Auskunft  geben  lassen.  Mit  Hilfe  aller  solcher  im 
Anschluss  an  die  Heimatkunde  entworfenen  tinzelskizzen  wird  es 
dem  Schüler  wenig  schwer  fallen,  sich  in  das  eigentOmliche  Wesen 
kartographischer  Darstellung  und  in  die  Anfangsgründe  ihrer  Zeidien- 
sprache  einzuleben. 

Ein  Wort  noch  zu  der  Frage,  ob  die  Schüler  solche  Wandtafel- 
skizzen des  Lehrers  in  ihren  Heften  mitzeichnen  sollen.  Die 
eifrigsten  Vorkampfer  des  Zeichnens  wie  Kirchhoff,  Lehmann  und 
Matzat  sprechen  sich  dafür  aus,  die  meisten  praktischen  Schulmänner 
erklären  sich  dagegen.  Gewi^^^  würde  die  Darstellung  kleiner 
tinzelobjekte  eine  gute  Vorübung  für  die  später  geforderte  Aus- 
führung kleinerer  und  grösserer  Kartenskizzen  sein,  aber  die  dafür 


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aufzuwendende  2«eit  dürfte  in  keinem  Verhältnis  stehen  zu  dem 

Gewinn.  Der  Schüler,  der  noch  keinerlei  Übung  im  Lineal-  und 
Freihandzeichnen  besitzt,  würde  schwerlich  dazu  imstande  sein,  die 
äusserst  schwierigen  gekrümmten  Linien  auch  nur  einigermassen 
richtig  nach  der  Wandtafel  zu  kopieren.  Man  möge  deshalb  bei 
der  ersten  EinfOhning  in  das  Kartenverständnis  dem  Schüler  das 
Mitzetchnen  wegen  der  entgegenstehenden  technischen  Schwierig- 
keiten ersparen. 

Da  im  Anfmfjsunterricht  nur  die  allereinfnrh^ten  und  not- 
wendigsten Llcmente  der  kartographischen  Darstellung  geboten 
werden  können,  so  wird  auf  höheren  Stuica  deren  Kenntnis  noch 
crhebüdi  zu  erweitem  und  zu  vertiefen  sein.  Hier  &nd  wenigstens 
die  Schüler  höherer  Lehranstalten  in  das  Wichtigste  der  mathe- 
matischen Kartcnprojektionslehrc  einzuführen,  wobei  man  der 
Zeicliiumgen  an  der  Tafel  nicht  wird  entbehren  können.  Sie  sind 
etwa  anzufertigen  nach  Art  der  bezüglichen  Darstellungen  in 
Seydlitz*  Leitfaden  für  Untersekunda.  Vor  allem  aber  muss  noch 
ein  tieferes  Verständnis  der  Terrainformen  geweckt,  z.  B.  der  Unter- 
schied zwischen  senkrechter  und  schiefer  Beleuchtung  und  besonders 
auch  das  Wesen  der  Isohypsen  durch  fertige  Wandtafclvorlagen 
und  durch  schnell  entworfene  Idealskizzen  veranschaulicht  werden. 
Es  ist  iur  den  Gebildeten,  beispielsweise  auf  Wanderungen,  kein 
Schade,  wenn  er  sich  auf  den  Messtischblättern  der  (^k neralstabs- 
karte  leidlich  zurccht/utindcn  vermag,  mit  denen  jeder  Unteroffizier 
vertraut  sein  muss.  Freilich  ist  auch  hier  Beschränkung  geboten: 
Weniger  wichtige  Einzelheiten  der  Terrainlehre  und  selbständige 
Anfertigung  von  Messtischblattem  und  Geländezeichtiungen  muss 
man  nnUitimschen  und  anderen  Fachsdiulen  übeilassen. 


Das  IsMiiea  »r  VirMlioiNMg  und  Einpragasi  dar  KarMlldsr  (Karli»- 

zeiolinfMi). 

I.  Allgemeiner  Zweck  des  Kartenzeichnens. 

Wenn  sich  der  Schüler  im  Anfangsunterricht  auf  die  oben  an- 
gegebene Art  und  Weise  mit  den  geographischen  Grundbegriffen 
und  den  Elementen  der  kartographischen  Darstellung  vertraut 
gemacht  hat,  so  tritt  eine  neue  umfangreiche  .Aufgabe  an  ihn  heran. 
Fortan  wird  für  ihn  die  wichtigste,  weil  grundlegende  Seite  des 
erdkundlichen  Unterrichts  sein,  die  topographischen  Verhaltnisse 
der  Erdoberfläche  kennen  zu  lernen.  Diesem  Zwecke  dienen  in 
erster  Linie  Wandkarte  und  Atlas,  die  die  preussischen  allgemeinen 
Lehrplänc  für  höhere  Schulen  als  „.Ausgangspunkt  und  Mittelpunkt 
des  geographischen  Unterrichts"  bezeichnen. 


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—  6i  — 


Nun  geben  ja  freilich  unsere  gedruckten  Karten  recht  treue 
und  vollkommene  Bilder.   Aber  man  versetze  sich  an  die  Stelle  des 

Schülers  und  betrachte  mit  dessen  Augen  ein  bisher  unbekanntes 
Land:  Ein  buntes  Durcheinander  von  Grebirgen,  Hoch-  und  Tief- 
ebenen, von  Flüssen  und  Städten,  dass  ihm  unentwirrbar  erscheint, 
tut  sich  vor  ihm  auf.  Hier  muss  der  Lehrer  helfend  eingreifen  und 
Erlcichtenmg  und  Vereinfachung  schaffen.  Das  aber  gelingt  ihm 
am  besten  durch  das  Zeichnen.  Denn  beim  Zeichnen  ist  er  in  der 
Lage  alles  mögliche  Detail  gedruckter  Karten,  dass  dem  Schüler 
die  Lriassung  der  Hauptformen  nur  erschwert,  ausser  acht  zu  lassen. 
Ausserdem  aber  entsteht  beim  Zeichnen  das  Bild  des  Landes  nach 
und  nachf  was  den  grossen  Vorteil  bietet»  dass  alle  einzelnen  Züge 
weit  genauer  und  aufmerksamer  betrachtet  werden,  als  wenn  das 
Ganze  dem  Auge  gleich  fertig  entgegentritt.  Eine  solche  Aus- 
schaltung alles  störenden  Beiwerks  und  ein  so  klares  und  deutliches 
Herausheben  der  Einzelobjekte  kann  man  durch  blosse  Erklärungen 
an  der  Wandtafel,  wie  sie  die  Vertreter  der  sogenannten  be* 
schreibenden  Methode  allein  gelten  lassen  wollen,  nicht  erreichen. 
Damit,  dass  das  Zeichnen  die  Auffassung  der  Kartenbilder  er- 
leichtert, ist  seine  Bedeutung  noch  nicht  erschöpft.  Ks  ist  auch  in 
hohem  Grade  dazu  geeignet,  fest  und  dauernd  die  behandelten 
Gegenstande  dem  Gedächtnis  einzuprägen.  Zunädist  werden  die 
Schüler,  wenn  sie  bei  der  Neudurchnahme  angehalten  werden,  die 
Wandtafelskizzen  des  Lehrers  sorgfaltig  in  ihrem  Heft  nachzuzeichnen, 
zu  weit  schärferer  und  eindringlicherer  Beobachtung  der  Gcstalt- 
und  Lagenverhältnisse  gezwungen,  als  wenn  sie  nur  dessen  er- 
läuternden Bemerkungen  an  der  Hand  ihrer  Karte  zu  folgen 
brauchen.  Und  auch  bei  der  Repetition  lässt  sich  auf  keine  andere 
Weise  einr  lebhaftere  ReprodiiVrtion  der  Karte  erzielen  als  durch 
das  Kartenzeichnen  frei  aus  dem  ijredächtnis.  Denn  weder  bei  der 
schriftlichen  noch  bei  der  mündlichen  Darstellung  ist  die  Nötigung, 
die  Vorstellungen  mög^chst  klar  zu  reproduzieren,  auch  nur  an- 
nähernd  so  stark  wie  bei  der  zeichnenden. 

Ausserdem  bietet  die  Verwendung  der  zeichnenden  Methode 
tur  die  Linprägung  der  Kartenbilder  den  Vorteil,  dass  die  einzelnen 
bedeutsamen  Elemente  der  Karte  wiederholt  und  aui  ganz  ver- 
schiedenen Wiegen  dem  Schüler  zur  Wahrnehmung  und  AuiEassung 
dargeboten  werden.    Was  der  Schüler  mit  seinem  Auge  aus  der 
Wandkarte  und  Skizze  des  Lehrers  scharf  uini  bestimmt  gesehen, 
was  er  aus  dessen  P>läuterungen  und  Beschreibungen  mit  seinem 
Ohre  vernonuacii  hat,  das  muss  er  auch  noch  mittels  seiner  Hand 
selbsttätig  darstellen.  Diese  Abwechslung  der  Tätigkeiten,  diese 
Vielseitigkeit  in  der  Erzeugung  und  Ausarbeitung  der  Vorstellungen 
gerade  ist  es,  die  ein  Verblassen  und  Verschwinden  derselben  ver- 
hütet und  ihnen  leichteste  und  vollkommenste  Wiederkehr  ins  Be- 
wusstsein  sichert 


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—    62  — 


Nach  den  vorstehenden  Ausführungen  verfolgt  das  Karten- 
zeichnen ein  zweifaches  Ziel:  die  Auffassung  der  Kartenbilder  ?,u 

erleichtern  und  deren  Einprägung  intensiver  zu  gestalten.  Es  ist 
demnach  in  erster  Linie  Mittel  zum  Zweck,  wirkt  jedoch  daneben 
auch  anderweitig  fördernd  auf  den  Schüler  ein.  Gleich  dem  übrigen 
Zddienunterricht  entwickelt  es  seine  Beobachtungsgabe  und  sein 
Darstellungsvermögen,  schärft  das  Auge  und  übt  die  JhUnd.  Daneben 
verdient  auch  ein  erziehliches  Moment  Beachtung.  Im  geograpl  i^  iien 
Unterricht  verhält  sich  der  Schüler  zumeist  rezeptiv,  beim  Zeichnen 
hat  er  Gelegenheit  selbst  etwas  hervorzubringen.  £r  wird  dabei 
die  Freude  des  produktiven  Schaffens  und  des  K{$nnens  in  sich  ver- 
spüren, was  sein  Interesse  für  den  Gegenstand  nur  heben  kann. 

Nach  allrrlrm  wird  man  das  Kartenzeichnen  als  ein  vor- 
treffliches und  höchst  wirksames  Hilfsmittel  für  den  Unterricht  an- 
sehen. Doch  muss  man  sich  vor  der  andern  Einseitigkeit  hüten, 
dass  man  allein  durch  das  Zeichnen  das  Ziel  erreichen  wüL  „Denn 
wie  es  ein  gedankenloses  Abschreiben  gibt,  l^ei  dem  der  betreffende 
von  den  Inhalt  des  Abgeschriebenen  schliesslich  nur  eine  geringe 
und  unsichere  Kenntnis  hat,  so  gibt  es  auch  ein  mehr  mechanisches 
Nachmalen  einer  Vorzeichnung,  bei  dem  das  Gezeichnete  nur  ober- 
6ächlich  erfas^  wird  und  wenig  sich  einprägt,  weil  eben  die  Gc> 
danken  nur  wenig  bei  der  Sache  sind  und  demnach  das  Gezeichnete 
nicht  genug  in  das  Bcwusstscin  aufgenommen  wird."  (Lehmaim 
S.  297.)  Um  das  zu  verhindern,  wird  man.  sei  es  vor,  sei  es  nach 
einem  grössern  Teilabschnitt,  auf  der  Wandkarte  oder  Skizze  diesen 
im  ganzen  mit  den  Schülern  überschauen  und  ihn  durch  allerlei 
Fragen  zu  vollem  Bewusstsein  bringen.  Erst  solche  Vereinigung 
des  zeichnenden  mit  dem  beschreibenden  Verfahren  wird  vollen 
Erfolg  sichern. 

Zwei  Einwände  besonders  sind  es,  die  die  Gegner  des  Karten- 
zeichnens immer  wieder  geltend  gemacht  haben:  Die  Schüler  seien 

nicht  imstande,  brauchbare  Zeichnungen  zu  liefern,  liefen  also  Gefahr, 

sich  falsche  Anschauungen  an  Stelle  der  richtigen  des  Kaitenbildes 
einzuprägen,  und  das  Kartenzeichnen  koste  zu  viel  Zeit. 

Was  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  sind  gewiss  die  Schüler* 
Skizzen  —  namentlich  in  den  Unterldassen  —  keine  Kunstwerke, 
die  einen  Vergleich  mit  den  gedruckten  Kartenbildern  aushalten 
könnten.  Aber  sie  wollen  ja  auch  gar  nicht  Wand-  und  .-Xtlaskartc 
verdrangen  oder  ersetzen;  sie  wollen  nur  diese  ihre  vollkommeneren 
Vorbilder,  aus  denen  der  Schüler  nach  wie  vor  hauptsächlich  seine 
Anschauungen  entnehmen  soll,  demselben  näherbringen,  das 
Charakteristische  auf  ihnen  hervorheben  und  dessen  Einprägung  er- 
leichtern. Inline  Gefahr,  dass  solche  Skizzen  den  Geschmack  ver- 
dürben, wie  die  Zeichengegner  behaupten,  liegt  ebensow^cnig  vor 
wie  bei  den  ErstUngsversuchen  und  Leistungen  der  Schüler  im 
Zeichenunterricht  uberiiaupt 


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-  6z  ^ 


Um  auf  den  zweiten  Einwurf  einzugdien,  so  lässt  sich  nicht 

leugnen,  dass  bei  Hinzunahme  des  Zeichnens  die  Neudurchnahme 
einer  Karte  mehr  Zeit  in  Anspruch  nimmt,  als  wenn  man  dieselbe 
nur  beschreiben  lässt  Da  aber,  wie  wir  sahen,  die  Verwendung 
des  zdchnenden  Verfiihrens  eine  schärfere  und  dauerndere  Erfassung 
der  Objekte  verbürgt,  so  wird  man  sich  bei  Repetitionen  kurzer 
fassen  und  hier  den  Zeitverlust  wenigstens  teilweise  wieder  ein- 
bringen können.  Übrigens  bemerkt  Kirchhoff  (a.  a.  O.  S.  36)  hierzu 
nicht  mit  Unrecht,  dass,  wenn  die  Ausübung  des  Kartenzeichnens 
die  Topik  tüchtig  einpräge,  für  eine  solche  Hauptsache  immer  Zeit 
vorhanden  sein  müsse. 


2.  Spezielle  Handhabung  des  Kartenzeichnens. 

»)  Was  »oll  man  zeicbncB?') 

Bei  den  grossen  Vorteilen,  die  das  Kartenzeichnen  für  die  Ver- 
deutlichung und  Elinprägung  der  Kartenbilder  bietet,  halten  es  einige 
Vorkämpfer  des  zeichnenden  Verfahrens  wie  Kirchhoff  und  Lehmann 
fiir  erforderlich,  dass  alles,  was  im  topographischen  Teil  der  Erd- 
kunde zur  Durchnahme  gelangt,  auch  gezeichnet  wird.  So  wenig 
stichhaltig  aber  die  eben  angeführten  Einwände  der  Gegner  des 
2eichnenden  Verfahrens  dafür  sind,  es  überhaupt  aus  dem  Unterricht 
zu  verbannen,  so  richtig  weisen  sie  doch  auf  gewisse  Schranken 
hin,  die  dem  geographischen  Zeichnen  gezogen  sind.  Einmal 
gebieten  der  unuangreiche  StofT  und  die  beschrankte  Zeit  gewisse 
Rücksichten,  und  andrerseits  müssen  die  Skizzen  der  Fassungskraft 
und  technischen  Fertigkeit  der  Schüler  angepasst  sein.  So  warnen 
denn  auch  die  preussischen  allgemeinen  Lehrpläne  vor  Überspannung 
der  Anforderungen  und  legen  es  dem  Lehrer  nahe,  „sich  mit  Um- 
rissen, Profilen  und  ähnlichen  übersichtlichen  Darstellungen"  zu 
begnügen. 

Zunächst  fordert  die  knapp  bemessene  Zeit  Beschränkung  in 
der  Ven\*endung  des  Zeichnens.  Werden  wichtigere  Aufgaben  durch 
das  Kartenzeichnen  beeinträchtigt,  so  kann  es  mehr  schaden  als  es 
nützt  „So  wird  der  Lehrer  oft  genötigt  sein,  ein  an  sich  aus- 
gezeichnetes Lehrverfahren  unbenutzt  zu  lassen,  selbst  wenn  es 
einen  bestimmten  Zweck  besser  als  jedes  andere  erreicht,  sobald 
dazu  mehr  Zeit  erforderlich  ist,  als  für  diesen  Zweck  übrig  bleibt." 
(Jungeis  a.  a.  O.  S.  142.)  Das  ist  um  so  eher  möglich,  als  das 
Zei(£nen,  wenn  auch  ein  vortreffliches,  so  doch  kein  unerlassliches 
Mittel  zur  Aneignung  der  Kartenbilder  ist  Auch  das  erklärende 
Wort  des  Lehrers  kann,  obp^leich  im  alli^emeinen  wenif^er  gut,  das 
Verständnis  und  die  Erfassung  des  KartenbÜdes  vermitteln. 


1}  Vgl.  zu  dieser  Aiuwahl  der  za  scicfanciiden  Objekte  bes.  Jtmgeli  a. «.  O.  S.  I4$f . 


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Da  wird  man  das  Zeichnen  zunächst  in  allen  den  Fällen  dn« 

schränken  können,  wo  so  einfache  Gegenstände  vorliegen,  dass  sie 
gar  keiner  Vereinfachung  mehr  fähig  sind  und  sich  ohne  weiteres 
verstehen  und  einprägen  lassen.  Nur  dort,  wo  sicli  gewisse 
Sdiwierigkeiten  bieten,  wo  das  Zeichnen  die  Auffassung  erleichtern 
und  fordern  kann,  ist  es  anzuwenden.  Sodann  ist  massgebend  fUr' 
die  Auswahl  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes.  So  wird  man  sich 
bei  der  Wahl  der  Länder  mit  Skizzen  derjenigen  begnügen,  deren 
Einprägung  „praktischen  Nutzen"  für  den  Schüler  iiat.*}  Man  unter- 
stÜtiEe  demnach  durch  Zeichnungen  die  Geographie  des  eigenen 
Vaterlandes  und  derjenigen  Länder,  mit  deren  Kultur  es  in  Wechsel- 
beziehungen steht  oder  einst  i^^e^^tanden  hat;  präge  also  mit  Hilfe 
von  Sl<iz7en  besonders  die  Kulturländer  alter  und  neuer  Zeit  ein. 
Die  Püiarländer,  Britisch-Nordamerika,  Sibirien  u.  ä.  zeichnen  zu 
lassen  wäre  eitel  Zeitvergeudung. 

Endlich  verdient  auch  die  politische  Einteilung  der  Erdraume. 
deren  genaue  Einprägung  von  geringerer  Wichti^Eeit  ist  ab  <fie 

ihrer  physischen  Gestalt,  weniger  Berücksichtigung.  Sie  kann  zum 
grössten  Teil  ohne  Zuhilfenahme  des  Zeichnens  auf  der  Grundlage 
der  physischen  Gliederung  eingeprägt  werden.*) 

Neben  der  knapp  bemessenen  Zeit  erheischen  sodann  das 
geistige  Niveau  und  die  Handgesdiicldichkett  der  Schüler  Rücksicht- 

nähme  bei  der  Auswahl  der  zu  zeichnenden  Gegenstände.  Man 
darf  daher  in  den  ersten  Jahren  vom  Schüler,  soweit  man  ihn  über- 
haupt zeichnen  lässt,  noch  nicht  Darstellungen  von  formenreichen 
und  kompUzierten  Gesamtübersichten,  etwa  von  Erdteilen  oder  von 
ganz  Deutschtand,  verlangen,^  so  instruktiv  solche  auch  sein  mögen. 
Dem  Ldirer  der  Naturkunde,  der  gleichfalls  zeichnen  lassen  soll, 
wird  es  hier  nie  in  den  Sinn  kommen,  Umrisse  eines  ganzen  Spechtes, 
eines  ganzen  Elefanten,  einer  ganzen  Biene  zeichnen  zu  lassen;  er 
wird  sich  mit  der  Nachbildung  charakteristischer  Teile,  etwa  der 
Zunge,  eines  Zahnes,  des  Stechapparates  begnügen.  Und  so  mag 
es  auch  der  Lehrer  der  Geographie,  beispielsweise  in  der  Quinta 
höherer  Schulen ,  mit  der  Skizzierung  von  Flusssystemen .  -schwerer 
durchsichtigen  Gebirgszügen  und  einzelnen  Landgebieten  genug  scui 
lassen,  für  die  die  Geographie  von  Deutschland  hinreichendes  und 
recht  lohnendes  Material  bietet  Alsdann  wird  man  weiterhin  all' 


')  Forik-rn  doch  auch  die  prt-ussischi-n  :vll^<'nu'iru'n  Lfhrjilänc,  d;iss,  „onbeschadcl 
der  Bedeutuztg  der  Erdkunde  als  Natumissenscbaft,  vor  allem  der  praktische  NaUea 
des  Facha  fhr  die  SehSler*'  ins  Auge  zu  tuten  ist. 

In  dcmsclhcn  Sinne  äus<;ern  sieh  aitch  Hetittlld  ft.  «.  O.  S.  t$  ü.  33,  IdehlBSlin 
ä.  409 — 410  und  Jungcls  S.  146. 

Solche  hllt  t,  B.  Lehmann  a.  a.  O.  S.  4SO— 4S3  ^  wllnsehensvert.  Ganz 
ttb^  rtriebonc  Forderungen  stellt  C.  Fr.  Meyrr  (I-phrprobrn  und  I.ehrgängr  30  S.  47  ff.) 
schon  an  den  Sextaner,  so  z.  B.  freihändiges  d.  h.  ohne  Zuhilfenahme  des  Lineals  vor- 
anehmcndes  CItwInclweidtnca  und  Ealw«iiea  von  gaoxen  Erdteilen. 


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-   65  - 

mählich  vom  Leichteren  zum  Schwereren  fortschreiten.  In  der 
Quarta  lasst  man  dniache  Skizzen  der  Einzelländer  Europas,  event 
in  TeUdarstellungen  zeichnen,  in  der  Untertertia  von  den  kompU> 

zicrtcren  fremden  Erdteilen  (Asien  und  Nordamerika)  TeUdar- 
stellungen \vichtif;jerer  Gebiete,  von  den  weiiii^er  gegliederten 
(Austrahen,  Afrika,  Südamerika)  Gesamtübersichten  anfertigen.  In 
der  Obertertia  wird  für  eine  sorgfältig  ausgeführte  Gesamtskizze 
von  Deutschland,  in  der  Untersekunda  für  eine  solche  von  Europa 
die  notwendipje  Handfertip^keit  vorhanden  sein:  hierauf  wird  man 
sich  allerdings  \ve<^en  der  ^erin^en  Stundenzahl  beschränken  müssen. 
Die  schon  so  oft  behandelte  Streitfrage,  ob  beim  Karteazeichnen 
Gesamtübeisichten  oder  TeUdarsteUungen  zu  bevorzugen  seien,  löst 
man  daher  in  der  Praxis  am  besten  so,  dass  man  mit  den  leichter 
auszuführenden  Teildarstcllunfjen  beginnt  und  allmählich  mehr  und 
mehr  zu  den  schwierigeren  Gesamtübersichten  übergeht.  Dabei 
aarl  aiaxi  natürlich  eine  andere  Rucksicht  nicht  ausser  Acht  lassen ; 
Gesamtubersicbten  sind  da  angebracht,  wo  es  weniger  auf  die 
genaue  Einprägung  des  Details  als  auf  die  grossen  und  hauptsäch- 
lichen Züfjc  des  Ganzen  ankommt.  So  wird  man  also  bei  den 
fremden  Erdteilen  (iesanitübersichten  bevorzugen  und  nur,  wo  sich 
solche  wegen  Mangels  an  Zeit  und  wegen  zu  grosser  technischer 
Schwierigkeiten  verbieten,  zu  Teüdarstellungen  ab  einem  Notbebelf 

f reifen,  ßei  Europa  und  Deutschland,  mit  deren  Rinzclheiten  die 
chüler  ebenso  \ertr:\iit  sein  müssen,  wie  mit  dem  Gesamtbild, 
werden  sowohl  Gesamtskizzen  wie  Spe/i;ildarstel!ungen  .uii^eloracht 
sein,  von  denen  jene,  wie  oben  ausgefüiirt,  am  besten  auf  der  Unter- 
Stufe,  diese  im  späteren  Verlauf  des  Unterrichts  ihren  Platz  be- 
kommen* 

b)  Wie  weit  »otlea  sich  Lehrer  und  Schttler  am  Zeichnen  bctctligen? 

Als  Zweck  des  Kartenzeichnens  haben  wir  oben  die  Ver- 
deutiichung    und  Einpräguni^  der  Kartenbilder  hingestellt.  Aus 

diesem  Zweck  erpbt  '-irh  ohne  weiteres,  dass  ein  häusliches 
Kopieren  der  Atlask.ir'Li  n  durch  den  Schüler  —  |^anz  abjijcsehen 
von  dem  Zeitaul  wand,  den  es  erfordert,  —  vöUig  wertlos  ist,  weil 
es,  meist  gedankenlos  und  mechanisch  ausgeführt,  die  Karte  weder 
verdeutlicht  noch  einprägt.  Denn  der  Scliiiler  ist,  namentlich  auf 
der  Unterstufe,  noch  nicht  dazu  imstandf  ,  Iis  vor  seinen  Au^cn 
befindliche  Rild  selbständiff  zu  analysieren,  gleichsam  das  Gerii)j)e 
fest  zu  erfassen,  an  das  sich  die  Einzelheiten  erst  anlehnen.  Es 
bedarf  dazu  vielmehr  von  Seiten  des  Lehrers  der  Anleitung  und 
vorbildlichen  Ausführung  einer  Skizze,  die  aus  all  dem  Detail  des 
Kartenbildes  das  zu  Besprechende  in  seinen  Hauptformen  und 
seinem  wesentlichen  Verlauf  zur  Darstellung  bringt. 

Geteilt  sind  die  Meinungen  darüber,  wann  der  Lehrer,  ob  vor, 
FMtK^Wte  atuMm.  ZXIX.  1.  5 


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I 


66  — 

nach  oder  fletchzeiti|r  mit  der  Besprechung  der  Wand-  und  Atlas* 

karte  seine  Skizzen  ausführen  soll.  Das  Zeichnen  nach  der  Durch- 
nahme der  Karte*)  halte  ich  nicht  für  angebracht.  Ii  ja  ein 
namcntlirh  auf  der  Unterstufe  bedeutsamer  Zweck  der  Skizzen  der 
ist,  das  KarLcnbild  zu  verdeutlichen.  Es  wäre  doch  wenig  zweck> 
mässig,  erst  ein  Land  an  der  Hand  der  Karte  zu  besprechen  und 
sie  dann  mit  Hilfe  des  Zeichneas  dem  Schüler  näherzubringen  und 
ihm  das  Verständnis  derselben  zu  erschlicssen,  F!icr  zu  rechtfertigen 
ist  der  von  Kirchhoft'  (S.  36 — 37)  und  Lehmann  (S.  454 — 455)  vor- 
geschlagene Weg.  Sie  wollen  —  letzterer  freilich  erst  nach  einem 
f^mmarischen  Gesamtüberblick"  der  Wandkarte  —  unter  Beiseite- 
lassung aller  gedruckten  Karten  gleich  mit  Zeichnen  beginnen  und 
erst  dann  -/nr  Wandkarte  und  zum  Atlas  r^rcifcTi,  so  vom  Einfachen 
zum  Komjjli/.icrten  fortschreiten.  „Die  Schüler  werden  dann,"  sa^t 
Lehmann,  „auf  dieser  zunächst  mittels  der  Zeichnung  gewonnenen 
festen  Grrundlage  nachher  auch  die  detailliertere  und  mit  allerlei 
anderem  StofT  umkleidete  Darstellung»  welche  die  gedruckten  Karten 
von  denselben  Gegenständen  geben,  um  so  besser  zu  überschauen 
und  um  so  leichter  mit  vollem  Verständnis  zu  erfassen  imstande 
sein,  weil  sie  dann  in  der  letzteren  sogleich  die  grossen  Züge  wieder- 
erkennen, die  ihnen  bereits  durch  die  gezeichnete  Skizze  bekannt 
und  geläufig  sind,  und  die  nun  den  sicheren  Grundstock  bilden,  an 
den  sich  auch  alles  andere  damit  um  so  leichter  anfü^^t."  Hierbei 
lie^  nun  aber  die  Gefahr  nahe ,  dass  die  Schüler  ihre  ersten  und 
darum  besonders  haftenden  Anschauungen  vornehmlich  aus  der  im 
Verhältnis  zur  Karte  doch  recht  unvollkommenen  Skizze  entnehmen 
und  sich  vielleicht  gar  etwas  Falsches  einprägen.  Ausserdem  fehlt 
ihnen  bei  den  ersten  Strichen  der  Zeichnung  die  Beziehung  und 
das  Verhältnis  zum  Ganzen.  Nach  alledem  halte  ich  für  am 
praktischsten  einen  dritten  Weg,  dass  die  Zeichnung  die  Durch- 
nahme der  Karten  begleitet,  derart  dass  der  Schüler  beide  ständig 
vergleichen  kann.  So  wird  er  am  besten  die  Karte  zu  lesen,  zu 
verstehen  und  zu  benutzen  lernen,  und  zui^leich  wird  er  für  die 
Mängel  der  Zeichnung  in  dem  Kartenbild  jederzeit  ein  sofortiges 
Korrektiv  haben. 

Das  Votzeichnen  des  Lehrers  bietet  hauptsachlich  nur  den 
einen  Vorteil,  dass  es  dem  Schüler  das  Verständnis  des  Karten- 
bildes erleichtert.  Soll  das  Kartenzeichnen  ausserdem  dauernde 
und  feste  Erinnerungsbilder  einprät^en,  dann  muss  auch  der  Schüler 
mitzeichnen.  Wäre  es  demnach  am  meisten  förderlich,  wenn  der 
Schüler  alles  das,  was  der  Lehrer  an  der  Tafel  vorzeidinet,  wahrend 
der  Stunde  in  sein  Heft  einträgt»  so  stellen  stdi  doch  dem  Schüler 


')  Dafiir  treten  ein  Wagner,  Die  zcichucndc  Methode  beim  geographischen  Unter* 
ncht  S.  115,  Matzat  a.  a.  O.  S.  108 — 109,  Heiland  a.  a.  O.  S.  50 — 51  und  Trank 
a.  ft.  O.  S.  159. 


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-  67  - 


zdduien  Schranken  in  den  W^.   So  müssen  wir  uns  beispielsweise 

an  den  höheren  Schulen  ebenso  wie  die  preussischen  Lehrpläne 
wegen  der  Unbeholfenheit  der  Schüler  gegen  ihr  Zeichnen  auf  der 
Sexta  wie  in  der  Heimatkunde  su  in  der  Erdkunde  überhaupt  aus- 
spredien.  Für  Quinta  fordern  die  Lehrplane  .Entwerfen  von  ein- 
fachen Umrissen  an  der  Tafel";  sie  wünschen  also  hier  offenbar 
das  Zeichnen  in  Heften  noch  nicht,  das  sie  erst  von  Quarta  auf- 
wärts verlangen.  Ich  halte  aber  dafiir,  dass  auch  der  Quintaner, 
besonders  im  zweiten  Semester,  imstande  ist,  einfaciie  Darstellungen 
auszuführen.  Daher  sollte  man  schon  ihn  aOer  Vorteile,  die  das 
Kartenzeichnen  mit  sich  bringt,  teilhaftig  werden  lassen. 

In  der  folgenden  Stunde  wird  man  die  Schüler  das  in  der  vor« 

hergellenden  Durchgenommene  noch  einmal  an  der  Wandtafel  dar- 
stellen lassen.  Dadurch  werden  sie  grnfitigt  sein ,  sich  auch  zu 
Hause  über  die  Skizze  Klarheit  zu  vcrsciiaffen  und  sich  dieselbe 
unter  vergleichender  Heranziehung  der  Atlaskarte  einzuprägen. 
Hausliche  Zeichnungen  in  sorgfaltiger  .Ausfuhrung  regelmässig  auf* 
zugeben,  halte  ich  auf  der  Unterstufe  nicht  für  angebracht.  Solche 
Massregel  könnte  dort,  wo  das  Zeichnen  dem  Schüler  noch  7.u  viel 
Schwierigkeiten  bietet,  leicht  zur  Überbürdung  führen.  Man  wird 
hier  also  das  Ziel  des  Kartenzeichnens  im  wesentlichen  durch 
energischen  Unterricht  in  der  Schuld  i  r  i<  hen  müssen.  Bei  fort- 
geschritteneren Schülern  mögen  häusliche  2Leichenaufgaben  besonders 
wichtiger  Gegenstände  am  Platze  sein.') 

Das  von  den  eifrigsten  V^ertrctern  des  Kartenzeichnens  emp- 
fohlene Kartenextemporale  ist  aus  demselben  Grunde,  Uber- 
spannung der  Schüler  zu  verhüten,  zu  verwerfen.  Dass  es  zu  einer 
solchen  konunen  muss,  namentlich  wenn,  wie  KirchhofT  und  Leh* 
mann  fordern,  über  jedes  besprochene  Land  ein  Extemporale  an- 
geferti'/t  wird .  beweist  folgender  Passus  Kirchhofts  in  Schmids 
Enzyklopädie  II,  S.  904:  „Wird  die  Zeichnung  öfter  wiederholt  — 
und  es  genügen  füerzu,  nachdem  der  erste  An&ng  im  geographi* 
sehen  Zeichnen  überwunden  ist  (!),  bei  nicht  aUzuschweren  Karten  (1) 
crfahrungsgemäss  fünf  bis  sechsmal  (!)  —  so  kann  sie  sich  dem 
Gedächtnis  so  fest  einprägen,  dass  er  sie  schliesslich  auch  als  eine 
Art  von  Extemporale  frei  aus  dem  Kopf  zu  entwerfen  vermag. 
Und  das  ist  als  das  wünschenswerte  Ziel  zu  betmchten."  Woher 
der  Schüler  för  diese  Zeichnungen  zu  Hause  —  denn  dort  soll  er 


^)  I  länslicbcft  KartcDzcichncn  wird  voo  Grau,  MassvoUe  Anwendung  des  Zeichnens 
im  geographiseben  Uoteniclit,  «ster  aUen  Umstinden  verworfen.   Malut  (S.  119)  nnd 

Heiland  (S.  58 f.)  fassen  es  als  Regel,  dass  der  Schüler  jedesmal  das,  was  er  in  der 
Schule  nachgczcichnci  hat,  zu  Hause  in  ein  Keinheft  überträgt.  KirchhofT  (S.  37) 
endlich,  der  das  Mitieichnen  der  Scbttler  in  der  Klasse  fllr  unratsam  erklärt,  will  „das 
zeichnerische  Kinflben  des  Kartcnbildes  nach  dem  Zeichcnallas  allein  di  tn  häuslirhm 
Fleis«  überlassen eine  Fordenmg,  die  namentlich  auf  der  Unterstufe  ganz  undurch- 
fUtfbar  ist. 

5* 


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—  68  — 


sie  ja  nach  Kirchhoff  noch  dazu  in  selbst  angefertigten  Gradnetzen 
ausführen  —  die  nötige  Zeit  finden  soll,  ist  mir  unbegreiflich.  Mit 
Recht  bemerkt  selbst  ein  so  unbedingter  Anhänger  der  zeichnenden 
Methode  wie  Matzat  (S.  119),  dass  durch  solche  Extemporalien  das 
Zeichnen  nicht  mehr  Mittet,  sondern  Zweck  des  geographischen  Unter- 
richts werde.  Wo  das  zeichnende  Verfahren  konsequent  durchgeführt 
wird,  da  sind  Kartcncxtemporalien  überflüssig  und  überall  sonst  zu 
schwer.  Als  Mittel  der  Kontrolle  und  des  Antriebs  genügt  die 
bereits  besprochene  Wiederholung  der  durchgenommenen  Zeichnung 
an  der  Wandtafel  Die  aber  stellt  insofern  nicht  so  hohe  Anforde- 
rungen an  den  Schüler,  als  hier  jeden  Augenblick  der  Lehrer  oder 
ein  anderer  Schüler  helfend  eingreifen  kann. 

c)  Nacb  welcher  Methode  «oU  man  zeichnen? 

Es  handelt  sich  zum  Schluss  noch  um  die  Frage,  welche  von 
den  zahlreichen  Methoden,  die  für  das  Kartenzeichnen  in  Vorschlag 
gebracht  sind,  am  praktischsten  für  den  Unterricht  zu  benutzen  ist. 
Meine  Aufgabe  kann  es  nicht  sein,  alle  diese  Methoden,  die  nach 
Dutzenden  zahlen,  einer  eingehenden  Besprechung  zu  unterziehen, 
nur  die  allerverbrdtetsten  wUl  ich  hier  behandeln.  Bemerken  will 
ich,  dass  ich  zu  dieser  Zusammenstellung  mehrfach  Lehmanns 
treffliche  „Vorlesungen  über  Hilfsmittel  und  Methode  des  geogra- 
phischen Unterrichts"  herangezogen  habe. 

Die  Kartographen  unterscheiden  bei  den  Kartenbildem  Situation 
und  Terrain.  Unter  der  Situation  verstehen  sie  die  Horizontal- 
projektion der  auf  der  Karte  zu  verzeichnenden  Gegenstände,  also 
«hs  Grundrissbild.  Dieselbe  umfasst  die  Darstellung  der  Küsten- 
und  Grenzlinien,  der  Gewässer,  Ortschaften  usw.,  kurz  das  ircsamte 
Kartenbild  mit  Ausschluss  des  Bodenreliefs.  Die  Darstellung  der 
Bodenerhebungen,  der  Hohen-  und  Böschungsverhältnisse  dagegen 
wird  unter  dem  Namen  der  Terrainzeichnung  zusammengefasst. 

Was  zunächst  die  Situationszeichnung  betrifft,  so  herrschen 
die  grösstcn  Meinungsverschiedenheiten  darüber,  wie  die  Grundlagen 
liir  dieselben  zu  gewinnen  sind.  Soll  man  das  gesamte  Gradnetz 
oder  nur  einen  TeU  desselben  oder  anderweitige  I&fekonstniktionen 
zu  Grunde  legen? 

Kirchhoff  und  nach  ihm  Dcbcs  und  I.ehmann  wollen  als 
Stütze  der  Kartenskizzen  das  gesamte  Gradnetz  verwenden  und 
zwar  nicht,  wie  die  Kartographen,  ein  Gradnetz  in  Kurven,  dessen 
Ausföhrung  sehr  mühsam  ist,  sondern  ein  geradliniges.  Durch  das 
Maschenwerk  wird  das  ganze  Kartenbild  in  eine  Anzahl  von  Teilen 
zerlegt,  von  denen  jeder  einzelne  sich  sehr  genau  einzeichnen  lässt 
Die  Vorteile  der  Methode  sind  vor  allem,  dass  die  Schüler  bei 


*)  Vgl.  denen  Zadkenatluten. 


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einiger  Aufmerksamkeit  grobe,  das  Bild  entstellende  Fehler  auch 
bei  den  kompliziertesten  Darstellungen  vermeiden  und  dass  sie  eine 
Ansdiannn  y  über  die  genaue  Lage  des  Landes  auf  der  Hrdkugd 

und  über  die  aus  dem  Gradnetz  berechenbare  Grösse  desselben 
erhalten.  Aber  das  Verfahren  hat  doch  auch  seine  Mängel,  die 
namentlich  auf  der  Unterstufe  recht  hervortreten.  Erstlich  erfordert 
es  sehr  viel  Zeit  und  MQhc^  wenn  der  Schüler,  namentlich  der  un> 
geübtere,  sich  für  jede  Zeichnung  sein  Gradnetz  sdbst  anfertigen 
soll.  Sodann  liegt  besonders  im  Anfang  die  Gefahr  vor,  dass  der 
Schüler  ängstlich  und  mechanisch  von  Gradtrapez  zu  Gradtrapez 
zeichnet  und  dass  ihm  so  die  Totalität  des  Bildes  verloren  geht 
Weiterhin  bringt  der  Schüler  der  Unterstufe  den  Begriffen  geo- 
graphischer Länge  und  Breite  noch  nicht  das  volle  Wrständnis 
entgegen.  Endlich  wäre  es  ein  geradezu  unj^eheuerliches  Verlangen 
an  den  Schüler,  wollte  man  ihn,  was  Kirchhoff  (Baumeisters  Hdb. 
S.  37}  und  Meyer  (S.  71)  —  schon  vom  Sextaner  —  fordern,  dazu 
anhalten,  sich  gewisse  nxpunkte  zu  merken,  ohne  die  ach  ja  mit 
dem  Gradnetz  nichts  anfangen  lässt.^) 

Alles  in  allem  mag  man,  wenn  man  auf  die  letzte  Forderung 
verzichtet  und  die  Stützpunkte  selbst  angibt,  auf  der  Mittel-  und 
Oberstufe  das  Kirchhotifsche  Gradnetzverfahren,  dessen  Vorteile  erst 
bei  vorgerückterem  Verständnis  und  beim  Zeichnen  schwieriger 
Gesamtübersichten  hervortreten,  verwenden.  Auch  in  Quarta  schon 
kann  man  einige  kompü/lf  rtcre  Gebilde  Europas  nach  demselben 
zeichnen  lassen ;  sonst  aber  ist  es  im  alli^cmeinen  auf  der  Unteistufe 
zu  schwierig'  und  wcnitj  zweckentsprechend. 

Den  Mängeln  des  Kirchhoflschen  Systems  abzuhelfen,  ohne  wie 
ae  glauben  dessen  Vorzüge  abzusdiwächen ,  versuchen  mehrere 
Methodiker  dadurch,  dass  sie  dem  Schüler  einen  grösseren  oder 
geringeren  Teil  des  Inhalts  der  Karte  vorgedruckt  in  die  Hand 
geben.  Derartige  Hilfsmittel  geben  ausser  dem  stets  fertif^  vor- 
liegenden Gradnetz  den  ümriss  entweder  ganz  in  Punktierung, 
so  dass  die  Schüler  dieselben  einfach  nur  auszuziehen  brauchen, 
oder  nur  streckenweise,  so  dass  sie  das  Fehlende  freihändig  ergänzen 
müssen.  Manche  von  ihnen  bieten  dann  ausserdem  noch  das  Fluss- 
net? oder  das  Terrain.  Für  die  oberste  Stufe  sind  bisweilen  die 
blossen  (iradnetze  hinzugefügt 

Was  den  Wert  dieses  Einzeichnens  in  gegebene  Grundlagen 
betrift,  so  ist  dieser,  je  nach  der  Art  der  giMlruckten  Vorlagen,  ein 
sehr  verschiedener.   Wo  am  wenigsten  Nötigung  zu  aufmerksamer 


'"^  Solcher  vom  Schüler  /u  im  rk«  tulcr  Stützpunkt«"  vcrl:inj,'t  Kirrhhoff  für  einen  so 
einüch  gegliederten  Landkoroplcx  wie  Afrik.-v  7  :         Kap  hlanco,  "/go  Nadelkap, 
Kap  Gumrdoiai,         Kap  Verde,  Strasse  von  Gibraltar,  */,o  Guineabiisen. 

Das  Einprägen  sQ  idiwer  £u  behaltender  ZaUcnkombiiiatiaiDCn  bdaitet  dai  Gedlchtnla 
ausserordentlich. 


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—  70  — 


Beobachtung  vorliegt,  also  beim  blossen  Nachziehen  angedeuteter 
Linien,  wird  sich  der  geringste  Nutzen  ei^eben.  So  ist  namentlich 
ein  Gebrauch  der  —  übrigens  die  Mehrzahl  bildenden  —  Vorlagen  ^ 
unratsam,  die  die  gesamten  Küsteiniinrisse  in  Punktierung  bieten. 
Gerade  jene  mit  Hilfe  des  Karteuzeichnens  fest  und  sicher  ein- 
zuprägen, ist  ja  von  besonderer  Wichtigkeit.  Denn  sie  bilden 
die  notwendige  Grundlage,  den  Rahmen,  in  den  sich  alles  andere 
erst  einzuordnen  hat  Je  mehr  dagegen  die  gegebene  Grundlage 
dem  freien  Finzcichnen  Spielraum  lässt,  desto  mehr  Wert  wird  die 
betreffende  Skizze  haben.  Alles  in  allem  ist  der  vollständig  freie 
Kartenentwurf  allem  tinzeichnen  in  gegebene  Grundlagen  vor- 
zuziehen, da  er  am  be^en  auf  alle  zu  trachtenden  Teile  der  Karte 
die  volle  Aufmerksamkeit  zu  lenken  und  alles  dabei  jeweils  störende 
Beiwerk  fernzuhalten  vcrmac^f.  Gcj^cn  die  Verwendung  bloss  vor- 
gedruckter  (iradnetze  wird  sich  nichts  einwenden  lassen. 

Selbst  bei  Zuhilfenahme  gedruckter  Gradnetze  würde  das 
Kirchhoflsche  Verfahren  mtsprediend  dem  oben  Angegebenen  auf 
der  Unterstufe  im  allgemeinen  nicht  zweckentsprechend  sein. 
Welche  Methode  ist  nun  aber  geeignet,  hier  dasselbe  zu  ersetzen? 

Ich  niuss  zuucächst  noch  ein  paar  Methoden  kurz  besprechen, 
deren  Verwendung  ich  für  weniger  angebracht  halte.  Zunächst 
suchen  einige  Methodiker  anstatt  des  vollständigen  Gradnetzes,  » 
dessen  Anlage  sie  für  zu  zeitraubend  halten,  mit  einigen  aus> 
gewählten  Gradnctzlinien  auszukommen.  Ich  halte  es  gleich  dem 
Kirchhofifschen  X'erfahren  auf  der  Unterstufe  für  ungeeignet,  weil 
hier  der  Schüler  für  ein  tieferes  Verständnis  des  Gradnetzes  noch 
nicht  reif  ist  Noch  weniger  zweckmassig  ist  ein  Verfahren,  das  an 
Stelle  des  trapezförmigen  Grradnetzes  ein  atiseinander  gleichen 
quadratischen  Maschen  zusanimcngesctztcs  Ouadratnctz  zu  Grunde 
legen  will.  Bei  der  Vergleichung  der  Skizzen  mit  den  gedruckten 
Karten  kann  dies  Verfahren  die  Schüler  nur  zu  leicht  zu  Miss- 
Verständnissen,  zu  Verwechslungen  von  Quadratnetz  und  Gradnetz 
führen. 

Dagegen  kann  man  öfters  mit  besomlerem  Nuucn  die  sogenannte 
konstruktive  Methode  verwenden,  die  aus  einer  geoinetrisrhcn  Hilfs- 
figur heraus  die  Grundgestait  des  zu  zeichnenden  Objekts  entwickelt 
welcher  Lehrer  möchte  sich  z.  B.  entgehen  lassen,  die  Pyreiuien- 
halbinsel  als  ein  Trapez  au&ufassen,  Belgien  und  Sachsen  als  recht» 
winklige  Dreiecke  zu  bezeichnen,  in  Böhmen  ein  Barallelogramm  zu 
sehen,  dessen  Diagonalen  sich  in  Prag  schneiden?  Natürlich  darf 
man  nicht  überall,  was  extreme  Vertreter  wie  Canstein,  Oppermann 
und  Dronke  woUen,  dieses  Ver&bren  zur  Anwendung  bringen. 
Nichts  wäre  verkehrter,  als  komplizierte  Gebilde,  wie  etwa  Osterreich« 
Ungarn,  auf  Grund  desselben  zeichnen  zu  lassen.  Sie  würden  ganz 
ungeheuerliche  Hilfskonstruktionen  erfordern.  Nur  wenn  die  natürliche 
Ähnlichkeit   den  Vergleich  der  geographischen  Gestaltungen  mit 


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—  71  - 


dtifachen,  geradlinigen  Figuren  nahelegt,  ist  diese  Methode  einfach 
und  zwecknnassig. 

Nicht  selten  lassen  sich  auch  mit  Hilfe  von  „Nonnallinien"  auf 

einfache  Wei'^p  brauchbare  Ski/zen  anfertigen.  Stössner,  der  dies 
V'crfahren  aiisj^cl jillet  hat,  legt  als  Normalmass  die  Entfernung 
zweier  wichtiger  Funkte,  die  gemerkt  zu  werden  verdient,  —  also 
z.  B.  die  Länpe  eines  Gebirges  oder  eines  bedeutsamen  Fluss-  oder 
Küstenabschmtts  —  zu  Grunde.  Um  die  Hauptstützpunkte  seiner 
Zeichnung  zu  gewinnen,  zieht  er  eine  Gerade  und  trägt  auf  dieser 
die  Normale  mehrfach  ab.  Durch  einige  der  so  gewonnenen  Punkte 
zieht  er  dann,  senkrecht  zur  tiaupthilfslinie,  weitere  Gerade,  auf 
denen  er  gleichfalls  die  Nonnale  abträgt,  so  dass  er  eine  ganze 
Reihe  von  Stützpunkten  gewinnt.  Ähnlich  sind  die  von  Harms 
empfohlenen  Skizzen,  nur  dass  hier  die  Normalstrecken  nicht  allein 
rechtwinklig,  sondern  auch  spitz-  und  stumpfwinklig  zusammen- 
gesetzt werden.  Einfachere  Skizzen  von  Flussläufen,  Gebirgszügen 
und  wenig  gegliederten  Ländern  lassen  sich  mit  Hilfe  dieser 
Methoden  meist  recht  bequem  darstellen*  Kompliziertere  Gebiete 
verlangen  freilich  einen  gewaltigen  Apparat  von  Hilfslinien  und 
werden,  wenn  noch  Winkelabschätzungen  erforderlich  sind,  oft  recht 
verzerrt.  Zudem  lassen  sich  nicht  immer  passende  Normalen 
auffinden. 

Mehrfach  wird  auch  das  Matzatsche  Verfahren,*)  der  den  er- 
forderlichen Anhalt  fiir  die  2Mchnung  mit  Hilfe  von  Distanzkreisen 
gewinnt,  empfohlen.  Es  werden  je  nach  Bedürfnis  50  oder 
100  Kilometer  in  den  Zirkel  genommen.  Mit  denselben  schlägt 
man  um  einen  vorhergenannten,  bedeutsamen  Punkt  einen  Kreis, 
zuerst  auf  der  Karte,  dann  an  der  Wandtafel  und  auf  den  Skizzen- 
blättem.  Aldann  werden  alle  wichtigen  Punkte  auf  und  in  der 
Nähe  der  Kreislinie  und  dazu  die  Richtung  derselben  vom  2^tral- 
punkte  aus  bestimmt.  Darauf  werden  mit  grosserer  Zirkelöflfnung 
(200,  300  usw.  km)  neue  Kreise  gesclilagen  und  das  angegebene 
Verfahren  wird  so  oft  wiederholt,  bis  alle  erforderlichen  Stützpunkte 
gewonnen  sind.  Man  muss  zugeben,  dass  das  dargelegte  Verfahren 
an  sich  einfach  und  wenig  zeitraubend  ist.  Dagegen  bieten  die 
Distanzkrci^e  in  vielen  Fällen  keine  wirksame  Unterstützung  beim 
Zeichnen.  Ausserdem  ist  zwar  die  ungefähr  richtige  Einhaltung  des 
Abstanden  der  einzelnen  Tunkte  vom  Mittelpunkte  aus  auf  alle 
Entfernungen  hinreichend  gesichert  Aber  die  Schätzung  der 
Himmelsrichtungen,  in  denen  die  einzelnen  Stützpunkte  vom 
Mittelpunkte  aus  gelegen  sind,  wird  bei  zunehmender  Entfernung 
vom  Mittelpunkte  und  der  dadurch  bedingten  Vcrgrösscrung  der 
Spielräume  immer  unsicherer.    Auch  dies  Verfahren  ist  daher  gleich 


t)  Vg^.  Methodik  S.  3^9  AT.  und  die  35  SUzien  im  Anhug  denelben. 


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—   72  — 


den  vorherrschenden  für  die  Anfertipinj:  von  TeildarstelKinp^en  oft 
zweckentsprechend,  für  Gcsamtübcrsichtcn  eignet  es  sich  nicht. 

Häufig  endHch  wird  bei  ganz  einfachen  Spezialskizzen,  namentüch 
bei  Gebirgszügen  und  Flusslaufen,  der  Fall  eintreten,  dass  sich  die- 
selben auch  ohne  alle  Stützpunkte  zeichnen  lassen.  Alsdann  möge 
man  nicht  erst  einer  bestimmten  Methode  zu  Liebe  mit  der  Dar- 
stellungs  eines  Hilfsgcrüsts  mehr  oder  weniger  Zeit  verschwenden, 
sondern  frisch  darauflos  zeichnen.  Mögen  solche  Zeichnungen  auch 
etwas  summarisch  ausfallen  und  die  Hauptzüge  nur  annähernd 
wiedergeben,  sie  werden  immer  noch  klarere  Anschauung  und 
festere  Anei^mung  vcrmittchi,  als  es  die  blosse  Beprechung  nach 
der  gedruckten  Karte  ohne  das  Zeichnen  vermag. 

Das  Ergebnis  der  vorstehenden  Erörterungen  über  die  Ge- 
winnung der  Stutzpunkte  för  die  Situationszeichnung  ist  folgendes: 
Bei  Gesamtübersichten,  wie  sie  hauptsächlich  auf  der  Mittelstufe 
höherer  Lehranstalten  •gezeichnet  werden,  lässt  sich  das  Kirchhoffschc 
Verfahren  nicht  entbehren,  da  allein  das  Gradnetz  hinreichende  und 
sichere  Anhaltspunkte  iiir  kompliziertere  Zeichnungen  bietet.  Auf 
der  Unterstufe,  wo  es  ^ch  ohnehin  nur  um  Zeichnungen  von  ge- 
ringerem Umfang  und  minder  reichem  Inhalt  handelt,  ist  das  Grad- 
netzverfahren wenig  zweckmässig.  Überhaupt  mag  sich  hier  der 
Lehrer  nicht  sklavisch  an  eine  bestimmte  Methode  binden,  sondern 
in  jedem  einzelnen  Fall  die  auswählen,  die  am  einfachsten  und 
schneUsten  zum  Zide  fährt.  Als  besonders  geeignet  empfehlen  »di 
entweder  die  Normallinien-  und  die  konstruktive  Methode,  oder  aber 
das  Distanzkreisverfahren;  häufig  kann  man  auch  ohne  besondere 
Stützpunkte  durch  sogenannte  Faustzeichnungen  seinen  Zweck 
erreichen. 

Wir  gehen  zur  Terrainzetchnung  über.  Die  Kartographen 
stdlen  das  Terrain  durch  Schraffen  und  verschiedene  Farben- 
abtönungen dar.  Ihr  Verfahren  lässt  sich  natürlich  für  den  Unterricht 
nicht  verwerten.  .A^ls  Ersatz  dafür  sind  eine  ganze  Reihe  von 
Symbolen  empfohlen  und  in  Anwendung  gebracht  worden.  Seydlitz 
zunächst  deutet  den  Langenverlauf  der  uiebirgc  durch  einfache  dicke 
Striche  an.  Dies  Verfahren  hat  den  Vorzug  grösster  Einfachheit, 
gibt  aber  kein  Bild  vom  Umfang  der  Gebirge,  so  dass  z.  B.  Städte 
und  Flussquellen,  die  dem  Gebirge  angehören,  oft  in  der  Ebene  zu  liegen 
scheinen.  Infolgedessen  ist  die  Strichmanier  für  einen  regelmässigen 
Gebrauch  untauglich.  Ausnahmsweise  kann  man  sie  mit  Nutzen 
verwenden,  um  kompliziertere  Gebii^;ssysteme  wie  die  Alpen,  bei 
deren  Einzelheiten  es  weniger  auf  die  Ausdehnung  als  auf  die 
Hauptrichtung  ankommt,  mit  möglichster  Einfachheit  zur  Anschauung 
zu  bringen. 

Die  Nachteile  dieser  Methode  sucht  Matzat  {a.  a.  O.  S.  333  f.) 
mit  seiner  nFlächenmanier"  zu  umgehen.  Er  lasst  zur  Darstellung 
eines  Gebirges  den  Sdiüler  mit  dem  Wischer  einen  Langsstrich 


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auf  seinem  Blatte  ziehen,  diesen  dann  auseinaoderwischen,  wodurch 
er  die  Breitenausdehnung;  des  Geb)r:_-r-^  erhält,  und  endlich  dunklere 
Tone  aufsetzen,  so  dass  sich  höhere  1  k  !  irasparticn  von  niedrigeren 
unterscheiden  lassen.  Trotz  unlcugba,rcr  V  orzüge  ist  auch  diese 
Art  der  TerraindaisteUung  för  Sehulzwecke  nicht  geeignet  Erstlich 
könoen  durch  sie  bei  minder  gewandter  Ausführung  die  Zeichnungen 
leicht  verschmiert  werden.  Ausserdem  aber  *'rh!t  diesen  Terrain- 
bildern —  und  das  ist  der  I'^all  auch  bei  den  \on  Matzat  seiner 
Methodik  beigegebenen  Tafeln  —  das  klare  Hervortreten  und  die 
deutliche  Bestimmtheit  der  Umrisse;  sie  haben  etwas  ^Ver- 
schwommenes,  was  einer  leiditen  Erfassung  und  sicheren  Einpragung 
hinderlich  ist. 

Die  Kirchhofl'sche  Bogcnmanier  (a.  a.  O.  S.  37)  endlich  stellt 
die  Ränder  und  Abhänge  der  Bodenerhebungen  durch  auswärts 
geschwungene  Bogen  dar.  Wie  mit  der  Matzatschen  Methode  kann 
man  mit  ihr  nicht  nur  den  Umfang  der  Gebirge,  sondern  auch 
deren  Höhen-  und  Böschuncrsvcrhältnisse  ausdrücken,  indem  steiler 
und  tiefer  abfallende  Böschungen  durch  kräftigere  und  kürzere 
Bogen,  sanftere  Abdachung  und  geringere  Höhe  durch  gestrecktere 
und  schwächere  Bc^nanlage  angedeutet  werden.  Vor  der 
Matzatschen  Manier  zeichnet  SIC  äch  durch  Anschaulichkeit,  Klarheit 
und  Bestimmtlieit  aus,  so  dass  sich  die  einzelnen  Terrainformen 
leicht  und  sicher  einprägen  laiöen.  Ihre  Darstellungsweise  ist 
einfach  genug,  um  schon  auf  der  Unterstufe,  ohne  dass  es  dazu 
besonderer,  längerer  Einübni^  beditoite,  von  jedem  Schüler  leicht 
und  schneU  ausgeführt  werden  zu  können.  Nach  alledem  entspricht 
von  allen  Terraindai-stellungsweisen  die  Kirchhoffsche  Bügenmanier 
am  besten  den  Schulzwecken,  da  sie  die  erforderliche  Ausdrucks- 
iahigkeit  mit  genügender  Deutlichkeit  und  Einfachheit  verbindet 


B.  Kleinere  Beiträge  und  Mitteilungen. 

L 

Ober  t.  V.  Sailwürks  „Prinzipien  und  Methoden  der  Erziehung"  und 
die  dritte  Auflage  der  „Didaktischen  Normalfornen.**') 

Von  Fr.  Frauke  in  Leipzig. 
I. 

In  der  ersten  Schrift  will  Verf.  „deu  »ystemaf tsrlir  ji  Gruufliilft)i'  sehier  Er- 
fiehnngalfthrfe  zeichnen  and  bietet  so  zu  winen  bishurigeu  ächhften,  insbesoudere 

>)  Prinaipien  im  1  Methoden  dpr  ErziehuDj^.  80  S.  Leipzig,  Dürrsche 
Bnchh.  1006.  Preis  1,2U  M.  —  Die  did.  Normaifonnen.  3.  Aufl.  164  S.  Frank- 
fart  a.  H.,  M .  Du8t«rweg  1906.  PmIb  2  H. 


üiyiiizoo  by  Googie 


-  74  — 


KU  den  „NonDalformen"  und  zu  ^Uans,  Welt  und  Schule",  womit  ich  mich  m 
beschHftißfen  Anlass?  irenomtneu  hatte,  den  letzten  Unterbau.  Dabei  sucht  er  eine 
feste  Stellung  zu  gewinnen  zu  den  Grundgedanken,  welche  in  der  Gegenwart  die 
Pttdagogik  neu  aufbftuen  wollen  nnd  dabei  einander  TidlMh  entgegenwirken. 
Sin  derartiger  Terrach,  daa  Oawirr  dnrehriehtigar  an  maebent  iat  willkommen  in 
beissen,  aucb  wenn  man  wieder  Anlaas  hat,  der  gegen  Herbart  und  noch  mehr 
gesren  Züler  gerichteten  Toleraik  gegenüber  —  andere  i  t  lirin  kaum  zn  finden  — 
sich  abwehrend  zu  verhalten.  Da  diese  Zeilen  die  Grenzen  einer  Anzeige  mög- 
lichst innehalten  aoUen,  ao  begnügen  sie  eich  mehrfach,  nnr  die  Difierenzpnnkle 
fllr  nOdge  ciagehende  SrBrtemngen  beranisnbeben. 

1.  Nach  einem  einleitenden  Kapitel  entwickelt  das  zweite  ,.die  obersten 
pädagogischen  Prinzipien"  (S.  fi--15),  und  zwar  sind  'leren  drei.  Das  erste 
Prinzip  nennt  Verl  das  „der  vollen  natürlichen  Eutwickelung".  Die  Erziehung 
ist  nach  ihm  nicht  erat  eine  Erfindung  der  Kultur,  sondern  schon  eine  „Ein- 
richtnnir  der  Natnr.  Aneh  die  Tiere  eniehen  ihre  Kinder  wie  der  MenedL" 
Man  sieht,  dass  Verf.  den  Begriff  üraiebnng  weiter  als  gewöhnlieh  nimmt»  nnd 
das  billigt  wohl  mir  einer  anderen,  sogleich  zn  erwähnenden  Anffassung  zusammen. 
Das  Prinzip  selUt  wird  nämlich  dahin  formuliert,  die  Erziehung  solle  „in  das 
Eraiehongsweik  der  Natur  unmittelbar  eintreten  und  die  von  ihr  begonnenen 
und  begründeten  Bntwidtelmtgen  su  Toller  Ausbildung  bringen".  Gegen  die 
Mite  Hälfte,  gegen  das  ntäntreten"  in  das  begonnene  Wttk  iat  nichts  einan* 
wenden,  denn  anfansfen  mnss  die  absichtliche  T;itif*:keit  crnnz  gewiss  bei  dem, 
was  ohne  sie  schon  vorhanden  ist.  Aber  reicht  die  zweite  Hälfte  des  „Prinzips** 
Mr  die  Fortf&hrung  der  Arbeit  aus?  Dass  man  in  dem,  was  die  „Natnr^ 
begonnen  und  begrltndet  bat,  mOgliohat  untMaebeiden  mnsa,  was  davon  TerdienOr 
dasa  man  ea  au  voller  AnaEtthrnng  bringe,  und  was  man  zu  bessern,  zn  biegen 
oder  unwirksam  zn  machen  suchen  müsse,  wird  man  dem  Verf.  nicht  erst  sagen 
wollen;  aber  sein  „erstes  oberstes  Prinzip"  legt  in  den  Begriff  „Natur"  schon  das 
Merkmal  der  VorzUglichkeit,  des  positiven  teleologischen  Wertes  mit  hinein,  und 
dadurch  wird  daa  Weitere  bestimmt.  Etwaa  Äbnliebea  tat  Bonsseau,  nnd  nur 
deshalb  konnte  er  Umkehr  zur  Natur  fordern.')  Der  Verf.  aber  erwähnt 
Boussean  mit  dem  Zusätze,  seine  Forderung  9ti  insofern  nicht  richtig,  „als  die 
Kultur  kein  Gegensatz  der  Natur  ist". 

Daraus  ergibt  sich,  dass  der  Verf.  auch  in  den  Begriff  „Kultur"  das  Merkmal 
des  rein  positiven  Wertes  mit  hinlegt,  und  daa  mnsa  auch  jede  PIdagogik  tun, 
die  in  ihrem  teleologischen  Teile  Ober  die  „Kulturarbeit"  hinaus  nkdita  HSherea 
kennt.   Dieser  Punkt  wird  bei  -lern  dritten  Prinzip  wieder  zur  Sprache  kommen. 

Aus  dem  eniteu  IMuzip  folgert  Verf.  zunächst  die  FürdernuiLr,  „dass  der 
psychische  Kreislauf,  der  jeder  Aufnahme  unserer  Eindrücke''}  eine  Ver- 
arbeitung im  Innern  des  ifmschen  nnd  eine  dieaer  entsprechende  Gegenwirkung^ 
fo]<,n>n  lässt,  aufbsebt  «"halten  werde".  Das  ist  vGllig  anmerkennen,  weil  dabei 
die  „Natur"  80?:nsao:en  nur  ihrer  formalen  Seite  nach  zn  Norm  nnd  /w  ck 
gemacht  wird;  die  £nciehung,  sagt  Verf.,  kann  vieles  tun,  was  der  Natur 


^)  VgL  Theod.  Vogts  Biographie  Bonsaeaus  in  Manns  päd.  Kiai^dikern. 
*)  Sollte  ea  beissen  nftusierer  EindrAeke"? 


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-   75  — 


entspricht,  „aber  sie  tut  vielleicht  nicht  alled"  oder  sie  trifft  „das  von  der  Natur 
gewollte  VeililltBii"  nicht.  So  webrt  (Im  ente  Frlnsip  jede  Art  Ton  Einieitigkdt 
ih»  inebeoondere  die,  den  ee  mieeie  Enieliuiig  en  EÜiwirknii;  von  wamea  nielit 

fehlen  lässt,  aber  „diejeni^n  jungen  Menschen  für  besser  erzogen  hält,  die  wenig 
nach  anssen  wirken-'.  Diese  Verkenmiiic,'  und  Verbannung  des  „Handelns"  findet 
Verf.  aber  auch  in  Herbarts  Pädagogik.  Er  hat  diese  Behauptung  schon  in  den 
J)eatediai  Btttteni*  von  tSOO  („letenne  und  Huiddim  Im!  Heriieit*,  mxth  im 
„PId.  Kegmsm'*  Heft  147)  und  mietet  noeb  in  der  „Bentacheii  Sehlde^  (Desembeiv 
heft  1906)  vorgebracht:  ich  meine,  man  dürfte  sich  durch  die  Überzeugung,  daae 
man  ihm  dariii  <Tnr  niVhts  nachgeben  kffnne,  nicht  Jftnger  abhalten  lassm,  ihm 
einmal  ;iuf  dief'tuj  I  Ia«!«  nachzug^ehen.  — 

2.  Vom  p^ychiiiobeu  Kreislauf  mis  gelani^t  Verf.  2U  seinem  zweiten 
obersten  Prinzip.  £r  betrachtet  es  ab>  ein  Verdienst  Herbarts,  dass  er 
gegenfiber  der  Trennung  naeh  SeelMivertnügen  „der  Sede  in  «einer  Psychologie 
ihre  Einheit  wiedergegeben  hat".  Teil  wUl  anoh  niefat  die  tiefe  Spaltung  in 
leibliche,  geistige  und  sittliche  Erziehung,  sondern  sein  „Prinzip  der  inneren 
Einheit"  verlangt,  dass  immer  ,.dic  Einheit  des  menschlichen  Wt«  ns  erhalten 
bleibe".  Die  Anslubmngen  setzen  auseinander,  wie  gemäss  dem  ällgemeinen 
Zasunmenbang  eine  eedliebe  IbwAeinnn^  «ob  anderen  hervorgeht  oder  andere 
herfortreibt;  die  Vontellnngen  sind  „niaprttnglieh  nur  die  Antwort  nniem 
Organismus  auf  einen  durch  die  Sinnesorgane  ihm  zugetragenen  Reiz'';  „auch 
was  wir  Gefühl  nennen,  ist  nichts  linderes  als  eine  Reaktion  anf  einen  in  be- 
stimmten NerveugebiettiU  zur  Wirkung  gelangten  Keiz"  u.  s.  f.  Ob  das  wirklich 
«in  neues Prinzip"  ist,  darfiber  naebher.  Tof.  bMbt  hier  wieder  na  ▼ertRUMos^ 
toU  bd  der  „Natiu^  stehen.  „Una«  Denken,"  lagt  «r,  »ist  eb«M0  von  unseren 
Oefnhlen  abhän^g,  wie  unser  Wille  von  ihm  angeregt  und  durch  das  Gefühl 
bedingt  wird."  Das  sind  allerdintifs  Tatsachen  de^  Seelenlebens,  aber  z.  B.  in 
dem  ersten  Öatze,  dass  unser  Denken  von  unseren  Gefühlen  abhängig  ist,  fehlt 
to  Gedanke,  dass  dieser  tatsleihlidie  Znsaumenbang  «ach  l&selwiniingrMi  hervor^ 
treOyt,  denen  andere  —  oder  aneh  ein  sweites  Ich  des  Trigen  selbst  • 
ftUen,  denken  und  wollen,  dass  es  so  nicht  sein  sollte.  Dann  gehen  zum 
Bweiteu  MaU»  tvu  einem  ersten  .\nsto?is  die  entsprechenden  weitereu  Wirkungen 
hervor,  das  iJeaken  überwindet  gewisse  subjektive  Begnügen  uud  wird  viel- 
Isidit  idn  objektiv.  AJadaim  kann  man  wohl  sagen,  die  nal^liche,  aber  Ter- 
werfliehe  Abbingigkeit  des  Denkens  von  OefUhlen  sei  mm  einer  hSheren 
Instanz  aufgehoben,  von  einem  besseren  Willen  überwunden  worden.  Das  alles 
is*t  in  der  P.^yehologie  Herbarts  genau  erörtert»)  und  in  seiner  Pädagosrik  ver- 
wertet; trotzdem  bringt  der  Verf.  das  alte  Vorurteil  wieder  TOir,  dass  Herbart 
„den  Boden  seiner  Erziehung  lediglich  im  Vorstellungsranme  dehl** 

3.  Das  dritte  Prinzip,  das  der  sozialen  Kultur,  muss  uns  dann  sagen, 
warnm  die  Sniehnng  das  Werk  der  Nntnr  fortsetsen  nnd  niehts  mkipinera 
lasssn  BolL  Die  Eniehnng  soll  nftmlieh  „der  menseblicben  Gesellschaft  dienen, 


'  I  Vir],  nieiiieu  .\ufsatz  :  ..Zu  Herbarts  Lehre  vom  Gefühl"  im  36.  Jahrb.  dSff 
Vereins  L  wiss.  Päd.,  besonders  S.  214  ft,  und  Päd.  ätud.  1»04,  S.  368  ff. 


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-   76  ~ 


indem  sie  dmi  Zögling  das  Knltnrgat  der  Zeit  mitteilt  und  dednreh  ihn  sv 
Arbeit  an  dieser  Kultur  befähiirt". 

Damit  legt  also  Verf.,  wie  bt-i  dem  ersten  Prinzip  in  die  ^Natur",  so  liier 
in  die  „Kultur"  und  in  die  „Gesellschaft"  das  Merkmal  der  Vorzüglichkoit  mit 
hinein  und  macht  damit  seine  Arbeit  an  den  „Prinzipien  der  Erziehung"  unklar. 
An  der  nBefUhigung:  twr  Mitarbtit"  Insueht  man  nidits  anentsetaeii«  und  mit- 
teilen icann  man  dem  Zögling  auch  nur,  was  man  hat,  wa«  vorhanden  und 
mithin  ein  Bestandteil  der  Kultur  ist.  Aber  man  „soll"  doch  /gewiss  der  mensch- 
linhen  Gosellachaft  nicht  srhlprhthin  dienen,  nicht  a»  allem  möglichen 
mitarbeiten,  und  die  eigentliubeu  Kriterien  des  Sollens  und  Nichtsollens  werden 
in  den  Torliegmden  Piinnipiai  der  Grnehnng  nidit  für  sieh  hmraagettdlt« 
eondem  ohne  deatlidie  Seheldong  mitgedacht,  bald  mehr,  bald  aber  anch  weniger 
erkennbar.  Man  prüfe  nur  folgende  Sütze :  zu  dem  Kulturgut  „gehören  anch  die 
Lebensgestaltungen,  die  wir  unter  dem  Begriff  des  Sittlichen  zusammenfassen. 
Sie  sind  der  Auadruck  der  ge-seliscbaftlichen  Beziehungen  unter  den  Menschen  . .  . 
80  ist  denn  die  Brsiehiing  snr  Sittiiehkdt  ein  Aneflnss  des  eoiialen  Eniehungs- 
piinElpa*.  Das  ist  gaas  die  Sosialpidagogik  mit  den  belcannten  Fehlern,  die 
nun  soirleich  wieder  verwendet  werden  zw  unzutreffenden  Besohuldigttngai 
anderer.  Die  .  lu-u.  re  Wissenschaft '  habe  erkainit  „dass  der  Mensch  von  Natur 
ein  Geselischaflswesen  ist".  Von  wann  an  diese  neuere  Wissenschaft  datiert 
wird,  ist  nicht  gesagt,  doch  wird  der  Durchschnittsleser  diese  neuere  Wissen» 
«ehaft  nach  der  „LidiTidnalpidagogik"  Herbarts  nsw.  sataen.  Aber  was  Yerf. 
Aber  diese  äeite  der  Natur  des  Menschen  sagt,  ist  Herbart  durchaus  nicht  fremd, 
ja  es  ist  vielloiclit  von  ihm  erst  gefunden  oder  mindestens  durch  seine  neue 
Auf-  und  Aufassuug  der  psychologischen  Tatsachen  erst  klarer  durchschaut 
worden.*)  Nur  solche  Katurcrkenntnis,  nicht  sittliche  Qrnndgesetse 
spricht  der  Verf.  immer  wieder  ans,  wenn  er  dariegt,  dass  die  Sittlichkeit  nur  in 
der  Oesellnng  entstehen  nnd  sich  zeigen  kann,  ja  er  weist  selbst  bei  dem 
Manne  auf  Salos  y  domez  s^mz  richtig  darauf  hin,  dass  wir  iins  denselben  sogar 
„ohne  alle  Kunde  von  ^^esen  seiner  Art"  denken  müssen,  bevor  v^ir  ?agm 
könnten,  er  kenne  keine  Pflicht,  es  sei  nichts  ^siitlicheri  au  ihm;  bei  dem 
wirklichen  Manne  Chamissos  ebenso  wie  bei  Robinson  und  sdnen  wirkliehen 
VorbUdem  stiftet  schon  der  aus  der  Gesellschaft  mitgenommene  psychische  Besitz 
eine  Men^-e  von  Wülensverhiiltnissen.  der  Mann  gefällt  oder  inissfiillt  auf  Grund 
derselben  weni^'stt-ns  sich  selbst  und  stellt  sich  ein  Wohlgefallen  oder  Missfallen 
des  lieben  (iottes  vor. 

In  uuäereu  wirklichen  Verhältnissen  mlisste  mau,  weil  ja  alle  in  der 
Gesellschaft  leben,  nach  den  Bestimmungen,  wie  sie  anch  dttVerf.  wieder- 
holt, eigentlich  erwarten,  dass  au(  h  alle  sittlich  lebten  nnd  handelten,  so  wie  es 
ja  auch  in  der  Gesf-llunq"  unmr.^rjich  isr,  nichts  von  anderen  zu  erfahren  und 
selbst  nicht  von  anderen  bemerkt  zu  werden.  Im  Reiche  der  hewusstlosen 
Natur  sind  z.  B.  die  Strömungen  unserer  Atmosphäre  der  genaue  Ausdruck 
der  YerteOnng  des  Lnftdmekcs,  und  Dmdc  nnd  StrSmnngen  hängen 
wiedemm  ab  von  den  WftrmeverhUtnisaen,  sie  gestalten  sieh  genan  denselben 

»j  Päd.  Stud.  ltftJ6,  Hh. 


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—  — 


«itspreehend,  nnd  wir  tragen  keiae  Sorg«»  dais  da  «ininal  eine  boabafte 
ireichnng  an  Terliflteii  lein  kOnate.    Aber  sind  wir  mit  unseren  menschlidiaii 

Verhältnissen  w  anfrifilfü  dass  wir  die  vorliftmleneii  Lebensgestaltungen 
schlecht wt^iT  „untf^r  licu  ßecrriff  des  Sittlichen  zusammenfassen"  mRphten?  Sie 
sind  zunüclist  ein  natürliches,  genau  nach  den  vorbaudeueu  Bedingungen  ge- 
bildetea  Erzengnis,  and  wer  dieaen  Bedingnngeu  naehfondit,  der  treibt  Natar* 
geaehicbte  dieser  Lehensgestaltnngen.  Sittlich  im  nftturgeschichtlichen  Sinne 
nennen  wir  diese  Erzeugnisse,  weil  wir  an  denselben  üherhanpt  über  die  Scheidung 
von  Trsache  und  Wirkung  hinaus  noch  eine  bcs<)ndere  Betrachtnntfsiirt  üben, 
und  im  Sinne  dieser  Betr&chtongsart  unterscheiden  wir  dann  sittlich  und  un- 
aitfUch. 

Der  letztere  Begriff  sittlich  gehört  in  die  pldagogisebe  Teleobigiet  die  au« 

geführten  Bestimninng^on  des  Verfassers  enthalten  aber,  wenn  man  sie  im 
Zusammenhange  der  gauzen  Erörterungen  au  ff  aast,  nur  den  ersteren.  Das  i^t 
die  Unklarheit,  die  in  der  ganzen  Sozialpädagogik  immer  wiederkehrt.  In  meiner 
acbon  erwfthnten  gegen  Riasmann  gerieliteten  Arbeit:  „War  DSipfeld 
ladiTidaaliat?**)  babe  ich  daa  arnfftbrlieh  sn  «eigen  Terancbt,  aber  B.  fftUt  aieh 
bloss  raissvergtanden  und  verletzt  und  hat  sich  bis  beute  fortwährend  dagegen 

verwahrt*.  Die  Verwahnvngen  zeigen  aber  blos?,  dfti*s  ihm  der  eigentliche 
Streit-  und  Treuaungspunkt  immer  noch  nicht  klar  geworden  ist;  nicht  die  Natur 
oder  daa  Wohl  der  Oeeelliebaft,  nicht  der  natürliche  Znaammenhang  des 
ftttliehen  mit  denelben  iat  faaglieh;  aondeni  Herbart  fordert  und  vollaieht  fttr 
die  eine  Art  prinzipieller  Betrachtung  die  befjrif fliehe  Trennung  des 
Sittlichen  vom  Sozialen.')  die  die  Sozialpädag:oi;ik  entweder  höhnend  abweist,  9 

wie  a.  B.  Bergemanij,  oder  wenigstens  nicht  klar  vollzieht,  wie  der  Verf.  der 
Toriiegenden  Frinaipien, 

Die  UA^  anf  die  hiermit  hingewieaen  ist,  aeigt  rieh  Mgleidi  wieder,  wo 
Aber  daa  Verhältnis  der  drei  Prinaipien  zueiuandi  r  spricht  nnd  damit  den 
Ertra;^  der  priufipielleu  Untersuchung  für  dn-  folgende  zusammenfas^t.  Das 
dritte,  sagt  er,  ist  sachlicher  Art,  die  beiden  ereilen  sind  formaler  Natur.  Von 
diesen  beiden  beaieht  sich  das  erstere  mehr  auf  die  Sicherung  natürlicher  Vor- 
ginge, wfhrend  daa  aweite  sieb  daraof  richtet,  dasa  die  nat&rliche  Ordnnag  nieht 
dareh  eine  lUasregel  der  geschäftlichen  Ordnnng  des  Endeben  geftbrdet  werde. 
Ich  Termag.  wie  oh«»n  angedeutet,  die  „Sichcning  natHrücher  V  r^  infre"  und  den 
Schutz  der  natürlichen  Ordnung  gegen  Gefährdung'  nirbt  t^enngend  auseinander 
au  halten,  will  aber  dabei  nicht  verweilen.  Kichtig  lat,  dass  zur  Ausbildung 
einer  „gesehloasenen  PersSnüchkeit''  alle  drei  gehffren,  aber  —  sie  reichen  nieht 
ganz!  Man  kann  ohne  Blühe  geschlossene  Persönlichkeiten  finden,  die  gewiss 
auch  <ler  Verf.  nicht  als  Vorbilder  betrachten  und  hinstellen  würde;  e.«  fehlt  in 
dif""-«'!!  „Prinzipien"  die  scharfe  BestiniTnung^ ,  welche  Anscbauungeu  und 
Mttximeu  der  Person  GeschluHseuheit  verleihen  sollen. 


')  Päd.  Stnd.  18i)6. 

*)  Über  den  ,^änaUoh  renchiedenea  Gang  der  Betrachtungen,  durch  welche 
wir  daa  UeaJ,  nnd  dorcb  wdaha  wir  die  Kenntnis  dee  Wirkflcben  gewinnen*', 
Tgl.  Hetbnrta  Werke,  Anagahe  von  Kehrbach  3,  8.  818ff.;  von  Hartenstein  13, 

a.  i2Sff. 


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-   7«  - 


4.  Die  folgenden  Kapitel  treniun  die  „Arbeilögebiete  der  Erziehung"  in 
die  drei  Gebiete,  nach  denen  dann  drei  Methoden  unterschieden  werden.  Die 
psychologischen  Benerkangen  aber  die  Natur  de«  Mnilene  iviederholen  die  flblidieii 
«dilefen  Angrife  uif  Heibarti  Psychologie  vaä  gipfeln  in  der  Behaaptcmg, 
Zillers  Metbode  f^se  ganz  anf  einem  Tenneintlich  von  selbst  ablaufenden 
psychischen  Mechanismus,  bei  welchem  der  Schüler  bloss  Schauplatz  »ei,  dagegen 
nehme  v.  Sallwiirks  Metbode,  indem  sie  sich  auf  die  Logik  stiltse,  den  Willen  in 
Ansprocli.  Dm  mttaBte  im  AnieUiiM  «i  die  Bfoe^ttte  SallwQrlEB  ^^ber  die 
AnrfUlniig  dei  Gemflte  dnrcb  den  enddwnden  Untemcht''  (1904)  fflr  eieli  Terfoigt 
werden.  Dahei  findet  sich  folgender  Satz :  „Die  Entschnldignng  eines  Anhängers 
«lor  Zillerfchen  Schule,  was  psychologisch  richtig  sei,  werde  es  wohl  logisch  auch 
sein,  wollen  wir  dort  belassen,  wo  sie  hingehört,  bei  den  Bekenntnissen  der 
wiaaenechafUichen  Unzulänglichkeit."  Oh  der  Yert  damit  wirklich  die  Meinung 
dieeee  nngemumten  „Anhängen"  getroffen  hat,  mam  man  besweifeln.  Ich  habe 
immer  nur  gefunden  nnd  eelbrt  gdtend  gemacht,  was  psychologisch  un- 
möglich sei,  solle  man  anch  nicht  iDr.  hf-n  wollen,  die  lojpsche 
Kichtigkeit  könne  al^  über  dai>,  was  in  einem  bestimmten  Zeitpunkte  zu.  machen 
oder  zu  lassen  sei,  nicht  absolut  entscheiden;  noch  weniger  kann  natürlich  die 
pejchologiicbe  HOglichkdt  oder  Unmöglichkeit  der  logischen  Bicktigkeit  an  sich 
etwas  nehmen  oder  zusetzen. 

Darauf  folgt  der  „Entwurf  einer  allgemeinen  pädagogischen 
Methodt'".  d.  h.  e.-*  ivinl  von  der  in  den  ..diflaktischcn  Normalformen"  dar- 
gelegten Methode  für  die  Ausbildung  der  Erkenntnis  (daü  zweite  Arbeitsgebiet 
d«  Eniehong)  gezeigt,  dass  sie  auch  gültig  ist  für  das  erste  und  dritte  Arheito- 
gehiet:  fttr  die  „organischen  Fertigkeiten"  und  für  die  .,sittlicbe  QewOhniing"> 
Das  i^t  hinsichtlich  der  Forti^^Tvcitcn  ein  Überraschendes'  JKigebnis  nnd  macht 
einen  Blick  auf  die  zweite  Schrift  uotw<  ii<lig. 

Schlns»  folgt 


€»  Benrtolliiiigeii. 


Niemand  kommt  zum  Vuier,  dcuu 
durch  mich.  Eine  ernste  Predigt 
far  Deutschlands  Eraeber  von 
H.  Schreiber.  Minden  i.  W., 
Haimk7.  Pnis  00  Pf. 

Nach  dem  Verfasser  ist  in  der 

Bibelstellc  Joh.  14.  H  die  i^anze  Kritik 
des  heutigen  Beligionsunterrichts  und 
die  Znkanftsmethodik  der  religiösen 
Führung  unsrer  Jugend  und  der  christ- 
lieben  Gemeinde  enthtlten.  Christus 
sagt:  Niemand  kommt  zum  Vater,  denn 
durch  mich.  Die  Kirche  hat  aber 
gerade  umgekehrt  gedacht  und  auch 
die  Schule  mm  verkehrten  Banddn 


\erurLtilt.  Den  dogmatisclitu  Keligions- 
unterrieht  kann  man  gar  nicht  bald 
genug  anfangen  und  nidit  weit  genug 
ausdehnen,  das  alt«  Testament  wira 
einseitit,'  betont,  ilie  Relitjionsstanden 
arten  ztir  Maulbraucherei  aus,  das 
tiebren  dvrch  Beispiel  fehlt,  der 
Kt'liirionsunterricht  ist  in  eine  R«ihe 
selbständiger  Fächer  gespalten  nnd 
diese  Yemraiedenen  Gegenstände  «erden 
auch  noch  an  mehrere  Personen  ver- 
teilt. Wenn  »  hristus  sagt.  „Niemand 
kommt  snm  Vater,  denn  durch  mich", 
so  meint  rr  ntrht.H  anderes  als:  Schaut 
mich  an  als  da»  Beispiel  einer  wahr^ 
haftigen  religiSsmk  PenOnlichkeit,  dami 


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—  79  — 


braocht  ihr  nicht  j  ilu  lmg  mit  <len 
Kindern  in  trockener  Weise  Uber  das 
Weaen  der  Rdf^on  m  dispntiere&, 
ohne  es  zu  ersohhessen;  der  BHck  in 
meine  weit^  Seele  und  in  mein  klttMS, 
leiebes  Leben  wird  zu  einer  Erleuchtung 
Sber  das  Höchste,  zu  einer  Erschliessung 
der  Gottesidee,  zu  einem  klaren  Gottes- 
bewnsstfieiji.  —  Das  Verhalten  Christi 
zTir  Ki?)zelsoele  und  zur  (Tf;n»'inscbaft 
muiiiiL  man  sich  nicht  zum  \orbilde. 
Die  Kinder  werden  zu  Nummern  herab- 
fewQrdigt,  zu  Oefässen,  die  man  von 
Stunde  zu  Stunde  mit  nackten  Tat- 
sachen und  kaltom  Wissensstückwerk 
Ws  «am  Überfliessen  füllt  £•  fehlt 
das  SchoUeben,  in  dem  der  Heiland  als 
Zentrum  einer  beseelten  Gemeinde,  nh 
erhab^tes  Vorbild  lenchtet.  Schule  und 
Kirche  aollen  snm  Teietindifen  ehriat- 
lichen  Hanse  hinblickt^n.  Ein  Relig-ions- 
lehrer  braucht  noch  mehr  Freiheit  wie 
jeder  andere. 

Albert  dleyeri  Die  Wiederholunjg^ 
im  Unterrichte.  Ebenda.  Pieu 
1  M. 

Der  Titel  ist  nicht  zutreffend,  denn 
CS  ist  in  dem  Hefte  nur  von  der 
Wiederholunc  im  Rt'litrionsunterricbtf 
die  Bede.  Verf.  steht  auf  einem  ganz 
roralteten  Standnnnlcte.  Die  dnaelnen 
Zweige  des  R^^iit^ionsiinterrichts  siml 
zu  keinem  einheitlichen  Ganzen  ver- 
bunden, aondera  bilden  nach  den  Am- 
fahruni^ii  (k'S  Verfassers  ein  buntes 
Konglomerat.  Über  einen  Lehrplan  im 
BdigioDsaBttmehte  er&hren  wir  gar- 
nichts .  und  es  wäre  doch  durchaus 
nötig  gewesen,  dass  man«  ehe  man  von 
Plänen  fUr  Wiederbalu^pen  gehört 
hätte,  zunächst  klar  ireworden  wäre 
Bber  den  Lehrplan,  der  zuy;ruude  gelegt 
ist.  Verf.  ist  ein  Verteidiger  der  alten 
konzentrischen  Kreise;  da  brauchte  er 
gar  kdn  Heft  Aber  Wiederholungen 
zu  schreiben,  denn  bei  dem  rnt<  rrii-1it<^ 
nach  dieser  5to£[anordnnn£  wird  der 
Stoff  den  Kindern  snm  Überdra»  bereite 
wiederholt. 

Kre^burg  a  U.  Hemprich. 

<l.  L.  Jetter,  Neue  Schnlkunst. 
Spezielle  Didaktik  uud  Methudik 
eines  entwii  kelnd-erzlehenden  Unter- 
richts. 2  Bände.  1.  Bünd :  Stii-zi.ile 
Didaktik.     71   S.     Geb.   M.  l,tiU. 


2.  Band :  Spezielle  Methodik.  150  S. 
Geb.  M.  3^0.  Verlag  von  Blevl 
Qttd  Kaemmuer  (0.  Sdiambaeh) 
Dieaden  1906. 

Der  Titel  lässt  einen  zunächst 
stutzen ;  auch  der  Untertitel  des  ersten 
Bandes  (Spezielle  Didaktik)  geht  mir 
wider  den  Strich.  Indes,  das  ist  am 
Ende  Geschmackssache.  Warum  soll 
man  nicht  «nch  einmal  „speziell'* 
nennen,  was  ein  anderer  al.s  ,.allii:emein'* 
oder  überhaupt  als  ganz  was  anderen 
empfinden  wtlrde?  Abgesehen  aber  hier- 
von:  ein  sehr,  sehr  lesenswertes  Buch. 

im  1.  Bande  spricht  der  Verfasser 
a)  tlber  das  Lernen,  b)  Qber  die  Lehr- 
kunst, c)  über  die  Penmnfaitdnng  und 
über  Schulorgani^nti  n. 

Der  1.  Teil  fasst  die  guten  Gedanken 
über  diesen  wichtigen  Gegenstand  noch 
einmal  mit  Vnrstftndni«  zusammen.  Auch 
der  2.  Teil  steht  aul  der  Höhe  neuzeit- 
lidier  Pädagogik.  Ob  sich  freilich  die 
TiPfer  dauernd  mit  seiner  Theorie  von 
den  „Urund-  und  Umtauschakten"*  be- 
freunden werden ,  steht  dahin.  lüh 
persönlich  habe  die  gleiche  Sache  schon 
einfacher  gelesen ;  desgleichen  wird  der 
Verf.  mit  seiner  Definition  vom  ,.dar- 
Btellenden'*  und  „entwickelnd-darstellen- 
den**  ünterrichte  in  weiten  Kreisen  anf 
erhebliclK.n  Widerstand  stoh.^en.  Mit 
seiner  Musterlektiou  über  „Das  Eich- 
Mmehen"  kann  ich  mich  nicht  in  alten 
Stücken  einverstanden  e:  klären  Teh 
dächte,  es  mUsste  doch  Bcfrititliguug 
erwecken,  dass  endlich  das  „biologische* 
Moment  zu  seinem  Keclitf  gekommen 
ist.  Ihm  ist,  raeiutir  Übt-rzbUgiiug  nach, 
alles,  was  ge.sehen  wird,  ohne  weiteres 
znHuhsnmipr<»n.I«'h  mnss  daher  Stufell,  la 
für  übiTÜlLssig  erklären.  Im  übrigen 
steht  dahin,  ob  der  „Themensatz' 
uaturgeschichtlich  betrachtet  —  absolut 
richtig  ist.  Ich  entsinne  mich,  etwaa 
gelef*en  zn  haben ,  was  dem  dtirchaus 
widerspricht.  Der  3.  Abschnitt  ist  reich 
an  feinen  Oedanken,  Beobachtnngen  nnd 
Änregnntjen.  leh  kann  nur  bedauern, 
dass  der  zur  Vcrl  iiirung  stehende  Baum 
es  verbietet,  anf  ein/dnes  einangeben. 
Eben.>-o  lesenswert  ist  fler  4.,  wenn  auch 
erheblich  kürzere  Toil  über  die  „Sohnl- 
organisation".  Was  hier  der  Verf.  ins- 
besondere über  die  Koedukation  der 
Kuabeu  und  Mädchen  (der  Volksschule),. 


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—   8o  — 


KluBenweiterftthning'  vnd  Fachlehrer- 

systetn  faof^f .  nntorsrh reihe  ich  nnhptlinsrt. 
Wer  (wovon  Verf.  nicht  spricht)  das  in 
Mtiuchi  n  (lurcbgefabrte  und  anaerwärts 
mit  Er{t)]<:  angestrebte  System  der 
v(illiö:en  Auslieferung'  der  Müdcheu- 
khissLii  au  die  Lehrerinnen  für  den 
Höhepunkt  aller  piulagoi,'ischeu  Weisheit 
hält,  wird,  soferu  er  uuch  m  uiiltlereu 
Jahren  steht,  wohl  noch  Gelgeuheit 
nehmen  müssen,  seine  Ansicht  zu  revi- 
dieren. Der  Rflckschla^  mnis  kommen ! 
\V;<-  V.  rf.  bei  der  Krörrernnq;  iliescs 
Funkten  über  die  dorchachuittUche 
giOcsere  geistige  Beife  der  MBdeheii 
sagt,  die,  seiuer  Antrabe  nach,  den 
Knaben  ständig  1 — 2  Jahre  voraus  seien, 
findet  in  meiner  penSnlichen  Srialirang 
keine  Stütze. 

Der  2,  Band  (Spezielle  Methodik)  nun 
enthält  die  Anwendung  der  didaktischen 
Omndsätscc  des  1.  Tt  iles.  Verf.  gliedert 
in  Gcflchichtäfächer  [Bibl.  Gesch.,  Ge- 
Mduchta,  Spnehnnterr.  (?)],  NfttviOeher 


rNatnrgesch. ,  Geographie,  Rechnen], 
Kunstfftcher  [Sinjjen.  Schönschreiben  (?;, 
Zeichnen!  und  Spiel(?)fäcber  [Glieder- 
spiel, Handspiel,  Sinnesspiel],  behandelt 
bei  jedem  Fache:  Zweck  und  Ziel  des- 
selben, Auswahl  und  Ajiordnnn<r  des 
Stoffes,  Besidnmsr  tn  den  Nebenfächern, 
Lehr-  und  Lemweisnn^n  und  schliefst 
je  mit  einem  Untemchtsbeispiele  ah. 
Schon  aus  dieser  Inhalt^übt  r«icht  allein 
ergibt  sich,  daas  ee  gauz  uumiifiiich  ist, 
hier  auf  euiehies  einangdien.  sakann 
also  nur  auf  das  eigene  Studium  des 
Bandes  verwiesen  werden.  Wer  immer 
aber  in  die  Gedankengänge  des  Veit, 
sich  vertieft,  der  w^ird  inne  werden, 
dass  er  hier  —  mag  er  in  Einzelheiten 
sieh  mit  ihm  sdilagen  oder  auch  ver- 
tragen !  —  einen  warmherzigen  Kenner 
und  selbständigen  Kopf,  kurz:  einen 
Heister  der  Sehlde  vor  sieh  hat. 
Eberahaeh  (Sa  ). 

.  Dr.  Fr.  Schilling. 


Eingegangene  Bttcher. 

(Bespracbmng  ▼orbehalten.) 
PUngaflaolie  Jahreaschaa  Iber  das  Volktschulweaen  Im  Jahre  1906.  Hcraut^iefscben 

von  C.  Clausnilzcr.    I.ciprip  IQ07,  B.  G.  Tcubntr     I'r.  geb.  7  .^^ 

Mitteilungen  der  Geaellscbaft  für  deutsche  Erziehiinfls*  und  Sohulgesohichte.  Be- 
gründet von  Karl  Kehrbaeh.  Berlin  1907,  A.  Hofinaon  &  Komp.  3.  and 

4  ri, 

Vogel,  Dr.  Paul,  Fichtcs  philosophisch-pädagogische  .Ansichten  in  ihrem  Verhältnis  zu 
Pestalozd.    Langensalza  1907,  ilcrm.  Heyer  &  Sohne.    Pr.  2  M. 

Wenxlg«  i*rof.  Or.  C,  Die  VVcluoscbaanngen  der  Gegenwart  in  GegeosaU  und  Aot- 
gloich.   Leipzig  1907,  Quelle  h  Meyer.   Pr.  Originatband  1,35  M. 

Btitier,  Justus,  Aagnit  Herntano  FIrancfce.  Letpsig  1906,  Vdluigca  &  KJasiaig,  FTeb 
0,90  M. 

Troott,  Prof.  Or.  Karl,  Beitrige  cor  Behandlung  der  Philosophischen  Pfo]>Sdevtik  in 

iVima.    I^ipziß  1907,  Ou'-llc  &  ^Tt■\•t■r.    Tr.  (joh.  o.So  M. 
HäntSOh,  Or.  IL,  Herbarts  pädagogische  Kaust  und  von  pädagogischer  Kunst  überhaupt. 
Ein  Beitrag  mm  Kampf  um  Herbart  und  dne  Einfllhning  in  das  Stadium  seiner 

Pädagogik.    I.ripzif:  1907,  E.  Wunderlich.    Pr.  prb.  1,60  M. 
Ziehen,  Dr.  I..         der  Werkstatt  der  Schule.    Leipzig  1907,  (jucllc  &  Meyer.  Preis 

fli-b.  4.60  M. 

KldKlU-GerlofT,  Dr.  Felix,  Physiologie  und  Anatomie  des  Mensdiea.   Ldpug  1907, 

Tcubncr.    Pr.  3  M, 

Battl,  K.  0.,  Einführung  in  die  moderne  Psychologie.  «.—4.  Abt.  *.  \vA.  Ldpsig  1907, 
Zickfddt.   Pr.  geh,  5  M. 

(Fortsetzung  fuigt.) 


Drnefc  von  A.  Bl«>u  <fc  Sohn  in  Matunburg  s.  8 


A.  AbhandlangeiL 

L 

Die  Erziehung  schwachsinniger  Kinder  zur  SelbsttätiglieitO 

Von  Schuldifektor  8,  Nlfnoll«. 

Leitsätze: 

1.  Die  mnnfjelhafte  psychophysi^^che  Entwicklung  des  schwach- 
sinnigen Kindes,  welcher  in  der  Hauptsache  durch  Besserung 
der  motorischen  Reaktionen  begegnet  werden  kann,  fordert 
die  Anwendung  des  Prinzips  der  Selbsttätigkeit  als  Grund« 
prinzip  ihrer  Erziehun^y. 

2.  Die  Selbsttätigkeit,  die  heim  Schwachsinnigen  mehr  einen 
nachschaffenden  als  seibstschaffenden  Charakter  trägt,  hndet 
als  das  geeignetste  wirksame  Mittel  zur  geistigen  und  tech- 
nscfaen  Ausbildung  auf  aUen  Endehungsstufen  in  der  körper- 
liehen  Betätigung,  im  bewussten  Tun  ihren  Ausdruck. 

3.  Die  Anwendung  des  Prinzips  der  Selbsttätigkeit  schützt  vor 
erziehlichen  Fehlgriffen. 

Die  Heilj)ädaf(o^ik  hat  in  der  Erziehung  schwachsinniger  Kinder 
von  jeher  den  praktischen  Standpunkt  eingenommen,  die  Schwachen 
mögUchst  fürs  Leben  geschickt  zu  machen,  sie  zur  Erwerbbluhigkeit 
heranzubilden.  Ein  Bück  in  die  Erziehungsgeschichte  und  selbst 
noch  in  die  Literatur  unserer  Tage  zeigt  aber,  dass  man  die  Lösung 
der  Aufgabe  hauptsächlich  in  der  int ellektuc  11  rn  Pflege  bei  mehr 
passivem  als  aktivem  VcrhaUcn  des  Zöglings  unter  Ausschaltung 
seiner  Hand-  und  Körperbctatjgung  zu  finden  meinte;  es  ist  daher 
kein  Wunder,  da»  «fieser  Art  des  Erziefaens  der  Vorwurf  des 

')  Ein  V'ortrafj,  von  dem  Verfasser,  der  Vorstand  der  Königl.  Schwuchsinnigcn- 
Anslalt  tu  ChemniU  i.st ,  gehalten  auf  der  12.  Koufercai  für  das  Idioten-  uud  Hilfs- 
schulwesen.  Was  hier  aber  die  Anregung  zur  Selbsttätigkeit  und  über  deren  Bedentoog 
Oir  die  geistige  Eniwickliiag  gesagt  wird,  gilt  prinoipieU  auch  (fir  die  Eniehang  nomuJer 
Kinder.   D.  R. 

IMifOifMte  Stodtan.  ZZIZ.  t.  B 


« 


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—    82  — 


Drillens  gemacht  wird.  Wenn  eine  ärztliche  Autorität')  in  einer 
bekannten  Schrift  über  die  Geisteskrankheiten  im  Kindcsaltcr  den 
Rat  gibt:  „Dem  schwachsinnigen  Kinde  muss  entsprechend  dem 
Grad  und  der  Eigenart  seines  IntdUgenzdefektes  reicfalich  Ge- 
legenheit zu  sor^fultig  ausgewählten  Empfindungen  gegeben  werden 
d.  h.  das  schwachsinnige  Kind  muss  7..  R.  Hie  r^fTvölmUrhsten, 
praktisf'h  wichttj^stcn  Gegenstände  und  Tätigkeiten  oft  sehen ;  es 
darf  nicht  dem  Zulall  überlassen  bleiben,  ob  es  dieselben  hin  und 
wieder  und  gemengt  mit  vielem  Unrichtigen  zu  sehen  bekommt"  — 
so  fragt  man  sich  unwillkürlich,  warum  darf  das  Kind  mit  den 
Din'n;^en  oder  an  ihnen  nichts  tun  und  warum  darf  es  die  Tätig- 
keiten nicht  nachmachen?  Nur  sehen,  nur  passiv  sinnlich  wahr- 
nehmen soll  es,  man  dirigiert  zwangsweise  seinen  Wiiien  und 
en\ägt  nicht,  ob  die  zu  sehenden  Gegenstande  und  Tätigkeiten 
sein  Interesse  besitzen  und  seine  willkürliche  Aufmerksamkeit  fesseln 
würden.  Derartige  Übungen  wirken  auf  den  Willen  nicht  fördernd 
und  kräftigend,  sie  lassen  den  Geist  kalt  Nur  eigenes  Mittun, 
körperliche  Tätigkeit  macht  das  Kind  glücklich,  auch  das  geistig 
tiefstehendste,  sobald  nur  ein  Funken  budsamen  imieren  Lebens  in 
ihm  wohnt.  Diese  Tatsache  wird  leider  allzuwenig  beachtet.  Das 
zeigen  auch  manche  Lclirpläne  von  Anstalten  und  Hilfsschulen, 
deren  Stoftfülle  die  Fassungskraft  der  schwachen  Kinder  überschätzt, 
das  beweisen  manche  Methoden,  die  das  Kind  zur  Passivität 
zwingen  oder  bei  ihm  eine  derartige  geistige  Selbsttätigkeit  voraus* 
setzen,  welche  es  bei  der  Art  seines  psychischen  Gebrechens  nicht 
besitzt ;  solche  Unterrichtsmethoden  zeitigen  unbefriedigende  Erfolge. 
Eine  Reform  tut  hier  not.  Die  Stimmen,  welche  sie  fordern,  sind 
noch  selten.  Den  Fortschritten  in  den  Naturwissenschaften  und 
insbesondere  den  psychophysiologischen  Forschungsergebnissen  ist 
es  zu  danken,  wenn  die  Pädagogen  durch  äe  in  ihren  Reform* 
gedanken  unterstützt  werden  und  in  ihnen  eine  Begründung  ihrer 
Ansichten  und  ihrer  Arbeit  suchen.  Die  Forderung ,  das  Kind  als 
schaft'endes  Wesen  zu  betrachten  und  die  Erziehung  auf  seine 
Selbsttätigkeit  zu  gründen,  ist  nicht  neu;  hat  doch  der  grosse 
Pädagog  Fröbel  sein  ganzes  Erziehungssystem  darauf  aufgebaut 
Sind  einerseits  die  Erfolge  der  Erziehungsarbeit  für  Verwirklichung 
dieser  Fordenmg  ihre  besten  h'iirsprccher .  so  findet  der  Erzieher 
schwachsinniger  Kinder  in  der  Kinderforschung  und  in  der  physio- 
logischen Tsychologie  für  ihre  Richtigkeit  den  Nachweis.  Erfalirung 
und  Wissenschaft  fordern,  dass  die  Erziehung  auch  die  schwach- 
sinnigen  Kinder  durch  Selbsttätigkeit  zur  möglichsten  Selbständig* 
keit  führt. 

Von  den  das  geistige  Leben  des  Kindes  direkt  fördernden 
Trieben  tritt  der  Bewegungstrieb  zuerst  in  Erscheinung  und  äussert 

^)  ZiebeD,  Die  Getiteskrukbeiten  de»  Kiodeaalten.  Heft  t,  S.  60. 


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sich  anfangs  in  unwillkürlichen  und  unbewussten  Reflexbewegungen 
(Schliessen  des  Auges  bei  Lichteinfall,  Greifbewegungen)  und  sodann 
in  den  durch  Lust-  und  Unlustgefühle  wachgerufenen  Instinkt- 
bewegungen (Saugen,  Crreifen);  beim  schwachsinnigen  Säuglinge 
findet  man  oft  die  ersten  Spuren  seines  Grebrechens  in  der  geringen 
Lebhaftigkeit  und  Stärke  dieser  Tricbbcwe<^unf:^cn.  Bcwusstc,  will- 
kürliche Bewegungen  (Greifen  nach  Gej^cnstanden)  treten  beim 
Kinde  erst  im  5.  Lebensmonate  auf.  Diese  Erscheinungen  tinden 
ihre  Erklärungen  in  der  Entwicklung  des  Nervensystems.  Mit  ent- 
wickeltem Rückenmaxlc  und  niederen  Himteilen,  welche  die  Reflex- 
und  Instinktbewegun^en  auslösen,  tritt  das  Kind  ins  Leben;  im 
Grosshirn  aber  sind,  wie  Flechsig*)  nachgewiesen  hat,  nur  einige 
*  wenige  Nervenleitungen  fertiggestellt,  und  diese  Leitungen  verknüpfen 
ausschliesslich  empfindliche  Teile  des  Kdrper-Innem,  insbesondere 
die  Muskeln  und  einige  Sinneswerkzeuge  mit  dem  Zentralherde  des 
Bewiisstseins,  der  ^auen  Rinde  des  Grosshirns.  Eine  S-nncsleitung 
nach  der  andern  dringt  von  der  Körperoberfläche  her  ge;^a"n  die 
Rinde  vor.  Nach  der  Fertigstellung  der  Sinnesleitungen  bis  zu 
ihren  Rindenzentren  beginnen  von  da  aus  neue  Bahnen  —  die 
motorischen  Apparate  —  in  umgekehrter  Richtung  sich  zu  bilden. 
,.P-in  ürittcil  der  menschlichen  Grosshirnrinde  steht  In  direkter  Ver- 
bindung mit  den  Leitungen,  welche  Sinneseindrücke  /.um  Bewusst- 
sein  bringen  und  Bewegunc^smechanismen,  Muskeln  anregen;  zwei 
Drittel  n^men  aber  die  geistigen  Zentren,  die  Assoziationszentren 
ein,  das  sind  die  Apparate,  welche  die  Tätigkeit  mehrerer  Sinnes- 
zentren zusammenfassen  zu  höheren  Einheiten,  und  die  sich  erst 
nach  dem  inneren  Ausbau  dieser  Zentren  und  der  Verbindungs- 
bahnen sämtlicher  Zentren  untereinander  entwickein.  Dieser  Aus- 
bau der  Sinnesleitungen  und  der  Hirnzentren  ist  aber  abhängig  von 
dem  al^emeinen  Gesundheitszustande  des  Kindes,  seiner  Emälirung 
und  seiner  Erziehung;  nur  die  eigene  Tätigkeit  des  Kindes  bringt 
die  Nervenzellen  und  somit  seine  geistige  Leistungsfähigkeit,  die 
allein  in  der  Anzahl  und  Beschaffenheit  der  Empfindungs-  und 
Vorstellungsassoziationen  begründet  ist,  zum  Wachstum  und  zur 
Entwicklung;  ohne  Erziehung  der  Sinne  und  des  ganzen  Körpers 
tritt  geist^e  Verkümmerung  ein.  Den  bedeutendsten  Einfluss  auf 
die  Assoziationszentren,  auf  das  geistige .  Leben,  übt  das  dem  Tast- 
sinn /ugchörige  Rindenzentrum,  die  Körperfiihlssphäre ,  aus,  das 
auch  an  Ausdehnung  alle  anderen  Sinneszentren  zusammen  über- 
trifft; stellen  sich  doch  dem  Tastsinn  hunderttausende  wohlisolierte 
Leitungen  zur  Verfügung,  um  die  tastenden  Hautflächen  zu  bewegen. 
„Die  Körperfühlsphäre  bildet  aber  nirht  nur  äusserlich,  sondern  auch 
durcii  ihre  assoziativen  Beziehungen  den  eigentlichen  Mittelpunkt 
des  Seelenorgans.    Sie  ist  unendUch  viel  rciclier  an  Assoziations- 


>)  FkdMic,  Gdilm  and  Sede.  s.  Aufl. 

6* 


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s^'stemen  als  die  übrigen  Sinnessphären ;  in  ihr  laufen  Lcitunp^cn  aus 
der  gesamten  Rinde  zusammen.  Hiernach  wird  es  begreiflich,  dass 
die  Körperfühlsphäre  für  den  Wachzustand  die  weitaus  grösste  Be- 
deutung  hat.  Sie  ist  die  unentbehrliche  Voraussetzung  für  die 
Bildung  der  Idl- Vorstellung ;  damit  ist  sie  auch  die  einzige  für  die 
geisti<:^c  Entwicklung  absolut  unentbehrliche  Sinnessphäre.  Ohne 
sie  ist  die  Herausbildung  einer  geistigen  Persönlichkeit  undenkbar, 
während  die  Sehsphärc,  die  Hörsphäre  und  die  Riechsphäre  nicht 
nur  jede  ftir  sich»  sondern  allesamt  (wenigstens  funktionell)  ausfallen 
können,  ohne  dass  die  Erreichung  seilet  einer  relativ  guten  geistigen 
Leistungsfähigkeit  hierdurch  ausgeschlossen  wird ,  wie  das  Beispiel 
von  Laura  BridgeniaiT  deutlich  dartut.  Nicht  die  Republik,  sondern 
die  Monarchie  ist  in  der  Organisation  des  Seelenorgans  verwirklicht. 
Der  Köiperföhlsphäre  fällt  von  Anfang  an  die  Führung  zu,  und  sie 
behält  sie  als  Hauptträger  des  Seelenbewusstseins  auch  durch  das 
ganze  Leben  hindurch  —  zumal  aus  ihr  auch  alle  für  das  „Handeln" 
wichtigen  motorischen  Leitungen  hervorgehen."^)  Diese  Tatsachen 
sind  für  die  pädagogische  Behandlung  kleiner  oder  geistig  abnormer 
Kinder  von  grosster  Wichtigkeit  und  fordern  ihre  weitgehendste 
Beachtung.  Der  für  diese  Kinder  mögliche  Unterricht  muss  der 
Natur  des  Kindes  entsprechend  in  der  Hauptsache  ein  motorischer 
sein,  unter  welchem  aber  nicht  allein  Spiel,  Turnen  und  Hand- 
fertigkeit verstanden  werden  soll,  sondern  ein  solcher,  der  sinnen- 
bildend unter  konsequenter  Inanspruchnahme  der  Selbsttätigkeit  auf 
Klarheit  der  sensorischen  und  motorischen  Empfindungen  liinarbeitet, 
der  das  zu  Lernende  selbsttätig  unter  reger  Mitbeteiligung  von 
Körper  und  Geist  auffassen  und  in  verschiedener  Ausdrucksform 
zur  Darstellung  bringen  lässt;  ein  motorischer  Unterricht,  der  bei 
der  Darbietung  des  Unterrichtsstoffes  bereits  eine  möglichst  aus- 
giebige Aktivität  des  Geistes  und  Körpers  in  Anspruch  nimmt  und 
nach  der  StofTverarbeitung  sich  nicht  mit  der  sprachlichen  Wieder- 
gabe allein  begnügt,  sondern,  so  weit  nur  angängig,  eine  mannig- 
fache Darstellung  des  Gelernten  fordert  und  dazu  Handfertigkeit, 
Zeichnen,  Gebärde  und  selbst  dramatische  Darstellung  heranzieht 
Nur  durch  ausreichende  Tätigkeit  der  Sinne  und  des  ganzen  Körpers, 
durch  bewusste  Selbsttätigkeit  wächst  und  bildet  sich  das  Organ 
des  Geistes;  die  Natur  selbst  drängt  zu  dieser  Übung,  sie  strebt 
zur  Entfaltung  des  ganzen  Organismus;  ohne  selbsttätiges  Schaffen 
gibt  es  keine  Entwicklung,  kein  Leben.  In  welchem  ursächlichen 
Zusammenhange  Bewegung  und  geistiges  Werden  stehen,  zeigen 
deutlich  die  apathischen  und  erethischen  Naturen  unter  unseren 
Zöglingen:  Bei  den  ersteren  Langsamkeit  und  Unbeweglichkeit  des 
Körpers  und  Geistes,  bei  deti  anderen  eine  gesteigerte  äussere 
und  innere  Unruhe,  eine  grenzenlose  Flüchtigkeit  und  Flatterhaftig- 


>)  Flectisif ,  EMe  LokalintioA  .der  geistigen  Voii^biee.  S.  66,  67,  6S. 


.  y  1.  ^  .  y  Google 


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keit  —  und  eine  Besserung  im  Verhalten  beider  bringt  erst  eine 
geordnete  methodische  Erziehung^. 

Die  Entwicklung  des  selbsttätigen  motorischen  Verhaltens  des 
kleinen  normalen  idndes,  durch  das  es  in  seinen  ersten  Lebens- 
jahren ein  solch  eminentes  Wissen  und  Können  erwirbt,  zwingt  uns, 
für  die  Er/irhiini^  unserer  Schwachen  nicht  nur  das  Prinzip  der 
Selbsttätigkeit  als  Cirundprinzip  anzuLMkcnncn  und  in  Anwendung 
zu  bringen,  sondern  vor  allem  auch  den  Mittein  zur  Erweckung  der 
Selbsttätigkeit,  die  in  der  Anwesenheit  von  Auftnerksamkeit  und 
Interesse  zu  erkennen  sind,  sowie  dem  von  der  Natur  eingehaltenen 
Entwicklungsgange  die  nötige  Beachtung  zu  schenken. 

Vom  5.  Lebensmonate  ab  vollziehen  sich  die  ersten  j>^\  chischen 
Prozesse  unter  Mitwrkung  der  aktiven  Aufmerksamkeit,  die  das 
erste  willkürliche  Handeln,  die  ersten  Regungen  der  Selbsttätigkeit 
zeitigen;  an  die  bewussten  Greifbewegungen  schliesst  sich  bald  mit 
der  Steigerui^  der  willkürlichen  Sinnesfunktionen  die  Bildung  der 
raumlichen  und  zeitlichen  Vorstellun^^en  an.  Weitere  Zeugen  für 
sein  wachsendes  Gefühls-  und  Willensleben  sind  die  mimi«:chen 
Nachahmungen  (Gesichterschneiden,  Ballen  der  Jaust,  l'akt- 
bewegungen),  die  absichtlichen  Nachahmungsbewegungen,  andere 
dnfache  Handlungen  und  vor  allem  sein  Gehen-  und  Sprechen- 
lernen. Bei  letzterem  ist  zu  beachten ,  dxss  dem  Kinde  das  Ver- 
ständnis für  die  von  ihm  (gebrauchten  Wörter  wesentlich  durch  die 
mit  grösster  Aufmerksamkeit  verfolgte  Gebärde  des  Erwachsenen 
vermittelt  wird,  welche  entweder  auf  die  zu  benennenden  Gegen* 
stände  hinweist  oder  die  einfachen  Tätigkeiten  wie  schlagen, 
schneiden,  gehen,  schlafen  darstellt;  ..für  die  Gebärde  —  sagt 
Wurult*^  —  hat  das  Kind  ein  natürHches  Verständnis,  für  das 
Wort  nicht"  —  eine  Beobachtung,  die  wir  bei  der  erziehlichen  Be- 
handlung tiefetehender  Schwachsinniger  täglich  machen.  Der  Spiel- 
trieb, die  früheste  Äusserung  anhaltender  Selbsttätigkeit,  kommt 
beim  normalen  Kinde  zuerst  in  der  Xachbildun^  des  Gesehenen, 
sodann  in  der  Nachcrzeufrung  des  in  l^r/ählunL^cn  (xchörten  zum 
Ausdruck;  das  schwachsinrügc  Kind  eriiebt  sich  bei  seinem  Spiele 
so  lange  nicht  über  die  erste  Stufe,  als  die  Phantasietätigkeit  — 
d.  L  das  selbsttätige  Verbinden,  Zerlegen  und  Beziehen  konkreter 
sinnlicher  Vorstelhin^:;cn  -  und  die  \''erstandesfunktionen  nicht  die 
triebartige  Macht  erlanji^en,  welcher  das  kleine  normale  Kind  niemals 
zu  widerstehen  vermag;  die  mangelhaften  und  sich  zu  langsam 
bildenden  Assoziationen  unmittelbarer  Eindrücke  mit  früheren  Vor- 
stellungen bei  geringer  aktiver  Aufmerksamkeit  lassen  die  meisten 
schwachsinnigen  Kinder  die  zweite  Spielstufe  niemals  erreichen. 

Die  Erregun^^  gesunder,  ohne  äusseren  Zwang  hervorgerufener 
Selbsttätigkeit  hängt  aber,  wie  jeder  Willcnsantrieb  von  der  Ein- 


*)  Wandt,  Grnndiitt  der  P^chologie.   5.  Aufl.,  S.  353. 


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—   86  — 


Stellung  der  Aufmerksamkeit  und  des  Interesses  ab;  das  Interesse 
wird  in  den  ersten  Entwicklungsstufen  des  Seelenlebens  und  bei 
den  Schwachsinnigen  meist  auch  im  späteren  Leben  hauptsächlich 
durch  die  sinnlichen  Gefühle  der  Lust  und  Unlust  erzeugt.  Ohne 
Interesse  gibt  es  keine  gelingende  Selbsttätigkeit.  Ist  der  Erwerb 
der  ersten  Anschauungen  in  der  Art  und  Stärkr  der  Sinncseindriickc 
und  in  den  durch  diese  wachgerufenen  Lustgefühlen  begründet,  so 
wird  der  spätere  Unterriclit  dafür  sorgen,  dass  bei  Aneignung  neuer 
Vorstellungen  im  Innern  des  Zöglings  apper/ipierende  Vorstellungs- 
massen sich  vorfinden,  damit  die  Apperzeption  mit  Leichtigkeit 
geschieht,  denn  nur  dnnn  werden  Lustf^efühle  geweckt,  die  das 
Verlanffen  erregen,  sich  mit  den  betreffenden  Gegenständen  auch 
weiterhin  zu  beschäftigen.  Je  interessanter  eine  Sache  für  das  Kind 
ist,  desto  aufmerksamer  ist  es,  desto  leichter  wird  sie  aufgefasst 
und  ins  Gedächtnis  aufgenommen,  einen  um  so  bestimmteren  Ein- 
fluss  übt  sie  auf  den  Willen.  Wie  aber  die  günstige  geistige  Ent- 
w^icklung  des  normalen  Kindes  hauptsächlich  durch  eine  von  regem 
Interesse  begleitete  Selbsttätigkeit,  die  in  seinem  motorischen  Ver- 
halten zum  Ausdrucke  kommt,  bedingt  ist,  so  ist  eine  Besserung 
der  psychophysischen  Entwicklung  des  schwachsinnigen  Kindes,  der 
mangelhaften  Bcschafrenheit  seiner  Hirnzentren  nur  durch  eine 
Besserung  seiner  motorischen  Reaktionen  erreichbar,  sobald  für  die 
mannigfaltige  und  feste  assoziative  Verknüpfung  der  motorischen 
Prozesse  Soi^e  getragen  wird;  diese  Wiricung  hat  aber  nur  eine 
Erziehung,  die  das  Prinzip  der  Selbsttätigkeit  als  Grundprinzip  zur 
Anwendung  bringt. 

Bei  der  \  crscliiedcncii  und  eigenartigen  i)S)'chischen  Beschaffen- 
heit schwachsmniger  Kinder,  ihrem  mehr  passiven  Verhalten  ist 
auch  durch  die  beste  Erziehung  nicht  jener  hohe  Grad  von  Selbst- 
tätigkeit des  normalen  Kindes  erreichbar.  Man  wird  sich  begnügen 
müssen,  wenn  die  Arbeit  der  Schwachsinnigen  mehr  den  Charakter 
des  Nachschaffens  als  des  Selbstschaftens  trägt  und  behält.  In  dem 
kleinen  schwachsinnigen  Kinde  regt  sich  äusserst  schwach  der  Trieb 
zum  Selbstsehen,  Selbsthören,  Selbsthandeln  und  fast  nichts  ist  zu 
spüren  von  der  regen  Fragelust  des  Normalen  mit  dem  unermüd- 
lichen Was,  Warum  und  Wie.  Seine  Kr/.iehung  würde  erfolglos,  ja 
unnötig  sein,  wenn  sie  nicht  vermöchte,  diese  natürliche,  darnieder- 
licgende  Iricbkraft  zu  wecken  und  zu  stärken  und  aktiv  als  Mittel 
zur  geistigen  und  sittUchen  Hebung  anzuwenden.  Die  crziehlich- 
unterrichtliche  Behandlung  wird  daher  die  Kinder  auf  allen  EnU 
Wicklungsstufen  zum  Selbsttätigsein,  zum  Nachmachen  des  Vor- 
gemachten, zum  Suchen,  Finden,  Beobachten,  Nachdenken,  zum 
Zeigen,  Darstellen  und  Reden  anregen  und  anhaken,  sie  wird  den 
Unterricht  mit  Handlungen  verbinden,  die  Interesse  finden,  denn  das 
Interesse  allein  ist  der  Hebel  zur  Selbsttätigkeit  Ein  Unterricht, 
der  nur  im  Anlernen  einigen  Wissens  seine  Aufgabe  erblicken 


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-  8; 


wollte,  würde  für  Schwachsinnige  ein  Unding  sein;  die  Erziehung 
strebt  dauernde  Erfolge  an  und  sie  gewinnt  sie  durch  die  selbst- 
tätige Beteiligung  im  Unterrichte,  durch  die  stete  Gewöhnung  und 

Übung  im  tätigen  Ausüben  des  Guten. 

In  Rücksicht  hierauf  hat  man  seit  Jahren  die  Aufnahme  schwach- 
sinniger ivinder  in  Erziciiungsanstaltcn  nicht  mehr  von  ihrer  Bildungs- 
iahigkeit  d.  h.  von  der  Aussicht  auf  Erreichung  des  Schulzieles  und 
der  Konürmationsfahigkeit,  sondern  allein  von  ihrer  luziehungs- 
fahic^keit    abhän^f^   gemacht.     Mit   dieser   dem    Kinde  L^ererhter 
werdenden,  humaneren  Anschauung  hat  man  aber  die  Vcri  tl;  htung 
übernommen,  auch  mit  dem  tiefstehenden  Kinde,  bei  dem  an  ein 
Unterrichten  im  gewöhnlich  gebräuchlichen  Sinne  nidit  zu  denken 
ist,  Erziehungsversuche  anzustellet:     Man  erachtet  heute  diejenigen 
Kinder  als  erziehunt^snihig,  die  durch  ihre  ei^oistischen  Ausseningen 
noch  Spuren  von  Gefühl,  Willen  und  Intelligenz  an  den  Tag  legen, 
die  durch,  wenn  auch  recht  beschränkte  Tätigkeit  ihrer  Sinne  doch 
etwas  Aufinerksamkeit  zeigen,  einfiichste  Körpeibewegungen  nach- 
ahmen und  einige  Geschicklichkeit  der  Hände  sich  aneignen  lernen, 
man  macht  mit  jedem  solchen  Kinde ,  in  dem  noch  ein  h'ünkchen 
g^eistigen   Lebens  glimmt,  einen  Krziehungsversuch  —  wenn  nicht 
vorhandenes  körperliches  Siechtum,  volles  Verblödetscin,  Epilepsie, 
bestehende  Geisteskrankheit  diesen  Versuch  von  vornherein  als  aus- 
sichtslos erscheinen  lasst    Die  hiesige  Erziehungsanstalt^)  sucht 
durch  ihre  äussere  Gliederung  in  Vorschule,  Schule,  Arbeitsidasse 
fiir  noch  im  Schulalter  stehende  Zöglinge  und  Arbeitsabteilungen 
für    überm  Schulalter  stehende  Zöglinge  den  verschiedenen  Ent- 
wicJdungsstufen  zu  entsprechen  und  durch  diese  äussere  Gliederung, 
durch  «e  Zusammenstellung  geistig  und  mö^chst  auch  k{>rperli<ä 
gleichartiger  Zöglinge  in  Gruppen  von  lO  bis  höchsteitt  15  Köpfen 
unter  Leitung  erprobter  und  geschulter  Erzieher  Erfolge  zu  erzielen. 

In  die  Vorschule  nimmt  sie  die  noch  nicht  schulfähigen,  aber 
erziehbaren  Kinder  aufj  die  Vorschule  hiesiger  Anstalt  ist  vierstufig 
mit  verschiedenen  Parallelabteilungen;  die  Erreichung  der  Schul' 
lahigkcit  ist,  wie  der  Name  sagt,  das  Ziel. 

Die  Unterstufe  der  Vorschule  will  dem  Kinde  unter  Übung 
seiner  Sinne  und  insbesondere  seinp'^  Muskelsinnes  zum  sinnlichen 
Auffassen,  zum  Wahrnehmen  und  zu  bcwussten  inneren  Anschau- 
ungen, sowie  zu  einer  gewissen  äusseren  Selbständigkeit  verhelfen. 
Die  dafür  nötigen  Erziehungsmittel  bietet  der  Anschauungsunterricht, 
das  Pct Icnreihen,  das  Bauen,  das  Turnen  und  Spiel,  die  Übungen 
im  Selbstbcdienen :  sich  an-  und  auskleiden,  sich  waschen  usw. 

Der  Anschauungsunterricht  sucht  zunächst  den  Nachahmungs- 
trieb wachzurufen  und  in  den  Dienst  der  Erziehung  zu  stellen.  Wie 


*)  Nitzsche,  Die  Königl.  Sächs.  Landcscrzichungsanstalt  für  schwachsinnif^c  Kinder. 
Entbilt  Lehr-  und  Arbeitspläae.  —  Durch  die  Anstalt  zu  beziehen,   Preis  1,50  M.) 


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—    88  — 


das  kleine  normale  Kind  am  Nachahmen  des  Gesehenen  Gefallen 
findet,  wie  es  die  hinweisende  und  darstellende  Gebärde  des  Er- 
wachsenen früher  als  seine  Worte  versteht,  so  bietet  der  erste 
Anschauungsunterricht  zunächst  an  der  Hand  bestinunter  Objekte, 
die  des  Kindes  Interesse  erregen  (Glocke,  Ball,  Hammer  und  Holz- 
klotz, Puppenwagen),  Reihen  von  Tätigkeiten,  die  vom  Lehrer  vor- 
gemacht,  mit  Gebärden  und  Worten  begleitet  und  von  den  Kindern 
sofort,  wenn  auch  zuweilen  unter  Hilfeleistung,  nachgetan  und  wenn 
möglich  auch  mit  Worten  bezeichnet  werden.  Ist  das  Sprechen 
unmöglich,  sa  genügt  die  genaue  Darstellung  der  Tätigkeitsreihe; 
das  Kind  erarbeitet  sich  dabei  einen  gdstigen  Inhalt,  der  sprach- 
liche Ausdruck  stellt  sich  bei  der  öfteren  Wiederholung  vielfach 
nocli  ein,  wenn  auch  oft  in  recht  verstümmelter  Form ;  mit  dieser 
Ursprache,  die  nur  dem  Erzieher  verständlich  ist,  muss  man  sich 
anfangs  begnügen;  durch  besondere  Artikulationsübungen  wird  sie 
Später  gebessert  Ein  Beispiel  mag  zeigen,  wie  auf  dieser  Stufe  die 
Tätigkeit  der  Sinne  und  des  Geistes  mit  der  Tätigkeit  des  Körpers 
eng  verbunden  ist.  Der  Lehrer  und  jedes  Kind  hat  auf  dem  Tische 
vor  sich  eine  Glocke  stellen;  der  Lehrer  zeis^t  und  spricht  vor  und 
die  Kinder  ahmen  nach:  Da  ist  die  Glocke.  Ich  fasse  an.  Ich 
hebe  hoch.  Ich  läute.  Ich  stelle  hin.  Auf  die  entsprechende 
Gebärde  und  darnach  auf  das  blosse  Wort  des  Lehrers  wird  von 
den  Kindern  diese  Vorstellungs-  und  Tätigkeitsreihe  wiederholt  und 
durch  die  öftere  Übun^^  ihrem  Gedächtnis  eingeprägt,  bis  sie  ohne 
jede  Hilfe  reproduziert  wird.  An  die  Übung  mit  der  Glocke  werden 
Hörübungen  angeschlossen;  Es  wird  vor  der  Zimmertür  geläutet 
Horcht!  Was  ist  das?  Es  werden  im  Freien  Übungen  im  Auffinden 
nach  dem  Gehör  vorgenommen.  —  Tastsinn,  Gesicht  und  Gehör 
werden  nur  erst  durch  derartigen  reichlichen  Um^^ang  mit  den 
Dingen  an  nutzbringende  Tätigkeit  gewöhnt;  einer  sogenannten 
systematischen  Übung  der  Sinne  aber  widerstrebt  das  Kind.  Das 
blosse  Zeigen  und  Benennen  von  Gegenständen,  das  Besehen  oder 
auch  das  Betasten  —  wozu  schon  die  Intelligenz  fehlt  —  und  das 
Abfragen:  Was  ist  das?  lässt  das  schwachsinnip^e  Kind  ebenso  kalt, 
wie  den  Sextaner  dcis  I'^inlernen  der  Vokabeln;  das  Kind  muss 
Interesse  an  den  Gegenständen  finden,  es  muss  mit  ihnen  hantieren 
und  spielen,  sie  suchen  und  finden  lernen,  nur  ausreichende  eigene 
körperliche  Betätigung  mit  den  Dingen  schafft  Klarheit  der  Vor- 
stellungen und  Begriffe;  ein  derartiger  Unterricht  trägt  freilich  mehr 
flcn  Charakter  des  fröhlichen  Spieles,  er  gewnl-nt  aber  an  Auf- 
merksamkeit und  Gehorsam  und  weckt  Selbstvertrauen  und  Selbst- 
beherrschung und  führt  zu  ernsterem  Schaffen;  er  nimmt  den 
Krethlschen  mit  seinem  abnormen  Ablauf  der  Ideenassoziation  und 
den  Wortfänger,  dessen  geistiges  Eigentum  Worte,  nichts  als  Worte 
ohne  jeden  sachhchen  Inhalt  sind,  in  heilsame  Zucht. 

Welchen  günstigen  Kinfluss  Turnen   und  besonders  das  Be» 


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^  89 


wegungsspicl,  das  Selbstbedienen,  sowie  die  einfachen  Handfertig- 
keiten: Perlenreihen  und  Bauen  mit  Holzwürfeln  gerade  infolge  der 
intensiven  Inanspruchnahme  der  Selbsttätigkeit  auf  die  ganze  Ent' 

Wicklung  der  Kinder  ausüben,  braiicbt  hier  nicht  besonder«;  hervor- 
gehoben zu  werden;  nur  soviel  sei  gcsa^^t,  dass  die  Handfertigkeits- 
übungen auch  in  den  Dienst  des  Anschauungsunterrichts  dieser 
Stufe  gestellt  werden:  Stuhl  und  Tisch  werden  z.  B.  bei  ihrer  Be- 
sprechung  nut  Wurfein  gebaut.  Das  Bauen  setzt  voraus»  dass  das 
Kind,  was  es  nachbaut,  auch  in  Wirkliclikcit  anc^cschaut  und  ver- 
standen haben  niuss;  es  ist  auf  der  Unterstufe  bereits  ein  geeignetes 
Mittel  zur  Hrweckung  und  Pflege  der  Phantasie. 

Auf  der  nächsten  (2.)  Vorschulstufe  erweitert  sich  die  Aufgabe 
des  Anschauungsunterrichts:  Das  Kind  lernt  den  Schritt  von  der 
Wirklichkeit  zum  Modell  und  endlich  zum  Bilde  des  einzelnen 
Gegenstandes  tun  ,  es  wird  zum  Betrachten  der  Dinge  seiner  Um- 
gebung angeleitet;  es  lernt  sie  in  ihrer  Wirklichkeit  kennen,  es  tut 
oder  erlebt  mit  oder  an  ihnen  etwas;  es  setzt  sodann  die  Dinge, 
z.  B.  Tisch,  Stuhl,  Leiter,  Rechen,  Grabscheit  im  kleinen  einfachen 
Holzmodelle  zusammen  und  sucht  sie  darnach  im  Einzelbilde  zu 
erkennen.  Vorbereitet  ist  das  Verständnis  für  die  Auffassung  des 
Bildes  durch  das  Bauen  j  bevor  aber  das  fertige  bunte  Bild,  das  in 
Rücksicht  auf  die  räumlich  beschränkte  Fixation  seitens  des  Kindes 
anfangs  nicht  über  10—15  cm  gross  sein  darf,  dargeboten  wird, 
lässt  der  Lehrer  vor  den  Augen  der  Kinder  eine  nicht  zu  grosse 
einfache  Umrisszeichnung  entstehen  —  an  der  Wandtafel  und 
sodann  auf  der  Schiefertafel.  Die  Schiefcrtafelzcichtiungen  überlegen 
die  Rinder  mit  kleinen  Stäbchen,  halben  Erbsen  oder  Linsen,  dar- 
nach bilden  sie,  wenn  angängig,  den  Gegenstand  im  bunten  Würfel- 
kasten fMosaikkasten)  nach  oder  stellen  ihn  mittels  Töpferton  dar. 
Die  aufj:jcfassten  Hi!cl(  r  le^^en  die  Kinder  an  die  Gec^enstände, 
sortieren  sie  in  der  1\(  ilicnfolge  der  vor  ihnen  auff^estellten  Dinge, 
sie  suchen  die  im  Zuiuner  verteilten  Bilder,  holen  sie  herbei  und 
Üben  sich  taglich  im  Bilderlesen.  Dass  Bilder  auf  dieser  Stufe  und 
den  na<disten  niemals  den  Ausgangspunkt  im  Unterrichte  bilden, 
sonderTT  dnss  ein  möglichst  genaues  Beobachten  der  Wirklichkeit 
voraus^ciieii  muss,  ist  selbstversttändlich.  h^in  lierarlii^es  L'nterrichts- 
verfahren,  das  an  genaues  Betrachten  und  Beobachten  der  Wirk- 
lichkeit anleitet  und  gewöhnt  und  dabei  sämtliche  Sinne,  insbesondere 
den  Muskelsinn  anspannt,  das  nicht  bloss  auf  sprachliche,  sondern 
auch  auf  eine  manuelle  Darstellun-^'  des  Auf[^cfasstcn  hält,  ein  solches 
Verfahren  arbeitet  lanj::jsani ,  aber  griindlicli  uiv!  k-nnn  keine  Stoff- 
fülle an  die  Kinder  heranbringen.  Auch  die  Spreciiubungen  auf  allen 
Vorschulstufen  werden  vom  wirklichen  körperlichen  Tun  begleitet. 
Eine  Anzahl  Begriffe,  insbesondere  lügenschaften,  die  das  Kind 
durch  tlas  .\nschauen  in  kürzerer  Zeit  nicht  mit  der  erforderlichen 
Klarheit  und  Festigkeit  erfassen  kann,  werden  durch  Handtätigkeit 


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eingeübt,  so  die  Eigenschaften:  gross  und  klein  an  grossen  und 
kleinen  Ringen,  Holztieren  usw.;  rund  und  eckig  an  S&ulen,  hart 
und  weidi      Bällen,  schwer  und  leicht  an  Kastchen  mit  verschieden 

schwerem  Inhalte,  Hie  Farben  an  farbigen  Würfeln;  durch  das 
Sortieren,  durch  den  l  ingang  mit  den  Dingen  erwerben  sich  die 
Kinder  die  Kenntnis  tiacr  Reihe  von  h-igenschaften. 

Die  Handfertigkeiten  der  Unterstufe  werden  auf  der  zweiten 
Stufe  fortgesetzt  und  durch  das  Hinzutreten  von  Tonformen,  Papier- 
und  Schilfzopfflechten  erweitert.  Dieser  motorische  Unterricht,  das 
Turnen  und  Spiel,  sowie  der  eigentliche  Unterricht  mit  :er  vnn 
ihm  gepflegten  körperlichen  Betätigung  beeinflusst  die  Entwicklung 
der  sensorischen  und  motorischen  Apparate  auis  günstigste,  er  lUhrt 
zur  Beherxschung  des  Korpers  und  wandelt  anfangs  willkürliche 
Bewegungen,  z.  B.  gröbere  Körperbewegungen,  das  An-  und  Aus- 
kleiden, das  Zopfflechten  nach  und  nach  in  automatische  um  und 
wendet  sich  sodann  zur  Ausbildung  der  feineren  Muskulatur  der 
Hand.  Eine  gewisse  Mannigfaltigkeit  der  Handfertigkcitsfiicher,  ein 
Wechsel  in  der  Betätigung  ist  nötig,  wenn  das  Interesse  und  damit 
die  Selbsttätigkeit  wacherhalten  bleiben  soll. 

Die  oberen  beiden  Vorschulstufen  führen  die  Kinder  in  das 
Verständnis  einfacher  Gruppenbilder  ein^  Haus,  Garten,  Stall,  Wiese, 
Feld  und  Wald  werden  genauer  beobachtet  und  besprochen,  und 
das  auf  den  Unterrichtsgängen  Geschaute  wird  im  Gruppenbilde 
aufgesucht  und  mit  der  Wirklichkeit  in  Vergleich  gestellt;  das 
Selbstgeschaute  weicht  oft  ab  von  dem  im  Bilde  Dargestellten; 
hierbei  meldet  sich  dann  eine  selbsttätige  Regsamkeit,  die  zur 
Weckung  der  Fragelust  der  Kinder  ausreichende  Veranlassung  gibt 
Gegenstände,  die  sich  ins  Schulzimmer  bringen  lassen  und  Modelle 
unterstützen  die  Bildauffassung  der  draussen  erworbenen  Eindrücke. 
Ohne  die  '^rrlitc  sachliche  Anschauung  gibt  es  kein  erfolgreiches 
f.ernen.  kt  im-  Selbsttätigkeit  im  Ihitcrrichte.  Nach  Abschluss  der 
Besprechung;  aber  wird  vom  Lehrer  das  Bild  in  Umrissen  an  die 
Wandtafel  gezeichnet,  wobei  die  Kinder  den  Inhalt  des  angeschauten 
BÜdes  angeben.  Ein/eine  Gegenstande  oder  Teile  derselben  werden 
von  den  Kindern  durch  Formen  in  Ton ,  durch  Bauen  im  Mosaik- 
kasten, durch  Malen  mit  Blei-  und  Buntstiften  im  Malbuche,  durch 
Bauen  mit  Würfeln  und  durch  Stäbchenlegen,  durch  Falten  und 
Ausschneiden  zur  Darstellung  gebracht.  Wie  der  Anschauungs> 
Unterricht  das  Kind  selbsttätig  zur  Auffassung  und  zum  Verständnis 
seiner  Umwelt  durch  Hineinführen  in  die  Wirklichkeit  anleitet,  so 
wollen  auch  die  ersten  Zahlübungen  nicht  durch  mechanisches 
Zählen  oder  durcii  ausschliessliches  Zählen  von  Gegenständen,  die 
in  einiger  Entfernung  aufgestellt  sind,  z.  B.  an  der  gewöhnlichen 
Volksschul-Rechenmaschine  ihr  Ziel  erreichen ;  die  Zählmittel  werden 
vielmehr  jedem  Kinde  in  die  Hand  gegeben,  damit  es  selbsttätig 
die  Zahlanschauungen  sich  erarbeitet   Das  erste  Zählen  nimmt  das 


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Kind  unter  Berühren  des  Zählmittels  und  unter  l^antieren  mit  dem- 
selben vor  und  erst  später  verrichtet  es  das  Zählen  nur  mit  Hilfe 
des  Auges;  das  Aufstellen  und  Legen  der  zu  zählenden  Gegenstände 
geschieht  besser  in  Gruppen  als  in  Reihen;  auch  beim  Zlhlen  soll 
sich  ein  fortwährender  Austausch  zwischen  Anschauung  und  Dar- 
stellung, eine  Wechselwirkung  zwischen  Hand  und  Geist  vollziehen. 
Das  Verständnis  für  die  unbestimmten  Zahlwörter:  eins  und  viel, 
etwas  und  nichts,  mehr  und  weniger,  wie  auch  für  die  bestimmten 
von  I — 6  ervrirbt'  das  Vorschulkind  besser  durch  die  tätige  Hand 
als  nur  durch  das  anschauende  Auge.  Als  Zähl-  und  Darstellungs- 
mittel dienen  die  Finger,  Stäh'-hen ,  Würfel  zum  Einsetzen  ins 
Rechenbrett  für  quadratische  Zahlenbihler,  Glocken-  und  Ilaininer- 
schläge,  die  Pfennige  u.  a.  m. ;  für  die  weitere  Übung:  die  Gegen- 
stande der  ümgebune  des  Kindes.  Unterstützt  werden  die  Zähl- 
Übungen  durch  nandrartigkeiten,  wie  Perlenreihen,  Stabchenlegen, 
Flechten. 

In  der  untcrrichtlichcn  Behandlung  der  \'orschulkInder  übt  man 
vielfach')  ,,den  Sinn  für  die  l'^ormcn  an  Modellen:  Kreis,  Viereck, 
Dreieck,  Oval  usw.  und  benutzt  dazu  das  Formenbrett;  ein  grosses 
Brett,  in  dem  Figuren  ausgeschnitten  sind,  zu  welchem  Deckel 
passen;  der  Lehrer  hebt  den  Deckel  heraus  und  lässt  ihn  durch  die 
Kinder  wieder  richtig  in  die  Vertiefung  setzen".  Dieses  Gerät  halte 
ich  für  entbehrlich,  es  nimmt  fast  nur  das  Auge,  sehr  wenig  den 
Muskelsinn  in  Anspruch,  schliesst  ein  selbsttätiges  Gestalten  seitens 
der  Kinder  voUs^dig  aus  und  fesselt  vor  allem  das  Interesse  nicht. 
Der  Formensinn  wird  durch  einfache  Handfertigkeiten:  Tonarbeit, 
Stäbe lienlcfjen,  Mosaikarbeit,  Falten  und  Ausschneiden  am  f^e- 
eignctsten  gebildet.  Die  hierbei  darzustellenden  Lebensformen  f;e- 
winnen  des  Kindes  Interesse  und  entsprechen  besser  seinem  kind- 
fichen  Sinne :  Ring,  BUderrahmen,  Dach,  Tüte,  Ei  sind  flir  das  Kind 
von  interessanterem  Inhalte  als  Kreis,  Viereck,  Dreieck,  Oval 
Überdies  sind  doch  auch  die  durch  bcwusstes  körperliches  Tun 
erworbenen  Kenntnisse  haltl)arer  als  die  nur  durch  das  Au^e  auf- 
gefassten.  Gesteigerte  Aktivität,  die  in  gelingender  Selbsttätigkeit 
und  zunehmender  Handgeschicldichkeit  ihren  Ausdruck  findet,  ist 
aber  ein  Zeichen  für  eine  bereits  erreichte  Besserung  der  mangel- 
haften Hirnbeschaffenheit  des  schwachsinnigen  Kindes,  insbesondere 
seiner  motorischen  Gehirnzellen. 

Der  Vorschulunterricht  bietet  den  IK-Hlhij^teren  Kindern  die 
nötige  Vorbereitung  für  den  späteren  Unterricht  in  der  Schule,  den 
nur  beschäftigungsfähigen ,  die  niemab  in  die  eigentliche  Schule 
treten  können,  dient  er  als  Vorbereitung  zu  einfachen  praktischen 
Handarbeiten.  Solche  noch  im  Schulalter  stehende  Kinder,  die 
weder  das  Ziel  der  Vorschule  noch  das  der  eigentlichen  Schule 

t)  Wcyguidt,  Die  Behamflang  idiotischer  und  imbeziller  Kinder.  S.  $$. 


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—  92  — 


erreichen  können  —  und  früher  als  bildungsun(ahig  galten  — 
werden  in  Absdiiebeklassen  {Arbeitsklassen)  vereinigt,  wo  sie 
neben   einigem   Anschauungsunterrichte   und  Zählübungen  haupt> 

sächlich  an  die  Verrichtung  nützlicher  Arbeiten  gewöhnt  werden. 
Für  Knaben  kommen  einfache  Gartenarbeiten  (Reinigten  der  Wej^e, 
Jäten,  Holzsägen,  Späneschnitzen,  Zopf-  und  Deckenflechten,  für 
Mädchen  ebenfalls  dnfache  Gartenarbeiten,  Wäschelegen  und 
Mangeln,  Scheuern,  Aufwasch-  und  Zuputzarbeiten,  Stricken  und 
Nähen  in  Frage.  Entsprechend  der  äusserst  geringen  geistigen  Be- 
tätigung dieser  Kinder  können  für  ihre  Ausbildunix  7-u  einiger  Er- 
werbsfähigkeit nur  gröbere  Arbeiten,  deren  Ausfülirung  auch  nur 
die  Tätigkeit  der  gröberen  Handmuskeln  verlangt,  gewählt  werden. 
In  diese  Arbeitsklassen  müssen  meist  auch  die  lünder  aufgenommen 
werden,  die  draussen  ohne  Unterricht  geblieben  und  erst  nach  voll- 
endetem 12.,  13.  Lebensjahre  —  also  zu  einer  Zeit,  wo  Jie  Ent- 
wicklung der  motorischen  Hirnzentren  beinahe  ab;^^cschlo,sscii  ist, 
der  Anstalt  zugeführt  werden;  dass  Schulunterricht  und  Versuche 
in  der  Ausbildung  durch  Holz-  und  Papparbeiten  oder  Korbmacherei 
bei  diesen  Spätlingen  erfolglos  bleiben,  ist  kein  Wunder;  bei  dem 
Mangel  an  motorischen  I^egriffen  und  Her  I  landi^eschickliclikeit 
kommt  V)ei  ihnen  nur  eine  Gewöhnung  an  die  Verrichtung  gröberer 
Arbeiten  in  Frage.  Aufgabe  der  Erziehung  ist  es,  die  Kinder  der 
Arbeitsklassen  zur  m(>glichsten  Selbständigkeit  zu  fiihren  und  bei 
ihnen  unter  lobender  Anerkainung  ihrer  geringen  Leistung  das 
Vertrauen  auf  eigene  Kraft  und  die  Arlxitslust  wachzurufen  und 
zu  erhalten.  Nicht  anhaltendes  Verrichten  einer  Arbeit,  was  sehr 
bald  Ermüdung  zeitigen  würde,  sondern  der  Arbeitswechsel  — 
anfangs  nach  i ,  später  nach  2—3  Stunden  —  und  die  Zuteilung 
eines  die  Leistungsfähigkeit  berücksichti^a-nden  und  auch  leicht 
erreichbaren  Arbeitspensums  für  jeden  einzelnen  Zögling  hält  bei 
ihnen  das  Interesse  an  der  Arlicit  wach.  Die  Kinder  mögen  geistig 
noch  so  schwach  sein,  ein  rein  mechanisches  Arbeiten  von  vorn- 
herein gibt  es  auch  bei  ihnen  nicht;  die  spätere  mehr  automatische 
.Arbeitsverrichtung  ist  das  Resultat  langer  Übung,  der  Betätigung 
aller  Sinne  und  der  Arbeitslust,  die  erst  durch  das  Bewusstwerden 
gelingender  Arbeit  wächst.  Die  Gcwcihnung  an  anhaltendes  Ver- 
richten von  einerlei  Arbeit  auf  längere  Dauer  kaim  erst  Aufgabe 
der  eigentlichen  Arbeitsabteilung  sein;  diesen  Abteilungen  werden 
die  Kinder  aus  der  Arbeitsklasse  zugewiesen,  wenn  sie  das  Schul' 
alter  überschritten  haben  und  Aussicht  auf  weitere  Arbeitsausbildung 
bieten. 

Die  eigentliche  Schule,  die  ihre  Aufgabe  nicht  im  Hcran- 
brif^en  von  möglichst  viel  Wissensstoff  ans  Kind  erblickt,  sondern 
auf  die  erziehliche  Wirkung  des  Unterrichts  den  Hauptwert  legt 
und  nur  das  fürs  Leben  unbedingt  Nötige  und  Nützliche  lehrt,  hißt 
durch  Weckung  und  Pflege  der  Selbsttätigkeit  das  Ziel:  Heran- 


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—  93  — 


bUdung  zur  ErwerbsföhigkcU  erreichen.   Die  durch  den  Unterricht 

in  anschaulich-darstellerKlcr  Weise  zu  vermittelnden  realen  Kenntnisse 
dürfen  niclit  über  den  wirklichen  erreichbaren  Anschauungs-  und 
Erfahrungskreis  hinausgehen;  für  Weltgeschichte  und  Geographie 
ist  kein  Platz  in  der  Schwachsinn^cn-Sdiule.  Der  in  der  Schule 
betriebene  Handfertigkeitsunterricht  wirkt  durch  die  Ausbildung  der 
Hand  förderlich  auf  die  geistige  Entwicklung  und  erzieht  fürs  Leben, 
andererseits  hilft  er  im  Unterrichte,  der  das  Darstellungsprin/ip 
möglichst  beachtet,  die  Kenntnisse  veranschauUchen,  erwerben  und 
befestigen. 

Für  den  Betrieb  des  Anschauungsunterrichts  in  der  Schule 
gelten  auch  die  ftir  die  Vorsdiule  aufgestellten  Grundsätze,  er  soU 
WirWichkeitsuntcrricht  sein  und  darf  niemals  —  wenn  angängig  — 
von  einem  Modelle  oder  Bilde  aiisf^chen ,  sondern  soll  dieses  nur 
zum  Vergleich  mit  der  Wirklichkeit,  /Air  Unterstützung  und  eventuell 
zur  Vertiefung  benutzen j  die  Wirklichkeit  ist  das  beste  Lehrmittel. 
Der  Anschauungsunterricht  hat  iiir  alle  Schulklassen  die  Aufgabe, 
^die  Kinder  unter  Anleitung  zu  aufmerksamer  Betrachtung  und  Be« 
obachtung  in  Geist  und  Herz  anregenden  Besprechungen  mit 
Gegenständen  und  Erscheinungen  besonders  aus  dem  Kreise  der 
nächsten  Umgebung  genauer  bekannt  zu  machen  und  soll  dabei 
die  Sprache  der  Kinder  mit  entfesseln  und  bilden."*)  Das  Be* 
trachten  der  Dinge,  das  Beobachten  der  Tätigkeiten,  welche  an 
Menschen  und  Tieren  wahrzunehmen  sind ,  fordert  das  Aufsuchen 
der  Wirklichkeit.  Damit  die  Kinder  bei  solchem  Unterrichte  sich 
nicht  bloss  rezeptiv  beteiligen,  sondern  reproduktiv  und  produktiv 
tätig  sind,  werden  sie  mit  der  zu  lösenden  Aufgabe  rechtzeitig 
bekannt  gemacht:  ihr  Beobachtungsdrang  tritt  dann  bald  zutage 
und  macht  sich  Luft  in  Mitteilungen  über  bereits  Beobachtetes  und 
in  Fragen;  Hinweise  und  Fragen  des  Lehrers  zur  Leitung  der  Be- 
obachtung und  zur  Weckunpf  von  Gedanken,  die  Anleitung  zum 
genauen  Sehen,  Hören  und  Betasten,  das  Nachtun  und  Nachahmen 
der  wahrgenonnmenen  Tätigkeiten  schafft  Klarheit  der  Vorstellungen 
und  bildet  das  Urteil.  Im  Schulzimmer  übt  die  Lektion  die  ge> 
ordnete  miindlirhc  Wiederfrabc  des  drausscn  Selbsterlebten  an  der 
Hand  einzelner  nutgebrachter  Gegenstände  oder  an  Modellen  und 
Bildern  und  sie  fügt  daran  die  Darstellung  der  gesehenen  Tätig- 
keiten durch  die  Gebärde,  sowie  der  Gegenstände  oder  ihrer  Teile 
durch  malendes  Zeichnen  oder  durch  eine  andere  geeignete  Hand- 
fertigkeit 

Erzählstoffe ,  Gedichte,  Lesestücke,  auch  die  biblischen  Ge> 

schichten  fordern  zur  verständigen  Auffassung  und  gemütlichen 
Wirkung  eine  plastische  AnschauUchkeit,  die  durch  das  bis  ins 


')  Normallehiplao  fiir  die  sächs.  Volksschule. 


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—  94  — 


einzelne  ausmalende  Wort  bei  der  anschaulich  darstellenden  Dar- 
bietung infolge  des  schwachen  Phantasielebens  der  Kinder  und  des 
oft  abnormen  Ablaufs  ihrer  Ideenassoziation  nicht  erreicht  wird,  es 
muss  die  dramatische  oder  zeichnerisdie  Darstellung  der  einzdnen 
Handlungen  hinzutreten.  Wenn  wir  in  der  unteren  Schulklasse  beim 
Erzählen  z.  T.  noch  von  Bildern  mit  beweglichen  Flüren  ausgehen, 
so  halten  wir  die  Darbietung  fertiger  Bilder  beim  Erzählen  auch 
der  biblischen  Geschichten  für  verkehrt:  das  Kind  schafft  sich  mit 
HUfe  seiner  heimatkimdlichen  Vorstellungen  selbst  den  Schauplatz 
dn  (  ics;chichte,  auch  fiir  die  biblischen,  das  zeigen  Geschichten  mit 
einfacher  Handlung,  die  es  mitunter  selbst  zur  Darstellunfj  bringt 
Bei  Geschichten  mit  wechselnden  Handlungen  und  Änderung  des 
Handlungsortes  wird  das  schwache  Kind  in  seiner  Auffassung  der 
Erzählung  aber  besser  unterstützt,  wenn  der  Lehrer  beim  Enählen 
jede  einzelne  Situation  durch  einfachste  Umrisszeichnungen  an  der 
Wandtafel  entstehen  Kisst.  Diese  Zeichnungen  bildet  das  Kind  in 
seinem  Malbuche  nach  und  führt  sie  bei  etwas  lebhafter  Phantasie 
oft  in  seiner  Weise  noch  weiter  aus.  •  Man  soll  sich  nicht  fürchten, 
schwachsinnig; eil  Kindern,  die  eine  Erzählung  nach  und  nach  auf- 
zufassen vermögen,  den  Griffel  zur  Darstellung  in  die  Hand  zu 
geben;  freilich  entstehen  mititnter  Gebilde,  die  nicht  vom  fremden 
Beschauer,  sondern  nur  vom  Kinde  selbst  c^r-lf-ütet  werden  können, 
sie  sind  aber  doch  ein  selbständiger  Ausdruck  Oes  geistig  Auf- 
genommenen.') Nach  diesem  selbsttät^en  Schaffen  wird  den  IGndera 
das  künstlerische  Bild  zur  Betrachtung  und  Aussprache  geboten. 

Sachverständnis  und  Sprachfertigkeit  zu  erzielen,  ist  Aufgabe 
jedes  Unterrichts;  ganz  besonders  wird  sie  vom  deutschen  Sprach- 
unterricht in  der  Schule  mit  seinen  besonderen  Sprech-  und  Auf- 
satzübungcn,  dem  Lesen  und  Schreiben  verfolgt  Die  besonderen 
Sprechübungen  sollen  die  Kinder  mit  den  in  der  Umgangssprache 
gebräuchlichen  Sprachformen  vertraut  machen;  sie  soUen  nicht  /,u 
n;rammatischcn  Ergebnissen,  auch  nicht  zur  Re/.eichnung  der  Wort- 
arten führen.  Der  Inhalt  jeder  Sprechübung  wird  aus  dem  h-r- 
fahrungbkreise  der  Kinder  entnommen,  das  Sprachstück  wird  ent- 
wickelt und  von  den  Kindern  im  Gedächtnis  festgehalten,  damit  sie 
es  in  Erzähl»,  Befehls-  und  Frageform,  in  die  Ein-  und  Mdirzahl  und 
in  die  verschiedenen  Zeitformen  selbständig  umsetzen  lernen;  dass 
sie  mit  dem  Sj^rechen  —  wo  nur  angängig  —  auch  das  Tun,  das 
Ausführen  der  lätigkeiten,  das  Hinweisen  auf  die  ausgesprochenen 
Personen  usw.  verbinden,  ist  bei  der  Anwendung  des  Prinzips  der 
Selbsttätigkeit  verständlich.  In  Rücksicht  auf  dieses  Prinzip  und  das 
spätere  praktische  Leben  der  Zöglinge  wird  bei  den  Aufsatzübungen 
von  I^c^rhreibungen  abj^cschcn  tmd  nur  auf  Darstellung  der  eigenen 
Erlebnisse,  z.  i .  in  Briefform,  gehalten. 

>)  Hier  bot  der  Vortncoide  Kindetiekhaiiiigeii  dir. 


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-  95  — 


Das  Leseolernen  beginnt  mit  der  Antiqua/)  mit  der  aus 
pädagogischen  und  hygienischen  (iründen  leichtesten  Schriftart;  vor- 
bereitet wird  es  durch  die  Artikulations-  und  Sprechübungen  der 
Vorschule,  durch  das  mit  dem  Stäbchenlegen  verbundecie  Zeichnen 
und  durch  das  Tonformen.  Um  den  kleinen  Leseschüler  zu  fester 
und  genauer  Aufißusung  der  Buchstabenformen  durch  Auge  und 
Hand  zu  befähigen,  werden  ihm  plastische  Ruchstaben  aus  Holz  in 
die  Hand  gegeben ,  sie  werden  von  ihm  sortiert ,  betastet  und  auf 
die  gemalten  Buchstaben  der  Wandiesemaschine  genau  aufgelegt, 
er  büdet  die  Buchstaben  nach  durch  Zusammensetzen  au^estanzter 
Buchstabenteile,  mit  Hilfe  des  Mosaikkastens,  durch  Tonformen  und 
Nachmalen;  der  Wechsel  in  der  Beschäftigung  aber  lässt  sein 
Interesse  für  das  Lesenlerner;  nicht  sinken,  das  Kind  verhält  sich 
dabei  eben  nicht  bloss  memorierend,  sondern  ist  technisch  selbst- 
tätig und  prägt  sich  dadurch  die  Formen  fest  ein.  Beim  Silben* 
und  Wörteriesen  stellt  jedes  Kind  auf  seinem  Handlesekastchen  die 
Ruchstaben  zur  Silbe  und  zum  Worte  zusammen  und  vollzieht 
damit  die  ersten  l"^bungen  im  Rechtschreiben.  Hin  mechanisches 
Auswendiglernen  von  Silben-  und  Wörterreihen,  wie  es  beim  Fibel- 
lesen vielfach  eintritt,  ist  hierdurch  ausgeschlossen  —  und  die 
Hauptsache  ist,  dass  die  Kinder  durch  Benutzung  des  Lesekästchens, 
das  sie  selbsttätig  erhält,  nicht  so  leicht  ermüden  als  beim  alleinigen 
Gebrauche  der  grossen  Wandiesemaschine ,  die  nur  anstrengendes 
Sehen  ohne  jede  andere  Sinnesbetätigung  verlangt.  Das  Lesen  der 
zweilautigen  Silben  und  einiger  zweisilb^er  Hauptwörter  darf  nicht 
zu  einem  mechanischen  Tun  führen ;  die  zu  übenden  Wörter  werden 
den  Kindern  in  einem  geschichthchen  Zusammenhange  gegeben,  sie 
merken  die  Wörter,  sprechen  sie  nach,  zerlegen  sie  in  Silben  und 
behalten  die  betonte  Silbe,  die  dann  an  der  Wandlesemaschine  auf- 
gestellt wird,  wenn  sie  in  die  einzelnen  Laute  zerlegt  worden  ist; 
die  Silbe  hat  dann  fiir  das  Kind  die  Bedeutung  des  ganzen  Wortes, 
z.  B.  es  soll  ma,  mo,  me,  mu  g  !<  s«  n  werden,  so  wird  in  etwas 
ausführlicher  Weise  erzählt,  dass  Mama  mit  Moritz  und  Meta  zur 
Muh-Kuh  ging.  Auch  die  Übungswörter  an  der  Lesemaschine 
werden  für  die  Anfänger  in  einen  inneren  Zusammenliang  gebracht. 
Durch  das  Nachmalen  der  Buchstaben  wird  das  Schreiben  an« 
gebahnt,  sobald  darin  einige  Fertigkeit  erlangt  ist,  wird  durch 
Diktierübungen  die  Selbsttätigkeit  des  Kindes  in  erhöhtotTi  Masse 
in  Anspruch  genommen.  Der  spätere  Übergang  von  der  Antiqua 
zum  Lesen  deutschen  Druckes  und  deutscher  Schrift  bietet  keine 
Schwierigkeit;  wie  notwendig  übrigens  das  Lesen  der  Antiqua  ist, 
zeigt  ein  Blick  ins  Leben:  Firmen,  kurze  Bekanntmachungen, 
Warnungen  sind  in  Antiqua  ge^rhricben. 

Von  allen  Unterrichtsdisziplinen  fordert  das  Rechnen,  abgesehen 


>)  HÜfiMcboUibe),  Verlag  von  Ucyl  &  Kaemmeier  ia  Drasdca. 


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-   96  - 


von  jenem  verwerflichen  mechanischen  Memorieren  der  Rechen- 
sätze,  die  Selbsttätif^keit  des  Schülers  am  deutlichsten  heraus,  wenn 
bei  jeder  Rechenübung  folgender  Gang  innegehalten  wird.  Zunächst 
Rechnen  mit  Anschauungsmitteln,  die  in  der  liand  der  Kinder 
sind  —  mit  dem  Rechenbrett  iiir  quadratische  Zahlenbilder,  mit 
gewöhnlichen  Zahlenwürfeln,  mit  Stabchenbändeln,  mit  ganzen, 
halben  und  geviertehen  Scheiben  u.  a.  m.,  srtdann  Kopfrechnen 
unter  Ablesen  der  an  die  Wandtafel  geschriebenen  Aufgaben  und 
weiter  unter  blossem  Merken  der  Aufgaben,  endlich  schriftliches 
Rechnen.  Wie  auf  selbständige  Lösung,  so  wird  auch  auf  selb- 
ständiges Bilden  einfacher  angewandter  Aufgaben  gehalten.  Klarheit 
und  Verständnis  für  das  im  Rechnen  zu  bearbeitende  Sachgebiet: 
Geld.  Uhr,  Postwertzeichen,  Gewicht  imtl  Wage  und  andere  Masse 
gewinnt  das  schwachsinnige  Kind  nur  durch  Un^ang  mit  diesen 
Dingen,  es  muss  sdbst  zählen,  messen,  wiegen.  Nur  da<ßrch  sammelt 
es  unter  lebhaftem  Interesse  die  fürs  Leben  nötige  Erfahrung. 

Der  L'nterririit  hört  auf,  von  erziehlichem  Werte  zu  sein,  sobald 
er  der  körperlichen  Betätij^ung,  dem  Hauptmerkmale  der  Selbst- 
tätigkeit, in  der  Erziehung  Schwachsinniger  nicht  den  breitesten 
Raum  gewährt  Dasselbe  gilt  von  einer  Arbeitserziehung,  die  das 
bildungsfähige  schwachsinnige  Kind  im  Schulalter  nur  an  die  an« 
haltende  Verrichtung  gröberer  Arbeit  gewöhnen  will,  denn  nur 
feinere  Arbeit  bildet,  sie  fordert  eine  geschickte  Hand  und  erzeugt 
genaue  motorische  Vorstellungen  und  Begriffe.  Bewegung,  nicht 
automatische  Bewegung  und  Tätigkeit,  ist  ein  Naturbedürfnis  för 
eine  gedeihliche  körperliche  und  geistige  Entwicklung.  Dem  Grund* 
Satze:  Vom  Gröberen  zum  Feineren!  muss  darum  wie  in  der  Vor» 
schule,  so  auch  in  der  Schule  bei  Handfertigkeiten  Rechnung  ge- 
tragen werden.  Das  Zeichnen  bringt  in  seinem  Stufengange  vom 
Leichten  zum  Schweren  nur  Lebensformen  und  setzt  sich  iti  der 
Oberstufe  für  Knaben  in  Verbindung  mit  den  Holzarbeiten;  die 
Gegenstände,  welche  in  Holz  dargest^t  werden  sollen,  zeichnen  die 
Knaben  unter  Gebrauch  von  Reissschienen,  Winkel,  Zirkel  und 
ISS  erst  auf  Papier,  sodann  aufs  Brett  auf  und  fertigen  darnach 
den  Gegenstand  mit  Hilfe  von  Säge,  Hobel  und  anderen  Werk- 
zeugen. Der  Handfertigkeitsunterricht  in  hiesiger  Anstalt  besteht 
für  die  Schulknaben  aus  einem  systematischen  Papp-  und  Holz- 
arbeitsuntcrricht,  für  die  Schulmädchen  umfasst  er  die  weiblichen 
Handarbeilen:  Stricken,  Stopfen,  Nähen  und  Ausbessern;  für  beide 
treten  auch  industrielle  Arbeiten:  Flechten  von  Fussabstreichem, 
RohfStuhlbeaehen,  Bürstenbinden  und  fUr  die  tedinisch  geschickten 
Mädchen  der  Oberklasse  eine  Unterweisung  in  den  Kc^anfängen 
hinzu. 

Die  eigentliche  Arbcitsausbildung  fürs  Leben  erhalten  die  überm 
Schulalter  stehenden  Zöglinge  in  den  Arbeitsabteilungen.  In 
hiesiger  Anstalt  werden  solche  mannfiche  Zöglinge  je  nach  ihrer 


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technischen  Befi'ihi^^ung  und  ihrer  Individualität  entweder  der  Ab- 
teilung für  Korbmacherei,  für  Decken-  und  Rohrstuhlflechterei,  lur 
Gemfisegärtfierei  oder  lür  landwirtschaftliche  Arbeiten  zugewiesen; 
die  Ausbildung  der  erwachsenen  Mädchen  erstreckt  sich  auf  die 
weibliclicn  Handarbeiten,  Wascherei,  Haus-  und  Küchenarbeiten, 
sowie  auf  Arbeiten  in  der  ( )konomic.  Unter  >ti  ;  ^crung  der  zu 
leistenden  Arbeitspensen  —  zunächst  unter  Aulsiclit,  spater  ohne 
diese  —  wird  eine  möglichst  selbständige  Arbeitsleistung  tu  et' 
rdchen  gesucht. 

Neben  Untcrriclu  und  Arbeit  \vi:-i:t  auch  die  Krziehunjij  im 
engeren  Sinne  durch  ihre  Massnahmen  auf  Weckung  und  Pflege 
der  Selbsttätigkeit.  Die  Freizeit  pflegt  die  Bewegungsspiele,  ins- 
besondere die  Ballspiele.  Spielzeug,  mit  dem  sich  die  meisten  Kom- 
binationen vornehmen  lassen,  nötigt  schaffende  Tätigkeit  ab.  Schaukel- 
pferd, Reifen,  Kreisel,  Baukasten,  Handwerkszeug  und  h'arhekasten 
sind  das  beste  Spiclzeufr  fiir  Knaben,  Puj^pe,  Puppenwagen,  Puppen- 
Stube  und  Küche  für  Mädchen.  Die  Übungen  im  Sclbstbediencn  geben 
Anleitung  zum  An-  und  Auskleiden,  zum  Sichwaschen  und  Allein- 
Essen»  zum  Reinigen  der  Kleidungsstücke  und  ihrer  Aufbewahrung 
im  eigenen  Schranke,  zum  Bettmachen  und  zur  Verrichtung  mannig- 
facher leichter  häuslicher  Arbeiten  und  kleinerer  Handreichungen 
für  andere.  An  Übungen  im  Zurechtfinden  im  Anstaltsbereiche 
schliessen  sich  die  Spaziergänge  mit  ihren  reichlichen  Anregungen 
zur  Selbsttätigkeit:  Die  Eireichung  des  Zieles,  die  Beobachtungen 
unterw^^l  Auf  Gemüts-  und  Willensleben  übt  die  selbsttätige 
Pflege  von  Tieren  (Vögel,  Fischen,  Kaninchen,  der  Raupenkasten, 
das  Füttern  der  Vogel  im  Winter)  und  die  Pflege  von  Pflanzen 
(eigenes  Beet,  Blumentopf)  den  günstigsten  Einfluss  aus.  Die  Selb- 
ständigkeit wächst  bei  Besorgung  von  Botengängen  und  Einkäufen. 

IMe  meisten  erziehlichen  Einrichtungen  in  Schule  und  Anstalt 
sind  auf  die  Beeinflussung  des  Willens  der  Zöglinge  gerichtet,  eine 
nicht  unbeträchthche  Zahl  darauf,  dass  die  Zöglinge  selbsttätig  mit 
dem  Wissen  aucii  das  Können  vereinigen.  Ohne  Selbsttätigkeit  ist 
weder  die  geistige  noch  die  körperliche  Tätigkeit  wachzurufen,  zu 
vermehren  und  zu  veredeln;  sie  allein  packt  den  ganzen  Menschen 
in  seinem  Werden  und  Sein,  indem  sie  auf  seine  Denkkraft  stärkend, 
auf  sein  (lemut  bereichernd  und  auf  seinen  Charakter  biklend  ein- 
wirkt Die  Anwendung  des  Prinzips  der  Selbsttätigkeit  sciiuLiL  vor 
erziehlichen  Fehlgriffen,  sie  fuhrt  den  Erzieher  an  jedes  einzdne 
Kind  heran  und  zwingt  ihn  geradezu  /utn  Studium  und  zur  SOrg« 
Samen  Beachtung  der  Kindes-Tndividualität.  Sie  verlangt  eine  an- 
schauliche entwickelnde  Methode  sowohl  für  den  Unterricht  wie 
auch  für  die  Arbeitserziehung,  eine  Methode,  die  dem  Kinde  das 
Lehrael  vor  Augen  stellt,  es  vom  Bekannten  zum  Unbekannten» 
vom  Leichten  zum  Schweren,  vom  Einfachen  zum  Zusammen* 
gesetzten  gehen  lasst  und  dabei  zum  Selbstfinden  durch  eigenes 

FMiUgtoohi  Stndtai.  ZXIX.  t.  7 


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4 


-   9»  - 

Beobachten,  Naclidenken  und  Tun  veranlasst  Sie  vermeidet  beim 
Kinde  ein  mechanisches  Lernen,  fÜUt  sein  Gedächtnis  nicht  mit 
Wörtern,  sondern  gibt  reichliche  Sachkenntnis  durch  einen  seiner 
Fassungskraft  entsprerhenden  Unterrichtssloff,  sie  lässt  krin  Kind 
unbeschäftigt  und  fördert  es  naturgemäss  durch  seine  eigene  Kraft. 
Begehbar  ist  aber  der  Lehrweg,  an  dessen  Schilde  „Selbsttätigkeit" 
geschrieben  steht,  nur  dann,  wenn  das  Hindernis  „LehistofiniUe" 
glücklich  weggeräumt  ist.  Das  Prinzip  der  Selbsttätigkeit  bedingt 
die  Beschränkung  des  L^ntcrrichtsstofTes :  diese  Tatsache  dürfte  seiner 
Anwendung  nicht  entgegenstehen,  denn  damit  wäre  dann  auch  die 
überbürdungsfrage  in  der  Schwachsinnigenschule  gelöst 

Unser  Endehungszie!  heisst  HeranbÜdung  zur  Erwerbsfahigkeit ; 
CS  ist  erreichbar,  wenn  der  schaffende  Tätigfkeitstrieb  bei  unseren 
Zöglingen  nicht  durch  Hemmungen  in  ihrer  psychophysischen  Ent- 
wicklung darnicdcrgehalten  wird.  In  der  VVeckung  und  Pflege 
dieses  Triebes  aber,  wodurch  auch  bei  den  Schwächsten  eine 
gewisse  Besserung  ihres  Zustandes  doch  ermöglicht  wird  und  die 
die  anderen  fürs  praktische  Leben  und  Handdn  geschickt  madit, 
wollen  und  werden  wir  nimmer  ermüden  1 


n. 

Die  Reform  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts 
im  sächsischen  Seminar. 

Von  Obeitelver  Dr.  E.  Kotte  in  Dresden. 

Schluss. 

„Das  Leben  ist  das  Problem,  das  im  Mittelpunkte  aller  wissen- 
schaftlichen Forschung  und  alles  philosophischen  Nachdenkens  steht, 
es  ist  das  Problem  aUer  Probleme.  Hier  berühren  sich  Materie  und 
Seele,  Naturwissenschaften  und  Geisteswissenschaften.  Die  Kon* 
struktion  der  Tatsache  des  Lebens  ist  darum  entscheidend  für  die 
VVeltanschauunfT  überhaupt  Hier  scheiden  sich  die  grossen  Rich- 
tungen des  Materialismus  und  Idealismus.  Und  daher  ist  die 
Kenntnis  der  Tatsache,  um  deren  Konstruktion  hier  gestritten  wird, 
die  Voraussetzung  für  das  Verständnis  aller  Philosophie:  ohne 
Biologie  kein  Verständnis  der  philosophischen  Probleme  und  ihrer 
Lösungen  .  .  .  Demnach  werden  wir  saufen:  die  Schule,  die  auf  den 
biologischen  Unterricht  Verziclit  tut  verzichtet  auf  den  inter- 
essantesten und  wichtigsten  Tcii  nuLur wissenschaftlicher  Erkenntnis, 
den  Teil,  an  dem  die  Naturwissenschaften  am  unmittelbarsten  mit 
den  letzten  und  allgemeinsten  Fragen  menschlichen  Erkennens  sich 
berühren.** 


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—  99  — 


In  diesen  Worten  betont  Paidsen  diejenigen  Gresichtspunkte,  die 
an  letzter  Stelle  hervorgehoben  sein  mögen,  um  eine  Ausdehnung 

des  biologischen  Unterrichtes  auf  die  Oberklassen  zu  rechtfertigen. 
Wenn  das  eigentliche  Lehrziel  dieser  Stufe  darin  bestehen  wird,  ein 
tieferes  Verständnis  für  den  inneren  Zusammenhang  des  Geschehens 
und  Werdens  in  der  Natur  zu  erschliessen,  so  kann  kein  Zweifel 
daniber  herrschen,  dass  der  Unterricht  auf  denjenigen  Teil  der 
modernen  Biologie  nicht  wird  verzichten  dürfen,  dessen  Kenntnis 
gegenwärtig  als  unumgänglich  notwendig  zur  Bildung  einer  Welt 
aiischauung  angesehen  werden  inuss.  Alle  Kmpiric  strebt  .ibcr  zur 
Vereinfachung.  „Das  ist  eine  miserable  Empirie,"  sagt  Feuerbach, 
„die  sich  nidit  zum  philosophischen  Denken  erhebt*'  —  Und  das 
ist  es,  was  auch  der  biologische  Unterricht  erstrebL  Wir  stehen 
vollkommen  auf  dem  Hoden  der  Ilamhiifj^er  These,  dass  die 
Biologie  eine  fcrfahrungswissenschaft  ist  und  bleiben  wird.  Wenn 
aber  auch  der  Unterricht  überall  von  den  Tatsachen  der  Erfahrung 
ausgehen  muss,  da  allein  die  Sinne  die  Pforten  unserer  Erkenntnis 
bilden,  so  steht  doch  fest,  dass  das  Wissen  von  den  Tatsachen 
allein  seinen  Wert  nicht  ausmacht  Vielmehr  ist  es  die  Erkenntnis, 
wie  sich  Wissen  zu  einem  Ganzen  fügt,  wie  es  zur  Einheit  strebt. 
Darum  wird  auch  die  Schule,  deren  oberstes  Prinzip  die  Wahr- 
haftigkeit im  Sinne  wissenschaftlicher  Voraussetzungslosigkeit  tuklen 
soll,  nicht  auf  die  Hypothese  verzichten  können,  die  es  uns  er* 
möglichen  will,  Einheit  und  Zusammenhang  in  unsere  Anschauungen 
zu  bringen  und  das  Naturgeschchcn  zu  begreifen.  Es  ist  eines  der 
erfreulichsten  Zeichen  der  Gegenwart,  dass  die  Furcht  vor  den  zer- 
setzenden Lehren  der  modernen  Biologie,  die  im  Jahre  1879  in 
Preussen  im  Anschluss  an  den  bekannten  I-ippstadtcr  Fall  zu  jenem 
vernichtenden  Schlag  gegen  den  biologischen  Unterrichte  führte,  im 
Schwinden  begriffen  ist.  Es  schwindet  jener  Wahn,  als  müsste  die 
Entwicklungslehre  jegliches  religiöse  Gefühl  untergraben  und  ihres 
(scheinbar)  mechanischen  Charakters  wegen  zu  einer  materialistischen 
Weltanschauung  und  zum  Atheismus  führen.  Vielmehr  bringen 
selbst  Männer  und  Zeitschriften  streng  kirchlicher  Richtung  den 
Bestrebungen  nach  ernster  und  tieferer  naturwissenschaftlicher  Unter- 
weisung der  Jugend  ihr  volles  Wohlwollen  entgegen. 

Es  ist  entschieden  eine  auffällige  Tatsache,  die  zum  ernsten 
Nachdenken  nötigt,  dass,  nachdem  der  Materialismus  im  Laufe  der 
neueren  Philosophie  zweimal  in  kläglicher  Weise  Schiffbruch  erlitten 
hatte,  ein  Buch  wie  Haeckcls  Welträtsel,  das  von  der  besonnenen 
und  ernst  denkenden  Wissenschaft  unserer  Tage  sofort  ad  acta 
gelegt  wurde,  trotzdem  in  wenigen  Jahren  in  hunderttausenden  von 
Eüxemplaren  unter  den  Gebildeten  wie  in  der  breiten  Masse  Ver- 
breitung finden  konnte.  Auch  besteht  bei  dem  Wissenden,  der  die 
Zeiterscheinungen  eingehend  verfolgt ,  gar  kein  Zweifel  darüber, 
welche  ausserordentlich  weite  Verbreitung  und  Wertschätzung  in 

7* 


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den  gebildeten  Ständen,  besonders  auch  in  der  jüngeren  Lehrer- 
sdiaft  (siehe  die  Bremer  Vorgänge)  in  den  letzten  Jahrzehnten 
mechanistische,  monistische,  materialistische  und  ähnliche  Welt- 
anschauungen gefunden  halben.  Man  ist  aber  entschieden  im  Irrtum, 
wenn  man,  wie  dies  oft  geschieht,  in  leichtfertiger  Weise  unseren 
Religionsunterricht  dafür  verantwortlich  macht,  dem  man  vorwirft, 
sich  in  ausgefahrenen  dogmatischen  und  orthodoxen  Geleisen  zu 
bewegen.  Sicher  haben  an  dem  Entstehen  dieses  Zustandes  eine 
Reihe  von  Faktoren  mitgewirkt;  der  wichtigste  aber  scheint  mir  in 
dem  Mangel  einer  gediegenen  naturwissenschaftlichen  Schulung,  in 
dem  F'ehlen  gründlicher  Sachkenntnisse  und  der  nötigen  Kritik- 
fähigkeit zu  li^en.  Gegenwärtig  lebt  wohl  niemand  mehr,  der  es 
für  mögHch  hält,  die  Entwicklungslehre  vor  den  Schülern  zu  ver» 
heimlichen.  Fls  liegt  ja  in  der  Art  und  RcschafTcnheit  des  Stoffes 
der  biologischen  Wissenschaften  begründet,  dass  ein  ansehnlicher 
Teil  dessen,  was  diese  Wissenschaften  zutage  gefördert,  popularisiert 
und  somit  dem  Schüler  leichter  wie  andere  Lehrgegen^ände  und 
naturwissenschaftliche  Unterrichtszweige  zugeführt  werden  kann.  Auf 
tausend  Wegen  finden  daher  die  von  der  Schule  gemiedenen  Ge- 
danken Eingang  in  das  Herz  des  Jünglings ,  in  dem  der  lebhaft 
und  spontan  erwachende  Trieb  zu  metaphysischer  Spekulation  ge- 
bieterisch und  stürmisch  um  Antwort  in  Fragen  ringt,  die  noch 
dazu  iur  ihn  den  Reiz  des  Verbotenen  haben  und  in  denen  er  zu 
leicht  geneigt  ist,  an  die  Stelle  des  alten  Credo  quia  absurdum  ein 
Credo  quia  vetitum  zu  setzen.  Die  Kehrseite  aber  ist  das  Miss- 
trauen gegen  alle  von  der  Schule  geschützten  Wahrheiten,  vor  allem 
gegen  den  Religionsunterricht,  Darum  erscheint  es  unbedingt  ge- 
boten, dass  auch  im  Seminar  von  einem  gewissenhaften  Lehrer 
Belehrung  über  die  grossen  Probleme  der  Biologie  geboten  werde, 
weil  nur  dadurch  unsere  Schüler  vor  der  seichten,  oft  unglaublich 
leichtsinnig  geschriebenen  naturwissenschaftlichen  Hintertreppen- 
hteratur  geschützt  werden  können,  für  die  bereits  alles  dogmatische 
Gestalt  angenommen  hat,  was  tatsächlich  Problem  ist  und  über  das 
die  grössten  Meinungsverschiedenheiten  unter  fast  allen  Fachgelehrten 
bestehen,  die  sich  diese  Probleme  zu  ihrem  Spezialstudium  gemacht 
haben.  Für  den  auf  höherer  Warte  Stellenden  besteht  kein  Zweifel, 
dass  gerade  gegenwärtig  die  Biologie  einen  Klärungsprozess  durch- 
macht Vorimer  ist  die  Zeit,  in  der  nach  dem  Erscheinen  des 
Dar^fnnschen  Budies  die  grossen  Orgien  der  Materialisten  gefeiert 
wurden.  Die  masslose  Überschätzung;  1er  Darwinschen  Lehre  wie 
der  sie  verfolgende  Hass  haben  allmählich  einer  nüchternen  und 
ruhigeren  Beurteilungsweise  Platz  gemacht,  und  gerade  in  diesen 
Tagen  wird  das  D»winsche  Dogma  über  die  Ursachen  der  Art- 
bildung und  der  Anpassung  immer  lebhafter  und  nicht  ohne  Erfolg 
bestritten,  so  dass  für  viele  von  dem  Darwinismus  weiter  nichts  als 
die  allerdings  unerschütterliche  Tatsache  der  Entwicklung  übrig« 


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—  lOI 


geblieben  ist  Wir  stehen  unzweifelhaft  an  einem  Funkte  der 
wissenschaftlichen  Entwicklung,  wo  sidi,  angeregt  durch  die  vid- 

scitii:;e  Krweiteninf^  unserer  Erkenntnisse  und  die  dadurch  bewirkte 
Vertiefung  des  Denkprozesses,  ein  vollständi<]fcr  Umschwung  in  der 
Biologie  vorbereitet  Man  erkennt,  dass  sich  eine  positive  Grund» 
läge  für  die  Annahme  einer  alleinigen  Wirksamkeit  kausal-mecha- 
nischer Beziehungen  weder  aus  den  Erfahninganhalten  noch  aus 
unseren  Denkgesetzen  ableiten  lässt,  und  ist  geneigt,  zur  Rettung 
des  natiinvissenschaftlichen  Fiinhcitsgedankens  auch  die  psychische 
Kausalität  als  allgemeinen  Faktor  des  Naturgesclichens  anzuerkennen. 
So  wird  woW  in  Zukunft  die  Gefalir  schwinden,  als  könnte  die 
Bblogie  die  törichte  Meinung  erweckoi,  dass  durch  den  Darwinismus 
das  grosse  Rätsel  des  Lebens  und  der  Welt  gelöst  sei,  gelöst  wie 
ein  einfaches  Rechenexempel.  Die  grosse  Wahrheit  aber,  die  ein 
gewissenhafter  biologischer  Unterricht  dem  Schüler  mit  auf  den 
Lebensweg  geben  kann,  eine  der  grössten  Wahrheiten  überhaupt, 
ist  die,  „dass  alles  Lebendige  auf  unserem  Planeten  die  gleiche 
korperlidie  Grundlage  hat"  (Waldcyer). 

Aus  dem  Gesagten  geht  bereits  zur  Genüge  hervor,  welche 
Ziele  dem  bi(ilui,nschen  Unterrichte  in  den  Obcrklassen  L^esteckt 
werden  niüasen.  Die  Unterklassen  werden  neben  Morphologie  und 
Sj^tematik  in  erster  Linie  die  Aufgabe  haben,  die  Lebensverhalt* 
nisse  der  Tiere  und  Pflanzen  und  deren  Einfluss  auf  die  Organisation 
so  ein^^ehend  darzustellen,  wie  es  die  Vorbildung  und  das  Ver- 
ständnis der  Schüler  gestatten.  Dal)ci  in(")cnte  icli  hier  einer  Ver- 
teilung des  Lehrstoffes  im  Lehrpiane  das  Wort  reden,  die  in  den 
letzten  Jahren  insbesondere  auch  für  die  Seminare  in  eingehender 
Weise  begründet  worden  ist  und  mit  der  ich  selbst  die  besten  Er- 
fahrungen gemacht  habe.  Da  der  Scliüler  bereits  im  Natnrgeschichts- 
unterrirhte  der  Volksschule  mit  den  hauptsachlichsten  Lebensformen 
des  Tier-  und  Pflanzenreiches  bekannt  gemacht  worden  ist,  so  dürfte 
das  erste  Sommerhalbjahr  nach  Eintritt  ins  Seminar  ausreichend 
ersdieinen,  um  ihn  an  ein  intensives  Beobachten  einzelner  Formen 
zu  gewohnen.  Dann  muss  zum  mindesten  der  Unterricht  in  der 
Zoologie  von  den  einfachsten  tierischen  Ori^^anismen,  den  i'rotozoen, 
ausgehend  und  zu  den  höheren  und  höchsten  Formen  alimählich 
fortschreitend,  sich  dem  Werdegange  der  Natur  möglichst  an- 
zuschliessen  suchen.  Man  gibt  sich  einer  vollkommenen  Täuschung 
hin,  wenn  man  «glaubt,  dass  ein  Vogel,  ein  Säugetier  oder  gar  der 
Mensch  dem  Schüler  besser  bekannt  sei  oder  seinem  Verständnis 
leichter  nahegebracht  werden  könne  als  z.  B.  eine  Coelenteratenform, 
bei  der  wir  die  Bauform  des  tierischen  Körpers  auf  ein  einfachstes 
Grundschema  zurüd^bracht  und  auch  die  Lebensvorgänge  in 
typisch  vereinfachter  Weise  sich  abspielen  sehen.  Man  lehre  also 
an  den  Seminaren,  deren  Unterklassen  den  Mittelklassen  der  neun- 
klassigeu  Lehranstalten  entsprechen ,  die  Biologie  in  aufsteigend- 


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I02  — 


systematischer  Reihenfolge;  denn  auf  diesem  Wege  Ifisst  sich  ein 
viel  tieferes  Verständnis  für  die  Organisation  und  die  Entwicklung 
der  Lebewesen  vermitteln  als  auf  dem  entgegengesetzten  Wege. 

Auf  diesem  Fundamente  hat  sicli  ein  Oberbau  zu  erheben, 
dessen  Notwcndif^keit  aus  dem  \'oi  handensein  tiefgehender  Unter- 
schiede zwischen  dem  Auffassungsvermögen  und  der  Vorbildung 
der  Schüler  der  Unter-  und  Oberklassen  begründet  wurde.  Das 
Ziel  dieses  erweiterten  biologischen  Unterrichtes  kann  nun  auf 
keinen  Fall  eine  Erweiterung  der  Systemkunde  sein;  auch  können 
wir  uns  nicht  darauf  einlassen,  die  vcrj:;leichende  Anatomie.  Histo- 
logie, Entwicklungsgeschichte,  Paläontologie,  Tier-  und  Pflanzen- 
geographie so  systematisch  und  ausfuhrlich  zu  behandeln,  wie  das 
vielleicht  von  einzelnen  Fachliebhabem  erträumt  werden  mag.  Dazu 
ist  keine  Zeit  vorhanden;  auch  widerspricht  es  durchaus  der 
durch  das  Ziel  der  allgemeinen  Bildung  notwendig  geforderten  Be- 
schränkung auf  das  Wesentliche.  Ich  stimme  vollkommen  mit 
WUhelm  Schwarze*)  überein,  dass  es  sich  vielmehr  darum  handelt, 
die  vielen  biologischen  Einzelheiten,  die  in  den  unteren  Klassen 
naturgemäss  an  den  verschiedensten  Stellen  des  Lehrganges  auf- 
treten, unter  neue  Begriffe  und  Gesichtspunkte  zusammen- 
zufassen, neue  Heobachtun<,'cn ,  vor  allem  unter  Zuhilfenahme  des 
Mikroskopcs  anzustellen  und  endlich,  was  früher  nicht  möglich  war, 
die  neuerworbenen  physikalbch  •  chemischen  Kenntnisse  zur  Er* 
läuterung  der  Lebensbedingungen  und  zum  besseren  Verständnis 
der  Lebensverhältnisse  heranzuziehen  und  dadurch  ein  tieferes  Ver- 
ständnis des  inneren  Zusammenhangs  des  Werdens  und  Geschehens 
in  der  Natur  zu  erüflhen. 

Demnach  hesse  sich  die  Aufgabe  der  einzelnen  Klassen  in  einem 
zukunftigen  siebenjährigen  Seminarkursus  in  folgender  Weise  be- 
grenzen : 

1.  In  den  drei  Unterklassen,  der  zukünftigen  Septima,  sowie 
der  jctzif^cn  Sexta  und  Quinta ,  die  den  Mittelklassen  Quarta  bis 
Obertertia  der  9 klassigen  höheren  Lehranstalten  entsprechen,  sind 
in  systematisch  aufsteigendem  Gange  die  wichtigsten  organischen 
Naturfonnen  nach  ihrer  äusseren  Erscheinung,  ihren  Lebensverhält* 
nissen  und  ihrer  Organisation  zu  besprechen ,  so  dass  sich  im 
Rahmen  des  natürlichen  Systems  ein  <:jeordneter  Überblick  über 
den  Formenreichtum  der  organischen  Natur  ergibt. 

2.  Den  Mittelklassen,  der  jetzigen  Quarta  und  Tertia,  die  der 
Ober-  und  Untersekunda  entsprechen  fallen,  folgende  Lchraufgaben  zu: 

a)  Die  allgemeine  Botanik  und  Zoologie,  also  Anpassungs- 
ersdieinungen  des  pflanzlichen  und  tierischen  Organismus  an  die 


\u^  der  Praxis  des  biologischen  Untenidits  in  den  Oberklawen,  Natur  mid 
Schule  IV,  195. 


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—    103  — 


äusseren  Lebensbedingungen  (Wärme»  Licht,  Boden,  Wasser),  femer 

die  Beziehungen  der  Pflanzen  wie  der  Tiere  unter  sich,  wie  zu  ein- 
ander (Beziehungen  der  Geschlechter,  Fürsorge  für  die  Nachkommen, 
Rruti)flege,  Staatenbildiini?.  Nahrungs-  und  Raumkonkurrenz,  Aus- 
nutzung der  Mitpflan/en,  Raubtier  und  Beutetier,  Synökie  und 
Kommensalismus,  Parasitismus,  Symbiose,  Mutualismus,  fleisch' 
fressende  Pflanzen  etc.),  endtich  die  Erarbeitung  der  GruncHagen  der 
Pflanzen-  und  Tiergeographie. 

b)  Die  vergleichende  Anatomie  und  Physiologie  der  Pflanzen 
und  Tiere.  Hier  handelt  es  sich  zunächst  um  die  Erarbeitung  des 
Begriffs  der  Zelle  als  des  Eiemcntarorganismus,  um  das  Verständnis 
des  Baues  und  des  Lebens  der  Zelle,  sodann  um  die  fortschreitende 
Gewebedifferenzierung  bei  mehrzelligen  Wesen,  also  um  eine  ver- 
'gleichend  anatomische  Betrachtung  der  Organsysteme  bei  vid- 
zclligen  'r!iaJloj)h\'ten,  den  Gefasskr}''ptogamen  und  höheren  Pflanzen, 
desgleichen  in  der  Reihe  der  Tierstämme,  wobei  besonders  die 
Organe  der  Empinidung  (Nervensystem  und  Sinnesorgane)  sowie 
der  For^flanzung  zu  berücksichtigen  «nd. 

3.  Der  Sekunda,  entsprechend  der  Unterprima,  würde  die 
Anatomie  und  Hiysiologie  des  menschlichen  Körpers,  die  unter 
steter  Berücksichtigung  hygienischer  Gesichtspunkte  zu  erteilen  ist, 

zuzuweisen  sein;  der  Prima  endlich  im  Anschluss  an  die  Geologie 
eine  Betrachtung  der  geschichtlichen  Gesarntentwicklung  der  Lebe- 
wesen, wie  sie  als  Tatsachenmaterial  in  den  Überresten  der  Gesteins- 
sdiichten  und  als  spekulativer  Erklärungsversuch  in  der  Deszendenz- 
tebre  vorliegt,  ^n  derartiger  abschliessender  biologischer  Kursus, 
der  eine  Orientierung  über  die  Tatsachen  und  I^Vag^cn  der  kosmischen, 
tellurischen  und  bioioL^nschcn  Entwicklungsgeschichte  geben  würde, 
würde  auch  auf  dem  Seminar  ein  notwendiges  Stück  einer  philo- 
sophischen Propädeutik  ausmachen,  „die  die  KJuft  zwischen  Natur- 
und  Geisteswissenschaften  überbrücken,  den  naturwissenschaftlichen 
UnternVht  nach  der  philosophischen  Seite  hin  vertiefen  und  so  ifazu 
beitragen  würde,  den  Gegensatz  zwischen  Realismus  und  Humanismus 
zu  versöhnen"  (Norrenberf^).') 

Es  würde  ein  Leichtes  sein,  sich  hinsichtlich  der  Forderung  der 
Stundenzahl  für  den  biologischen  Unterricht  auf  den  Standpunkt 
der  Hamburger  Thesen  und  der  Unterrichtskommission  zu  stellen 
und  auch  für  alle  Seminarklassen  einen  durchgehenden  zweistündigen 
biologischen  Unterricht  zu  fordern.  Indessen  stimmen  die  meisten 
kritischen  Stimmen,  die  sich  bisher  zu  dieser  Forderung  haben 
vernehmen  lassen,  darin  überein,  dass  bei  der  gegenwärtigen  Organi- 
sation der  höheren  Knabenschulen  an  eine  Realisierung  dieser 
Forderung  zur  2^it  nicht  zu  denken  ist  und  dass  man  sich  in  praxi, 

^)  Zitiert  nach  Natur  and  Schule  II,  480. 


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—    IQ4  — 


utn  nur  überhaupt  etwas  zu  erreichen,  am  RealLjyninasium  und  der 
Oberrealschulc  auf  je  i  Stunde  in  den  Oberklasscn  wird  beschränken 
müssen.  Ich  glaube,  das  ist  audi  das  Ausseiste,  was  man  bei 
nüchternster  Abwägung  der  gegenwärtigen  Zettlage  für  das  Seminar 
•  erreichen  kann.  Ich  nehme  daher  abermals  die  schon  von  Prof. 
Ulbricht  1901  «gestellte  Forderung  auf  und  playdiere  dafür,  dass  wir 
uns  in  der  Biologie  auf  die  Forderung  von  je  2  Stunden  in  den 
Unter-  und  Mittelklassen  (7 — ^4)  und  auf  je  eine  Stunde  in  den  dm 
Oberklassen  beschränken.  Diese  Forderung  von  1 1  Stunden  fiir  die 
Biologie  stellt  das  zu  erreichende  Minimum  dar.  Da  ich  später 
noch  kurz  Ticigen  werde,  dass  unter  bestimmten  Voraussetzungen 
die  tatsächliche  Möglichkeit  der  ReaUsierung  dieser  Forderung 
gegeben  ist,  so  kann  ich  nur  die  Bitte  aussprechen,  dass  die  be- 
tr«nende  These  allgemeine  Zustimmung  finden  möge.  Wir  stellen 
damit  keine  Forderung,  von  der  wir  uns  unter  Umstanden  noch 
etwas  abhandehi  lassen  könnten,  sondern  einigen  uns  auf  ein  Ziel, 
das  wirklich  crreic  hbar  ist  und  dessen  Erreichung  daher  mit  allen 
Kräften  angestrebt  werden  kann.*) 

n. 

Ich  wende  mich  zu  den  exakt-naturwissenschaftlichen  Fächern, 

denen  die  Aufgabe  zufallt,  dem  biologischen  das  physikalisch-chemische 
Weltbild  an  die  Seite  zu  stellen.  Was  erstreben  diese  Fächer  bei 
einer  zukünftigen  Neuregelung  des  Lehrplans?  Ich  möchte  mich 
zunächst  kurz  mit  der  Chemie  etwas  naher  beschäftigen,  dem  Stief- 
kinde  aller  am  Seminar  gelehrten  naturwissenschaftlichen  Disziplinen. 
Wenn  die  Dosis  biologischen  Wissens,  die  unter  den  gegenwärtigen 
Verhältnissen  den  Schülern  \'cral.>reicht  werden  kann,  als  eine  sehr 
minimale  und  un/urcichciule  be/.ciehnct  werden  musste.  so  muss  die 
Rolle,  zu  der  die  Ciiemie  gegenwärtig  verurteilt  ist,  geradezu  als 
eine  unwürdige  bezeichnet  werden.  Wenn  daher  in  Zukunft  irgend 
etwas  für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht  am  Seminar  gescmeht» 
dann  muss  an  dieser  Stelle  zuerst  der  Hebel  angesetzt  werden. 

*)  Nach<li  n;  Acr  crsle  Teil  in  Dnick  <::i[i};cn  w.ir.  erfuhr  ich  ihiroh  ii,ichtrii(,']icli 
eingcsogeoe  Erkiudigungcn,  dass  sich  die  Untcrrichtskommission  der  dcuUcbcn  Natur- 
fbradier  und  Ante  wie  ta  ihren  f;e«amten  Avbdten  mich  bH  ihmn  Urteife  Uber  die 
gegcnwSrtipon  Verhältnisse  des  ii.iturwisscnschaftliclieii  Untrrriclits  und  die  Vorbildung 
der  DiUurwis&casclttfUichea  Lehrer  an  den  Lelurcrbilduagsan&lalten  weseoUich  auf  Gut- 
ftchten  i^tfltzt  hat,  die  von  prenssischcn  Anstalten  dn^zogen  worden  waren.  Ich  sdie 
nii  h  d.ihrr  veranla'^st.  hirr  besonders  auszusprrrhfn,  dass  es  mir  selb.st\ >  r^tündüi  h  völlig 
ferngelegen  hat.  durch  meine  Ausführungen  in  Helt  l  S.  15  ff.  der  scyLu;.rcichcn  und 
unftasenden  Tätigkeit  der  Unterrichtskommission  zu  nahe  treten  zu  wollen.  Ich  kann 
nur  nofbinals  nit  incni  Iii  dam  rii  AuMlrnck  geben,  dass  es  der  Kommission  infolfje  der 
au-sserordentlich  vcrwickcUcrii  uuü  vcröchii  denartigcn  Organisationsverhältnisse  der  Li  hrer- 
bildnngsanstalten  in  den  einzelnen  deutschen  Staaten  leider  nicht  möglich  gewesen  ist, 
mit  bestimmten,  abgeglichenen  Vorschlägen  hervorzutreten  und  durch  das  Gewicht  der 
in  ihr  vereinigten  Stimmen  auch  an  den  Seminaren  eine  baldige  gründliche  Reorgani- 
sation des  natanriasensdiaiUichen  Unterrichtes  xn  veranbssefl. 


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—   I05  — 


Die  Chemie  ab  die  Lehre  von  den  die  gesamte  uns  umgebende 
Welt  zusammensetzenden  Stoffen  ist  eine  derartig  grundle<(endc 
Wissenschaft,  dass  man  ohne  tiefgehende  Beweisführung  sagen  kann: 
Ohne  Chemie  gibt  es  überhaupt  keine  naturwissenschaftliche  Bildung  j 
ohne  sie  wird  diese  immer  itinerKcfa  unvoUendet  bleiben,  also  eine 
Halbbildung  darstellen.  Langst  hat  sich  diese  Erkenntnis  Bahn  ge- 
brochen ;  an  allen  anderen  höheren  Lehranstalten  sind  Physik  und 
Chemie  als  völlig  gleichberechtigt  anerkannt  und  mit  einer  nahezu 
gleichen  Stundenanzahi  berücksichtigt.  Nur  am  sächsischen  Seminar 
befindet  sidi  die  Chemie,  auch  verglichen  mit  den  l%ir  die  preussbchen 
Lehrerbildungsanstalten  durch  die  Lehrpläne  vom  l.  Juli  1901  ge> 
schaffenen  Verhältnissen  in  einer  tief  beschämenden  Lage.  Der 
Grund  Hegt  darin,  dass  bei  uns  immer  noch  im  wesentlichen  der 
vor  einem  Menschenalter  entworfene  Lehrpian  Geltung  besitzt.  Er 
entstammt  einer  Zeit,  da  der  Bildungswert  der  Chemie  vielfach 
nicht  ausreichend  eingeschätzt  wurde.  Dieser  aufiallige  Umstand 
findet  seine  Erklärung  in  der  späten  Entwicklung  der  chemischen 
Wissenschaft  während  des  19.  Jahrhunderts,  der  erst  viel  später  die 
Einführung  der  Chemie  als  Unterrichtsfach  in  den  Schulen  folgen 
konnte  und  in  der  nicht  genügend  beachteten  Methodik  dieser 
Disaplin,  die  nicht  nur  wie  jeder  naturwissenschaftliche  Untericht 
als  notwendige  Ergänzung  der  abstrakten  Lehrfacher,  sondern  gerade- 
zu als  eine  Schule  logischer  Induktion  par  excellcnce  bezeichnet 
werden  muss  und  die  wie  kein  zweites  naturwissenschaftliches  Fach 
Gelegenheit  bietet,  Tatsachen  der  Erfahrung  von  Hypothesen  und 
Theorien  zu  unterscheiden,  aber  auch  den  grossen  heuristischen  Wert 
der  H3rpothese  für  den  Fortschritt  der  Wissenschaft  zu  enthüllen. 

Aber  es  sei  ganz  abgesehen  von  dem  allgemein  bildenden  Werte 
der  Chemie,  der  sich  doch  nur  bei  genügender  Stundenzahl  recht 
auskaufen  lässt.  Ist  es  unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  auch 
nur  möglich,  diesem  Fache  um  seines  grundlegenden  wissenschaftlichen, 
wie  seines  wirtschaftlichen  (technischen)  Wertes  willen  gerecht  zu 
werden?  Ist  es  denkbar,  jenes  Mass  chemischer  Kenntnisse  zu 
übermitteln,  das  für  die  Anbahnung  des  Verständnisses  der  durch 
die  chemische  Wissenschaft  in  Technik,  Industrie,  Agrikultur  und 
Komfort  des  täglichen  Lebens  erzielten  Fortschritte  unerlässlich  ist, 
das  endlich  im  Verein  mit  verwandten  Disziplinen  die  Eirgebnisse 
der  naturw^issenschaftlichen  Bildung  erst  richtig  zu  fundieren,  zu 
ergänzen,  zu  verschmelzen  und  abzurunden  vermag r  Diese  Frage 
muss,  insbesondere  auch  in  Hinsicht  auf  die  Anforderungen,  die  die 
zukunftige  Tätigkeit  des  Lehrers  in  der  allgemeinen  Fortbildungs- 
schule  und  in  Fachschulen  an  ihn  stellt,  völlig  verneint  werden. 
Man  bedenke,  dass  der  Lehrplan  von  1877  für  die  Cliemie  nur 
1  Stunde  in  der  3.  Klasse  ansetzt  und  dass  durch  die  (rrüllich  schen 
Verfügungen  nur  noch  eine  weitere  Stunde  in  einem  Halbjahr 
gewährt  wurde,  die  noch  dazu  der  Physik  entzogen  worden  ist 


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—   io6  — 


Ich  verzichte  darauf,  hier  denjenigen  Stoff  mitzuteilen,  der  sich  bei 
intensivstem  Flcissc  und  sorgfaltigster  Vorbrrritimg  der  Experimente 
in  dieser  Zeit  durcharbeiten  lässt.  Wer  freilich  auf  das  Experiment 
verzichtet,  der  mag  noch  etwas  ganz  Erkleckliches  fertig  bringen. 
Jedenfalls  ist  es  ausgeschlossen,  in  eine  Einzelbesprechung  der 
wichtigsten  Metalloide  u  n  i  ihrer  wesentlichen  Verbindungen  ein- 
7.utrcten,  nur  einige  Leicht  und  Schwcrmctallc  nach  ihrem  Vor- 
kommen, ihrer  Gewinnung  im  Hochofenbetriebe,  ihrer  technischen 
Verwertung  zu  kennzeichnen  oder  endlich  gar  einige  grundlegende 
Kapitel  aus  der  organischen  Chemie  experimenteU  zu  behandeln. 
Hier  besteht  entschieden  eine  klaffende  Lücke  in  der  naturwissen* 
schaftHchen  Ausbildung  unserer  Abiturienten,  und  es  ist  unsere 
Pflirlit,  immer  von  neuem  an  die  massgebende  histan/.  mit  der 
Bitte  heranzutreten,  diesen  argen  Missstand  in  Zukunft  abzustellen. 

Dazu  kommt,  dass  in  unserem  Lehrplanc  noch  immer  jene 
pädagogische  Ungereimtheit  besteht,  die  die  Mineralogie  vor  die 
Chemie  verweist  Liegen  beide  Fächer  in  einer  Hand,  dann  lässt 
sich  wohl  verhältnisnicHssig  leicht  Abhilfe  schaffen;  ist  dies  aber, 
wie  viclfacli,  nicht  der  hall,  so  befindet  sich  der  betreffen  !e  Lehrer 
in  der  wolil  nicht  gleich  wieder  vorkommenden  Lage,  auf  einem 
noch  nicht  vorhandenen  chemischen  Grunde  ein  mineralogisches 
Gebäude  errichten  zu  müssen.  Es  liegt  hier  nahe,  auf  die  schwierige 
Frage  der  Stellung  der  Mineralogie  im  Lehrplane  einzugehen.  Ich 
möchte  nur  soviel  bemerken,  dass  ich  auf  der  Seite  jener  stehe,  die 
die  immer  wiederholten  Versuche  von  Scliuhnäiuiern,  Mineralogie 
und  Geologie  zu  einem  Ganzen  zusammenzuschweisscn,  wie  zuletzt 
P.  Wagner,')  als  aussichtslos  betrachten,  „da  die  Arbeitsmethoden 
beider  Wissenschaften  ihren  wissenschaftlichen  Voraussetzungen, 
ihren  Gedankenverbindungen  und  ihren  Zielen  nach  grundverschieden 
sind"^  und  sich  immer  weiter  in  entgegengesetzter  Richtung  ent- 
wickeln werden.  Gerade  das  VVagner'sche  Buch  hat  mich  von 
neuem  in  der  Überzeugung  bestärkt,  dass  bei  einer  derartigen  Zu- 
sammenschweissung  innerlich  widerstrebender  Dinge  notwendig  das 
eine  zu  kurz  kommen  muss;  das  ist  hier  die  rein  naturwissenschaftliche 
Seite,  der  chemisch-technologische  Gesichtspunkt  zu  Gunsten  des 
geographisch-geologischen.  Auf  dem  Seminar  würde  meiner  Meinung 
nach  die  Mineralogie  ebenso  wie  die  allgemeine  Chemie  und  die 
Technologie  am  besten  organbch  in  den  nach  systematischen 
Gesichtspunkten  bc  inu^iten  Ldtrplan  der  speziellen  Chemie  an- 
gegliedert, während  die  allgemeine  Geologie  der  Geographie  zu- 
zuweisen wäre,  die  ja  in  unserer  Zeit  mehr  und  mehr  im  Sinne 


*)  P.  Wagner,  Lehrbuch  der  Geologie  uhU  MiDcralogie  ftir  höhere  Schulen. 
Letpug,  Tcubncr.  1907. 

^  Job.  Walter.  MincnUogie  aod  Geologie  in  Forschung ,  Lehre  nnd  Uatenicbl. 
Natur  und  Schule  IV,  549. 


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—   107  — 


einer  Naturwissenschaft  aufgefasst  und  betrieben  wird.  Ich  kann  es 
an  dieser  Stelle  nicht  unterlassen,  der  Geographie,  jener  anderen, 
neben  der  Naturwissenschaft  im  Lehrplan  der  höheren  Schulen  so 
schwer  um  anerkennende  Wertunj^  und  grössere  Berücksichtigung 
kämpfenden  Wissenschaft  7.u  f^cdenkcn  und  die  Hoffnung  aus- 
zuspreclien,  dass  der  Geographie  in  Zukunlt  ihr  jetziger  Besitzstand 
gewahrt  bleiben  möge.  Jeder  Gewinn  der  einen  der  beiden  Wissen» 
Schäften  wird  der  anderen  zu  gute  kommen,  jeder  Verlust  der 
anderen  die  erstere  schädigen.  Auf  Grund  eines  reichen,  im 
Geog^aphieunterrichte  nach  und  nach  zu  erarbeitenden  geologischen 
Tatsachenmatcriales  würde  dann  dem  abschliessenden,  oben  genauer 
uim'enzten  biolc^ischen  Kursus  der  Prima  noch  die  besondere 
Au%abe  zufallen,  innerhalb  des  Rahmens  der  allgemeinenKntwicklungs> 
^eschiclite  rinsprcr  Erde  die  grossen  geologischen  Faktoren  zu- 
sammcnhän^^end  zu  würdigen,  die  einst  unsere  Krdoberfläciie  formten 
und  die  noch  beständig  am  Werke  sind,  sie  umzugestalten. 

Durch  die  gekennzeichnete  Verteilung  des  Lehrstoffes  wird  der 
Chemie  innerhalb  des  Lehq:jlancs  eine  gewisse  zentrale  Stellung 
angewiesen,  und  solcher  Kristalhsaiionspunkte  bedürfen  wir  dringend ; 
denn  sicher  besteht  eine  Schwäche  des  gegenwärtigen  naturwissen- 
schaftlichen Unterrichts  neben  seiner  bisher^en,  vielfach  verfehlten 
Lehrmethode  in  seiner  Zersplitterung  nach  getrennten  Dis/ipHnen, 
die.  obwohl  sie  sich  gegenseitig  ergänzen  und  aufeinander  angewiesen 
sind,  doch  nacheinander  statt  nebeneinander  betrieben  werden. 
Naturwissenschaft  soll  aber  auch  in  der  Schule  als  Einheit  aufgefasst 
werden  und  sich  des  Zieles  der  modernen  Wissenschaft  erinnern, 
die  Einheit  der  Natur  immer  mehr  zu  begreifen.  Unter  allen  natur- 
wissenschaftlichen Disziplinen  wüsste  icli  aber  keine  zu  nennen,  der 
ein  so  hervorragend  assoziativer  Charakter  zukäme  als  der  Chemie. 
JSac  erecheint  in  exster  Linie  dazu  berufen,  gegenüber  der  Zer- 
splitterung der  nebeneinander  herlaufenden  Fächer  wieder  einen 
Sammelpunkt  zu  bilden,  der  kaleidoskopartigen  Mannigfaltigkeit  der 
organischen  und  anorganisciien  Hrscheinungen  gegenüber  wieder  die 
Einheit,  das  alles  umspannende  Gesetz  zu  betonen."')  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  erscheint  auch  die  Behandlung  einiger  Kapitel 
aus  der  organischen  Chemie  unerlässll(  h.  Auch  wenn  sich  die 
Belehrung  über  die  Konstitution  der  Kohlenstoffvcrbindungcn  auf 
ein  typisches  Beispiel  besciiränkt,  braucht  sie  durchaus  nicht  obcr- 
fiächhch  zu  sein;  denn  der  Werl  beruht  einmal  in  der  Klärung  der 
theoretischen  Kenntnisse  (Gresetz  der  multiplen  Proportionen,  Wertig« 
keit  der  Elemente),  vor  allem  aber  darin,  dass  damit  erst  die  Grenze 
zwischen  anorganischen  und  oiganischen  Verbindungen  fiberbrück* 


')  Norrrnhci^'  in  Lexu,  Die  ReforiD  des  höheren  Schulwesens  in  Preussen. 
HaUe  190»^  ^-  3^- 


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—    io8  — 

bar  wird  und  die  Stoffwechselvoi^;ange  als  chemisches  Geschehen 

erscheinen. 

SchulLcchnisch  ist  es  nun  völlifj  ausgeschlossen,  die  Kraj^c  eines 
erweiterten  chemischen  Unterrichtes  dadurch  zu  lösen,  dass  man 
auch  für  die  Chemie  noch  weitere  Stunden  in  den  oberen  Klassen 
des  Seminars  fordert.  Bei  der  Mannigfaltigkeit  der  in  unseren 
Oberklassen  zu  lösenden  Aiiff^nben  werden  wir  schon  sehr  (dankbar 
sein  müs'^en.  wenn  sich  der  biologische  Unierricht  mit  riner  Stunde 
von  Tertiü.  ab  bis  l'rima  durchführen  lässt.  Also  kann  nur  eine  Ver- 
schiebung des  chemisch-mineralogischen  Unterrichtes  nach  unten  hin 
in  Frage  kommen.  Ais  Minimum,  unter  das  man  m.  E.  unter  keinen 
Umständen  herabgehen  sollte,  sehe  ich  etwa  das  Folgende  an:  Der 
jetzigen  Quinta  würden  mit  2  Stunden  vor  allem  die  Nichtmetalle, 
der  Quarta  gleichfalls  mit  2  Stunden  die  übrigen  Nichtmetalle  und 
die  Leichtmetalle,  der  Tertia  mit  2  Stunden  die  Schwermetalle, 
sowie  die  Grundlagen  der  organischen  Chemie  zuzuweisen  sein. 
Ich  beschränke  mich  auf  die  Forderung  von  6  Stunden  für  die 
Chemie  und  Mineralogie;  das  Realgymnasium  besitzt  gegenwärtig 
lo  Stunden  für  beide  Fächer. 

Diese  Verlegung  des  chemischen  Unterrichtes  nach  unten  föhrt 
mich  zu  einer  zweiten  Forderung  bezüglich  der  exakt  naturwissen- 
schaftlichen Fächer.  Wenn  in  dem  jetzigen  Lehrplan  einerseits 
beklagt  werden  muss,  dass  er  für  die  biologischen  Fächer  nur  einen 
Unterbau  kennt,  dem  der  krönende  Abschluss  in  den  Oberklassen 
fehlt,  so  verfallt  er  bezüglich  des  physikalisch  -  chemischen  Unter- 
richtes in  den  entgegengesetzten  Fehler.  Es  muss  aus  verschiedenen 
Gründen  lebhaft  beklagt  werden,  dass  das  sächsische  Seminar  keinen 
Unterbau  für  den  physikalischen  Unterricht  besitzt,  wie  ihn  z.  B. 
die  preussischcn  Anstalten  aufweisen  und  wie  er  auch  seit  länger 
als  30  Jahren  an  den  österreichischen  Gymnasien  mit  grösstem 
Erfolge  durchgeführt  ist.  Beklagenswert  zunächst  einmal  deshalb, 
weil  durch  unsere  jetzige  Einrichtung  die  Kontinuität  mit  dem 
Physikunterrichtc  der  Volks^rluile  völlig  zerrissen,  das  dort  ge- 
wonnene Wissen  auf  Jahre  hinaus  unter  den  vielen  neuen  Ein- 
drücken des  Seminars  völlig  begraben  und  das  bei  den  Knaben  so 
lebhafte  Interesse  för  physikalische  Dinge  wieder  künstlich  erstickt 
wird.  Das  lehren  die  täglichen  Erfahrungen  im  botanischen  und 
zoologischen  Unterrichte,  der  auch  in  unseren  l'-^^  -^klasscn  nicht 
ohne  ein  nicht  zu  g'eringes  Mass  jtliysikalischer  kcnntiiisse  aus- 
kommen kann.  Aber  nichl  nur  aus  Rücksicht  auf  das  Verständnis 
der  lebenden  Natur  erscheint  es  dringend  geboten,  gewisse  phy»* 
kaiische  Fragen  in  den  unteren  Klassen  in  den  Kreis  der  Betrachtung 
zu  ziehen.  Unser  physikalischer  Unterricht  der  drei  Oberkln-^^^srn 
mit  seinen  6  Stumien  bedarf  dringend  einer  iMitlastung,  wenn  auch 
für  das  Seminar  nur  annähernd  das  von  der  Unten  ichtskommission 
formulierte  Ziel  erreicht  werden  soll,  dass  der  physikalische  Unter- 


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—   I09  - 


rieht  „als  Vorbild  für  die  Art  7.u  dienen  habe,  wie  überhaupt  im 
Bereiche  der  Erfahrungswisscnschaficn  Erkenntnis  gewonnen  wird". 
Ich  glaube  ferner,  unsere  Tertianer  und  Sekundaner  empfinden  es 
selbst  manchmal  als  ihrer  nicht  ganz  würdig,  wenn  ae  noch  mit 
gewissen  einfachen  Sachen  und  Apparaten  traktiert  werden,  deren 
Verständnis  nicht  einmal  über  das  Fassunj^vermö{»en  eines  Kindes 
hinausgeht.  Anderseits  gilt  es  zu  bedenken,  dass  unsere  ph)'si- 
kaiischen  Erkenntnisse  gerade  in  dem  letzten  Jahrzehnt,  insbesondere 
auf  dem  Gebiete  der  Wärme-  und  Elektrizitatslehre,  durch  eine 
solche  Fülle  bedeutsamer  und  allgemein  wichtiger  Erscheinungen 
bereichert  worden  sind ,  dass  wir  an  ihnen  nicht  mehr  achtlos 
vorübergehen  können.  Ich  erinnere  auch  nur  an  die  amtlich 
geforderte  vertiefte  Behandlung  der  Meteorologie.  Selbst  bei  Ein- 
führung eines  Unterkursus  wird  es  auf  der  Oberstufe  bei  der  Mannig- 
faltigkeit des  physikalischen  Stofifes  auch  in  Zukunft  immer  nur  mög- 
lich sein ,  einzelne  ausgewählte  Ka])itel  gründlich  durchzuarbeiten, 
während  grosse  Gebiete  nur  oberflächlich  gestreift  werden  können. 

Endlich  erfordert  auch  der  chemische  Unterricht  gebieterisch 
einen  derartigen  Unterbau.  Die  Schulchemie  kommt  nun  hoffimtlich 
recht  bald  über  jenen  Standpunkt  zahlreicher,  auch  neuester  Schul- 
Ichrbücher  hinaus,  die  die  moderne  Entwicklung  der  Chemie  nicht 
kennen  und  die  sie  noch  künstlich  auf  dem  Standpunkte  einer  rein 
beschreibenden  Wissenschaft  zurückhalten,  die  sich  darauf  be- 
schrankt, die  diemischen  Grundstoffe  und  ihre  Verbindungen  mit- 
zuteilen  und  zu  demonstrieren.  Sie  besinnt  sich  hoffentlich  bald 
darauf,  dass  die  grossen  Gebter,  ein  Boyle,  ein  Dalton,  ein  Davy 
Physiker  und  Chemiker  in  einer  Person  waren  und  erinnert  sich, 
welchen  theoretischen  Gehalt  die  neuere  chemische  Wissenschaft 
aus  der  Vereinigung  mit  der  Physik  in  der  physikalischen  Chemie 
gezogen  hat  Das  einzig  Mögliche  wird  in  Zukunft  sein,  unter 
völligem  Verzicht  auf  hergebrachte  systematische  Einteilung  der 
Physik  zu  einer  gemeinsamen  Behandlung  der  Anfange  der  Physik 
und  Chemie  zurückzukehren  und  ohne  theoretische  Vertiefung 
experimentell  die  allgemeinen  Eigenschaften  der  Stoffe,  ihre  Ände- 
rungen und  deren  Ursachen  vorzufiihren.  Ich  muss  es  mir  leider 
aas  Mangel  an  Zeit  versagen,  denjenigen  Stoff  genauer  zu  um- 
i>;ren7cn,  der  in  einen  derartigen  physikalisch-chemischen  Vorkursus 
hmcmgehören  würde.  Ks  ist  eme  grosse  Aufgabe  der  Zukunft, 
eine  derartige  Neugruppicrung  des  Stofifes  in  dem  skizzierten  Sinne 
durchzuföhren;  sie  wird  sicher  auch  für  die  Oberstufe  kommen;  nur 
dürfte  dazu  noch  ein  gehöriges  Stück  Denkarbeit  zu  leisten  sein. 

Durch  diesen  in  grossen  Zügen  entworfenen  Plan  würde  sir  h 
auch  für  den  physikalisch-ciiemischen  I/nterricht  ein  folgerichtiger 
Aufbau  ergeben,  in  den  die  unterste  Klasse  organisch  einbezogen 
eischeint  Sollte,  wie  dies  aus  Gründen  der  allgemeinen  Staats- 
raison  scMiessfich  zu  erwarten  ist,  die  zukünftige  siebente  Seminar* 


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klasse  unten  angegliedert  werden,  so  halte  ich  es  namfich  för  völlig 
ausgeschlossen,  dieser  Septima  etwa  2  Stunden  ph3rukalischen 
Unterricht  mit  der  Lehraufgabe  zuzuweisen,  die  für  die  erste  Klasse 
unserer  mittleren  Volksschulen  vor<^eschricbcn  ist.  Rücksichten  auf 
Schüler,  die  sich  wäluend  dieses  Jahres  als  ungeeignet  zeigen  und 
die  dann  bei  ihrem  Abgange  nach  einem  Jahre  gegenüber  den 
Volksschülem  in  ihrer  BUdung  benachteiligt  sein  würden,  können 
für  uns  nicht  massgebend  sein,  wo  es  sich  darum  handelt,  die 
geringe  Zeit ,  die  den  Naturwissenschaften  im  Gesamtlehrplane  des 
Seminars  bewilligt  werden  kann,  auf  das  ökonomischste  auszunutzen. 

m. 

Mit  wenigen  Worten  mödite  ich  noch  die  letzte  unserer 

Forderungen  für  den  naturwissenschafUidien  Unterricht  berühren; 
sie  betrifft  die  praktischen  Schülerübung^cn.  Meinen  Standpunkt  in 
dieser  hochbedeutsamen  Frage  möchte  ich  kurz  in  folgender  Weise 

präzisieren : 

Wenn  an  allen  höheren  Schulen  über  die  raangelhaiteu  Erfolge 
im  naturwissenschaftlichen  Unterricht  geklagt  wird,  so  sind  diese 
neben  der  ungenügenden  Unterrichtszeit  wesentlich  mit  auf  die  bis- 
herige verfehlte  Unierrichtsmcthodc  zurückzuführen.  Wir  werden 
erst  dann  die  in  dem  jetzigen  Vortrags-  und  Demonstrations- 
unterrichte hegenden  Mängel  und  Einseitigkeiten  überwinden,  erst 
dann  aus  dem  vielfach  auch  in  unseren  Stunden  herrschenden 
VerbaUsmus  herauskommen  und  unsere  Aufgabe  voll  lösen  können, 
wenn  wir  einen  für  alle  Schüler  verbindlichen  Laboratoriumsunter- 
richt  besitzen,  durch  den  allein  eine  intensivere,  individuelle  Be- 
tätigung der  Schüler  erreicht  werden  kann.  In  ausgezeichneter 
Weise,  von  völUg  neuen  psychologischen  Gesichtspunkten  aus,  hat 
Herr  Seminaroberlehrer  Frey  in  seinem  jüngst  erschienenen  „Physi- 
kalischen Arbeitsunterricht"  diese  Idee  aufgenommen  und  einen  aus» 
führlichcn  Lehrplan  für  die  Unterstufe  entwickelt. 

Und  dennoch  ist  es  äusserst  ^rhwer,  bestimmte,  völlig  ab- 
geglichene Vorschläge  für  die  praktische  Durchführung  zu  machen. 
Denn  so  sehr  man  auch  innerlich  von  der  unentbehrlichen  Not- 
wendigkeit  derartiger  Übungen  überzeugt  sein  mag,  die  eigentlichen 
Schwierigkeiten  beginnen  eben  erst  bei  der  praktischen  Durch- 
führung. Es  gilt,  die  Ansprüche  der  verschiedenen  naturwissen- 
schaftlichen Disziplinen  gegeneinander  auszugleichen,  da  das,  was 
man  dem  Physiker  gewährt,  dem  Chemiker  und  Biologen  gleich- 
falls nicht  bestritten  werden  kann.  Dazu  kommt  die  sehr  wesent- 
liche finanzielle  Seite  der  Angelegenheit:  neben  den  nicht  un- 
beträchtlichen Einführung?-  und  Unterhaltungskosten  ph>^ikalischer 
und  biologischer  Schülerübungen  die  grosse  Zahl  der  als  volle 


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—   III  — 


Lehrstunden  in  den  Stundenplan  einzurechnenden  Übungsstunden; 
endlich  nicht  an  letzter  Stdie  die  leidige  Zeitfrage;  denn  für  mich 
Uegt  die  Sache  so:  Lieber  für  die  nächste  Zukunft  zunächst  einmal 

einen  tüchtigen  und  ausreichenden  Klassenunterricht  ohne  Schüler- 
übun^en ,  als  wie  bi'^hcr  einen  mangelhaften  unzureichenden  Unter- 
richt mit  unzureichenden  Übungen,  wie  sie  die  Grüihchsche 
Obungsstunde  zulässt* 

Man  tausche  sich  doch  ja  nicht  darüber,  dass,  wenn  in  allen 
solchen  Übungen  etwas  erreicht,  wirklich  gearbeitet  werden  soll, 
dann  in  erster  Linie  genügende  Zeit  zur  Verfügung  stehen  muss. 
Was  lässt  sich  denn  in  den  45  Minuten  einer  solchen  Übungsstunde, 
die  bei  uns  in  Friedrichstadt  mit  der  Schulpraxisstunde  zusammen- 
Mt,  wirklich  leisten?  Da  die  Übungen  im  physikalischen  Lchisaal 
abgehalten  werden  müssen,  lassen  sie  sich  zunächst  nicht  sorgfältig 
genug  vorbereiten;  die  vorhergehende  Erholungspause,  die  der 
naturwissenschaftliche  Lehrer  ja  überhaupt  gewöhnt  ist  seinen  be» 
neidenswerten  Kollegen  allein  zu  überlassen,  ist  völlig  ausgefüllt, 
um  die  Apparate  der  vorhergehenden  Lehrstunde  wieder  an  Ort 
und  Stelle  zu  bringen.  Dazu  kommen  die  unangenehmen  Kompli> 
kationen  mit  der  Schulpraxis,  die  es  den  Schülern  unmöglich  machen, 
den  aufgestellten  Verteilungsplan  einzuhalten,  ferner  die  allgemein 
bekannte  UnbehiUlichkeit  und  Unerfahrcnheit  der  Schüler,  durch 
die  kostbare  2^t  versäumt  wird,  die  Unmöglichkeit,  die  Schüler 
noch  einige  Minuten  länger  festzuhalten  und  eine  begonnene  Ver- 
•suchsreihe  zu  Ende  führen  zu  lassen  u.  a.  mehr.  Da  von  jeder 
Lehrpraxissektion  nur  ein  Schüler  entbehrt  werden  kann,  so  steilen 
lur  eine  Stunde  nur  4 — 5  Schüler  zur  Verfügung  ^  der  einzelne 
Schüler  hat  demnach  nur  5 — 6  mal  im  Jahre  in  Zyrischenräumen  von 
7 — 8  Wochen  Gelegenheit,  einmal  praktisch  Stunde  tätig  zu  sein 
und  eine  Untersuchung  anzustellen.  Dass  eine  derartige  Institution 
keinen  Krfolg  haben,  nicht  zur  liebevollen  Vertiefung  in  die  Problcn\e 
führen  und  im  Schüler  nicht  das  Bewusstsein  von  der  Notwendigkeit 
und  Nützlichkeit  solcher  Übungen,  von  dem  Segen,  der  von  ihnen 
ausgeht,  wecken  kann,  steht  für  jeden  Einsichtigen  fest.  Ich  bin 
überzeugt,  dass  der  Gewinn  f::r  beide  Teile  L^rösser,  der  Kraft-  und 
Zeitverlust  gcriuf^er  sein  wurtie,  wenn  an  Stelle  einer  derartigen 
Übungsstunde  noch  eine  dritte  Urtterichtsstundc  zur  Verfügung  stände, 
die  zur  weiteren  Vertiefung  des  gewonnenen  Lehrstoffes  dienen 
könnte,  etwa  in  der  Weise,  dass  einige  Schüler  vor  der  Klasse 
abwechselnd  praktisch  arbeiten,  ilie  übrigen  aber  beobachten,  be- 
urteilen, verbessern.  In  der  jetzt  getroffenen  h.inrichtun^  erblicke 
ich  ein  pädagogisches  Mätzchen,  durch  das  die  hohe  moderne 
Idee  des  schaffenden  Lernens  nur  in  Misskredit  gebracht  werden 
kann.  Vielleicht  liegen  an  den  Seminaren  des  Landes  die  Ver- 
haltnisse günstiger  als  bei  uns,  wo  die  Grossstadt-  und  Externats- 
verhäknisse  überall  hindernd  im  Wege  stehen.   Doch  dürften  sich 


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—     112  — 


auch  draussen  nur  wenige  Herren  finden,  deren  Idealismus  so  weit 
geht,  dass  sie  jede  Woche  bereit  sind,  6  Stunden  und  mehr  ihrer 
Freizeit  für  eine  Tätigkeit  zu  opfern,  die  wahrlich  nicht  zu  geringe 
Anforderunpi^en  an  (]cn  Lehrer  stellt.  Darum  meine  ich:  Praktische 
Schülerühungen  werden  nur  dann  von  Erfolg  begleitet  sein,  wenn 
ihnen  eine  ausreichende  Zeit  zur  Verfügung  gestellt  wird.  Als 
Minimum  wird  man  zwei  Nachmitt^rsstunden  fordern  müssen,  in 
denen  ohne  Pause  durchgearbeitet  werden  kann«  Angenommen 
aber,  wir  fordern  für  jede  Klasse  zwei  Stunden  praktischer  Übungen, 
wie  sie  das  Lübecker  Seminar  bereits  besitzt,  was  ergibt  sich  in 
der  Praxis  daraus?  Natürlich  kann  damit  nicht  gemeint  sein,  dass 
jeder  Schuler  jede  Woche  2  Stunden  lang  praktisch  arbeiten  soll. 
Nehmen  wir  eine  vollkommene  Organisation  an,  bei  der  jede  Klasse 
in  Gruppen  zu  je  12 — 15  Mann  zerlegt  würde,  die  in  gleicher  Front 
arbeiten  und  alle  14  Tage  abwechseln,  etwa  mit  folgenden  Auf- 
gaben : 

In  den  Unterklassen  zunächst  nach  der  Frey 'sehen  Idee  eine  Ver- 
schmelzung des  Handfertigkeitsunterrichtes  mit  dem  physilcriischen 
Unterrichte  der  Unterstufe  zu  einem  physikalischen  Arbeitsunterrichte. 
Daneben  herlaufend  ein  biologischer  Arbcitsuntcricht,  der  sich  zu- 
nächst auf  biologische  Exkursionen,  auf  Heobachtuiigen  und  Arhcitcn 
im  Schulgarten,  auf  Übungen  im  Bestimmen  von  Tieren  und  i iianzen, 
auf  das  Anlegen  von  Sammlungen,  später  auf  mikroskopische 
Übungen  und  pflanzenphysiologische  Experimente  erstrecken  mfisste, 
in  den  Oberklassen  endlich  phj'sikalisch-chemische  Übungen  nach 
den  Prinzipien  von  Hermann  Hahn,  verbunden  mit  obligatorischen 
Besichtigungen  technischer  Anlagen  und  Betriebe. 

Dann  ergeben  sich  insgesamt  14  Stunden.  Wenn  man  weiss, 
welches  Mass  von  Umsicht,  Arbeitskraft  und  Energie  des  Lehrers 
erforderlich  ist,  um  die  Anleitung,  Bcaufsichti^unrr  und  ständit^c 
Kontrolle  der  Schüler  bei  einem  Gruppenunterrichte  dur(  li/ulühren, 
dann  muss  man  unbedingt  fordern,  dass  diese  Übungsstunden  dem 
betreffenden  Fachlehrer  als  volle  Lehrstunden  angerechnet  werden, 
ja  es  erscheint  nicht  einmal  die  neuerdings  erhobene  Forderung 
unbillig,  auch  die  Vorbereitunf^sstundc  für  solche  Übun^i^sstunden 
als  Pflichtstunde  anzurechnen.  Wir  gelangen  dann  von  den  bisherigen 
14  naturwissenschaftlichen  Stunden  des  6  klassigen  Seminars  auf  41 
naturwissenschaftliche  Stunden  im  siebenjährigen  Kursus  (27  Unter- 
richts- und  14  Übungsstunden).  Ks  würden  dann  in  Zukunft  vom 
Seminar  allein  2  naturwissenschaftliche  Lehrkräfte  voll  beansprucht 
Für  unsere  Fächer  würde  dies  allerdings  von  grösstem  .Segen  sein; 
es  würde  dann  sowohl  der  biologische  als  auch  der  physikalisch- 
chemische Unterricht  einen  ganzen  Mann  und  diesen  ganz  be- 
anspruchen. Es  wurde  der  physikalische  Unterricht  nidit  mehr  von 
dem  reinen  Mathematiker  als  eine  angenehme  Abwechslung  seiner 
mathematischen  Tätigkeit  beansprucht  werden  können,  der  biologische 


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Unterricht  nicht  mehr  als  ein  Anhängsel  an  der  Tätigkeit  des 
Geographen  erscheinen.  Es  würde  dann  der  zukänfüge  Biologe 
oder  Physiker  nicht  mehr  unter  der  beklagenswerten  und  Verhängnis- 

vollen  Zersplitterung  zu  leiden  haben,  die  gegenwärtig  den  Natur- 
wissenschaftler am  Seminar  zu  keiner  rechten  Vertiefung  und  zum 
intensiven  VVeitcrstu>Jiuiu  m  seinen  Fächern  kommen  iässt.  Es  würde 
dann  hoffentlich  jene  so  oft  wiederholte  Phrase,  die  sicher' nüt  zu 
einem  guten  Teile  zur  Unterschatzung  der  Seminarlehrer  und  ihrer 
Tätigkeit  beigetragen  hat,  v  erstummen,  dass  man  von  einem  Seminar- 
lehrer alles  verlangen  könne  und  müsse. 

Die  höheren  finanziellen  Kosten  dürfen  uns  nicht  veranlassen, 
auf  unsere  prinzipielle  Forderung  der  Einführung  praktischer  natur- 
wissenschaftlicher Übungen  zu  verzichten,  um  so  weniger,  als  es 
gerade  am  Seminar  leicht  ist,  auf  die  grossen  Kosten  lünzuweisen, 

die  die  Ausbildung  der  Schüler  in  anderer  Richtung  erfordert.  Es 

würde  wenigstens  für  den  Staat  sowohl  wie  für  die  Öffentlichkeit 
von  sehr  erheblichem  Interesse  sein,  wenn  man  einmal  cm  1  xcmpe! 
darüber  aufmachen  wollte,  wie  teuer  ein  einziger  Kirchschuilehref 
dem  Staate  zu  stehen  kommt 

Endlich  müssen  wir  aus  hygienischen  Gründen  für  einen  der- 
artigen Ausbau  unseres  naturwissenschaftlichen  Unterrichtes  eintreten. 

Nicht  nur,  dass  wir  durch  Arbeiten  im  Freien,  durch  zahlreiche 
Exkursionen,  durch  körperliche  Ausarbeitung  an  der  Hobel-  und 
Drehbank  unsere  Schüler  körperlich  fördern,  nein,  noch  mehr,  wir 
werden  die  Überbürdungsfrage  zu  einem  guten  Teile  lösen,  wenn 
wir  gegenüber  unserem  jetzigen  Klassenunterrichte,  bei  dem  immer 
nur  in  das  arme  Schülerhim  hineinfiltriert  und  -gepfropft  wird,  als 
Korrelat  Beschäftigungsweisen  schafTcn,  die  einer  gesunden  geistigen 
Hygieiit:  Rechnung  tragen,  das  Interesse  des  Schülers  tief  crrei^'^en 
und  scnic  Selbsttätigkeit  in  ureigener  Weise  befruchten.  iiicrnuL 
betreten  wir  völliges  Neuland  einer  zukünftigen  Pädagogik,  und  wenn 
uns  heute  am  Anfange  dieser  grossen  Bewegung  unserer  Tage  auch 
mehr  das  Ziel  in  allgemeinen  Umrissen  als  bereits  der  bis  in  das 
Einzelne  gehende  Plan  klar  vor  Augen  stehen  mag,  so  müssen  wir 
doch  einmütig  zusammenstehen  in  der  letzten  Forderung: 

Aul  allen  Klassenstufcn  ist  der  naturwissenschaftliche  Unterricht 
durch  praktische  Übungen  zu  ergänzen,  die  wöchentlich  in  zwei 
hintereinander  liegenden  Nachmittagsstunden  abzuhalten  sind, 

IT. 

^ehen  wir  das  Resumc  unserer  Forderungen  für  den  natur* 

wissenschaftlichen  Unterricht!  Wir  gelangen  nach  eingehendster 
Erwägung  aller  in  1  rage  kommenden  Momente  für  einen  zukünftigen 

Pld>(osUelM  Stadien.  XXIX.   S.  8 


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—  114  — 

siebenjährigen  Seminarkursus  zu  folgendem  Verteilungsplan  der 
einzelnen  naturwissenschaftlichen  Disziplinen: 

VII    VI    V     IV    m     u     I  Sa. 

Biolu^^ic  3S33III  ff 

Pbysikalhcb*chcjnischcr 

Vorkami  ±  i 

Choirie  and  Mincnlogie  »        »  t 

Physik  3        S  a 

NaturwisMDieliaAliche 

Übungen  9       t      2       9       t       m       »  14 

Für  die  naturwissenschaftlichen  Lehrstunden  wird  demnach  eine 

Krhöhung  der  jetzic^rn  Gesamtstundcnz.ihl  von  14  auf  27  Stunden 
für  notwcndi(T  erachtet.  Ist  diese  Forderung  als  eine  unbescheidene 
zu  bezeichnen  ?  Trägt  sie  von  vornherein  den  Stempel  des  Utopischen, 
des  nicht  Reafisieibaren  an  sich? 

Es  würde  wenig  eispriesslich  sein,  hier  eingehende  Vergleiche 
mit  den  Stundenzahlen  für  die  Naturwissenschaften  an  den  übrigen 

höheren  Lehranstalten  anzustellen.  Einerseits  muss  man  bedenken, 
dass  die  meisten  der  jetzt  geltenden  Lchr))'änc  noch  nicht  von  der 
auf  die  Erweiterung  der  naturÄ'issenschaftlichen  Ausbildung  ab- 
zielenden Reformbewegung  berührt  sind ;  anderseits,  dass  die  eigen- 
artige Aufgabe  des  Seminars,  besonders  seiner  Oberklassen,  es 
unmöglich  macht,  auf  einen  naturwissenschaftlichen  Betrieb  hin- 
zuarbeiten ,  wie  er  etwa  für  die  Oberrealschulc  charakteristisch  ist. 
Ein  Vergleich  mit  dieser  Schulgattung  kann  ebensowenig  in  Frage 
kommen  wie  ein  solcher  mit  den  völlig  rückständigen  naturwissen- 
schaftlichen Lehrplanen  der  klassischen  Gymnasien.  Am  nächsten 
liegt  noch  ein  Vergleich  mit  den  gegenwärtig  geltenden,  also  noch 
nicht  von  der  erstrebten  Reform  berührten  Lchrplänen  der  sächsischen 
Realcrymnasien  vom  22.  Dezember  1902,  die  den  Naturwissenschaften 
in  den  unseren  Seminarklassen  gleichstehenden  Klassen  IV^ — Ol 
25  Stunden  zuweisen. 

Von  diesen  25  Stunden  werden  aber  der  Biologie  nur  4  Stunden, 

je  2  in  IV  und  UIH  zugebilligt.   In  dieser  Kl^e  schliesst  die 

Biologe  im  allg'emcinen  ab,  nur  in  I'H  <=oIIcn  im  Anschluss  an  die 
Paläontülof^ie  VViederholunfjcn  aus  Zoolu^ic  und  Botanik  stattfinden. 
Die  Mineralogie  mit  Einschluss  der  Geologie  besitzt  4  Stunden,  je 
2  in  Om  und  Un,  die  Chemie  6  Stunden,  je  2  in  OU,  UI  und  Ol, 
während  für  die  Physik  11  Stunden,  2  Stunden  in  Uli,  je  3  in  OII» 
UI  und  Ol  anc^rsct/t  sind.  Dem  gefjcnühcr  wird  die  oben  vor- 
geschlafxf"ne  Verteilung  den  i  in/t  inen  Fächern  entschieden  f^erechter. 
Sie  nimmt  zwar  der  Physik  das  ihr  bisher  so  wenig  bestrittene 
Recht,  auf  der  Oberstufe  die  gesamte  Zeit  fUr  sich  zu  beanspruchen; 
sie  schafft  aber  für  diese  Einbusse  in  den  Oberklassen  einen  Aus- 
gleich dadnrrh,  dass  sie  für  die  Physik  eine  deutliche  Scheidung  in 
eine  Unter*  und  Oberstufe  vorsieht   Sie  billigt  ferner  der  Chenüe 


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—    US  — 


mit  Etnschluss  der  Mineralogie  nur  6  Stunden  zu  und  verweist  diese 
mehr  in  die  mittleren  Klassen;  doch  werden  diese  Nachteile  reichlich 

au%e\^o;7rn  durch  die  notwendigen  Zugeständnisse  an  die  Biolc^e» 
die  mit  11  Stunden  bis  zur  i.  Klasse  durchgeführt  erscheint. 

Die  Beantwortung  der  Fracke  nach  der  Durchführbarkeit  unserer 
Forderungen  setzt  voraus,  dass  man  die  Seminarreformfrage  in  ihrer 
gesamten  Breite  aufrollt  Das  aber  würde  weit  über  den  Rahmen 
der  vorliegenden  Arl)eit  hinausgehen;  und  so  k(>nnen  hier  nur  kan 
die  widl1%stcn  Leitgedanken  der  Reform  ohne  eingehende  Be- 
gründung angedeutet  werden.   Es  würden  etwa  die  folgenden  sein: 

1.  Gegenüber  allen  weitgehenden  Reformplänen,  die  das  Seminar 
in  seiner  jctzie^cn  Gestalt  überhaupt  beseitigen  und  eine  vollkommene 
Trennung  der  aligemeinen  und  der  BerufsbUdung  des  Lehrers  durch- 
fuhren woUen,  wird  im  gc^'cnwäxtigcn  Zeitpunkt  der  geschichtlichen 
Ent^ndduog  eine  auf  die  Vertiefung  und  Erweiterung  der  Lehrer- 
bildung gerichtete  Neuorganisation  der  Lehrplane  an  das  faistorisdi 
Gegebene  und  Gewordene  anknüpfen  müssen. 

2.  Insbesondere  erscheint  es  notwendig,  dass  das  so  schwer 
um  anerkennende  Würdigung  seiner  Bildung  ringende  Seminar 
auch  in  Zukunft  an  der  bisiierigen  bewährten  Eigenart  des  sächsischen 
Seminars  festhalt  und  nicht  <ße  wissenschaftU^en  Fächer  zu  gunsten 
der  pädag<^|jschen  Fachwissenschaften  sowie  der  Einfülirung  in  die 
Schulpraxis  noch  weiter  aus  den  Obcrklassen  in  die  Mittelklassen 
hinabweist;  denn  so  sehr  man  auch  die  Unzulänglichkeit  der  jetzigen 
Einrichtungen  bezüglich  der  Einführung  in  die  Schulpraxis  atierkennen 
und  beklagen  mag,  so  wenig  erscheint  es  auch  im  siebenjährigen 
Kursus  möglich,  Abhilfe  zu  schaffen,  solange  man  wenigstens  die 
wissenschaftliche  Hebung  der  Seminarbildung  (Einführung  einer 
zweiten  Fremdsprache  etc.)  emstlich  will,  wie  unten  kurz  gezeigt 
werden  soll. 

3.  Um  die  jetzt  bestehende  Überlastung  der  Schüler  zu  beseitigen, 
ist  es  dringend  nötig,  die  Gesamtstundenzahl  der  einzelnen 
Klassen  herabzusetzen.  Der  jetzige  Lehrplan  weist  folgende 
Zahlen  iUr  die  einzelnen  Klassen  auf: 

VI  V  IV  III  II  I 

36ohl.-|- I  fak.  35olil.-[-4£ak.  34obl.-f-5fak.  35  obl.-j- 5  fak.  35  obl.-[-4  fak.  30obl.-|-4  fak. 

in  Summa  205  obl.  -f-  23  fak.  Unterrichtsstunden.  Man  sollte  nun 
m.  E.  in  Zukunft  nicht  über  32  obligatorische  und  4  fakul- 
tative, also  über  36  wöchentliche  Unterrichtsstunden 
hinausgehen;  denn  erwägt  man  einmal  naher,  wie  selbst  unter 

den  für  die  Zeiteinteilung  und  Zeitausnutzung  so  günstigen  Tnternats- 
verhältnissen  die  in  einer  Woche  zur  Vcrfir^ung  stehende  Zeit  von 
6x24  Stunden  ~  144  Stunden  in  angemessener  Weise  verleüt 
werden  könne,  so  ergibt  sich  etwa  Folgendes: 

8* 


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I.  Schlaf  pro  Tag  8  Staddcn  48  Stundea  |  ^ 

3.  Zeit  Air  MahUcitcn  uud  FrcUeit  „     „    6  36      „  f  ' 

3.  ArbdUttit  „     „    4     »,  \  60  Si 

4.  üntwichteeit  „    „    6     „  36      ..  /  °° 

144  Stundrn. 

Nimmt  man  die  durchschnittliche  Dauer  einer  Unterrichtsstunde 
zu  50  iVIinuten  an,  so  gelangt  man  bei  dieser  Zeit  Verteilung  zu  einem 
9stündi|fen  Arbeitstag.  Eine  derart^e  Überlegung  scheint 
an  sich  eigentlich  ebenso  überflüssig  zu  sdn  wie  der  Hinweis,  dass 
bei  der  Aufstcllun«]^  aller  Lehrpläne  in  erster  Linie  auf  die  Kapazität 
des  noch  in  der  Entwicklung  stehenden  Gehirns  Rücksicht  genommen 
werden  müsse.  Trotzdem  bleibt  die  auffallende  Tatsache  bestehen, 
dass  nicht  nur  die  zur  Zeit  geltenden  Lebrpläne  des  sachsischen 
Seminars,  sondern  auch  die  zaUreicher  anderer  höherer  Lehranstalten 
Deutschlands  die  Schüler  bis  zu  40  wöchentlichen  Unterrichtsstunden 
belasten,  während  man  in  ausserdeutschen  Ländern,  7..  B.  in  Frankreich 
und  England,  vielfach  mit  32,  ja  mit  28  wöchentlichen  Unterrichts- 
stunden an  den  höheren  Lehranstalten*)  auskommt. 

Bd  einer  wöchentlichen  Cresamtzahl  von  36  Unterrichtsstunden 
würde  es  unter  der  Voraussetzung  eines  durchgehenden  5  stündigen 
Vormittagsunterrichtes  möglich  sein,  drei  unterrichtsfreie 
Nachmittage  zu  gewinnen,  \on  denen  der  erste,  modernen 
hygienischen  Forderungen  entsprechend,  als  obligatorischer 
Spielnachmittag,  ein  zweiter  für  die  naturwissenschaft- 
liehen  Übungen  nutzbar  gemacht  werden  könnte,  während  der 
dritte  völlig  frei  sein  würde.  Dann  stehen  in  dem  siebenjährigen 
Seminarkursus  insge5;amt  224  obligatorische  und  28  fakultative  Lehr- 
stunden zur  Verfügung,  deren  gerechte  Verteilung  auf  die  einzelnen 
Unterrichtsfacher  das  eigentlich  zu  lösende  Problem  darstellt  Über 
die  folgenden  Fragen  dürfte  dabei  mehr  oder  weniger  allgemeine 
Übereinstimmung  bestehen: 

Auch  in  Zukunft  wird  das  Seminar  in  dem  intensiven  Betriebe 
der  deutschen  Sprache  eine  seiner  Hauptaufgaben  erblicken  müssen, 
allerdings  nicht  in  einem  vorwiegend  grammatischen  Betriebe,  der 
einseitig  Gedächtnis  und  Verstand  ausbildet  und  dafür  Phantasie 
und  Gemüt  leer  ausgehen  lässt,  sondern  in  einem  Unterrichtei  der 
den  materialen  Wert  der  Lektüre  mindestens  eben  so  hoch  einschätzt 
als  die  formalbildeode  Kraft  der  Sprache.    Das  um  Anerkennung 

))  Aus  diesen  Gründen  erscheint  auch  der  Lehr  plan  des  Lübecker  Semmars ,  das 
für  die  NaturwiMefiacliaA««  einen  TorbildUchea  Vertefltmgwplaii  b«ittst,  naanaehmbw; 

denn  die  notwcndii^en  Konzessionen  an  die  Naturwissenschaften  haben  sich  hier  nur 
durch  eine  zu  schweren  Bedenken  AnUs»  gebende  Gesamtbelastung  der  Schüler  crreicbea 
laHcn  «rie  die  folgeiideii  ZaUen  «eigen: 

FrSpanuide  Seminar 

TTT  II  1  III  II  I 

59-i-4f.       36-l-sf.      35  +  6f.  37  +  6f.       37  +  6f.  40+6C 


—    117  — 


und  Gleichberechtigung  ringende  Seminar  wird  ferner  nicht  auf  daü 
Latein  verzichten  können,  das  mindestens  in  seinem  bisherigen  Um- 
fange weiter  betrieben  werden  muss.  Es  würde  sehr  wertvoll  sein, 
wenn  man  für  diese  beiden  Fächer  einen  Stundenumfang  erreichen 

könnte ,  wie  ihn  etwa  das  Real^^ymnasium  in  den  entsprechenden 
Klassen  IV — Ol  aufweist,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  das 
Seminar  das  Scliwerge wicht  auf  die  deutsche  Sprache  legt. 

Allgemein  herrscht  ferner  die  Überzeugung,  dass  sich  das 
Seminar,  wie  schon  eingangs  angedeutet  wurde,  nicht  länger  mehr 
der  Aufnahme  einer  modernen  Fremdsprache  entziclicn  kann.  Tritt 
man  diesem  Gedanken  näher,  dann  ist  freihch  auch  die  weitere 
Konzcssion  unausbleiblich,  der  modernen  Fremdsprache  soviel 
Stunden  zu  bewilligen,  dass  sie  in  einer  Erfolge  versprechenden 
Weise  gfelehrt  werden  kann,  vieUeicht  mit  3$  Stunden,  die  das 
klassische  Gymnasium  (lir  Französisdi  und  Englisch  in  den  Klassen 
IV— Ol  ansetzt. 

Endlich  erscheint  es  ausf^cschlosscn ,  dass  in  Mathematik, 
Geschichte,  Geo^'raphie  wesentUche  licrabmindcrunf^en  der  jetzt 
für  diese  Fächer  angesetzten  Stundenzahlen  vorgenommen  werden 
könnten.  Welche  Wege^  sind  also  einzuschlagen,  um  die  in  Bezug 
auf  die  naturwissenschaftliche  Ausbildung  der  zukünftigen  Lehrer 
ausgesprochenen  Reformgedanken  ihrer  praktischen  Verwirklichung 
näher  zu  führen?  Man  würde  die  für  die  Naturwissenschaften  ge- 
forderte Zeit  im  wesentUchen  gewaihren  können,  wenn  man  sich  zu 
folgenden  grundsätzlichen  Änderungen  cntschliesscn  würde! 

a)  Der  Religionsunterricht  ist  in  allen  Klassen  auf  3  Stunden 
zu  beschränken;  er  besitzt  dann  mit  21  Stunden  immer  noch  ein 
sehr  erhebliches  Plus  von  7  Stunden  gegenüber  den  14  Stunden 
Religionsunterricht  am  Gymnasium  und  Realgymnasium, 

b)  Der  musikalische  Unterricht  ist  für  die  .All- 
gemeinheit der  Schüler  zu  beschränken.  Es  ist  freilich 
kaum  zu  erwarten,  dass  die  Zeit  bei  uns  schon  dafür  reif  ist,  um 
jene  in  der  geschichtlichen  Entwicklung  begründete,  aber  für  das 
Lehrerbildungswesen  so  verhängnisvolle  und  unglückselige  Ver- 
quickung der  allgemeinen  Berufsbildung  des  Lehrers  mit  der  \'or- 
bereitung  zum  kirchlichen  Organistenamte  zu  lösen.  Ich  mürhte 
auch  nicht  so  weit  gehen  wie  Poliak,  der  bckannthch  die  Musik 
den  Schmarotzer  am  Baum  der  Ldirerbildung  genannt  hat;  ich 
verkenne  durchaus  nicht,  welches  wertvolle  und  eigenartige  Gut  im 
späteren  Leben  namentlich  des  Landschullehrers  eine  Ausbildung 
nach  der  künstlerischen,  der  musikalischen  Seite  hin  bedeutet ;  aber 
ich  bestreite  dem  Musikunterrichte  in  seinem  jetzigen  Umfange  die 
Existenzberechtigung  am  Seminar,  weil  er  die  Lösung  dringenderer 
und  viel  tiefer  mit  den  eigentlichen  Zwecken  des  Seminars  zu- 
sammenhängender Aufgaben  verhindert   Zum  mindesten  musste  im 


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—  n8  — 


zukünlugcn  Lehrplane  das  Eine  erreicht  werden,  dass  sich  der  in 
neuerer  Zeit  aufgetauchte  Gedaoke  der  „Bewegungsfreiheit"  der 
eine    grössere  Berücksichtigung   der   individuellen   Eigenart  der 

Schüler  auf  der  Oberstufe  anstrebt ,  auch  im  Seminar  Bahn  bricht. 
Wie  das  klassische  (lymnasium  nur  durch  eine  Gabelung  in  den 
Oberklassen  imstande  ist,  unter  Wahrung  seines  Charakters  Kon- 
zessionen an  die  Gegenwart  zu  machen,  so  wird  das  siebenklassige 
Seminar  seine  neuen  Aufgaben  (Einführung  der  modernen  Fremd- 
sprache, bessere  Ausbildung  nach  der  naturwissenschaftlichen  Seite 
hin  usw.)  nur  lösen  können,  wenn  es  mindestens  von  der  3.  Klasse 
ab  eine  Gabelung  zwischen  Eremdspraclilern  und  Vollmusikcrn  eio- 
treten  ISsst  und  die  musikalischen  Anforderungen  (Ur  die  übrigen 
Schüler  bedeutend  herabsetzt  Es  muss  der  Grundsatz  strikte  all- 
gemein durchgeführt  werden,  dass  ein  Schüler  nicht  neben  zwei 
fremden  Sprachen  gleichzeitig  noch  musikalischen  Vollunterricht 
betreiben  darf  und  umgekehrt.  Für  alle  Nichtmusikcr  ist  daher  in 
Zukunft,  wie  schon  jetzt  an  den  Lehrcrinnenseminaren,  der  Gesangs- 
unterricht auf  zwei  obligatorische  Stunden  zu  beschränken,  der 
Unterricht  in  Musiklehre,  Klavier-  und  Orgelspiel  von  der  3.  Klasse 
ab  fakultativ  zu  gestalten. 

Ich  weiss  freilich  genau,  dass  es  hier  noch  einen  harten  Kampf 
setzen  wird,  besonders  nachdem  der  Gesangsunterricht  in  jüngster 
Zeit  von  neuem  seine  hohe  phonetische  und  ästhetische  Aufgabe 
betont  Habe  ich  doch  vor  kurzem  erst  von  einem  Misker 
auf  meinen  Hinweis,  dass  sich  unter  solchen  Umständen  der  Deutsch- 
imtcrricht  in  Zukunft  mit  3  Stunden  wird  begnügen  müssen,  die 
Antuort  erhalten,  dass  die  Aufgabe  des  Gesangsunterrichtes  nicht 
weniger  wichtig  sei  als  die  des  Deutschunterrichtes  und  dass  er 
unter  allen  Umständen  an  der  Forderung  von  3  Gesangsstunden 
festhalten  müsse.  Gegen  eine  derartige  Behauptung  eines  Fach- 
mannes lässt  sich  al!erdlni:^s  nicht  viel  einwenden.  Die  Herren 
Musiker  haben  eben  bei  Zeiten  tüchtit^  \-or!^cbaut ;  ^)  sie  haben  zwar 
zum  Teil  sehr  gejammert  über  den  Verlust  der  schönen  Violine, 
sie  haben  sich  aber  wohl  gehütet,  von  der  Tatsache  etwas  zu  ver- 
raten ,  dass  zwar  durch  die  neuen  Bestimmungen  über  den  Musik- 
unterricht nn  den  sächsischen  Seminaren  die  Gesamtzahl  der  musi- 
kalischen Stunden  von  40  auf  33  herabgesetzt  worden  ist,  dass  sich 
aber  die  Zahl  der  für  alle  Schüler  absolut  verbindlichen  Musik- 
stunden infolge  der  obligatorischen  Einfährung  des  Harmonie« 
lehre-  und  des  Klavierunterrichtes  von  22  auf  27  erhöht  hat,  also 
für  die  Allgemeinheit  der  Schüler  keine  Verminderung,  im  Gegenteil 
eine  weitere  Vermehrung  des  musikalischen  Unterrichtes  stattgefunden 


*)  Die  folgende  kleine  Tabelle  zeigt  die  Verteilung  der  oblig»tori«chen  und 
bkoliatiTcn  Mtnikittinden  auf  Grand  der  alten  und  der  neuen  Beitimniangen  Tom 
30.  Januar  1907: 


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—   119  — 

hat  Ein  Fach  aber  wie  der  Gesangsunterricht,  filr  das  schon  jetzt 

in  allen  gegliederten  Volksschulen  besondere  Fachlehrer  angestellt 
sind,  ein  Fach,  mit  dem  sich  der  zukünftige  Landschullehrer  in  einer 
einzigen  Wochenstunde  beschäftigt,  das  kann  und  darf  in  Zukunft 
nicht  mehr  3  Stunden  bis  zur  Prima  hinauf  im  Seminarlehrplan  be- 
anspruchen, wenigstens  so  lange  nicht,  ab  nicht  wichtigere  Auf- 
gaben —  und  dazu  rechne  ich  insbesondere  auch  die  Fortführung 
des  biologischen  Unterrichtes  —  gelöst  sind.  Darum  hcisst  es  für 
alle,  die  für  eine  Erweiterung^  und  V'ertietung  des  wissenschaft- 
lichen Unterrichtes  am  Seminar  gegenüber  dem  jetzigen  Über- 
mass  der  technischen  Fächer  eintreten,  an  dieser  Stelle  ein- 
setzen. Fällt  die  3.  Gesangsstunde  oder  wird  sie  zum  mindesten 
fakultativ  für  die  Vollmusiker,  so  lässt  sich  sofort  der  biologische 
Unterricht  wenigstens  mit  i  Stunde  in  den  3  Oberklassen  durch- 
führen. Die  wissenschaftlichen  Lehrer  an  den  sächsischen  Seminaren 
hegen  die  bestimmte  Oberzeugung,  dass  die  durch  die  Ministerial- 
Verordnung  vom  3a  Januar  1907  geschaffenen  neuen  Verhältnisse 
für  den  Musikunterricht  nicl  i  als  eine  für  alle  Zeiten  verbindliche 
Neuregelung,  sondern  nur  als  ein  Übergangsprovisorium  angesehen 
werden  können,  dass  vielmehr  bei  der  Aufstellung  eines  neuen  Ge- 
samtlehrplans  für  einen  7  jährigen  Seminarkursus  nochmals  eingehend 
die  Fn^  zu  erwägen  sein  wvd,  ob  und  inwieweit  sich  der  jetzige 
ausgedehnte  Musikunterricht  ohne  schwere  Schädigung  anderer  be- 
rechtigterer Lehrplanfordenm^cn  aufrecht  erhalten  lässt  Auch  liegt 
es  m.  £.  durchaus  nicht  im  Sixme  der  Emporentwicklung  der  Seminare, 


>. 

VI 

bish.  1  zuk. 

V 

biah.  1  zuk. 

IV 

bLsh.  j  zuk. 

in 

biäh.  j  zuk. 

U 

bisli.  j  zuk. 

I 

bbh.  1  zuk. 

Sa, 

ri— I 

alte  Ordn. 

Sa, 

VI— I 
neue  ürdn. 

Gesang 

3 

3 

3 

2 

3 

3 

3 

3 

3 

■> 

3 

3 

_  - 

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1 7 

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1  f. 

1 

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I  f. 

1  f. 

I  f. 

I 

I 

i 

I  f. 

I  f. 

I  f. 

3  +  3f. 

IC 

I 

I  r. 

I 

I  f. 

I 

I  f. 

I 

1  f. 

I 



I  f. 

I 

6  f. 

6 

1  f. 

I  f. 

I  f. 

i  f. 

1  f. 

I  f. 

I  f. 

I  f. 

22 +  18  f. 

27  +  6f. 

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—     I20  — 


wenn  in  Zukunft  die  verschärften  Aufnahmebedingungen,  die  eine 

gute  musikalische  Befähigung  als  unumgänfrlich  notwendig 
für  jeden  anfzunrhmrüdcn  Schüler  voraiisset/en,  in  Zukunft  aufrecht 
erhalten  bleiben,  da  hierdurch  eriahrunp^st^emass  häufi<^  gerade  den 
talentvollsten  und  bcfahigsten  Kö^jfen  der  Zugang  zum  Seminar 
verschlossen  wird. 

c)  Der  Turnunterricht  ist  wie  an  den  Gymnasien  und  Real- 
j^ymnasien  in  allen  Klassen  gleichfalls  auf  2  obligatorische  Stunden 
zu  beschränken.  Der  Verlust  der  3.  Turnstunde  in  tlen  Unter-  und 
Mittelklassen  kann  durch  die  Gewährung  grösserer  Bewegungsfreiheit 
und  durch  Einführung  eines  obligatorischen  Spielnachmittages  völlig 
ausgeglidien  werden. 

Daf^egcn  erscheint  es  dringend  notwendig,  dem  dritten  der 
technischen  Fächer,  dem  Zeichenunterrichte,  seinen  jetzigen  Besitz- 
stand zu  erhalten  und  das  Zeichnen  als  zweistündiges  Pflichtfach 
durch  alle  Seminarklassen  hindurchzufuhren.  Die  Naturwissenschaften 
erblicken  in  dem  modern  aufgefassten  Zleichenunterrichte  einen  ihrer 
wichtigsten  Bundesgenossen,  dessen  ungeheuere  Bedeutung  für  die 
Auffassung  der  Natur  und  ihrer  Formen ,  überhaupt  für  die  Vor- 
steUungsbildung  einerseits  wie  für  die  spätere  Praxis  in  der  Volks- 
schule im  Wandtafelzeichnen  anderseits  nicht  laut  und  oft  genug 
betont  werden  kann. 

Die  fc)rgebnisse  der  vorstehenden  Darlegungen  sind  übersichtlich 
in  dem  nebenstehenden  Verteilungsplane  zusammengestellt 

Ich  stehe  am  Ende  meiner  Ausführungen.  Ich  schlicssc  nut 
der  Hoffnung,  dass  unsere  Worte  und  Beschlüsse  nicht  abermals 
ungehört  verhallen,  sondern  zu  der  vorgesetzten  Behörde  vordringen 
und  dort  wohlwollendste  Bcrücksidltigung  finden  möchten,  damit 
nicht  dauernde  Resignation  bei  uns  einrieht ,  vielmehr  die  Natur- 
wissenschaften aus  ihrer  jet7,igen  Aschenbrödelstellung  am  Seminar 
emporgehoben  werden  möcliten  zu  dem  Range,  der  ihnen  in  dem 
Erziehungsplane  der  modernen  Schule  gebührt,  deren  oberste  Rieht* 
schnür  die  Devise  sein  sollte:  Nicht  mehr  Wissen,  sondern 
besseres  Wissen  und  besser  erarbeitetes. 


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—    121  — 


neber 



VII 

VI 

V 

IV 

-  .  

III 

II 



I 

Sa, 

Bisher. 
Ordn  ') 

vi—i 



GjTnn. 
IV-OI 

 ■■ 

Real- 
pvnin 
VI-Ol 

t  FäJaffOfik 

c 
J 

c 

j 

e 

T  e 
*  j 

4 

8 

8 

2.  Reügiou 

1 
J 

2 

1 
.> 

21 

2 1 

>  Deutsch 

4 

4 

4 

4 

3 

3 

25 

19 

18 

21 

Fr.  Sprachen : 

a]  Latein 

5 

5 

5 

5 

3 

2 

2 

«7 

27 

53 

33 

b)  Fraox.  od. 

4  f. 

4  f. 

4  f. 

4  f. 

3  f. 

3  f. 

3  f. 

25  f. 

~ 

Fw.  18 

B.  la 

5.  Wdtfeach. 

2 

2 

2 

3 

2 

» 

14 

12 

<4 

»S 

Gcocnphie 

2 

2 

2 

I 

I 

II 

10 

7 

9 

•  liribcmatik 

4 

4 

4 

4 

3 

3 

3 

25 

24 

26 

34 

j'.  Xattirwisscn- 
Khaftcr. : 

2 

2 

2 

2 

I 

I 

I 

II 

h)  Chemie  D. 
Mineralo?. 

2 

2 

2 

6 

} 

14 

c)  Physik 

2 

2 

2 

2 

2 

10 

6 

8 

II 

d)  Natonriss. 

Übungen 

2  f. 

2  f. 

2  f. 

2  f. 

2  f. 

2  f. 

2  f. 

14  f. 

— 

; 

9.  Zeichnen 

2 

2 

2 

2 

2 

2 

2 

14 

10 

2  -T- 

C— lOf. 

IC  Sdueiben 

1 

I 

6 

n.  Tttmcn 

2 

2 

2 

2 

2 

2 

2 

»4 

16 

»4 

»4 

12.  Musik : 

1)  Gesang 

2 

2 

2 

2 

2 

2 

2 

14 

18 

8 

7 

b)  Musiklchre 

I 

I 

I 

I  f. 

I  f. 

I  f. 

3  +  3f. 

4-j-2  f. 

c)  Khvicryp. 

I 

I 

I 

I 

I  f. 

If. 

I  f. 

4-f  3f- 

4  +  2f. 

I  f. 

I  f. 

I  f. 

I  f. 

4f. 

4f. 

■i-  bteo(^papbie 

2  f. 

If. 

3  f. 

sf. 

2-.lf. 

3f. 

32  4- 
4fr 

32  + 

4f.4- 

2  f. 

32  4- 

6f.4- 

2  f. 

32  + 

6f.+ 
2  f. 

32  + 
(3f.4- 

3f.)-f 
2  f. 

32  -f 

(3r.+ 

3f.)4- 
2  f. 

32  + 

3f.)  + 
2  f. 

224  -|- 

4->4f. 

209  + 
I3f. 

226 -j- 
-f  13 

-25f. 

235 -f 

H-9f. 

')  Diese  Zahlen  beziehen  sich  mit  Ausnahme  des  Musikunterrichtes  auf  die  noch  offiziell 
£dtcode  Lclirordnung  vom  2g.  Januar  1877;  auf  die  infolge  der  Reduktion  des  Sductbunlerriclitet 
unriicbea  staitgefiUKlciien  Äadcnuig^ii  isti^  dabei  keine  ROcluächt  genotnmen. 


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—     122  — 


III. 

Neue  Rechenmethode.  gegründet  auf  das  natürliche  Werden 
der  Zahlen  und  des  Rechnens. 

Von  Dr.  L  Wllk-GotlM. 

Fortsetximg. 

b)  Die  Grundrechnungsarten. 

Ausgang  und  Ziel  aller  Massnahmen  des  Rechenunterrichts  ist 

das  Rechnen ,  nicht  zahlenthcorcttsche  Untersuchungen  mit  dem 
angeblichen  Zwecke,  klare  Zahlvorstellunf^en  tu  schaffen.  Selbst 
schon  die  Zalilbildung  über  4  hinaus  geschieht  unter  jenem  Gesiclits- 
winkel,  nämlich  unter  dem  Drucke  der  Additionsfonlerung. 

I.  Die  Stellttag  4er  Grnndreclinangsartea  sneioftoder. 

Die  ursprünglichste  der  Operationen  ist  die  Addition.  Ohne 
sie  ist  weder  das  Zehnersystem,  noch  die  Zahlenreihe,  noch  fiber> 

haupt  eine  Zahl  möglich,  weil  diese  bekanntlich  eist  durch  hinzu- 
gedachte additive  ne/iehnnpcn  unter  den  Einheiten  zustande  kommt. 
Der  Additionsbegriti'  ist  demnach  so  alt  wie  die  Zahlen  selbst,  diese 
sind  aus  jenem  herausgewachsen. 

Die  Subtraktion  ist  logisch  gesehen  die  Umkehrung  der  Addition, 
aber  auch  psychologisch  wird  sie  gefordert  von  dieser  durch  die 
Triebkraft  des  Gegensatzes.  Hat  man  zu  einer  Zahl  eine  andere 
liin7.u;;efüf;t  und  dadurch  beide  durch  Addition  /.u  einem  (lanzcn 
vereinigt,  so  zeitigt  dieser  Vorgang  ganz  von  selbst  den  zweiten 
Gedanken,  das  Vereinigte  wieder  zu  trennen,  das  Hinzugefügte  vom 
Ganzen  wieder  wegzunehmen,  zu  subtrahieren.  Und  nicht  bloss 
begrifflich  ist  die  Subtraktion  eine  Folge  der  Addition,  sie  ist  es 
nurli  in  der  Ausfuhrune:.  Wenn  man  weiss,  wie  etwas  aufgebaut 
worden  ist,  ist  es  ein  Leichtes,  es  wieder  abzureissen:  das  Wie  des 
Addierens  ergibt  das  Wie  des  Subtrahierens.  Aus  alledem  ist  er- 
sichtlich,  dass  in  der  Rechenmethodik  jeder  neue  additive  Schritt 
nach  vorwärts  alsbald  wieder  subtfaktiv  zurückgegangen  werden 
muss.  Die  Profilemc  des  Addierens  und  Subtrahierens  haben  parallel 
nebeneinander  herzulaufen,  wobei  dieses  jenem  stets  auf  dem 
Fussc  folgt. 

Dass  beide  Operationen  dnen  grossen  Vorsprung  vor  allen 
anderen  Rechnungsarten  haben,  hat  seine  guten  Gründe. 

Addieren  und  Subtrahieren  sind  die»natürlich  en  Operationen, 
Weil  die  Zahlen  Zusammengriffe  additiv  vereinigter  iiinheiten  sind. 


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—    123  — 


entspricht  keine  Operation  dem  Wesen  der  Zahlen  so  f^ut  wie  das 
Addieren,  Das  Addieren  ist  gleichsam  die  Erfüllung  der  Zahlen- 
natur,  eine  fortgesetzte  Wiedergeburt  der  Zahleo. 

Dazu  kommt,  dass  beiden  Operationen  einfachste  ParaUel- 
vorgänge  in  der  Aussenwelt  entsprechen:  dem  Addieren  die  räum- 
liche Annäherunf^  zweier  Ding<;ruppen  oder  die  zeitliche  Anreihung, 
dem  Subtrahieren  nur  die  räumliche  Trennung  (die  zeitliche  An- 
reihung hat  keine  Auflösung,  weil  Geschehenes  nicht  ungeschehen 
gemacht  werden  kann  und  die  Zeit  nicht  rückwärts  läuft).  Diese 
raumlichen  und  zeitlichen  Vorgänge  sind  nun  freilich  nicht  etwa 
schon  die  Rechenoperationen  selbst;  sie  reizen  nur  dazu  an,  jene  # 
ariüimetischen  Beziehungen  im  Geiste  zu  knüpfen  aus  dem  Grunde, 
den  wir  oben  angegeben  haben.  Aber  schon  dieser  Parallelismus, 
ist  für  die  MetbodDc  wertvoll  genug.  In  den  Anfängen  des  Rechnens 
ist  jede  Addition  durch  ein  räumliches  ,,Hinzu",  jede  Subtraktion 
durch  ein  räumliches  „Hinweg"  zu  versinnbildlichen. 

Die  Multiplikation  und  Diviston  da^re<,fen  sind  liühcrc,  mehr 
vergeistigte  Operationen  von  grösserer  Abstraktheil.  Ks  ist  hin- 
länglich bekannt,  dass  beide  inbezug  auf  ihre  Ausfuhrung  Ab- 
kürzim^en  fortgesetzter  Addition  und  Subtraktion  gleicher  Zahlen 
sind.  Wer  mit  Hilfe  des  Einmaleinscs  rechnet:  dreimal  4  ist  12, 
kommt  schneller  zum  /.ielc,  als  wenn  er  4  4-  4  -}-  4  addiert.  Aber 
auch  begrifflich  —  und  das  wird  weniger  beachtet  —  unterscheidet 
sich  die  Multiplikation  von  der  Addition  gleicher  Posten.  Ein 
Beispiel  mag  das  zeigen:  Ein  Brett  ist  „2  Fuss"  lang,  der  Mensch 
aber  hat  ,,2  Füssc".  Dort  die  Finzahl  „Fuss"  trotz  der  Mehrheit, 
hier  die  Mehrzahl  „Füsse".  Woher  dieser  l'nterschied  ?  Im  ersten 
Falle  wird  dasselbe  Ding,  das  Fussmass,  zweimal  ancinandergesetzt 
gedacht  Es  handelt  sich  also  nur  um  einen  einzigen  Gegenstand, 
daher  die  Einzahl  „Fuss".  Die  Vielheit  2  hat  gar  nichts  mit  dem 
gesetzten  GcL,'cnstande  zu  tun,  sie  bezieht  sich  auf  die  Mandliuij^ 
des  Setzens  und  bedeutet  eine  Wiederholung  dieser  läti^kcit.  Der 
Ausdruck  „2  Fuss"  ist  eine  Abkürzung  für  „zweimal  gesetzter  Fuss". 
Die  2  hat  demnach  die  Bedeutung  von  zweimal,  sie  ist  eine  Multi- 
plikativ-  oder  eine  MalzahL  „2  Fuss"  ist  ein  Produkt  (gleich  zwei« 
mal  I  Fuss). 

Bei  den  Füssen  des  Menschen  dagegen  kommt  es  gerade  um- 
gekehrt auf  das  Viel  der  Gegenstände  an:  ein  Fuss  ist  nur  dem 
anderen  gleich,  jeder  aber  hat  sein  besonderes  Sein,  ist  ein  anderes 
Ding.  „2  Füsse"  ist  eine  Summe  von  Dingen,  2  ist  dabei  eine 
AnzahL 

Dazu  kommt  ein  zweiter  Unterschied :  Bei  der  Anzahl  „2  Füsse" 
wird  an  die  wirklichen  Füsse  gedacht,  an  konkrete  Dinge;  in  dem 
Produkt  „2  Fuss"  dagegen  ist  Fuss  eine  abstrakte  Masseinheit. 
Dieser  Ausdruck  besagt  schliesslich  nichts  weiter,  als  dass  die  ge- 
messene Strecke  doppelt  so  gross  ist  wie  die  Masseinheit  In 


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I 


—    124  — 


dieser  Auffassung  bat  der  MultipIikationsbcgrifT  schliesslich  die 
letzten  Reste  von  Anschaulichkeit  abgestreift,  er  ist  zu  einem  rein 
abstrakten  Denkakt  geworden.  Die  Malzahl  gibt  dabei  das  Ver- 
hältnis zweier  Grössen  an,  d.  h.  sie  beantwortet  die  Fra^i^e,  wiev'iel- 
mal  ein  Etwas  so  gross  ist  wie  ein  anderes!  Die  Ausscnwelt  kann 
uns  jetzt  höchstens  noch  die  zu  vergleichenden  Grössen  vor  Augen 
stellen,  die  Vergleichung  selbst  aber  ist  ein  reiner  Akt  des  Denkens. 

Die  Unterschiede  zwischen  den  BegrüTen  der  Multiplikation  und 
Addition,  insbesondere  der  Addition  gleicher  Posten  sind  demnach 

folgende : 

a)  Die  Addition  spricht  den  Din|^cn  oder  den  Gruppen  von 
Dingen  ein  besonderes  Sein  zu;  die  MullipUkation  setzt  wiederholt 

.dasselbe  Ding  oder  dieselbe  Gruppe  von  Dingen,  sie  denkt  sich  das 
Gesetzte  nur  einmal  vorhanden,  die  Vielheit  des  Multiplikators  ist 
keine  Vielheit  des  Gesetzten,  sondern  eine  Vielheit  der  Handlung 
des  Setzens. 

Daraus  cr^a'l)en  sich  zwei  Arten  von  Zahlen:  die  Anzahl  und 
die  Malzahl.  Die  Anzalil  zählt  eine  Menge  von  Dingen ,  die  Mal- 
zahl eine  Menge  von  Handlungea  Jene  tritt  zum  Hauptwort,  diese 
zum  Verbum.  Jene  wird  daher  fast  zu  einem  Etwas,  man  kann 
daher  sacken:  die  3.  die  4;  i-c^-^  i'^t  immer  ein  dreimal  oder  vier- 
mal (d.  h.  citic  in  3  oder  4  Zeitpunkten  sich  wiederholende  HandluHj^) 
oder  auch  ein  dreifach  oder  vierfach  (d.  h.  eine  in  3  Fächern  oder 
Bezirken  wiederholte  Setzung).  Die  Addition  und  Subtraktion  hat 
es  nur  mit  Anzahlen  zu  tun,  bei  der  Multiplikation  ist  nur  der 
MulUpUkand  eine  Anzahl,  der  Multiplikator  dagegen  eine  Malzahl. 

Ist  das  Gesetzte  eine  Vielheit  von  Ding;cn,  so  kann  nur  die 
Auffassung  der  Addition  eine  natürliche  genannt  werden.  Drei 
Gruppen  von  5  Bäumen  sind  dem  gemeinen  Menschenverstände 
5  Bäume  -}-  5  Bäume  -f  5  Baume.  Wer  daraus  dreimal  $  Bäume 
macht  (d.  h.  also  in  3  Zeitpunkten  gesetzte),  der  vergewaltigt  die 
natürliche  Sachhif^e;  denn  die  2.  und  3.  Gruppe  haben  dieselbe 
Daseinsberechtigung  wie  die  erste  und  sind  nicht  bloss  eine  gedachte 
Wiederholung  dieser.  Viel  eher  schon  würde  der  Ausdruck  „drei- 
fach 5  Bäume  (d.  h.  in  3  Abteilungen  gescute)  passen.  So  sagt- 
aber  kein  Mensch:  Beweis  genug,  dass  die  multiplikative  Fassung 
nicht  dem  natürlichen  Menschenverstände  entsprungen  ist,  sondern 
der  Schultreibhift  der  Rechenkunst. 

Aus  diesem  Grunde  iiat  der  MuItiplikationsbcc^rifT  cij^cntlich 
nur  Berechtigung  bei  Massen  und  abstrakten  Zahlen.  Damit  kommen 
wir  zum  zweiten  Unterschiede: 

b)  Der  Multiplikationsbegriff  verlangt,  dass  das  Gesetzte  (der 
Multiplikand)  abstrakt  gedacht  wird,  nicht  als  ein  Ding,  sondern  als 
ein  Begriff.  Denselben  Begriff  mehrmals  in  Gredanken  ZU  setzen* 
daran  kann  kein  Anstoss  genommen  werden. 


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—    125  — 


Dem  Unterschied  zwischen  den  Begriffen  der  fortgesetzten 
Addition  und  der  Multiplikation  ist  unsere  Sdiulsprache  in  ganz 
richtij^em  SpracitgefüII  entgegengekommen,   indem  sie  für  den 

Unterricht  unserer  Kleinsten  Ausdrücke  prägte  wie  3  Vieren, 
4  Dreien  nach  Analogie  der  aus  der  Schöpferkraft  des  Volkes 
henrorgcgangenen  Worte  für  die  Zehner  (die  deutschen  Worte 
dreissig,  vierzig,  die  lateinSschen  triginta,  quadraginta,  ebenso  6it 
entsprechenden  g^echischen  bedeuten  nämUch  3,  4  Zdiner  oder 
Zehnen).  Sie  will  damit  sagen,  dass  die  Zahlkörpergruppen  mehr- 
mals existieren  wie  Dingj^ruppen.  In  dreimal  4"  dagegen  ist  4 
als  abstrakte  Zahl  zu  nehmen,  welche  einer  dreimaligen  ideellen 
Setzung  zu  unterwerfen  ist  In  noch  grösserer  Abstraktheit  be- 
deutet  der  Ausdruck,  dass  eine  Zahl  zu  suchen  ist,  welche  dreimal 
so  gross  ist  wie  4. 

Die  Auf^be:  Was  kosten  3  kg  Kaffee  zu  4  M.  -  ist  demnach 
einer  zweifachen  Losung  zugänglich.  Die  natürliche  und  daher 
kindliche  Auffassung  ist  folgende:  ich  habe  4  M.  zu  zahlen  fiir  das 
I. kg,  4M.  iur  das  2.  kg  usw.,  also  4 M. 4 M.  -|- 4  M.  Die  Geld- 
stücke,  wirkliche  Körper,  werden  dreimal  hingelegt  gedacht.  Das 
ist  Addition  ^loirfier  Po^^ten.  Dem  f^ep^enüber  steht  die  begrifflich- 
abstrakte Auslegung  des  kunstgemässen  Rechnens:  I  kf^  kostet 
4  \L;  kaufe  ich  nun  dreimal  soviel  Ware,  so  ntuss  ich  auch  einen 
Preb  zahlen,  der  dreimal  so  gross  ist  Das  ist  Multiplikation,  weil 
die  Grösse  4  M.  nur  einmal  gedacht  wird,  und  gar  nicht  als  Geld* 
stücke,  sondern  als  abstrakter  Preis. 

Aus  alledem  ist  ersichtlicli,  dass  die  Multiplikation  alles  Sinnen- 
fallige  abgestreift  hat,  während  die  Addition  parallele  Vorgänge  der 
Aiissenwelt  Schritt  für  Schritt  in  Rechnen  umsetzt  So  erklart  sk:h 
der  Vorsprung  der  Addition  und  Subtraktion  vor  der  Multiplikation 
und  Division;  denn  das  für  die  Multiplikation  Gesagte  macht  steh 
auch  geltend  für  ihre  ünikelirung. 

liaibierc  ich  eine  12  m  lange  Strecke,  so  ist  das  so  wenig 
eine  Division,  wie  das  Aneinanderlegen  zweier  6  m  langer  Strecken 
eine  Multiplikation  ist.  Reim  Halbieren  werden  beide  Teile  des 
Ganzen  g'edacht,  beim  Teilen  Dividieren)  durch  2  darf  das  Ergebnis, 
der  Teil,  nur  einmal  gedacht  werden.  Jenes  ist  nur  eine  besondere 
Art  der  Subtraktion,  eine  Subtraktion  in  gleiche  Teile,  d.  L  die 
Umkehrung  der  Addition  gleicher  Posten.  So  wie  nun  diese  letztere 
durch  Zusammenfügen  aus  glddien  Teilen  ein  Ganzes  macht,  so 
jene  durch  Brechen  aus  einem  Ganzen  jijleiche  Teile.  Mit  anderen 
Worten:  die  Subtraktion  in  gleiche  Teile  führt  auf  Rriiche.  Der 
Begriff  des  Bruches  ist  ursprünglich  nicht  aus  der  Division,  sondern 
aus  der  Subtraktion  in  gleiche  Teile  herausgewachsen.  Dem  ent- 
sprechen auch  alle  Anschainingsmittel ,  welche  den  Begriff  des 
Bruches  illustrieren  sollen.  Ob  ich  einen  Apfel,  einen  Papierbogen, 
einen  Stab»  einen  Kreis  halbiere»  immer  haben  wir  beide  Teile  des 


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I 


—     126  — 

Ganzen  vor  Augen.   Der  Bruch  ist  demnach  em  viel  ursprünglicherer 

Begriff  als  die  Division,  er  ist  anschaulich  zu  machen,  so  weit  das 
bei  Zahlen  überhaupt  mö^'ü' h  ist;  die  Division  dagegen  hat  keinen 
Paralielvorgang  in  der  Aussenwelt 

Aber  nun  die  Ausführung  der  Subtraktion  in  gleiche  Teilel 
Ohne  die  Kunst  des  Einmaleinses  kann  sie  nur  aufführt  werden 
durch  Probieren,  bei  sinnlichen  Dingen  durch  Augenmass.  Nur 
wenn  eine  Addition  gleicher  Zahlen  unmittelbar  vorausgeg^angen 
ist  und  die  so  gefundene  Beziehung  der  Zahlen  noch  im  Gedächtnis 
festgehalten  wird,  kann  sie  dur<£  Umkehrung  gefunden  werden. 
Wenn  ich  ausgerechnet  habe,  dass  2  Dreien  =  6  sind,  so  weiss  ich 
au  Ii  c!ass  die  Hälften  der  6  Dreien  sind.  Mit  anderen  Worten: 
Das  Brechen  in  gleiche  Teile  kann  jederzeit  nur  ausgeführt  werden 
durch  Umkehrung  des  Einmaleinses,  also  durch  Division.  Dalier 
kommt  es,  dass  man  den  Bruch  immer  als  Folge  einer  Teilungs- 
aufgabe hinstellt  Vom  logischen  Standpunkte  des  Rechnens  aus 
mag  das  hingehen.  Uns  ^ber  interessierte  hier  der  Ursprui^  des 
Bruchbegriflfes. 

Weil  nun  die  beiden  höheren  Operationen  dem  abstrakten 
Denken  ihren  Ursprung  verdanken,  weil  sie  weit  abliegen  von  dem 
natürlichen  Verlauf  des  Geschehens  in  der  Aussenwelt,  darum  sind 
sie  auch  in  der  Entwicklui^  der  Geschichte  weit  später  aufgetreten 
wie  das  Addieren  und  Subtrahieren.  Die  Annahme,  wie  sie  z.  B. 
von  Cantor  in  seiner  Geschichte  der  Mathematik  vertreten  wird, 
die  Annahme  nämlich,  die  Begriffe  des  Multiplizierens  und  Divi- 
dierens seien  ebenso  wie  die  beiden  ersten  Operationen  so  alt  wie 
die  Zahlen,  beruht  auf  falscher  Auffassung  elcs  iMultiplikations- 
begriffs.  Kr  betrachtet  nämlich  die  reinen  Zehner  als  Produkte. 
Das  kann  wohl  der  denkgeübte  Mathematiker  tun,  wenn  er  will. 
Dem  gemeinen  Menschenverstände  aber  ist  30  nicht  dreimal  10, 
sondern  10  -|-  4"  =  3  Zehner,  also  eine  Anzahl  Zehner,  genau 
so  wie  er  3  nicht  als  dreimal  i,  sondern  als  i  +  i  H~  ^  =  3  Einsen 
begreift.  Wir  könnten  das  leicht  aus  der  Anah-sr  der  griechischen, 
römischen  und  altgcrmanischen  Zahlworle  nachweisen;  doch  wollen 
wir  uns  das  auf  eine  spätere  Gelegenlieit  versparen.  Wir  bezweifein, 
dass  irgend  ein  Naturvolk  den  MultipUkationsbegriff'  hat  Sicher 
nachwetebar  ist  er  erst  bei  dem  ältesten  Kulturvolk  der  Wdt,  bei 
den  alten  Ägyptern,  hier  aber  schon  in  sehr  früher  Zeit. 

Alfs  alledem  geht  hervor,  das.s  im  natürlichen  Werden  nicht 
bloss  die  Zahlen  eine  Entwick]  un.'  gehabt  liaben  von  niederen  zu 
höheren,  sondern  auch  die  Operationen.  Inbezug  auf  die  Zahlen- 
entwicklung irrten  die  alten  Rechenmeister.  Sie  schütteten,  wie 
schon  bemerkt,  den  ganzen  2^hlenraum  auf  einmal  aus  und  führten 
daran  ihre  Operationen  eine  nach  der  anderen  vor.  Ihr  Gegen- 
füssler  ist  Grube.  Er  irrte  auf  der  anderen  Seite.  Bei  den  Zalüen 
geht  er  Schritt  für  Schritt  in  die  Höhe,  heute  die  15,  morgen 


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—    127  — 


die  l6,  übermorgen  die  17  usw.,  aber  die  Operationen  setzt  er  alle 
auf  einmal  hin,  als  lägen  sie  dem  Menschen  von  Natur  aus  im 
Geblüte.  Beide  irrten  aber  auch  da,  wo  sie  ganz  richtig  allmaUich 
aufbauen  wollten.   Dk  Zahlen  sowohl  wie  das  Rechnen  sind  nicht 

Schritt  für  Schritt  eine  nnch  der  anderen  entstanden,  sondern 
gruppenweise.  Inbe^ucr  auf  die  Zahlen  ist  oben  d  is  .X  -ti^^e  schon 
gesagt.  Bezüglich  der  Operationen  fordern  wir  aus  aiien  den  an- 
.  gegebenen  Gründen,  dass  die  höheren  Operationen  zurückzuschieben 
sind,  bis  der  Zahlenraum  l— 100  additiv  und  subtraktiv  durcharbeitet 
ist.  Dann  erst  ist  auch  Platz  geschaffen  für  das  rasch  in  die  Höhe 
stcM^ende  i.u.maleins.  Aus  denselben  Gründen,  wie  sie  für  die 
beiden  niederen  Operationen  ausgeiuhrt  worden  sind,  muss  auch 
bei  den  höheren  das  Dividieren  dem  Multiplizieren  so  nachfolgen, 
dass  jeder  neue  Schritt  vorwärts  wieder  zurückgegangen  wird.  Das 
Dividieren  lernt  man  n;:s  dem  Multiplizieren. 

In  diesem  Punkte  hat  schon  Hcntschel  das  Richtige  getroffen. 
Er  tat  es  aus  logischen  Gründen  der  Umkehrbarkeit  der  Haupt* 
rechnungsarten.  Unsere  psychologische  Untersuchung  fügt  sdnem 
Verfahren  den  neuen  Gedanken  hinzu,  i.  dass  sein  Vorwärtsschreiten 


noch  immer  geschieht  —  durch  eine  Gruppierung  der  Zahlen  zu 
ersetzen  ist,  die  ihrem  natürlichen  Werden  besser  entspriciit  (siehe 
oben),  u.  2.  dass '  auch  die  beiden  Gruppen  der  Operationen  nach* 
einander  stehende  Entwicklungsstufen  des  Rechnens  sein  müssen. 

Als  Vorbereitung  des  Multiplizierens  und  Dividierens  dienen  im 
ersten  Schuljahre  die  fortgesetzte  Addition  gleicher  Zahlen  und 
als  deren  Umkehrung  das  Brechen  in  gleiche  Teile.  Hier  sind  also 
Aufgaben  zu  bieten  wie :  Wieviel  sind  2  Dreien,  3  Zweien,  2  Vieren 
usw.  und  wie:  Halbiere  6,  brich  6  in  3  gleiche  Teile  usw.  Da  aber 
die  letzteren  Aufgaben  nur  dann  in  jedem  Augenblicke  gelöst 
werden  können,  wenn  man  auswendig  weiss,  wieviel  2  Dreien, 
3  Zweien  usw.  sind,  so  sind  die  Aufgaben  beiderlei  Art  zu  ver- 
schieben in  die  Zeit,  in  welcher  die  Zahlbcziehungen  anfangen 
gedachtnismSssig  zu  werden. 


a)  Ihr  BegrifiC  Das  Addieren  tritt  in  zwei  etwas  voneinander 
versduedenen  Formen  auf,  als  Hinzufugen  und  als  Summieren.^) 
Das  erstere  geht  aus  von  einer  gesetzten  Zahl  und  fragt :  was  wird, 

wenn  ich  zu  ihr  eine  zweite  hinzufüge?  Es  unterscheidet  also  eine 
primäre  Additinnszahl  und  eine  sekundär  hinzukommende,  sie  weist 
beiden  verschiedene  Aufgaben  in  der  Rechnung  zu  i^Summand, 


^  In  allea  F&llen  werden  wir  die  Fremdwörter  fUr  die  Operation'  :i  1:11  aJlgeroeiaes 
gAraadMB,  dk  denlacbea  Beteichinuigen  dagegen  für  die  beuaderca  Azten  derselben. 


von  Zehner  zu  Zehner 


Rechenbüchern 


a.  Die  Addition. 


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—     128  — 


Addcnd).  Das  Resultat  hat  natürlich  soviel  Einheiten  wie  beide 
Zahlen  zusammen.  Das  Summieren  dagcp;^en  zielt  direkt  auf  dieses 
Zusammen  hin,  es  frae^t :  wieviel  Einheiten  haben  zwei  Zahlen 
zusammen?  Es  macht  keinen  Unterechied  zwischen  beiden  i'osten, 
es  weist  beiden  von  vornherein  gleiche  Stellung^  in  der  Rechnung 
zu;  sodass  die  Vertauschbariceit  der  Posten  selbstverständlich  is^ 
während  beim ,  Hinzufügen  diese  ausdrücklich  aufgezeigt  werden 
muss. 

In  der  räumlichen  Tarallele  wird  beim  Hinzufügen  die  erste 
Gruppe  in  Ruhe  gedacht,  während  die  zweite  sich  auf  sie  zubewegt 
und  sich  mit  ihr  zu  einem  Ganzen  vereinigt;  beim  Summieren 
dagegen  bewegen  sich  beide  Gruppen  in  gleicherweise  und  laufen 

in  einem  dritten  Orte  in  eins  zusammen. 

Daraus  geht  hervor,  dass  das  Summieren  der  einfachere  und 
ursprüngÜchere  Begrifif  ist.  Aber  er  enthält  alle  beim  bewussten 
Addieren  auseinander  zu  haltende  Momente  noch  wie  in  einem 
Knäuel  zusammengeballt.  Erst  das  Hinzuiilgen  wickelt  den  Knäuel 
auf  nnd  breitet  alle  Einzelheiten  des  Vorgangs  aus.  Daher  ist  an- 
zunehmen, dass  im  natürlichen  Werden  nicht  das  Summieren, 
sondern  erst  der  Zwang  des  iiituufugens  den  Additionsbegritf 
gezeitigt  hat  Wenn  näiäich  der  Mensch  nichts  weiter  wissen  will, 
als  wieviel  zwei  Gruppen  zusammen  sind,  so  lässt  er  sie  ineinander 
laufen  (wenn  nirht  wirklich,  so  doch  in  Gcdnnken)  und  bestimmt 
nun  das  Zaiilm  imcnt  des  vercinij:^ten  Ganzen.  Üie  l\^stcn  werden 
dabei  ganz  liiniallig,  weil  das  Augenmerk  einzig  und  allein  auf  das 
Endresultat  hinzielt  Erst  wenn  die  Posten,  als  wertvoll  für  sich,  in 
Gedanken  aufrecht  erhalten  werden,  trotz  der  Frage  nach  ihrer 
Summe,  erst  dann  entsteht  der  Addilionsbegriff  mit  allen  seinen 
Einzclzüj^cn.  Daher  kommt  es,  dass  dem  Urmenschen  die  additiven 
Beziehungen  unter  den  Einlieiten  der  ersten  4  Zahlen  wohl  kaum 
recht  zum  Bewusstsein  gekommen  sein  mögen.  Gesetzt  aber  den 
Fall,  er  kenne  nun  die  Zahlen  bis  S  und  wiU  nun  damit  ein  höheres 
Zahlmoment  (z.  R.  7)  feststellen,  so  kann  er  g^ar  nicht  anders,  als 
erst  die  5  Dinge  bestimmen  und  dann  die  übcrschicsscnden  2.  Und 
nun  steht  er  vor  der  Forderung,  zur  primären  5  die  sekundäre  2 
hinzuzufügen.  Hier  machen  sich  die  rosten  mit  Gewalt  geltend, 
der  Mensch  kann  sie  nicht  fallen  lassen  zugunsten  der  Summe.  Das 
ist  in  Wirklichkeit  der  volle  Operationsbegriff.  Dem  Hinzufügen 
gebührt  demnach  im  Unterricht  der  Vorzug  vor  dem  Summieren, 
weil  nur  bei  ihm  alle  Momente  des  Addierens  klar  hervortreten. 
Sobald  die  Zahlbildung  über  die  momentan  überschaubaren  Zahlen 
hinausgebt  kommt  der  Addittonsbegriff  in  voller  Deutlichkeit  in 
Sicht 

bl  Die  Ausführung.  Die  kunstgemässe  Ausführung^  aller 
Operationen  in  unserer  heutigen  Weise  steht  weit  zurück  hinter  der 
Konzeption  der  Operationsbegriffe.    Alles  Rechnen  der  Naturvölker 


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—    129  — 


ist  Zählen.  Alles  was  darüber  iiinau.sixegt,  ist  Errungenschaft  wisscn- 
schafttich  denkender  Kulturvölker.  Im  Zählen  haben  wir  also  auch 
die  erste,  die  natililiche  Lösuiij^  der  Additionsprobleme.  Im  ersten 
Zehner  knnn  dieser  lanffwierige  Vorgang  jedoch  abgekürzt  werden 
mit  Hüte  der  Km^;crbilder.  Soll  x.  B.  4  und  3  addiert  werden,  so 
hebt  man  die  ersten  4  i  inger,  dann  die  folgenden  3,  und  sieht  nun, 
dass  die  Hand  und  2  Finger  gehoben  sind  (Bild  der  7).  Alles 

?eschtefat  dabei  momentan  (ohne  Zählen),  sowohl  das  Heben  der 
ingergruppen  als  auch  das  Erkennen  des  resultierenden  Zahlbildes. 
Den  gleichen  Vorteil  bietet  unser  nach  Fünfern  grupfiierter  Rechen- 
apparat. Dieses  natürliche  Rechnen  wird  erst  überwunden  durch 
Einprägung  des  Einszueinses,  Besonders  dadurch  wird  das  Rechnen 
zur  Kunst.  In  der  Geschichte  ist  dies  kunstvolle  Addieren  mit  Hilfe 
des  Kinzueinses  cfst  recht  spät  erstand rn,  soviel  wir  wissen,  erst  in 
den  Schulen  der  römischen  Kaiserzeit.  Der  durch  den  Drill  der 
Schulen  hindurchgegangene  Kulturmensch  ist  geneigt,  mit  einer 
gewissen  Geringschätzung  auf  das  Fingerrechnen  herabzublicken. 
Mit  solcher  Auffassung  versündigt  er  sich  gegen  den  Greist  des 
natürlichen  Werdens.  Das  Rechnen  mit  Fingern,  Apparaten  oder 
durch  Zählen  ist  ein  natürlicher  Kntwicklungszustand,  aus  dem  die 
Menschheit  erst  durch  die  beabsichtigte  Wirkung  des  Unterrichts 
herausgekommen  ist  Der  Lehrer,  welcher  diesen  geschichtlichen 
Gedanken  beachtet,  wird  nicht  ungeduldig  über  das  natürliche 
Rechnen  hinauswollen.  Wenn  die  Frucht  reif  ist,  fallt  äe  von  selbst 
ab;  wenn  das  Einzueins  festsitzt,  wird  die  Benutzung  der  Finger 
lästig  und  hört  auf.  Im  Zahlenraume  bis  10  wird  dieser  Übergang 
zur  kunbij^cniässen  Addition  sicher  am  Ende  des  ersten  Schuljahres 
voUz<^en  sein. 

Es  fragt  sich  nun,  in  welcher  Reihenfolge  die  Additions- 
beziehungen, wie  ne  im  Einszueins  niedergel^  sind,  zu  gewinnen 
and. 

Wir  haben  das  Verfahren  der  Monographcn  abgelehnt,  welches 
die  Rechenbeziehungen  so  nebenbei  gewinnt  als  Inhalt  des  BegritTs 
der  Einzelzahlen.  Wir  meinen  jene  Relationen  sind  in  erster  lÄnxo. 
nicht  als  Zahlbeziehungen  autzufassen,  sondern  als  Operations* 
^thesen.  Zur  Feststellung  eines  Zahlbegrifis  genügt  anfangs  voll- 
kommen eine  einzige  He/.ichung  (welche?  siehe  oben);  die  übrigen 
bilden  sicii  nach  und  nach  von  selbst  aus  im  Betriebe  des  Rechnens. 
Ganz  unnötig  aber  ist  ihre  Sammlung  um  bestimmte  Einzelzahlen 
als  deren  Inhalt  Der  Rechner  muss  vielmehr  umgekehrt  je  zwei 
Zahlen  gegenseitig  schlagfertig  addieren,  subtrahieren  usw.  können. 
Der  Redienuntenicht  hat  demnach  synüietisch  vorzugehen. 

Daraus  ergibt  sich  folgende  Anordnung.  Es  ist  zu  fragen,  wie 
man  die  i,  wie  die  2,  die  3  usw.  zu  jeder  beliebigen  Zahl  hinzu» 

fügt.    So  entstehen  folgende  Reihen: 

PldügogiKbe  Studieo.   XXIX.  8.  9 


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—    130  — 


a)  I  -f  I;  2  -f  i;  3  -f-  I;  4 4- 1 

b)  1  4-2;  2-1-2;  3  +  2;  4+2 

c)  1  +  3;  2  +  3;  3  H  3;  44-3 

usw.  bis  9  -f-  9 

Da  die  Posten  vertauschbar  sind,  ist  das  Hauptgewicht  auf  die- 
jenigen Summen  zu  legen,  m  welchem  der  zweite  Posten  gleich 
oder  kleiner  als  der  erste  ist  Die  Reihen  werden  demnach  immer 
kürzer,  bei  Hinzufügung  der  9  handelt  es  sich  um  ein  einsiges  neues 
Glied,  um  94-9=18. 

Jede  dieser  Reihen  wird  natürlicli  immer  nur  ausgedehnt  auf 
den  gerade  in  Behandlung  stehenden  Zahleoraum.  Wächst  dieser, 
so  werden  jene  weiter  fortgesetzt. 

Gewonnen  werden  die  Relationen  innerhalb  der  Grundzahlen 
durch  Fingerbilder  (i.  Schuljahr).  Gehen  sie  in  den  zweiten  Zehner 
hinein,  so  wird  unter  Beachtung  des  Zehnersystems  zunächst  der 
erste  Zehner  vervollständigt  und  dann  der  Überschuss  lunzugefUgL 

(2.  Schuljahr.) 

Die  obigen  Reihen  bedeuten  bloss  methodische  Stoffanordnungen 
für  den  Lehrer,  sie  sind  nicht  auswendig  zu  lernen  wie  das  Einmal» 
eins.  Von  Anfang  an  muss  vielmehr  das  Ziel  des  Unterrichts  darauf 

gerichtet  sein,  das  Wissen  unabhängig  zu  machen  von  der  Reihe. 
Daher  hat  der  Lehrer  die  einzelnen  Glieder  möglichst  bald  durch- 
einander 7,u  üben.  Nur  die  natürliche  Zahlenreihe  und  die  Reihe  der 
geraden  und  ungeraden  Zahlen  sind  auch  als  Reihen  einzuprägen. 


3.  Die  Subtraktion. 

Fasst  man  die  Beziehung  a  -(-  b  =  c  im  Sinne  des  Hinzufugens, 
so  ergibt  die  Umkehrung  dieser  Relation  zwei  verschiedene  Arten 
der  Subtraktion:  Das  Abziehen  (Wegnehmen)  oder  Restsuchen 
(c  —  b  =  a)  und  das  Unterschiedsudhen  (c  —  a  =  b).  Das  Abziehen 
nimmt  die  hinzugefügte  Zahl  von  der  Summe  wieder  weg;  es  unter- 
scheidet demnach  eine  primäre  Zahl  und  eine  nachträglich  (sekundär) 
zu  ihr  in  Beziehung  tretende.    Ks  bleibt  ein  „Rest"  übrig. 

Das  Unterschiedsuchen  dagegen  setzt  (ähnlich  wie  das  Sum- 
mieren) zwei  von  vornherein  gleichberechtigte  Zahlen  und  vergleicht 
diese  miteinander  nach  der  Frage :  Wieviel  ist  die  eine  grösser  oder 
kleiner  als  die  andere?  Man  erhält  ihren  „Unterschied"  (Differenz). 
Beim  Abziehen  hat  man  von  der  gesetzten  Zahl  die  zweite  wegzu- 
nehmen; beim  Unterschiedsuchen  dagegen  hat  man  gerade  zu  be- 
stimmen, wieviel  wegzunehmen  ist  von  der  grösseren,  um  die  kleinere 
zu  erhalten,  oder  besser  umgekehrt»  wieviel  man  zur  Ideineren  hinzu- 
zulegen hat,  um  die  grossere  zu  erhalten.  Beides  sind  also  grund- 
verschiedene Rechnungsarten,  was  aber  beim  heutigen  Rechenunter- 
richt kaum  einem  Schüler  zum  Bewusstsein  kommen  dürfte. 


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131  — 


Das  Abziehen  ist  von  beiden  die  ursprünglichere  Operation; 
es  liegt  den  Kindern  näher  als  das  Vergleichen  zweier  Zahlen  in- 
bcxupr  auf  ihie  Grosse:   Das  Hinzugefiigte  wieder  wegzunehmen, 

das  ist  ein  Gedanke,  der  sich  unmittelbar  aus  dem  Addieren  ergibt 
durch  die  Triebkraft  des  Geyensatzes.  Dazu  kommt,  dn^s  dem 
Abziehen  ebenso  wie  dem  Addieren  ein  paralleler  Vorgang  in  der 
Ausscnwelt  zur  Seite  steht,  das  räumliche  Entfernen  oder  Trennen 
als  Auflösung  des  Annahems.  Dagegen  gehalten  erscheint  das  Ver^ 
Reichen  zweier  Zahlen  schon  wie  eine  Auffj^be  spekulativen  Denkens. 

Der  Unterricht  hat  somit  die  Addition  stets  zuerst  umzukehren 
in  der  l''orm  des  Abziehtrns.  Auf  diesem  VV^ege  dringt  das  Kind  in 
die  Au:»iuhiuag  des  Subtrahierens  ein.  Kann  es  einen  bestimmten 
Rechenfall  additiv  und  subtraktiv  eriedigen,  dann  erst  bieten  wir 
Aufgaben  über  den  Unterschied  zweier  Gnrössen  als  Anwendung  des 
Gelernten.  Anfänglich  wird  das,  unter  Vermeidung  des  Wortes 
Unterschied,  unter  der  Frage  geschehen:  Wieviel  ist  eine  Zahl 
grösser  oder  kleiner  als  die  andere?  Das  versteht  jedes  Kind  im 
ersten  Schuljahre.  In  den  Mittdidassen  muss  dann  aber  sicher  zum 
vollen  Bewusstsein  kommen,  dass  der  Rest  zweier  Zahlen  gleidi 
ihrem  Unterschiede  ist.  Auf  dieser  Erkenntnis  beruht  die  P'rsctzung 
einer  .Subtraktionsart  durch  die  andere,  was  unter  bestimmten  Um- 
ständen von  grossem  Vorteile  für  das  Kopfrechnen  ist  Soll  ich 
namüch  zwei  nahe  aneinander  liegende  Zahlen  (z.  B.  i6i  und  159) 
voneinander  abziehen  (also  erst  die  100,  dann  die  50,  dann  die  9), 
so  komme  ich  schneller  zum  Ziele,  wenn  ich  ihren  Unterschied  be- 
stimme, wenn  ich  also  frage,  wieviel  muss  ich  zu  159  zulegen,  um 
161  zu  erhalten.  Dieser  Unterschied  ist  dann  gleich  dem  Reste. 
Umgekehrt,  habe  ich  den  Unterschied  zweier  Zahl  ien  zu  bestimmen, 
von  denen  die  eine  ziemlich  klein  ist  (z.  B.  von  161  und  4),  so 
komme  idi  schneller  zum  Ziele,  wenn  ich  die  4  abziehe.  Der  Rest 
ist  dann  gleich  dem  gesuchten  Unterschiede.  Es  zeugt  von 
Stümperhaftigkeit,  wenn  solche  Kechenvorteile  nicht  beachtet  werden. 

4.  Die  Mattiplilcatlon. 

Über  den  Begriff"  <les  Multiplizierens  ist  oben  das  Nötige 
gesagt  Hier  nur  nocii  ein  icuizes  Wort  über  das  Liiimaieins.  Das 
hat  uns  Grube  gründlich  verdorben.  Von  allem  Anfange  an,  seit 
eine  Rechenkunst  besteht,  hat  man  mit  den  Einmaldnsreihen  die 

Fraf^e  beantworten  wollen,  wie  man  die  Zahlen  I — 10  vervielfacht: 
wie  man  sie  verdoppelt,  verdreifacht,  vervierfacht  usw.  Das  Drei- 
maleins iiatle  also  folgende  Anordnung: 

dreimal  i  ist  3, 
»       2  „  6, 

»      3  »  9 
usw. 

»• 


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—    132  — 


Der  Multiplikator  blieb  dabei  derselbe,  die  Multiplikanden 
wecfaselten.  Und  Ghrube?  Er  frug,  was  wird  aus  einer  Zahl,  wenn 
man  sie  der  Reihe  nach  verdoppelt,  verdreifacht,  vervierfacht  usw. 

Bei  ihm  blieb  also  umgekehrt  der  Multiplikand  derselbe  und  der 
Multiplikator  wecliseite.  Das  Dreimaieins,  wie  es  heute  noch  gelernt 
wird,  lautet  also: 

einmal   3  ist  3, 

»veimal  3  „  6, 
dreimal  3  „  9 

usw. 

Es  ist  klar:  früher  zielte  man  auf  das  Rechnen,  man  stellte 
Vervielfachungsreihen  auf;  heute  hat  man  den  Zalüenzusammenhanfif 
im  Auge,  man  baut  Zahlenreihen  auf.   Auch  hier  der  Gegcnsats 

zwischen  Rechnen  und  Zahlentheorie.  Folgerichtig  hat  man  auch 
den  altväterischen  Namen  „Einmaleins"  fallen  lassen,  man  spricht 
heute  von  Dreier-,  Vierer-,  Fünferreihen. 

Und  nun  vergegenwärtige  man  sich  einmal,  wie  wenig  diese 
neuen  Zahlenreihen  für  das  Multiplizieren  passen.    Nehmen  wir  den 
Fall,  wir  wollten  8935  mal  7  nehmen.    Wir  rechnen  jetzt: 
siebeomal  5:  das  ist  das  7.  Glied  der  l  utiit  rreihe; 

„        3;    „     „     „    „     „       „  Drcicrreihe; 

„      9:   „    „    „   „     „      „  Neunerrdhe; 

„  8:  „  „  „  „  „  „  Achterreihe, 
jedes  Teilprodukt  gehört  v'-.r.cr  anderen  Reihe  an.  Führen  wir 
aber  dieselbe  Aufgabe  mit  iiilte  des  alten  Einmaleinses  aus,  so 
gehören  alle  vier  Teilprodukte  derselben  Reihe  an,  der  Reihe  der 
Versiebenfachung.  Hier  also  bleibt  das  Kind  in  deiselben  Reihe, 
dort  muss  es  mit  seinen  Gedanken  herumhüpfen  von  einer  Reihe 
in  die  andere.  Für  den  Erwachsenen  ist  es  bedeutungslos ,  oh  so 
oder  so,  weil  in  seinem  Gedankenkreise  die  Glieder  des  iiinmal- 
einses  längst  selbständig  und  unabhängig;  von  ihrer  Stellung  in  der 
Reihe  geworden  sind.  Man  versetze  sich  aber  in  die  Lage  des 
Kindes,  welches  diese  Produkte  nut  Hilfe  ihrer  Reihen  sich  erst 
aneignen  will,  in  dessen  Geiste  jene  multiplikativen  Beziehungen 
noch  nicht  auf  eigenen  Füssen  stehen,  sondern  in  ihrer  Reprodu- 
zierbarkeit noch  abhängig  sind  von  ihrer  Stellung  in  der  Reihe. 
Für  ein  soldies  Kind  ist  dieses  Herumspringen  aus  einer  Reihe  in 
die  andere  eine  wahre  Seelenqual;  es  multipliziert  schwerfällig  und 
stockend,  weil  es  bei  jedem  Schritte  sein  Wissen  aus  einem  anderen 
Bezirke  seines  Geistesinbaltes  herbeiholen  muss.  Die  Einmaleins- 
rcihen  werden  durch  solche  Anwendungen  nicht  betesligt,  sondern 
auscinandergerissen. 

Bei  dieser  Sachlage  kann  man  sich  nicht  wundem,  wenn  die 
Klagen  über  geringe  Rechenfertigkeit  unserer  Kinder  nicht  ver- 
stummen wollen.  !•  in  wahres  Glück,  dass  die  Faktoren  vertauschbar 
sind,  sonst  wäre  der  Schaden  unabsehbar. 


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—   133  — 


Wir  fordern  das  alte  Einmaleins  der  Verviel&chungsreihen  för 
unsere  Kinder  zurück,  weil  nur  dieses  ein  braachbares  Hilfsmittel 
(lir  das  Multiplizieren  ist  infolge  des  Umstandes»  dass  es  von  Anfang 

an  für  diese  Kunst  /umgeschnitten  wurde. 

Eine  merkwürdige  Entdeckung  machte  ich  beim  Studium  der 
Geschichte  des  Einnudeinses  in  einem  Ideinen  Lesebuchlein  aus  dem 
Anfange  des  19.  Jahrhunderts  (von  Superintendent  LöfTler,  der  sich 

um  die  Entwicklung  der  Volksschule  in  der  Stadt  Goth«-!  durch 
Grründung  der  ersten  Freischule  hochverdient  gemacht  hat).  Das 
Büchlein  enthält  das  kleine  Einmaleins  in  Form  der  alten  Ver- 
vielfachungsreihen mit  gleichbleibendem  Multiplikator,  das  grosse 
Einmaleins  aber  in  Form  der  heutigen  Zahlenreihen  mit  gleich' 
bleibendem  Multiplikand.  Welcher  Zwiespalt!  Aber  offenbar  kein 
Zufall.  Der  Mann  ist  wohlübcrle^  zu  Werke  g^gani7cn.  Kr  hat 
sich  offenbar  «gesagt:  niemand  multipliziert  mit  dem  ^rros^in  Kin- 
maleins,  sondern  immer  nur  mit  dem  kleinen.  Bei  jenem  wiü  man 
vielmehr  wissen,  wieviel  2,  3,  4  Dtz.,  wieviel  5,  6^  7  Mandehi  sind. 
Hier  tritt  die  12,  die  15  als  Multi^kand  auf:  also  Zahlenreihen. 
Beim  kleinen  Hinmaleins  aber,  weil  man  mit  ihm  multiplizieren  will» 
Vervielfac  1 1  u  n  g  sr  e  i  h  c  n . 

Wir  schliessen  uns  diesem  Gedankengange  an  und  bemerken 
nur  noch,  dass  wir  bei  unseren  heutigen  Masssystemen  überhaupt 
bloss  die  Reihen  der  12  und  15  für  notwendig  erachten.  Die 
übrif^en  können  fallen,  erstens  weil  sie  keinen  Wert  haben  weder 
als  Zahlen-,  noch  als  Verviclfaltif^ungsreihcn,  zweitens  weil  sie  auch 
bei  fortgesetzter  Übung  unter  viel  Verschwendung  kostbarer  Zeit 
und  Muhe  dennoch  niemals  zu  einem  so  sicheren  und  unverlierbaren 
Geistesbesitz  werden  wie  das  kleine  Einmaleins,  und  drittens,  weil 
man  in  jedem  einzelnen  Falle  des  Gebrauchs  durch  besondere  Aus- 
rechnung (z.  B.  17  •  5  =  50,  35;  85)  fast  ebenso  schnell  und  ent- 
schieden sicherer  zum  Ziele  gelangt. 

5.  Die  Division. 

Die  Umkehrung  der  Multiplikationsbeziehung  a  m  =  b,  in 
welcher  a  und  b  Anzahlen,  m  dagegen  eine  Malzahl  ist,  ergjibt 
zwei  voneinander  ganz  verschiedene  Arten  der  Division,  welche 
in  den  Gleichungen  b  :  m     a  und  b  :  a  =s  m  ihren  Ausdruck  finden. 

Die  ersterc  Art  heisst  „Teilen'*  und  besagt:  es  soll  von  der 
Grösse  b  ein  gegebener  Teil  genommen  werden,  7..  R.  von  12  der 
4-  Teil  (*/4  von  12).  Es  soll  also  die  12  nicht  in  4  gleiche  Teile 
geteilt  werden  (das  wäre  Subtraktion  oder  Brechen  in  gleiche  Teile), 
die  Division  sucht  nur  einen  dieser  Teile,  um  die  übrigen  kümmert 
sie  sich  nicht;  diese  liegen  ganz  und  gar  ausserhalb  ihres  Gesichts- 
kreises. Hier  «^ieht  man  wiederum  t  das  Teilen  bringt  nicht  etwa 
den  Bruchbegrih  erst  hervor,  sondern  es  setzt  diesen  schon  voraus. 


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—   134  — 


■Um  diesen  Bruchbegriff  könnte  man  allerdings  herumkontmen,  wenn 
man  beim  Teilen  von  der  abstrakteren  Erklärung  der  Multiplikation 
ausginge,  nach  weicher  eine  Zahl  zu  suchen  ist,  die  so  und  so  viel- 
mal so  gross  ist  wie  eine  gegebene.  Die  Uinkehrung  wurde  dann 
■lauten:  uas  Teilen  hat  eine  Zahl  zu  suchen,  die  so  und  so  vielmal 
so  klein  {oder  so  und  so  vielmal  kleiner)  ist  wie  eine  gegebene. 
Aber  diese  Ausdnicksweise  ist  in  der  deutschen  Sprache  nicht 
üblich. 

Die  zweite  Art  der  Division  heisst  „Messen"  oder  auch  „Eint* 
haltensein".   (Auf  den  langen  Streit,  wdches  von  beiden  der  bessere 

Ausdruck  sei,  lasse  ich  mich  nicht  ein.  Auf  solcher  Wortklauberei 
beruht  das  Heil  des  Rechcnunterrichts  wirklich  nicht.)  Es  vergleicht 
zwei  Anzahlen  miteinander  nach  der  I'Va^e:  wievieimal  ist  die  eine 
so  gross  wie  die  andere?  oder  wievielmal  kann  die  eine  von  der 
anderen  weggenommen  werden. 

Ist  der  Dividend  kein  ganzzahliges  Vielfaches  des  Divisors,  so 
ist  das  Teilen  nur  mit  Hilfe  der  Brüche  ausführbar.  Die  Aufgabe 
3:4  =  ?  ist  zunächst  zu  lösen,  indem  man  jede  i  der  3  in  4  gleiche 
Teile  teilt  (Subtraktion  oder  Brechen  in  gleiche  Teile)  und  von  jeder 
der  3  Einsen  einen  Teü  mmmt  Nunmdir  erst  kann  man  9xkAi  die 
auf  Division  gegründete  zweite  Erklärung  des  Bruches  geben,  nach 
welcher  ^j^  der  4.  Teil  von  3  ist,  also  das  Resultat  der  Divisions- 
forderung 3  :  4.  Jetzt  kann  man  auch  sagen,  dass  der  Bruch  eine 
Folge  der  Division  ist.  Gewiss  ist  er  das!  Wir  haben  oben  nur 
behauptet,  dass  die  erste  Konzeption  des  Bruchbegriffs  innerhalb  der 
Entwicklung  des  Rechnens  nicht  aus  der  Division  herausgeflossen  ist 

Wie  das  Teilen  auf  Brüche  stösst,  so  das  Messen  in  gleichem 
Falle  auf  Reste.  13  geteilt  durch  4  ergibt  3^4}  13  gemessen  mit  4 
ergibt  3  mal,  Rest  i. 

c)  Zahlenschreibung. 

Unsere  arabischen  Ziffern  —  mag  ihr  Ursprung  gewesen  ^r'm, 
welcher  er  will  —  sind  in  ihrer  heuligen  Gestalt  willkürliche 
Zeichen,  die  den  Zahlinhalt  in  keiner  Weise  wahr  darstellen  oder 
auch  nur  andeuten.  Eine  derartige  Zahlenschrift  kann  unmöglich 
die  ursprüngliche  gewesen  sein,  weil  sie  unnatürlich  ist  „Die  ur- 
sprüngliche Zahlschreibuni'^  untf^rscheidet  sich  in  keiner  Weise  von 
der  Darstellung  eines  Zahlmoni cntes  durch  Steinchen,  Samenkörner 
oder  i'inger.  Die  21ahlzeichen  waren  Zählmarkcn  wie  diese  Dinge 
auch,  d.  h.  Vertreter  abwesender  oder  unhandlicher  Gegenständer 
welche  durch  und  in  jenen  Marken  vor  die  Sinne  und  in  Reihe 
gestellt  wurden.  Ob  man  für  jeden  zu  zählenden  Gegenstand  ein 
Steinchen  hinlegte,  einen  Finger  hob  oder  —  je  nach  dem 
Materiale  —  eine  Kerbe  in  Holz  oder  Knochen  schnitzte  (Kerb- 
hob),  einen  farbigen  Strich  auf  Stein,  Holz,  Tierhaut  zeichnete  usw., 


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—   135  — 


das  ist  im  Grunde  genoiniiien  genau  dasselbie.  Demnach  bestellt 

die  natürlichste  und  ursprünglichste  Z^hlschreibung  darin,  dass  man 
dasselbe  Zeichen  (Kerbe,  Strich,  Keil,  Punkt)  so  oft  wiederholte,  als 
Ge^'enstände  gezählt  werden  sollten"  (Das  Werden  der  Zahlen  usw. 
S.  89). 

Da  die  Anzahl  dieser  in  eine  unterschiedslose  Reihe  gestellten 
Zeichen  nur  durch  Zählen  bestimmt  werden  konnte,  war  diese  Art 
der  Schreibung  wohl  zweckmässi^r  für  das  Festhalten  der  Zahlen, 
aber  wenig  geeignet  für  das  Wiedererkennen  oder  I  esen.  Dieses 
verlangt  momentane  ÜbersichtlichkeiL  Das  wurde  erreicht  durch 
feststehende  Gruppierungen,  wobei  höchstens  drei  (seltener  auch 
vier  gleichartige  Zeichen  zu  einer  Gruppe  vereinigt  und  die  Grruppen 
in  Zeilen  (bis  deren  drei)  untereinander  gesetzt  wurden,  so  dass 
beispielsweise  die  9  als  3x3  in  der  Gestalt  des  bekannten 
Quadrates  erschien.  Jetzt  waren  die  Zahlen  momentan  überschau- 
bar und  darum  lesbar  geworden.  So  die  Ägypter  und  Assyrier. 

Einen  anderen  Weg  schlugen  die  Griechen  und  Römer  ein. 
Sie  erzielten  die  gewünschte  momentane  Übersicht  dadurch,  dass 
sie  die  Fünfergruppierung  in  ihrer  schriftlichen  Darstellung  nach- 
ahmten. Die  römische  Zahlcnschrift  —  in  dieser  Form  sind  sie 
noch  heute,  gebräuchlich  —  ist  der  Entwicklung  der  Zahlenbegriffe 
wie  auf  den  Leib  geschnitten,  weil  sie  eine  Vielheit  von  Zeichen 
setzt,  wenn  die  Zahl  als  ein  Vieles  vorgestellt  wird,  aber  nur  ein 
einzif^cs  Zeichen,  wenn  das  Viele  durch  Fünfer-  und  Zehner- 
gruppicrung  zur  Einheit  zusammengefasst  wird.  Ja  noch  mehr,  das 
Zeichen  der  Fünf  (und  der  Zehn)  ist  sogar  das  schematische  BUd 
der  Hand  (beider  Hände)  und  erinnert  dadurch  an  dasjenige  Körper- 
ofgan,  durch  welches  der  Mensch  die  Vielheit  der  5  als  Einneit 
begreifen  gelernt  hat.  Mehr  kann  man  wirklich  nicht  verlangen 
von  einer  natürlichen  Zahlenschrift  Die  römische  Zahlschreibung 
ist  für  den  Gebrauch  im  ersten  Rechnen  geradezu  ein  Ideal  j  wäre 
sie  nicht  schon  vorhanden,  müsste  man  sie  erfinden  (2SUer).  Wenn 
wir  sie  in  den  Unterricht  aufnehmen,  bringen  Mrir  die  ZaJilzeichen 
mit  dem  Inhalt  der  Zahlen  und  den  benutzten  Darstelhingsmitteln 
in  vollendete  Harmonie.  (Zu  bemerken  ist,  dass  die  4  durch 
4  Striche  dargestellt  werden  muss.)  Wir  fordern  sie  für  den  Unterricht, 
b»  die  Kinder  rieh  losgelost  haben  von  Fingern  und  Apparaten»  bn 
sie  die  Rechenbeziehungen  steh  gedächtnismässig  angeeignet  haben. 

Der  Positionswert  der  Zahlen  darf  nicht,  wie  das  heute  ge- 
schieht, dogmatisch  aufgezwungen  werden.  Er  hat  seine  Vor- 
bereitung im  vorausgegangenen  Gebrauche  unserer  Rechenapparate. 
Wir  haben  links  neben  den  Einerapparat  den  Zehnerapparat  gesetzt 
Das  Bild  der  Zehner  gleicht  vollständig  dem  Bilde  der  entsprechen- 
den Einer,  die  30  besteht  ^rcnau  so  aus  3  Kugeln  wie  die  3;  nur 
da^  jene  3  Kugeln  sich  in  ihrer  Stellung  von  die^^en  unter-scheiden. 
Da  haben  wir  das  ganze  Prinzip  der  Fositionswerte  der  Zahlen.  Dies 


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ist  so  alt  wie  der  Abakus  und  ähnliche  Rechenbretter,  es  reicht 
zurück  in  der  Geschichte  in  Zeiten,  die  Jahrtausende  v.  Chr.  Geb. 
liegen.  Nur  dass  der  Positionswert  nicht  an  Zahlzeichen,  sondern 
an  Zahlkörpern  (Zählmarken)  hing.  Die  Erfindung  der  Indier  in 
den  ersten  Jahrhunderten  n.  Chr.  beschrinkte  sich  auf  die  Über^ 
tragung  des  uralten  Prinnpes  von  den  Zahlkörpem  auf  die  Schrift» 
zeichen.  Die  Vorriussetzun^  dafür  waren  einheitliche  Ziffern  für  die 
Grundzahlen.  Naciidem  diese  gefunden,  stand  nichts  mehr  im  Wege, 
das  Bild,  wie  es  sich  am  Rechenbrette  zeigte,  schriftlich  nach« 
zuahmen.  Ebenso  haben  wir  im  Unterrichte  zu  verfahren.  Wir 
stellen  also  beispielsweise  die  Zahl  Fünfzehn  am  Apparat  dar: 
links  eine  Zehnerkugel,  rechts  5  KiTierkiit^eln.  Dann  zeichnen  wir 
an  die  Tafel  zwei  kleine  Kcchtecke  nebeneinander,  Bilder  der  beiden 
Apparate  j  die  Kugeln  ersetzen  wir  durch  die  Ziiicrn  der  Zalilen 
und  schreiben  in  das  linke  Rechteck  eine  i,  in  das  rechte  eine  5. 
Loschen  wir  dann  die  Rechtecke  weg,  so  haben  wir  die  Schreib- 
u'Pi-c  15.  So  sieht  das  Kind  ein,  dass  die  I  vor  der  S  in  Wirk- 
lichkeit einen  Zehner  bedeuten  soll. 

Nun  erst,  sobald  die  Rechtecke  als  zu  umständlich  weggelassen 
werden,  begreift  auch  das  Kind,  warum  man,  wenn  eine  Stdle  (wie 
z.  R.  bei  der  Zahl  Zehn)  nicht  besetzt  werden  kann,  sogar  ein 
Zeichen  braucht  für  das  „Nichts".  Hier  erst  ist  die  Stelle,  wo  das 
bisheri'^e  „Nichts"  ersetzt  wird  durch  die  Zahl  „Null"  und  ihr 
Schriftzeichen.  • 

So  hat  sich  der  Vorgang  in  der  Geschichte  des  Rechnens  ab- 
gespielt, so  nur  ist  er  natürlich;  so  muss  er  auch  im  Unterrichte 
verlaufen,  wenn  dieser  irgendwelchen  Anspruch  machen  will  auf 
psychologische  Entwicklung. 

d)  Die  Sachgebiete. 

haben  gefunden,  dass  die  Zahlen  und  das  Rechnen  nicht 
etwas  ausser  uns  Gepjebcnes  sind,  sondern  ein  in  uns  Erzeugtes. 
Aber  diese  Schöpfungen  des  menschlichen  Verstandes  sind  doch 
nicht  ursachlos  geworden.  Das  geistige  Schafifen  bedurfte  eines 
Antriebes,  und  dieser  ging  aus  von  den  Dingen  und  dem  Geschehen 
in  der  Aussenwelt.  Der  beste  Beweis  dafür  ist  die  Alhnahlichkeit 
im  Aufbau  des  Zahlenraumes.  Seine  Anfanp^e  reichen  zurück  in  ur- 
alte Zeiten,  seine  Vollendung  erhielt  er  erst  in  den  letzten  Jahr- 
hunderten der  Neuzeit,  obgleich  schon  Archimedes  und  Apollonius 
den  Weg  gezeigt  hatten,  wie  das  Gebäude  weiter  geführt  werden 
könne  bis  ins  Unendliche  hinauf.  Aber  das  Beditffnis  nach  so  hohen 
Zahlen  war  noch  nicht  vorhanden,  das  kam  erst  mit  der  Weite  des 
Gesichtskreises.  Die  Dinge  der  Aussenwelt  zal^Icnmassi!^  zu  meistern, 
das  war  das  Verlangen,  welches  die  Zaalcu  scimi.  Sachlicher 
Probleme  halber  wurden  auch  Rechnungsarten  und  Lösungsweisen 


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—   137  — 


erfunden.  Noch  heute  weisen  die  Worte  Quadrieren  und  Quadrat- 
wurzelziehen hin  auf  die  Sachgebiete ,  denen  diese  späteren 
Rechnungsarten  ihre  Entstehung  verdanken.  Deutlich  liegt  diese 
Abhängigkeit  der  Arithmetik  von  den  Sachen  bei  höheren  Kapiteln 
dieser  Wissenschaft  im  hellen  Uchte  der  Geschichte.  In  jenen 
dunklen  Zeiten,  in  denen  die  ersten  Anfänge  des  Rechnens  das 
Licht  der  Welt  erblickten,  kann  es  nicht  anders  gewesen  sein.  Ja, 
hier  erst  recht  brauchte  der  Mensch  einen  äusseren  .'\nstoss,  um 
weiter  zu  kommen  in  seinem  inneren  Schaffen.  Denn  die  eigene 
Triebkraft  von  Gedanken  kann  sich  doch  erst  dann  re^en,  wenn 
diese  zu  einer  Macht  im  Vorstellungsleben  geworden  smd  durch 
Umfang  und  Geschlossenheit.  Wenn  der  Mensch  im  ersten  Hundert 
das  Gesetz  des  Zehnersj'stcms,  wir  können  nicht  sagen  mathematisch- 
abstrakt erfasst,  wohl  aber  innerlich  geahnt  und  erlebt  hat,  so  mag 
nunmehr  wohl  auch  die  Lust  an  arithmetischer  Spekulation  die 
Frage  aufwerfen,  wie  die  Sache  wohl  weiter  laufen  werde.  Und 
sollte  das  tatsächlich  im  Leben  der  hart  ringenden  Völker  jener 
frühen  Entwicklungsstufen  nicht  der  ¥a.]\  gewesen  sein,  so  ist 
weiugstens  im  behaglicheren  Schulleben  die  Möglichkeit  nicht  aus- 
geschlossen,  diese  Neugierde  in  den  Kinderseelcn  zu  wecken. 

Wir  sprechen  demnach  der  Triebkraft  der  Begriffe  eine  gewisse 
Berechtigung  im  Unterrichte  kdneswegs  ab,  wenn  die  Hauptmasse 
eines  Beg^fTsbe7rrkes  gewonnen  ist,  so  mag  der  fehlende  Rest 
erzeugt  wcrdca  m  reiner  Zahlenspekulation.  Aber  die  Hmij itruasse, 
die  ersten  Anfänge  aller  Begriffszentren  bedürfen  äusserer  Anregung 
durch  die  Sachen.  Die  Rechenmeüiodik  hat  demnach  die  Sach- 
gebiete nicht  erst  heranzuholen,  wenn  es  gilt,  gefundene  Begriffe 
und  Gesetze  anzuwenden ;  die  Sachgebiete  haben  vielmehr  schon 
die  arithmetischen  Probleme  herbeizuschaffen:  Her  Unterricht  hat 
auszugehen  von  sachlichen  Problemen.  Der  Uedaakenfortschritt 
muss  unter  dem  Drucke  praktischer  Forderungen  stehen.  So  erst 
sieht  das  Kind  ein,  warum  es  notwendig  ist,  diese  und  jene  Rechen- 
ßlle  lösen  zu  können.  Noch  mehr,  oft  wird  es  sogar  erst  entdecken, 
dass  ein  solcher  Rechenfall  überhauj)t  existiert.  Auf  solche  Weise 
sind  alle  Hauptschritte  im  Aufbau  der  Zahlen  und  des  Rechnens, 
die  dem  Kinde  etwas  wirklich  Neues  bieten,  tu  tun;  manche  kleine 
Scliritte,  manche  einfache  Folgerungen  werden  wohl  auch  kurzer 
Hand  abzumachen  sein  ohne  eine  derartige  gewuchtige  Aktion. 

Wir  lehnen  demnach  das  weitverbreitete  Verfahren  ab,  das 
schon  genug  getan  zu  haben  glaubt,  wenn  es  die  Rechenregeln 
nidit  —  wie  die  alten  Rechenmeister  —  dogmatisch  ausschüttet, 
sondern  sie  aus  einigen  Beispielen  nackter  Zahlen  entwickelt.  Wir 
fordern  mehr.  Das  Kind  muss  auch  sehen,  welchen  Zweck  es  hat, 
solche  Aufgaben  zu  lösen.  Und  diese  Hinsicht  kann  ihm  nur 
kommen  von  Seiten  der  Sachen.  Alles  in  der  Welt  ist  nach  Zahl 
und  Mass  geordnet,  sagt  schon  die  Bibel.    Diese  Ordnung  der 


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Din[jc,  die  Verhältnisse  des  Lebens  zahlenmässig  zu  bemeistem, 
das  ist  der  Zweck  des  Rechnens  in  der  Volksschule.  Aus  diesem 
Grunde  muss  das  Rechnen  in  den  Sachen  aufgehen,  es  muss  in 
ihnen  Ausgang  und  Ziel  Anden. 

Welches  und  welcher  Art  sind  nun  diese  Sachgebiete  des 
Rechnens?  Im  Grunde  genommen  aBes,  was  der  Mensch  sieht, 
hört  oder  vorstellt  Es  kann  wenigstens  alles  mit  Zahlen  durch- 
leuchtet werden,  wenn  wir  den  Willen  haben  und  dazu  den  Ver- 
stand. Für  die  Methodik  handelt  es  sich  aber  nicht  um  die  Frage, 
was  gewaltsam  in  das  Rechnen  hineingezogen  werden  kann,  sondern 
was  sidi  dazu  anbietet;  welcher  Art  der  Stoff  sein  muss,  wenn  er 
eine  rechnerische  Behandlungsweise  herausfordert. 

Mit  den  Zahlen  hat  es  eine  eigene  Bewandtnis:  es  haftet  etwas 
verstandesmässig  Abwägendes  an  ihnen,  ein  kühler,  nuciiteraer 
Hauch  geht  von  ihnen  aus  und  streicht  über  die  Dinge,  die  in  ihren 
Bereich  gerückt  werden.  Ein  Zahlenmensch,  eine  lebendige  Rechen- 
maschine steht  im  Gerüche  eines  kalten,  geinütlosen  Gesellen.  Das 
ist  erklärlich.  Die  Zahl  kümmert  sich  nicht  um  den  Inhalt  der 
Dinge.  So  lange  der  Mensch  noch  sein  Interesse  konzentriert  auf 
deren  Eigenschaften,  so  lange  er  noch  mit  dem  erwärmenden  Ge* 
fühle  der  Sympatliie  an  dem  Einzelwesen  hängt,  so  lange  wird  es 
in  seinem  Geiste  nicht  y.ur  Znlilcneinhcit.  Nicht  was  ein  Ding  ist, 
sondern  dass  es  ist,  darum  uidclt  es  sich  bei  der  Zahl;  die  Ein- 
heit konstatiert,  dass  es  da  ist,  nichts  weiter.  Dass  der  Hotelgast, 
der  Zuchthaustnsasse  zur  23mmemummer  wird,  besagt,  dass  mah 
sie  nicht  mehr  als  Persönlichkeiten  einschätzt,  zu  denen  man  sich 
hingezogen  fiihlt  oder  von  denen  man  abgestossen  wird,  sondern 
nur  noch  als  Existenzen  bewertet,  welche  die  Zimmer  fiillen. 

Aus  solchen  Erwägungen  heraus  verlangen  einige  Methodiker, 
das  Rechnen  mQsse  ausgehen  von  Dingen,  welche  dem  Kinde  ganz 
gleichgültig  seien«  Sonst,  meinen  sie,  werde  es  gefasst  von  ihrem 
Inhalte  und  abgezogen  vom  ZahlmomenL  Sie  beginnen  daher  mit 
Kugeln,  Würfeln,  Stäbchen,  Punkten,  Steinchen,  Pappquadraten, 
kurz  mit  Gegenständen,  die  in  Massen  vorhanden  sind,  dea  Vorzug 
der  Handlichkeit  haben  infolge  massiger  Ausdehnung  und  daher  für 
das  rechnerische  Experiment  sehr  bequem  sind.  Es  sind  die  Körper 
ihrer  Anschauungsapparate.  Diese  Rechenmeister  gleichen  den 
Kabincttsmethodikerii  des  physikalischen  Unterrichts,  welche  aller 
Weisheit  Schluss  gefunden  /u  haben  glauben,  wenn  sie  an  die  Spitze 
der  Unterrichtseinheit  das  Experiment  steilen.  Aber  dieses  ist  doch 
nur  ein  Mittel  zum  Zweck,  ein  Mittel  zur  Erklärung  und  Aufhellung 
von  Naturerscheinungen.  Das  Experiment  hat  deshalb  an  zweite 
Stelle  zu  rücken,  Ziel  ist  die  Kr^rhrinung.  Ebenso  sind  iene  Zalil- 
ktirpcr  und  damit  die  ganze  Rechenmaschine  unterzuordnen  den 
sachlichen  Problemen. 

Gegenüber  der  Methodik  der  reinen  Zahlen  ist  das  soeben 


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gekennzeichnete  Verfahren  der  Zahlkörper  (Zahlmarken)  wohl  ein 
kleiner  Fortschritt.  Aber  er  genügt  nicht.  Der  Gesichtspunkt  der 
gleichgül tiefen  Dinge  ist  falsch.  Gewiss,  der  Inhalt  der  Dinge  darf 
die  Aufmerksamkeit  des  Rechners  nicht  aufzehren.  Aber  ein 
Interesse  müssen  sie  doch  noch  ffir  den  Menschen  haben,  wenn  das 
Verlangten  entstehen  soll,  sich  mit  ihrem  Wieviel  zu  befassen,  das 
Interesse  nämlich  an  ihrem  Vorhandensein.  Absolut  Gleichgültiges 
ist  gar  nicht  da,  man  nimmt  keine  Notiz  davon.  Wie  sollte  es  zum 
Rechnen  reizen?  Die  Frage  nach  dem  Viel  oder  Wenig  wird  nur 
dann  gestellt  werden,  wenn  auf  die  Menge  des  Vorhandenen  etwas 
ankommt,  wenn  auf  sie  aus  iigend  einem  Grunde  ein  besonderer 
Wert  gelegt  wird.  Also  nicht  die  reinen  Zahlen  regen  aus  sich 
heraus  die  Bildung  neuer  Zahlen  an,  auch  nicht  die  Dinge  an  sich; 
nur  der  Wert,  den  ihr  Sein  für  den  Menschen  hat.  Wenn  ein  Guts- 
besitzer seine  Schafe  zählt,  so  will  er  wissen,  wieviel  ihrer  vorhanden 
sind.  Und  dieses  Wieviel  muss  einen  Weit  fUr  ihn  haben.  Einen 
Haufen  Kieselsteine,  der  zuilUig  ihm  im  Wege  herumliegt,  zahlt  er 
mmmermehr;  den  schafft  er  ungezählt  beiseite.  Sobald  er  aber 
anfangt,  das  ein/.elnc  Schaf  zu  taxieren  auf  seinen  Krnährungszustand, 
so  entschwindet  ihm  die  Anzahl  aller  aus  dem  Sinne. 

Die  Vertreter  der  Gleichgültigkeitstheorie  inbezug  auf  die 
Sachen  widersprechen  sich  übrigens  selbst,  indem  sie  im  Gegensatz 
zu  ihren  Zielpunkten  für  die  Stnfp  der  Anwendung  der  entwickelten 
Bcgntt'e  und  Gesetze  wertvolle  Aufgaben  befürworien  und  auch 
bringen.  In  der  Anwendung  wertvolle  Dinge,  im  Ziele  wertlose! 
Werden  denn  die  Kinder  am  Ende  der  Unterrichtseinheit,  ins* 
besondere  bei  ihren  häuslichen  Lösungsversuchen  sachlicher  Auf- 
gaben,  wo  sie  sich  noch  dazu  selbst  überlassen  sind,  weniger  durch 
die  Qualität  der  Dinge  irritiert  als  im  Anfange,  vvu  doch  der  unter- 
richtende Lehrer  die  abirrenden  Kinder  wieder  auf  den  rechten 
Weg  leiten  kamt?  Der  Widerspruch  ist  aUzu  grdL  Hier  muss  noch 
ein  anderes  Leitmotiv  vorliegen,  dem  gegenüber  der  Gleichgültig' 
kcitsgrund  nur  wie  eine  verlegene  Ausrede  zu  bewerten  ist. 

Die  Anschauer  —  um  diese  handelt  es  sich  natürlich  —  über- 
schätzen den  Wert  ihrer  Anschauungsmittel.  Diese  sind  ihr  Ein 
und  Alles.  Daher  das  Bestreben  sie  in  den  Vordergrund  zu  rücken. 
Das  Kind  soll  die  Zahl,  die  Operation  sehen  und  ablesen.  Weil 
nun  selten  die  Dinge  so  handlich  sind,  dass  man  sie  in  die  Schul- 
stube vor  das  Angesicht  der  Kinder  bringen  kann  und  noch  dazu 
so,  dass  sie  alle  zugleich  in  den  Blickpunkt  des  Auges  fallen,  so 
meinen  sie,  der  Untenricht  müsse  mit  abgeblassten  Vorstellungen, 
mit  schwächlichen  Phantasiegebilden  arbeiten,  wenn  die  Lektion 
ihren  Au^ang  von  wertvollen  Sachen  nehmen  solle.  Aus  demselben 
Grunde  verwerfen  sie  vergangene  Geschehnisse  und  Zeiträume  als 
Ausgangspunkte,  z.  B.  die  Bestimmung  der  Anzahl  der  Tage  der 
Woche  zur  Gewinnung  der  Zahl  7.   (^merkung:  Das  Gesagte  be- 


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sieht  sich  natürlich  auf  die  untetsten  Schuljahre,  die  noch  der  HÜfik 
mittel  bedürfen). 

Die  gerügten  Mängel  müssen  wir  anerkennen.  Glücklicherweise 
lässt  sich  der  Übelstand  beseitigen  auf  die  denkbar  einfacliste  Art. 
Aber  gerade«  weil  die  Abhilfe  so  einfoch  is^  scheint  bisher  kein 
Mensch  auf  diesen  Gedanken  gekommen  zu  sein.  Die  Geometrie 
«^oll  uns  den  Weg  zeigen.  Auch  sie  hat  oft  genug  von  fiofiren- 
ständen  auszugehen,  welche  nicht  in  die  Schulstube  hineingetragen 
werden  können  (Denkmäler,  Häuser  usw.),  und  doch  sollen  sie  genau 
beschrieben  werden.  Wie  hilft  man  sich?  Man  macht  Modelle  der 
betreffenden  Gegenstände,  man  zieht  gleichsam  alle  wesentlichen 
Merkmale  der  Form  von  den  Gei^enstanden  ab  und  überträgt  sie 
auf  das  Modell.  Indem  der  Unter  ru  ht  Has  Modell  betrachtet,  be- 
schreibt er  den  Gegenstand.  Denn  iur  die  i>ander  ist  jenes  nicht 
eine  leere  Verkörperung  eines  abstrakten  Formentj^us,  sondern 
der  abgebildete  konkrete  Gegenstand  selt)st  Ein  dem  entsprechendes 
Verfahren  ist  auch  möglich  für  die  zahlcnmässige  Betrachtung^  einer 
Dinggruppe.  Jedes  Ding,  besser  gesa^jt  sein  Zahlmomcnt  die  Ein- 
heit, wird  dargestellt  durch  einen  Körper  unseres  Apparates.  So 
lösen  wir  gleichsam  das  Zahlmoment  von  der  abwes^iden  Gruppe 
ab  und  stellen  es  vor  die  Augen  der  Kinder.  Beim  Sachrechnen 
sind  also  die  Finger,  die  Kui^elu  Vertreter  der  Dinp^c,  der 
Geschehnisse,  der  Zeiträume.  Indem  wir  mit  den  sichtbaren  Zähl- 
marken rechnen,  rechnen  wir  mit  abwesenden  bachen.  Das  ist  eine 
ein&ehe  Lösung  der  scheinbar  so  unüberwindlichen  Schwierigkeit 

Zugleich  werden  dadurch  auch  die  Rechenapparate  in  die  ihnen 
zukommende  sekundäre  Stellung  verwiesen.  Die  Zählmarken  sind 
nur  Hilfsmittel,  auf  der  einen  Seite  Hilfsmittel  für  die  Versinnlichung 
der  abstrakten  Einheiten,  auf  der  anderen  llüfsmittel  der  Ver- 
sinnlichung des  Zahlmomentes  abwesender  oder  gedachter  Ding- 
gruppen. Oberall  ist  der  Rechenapparat  das  Untergeordnete,  das 
Nebensächliche,  eben  nur  ein  Hilfsmittel. 

Nun  könnte  jemand  einwenden:  man  könne  es  sich  schon  pfe- 
falien  lassen,  wenn  gedachte  Gegenstände  ersetzt  würden  durch 
sichtbare  Zahlkörper,  Dinge  durch  Dinge;  ein  anderes  sei  es  aber, 
2^träume  wie  die  Wochentage»  Geschehnisse  durch  Finger  oder 
Kugeln  vertreten  zu  lassen,  Zeiten  durch  Dinge.  Das  sei  doch  ein 
etwas  absonderhches  V^erfahren,  eine  ausgeklügelte  Weise.  Dem 
erwidere  ich:  Wird  nicht  auch  der  Zeitverlauf  räumlich  vorgestellt 
in  Form  einer  geraden  Linie?  Wie  macht  es  denn  der  Mensch, 
wenn  er  nicht  weiss,  ob  der  September  der  8.  oder  9.  Monat  ist? 
£r  zählt  die  Reihe  der  Monate  an  den  Fingern  ab  und  ersetzt  also 
auch  die  Zeiträume  durch  Grienst äude,  jeden  Monat  durch  einen 
Finger:  er  macht  das  Zaiilinoment  der  Monate  Januar  bis 
September  sichtbar  an  den  Fingern.  Das  ist  genau  dasselbe,  was 
wir  fiir  den  Unterricht  vorgeschlagen  haben.   Wenn  der  Vorgang 


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—    141  — 


hier  naturlich  ist  —  und  er  ist  es  — ,  so  kann  auch  unser  Unterrichts- 
verfahren nicht  unnatürlich  genannt  werden. 

Wenn  wir  auf  diese  Weise  im  Sachrechnen  die  Finger  und  die 
Kugeln  verwenden,  so  haben  wir  dieselben  Vorteile  wie  die  An« 
schauer  für  uns,  nämlich  die  auf  frische  Empfindungen  p^egründete 
sichere  Übersicht  über  die  Zahlmomente,  Wir  aber  stehen  noch 
günstiger  da.  Wir  haben  dazu  noch  wertvolle  sachhche  Ausgangs- 
punkte. Bei  uns  geht  die  Anregung  zum  Fortschreiten  im  be- 
grifflichen Rechnen  vom  Stoffe  aus,  bei  den  Methodikern  der  reinen 
Zahlen  und  der  gleichgültigen  Dinge  vom  Lehrer.  Wir  meinen 
aber,  der  Schüler  solle  vorwärtsstreben,  nicht  weil  der  Lehrer  das 
so  will,  sondern  weil  das  Interesse  am  Stoffe  ihn  anreizt.  Der  alte 
Spruch:  non  scholae,  sed  vitae  discimus  sagt  erst  die  halbe  Wahr- 
heit. Die  andere  Hälfte  muss  lauten:  vita  docet,  non  schola,  das 
Leben  ist  der  Jugend  Lehrer,  der  Lehrer  nur  tein  Mittler. 

Schlus  folgt. 


IV. 

Die  Herbart-Forschung  im  Jahre  1907. 

Von  Dr.  Hast  ZiMHer  in  Leipzig. 

Das  Erscheinen  dieses  Jahresberichtes  (abgeschlossen  am 
15.  Dezember  1907)  wurde  bereits  in  den  „Pädagogischen  Studien" 
(XXVIII,  3)  angekündigt.  Besprochen  werden  nur  Bücher  und  Auf- 
sätze, die  in  deutscher  Sprache  geschrieben  sind  und  sich  auf 
Herbart  selbst,  seine  Philosophie  und  Pädagogik,  beziehen:  seine 
Schüler  und  Nachfolger  bleiben  unberücksichtigt,  vor  allem  auch 
theoretische  und  praktische  Werke  im  Geiste  seiner  Lehre.  Ausser- 
dem ist  es  immer  viel  mehr  auf  einen  orientierenden  Bericht  als 
auf  eine  Kritik  abgesehen. 

Für  die  Zukunft  erbitte  ich  freundliche  unverlangte  Zusendung 
aller  ei^^schlägigen  Schrifien  und  Aufsätze  und  richte  diese  Bitte 
nicht  bloss  an  die  Autoren,  sondern  auch  an  die  Vcrlej^er:  was  in 
Matth.  Ren  als  Schrift  „Herbart  Zur  Würdigung  seiner 
i'ädagugik"  steht,  kann  ich  meinen  Lesern  nicht  verraten,  da  ich 
das  eroetene  Werkdien  vom  Verleger  Val.  Höfling  in  München 
nidit  erhalten  habe.  Dasselbe  gilt  leider  auch  von  Paul  Natorps 
„Gesammelten  Abhandlungen  zur  Sozi al  päd  agogik", 
I.  Abt.  Historisches.  Stuttgart  \<>n~  .  Fr.  Fromman  (K.  Hauff). 
Über  dieses  510  Seiten  starke  Werk  kann  ich  nur  in  Anlehnung  an 
Wilhelm  Münchs  Besprechung  in  der  „Deutschen  Literaturzeitung", 
XXVnii  12;  23.  März  1907,  referieren.  Das  Buch  enthalt  neun  zum 


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—    142  — 


Teil  sehr  umfassende  Arbeiten,  darunter  die  früher  als  selbständige 
Schrift  erschienenen  Vorträge  Qber  „Herbart,  Pestalozzi  und 

die  heutigen  Aufgaben  der  Emchungslehre".  Auch  die  meisten 
anderen  Arbeiten  handeln  von  Herbart  und  Pestalozzi.  Natorp 
bekennt  selbst,  dass  er  früher  „etwas  schneidend"  g^egcn  Herbart 
aufgetreten  sei.  Er  hat  dessen  Theorie  aufs  neue  geprüft  und 
spricht  ihm  jetzt  das  Verdienst  zu,  in  der  psychologischen  Be- 
obachtung „immer  achtungswert"  zu  sein.  Eine  „reiche  FlUle  ge- 
haltvoller Einzclbemcrkungen  und  fruchtverheissender  Anregungen" 
werde  bei  ihm  gefunden.  Im  übrigen  ist  Natorps  Standpunkt  «^^ei^^en 
HerbarL  und  für  Pestalozzi  derselbe  geblieben.  InLcrcsbanL  und  be- 
herzigenswert sind  die  feinen  Bemerkungen,  die  Münch  in  seiner 
Besprechung  gegen  diesen  Standpunkt  macht.  Unter  dem  Titel 
„Kant  oder  Herbart?"  erwidert  Natorp  in  den  .Gesammelten  Ab- 
handlungen"   den   Herbartianem ,    die   scmc    Kmik   Herbarts  an- 

tegriffen  haben.  „Neue  Untersuchungen  über  Herbarts  Grundlegung 
er  Erziehungslehre"  madien  den  Beschluss  der  Sammlung. 

Ein  Bericht  über  die  Herbart-Forschung  im  Jahre  1907  darf 
vor  allem  mit  grösster  Genugtuung  der  hocherfreulichen  Tatsache 
gedenken»  dass  Karl  Kehrbachs  Au^abe  von  Herbarts  „Samt« 

liehen  Werken"  {Langensalza,  Hermann  Beyer  &  Söhne),  die 
beinahe  ganz  zu  versanden  drohte,  überraschend  frisch  und  energisch 
wieder  aufgelebt  ist.  Zehn  Bände  hatte  Kehrbach  seit  1887  besorgt, 
und  jetzt,  nach  langer  Pause,  haben  wir  in  einem  Jahre  gleich 
drei  Bände  erhalten.  Bd.  XI  bietet  die  „Commentatio  de  realismo 
naturali  *  fi<*^37',  die  ,, Erinnerung  an  die  Göttingische  Katastrophe 
im  Jahre  1837",  die  „Psychologischen  Untersuchungen"  von  1839/40 
(nebst  Bruchstücken  des  3.  Heftes)  und  „Aphorismen  zur  Psycho- 
logie". Bd.  Xn  und  XIII  bringen  Herbarts  Rezensionen.  Es  ist  gar 
keine  Frage,  dass  mit  diesem  Wiederaufleben  der  Kehrbachschen 
Ausgabe  —  zu  danken  ist  es  neben  dem  Verleger  dem  neuen  Heraus- 
geber Otto  Flügel  —  ein  frischer  Zug  in  die  Herbart-Forschung 
gekommen  ist;  und  das  ist  mit  grösster  Freude  zu  bcgrüssen. 

Bd.  XII  und  XIII  teilen  unter  den  Rezensionen  Herbarts  auch 
eine  Reihe  bisher  unbekannter  mit.  Darunter  befindet  sich  eine 
über  Fichtes  „Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters"  (Berlin  1806), 
die  in  der  ..Neuen  Leipziger  Literaturzcttung"  vom  21.  Januar  1807 
erschienen  ist.  Otto  Flügel  hat  diese  ziemlich  ausführhche  und 
starke  Bedenken  gegen  Fichtes  Bucii  geltend  machende  Kezcnsioa 
noch  vor  ihrem  Wiederabdruck  in  Bd.  Xm  der  „Sämtlichen  Werke** 
in  einer  Studie  „Herbart  Über  Fichte  im  Jahre  1806"  (Langen- 
salza, Hermann  Beyer  &  Söhne;  „Pädagogisches  Magazin",  Heft  297) 
mitgeteilt  und  mit  einer  gediegenen  geschichtlichen  Einleitung  ver- 


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—   143  — 


sehen,  die  vor  allem  scharf  zwischen  den  philosophischen  und  den 
patriotischen  Werken  Fichtes  scheidet  und  auch  die  Verschiedenheit 
von  Herbaits  Urteil  über  die  einen  und  die  anderen  klar  hervorhebt 
Auch  von  einer  anderen  Herbart- Ausgabe,  von  Emst  Wagners 

„Vollständiger  Darstellung  der  Lehre  Herbarts" 
(„Gresslers  Klassiker  der  Pädagogik",  Bd.  I ;  Langensalza,  Schulbuch- 
bamilun^  von  F.  G.  L.  Gresslcr),  ist  Erfreuliches  zu  vermelden:  im 
Berichtsjahr  ist  die  elfte  Auflage  erschienen,  abermals  vermehrt  und 
verbessert.  Vermehrt  vor  allem  durch  ein  alphabetisches  Sach- 
register, das  vielen  willkommen  sein  wird,  aber  auch  durch  den 
Zusatz  ,4^urze  Charakteristik  der  Pädagogik  Herbarts"  zu  der  bio- 
graphischen Einleitung;  verbessert  durch  eine  neue  Revision  des 
Textes  an  der  Hand  der  Hartensteinschen  Gesamtausgabe. 

Gewissermassen  einen  kleinen  Nachtrag  zu  den  vorhandenen 
Ausgaben  bietet  Theodor  Fritz  sc  !i,  der  in  der  „Zeitschrift  für 
Philosophie  und  Pädaj^Of^ik"  (X\',  3:  ein  bisher  unbekanntes  Stamm- 
buchblatt Herbarts  aus  dem  Stammbuch  des  aus  Oldenburg 
gebürtigen  Jenenser  Studenten  Rumpf  (vom  21.  August  1795)  mitteilt 

II.  GMoMoMItelies. 

Otto  P^lügel,  dessen  schon  oben  lobend  gedacht  werden 
musste,  hat  uns  im  Berichtsjahre  noch  mit  einer  anderen  Gabe 

beschenkt:  mit  seiner  Schrift  „Herbarts  Lehren  und  Leben" 
(Lcipzit^,  B.  G.  Teubner;  „Aus  Natur  und  Gcisteswclt",  164  I>andchen). 
2H  Seiten  „Leben"  —  128  Seiten  „Lehren":  es  ist  kein  Wunder, 
dass  der  beste  Kenner  von  Herbarts  Philosophie  und  Pädagogik  in 
seiner  gehaltvollen  Schrift  die  ,4^hren"  so  stark  überwiegen  licss» 
denn  „Herbarts  Leben  ist  arm  an  Taten;  Denken  war  seine  Tat" 
(S.  128),  und  auch  Flü<^els  Leben  ist  Denken,  immer  neues  Durrh- 
und Weiterdenken  der  Lehren  seines  Meisters.  Line  kurze  llerljart- 
Biographie  konnte  auch  ein  anderer  schreiben,  dagegen  eine  bei 
aller  Knappheit  so  voUstindige  und  selbständige  Darstellung  des 
Herbartschen  Systems  zu  geben,  dazu  bedurfte  es  nicht  bloss  der 
souveränen  Stoffbeherrschung  Flügels,  sondern  auch  seines  hervor- 
ragenden Geschicks,  die  schwierigsten  Gedankengänge  in  schlichten, 
klaren  Worten  leicht  fassüch  auseinanderzulegen.  Wie  Herbart 
selbst  sein  System  in  mannigfachen  Formen,  immer  wieder  von 
einem  anderen  Ausgangspunkte  aus  und  in  einer  anderen  Be- 
ieoditung,  voi^etragen  hat,  so  hat  auch  Flüf^cl  die  Lehren  des 
grossen  Philosophen  bereits  oft  und  sehr  verschieden  vorgetragen: 
ich  glaube  ihm  das  grösste  Lob  zu  spenden,  wenn  ich  sage,  dass 
es  ihm  hier  gelungen  ist,  denselben  Stoff  abermals  in  einer  neuen 
Form»  in  fesselnder  Anordnung  und  Gliederung,  sofort  in  die  Mitte 
der  Philosophie,  in  das  Problem  des  Ich  führend,  darzustellen. 

£in  Beitrag  zu  der  noch  lange  nicht  genug  gepflegten  ver« 


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—    144  — 


gleichenden  Biidungsgeschichte  ist  Dr.  Well  er  s  fletssige  Arbeit 
, »Locke,  Jean  Paul  und  Herbart  über  Jugendspiele"  („Deutsdie 
Blatter  für  erziehenden  Unterricht",  XXXV,  5  ffg.).    Weller  vergleicht 

die  Ansirhtcn  der  drei  genannten  Pädagogen  über  das  Wesen  der 
kindlichen  bpicic,  über  Arten  und  Einteilung  der  Spiele,  über  Nutzen 
und  Bedeutung  der  Spiele,  über  das  Verhältnis  des  Erziehers  gegen- 
über den  Spielen,  über  Wesen,  Ait  und  Beschaffenheit  der  Spiel- 
aachen, Dabei  geht  er,  weil  Jean  Paul  der  einzige  von  den  drei 
Pädagogen  ist,  der  ein  festgefügtes  logisches  Schema  über  die 
Spiele  aufgestellt  hat,  immer  von  diesem  aus.  Herbart  und  Locke, 
die  nur  verstreute  Bemerkungen  ohne  inneren  Zusammenhang  über 
die  Spiele  niedergeschrieben  haben,  lassen  doch  „im  wesentlichen 
diescn)cn  Gesichtspunkte  hervorspringen  wie  Jean  Faul,  so  dass 
infolgedessen  auch  ihre  Ansichten  in  <lnrchgängiger  Parallele  mit 
denen  Jean  E'auls  skizziert  werden'"  koiuuen. 

Zwei  ganz  besonders  wertvolle  Beiträge  zur  Herbartforschung 
verdanken  wir  dem  Hannoverischen  Professor  Geriiard  Budde. 
Wenn  ich  sein  neues  Buch  „Die  Theorie  des  fremdsprach- 
lichen U  n  t  c  r  r  i  r  Ii  t  s  in  der  IKrbart  sehen  Schule.  Eine 
historisch-kritische  Studie"  (Hannover  und  Leipzig,  Hahnsche  Buch- 
handlung) bespreche,  so  muss  ich  von  vornherein  erklären,  gerade 
über  den  Teu  des  Buches»  in  dem  Budde  selbst  den  Gipfel  seiner 
Arbeit  erblicken  wird,  über  seine  praktisch-didaktischen  Ausführungen 
im  allgemeinen  und  besonders  über  seinen  Vorschlag  zu  einer  Neu- 
gestaltung des  gesamten  fremdsprachlichen  Unterrichf^  nach  einem 
einheitlichen  Prinzip,  nicht  kompetent  urteilen  zu  können.  Aber 
doch  darf  ich  wenigstens  als  m«ne  persönliche  Oberzeugung  aus» 
sprechen,  dass  Buddes  Darlegungen  allesamt  ernste  Beachtung  und 
lebhafte  Diskussion,  in  den  meisten  P'ällen  wohl  auch  Zustimmung 
verdienen:  aus  allen  spricht  ein  Mann,  der  mit  reicher  praktischer 
Erfahrung  die  Fähigkeit  fruchtbaren  theoretischen  Nachdenkens  ver- 
bindet, der  nie  über  das  Ziel  hinausschtesst,  sondern  mit  wohl- 
tuender Besonnenheit  das  Für  und  Wider  gewissenhaft  abwägt 
Dass  Budde  überhaupt  an  den  Schluss  des  historisch  \  isierten  Buches 
seine  eigenen  Vo? -schlage  gestellt  hat,  ist  kein  Zufall:  sie  stehen 
in  wesentlichen  Tunkten  auf  1  lerbartianischem  Boden.  Dass  ferner 
die  neusprachliche  Reformbewegung  im  Zusammenhange  dieses 
Buches  mitbehandelt  ist,  mag  manchen,  wenn  er  nur  daus  Inhalts* 
Verzeichnis  ansieht,  wundernehmen,  findet  aber  ebenfalls  seine  Be- 
rechtigung darin,  dass  Budde  iibcrj^eugt  ist,  die  Uf^irlie  dieser 
Bewegung  liege  in  der  Hcrbartschcii  Pädagogik  Der  geschicht- 
liche leil  des  Werkes  —  hier  darf  ein  bestimnilcies  Urteil  gewagt 
werden  —  ist  ausserordentlich  wertvoll.  Alles  springt  Idar  heraus, 
die  Theorie  Merbarts,  ihre  Weiterbildung,  die  Abweichungen  der 
Anhänger  Herbarts  vom  Meister  u.  s.  f.  kvirz  die  ganze  Entwicklungp- 
rcihe  mehr  denn  eines  halben  Jahrhunderts.   Sie  so  scharf  heraus- 


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—   145  — 


zuarbeiten,  waur  um  so  weniger  leicht,  als  Budde  nicht  sdten  statt 
Züsammettbangeiider  Ausfutmingen  nur  verstreute  Bemericungen 
vorfand,  die  er  erst  zu  einem  Ganzen  zusammenschliessen  musste. 

Spezieller  gehalten  ist  Buddes  Studie  „Das  lateinische 
Extemporale  im  Urteil  der  H  erbartschen  Schule"  („Zeit- 
schrift für  das  Gymnasialwesen",  LXI,  6).  Die  „Extemporalenot", 
die  vor  rddilidi  einem  Jahrzehnt  und  früher  mit  im  Vordergründe 
der  pädagog^Mhen  Diskussion  stand,  ist  nach  Buddes  Ansicht  auch 
heute  noch  nicht  überwunden.  „Ich  behaupte  im  Gegenteil,  dass 
in  der  Wirklichkeit  das  Extemporale  vielfach  noch  ebenso  inszeniert, 
eingerichtet  und  beurteilt  wird  wie  vor  zwanzig  Jahren.  Dieser 
Extemporalebetrieb  ist  aber  ein  grosser  Schaden  in  unserer  Gym" 
nasialpädagogik.  Deshalb  haben  auch  aUe  Lehrer  und  Pädagogen, 
die  sich  nicht  im  Bnntie  einer  ungesunden  philoloj^ischcn  Tradition 
befanden,  ihn  aufs  helli*^sie  bekämpft  und  eine  Reform  derselben 
verlangt,  so  z.  B.  aucii  die  hervorragendsten  Vertreter  der  Her- 
bartschen  Schule."  .  .  .  „Herbart  selbst  hat  sich  nicht  speziell  über 
das  Extemporale,  wohl  aber  allgemein  über  schriftliche  Arbeiten  im 
fremdsprachlichen  Unterricht  geäussert/'  und  seine  Ar^'^chauungen 
klin'^en  durch  die  Ausführungen  aller  seiner  Anhänger,  deren  Spe7.ial- 
meinungen  über  das  Extemporale  Budde  mitteilt,  hindurch,  nament- 
lich der  Satz:  „Es  wäre  besser,  das  Erreichbare  häufig  zu  üben, 
nämlidi  das  Schreiben  in  den  Lehrstunden  selbst  mit  Hilfe  des 
Lehrers  und  nach  gemeinsamer  Überlegung."  Besonders  ausführlich 
haben  sich  Frick,  Hermann  Schiller,  Dettweiler  und  Adolf  Matthias 
über  das  Extemporale  ausgesprochen;  J.  Lattmanns  Ansicht  konnte 
Budde  leider  nidit  wiedergeben,  wdl  sich  Lattmann  ausdrücldich 
dagegen  verwahrt,  zu  den  Herbartianem  gerechnet  zu  werden.  Am 
Schluss  des  gründlichen  Aufsatzes  kommt  Budde  auf  das  hinaus, 
was  ihm  im  letzten  Grunde  am  meisten  am  Herzen  liegt:  auf  seine 
praktischen  Vorschläge  für  den  fremdsprachlichen  Unterricht die 
uns  indessen  hier  nicht  näher  angehen.  ' 

m.  Dlt  ailileitartlfolra  StrSnung. 

Derselbe  Gerhard  Budde,  von  dem  eben  die  Rede  waf,  hat 
in  den  „Neuen  Jahrbüchern"  {2.  Abt.,  XX,  4)  einen  Aufsatz  ,„Die 
antiherbartische  Strömung  in  der  Pädagogik  dtt 
(regen wart"  veröffentlicht,  der  viel  zu  denken  gibt.   Budde  hat 

es  sich  nicht  zur  Aufgabe  gesetzt,  die  ganze  antiherbartische 
Strömung  in  der  Pädagogik  der  Gegenwart  zu  behandeln  —  die 
Angriffe  durch  die  „V'ulgärpädagogik",  aus  dem  Lager  der 
WundttaneTf  durch  -Leonhard  Veehs  „Pädagogik  des  Pessimiinras", 
durch  die  Volkstumspädagogtk  usw.  fehlen  — ,  sondern  seine  Arbeit 
ist  xxiederum  ein  Zeil  seiner  ertragreichen  Studien  zur  Geschichte 
und  Theorie  des  fremdsprachlichen  Unterrichts.    Einleitend  geht 

UhUgosisebe  Siudien.  XXIX.  8.  10 


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—   146  — 


Budde  davon  aus,  dass  es  tief  zu  bedauern  sein  würde,  wenn  bei 
dem  berechtigten  Kampf  gegen  die  didaktischen  Übertreibungen 
und  den  pädagogischen  Mechanismus,  in  die  eine  gewisse  Richtung 
unter  den  Herbartianem  geraten  sei,  etwa  auch  die  wertvollsten 
Grundgedanken  der  Herbartschen  Pädagogik  verloren  geben  soUten. 
Der  Überdniss  gegen  jene  cfidaktischen  Hyberbeln  unter  den  Volks- 
srhriüehrern  sei  verständlich  und  gesund,  ein  Verzicht  auf  die 
Herbartschen  Fundamentallohren  dagegen  nicht  Die  Abneigung 
gegen  die  Herbarti>chc  Schule  unter  den  Gymnasialle  hrern  und 
besonders  unter  den  Philologen  erklare  sidh  aus  der  Stellung,  die 
Herbart  zum  Sprachunterricht  einnehme,  ^ße  sei  der  Kampf  gegen 
den  philolop^isrhen  Formalismus  mit  grösserer  Schärfe,  aber  auch 
nie  mit  grösserer  Meisterschaft  geführt  worden  als  im  Zeitalter  des 
Hcrbartianismus,  und  dieser  Kampf  eegen  die  „formale  Bildung" 
durch  die  alten  Sprachen  sei  den  HerDartianem  von  den  Philologen 
arg  verübelt  worden.  So  tauchten  denn  auch  sogar  hier  und  da 
Stimmen  auf,  die  Herhartlaner  wollten  von  dem  ganzen  alt- 
sprachlichen Unterricht  nichts  wissen,  was  indessen  den  Tatsachen 
vollständig  widerspricht  ,^erbart  und  seine  Schüler  wullten  ur> 
sprüngUch  weiter  nichts^  als  auch  den  fremdsprachlichen,  speziell 
auch  den  altsprachlichen  Unterricht  zu  einem  allseitig  erziehenden 
machen,  und  sie  waren  mit  Recht  der  Mciniinf;,  dass  ein  Sprach- 
unterricht, der  in  formalistischen  l  'bungcn  aufgeht  und  die  Aneignung 
des  Inhalts  der  Autoren  als  uuantite  negiigeable  ansieht,  in  dieser 
Beziehung  gar  nichts  leistet  So  war  al^r  jahrzehntelang  der  alt- 
sprachliche  Unterricht  beschaffen,  und  es  ist  ein  unvera;angtiches 
Verdienst  der  Herbartianer,  auf  diesen  Krebsschaden  des  Gymnasial- 
unterrichts mit  aller  wünschenswerten  Deutlichkeit  hingewiesen  und 
mit  Energie  und  Konsequenz  auf  seine  Beseitigung  hingearbeitet  zu 
haben."  Afit  vollem  Recht  machen  die  Herbarlianer  geltend,  „dass 
das  letzte  und  höchste  Ziel  des  Sprachunterrichts  das  Veistandnis 
der  Schriftsteller  sein  müsse,  und  wenn  in  diesem  Punkte  neuerdings 
an  unseren  höheren  Schulen  etwas  mehr  erreicht  wird  .  .  .,  so  ist 
das  den  Bestrebungen  der  Herbartschen  Schule  zu  verdanken." 
Dass  aber  in  dieser  Beziehung  ihr  Einfluss  nicht  tiefere  Wirkungen 
cfzielt  hatt  liegt  daran,  dass  sie  auch  hier  in  didaktische  Künsteleien 
und  Übertreibungen  verfielen.  So  verfochten  sie  u.  a.  „eine 
Gestaltung  des  lateinischen  Unterrichts  auf  der  Unter-  und  Mittel- 
stufe der  Gymnasien,  die  sich  in  der  Praxis  sehr  bald  als  unhaltbar 
erweisen  musste".  Sic  machten  schon  auf  diesen  Stufen«  wo  die 
lateinische  Sprache  als  solche  erst  gelernt  werden  muss»  um  später 
auf  der  Obeistufe  mit  ihr  arbeiten  zu  können,  den  Sprachunterricht 
zu  einem  blossen  Appendix-  des  Sachunterrichts.  „Hierin 
zeigte  sich  einer  der  Grun  lirrtiimer  der  Herbartianer,  dass  sie 
nämUch  glaubten,  es  müsse  nun  jeder  einzelne  Unterrichtszweig 
die  erziehenden  Aufgaben  eriÜUeni  die  dem  Gesamtunterricht  mit 


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—   147  — 


Recht  von  Herbart  gestellt  waren."  Durcfi  die  T 'czcmbcrkonferenz 
vom  Jahre  1890  zog  dieser  Irrtum  in  die  Lehrpläne  von  1092  mit 
dn.  Ab  darüber  aUenthalben  gemurrt  wurde»  geschah  wieder  etwas 
Bedauerliches,  ^tatt  die  Einrichtung  des  lateinischen  Unterrichts 
auf  der  Unter-  und  Mittelstufe  tu  ändern,  und  :'\var  in  der 
Weise,  dass  hier  in  erster  Linie  die  Sprache  erlernt  werden 
konnte,  opferte  man  in  den  Lehrplaoen  von  1901  den  Formalisten 
auch  wieder  die  Oberstufe."  „Der  Geist,  der  uns  aus  den  Be- 
Stimmungen  der  letzten  Lehrpl&ie  über  die  Gestaltung  des  alt- 
■sprachlichen  Unterrichte^  auf  der  Oberstufe  entgegenweht,  ist 
antiherbartisch.  Wegen  eines  Irrtums  hat  man  das  ganze  System 
aufgegeben.  Das  war  ein  beklagenswerter  Rückschritt  Denn  was 
Hert>ttt  über  die  letzten  Ziele  des  altsprachlichen  Unterrichts  sagt, 
ist  sicherlich  richtig.  Es  ist  unbestreitbar  .  .  ^  dass,  wie  Herbart 
bemerkt,  ein  Sprachunterricht,  der  nicht  zum  vollen  Genüsse  des 
Inhalts  der  Autoren  führt,  die  auf  ihn  verwandte  Zeit  nicht  wert 
ist"  Diesen  seinen  Hauptausführungen  lasst  Budde  noch  ein  Wort 
über  die  Abwendung  der  Hochschullehrer  von  Herbart  folgen. 
Er  wendet  sich  dabei  gegen  Natorp,  kommt  aber  auch  hier  auf 
sein  Spezialthema,  die  Theorie  des  fremdsprachlichen  Unterrichts, 
indem  er  Natorp  vorwirft,  als  höchstes  Ziel  des  Sprachunterrichts 
wieder  die  „formale  Bildung"  zu  proklamieren.  Der  bedeutungs- 
volle Aufsatz  schliesst  mit  den  Worten:  „Ich  glaube,  dass  es  die 
Au%abe  der  PSdagogik  der  nächsten  Zukunft  sein  muas,  sich  von 
den  mancherlei  EioMitigkeiten  und  Übertreibungen  der  Herbartianer 
noch  mehr  frei  zu  machen,  als  es  bis  jetzt  schon  geschehen  ist, 
und  die  antiherbartische  Strömung,  die  sich  gegen  sie  richtet,  ist 
vollauf  berechtigt,  aber  wir  werden  meiner  Meinung  nach  die 
Grundlehren  des  erziehenden  Unterrichts  nicht  wieder 
prdsgeben  dürfen,  wenn  uns  eine  gesunde  Weiterentwicklung  der 
Fadri^ogik  am  Herzen  liegt  Bestrehiinf^cn,  die  auf  ihre  Preisgabe 
genciitet  sind,  muss  unentwegt  entgegengerufen  werden:  Zurück  zu 
Herbart  1" 

Auf  päd  agogischem  Gebiete  äusserte  sich  die  antiherbartische 

Strömung  im  Berichtsjahr  zunächst  in  zwei  Aufsätzen,  die  religiöse 
Bedenken  ge^en  Herbart  vorbrachten.  Im  „Philosophischen  Jahr- 
buch der  Gorres-Gescllschaft"  (S.  22  fi;  den  Schluss  habe  ich  nicht 
bekommen)  veröffentlichte  Karl  Krings  eine  „kritische"  Be- 
antwortung der  Frage  „Darf  der  Mensen  nach  den  Prinzipien 
Herbarts  erzogen  werden?"  Der  VerÜBiSBer  wirft  das  Problem 
auf,  „ob  vom  Standpunkte  des  Christentums  aus  der  Mensch  nach 
den  IVinzipien  Herbarts  erzogen  werden  darf."  Man  muss  ihm  zu- 
gestehen, dass  er  nicht  bloss  „vom  Standpunkte  des  Christen- 
tums aus"  urteilt,  man  muss  ihm  gewiss  auch  das  Recht  lassen,  die 
christliche  Lehre  vergleichsweise  neben  die  Herbarts  zu  stellen  und 
sich  auf  Grund  dieses  Veigleiches  zu  entscheiden,  auf  welche  Seite 

10* 


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—    I4&  — 


9r  sieb  schlagen  will,  aber  alles,  was  er  seinem  grossen  Gegner  im 
einaelnen  vorwirft,  gipfelt  zuletzt  doch  in  dem  —  freilich  nicht 

geradezu  ausgesprochenen,  logisch  indessen  unabweisbaren  — 
Generalvorwurf,  dass  Herbart  seine  Pädagogik  auf  seiner 
Philosophie  aufgebaut  habe.  Man  braucht  den  Gedanken  nur 
einmal  umzudrehen  und  zu  fragen:  wäre  Herbait  ein  konse- 
quenter Denker  gewesen,  wenn  er  seine  Pädagogik  nicht  auf 
seine  Pädagogik  aufgebaut  hätte?  um  die  Ungeheuerlichkeit  ganz 
zu  verstehen,  die  in  diesem  kühnen  Vonvurf  steckt.  Dazu  kommt 
noch,  dass  Krings  Herbarts  Lehre  in  mancher  Beziehung  schief 
darstellt :  wen  man  kritisieren  will,  dem  muss  man  doch  wenigstens 
die  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen,  dass  man  seine  Lehre  genau 
wiedergibt;  und  dazu  muss  man  sie  denn  freilich  erst  einmal  genau 
—  kennen.  Es  genügt,  um  die  ganze  Arbeit  zu  charakterisieren, 
eine  Gedankenfolge  aus  ihr  anzuführen:  „Ganz  falsch  und  zur 
Grundlage  einer  Erziehung  vollständig  ungeeignet  sind  die  Begriffe 
von  Autorität  und  Liebe  im  Herbartschen  Sinne  .  .  .  Die  Autorität 
des  Erziehers  ist  ein  Ausfluss  der  göttlichen  Autorität  und  hat 
hierin  den  Grund  ihrer  Verpflichtung  .  .  .  Die  Liehe,  die  zwischen 
Lehrer  und  Zögling  bestehen  muss,  ist  die  aus  der  Gottesfurcht 
hervorquellende  Tugend.  Nur  die  cliristlichc  Liebe  ist  die 
erwärmende  und  befruchtende  Sonne  bei  dem  ganzen  Erziehungs- 
geschäfte .  .  Durch  Herbart  wird  „die  Religion  von  vornherein 
ihrer  zentralen  Stellung  in  der  Erziehung  l)eraubt." 

Ahnlich  wie  der  Katholik  Krings,  aber  \iel  massvoller,  stellt 
sich  der  Protestant  Georg  Stempflc  in  seiner  Studie  „Die  tut 
den  praktischen  Schulmann  wichtigsten  Forderungen 
der  Herbart'schen  Pädagogik"  („Neue  Blätter  aus  Sud- 
deutschland für  Erziehung  und  Unterricht"  XXXVI,  5)  zu  Herbart 
Seine  klare  und  bestimmte  Analyse  der  wichtigsten  I'orderungen 
des  Meisten»  gegenüber  dem  didaktischen  Materialismus  und 
Verbaltsmus  der  „Vulgärpädagogik''  lässt  er  ausklingen  in  dem  Satz: 
jDie  Herbart*sche  Pädagogik  kann  uns  viel  lehren»  und  wäre  es 
auch  nur  der  Ernst,  mit  dem  alle  Erzichungsfragcn  und  Erziehungs- 
sorgen behandelt  sein  wollen."  Und  an  einer  anderen  Stelle  macht 
er  als  tüchtiger  Herbart-Keqner  die  feine  Beobachtung,  man  sei 
Herbärts  System  gegenüber  eistaunt  „über  die  £inf£hheit  der 
Voraussetzungen,  über  die  strenge,  unerbittliche  Konsequenz  der 
Folgerungen,  überrascht  von  der  Einheit  des  Ganzen  und  dem 
innigen  Zusammenhang  der  Teile."  Trotzdem  stände  Herbarts 
Pädagogik  „mit  unserer  christlichen  Weltanschauung  in  vielen 
Punlcten  in  direktem  Widerepruch  .  .  .  kennt  er  doch  keine  Erb- 
sünde, weiss  auch  nidits  von  einem  Gewissen  als  Stimme  Gottes'* . . . 
„Wenn  wir  trotzdem  uns  mit  den  Massregeln,  welche  Herbart  zur 
Bildung  eines  sittlich  guten  und  starken  Charakters  angibt,  fast 
durchweg  einverstanden  erklären  können,  so  ist  es  der  warme 


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—    »49  — 


Idealismus  des  Mannes,  der  es  uns  angetan  hat,  des  Mannes,  dessen 
Her/  in  hoher  Begeisterung  fiir  die  Jugend  und  in  inniger  liebe  für 
seine  Mitmenschen  schlug." 

Auch  Ernst  Linde  trat  mit  einem  Artikelchcn  „Persönlich- 
kettspädagogik,  Herbartianismus  und  Sozialblldung ' 
CJ^ie  deutsche  Schule"  X,  1 2)  gegen  Herbart  in  die  Schranken.  Zu 
der  „erneuten  Abrechnung",  die  Rissmann  in  dem  Oktoberheft  1906 
der   „Deutschen   Schule"    mit  der   Herbart-Zillcrschen  Pädagogik 

f ehalten  habe,  macht  er  einige  ergänzende  Bemerkungen,  deren 
lern  in  folgenden  Sätzen  liegt:  „Vor  allem  bin  ich  mit  seiner 
[Rissmanns]  Charakterisierung  des  Herbartianismus  einverstanden; 
nur  dass  ich  hier  zu  den  drei  Merkmalen  desselben,  wie  sie  dort 
angegeben  sind:  Individualismus,  Moralismus  und  Intcllekiualismus, 
noch  ein  viertes  ergänzend  hinzufüge :  Methodismus.  Ich  ver- 
stehe darunter  die  Überschätzung  der  methodischen  Gestaltung  des 
Unterrichts»  den  naiven  Glaul^n,  es  sei  mdglich,  den  ganzen 
Komplex  der  pädagogischen  Praxis  in  ein  System  von  Regeln  zu 
bringen,  sodass  jeder,  der  sich  diese  Rc^^eln  aneigne  und  nach 
ihnen  verfahre,  unfehlbar  cry.iehendcn  l'nlcrricht  erteile.  Dieser 
MethudisiTius  ist  meines  Erachtens  nicht  das  geringste  Übel,  woran 
die  Herbart-ZiUersche  Pädagogik  krankt  und  er  ist  es  ganz  be» 
sonders»  dem  ich  den  Begriff  der  »Persönlichkeitspädagogik'  entgegen- 
setze. Denn  icli  v  erstehe  unter  Persönlichkeitspädagogik  —  nicht, 
wie  man  mir  unterstellt  hat,  eine  l^iiterschätzung  oder  gar  Ver- 
achtung der  Methode  —  sondern  die  reciite  Schätzung  derselben, 
nämlich  als  eines  Mittels,  kraft  dessen  sich  die  Erzieherpersönlichkeit 
unterrichtlich  erfolgreicher  auszuwirken  in  1^,  sowie  die  feste 
Überzeugung,  dass  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  das  eii^cntlichc 
Agens  des  Unterrichts  ist,  und  dass  kein  Stoff,  selbst  bei  korrek- 
tester methodischer  Beiiandlung,  seine  wahrhaft  erzieherische,  d.  i. 
gemüts^  und  willenbildende  Kraft  zu  entfalten  vermag,  wenn  er 
nicht  im  Lehrer  zunächst  Persönlichkeitsform  angenommen,  d.  h. 
ihm  ein  wertvolles  Gut  geworden  ist,  ilcm  sein  Herz  ^.a^iiürt."  Tjado 
hebt  dann  noch  hervor,  dass  seine  Anschauungen  sich  eng  mit 
denen  der  Sozialpädagogen  berühren.  ..Und  wenn  der  soziale 
Charakter  meiner  Persönlichkeitspädagogik  aus  nichts  anderm 
hervorginge,  so  liesse  er  sich  doch  schon  daraus  erkennen,  dass 
diese  sowohl  als  auch  Rissmanns  Sozialpädagogik  ebenso  instinktiv 
als  bewusst  im  Herbartianismus  den  zu  bekämpfenden  l'eind  er- 
kannt hat." 

Selbst  Emst  von  Sallwürks  Aufsatz  „Herbarts  All- 
gemeine Pädagogik  1806— 1906"  („Die  deutsche  Schule"  X,  12) 
müssen  wir  an  dieser  Stelle  unseres  Berichtes  einreihen.  Dieser 
Aufsatz  ist  zwar  nicht  im  Berichtsjahr  erschienen,  aber  so  knapp 
vor  dessen  Anfang  ^Dezember  1906),  dass  er  wohl  mit  hereingezogen 
werden  darf.    Sallwürk  will  iierbart  im  Jubeljahre  seines  Buches 


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—  150  — 


„den  einem  bedeutenden  Denker  gegenüber  einzig  \vürdigen  Dank 
darbringen",  nämlich,  „was  er  uns  hinterlassen,  sorgfältig  betrachten 
und  durch  ein  objektives  kritisches  Urteil  aus  ihm  zu  gewinnen 
suchen,  was  den  geänderten  Umständen  unserer  Zeit  gemäss  und 
den  Zwecken  der  Gegenwart  förderlich  sein  kann."  Er  fuhrt 
zunächst  entgegnen  der  bitteren  ( Nizufriedenheit  Herbarts  mit  der 
Aufnahme  sein^  Buches  die  ehrenvollen  Urteile  Jean  Pauls,  Nie- 
meyers und  Diesterwegs  über  die  „Allgemeine  Pädagogik"  an  und 
lobt  dann  die  aindnicksvoUe,  mit  trefflichen  BQdem  gesdimückte 
Sprache  des  Budies,  ohne  freilich  die  Schwierigkeit  zu  verdecken, 
die  diese  Sprache  für  den  Lehrer  bietet.  Diese  Schwierigkeit  ist 
einer  der  Gründe,  die  zu  der  geringen  Einwirkung  der  ,, Allgemeinen 
Pädagogik"  beigetragen  haben ;  ein  zweiter  liegt  darin,  dass  Herbart 
sein  pädagogisches  Buch  schrieb,  ehe  er  sdne  Philosophie  bekannt 
gemacht  hatte.  Die  philosophischen  Andeutungen,  sehr  häufig  in 
die  Form  kritischer,  satirischer  Bemerkungen  gekleidet,  konnten 
nicht  verstanden  werden  und  liessen  den  Leser  straucheln  und 
stutzen.  In  alledem  hat  Sallwürk  ganz  recht,  aber  er  sagt  damit 
doch  nur  oft  Gehörtes.  Selbständiger  und  darum  wertvoll  sind 
dagegen  seine  Bemerkungen  über  die  genau  parallele  Darstellung 
von  Unterricht  und  Zucht  in  der  „Allgemeinen  Pädagogik",  der  zu- 
liebe Herbart  ,,scin  streng  deduziertes  System  der  fünf  praktischen 
Ideen  gewaltsam  auf  drei  zusammendrängte",  und  über  den 
„mangelnden  Zusammenhang"  der  Herbartschen  Erziehungslehre  mit 
der  Herbartschen  Psychologie,  der  zum  Vorteil  der  ersteren  aus* 
schlug.  Zum  Schluss  leitet  Sallwürk  aus  dem  Satze:  „Handeln 
darf  der  Zögling  [bei  Herbart  während  seiner  Erziehung  ja  nicht" 
einen  Gegensatz  der  Herbartschen  Pädagogik  zur  modernen  Welt- 
anschauung ab  und  wirft  ihr  „Unkraft,  Mangel  an  tätigen  Impulsen 
und  aussdiliesslichen  InteUektualismus**  vor.  Der  Kern  ist,  dass 
Herbarts  Pädagogik  aus  dem  Wedisel  des  bewegten  Lebens  zur 
kontemplativen  Ruhe  zu  fuhren  suche,  wahrend  die  moderne  Welt- 
anschaviung  den  Zögling  ins  Leben  hinaus  und  an  die  Arbeitsstelle 
zu  bringen  verlange,  „wo  nun  seine  Kraft  im  Wechsel  der  mensch- 
lichen Generationen  wirksam  werden  kann."  In  der  „Zeitschrift  für 
Philosophie  und  Pädagogik"  (XIV,  9)  wird  Sallwiirks  Vorwurf  zurück- 
gewiesen. 

Die  antiherbartische  Strömung  auf  p  h  i  1  o  s  o  p  Ii  i  s  c  Ii  e  m  Ge- 
biete äusserte  sich  zunächst  in  einem  Angriff  aui  Herbarts  Meta- 
physik. Er  erfolgte  in  Gustav  Falters  Aufsatz  „Herbart 
Hauptpunkte  der  Metaphysik  1806"  („Philosophische  Wochen- 
schrift" V,  I  und  2V  Der  Umstand,  dass  seit  dem  Krsri; einen  der 
Ilerbart 'sehen  „Hauptpunkte  der  Metaphysik"  igoO  hundert  Jahre 
verflossen  waren,  gibt  Falter  Veranlassung,  die  mctaphys.  Ansichten 
Herbarts  Meiner  Würdigung  und  Wertung  zu  unterziehen".  Das 
Ergebnis  ist:  „Es  erklären  sich  alle  Schwachen  der  Herbartschen 


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—   151  — 


lletaphysk  aus  seinem  Abweichen  vom  Idealismus,  und  seine  ganze 
Metaphysik  kann  als  eine  indirekte  Rechtfertigung  des  kritischen 

Idealismus  t^^elten."  Nur  „durch  eine  Inkon«;equen7"  ist  Herbnrt 
„zum  Realismus  verführt"  worden,  „während  tlit-  Anhi^^L-  seines 
Systems  durchaus  idealistischer  Natur  ist".  Der  Begründung  dieses 
Grundgedankens  ist  infolge  der  schwefen  Gedrängtheit  von  Falters 
Ausführungen  nicht  leicht  su  folgen;  manche  Behauptung  entbehrt 
überhaupt  der  Begründung, 

Was  die  Ethik  anlangt,  so  beschäftifrt  sich  eine  Züricher 
Dissertation  von  Carl  Henkel  mit  „Herbarts  l^üiemik  gegen 
die  Begründung  der  £thik  Kants"  (Frankfurt  a.M.,  Druck 
von  August  Weisbrod).  Diese  wertvolle,  sehr  sorgfältig  und  sauber 
gefvihrte  TTntcrsnrhutiir,  deren  Verfasser  sich  durcli  wohltuende  Be- 
stimmtheit der  Ausdrucksweise,  grossen  Hrnst  und  ein  um  erkenn- 
bares Talent  für  lichtvolle  Klarlegung  systematischer  Zusammen- 
hänge auszeichnet»  serfiUlt  in  zwei  Teile.  Das  eiste  Drittd  ist 
mehr  historisch-referierend  angelegt,  die  zwei  letzten  Drittel  sind 
ein  selbständiger  Beitrag  zur  philosophischen  Kritik,  also  mehr 
theoretisch  gedacht.  Im  Mittelpunkt  des  Ganzen  steht  Kant,  nicht 
Herbart,  denn  Henkels  letztes  Ziel  ist  eine  BeurteUung  der  Moral- 
lehre Kants.  Aber  doch  ist  die  Arbeit  fiir  die  Herbartforsdiung 
ein  sehr  schatzbarer  Beitrag  zu  dem  vielgestaltigen  Thema  ^erbart 
als  Kritiker"  und  als  solcher  auch  methodologisch  hochinteressant. 
Dass  die  Kantischc  Moralphilosophic  noch  heute  vielfach  umstritten 
ist,  liegt  daran,  dass  „die  meisten  Kantausleger  auf  die  enge  Be- 
ziehung, die  zwischen  der  Ethik  und  der  Erkenntniskritik  Kants 
besteht»  nur  in  ungenügender  Weise  Rücksicht  nehmen.  Daher 
cremet  es  sich  denn  nicht  selten,  dass  Gedanken  Kants,  losgelöst 
von  den  grundlegenden  Bestimmungen  seines  Systems,  ihre  nähere 
Bestimmtheit  verlieren  und  nach  den  philosophischen  Anschauungen 
ihrer  Kritiker  gedeutet  werden."  Um  nachzuweisen,  dass  auch 
Herbart  in  diesen  Fehler  verfallen  sei,  gibt  Henkel  zunächst  eine 
Darieg^ng  der  ethischen  Gedanken  Kants,  zeigt  dann  deren  Tax- 
«inmmcnhang  mit  den  erkenntnistheoretischen  Prinzipien  des  Kan- 
tisi  [irn  Systems  auf,  bringt  hierauf  die  Einwürfe  Herbarts  vor  und 
kritisiert  sie.  Dass  Herbart  „in  dem  Kampfe,  den  die  Kantische 
Moralphik>sophie  dem  Eudamonismus  gegenüber  bedeutet",  ganz 
auf  itants  S^te  steht,  erkennt  Henkel  an,  präzisiert  dann  den 
fundamentalen  Untersrhiedl ,  der  ^^vischen  der  Kthik  Herbarts  und 
derjenigen  Kants  bestellt,  erdrlert  hierauf  die  Einwürfe  Herbarts 
gegen  Kant  und  weist  sie  zurück  auf  der  Grundlage  des  Oedankens: 
»Heibart  hat  den  Zusammenhang,  der  bei  Kant  zwtechen  den 
ethischen  Fragen  und  den  Grundgedanken  seines  Systems  besteht, 
zu  wenig  beachtet,  um  zu  erkennen,  dass  Einwände  gegen  die 
Kantische  Morallehre  von  einer  Kritik  dicker  erkenntniskritischen 
Prinzipien  ausgehen  mussten."  .  .  .  „Mit  dem  Apnurismus  steht  und 


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I 


—    152  — 

fällt  das  System  der  Ethik  Kants.  Daher  hätte  auch  Herbart  an 
diesem  Punkte  mit  seiner  Kritik  einsetzen  müssen.  Herbarts  eigene 
Richtung  wird  ja  dadurch  gekennzeichnet,  dass  er  von  empirischen 
Willensveriialtnissen  aus^^t,  um  aus  ihnen  sittliche  Prinzipen  at>- 
xuleiten.  Um  so  mehr  hätte  er  daher  zuQäcfast  die  Unhaltbarkeit 
apriorischer  Begriffe  dartun  und  sodann  nachweisen  müssen,  dass 
die  sittlichen  IVinzipien  lediglich  den  wirklichen  sittlichen  Tatsachen 
der  Erfahrung  entstammen." 

Ganz  banden  scharf  ging  man  mit  Heibarts  Psychologie 
ins  Gericht.  In  erster  Linie  ist  hier  zu  nennen:  Edwin  Stössel, 
„Darstellung,  Kritik  und  |)  ä  d  a  g  o  i  s  r  h  e  Bedeutung  der 
H  e  r  b  a  r  tis  c  h  e  n  Psychologie"  (Altciilnir^»' ,  Theodor  Inger 
Verlag).  Edwin  Stössel,  weiland  Lehrer  in  Alten  bürg,  hat  in  jungen 
Jahren  sterben  müssen  und  sein  Werk  nicht  selbst  der  Öffentlichkeit 
übergeben  können:  sein  Freund  Dr.  Alfred  M.  Schmidt  hat  die 
Drucklegung  /.u  Ende  geführt  und  dem  Buche  eine  wannherzige 
Charakteristik  Stösscls  vorangeschickt.  Kiii  Untertitel  bestimmt  das 
Thema  der  gründhchen  Arbeit  genauer :  „Kann  Herbarts  Psychologie 
als  ausreichende  Grundlage  der  pädagogischen  Methodologie  gelten  ?" 
Um  diese  Frage  zu  beantworten,  gliedert  Stössel  sein  Buch  in  einen 
historisch-theoretischen  und  in  einen  pädagogisch  praktischen  Teil. 
In  der  Einleitung  zu  ersterem  holt  er  weit  aus:  er  handelt  über 
Erziehung  im  allgemeinen,  über  den  Zweck  der  Erziehung  und 
leitet  aus  seiner  (modernen)  Weltanschauung  den  Zweck  der  Erziehung 
folgendermassen  ab:  „Erziehe  den  Zögling  so,  dass  er  0Uiig  werde 
zu  möglichst  wirksamer  Mitarbeit  an  dem  Kullurprozesse  der 
Menschheit  I)e/,w.  seines  Volkes?"  Charakterstärke  der  Sittlichkeit 
ist  dabei  inbegriffen,  für  Stössel  aber  nicht  das  einzige  Ziel  der 
Erziehung,  sondern  „ein  Gipfelpunkt  ihres  Strebens"  neben  anderen. 
An  diese  Einleitung  schliesst  sich  ein  Abschnitt  JDie  pädagogische 
Methodologie",  der  deren  drei  Teile,  pädagogische  Diätetik,  Didaktik 
und  Hodegetik  voneinander  scheidet,  die  Grundlagen  der  päda- 
gogischen Methodologie  bestimmt,  die  .Stellung  der  Psychologie  in 
der  Reihe  dieser  Grundlagen  aufzeigt  und  den  Psychologen  Herbart 
im  allgemeinen  charakterisiert  Daran  reiht  sich  ein  sehr  ausführ- 
licher und  fleissig  gearbeiteter,  wenn  auch  nicht  immer  leicht  über- 
sehbarer „Abriss  der  psychologischen  Lehre  Herbarts",  wobei,  an- 
knüj)fend  an  die  Lehre  1  lerbarts  über  den  Willen ,  auch  dessen 
praktische  Philosophie  analysiert  wird.  Diesem  Versuche  einer 
systematischen  Darstellung  der  pädagogisch  wichtigsten  Haupt- 
punkte der  Herbartschen  1  s\chologie  folgt,  um  die  Frage  ru  be- 
antworten, ob  diese  Psychologie  eine  ausreichende  Grundlage  zur 
pädagogischen  Methodologie  abgeben  könne,  eine  Kritik  derscll)en 
und  zwar  sowohl  eine  relative,  d.  h.  historisch-genetische,  als  auch 
eine  absolute  Würdigung  der  Psychologie  Herbarts.  Ersteres  ge- 
schieht in  Form  eines  kurzen  Abrißt  der  Geschichte  der  Psycho^ 


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—   153  — 


logie.   Herbait  erhält  das  Lob,  „dass  er  als  der  erste  unter  atten 

Philosophen  es  unternahm  und  mit  grosser  Energie  und  Kühnheit 
durchführte,  die  Psychologie  als  eine  den  anderen  philosophischen 
Disziplinen  f^l  eich  wertige  Wissenschaft  aufzustellen  und  zu  be- 
arbeiten/' aber  Stössei  sieht  in  ilim  eben  nur  den  An  t  aug  der 
modernen  Psychologie,  der  gegenwärtig  wesentlich  überholt  ist.  Zu 
diesem  Ergebnis  führt  nach  Stössel  auch  die  absolute  Würdigung 
der  Herbartschen  Psycliolü^ie.  Unter  den  zehn  Punkten,  die  Stössel 
gegen  Herbarts  Psychologie  geltend  macht,  leiten  die  beiden  letzten: 
„Herbarts  Psychologie  ist  eine  allgemeine  (theoretische)  Psycho- 
logie ;  es  fehlt  ihr  das  genetische  (systematisch^  wie  chronologisch- 
sukzessive)  Element  [Psychogenetik  und  Kinderpsychologie)"  und 
„Ilerbarts  Psychologie  hat  nur  das  normale  (ausgebildete)  Indi- 
viduum im  Auge,  das  unter-  (Psychopathologie)  und  übernormale 
finden  keine  Berücksichtigung"  zum  zweiten,  pädagogisch-praktischen 
Hauptteil  des  Werkes  über.  Denn  für  Stössel  steht  lest:  „Aus- 
reichende Grundlage  einer  pädagogischen  Methodologie  kann  nur 
eine  auf  objektiven  psychologischen  und  besonders  kinderpsycho- 
logischen Studien  (exakte  Beobachtung,  Experiment,  Statistik)  auf- 
gebaute pädagogische  Psychologie  sein,"  und  Herbarts 
Psychologie  entspricht  diesen  Anforderungen  nicht,  aber  auch  z.  B. 
die  Wundts  nicht,  denn  bei  ihr  Xxiit  das  genetische  Element  noch 
zu  wenig p  die  Beziehung  auf  die  Pädagogik  gar  nicht  in  die  Er- 
scheinung. „Wie  steht  es  um  das  geistige  Werden  und  Wachsen 
des  Kindes,  und  wie  verhalten  sich  unsere  pädagogischen  Mass- 
nahmen und  Methoden  dazu?'  Das  ist  die  wichtigste  aus  dem 
grossen  Heer  der  ungelösten  Fragen.  „Für  ihre  Beantwortung  lasst 
uns  Herbart  im  Stich ,  die  neuere  experimentell  -  psychologische 
Forschung  aber  bisher  ebenso.  Hier  liegt  die  grosse  Aufgabe  der 
Pädagogik  der  Zukunft;  sie  ist  im  Kern  büzial-[)sychologiScher  Natur. 
Wenn  sie  sich  einmal  ihrer  Losung  nahen  wird,  dann  —  so  dürfen 
wir  hoffen,  wird  es  Tag  werden  im  Reiche  der  Erziehung.  Dann 
aber  wird  man  trotz  des  viel  weiteren  .Al^tandes  noch  immer  mit 
Verehrung  von  Herbart  reden  als  einem  frühen  Boten  eines  langsam 
her;ii!fstcigenden  Tages."  Stössel  war,  wie  aus  seinem  Werke 
deutlich  hervorgeht,  ein  stark  spekulativ  veranlagter  Kupf  und  ein 
Denker  von  re&chstem  Streben  und  geschichtlichem  Buck.  Dass 
er  sich  in  allen  Fragen  zu  absoluter  Klarheit  durchgerungen  habe, 
kann  mnn  freilich  nicht  sagen:  gelegentlich  hörte  er  wohl  auf  zu 
viele  Stimmen,  d.  h.  seine  grosse  und  gediegene  Belesenheit  ver- 
führte ihn  zu  einem  gewissen  Eklektizismus  und  zu  Kompromissen. 

„Herbarts  Psychologie  im  Verhältnis  zu  seinem 
Erzichungsideal"  untersuchte  in  einer  Tübinger  Dissertation 
Hermann  Ströle  (Stuttgart,  Chr.  Belsersche  Verlagsbuchhamlluiig). 
Es  ist  nach  Ströle  ein  bleibendes  Verdienst  1  Icrljarts,  sein  ijekaruites 
hohes  ethisches  Erzichungsidcal  autgestellt,  und  stets  nachdrücklich 


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vertreten  zu  haben.   Aber  es  fragt  sich:  „Zeigt  Herbart  audi  den 

Weg,  auf  dem  dieses  Ideal  Wirklichkeit  wird,  führt  seine  Erziehungs- 
methode wirklich  zu  dem  Ziel,  das  er  erreichen  will?"  Diese  Frage 
„nach  Recht  und  Brauchbarkeit  der  Herbartschen  Erziehungs- 
methode" wird  „genauer  betrachtet  zu  der  Frage  nach  Recht  und 
pädagogischer  &auchbarkeit  der  Herbartschen  Psychologie:  ist  die 
P^choiogie  imstand,  der  sittlichen  Erziehung  auareidiende  Mittel 
zur  Verfügung  zu  stellen?"  Um  dieses  Problem  zu  erörtern,  be- 
stimmt Ströle  zunächst,  getragen  von  einer  nicht  bloss  landläufigen 
Belesenheit  in  der  Herbartliteratur,  klar  und  sicher  den  Platz,  den 
Herbart  in  der  Geschichte  der  Psychologie  einnimmt,  und  gibt 
dann  in  ausführlicher,  eigenen  Wert  besitzender  Darstellung  eine 
systematische  Analyse  der  Herbartschen  Psychologie  nach  den 
drei  Gesichtspunkten:  ,,Dic  Psychologie  nimmt  bei  Herbart  Teil 
an  der  spekulativen  Aufgabe  der  gesamten  Wissenschaft;  sie 
erhalt  einen  dnheitlichen  Qiarakter  von  seiner  intellek* 
tual istischen  Anschauung  aus  und  einen  gesetzmäs«gen  Aufbau 
durch  seine  Auffassung  vom  Seelenleben  als  einem  aus  vielen 
qualitativ  verschiedenen  Elementen  zusammengesetzten  Mecha- 
nismus." Das  Ergebnis,  das  Ströle  schliesslich  aus  einer  Parallele 
zwischen  der  Herbartschen  Psychologie  und  dem  Herbartschen 
Erziehungsideal  gewinnt,  ist  enthalten  in  folgenden  Sätzen :  „Zwischen 
dem  Erziehungsideal  und  der  Psychologie  Hcrbarts  besteht  ein 
sonderbarer  Kontrast:  das  Erziehungsideal  will  eine  vollendete 
sittliche  Persönlichkeit  —  die  Psychologie  weiss  nur  von  einem 
Gedankenmechanismus'';  „Von  Herbarts  Psychologie  aus  kann  es 
nur  zu  einer  Summe  von  Gedanken  und  Fertigkeiten,  aber  nicht 
zu  einer  sittlichen  Persönlichkeit,  einem  sittlichen  Charakter  kommen"; 
,3o  wird  die  Pädagogik,  die  sich  von  dieser  Psychologie  ihre 
Methode  hat  bestimmen  lassen,  unbrauchbar";  „Es  ist  begreiflich, 
dass  die  pädagogische  Methode  Herbarts,  die  der  GedankenbQdung 
so  \del  anvertraut,  gerade  als  Schulpädagogik  so  grossen  Anklang 
gefunden  hat.  Aber  sie  selbst  will  mehr  sein  als  eine  Schul* 
Pädagogik,  sie  will  überhaupt  den  Weg  zu  sittlicher  Bildung  zeigen. 
Um  so  deutlicher  ist  freiUch  ihre  Unzulänglichkeit,  Ihre  Bedeutung 
liegt  im  Grunde  nur  darin,  dass  sie  mit  Sorgfalt  alles  das  aufgesucht 
hat,  was  der  Gedanke  für  die  Erziehung  leisten  kann";  JüaA  des- 
wegen ist  Herbart  der  Begründer  der  wissenschaftlichen  Pädl^ogik, 
weil  se ine  Psychologie  das  ewige  Fundament  der  Kr/iehung  gelegt 
oder  entdeckt  hätte ,  .  .  .  sondern  weil  er  die  F'orderung  zuerst 
ausdrucklich  formuliert  und  zu  erfüllen  versucht  hat,  die  Pädagogik 
überhaupt  mit  der  Psychologie  in  Zusammenhang  zu  bringen." 

IV.  Für  Herlwrt 

Genau    dasselbe   Thema   wie    die    beiden    zuletzt  genannten 
Schriften  behandelt  auch  K.  Thomas  in  seiner  Studie  „Kann 


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Herbarts  Psychologie  noch  heute  als  Grundlage  des 

psychologischen  Studiums  empfohlen  w erden?" X*^CS8- 
icrs  Päd.  Blätter",  Heft  5;  Langensalza,  Schulbuchhandlung  von 
F.  G.  I  Grej^sler),  Wie  es  charakteristisch  ist,  dass  keine  der 
angeführten  antiherbartischen  Schriften  nur  absprechen  konnte,  wie 
jede  audi  etwas  Gutes,  z.  T.  recht  viel  Grates»  an  Herbait  lassen 
musste,  so  ist  es  auch  bezeichnend,  dass  Thomas  dieselbe  Frage 
wie  Stössel  und  Ströle  gerade  entgegengesetzt  beantworten 
konnte. 

In  der  etwas  gekünstelten  Form  der  Behandlung  seines  Themas 
nach  den  Herbartschen  Formalstufen  sucht  der  Verfasser  zu  einer 
Beantwortung  der  im  Titel  aufgeworfenen  Frage  dadurch  zu  ge* 

langen,  dass  er  die  Herbartsche  Psychologie  i.  mit  der  Lehre  von 
den  Seelenvermögen,  2.  mit  Lotzes  Psychologie,  3.  mit  Benekes 
(Dittes')  Psychologie,  4.  nüt  der  Psychologie  Wundts  und  Ziehens 
vcrgleidit  Er  kommt  zu  dem  Ergebnis,  dass  die  Herbartsche 
Psychologie  noch  heute  als  Grundlage  des  psychologischen 
Studiums  geschätzt  zu  werden  verdiene,  dass  aber  das  „Neuland" 
in  der  Psychologie  „als  ergänzender  Faktor"  zu  dienen  habe. 
Speziell  für  den  Pädagogen  (S.  47)  und  für  den  Anfänger  im 
psychologischen  Studium  (S.  44)  behalte  die  Herbartsche  Psycho* 
logie  dauernd  ihren  Wert  Methode  und  Ergebnis  sind,  wie  man 
aeht,  nicht  eben  neu ,  aber  in  Einzelgedankcn  verrät  sich  doch 
eigenes  Nachdenken,  z.  B.  in  dem  Versuch,  Ilerbarts  Metaphysik 
mit  der  Gottesidee  zu  verbinden  (S.  7  und  10}  und  in  der  Zurück- 
weisung Ziehens  mit  dem  Satze,  dass  er  Herbarts  Psychologie  nicht 
ihres  metaphysischen  Beisatzes  wegen  ablehnen  dürfe,  da  er  ja 
selbst  mit  Hypothesen  arbeite,  jede  Hypothese  .aber  mehr  oder 
weniger  ins  Reich  der  Metaphysik  gehöre  (S.  36).  Uberhaupt  ist  der 
Abschnitt  über  die  Ziehensche  Psychologie  das  Selbständi^^'^to  an 
dem  ganzen  fleissig  gearbeiteten  VVerkchen,  wahrend  Thomas  ander- 
warts  ganz  unnötig  aus  abgeleiteten  Quellen  schöpft.  Das  stört 
besonders  dort,  wo  er  über  Herbarts  Psychologie  nicht  Herbart, 
sondern  —  Ileman  {,, Geschichte  der  neueren  Pädagogik")  reden 
lässt  (S.  10).  Als  gar  nicht  schlechter  Kenner  Herbarts  hatte  er 
das  doch  nicht  nötig! 

Fsycholog^hen  Inhalts  ist  auch  Gerhard  Reinickes  Erlanger 
Dissertation  ^Herbarts  Theorie  der  Hemmungen  und  ihre 
Verwertunp^  für  dm  Unterricht"  (Borna,  Robert  Noske). 
Eine  kurze  Einleitung  führt  über  zu  einer  Idaren  Darstellung  von 
Herbarts  Theorie  der  Hemmungen,  und  ihr  wiederum  folgt  ein  aus- 
fiihfficher,  von  weitgreifender  Bdesenheit  zeugender  Abschnitt  „Zur 
Kritik".  Reinicke  weist  die  gegen  die  Hemmungstheorie  Herbarts 
gerichteten  Bedenken  zurück,  namentlich  die  Ecugnung  der  Koexistenz 
mehrerer  Vorstellungen  im  Bewusstsein.  In  einem  dritten  Abschnitt, 
„Zur  Begründung",  zieht  er  sodann  Psychiatrie  und  pädagogische 


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-   156  — 


Pathologie  zur  Stütze-  der  Herbartschen  Hemmungstheorie  heran, 
und  im  vierten  Abschnitt  gibt  er  gedankenreiche  Ausführungen 
über  die  Verwertung  der  Hemmungstheorie  für  den  Unterricht. 
Was  er  selbst  am  Schluss  über  seine  fleissig  und  umsichtig  geführte 
Utttersuchung  sagt,  scheint  mir  ein  sehr  objektives  und  treffendes 
Urteil  über  das  Werkchen  zu  sein:  „Die  Abhandlung  beansprucht 
nicht,  die  unterrichtliche  Verwertbai kcit  der  Hemmungstheorie 
Herbarts  erschöpfend  vorgeführt  7.11  haben.  \'ielleicht  hätte  die 
Einteilung  der  Tädagogik  in  Massregeln  der  Regierung,  des  Unter- 
richts und  der  Zucht  auf  manche  hier  nicht  getrennten  Einzelheiten 
ein  helleres  Licht  geworfen,  insbesondere  lassen  die  nur  gelegentlichen 
An(Iei!tiin;'cn  über  den  Unterricht  schwachbefähiji^ter  und  schwach- 
sinniger Kinder  der  Bearbeitung^  noch  ein  weites  Feld  offen. 
Gleichwohl  glauben  wir  von  neuem  den  Reweis  erbracht  zu  haben, 
dass  Herbarts  Lehre,  wenn  die  Bedeutung  einer  Philosophie  an 
ihren  praktischen  Konsequenzen  zu  messen  ist,  durch  ihre  An- 
wendb.'irkcit  auf  das  wichlii^e  Gebiet  des  l'ntcrrichts  stets  einen 
herx'ün  .i;j;cn(lcn  Platz  unter  i^ien  neueren  Systemen  einnehmen  wird, 
mag  auch  namentlich  die  I'sychologie  in  vieler  Beziehung  anfechtbar 
sein.** 

Das  Beste,  was  im  Berichtsjahr  —  abgesehen  von  Flügel  und 
Buckle  —  für  Herbart  q^cschrielien  worden,  ist  K.  Häntzsch, 
„Herbarts  p  ä  d  a  g  o^^i  s  c  ii  c  K  u  n  s  t  und  von  pädagogischer 
Kunst  überhaupt"  (Leipzig,  Ernst  VVunderUch).  Die  gehaltreiche 
Schrift  kommt  gerade  jetzt  recht,  wo  sich  der  Kampf  um  Herbart 
in  eine  Abwendung  von  Herbart  zu  verwandeln  droht,  ja  sie  kann 
geradezu  als  vorzügliches  Mittel  gegen  die  antiherbartische  Strömung 
der  Gegenwart  empfohlen  werden.  Denn  ihr  Hauptzweck  ist, 
Freude  an  Herbart  zu  wecken.  Zugegeben  —  dies  der  Gedanken- 
gang, —  dass  man  mit  Recht  unter  strenger  Herbartscher  Didaktik 
an  groben  Mechanismus  und  unfruchtbare  Methodenschablone  denkt, 
so  sind  dieser  Mechanismus  und  diese  Schablone  doch  nicht  sowohl 
Herbart  als  vielmehr  Zillcr  anzurechnen.  Die  wachsende  Abneigung 
gegen  diese  Zillerschen  Zutaten  führte  aber  leider  ungerechter- 
weise zu  einer  Abkehr  von  Herbart.  Es  ist  daher  nötig,  erstens 
Herbart  in  der  Beurteilung  von  Ziller  zu  trennen,  und  zweitens  die 
positive  Arbeit  zu  übernehmen,  ctie  Herbailschc  ]  a  lagogische  • 
Kunst  aufzü7eij:fen.  in  das  Ganze  seiner  päda^^ogischen  Wirksam- 
keit einzuführen.  Häntzsch  leistet  vor  allem  das  letztere  in  seiner 
trefflichen  Interpretation  und  liebenswürdig-warmherzigen  Charak- 
teristik Herbarts,  die  sich  aber  offener  KritUc  nicht  entschlägt,  wo 
diese  dem  Verfasser  angebracht  scheint.  An  zahlreichen  Beispielen 
aus  den  pädajTo<^ischcn  Werken  Ilerbarts  zeigt  er  uns  dessen 
wunderbare  l^cobachtungsgabe  und  Scelcnschiliieruni^skunst ,  den 
feinen  Blick  Herbarts  für  Erziehungsziele  und  Erzichunt^^smittel,  kurz 
die  intimsten  Reize  der  Herbartschen  Pädagogik,  die  weit 


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—   157  — 

entfernt  sind  von  Schablone  und  Schcmatismu«;.  Liegt  in  alledem 
vornehmlich  ein  Stimmungswert,  so  hat  das  Büch  doch  auch 
einea  besonderen  wissenschaltiichen  Wert:  er  ist  in  der  aus- 
ßihriicheii  Besprechung  zu  suchen,  die  i^tzsch  Herbarts  „formalen 
Stufen"  angedeihen  lässt.  Er  tut  dar,  dass  die  Stufenlehre  Herbarts 
nicht  das  WescntHchc  und  Vollkommenste  seiner  Lehrkunst  ist, 
vor  allem  aber,  dass  den  Stufen  neben  der  psychologischen  auch 
eine  ausgeprägt  logische  Bedeutung  beiwohnt  — »»Eine  sehr  aus- 
iiihriiche  und  ansprechende  Würdigung  von  HänttschV  Schrift  gab 
Franz  Schulze  in  seinem  Artikel  „Zum  Kampf  um  Herbart" 
(^ie  deutsche  Schule"  XI,  ii). 

V.  Hertart  !■  VarMUtais  n  andtren.  Heriiart  in  Frankrtiok. 

Eine  Vorarbeit  tu  der  Monographie,  die  Ludwig  Strümpell  ohne 
Zweifel  verdienen  würde,  will  Hugo  Schmidts  Leipziger  Disser- 
tation „Die  Lehre  von  der  psychologischen  Kausalität 
in  der  Philosophie  Ludwig  Strümpells"  (Leipzig-Reudnitz, 
Druck  von  Emil  (jrlat»ch)  sein,  indem  sie  ,,vor  allen  Dingen  den 
Teil  derselben  zu  hefern  versucht,  der  sich  auf  seine  Anschauungen 
über  die  psychologische  Kausalität  bezieht."  .  In  der  Tat  leistet 
Schmidt  in  dieser  Hinsicht  mit  seiner  mündlichen ,  durch  ein  be- 
achtenswertes Streben  nach  Klariegung  der  geschichihchcn  Ent- 
wicklungsgänge ausgezeichneten,  mit  feinen  Beobachtungen  aus» 
gestatteten  Arbeit  recht  Dankenswertes,  vor  allem  durch  eine 
umsichtige  uud  eingehende  Interpretation  der  tttcht  immer  aus-. 
fuhrHchen  und  leichtverständlichen  Darlegun«:fen  in  Strümpells 
„Grundnss  der  Psychologie".  Was  den  Anspruch  der  Arbeit  be- 
gründet, im  vorliegenden  Bericht  erwähnt  zu  werden,  das  ist 
die  Behandlung  des 'Verhältnisses  zwischen  Herbart  und  Strümpell. 
Schmidt  ist  der  Meinung,  der  Name  Strümpdis  werde  häufig 
in  einer  falschen  Verbindung  mit  Herbart  cfcnannt,  Strümpell 
werde  meistens  fälschlich  zu  den  Herbartianern  f^^erechuet".  Hierin 
können  wir  Schmidt  nicht  folgen,  glauben  vielmehr,  dass  Strümpell 
ohne  weiteres  zu  den  Herbartianern  gezahlt  werden  muss.  Der 
einfache  Vergleich  zwischen  Fichte  und  Herbart  einerseits,  Herbart 
und  Strümpell  anderseits  scheint  uns  di'*  f^nnze  Beweisführung 
Schmidts  zu  entkräften.  Bei  Herbart-Strümpcll  dieselbe  Basis,  die 
gleiche  Art  zu  plulosophieren,  die  gleiciie  Richtung  des  ganzen 
Denkens»  so  dass  Schmidt  selbst  S,  ^  von  Strümpell  sagen  muss: 
,J>cr  empiristische  Grundzug  seiner  Psychologie  stanmit  von  Herbart". 
Bei  Herbart  -  Fichte  dagegen  von  '  nrnherein  ein  schroffer  metho- 
dologischer Gegensatz,  kein  Zusamment;ehen  bis  zu  einem  gewissen 
Punkte,  wo  dann  erst,  wie  bei  Strümpell,  die  eigene  Gedankenarbeit 
weiterschreitend  einsetzt,  sondern  ein  völliger  Bruch  .von  Anfang 
an.  Bei  Schmidt  selbst  wird  S.  83  die  „Herbartsche  Theorie"  der 


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-   158  - 


Ausgangspunkt"  Strümpeilis  genannt,  und  Wendintt^n  wie:  „im 
Gegensatz  zu  Herfoart",  „er  warnt  vor  dem  Irrtum  HedMurts",  ,,er 
räumt  ein»  dass  Herbarts  Auffassung  zu  weit  geht",  bestätigen 
ebenfalls  nur,  wie  sehr  Strümpells  Philosophie  auf  die  Herbarts 
visiert  ist.  Dazu  verpjleiche  mnn  Strümpells  eigene  Worte  (bei 
Schmidt  S.  79):  „Wie  zu  Herbans  Metaphysik  überhaupt,  so  hat 
mein  Nachdenken  insbesondere  auch  zu  seiner  Kausalitätslehre  eine 
bestimmte  SteUuog  eingenommen»  wobei  von  mir  ebensosehr  die 
darin  liegenden  Wahrheiten  anerkannt,  als  auch  die  meiner  Über- 
zeugung nach  darin  enthaltenen  Mängel  und  Fehler  a\!sgesprochen 
sino.**  So  sehr  man  mit  Schmidt  die  Selbständigkeit  Strümpells 
betonen  darf,  so  wenig  darf  man  ihn  von  Herbart  abrücken  wollen: 
es  bleibt  dabei,  dass  Strümpell  einer  der  bedeutendsten  Herbar- 
tianer  genannt  werden  muss. 

Ganz  ähnlich  bei  Theodor  Waitzl  In  der  „Zeitschrift  für 
Philosophie  und  Pädagogik"  (XIV,  6)  hat  Otto  Flügel  einen  16 
Seiten  langen  Aufsatz,  „iierbart  und  Th.  Waitz  verollentiicht. 
Dieser  Aunatz  ist  eine  ausführliche  Besprechung  der  Gebhardtschen 
Dissertation  „Theodor  Waitzs  pädagogische  Grundanschauungen  in 
ihrem  Verhältnis  zu  seiner  Psychologie,  Ethik,  Anthropologie  und 
Persönlichkeit",  oder,  besser  eines  Teiles  der  Gebhardtschen  Arbeit, 
denn  auf  deren  bei  weitem  grösseren  Teil,  den  Abschnitt  über  die 
Waitzsche  Pädagogik,  geht  Flügel  nicht  ein.  Er  zeigt  an  der  Ethik 
und  an  der  Psychologie,  den  beiden  Hilfswissenschaften  der 
K-dagogik,  dnss  die  Gchhardtschc  Behauptung,  Waitz  hänge  nur 
ganz  lose  mit  Herbarl  zusammen,  unrichtig  sei,  dass  Waitz  ganz 
entschieden  auf  den  Schultern  Herbarts  stehe,  dass  Gebhardt  viel 
zu  ängstlich  darauf  bedacht  gewesen  zu  sein  scheine,  Waitz  dne 
besondere  Originalität  durch  Abrücken  von  Herbart  zu 
wahren,  dass  aber  ein  so  ernster,  originaler  Denker  und  fruchtbarer 
Schriftsteller  wie  Waitz  dessen  gewiss  nicht  bedürfe. 

Bruno  Tittmanns  kleine  Arbeit  „Herbart  in  französischer 
Beleuchtung"  (Jahrbuch  des  Vereins  für  wissenschaftlidie  Päda- 
gogik XL,  S.  95 — 107)  ist  ein  sorgGdtiger  Auszug  aus  Louis  Gocklers 
Werk  „La  Pedagogie  de  Herbart"  (Paris  1905).  Sie  zeigt,  dass 
Herbart  in  dem  Franzosen  einen  zwar  selbständig  denkenden  und 
kritisierenden ,  aber  im  ganzen  doch  zu  einem  sehr  günstigen 
Ergebnis  kommenden  Beurteiler  von  grosser  Belesenheit  und  tietem 
Emst  gefunden  hat.  Sehr  interessant  ist,  was  Tittmann  aus  dem 
Anhangs- Kapitel  „Herbart  en  France"  mitteilt,  vor  allem,  dass 
Herbart  schon  bei  Lebzeiten  jenseit  der  Vogesen  nicht  unbekannt 
gebheben  ist. 

Im  Anschluss  an  Tittmanns  Bericht  sei  endlich  auch  H.  Schoens 
Artikel  „Ein  hervorragender  Vertreter  der  Herbartschen  Philosophie 
in  Frankreich,  Dr.  Marzellus  Mauxion"  (Zeitschrift  fUr  Philo- 
sophie und  Pädagogik  XV,  2  und  3)  erwähnt,  der  eine  warmherzige 


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—   159  — 


und  gut  charakterisierende  Riop^raphie  des  X'erfasscrs  von  „La 
Metaphysique  de  Herbart  et  la  Critique  de  Kant"  (Paris  1894)  dar- 
bietet Schoen  gibt  zugleich  recht  dankenswerte  Auszüge  aus  dieser 
Schrift  und  zeigt  damit,  wie  tief  Mauxion  von  dem  S>  stem  Herbarts 
durchdrungen  war.  Dasselbe  gilt  von  seinem  Werk  „L'  Education 
par  linstruction  et  les  theories  pedagogiques  de  Herbart" 
(Paris  1903,  2.  Aufl.  1906),  und  Herbartschen  Geist  atmet  auch  das 
sdbsständigste  Werk  Mauxions,  „Essai  sur  les  ^16nents  et  T^olution 
de  la  roofalit^"  (Päris  1904). 


G.  Beuicilmigeii.') 


Brett»chneidery  Geschichtliches 
Hilfsbueh    fttr   Lehrer-  «ad 

Lehrerinnenseminare  nnd  ver- 
wandte Bildnngsanstal  ten. 
Halle,  Bnchbandlanfir  des  Waisen- 
hauaea  1904—6  (3  Teile,  smanmieii 
6,80  M.). 

flwwiiMildnIHkiher  nllneD  beiondefa 

strene  beurteilt  werden,  da  sie  über 
die  Unterrichtszeit  des  sie  Besitzenden 
hiBttHwirken  nnd  dessen  eii^erteiltea 
Unterricht  beeinflufwen.  So  ist  der 
Fehler  in  manchem  neueren  Geschichta- 
MnlmdM  zn  erklären,  dasa  der  Stoff 
Torwiegend  nach  methodischen  Gesichta- 
pankten  i^ppiert  nnd  dargeboten  wird. 
Um  mOgbcbat  abgemndete  methodische 
Einheiten  sn  erhalten,  bat  man  den 
Stoff  nicht  selten  willkürlich  serrisaen. 
Flr  den  Geachichtsforscher  ist  der  An- 
blick eines  denutigea  Lehrbuches  nn- 
ertrftglich,  für  den  OescUehtslehrer  die 
Bevormnndnng  wohl  nnnOtig.  Danim 
sollte  der  Verqnicknng  von  Methodik 
and  WineBsehaft  «iidi  im  Seminer- 
lehrbnche  ernstlich  zn  Leibe  gerfickt 
werden.  Klares  nnd  geordnetes  Denken 
zerlegt  Ton  selbst  den  Stoff  in  kldnere 
Einheiten,  ohne  den  Eindruck  der 
Kontinuität  des  geschichtlichen  Verlaufs 
zu  Terwischen.  Diesen  (irundsatz  be- 
folet  Brettschneiders  Hilfsbuch.  Es  ist 
dreiteilig,  nnd  die  drei  Pensen  sind  in 
der  Stolfmenge  ungefähr  gleich.  Da 
flu  die  untersten  xwei  SLUasen  der 
ildbiscben  Seminare  nnd  der  prensai- 


schen  Präparanden  ein  propädeutischer 
Karras  verlangt  wird,  so  mOsste  für 
diesen  ein  besonderes  Lehrbuch  ge- 
fordert und  der  Stoff  der  drei  Teile  auf 
die  oberen  vier  Klassen  verteilt  werden. 
Vielleicht  schliesst  sich  der  Verfasser 
in  einer  Nenanflage  mehr  an  die  vor- 
liegenden Lehrpläne  an.  Im  übrigen 
ist  Brettschneiders  Bneh  das  beste  seiner 
Art,  das  mir  bis  jetst  sa  Oerfciht  ge- 
kommen  ist.  Die  geschichtliche  Schilde- 
rung ist  überall  dem  Lehrer  vorbehalten; 
das  Hilfsbnch  besweckt  nvr  die  An- 
leitung des  Schülers  zu  innerlicher  Ver- 
arbeitung des  Stofifea.  Die  Gliederung 
ist  ungemein  klar,  die  Stoffwahl  energisra 
in  der  Ausscheidung  alles  Nebensäch- 
lichen und  die  Darstellung  in  ihrer 
relativen  Höhe  der  Auffassung  wohl 
geeignet,  den  künftigen  Lehrer  in  die 
Lebensbedingungen  des  Staates,  der 
Gesellschaft,  der  allgemeinen  Kultur 
einsuftthren.  Unter  Hinweis  auf  den 
wohl  Vberall  eingeführten  Historischen 
Atlas  (von  Putz^er)  und  die  verbreiteten 

Elten  und  billigen  Bildersammlungen 
t  der  Verfasser  Karten  nnd  Abml- 
düngen  von  seinem  nilfshuche  fern- 
gehalten. Dagegen  sind  jedem  Teile 
Wiederholnngstabellen  beigegeben,  die 
einen  besonderen  tabellarischen  Abriss 
überflüssig  machen.  Das  Äussere  des 
Werkes  ist  vornehm. 

BocUiti  L& 

Dr.  phil.  Wagner. 


>)  Die  für  Abt.  B  bestimmten  Beiträge  mussten  wegen  RaunUBtagds  Ittr 
das  nächste  Heft,  das  diesem  sofort  folgen  soll,  zurückgestellt  werden. 


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—   i6o  ^ 


Kiui^egangrene  BOcher. 

(Besprechung  vorbehalten.) 

StrSie,  Hcrm.,  lli-rbarts  PsyLliolujiie  im  Verhältnis  zu  seinem  Ej'üehuDgsideal.  Tiibingcr 

Dissertation  ioo(..    Stuttgart,  Chr.  Bdscr. 
Dumemanil,  Dr.  Adolf,  Psychiatric  und  Hygiene  in  den  ErRelMin(Mftft«ltCII.  HMnbtng, 

Agentur  des  Kauben  Hkoses.    Pr.  geb.  2,80  M. 
Fooratsr,  Dr.  Fr.  W.,  Schule  und  Charakter.    Beiträge  zur  Pädagogik  des  Gehorsams 

uad  lor  Reform  der  Scholdisziplin.    i.     2.  Aufl.   Zürich  1907,  Schalthess  &  Co. 
Osttmiailll,  Dr.  W.«        Int«mse.   i.  AttR.    Leipzig  T907,  R.  Schwarte. 
lUirSOhensteiner ,   660rg,   riritM>irr;i;;i-n   i1<t   Sr1nilorc;ini>-;ition.     Finc   SammUinp  von 

Reden,  AuisüUeo  und  Organi^ationsbcispiclco.    Leipzig  1907,  Tcubocr.  Preis 

3,ao  M. 

Wychgram,  Jakob,  Voitifge  uod  Aufsätse  kam  Hidehcnsdralwesen.  Ebenda.  Pt«is 

geb.  3,20  M. 

Regoner,  Fr.,  Allgemeine  Untorrichtslebre.  3.  Aafl,  Ebenda  1906.  Pr.  geb.  3,20  M. 
Eooyfclopädisches  Handbuch  der  Pädagogik,  hcraoae.  von  Prof.  Dr,  W.  Rein.  5.  Bd„ 

2.  Hälfte.    Langcnsiiiljui.  190Ö,  Ikyer  <äi  S. 
Xnypers,  Dr.  Franz,  N'olksschule  und  Lehrarbildnoi^  der  Vereinigten  Staaten.  Ldpdg  1907, 

Tcubner.    Pr.  geb.  1,25  M. 
TOWS,  J.,  Moderne  Erziehung  in  Haus  und  Schule.    Ebenda,    Desgl.  159.  Bd.  Preis 
geb.  1,25  M. 

Richter,  Dr.  PtUllr  P^chologie  fiir  LehrcrbUdangsanstollea.  Ebenda.  Pr.  geb.  2,40  M. 
Ganaberg,  F.,  Schaffensfreude.    Anregungen  zur  Beleboof;  des  Unterrichts.  Ebenda. 

Pr.  geb.  3  M. 

Derselbe.  StreifzUge  durch  die  Welt  der  Gros&stadtkinder.    Lebensbilder  und  Gedanken- 
gänge för  den  Aoschattiingsanterricht  in  Stadtschulen.   Ebenda,   a.  Avil.  Preis 

geb.  3,20  M. 

Derselbe,  Plaudcrstunden.    Schilderungen  für  den  ersten  Üntcrhcht.    Ebenda.  Preis 
geb,  3,30  M. 

Sdimldt,  F.  A.,  Möller,  Karl,  und  Radczwill,  Miniia,  Schönheit  und  Gymnastik.  Hfd 

Beiträge  zur  .Vsthctik  der  Leibeserziehung.    Ebenda.    Pr.  geh,  2,iio  M. 
Saateer,  Josef,  Das  erste  Schuljahr.    7.  Aufl.,  bearfo,  von  Jvltna  John.  Leipzig  1907, 

G.  Freytag.    Pr.  geb.  2,20  M. 
Kästner,  Dr.  0.,  Sozialpädagogik  und  Neuidealismus.    Oruadki^cn  und  Grundzüge  einer 

echten  Volksbildung  mit  besonderer  Berücksichtignng  der  Philosophie  Rodolf 

Fuck-^ns.    Leipri"  loor,  Roth  &  Schunke. 
Voflei,  Dr.  August,  Dil-  j  l  i  ig  oj^ischen  SQnden  unserer  Zell.    Ein  Vritischer  überbliek 

über  die  Bestrebungen  der  modernen  rätlL\<,'(igik  auf  dem  Gebiete  de-,  höheren 

und  des  niederen  .Schulwesens.    Lissa  1907,  Friedrich  Ebbecke.    Pr.  3,50 
Hösel,  Paul,  VHt  Erriehnn^  tnr  geizigen  SelbatXndigkeit.   Mit  Berttckslchtigung  der 

Air-irlurn  Di-'-t'-i wrf,'-;,    l.iip,ij;  IO07,  Klinkluirdt. 

Elller,  Schulrat  Prof.  Dr.  Karl,  Geschichte  da  l  umunterrichts.  3.  Aufl.  Neubcarbcilct 

von  Kart  Rossow.   Gotln  1907,  C.  F.  Thienenumn.   Pr,  geb.  4,60  M. 
Raydt,  Prof.  H.,  Spidnachmittage.  2.  veno.  Aull.  Leipsig  1907,  B.  G.  Teubner. 

Pr.  2  M. 

Kerp,  Hatnrleil,  Die  Erziehung  zur  Tat,  xom  nationalen  Lebenswerk.  Bieslan  1907, 

Ferdinand  Hirt.    Pr  ^fh.  2,50  M. 
Köster,  Hern.  L. ,  Ktiliithc  Hclr.irliiungcn  über  llauslchrcrhetet.rcbungen  und  ^Vltcn- 

inundart.    Leipzig  1907,  \'>  tu;  ii-rlich.    Pr.  50  Pf. 
Oppenhelm,  Prof.  Dr.  H.,  Nervenkrankheit  und  Lektüre.    Nervenleiden  und  Erziehung. 

Die  ersten  Zeichen  der  Ncr^-osität  des  Kindesalters.    2.  Aufl.    Berlin  1907, 

S.  Karger.    Pr.  2  .M. 

Uppold,  Bernhard,  Das  Ehrgelhhl  und  die  Schale.   Leipzig  1907,  Quelle  Sc  Meyer. 
Pr.  geh.  0,80  M. 

(Fortselzoog  folgt.) 


Druek  von  A.  Btots  A  9«lin  in  Maamlmrg  a.  S 


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A.  AbluindliiiigeiL 
1. 

Reüflion  und  Kirchentum  im  Üben  unserer  Kinder. 

Eine  GcgenwwttbetiMhtnDg  von  EdMHd  Uiputt 

Unsere  Zeit   ist  religiös  tiefbewegt    Es  fliesst  eiii  Strom 

religiösen  Lebens  durch  unser  Volk.  Alle  VVeltanschaumigai  finden 
begeisterte  Prediger  und  AnliänL^er.  Wie  in  den  Tagen,  von  denen 
die  Schrift  sagt,  dass  die  Zeit  erfüllt  war,  als  Rom  (x:»  verschiedene 
Kulte  in  seinen  Mauern  barg,  werden  heute  die  Glaubenslehren 
aller  Völker  und  Zeiten  zusammengefasst  und  im  neuen  Gewände 
der  Menge  oder  nur  einer  auserwähltcn  Schar  geboten.  Für  jeden 
ist  etwas  zu  finden  auf  dein  religiösen  Markte.  Je  raffinierter  und 
intensiver  das  (ieschäftsleben  unseres  Daseins  wird,  desto  lieber  ver- 
lassen die  Menschen  —  und  sei  es  auf  Stunden  —  das  laute 
Treiben  des  Tages  und  gehen  auf  dämmernden  Wegen  religiöser 
Philosophie,  gleich  denen,  die  das  brausende  Tal  mit  seinen  Nebeln 
verlassen  und  im  grauenden  Morgen  den  Höhen  und  Gipfeln  zu- 
streben, wo  ihnen  die  Sterne  Gottes  klar  und  unverhülit  brennen. 

So  urteilt  der  beobachtende  Philosoph,  so  urteilen  neben  ihm 
Tausende,  die  mit  Optimismus  und  Lebensfreudigkeit  unsere  Zeit 
ubersdiauen. 

Anders  die  Kirche.  Sie  sieht  eine  entchristlichte  Welt  und 
beklagt  den  .Abfall  von  Tausenden.  Sic  sieht  das  Kreuz  in  den 
Staub  gesunken,  die  Kirchen  leer,  christliche  Grundsätze  vergessen 
und  verlacht,  sieht  ein  ungläubiges  Alter  und  eine  ruchlose  Jugend. 

Was  ist  Waiurheit?  Es  geht  durch  unser  ganzes  Leben  in  der 
Gegenwart  ein  fortwährender  Widerspruch  zwischen  Christentum 
und  Welttum.  Der  Rei^ritf  des  Christentums  ist  in  vielen  Köpfen 
der  vergangener  Jahrfiunderte  geblieben .  in  vielen  anderen  hat  er 
sich  gewandelt.  Die  Kirche  hat  nicht  bedacht,  dass  es  auch  in 
Glaubensdingen  eine  Entwicklung  |^bt,  dass  Tausende  ihrer  besten 
Glieder  sich  von  veralteten  religiösen  Vorstellungen  losgerungen 

FMagodMlM  etodlM.  XXtX.  1.  U 


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—    l62  — 


haben,  die  in  ihnen  kein  religiöses  Empfinden  mehr  auslösten. 
Darum  ist  der  liinlluss  der  Kirche  mehr  und  mehr  zurürk<:(cgangen. 
Je  mehr  die  Kirche  das  religiöse  Leben  in  alten  fruuunen  Formen 
halten  wiH,  desto  mehr  entrinnen  ihr  die  wahrhaft  Religiösen. 

So  ist  allenthalben  ein  grosses,  meist  stilles  Kämpfen»  ein 
Kämpfen  um  rrlip^iöse  Vorstellungen,  die  vielen  heute  das  grosse 
Gottesbild  verduMkrhi  und  verhüllen.  Die  Menschen  suchen  Gott, 
aber  nicht  den  Guit  der  Juden,  nicht  den  Gott  der  Konzile  und 
Päpste  und  Mönche.  So  wie  der  Mensch,  so  ist  sein  Gott:  diese 
Erkenntnis  ist  in  die  Geister  gedrungen.  Und  darum  ringsum  ein 
neuer  Glauben  und  ein  neues  Hoffen,  viel  Kampf  und  Unruhe  und 
Sturm  —  aber  ein  grosses  Frühlingssehnen,  im  Kirchenkreisc  des 
Völkerlebens  ebenso  wie  in  den  Kreisen  des  Staates,  der  Gemeitide, 
selbst  in  der  stillen  (jemeinschaft  der  Familie,  wo  sich  Lebens* 
formen  erhalten,  die  draussen  Regen  und  Sturm  wegpeitschten  und 
Winterfröste  töteten.  Denn  unsere  Eltern  stehen  im  brausenden 
Winde  des  Lebens,  und  es  braust  ihnen  durchs  Herz  wie  den 
anderen ,  und  riesenschwer  legt  sich  der  Gedanke  einer  Verant- 
wortung gegenüber  den  Seelen  ilu'er  Kinder  ihnen  auf  das  Herz  in 
einer  2^it,  die  gross,  aber  seltsam  bewegt  und  rätselhaft  dunkd 
ist,  und  es  drängt  sich  die  bange  Frage  auf  die  Lippen :  Was  lummt 
dein  Kind  aus  seiner  Kinderstube  mit  hinaus  ins  Leben  als  un- 
verlierbares Gut,  als  inneren  Halt  und  innere  Kraft? 

Wir  nehmen  diese  Elternfrage  auf;  wir  schauen  auf  unsere 
Jugend  und  fragen:  Wie  ist  sie  religiös  vorbereitet  lur  schwere 
F^rt?  Welches  ist  ihre  religiöse  Ausrüstung  für  ein  Leben,  das 
kaum  weniger  geeignet  erscheinen  kann  für  eine  Ausbildung  jenes 
religiö'^en  Weltbildes,  das  jeder  in  sich  tragen  mussi* 

Ellciuhaus,  Schule,  Kirche  und  Umwelt  sind  die  4  l'akturen, 
welche  die  reUgiöse  Entwicklung  des  jungen  Menschen  bedingen. 

Im  Elternhaus  werden  die  ersten  religiösen  Vorstellungen  des 
Kindes  geboren.  Die  Kinderstube  hat  die  einfachen  Uranschaui;ngrn 
über  Gott  und  Welt  durch  die  Jahrhunderte  bewahrt.  Wenn  es 
richtig  ist,  dass  sich  in  jedem  cuuelnen  .Menschenleben  die  Phasen 
der  Menschheitsentwicklung  erkennen  lassen,  so  müssen  die  religiösen 
Anschauungen  des  Kindes  dem  religiösen  Standpunkte  längst  ver* 
gangencr  Jahrhunderte  entsprechen. 

Das  Kind  übt  noch  in  ernster  Schlichtheit  den  persönlich- 
naiven Gebetsverkehr  mit  Gott. 

Noch  beten  die  Kleinen  ihr  Abendgebet  Es  hält  die  Mutter 
auch  in  solchen  Häusern  noch  fest  an  der  alten  Sitte,  wo  sonst 
das  Gebctsleben,  das  Leben  in  steter  Berufung  auf  Gott  und  in 
seinem  Gedenken  geschwunden  ist.  Ja  es  ist  oft  genug  der  einzige 
Gottesdienst,  den  Alte  und  Junge  im  Hause  noch  feiern:  die  Zeit 
des  Kindergebcts  am  Abende.'  Die  Macht  der  Tradition,  liebe 
Kindheitserinneningen,  ein  dunkles  religiöses  GrundgefUhl  und  das 


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Gefühl  hoher  V'erantwortlichkeit  erhalten  die  alte  Sitte  lebendig. 
Und  daneben  das  unbescbreiblich  Rührende  eines  Vorganges,  bei 
dem  ein  stammelndes  Ideines  Menschenkind  mit  dem  grossen  Welten« 
gotte  Zwiesprache  hält. 

Das  Abcndi,a'})et  ist  die  erste  religiöse  Betätigung  des  jungen 
Menschengeistes,  das  üsciigcbct  ist  bereits  gefallen  oder  eine  leere 
Form  geworden.  Das  Gebet  weckt  zuerst  die  dunkle  Vorstellung 
von  einem  fernen  grossen  Wesen,  wie  ja  überhaupt  in  der  ersten 
Kindheit  einfachste  religiöse  Grandvorstellungen  geweckt  und  ge- 
bildet werden,  die  entwicklungsfähig  sind  und  natürliche  Vorstufen 
zu  richtigen  Gliedern  unserer  christlichen  Lchensauffassuiit;  bilden. 
Natürlich  ist  für  das  Kind  Gott  ^u  anthropomorphisieren.  Es  denkt 
sich  darunter  einen  guten  alten  Mann  mit  langem  weissen  Barte. 
Das  Kind  ist  Realist  ausgeprägtester  Art.  Es  taucht  alles  in  das 
Licht  greifbnrcn  Lebens.  So  bilden  sich  in  den  ersten  Kindheits- 
jahren  feste  reli<,nöse  Bef^riffe.  Gott  ist  für  das  Kind  der,  der  im 
blauen  iiinuncl  bei  den  Sternen  wohnt,  der  den  Blitz  leuchten  und 
den  Donner  rollen  lasst,  den  Regen  schickt  und  den  Sonnenschein, 
der  alles  sieht,  was  die  Menschen  tun,  Gutes  und  Böses»  der  alles 
aufschreibt  in  seinem  grossen  himmlischen  Buche,  der  zu  Weih- 
nachten mit  dem  Christkinde  über  die  Mensrhen  redet,  der  die 
Menschen  sterben  lässt  und  Krankheit  und  Sorgen  schickt  und 
Freude ;  der  im  Frühling  die  Baume  grünen,  im  Sommer  die  Kömer 
reifen  lässt,  im  Herbst  die  Apfel  und  die  Blätter  malt  und  im 
Winter  pjseskälte  und  Sclineeflockcn  sendet.  Das  ist  der  liebe 
Gott  unserer  Kindheit.  Kr  stellt  die  blasse  Mondiampe  an  das 
Firmament  und  die  goldenen  Sterne  und  die  rote  Sonne,  er  lässt 
den  Wind  wehen  durch  die  Baumwipfel  und  über  die  Dächer,  dass 
der  Rauch  unwillig  fortflattert,  und  die  Kumen  blühen  und  die 
Vöglein  singen  und  die  Maikäfer  brummen.  Er  ist  der  grosse,  all- 
fjewaltige  Herr  des  Himmels  und  der  Krdc,  der  Vater  der  Menschen- 
kinder; mehr  ein  Wesen  der  Furcht  als  der  Liebe.  Mit  grossen, 
erstaunten  Augen  schaut  das  Kind  zum  Himmel  auf  und  sucht  die 
Luft  zu  durchdringen,  ob  es  Gott  nicht  sehen  könne;  er  wohnt  ja 
dort,  wo  die  Abendsonne  im  roten  Golde  in  die  Wipfel  sinkt,  und 
dort  kann  es  ihn  nicht  finden,  nicht  fassen.  Und  wenn  die  Mutter 
hiniiufügt:  Wer  Gott  sieht,  der  muss  sterben  —  da  wird  die  Vor- 
stellung von  Gott  noch  um  einen  Grad  erhabener  und  unfasslicher. 
Aber  er  wohnt  ja  dort,  wo  das  Brüderlein  ist  —  diese  räumliche 
Vorstellung  des  Himmels  ist  beim  Kinde  selbstverständlich  und  bei 
aller  religiösen  Belehrung  zunächst  unbedingt  nötig  —  wo  der  tote 
Grossvater  weilt,  wo  die  Kn<Tel  singen  und  spielen,  und  dieser  Ge- 
danke wirft  lichte  Strahlen  auf  das  finstere  Gottesbild  und  bringt 
es  dem  kleinen  Gemüt  auf  einmal  unendlich  näher. 

Für  das  kindliche  Fassungsvermögen  ist  nichts  leichter  ver- 
ständli^  als  eben  diese  Vorstellung  von  der  Engelwelt   Das  Kind, 

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das  alles  belebt,  das  auch  alle  unpersönlichen  Dinge  als  l'crsoncu 
auffasst  und  behandelt,  findet  sich  ausserordentlich  rasch  in  eine 
von  Engeln  bdebte  Umgebung^.  Und  wenn  ihm  die  Mutter  erzählt, 
dass  die  Engeirin  abends  an  srinem  Bette  Wache  halten  und  es 
des  Morgens  wecken ,  dass  neben  jedem  Kinde  ein  Schutzengel 
steht,  dass  es  selbst,  wenn  es  stirbt,  so  ein  Knt^a^l  wird;  wenn  es 
dazu  auf  hundert  Bildern  und  auf  den  Grabdenkmälern  oder  an  der 
Kirchenpforte  Engelsgestalten  neht,  wurzelt  der  Kngelsglaube  so  fest 
im  Kinde,  dass  eine  freiere  religiöse  Auffassung,  die  den  Himmel 
von  den  Geisterscharen  entvölkert,  schwere  Widerstände  zu  über* 
winden  hat. 

Und  endlich  sei  der  religiösen  V'orstellungsgruppe  gedacht,  die 
sich  an  den  Tod  anknüpft.  Auch  das  Bild  des  Todes,  den  BegrifiT 
des  Sterbens  bringt  das  Kind  als  religiöses  Anschauungsblld  miL 
Es  hat  sogar  dns  Kind  in  seiner  Kurzsichtigkeit  und  Naivität  jenen 
Betriff  vom  Tode,  den  erst  der  gereifte  relit^i(')se  Mensch  nach 
langem  Lebenskampfe  wieder  erlangt,  und  es  hält  den  Tod  für 
nichts  Furchtbares;,  es  fehlt  ihm  das  Grauen  vor  dem  Tode.  Nur 
eine  dunkle  Ahnung  sagt  ihm»  dass  der  Tod  etwas  Ernstes  sri, 
trotzdem  es  schon  an  Grab^üfi^eln  f:^estnnden  und  schon  tote 
Menschen  gesehen  hat.  Das  Kind  und  der  Tod  —  eine  ausser- 
ordentlich interessante  Frage.  Nur  allmählich  erwacht  ein  leises 
Grauen  in  ihm,  wenn  ihm  immer  wieder  gesagt  wird,  dass  der 
Tote  nicht  mehr  aufwadie  und  in  der  schwarzen  Erde  schlafen 
müsse,  dass  es  selbst  sterben  müsse  —  ganz  leise  dämmert  In  ihm 
auf  das  Gefühl  des  Grossen,  Dunklen,  Unnennbaren,  nur  leicht  fühlt 
es,  dass  die  Todesluft  aus  der  Ewigkeit  herweht  Es  kommt  jener 
tröstliche  Engelsglaube,  der  alle  gestorbenen  Kinder  wenigstens  in 
Engel  verwandelt  und  das  Paradies  so  köstlich  ausmalt,  wie  es 
Martin  Luther  in  seinem  herrlichen  Briefe  an  sein  Söhnlein  schildert, 
hinzu,  um  dem  Tode  die  Schrecken  /u  nehmen.  So  '^teht  dr^s  Kind 
verständnislos  dem  g^rossen  Geheimnis  gegenüber,  dessen  Lösung 
auf  die  grosse  Ewigkeitsfrage  des  Seins,  auf  das  grosse  Warum  der 
Menschheit  Antwort  gibt. 

Es  bleibt  die  Frage  nach  der  Vorstellung  von  Christus.  Sie  ist 
dürftig,  srh'vach  umrissen.  Nur  das  Weihnachtsfest  hat  den  Namen 
des  Christkindes  schon  früh  gelehrt.  Aber  selbst  bei  diesem 
Kindheitsfeste  kommt  dem  Kinde  durchaus  nicht  zum  Bewusstsein, 
dass  der  Gottessohn  und  das  Christkind  ein  und  dieselbe  Person 
seL  Das  Christkind  ist  ihm  nichts  weiter  als  ein  kleiner  Freuden- 
und  Geschenkengel.  Nur  von  dem  Herrn  Jesus  wird  ihm  in  kleinen 
Gebeten  gesprochen.  In  vielen  (regenden  ist  es  dem  Weihnachts- 
mann gewichen;  ist  die  altgermanische  V^orstellung  Wodans,  wenn- 
gleich unbewusst,  noch  so  deutlich  im  Volke  lebendig  geblieben, 
dass  die  Lichtgestalt  des  Christkindleins  noch  nicht  Eingang  gefunden 
hat  Ist  doch  die  altgermaoische  M3rthologie  itir  Kinderherzen  wie 


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geschaffen,  bot  doch  ihre  grandiose  Anschaulichkeit  eine  religiöse 
Influenz,  die  unsere  gesamte  religiöse  Erziehung  von  heute  nicht 
entfernt  crrciclit.   Die  Welt  ist  leer  geworden,  seitdem  die  Geister 

und  Götter  aus  ilir  f^ewichcn  sind. 

Zwar  hat  das  Kind  Bilder  von  Christus  gesehen,  vielleicht  kleine 
Buntdrucke  katholischer  Spielgenossen,  vielleicht  ein  Kapellengemälde, 
einen  Christuskopf  an  der  Wand.  Aber  es  fehlt  jede  feste  An- 
schaulichkeit, jede  Klarheit.  Das  Leiclc.v  osiclit  des  Gekreuzigten 
kann  doch  unmöglich  mit  dem  lichten  Christkind  identisch  sein. 
„Nicht  wahr,  Mutter,"  sagte  ein  vierjähriges  Mädchen,  „so  liäjislich 
wie  di^er  —  sie  deutete  auf  ein  ChristusantUtz  mit  der  Domen- 
krone —  ist  das  Christuskind  nicht?"  In  vielen  Gegenden  ist  auch 
die  Bezeichnung  „Herrgott"  für  Christus  gang  und  gäbe.  Die 
Schnitzer  von  Kruzifixen  nennt  der  Volksmund  Herrgottschnitzer. 
Das  ist  unser  iicrrgott,  Sc^c  meine  Grossmuttcr ,  als  sie  mir  ein 
Christusbild  zeigte.  Andererseits  wird  von  dem  1  lerrn  Jesus  erzählt. 
Und  nun  soQ  ein  kleiner  Kinderkopf  diese  Dreieinigkeit  von  Christ- 
kind, Herrgott  und  Herr  Jesus  mit  der  Nebcnvorstcllung  des  Weih- 
nachtsmannes vereinigen  oder  .luseinanderhalten  ?  f^s  ist  so ,  dass 
die  Anschauung  von  Christus  nur  als  blasses,  undeutliches  Bild 
neben  den  Gottesvorstellungen  steht. 

Das  ist  etwa  der  religiöse  Vorstellungskreis  unserer  Kleinen. 
Diese  Anschauuni^en  sind  unseren  Sechsjährigen  im  ganzen  ge- 
\aufi<^  CS  ist  ihr  religiöser  Schatz  —  und  das  Gebet  kennen  sie 
ebenfalls  -  -  es  ist  ihre  kultische  BetäU}.(uni>^. 

Hier  setzt  der  Religionsunterricht  der  Schule  ein.  Mag  ihn 
theologisches  Selbstgefühl  als  eine  im  ganzen  gute  Vorbereitung 
auf  den  Konfirmandenunterricht  bezeichnen,  als  ein  Nebenwerk  in 
der  religiösen  Erziehunij  des  Kindes  —  das  ist  zweifellos,  dass  die 
religiöse  Richtung  unserer  Tugend  durrli  die  Scluile,  wenn  nicht 
bestimmt,  so  doch  stark  beeinflusst  wird.  Den  Haupteinschlag 
gibt  naturgemäss  die  häusliche  Erziehung.  Die  Form,  in  der  die 
Religion  zuerst  an  das  Kind  herantritt,  haftet  am  festesten,  prägt 
sich  aufs  tiefste  ein.  Das  Klternhaus  ^^iht  dem  religiösen  Leben 
von  Millionen  das  Gepräge.  Der  Mensch  kann  sich  dem  ;^e- 
heimnisvoilen  Zauber  der  Kindheitserinnerungen  und  Kindheits- 
gewohnheiten auf  lange  hkiaus  nidit  entziehen.  Die  rdigiosen  Vor- 
stellungen der  Ju^^eno  begleiten  den  Menschen  auf  seinem  Wege 
durch  das  rauhe  Land  unreligiösen  Lebens. 

Im  ersten  Halbjahre  erzählt  wohl  manche  Schule  dem  Kinde, 
ohne  seinen  religiösen  Vorstellungskreis  zu  stören,  meist  einfache 
Märchen  mit  einer  einfachen  Moral  Sie  lässt  Gott  vollständig  im 
Hintei^runde.  Sie  zeigt  gute  und  schlechte  Menschen  tmd  zeigt, 
wie  das  Gute  belohnt,  das  Böse  bestraft  wird.  Sie  lässt  die  Kinder 
nur  ahnen ,  dass  Gott  hinter  allem  Geschehenen  steht  und  es  be- 
wirkt, dass  das  Gute  seinen  Lohn  findet 


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Im  allgemeinen  aber  setzt  der  Unterricht  in  der  biblischen 

Geschichte  sofort  ein.  Er  beginnt  mit  der  iTiosaischen  Schöpfungs« 
geschichte,  bringt  das  grosse  Problem  des  Sündenfalles,  die  Sintflut  — 
alles  Stoffe,  die  auf  eine  viel  spätere  Stufe  '^^^ehören.  Im  kindlichen 
Geiste  wird  der  Begriff  des  Schöpfers  verdichtet.  Gott  hat  die 
Welt  geschafien  und  auch  den  Menschen  —  das  ist  die  erste  ^arke 
religiöse  Wahrheit,  die  das  Kind  im  Eltemhause  noch  nicht  gehört 
hat.  Neu  erscheint  ihm  die  Macht  des  Bösen,  des  Teufels,  von 
dem  die  Mutter  nichts  ereählt  hat ,  vor  dem  es  sich  höchstens  als 
Grossstadtkiiid  im  Kanpertheater  gefürchtet ;  neu  die  grosse  Mut,  in 
welcher  die  Menschen  vor  Gottes  Zorn  umkamen.  Der  Effekt  ist 
beim  Kinde  eine  Vergrösserung  des  Gottesbegriflfes,  Gott  wachst 
ins  Riesige  und  Schreckliche,  auf  der  anderen  Seite  zeigt  sich  Gottes 
Liebe  zu  den  frommen  Menschen  und  beruhii^t  das  kindliche  Denken. 

Still  und  fromm  wandelt  Abraham  im  steten  Verkehr  mit  dem 
Ewigen  über  die  Gefilde  Kanaans.  Die  Josefgesciüchte  zieht  herauf 
mit  ihren  bunten  Träumen,  den  seltsamen  WüstenbUdem,  mit  ihrer 
Kunde  von  dem  Lande  der  Pyramiden»  mit  dem  wunderbaren 
Lcbensj^nnge  des  Helden  —  so  fesselnd  für  unsere  Kinder,  weil  sie 
den  Boden  der  h  amilie ,  auf  dem  sich  die  (ieschichte  abspielt, 
kennen.  Ihr  ethischer  Wert  liegt  in  dem  Hinweise,  wie  wunderbar 
Gott  die  Geschicke  der  Menschen  lenkt,  eine  Illustration  zu  dem 
Spruche,  den  unsere  Kinder  wohl  lernen,  aber  eist  später  verstehen 
können:  Wir  wissen,  dass  denen,  die  Gott  lieben,  alle  Dinge  zum 
besten  dienen. 

Die  Davidsgeschichte,  eine  der  behebtesten  für  unsere  Kleinen, 
bat  wenig  religiösen  Wert  Vor  der  Gestalt  des  kecken,  mutigen 
David  vcrbtasst  der  BegriflT  des  Gottvertrauens,  der  hier  betont 
werden  soll,  vollständii;. 

Kndürh  tritt  ganz,  neu  \  or  tlic  Kiiuk  r  das  Christusbild.  Die 
Christusgestalt  des  Neuen  l  estaments,  wie  sie  in  den  Erzählungen 
lebt,  die  die  Schule  bietet,  ist  den  Kindern  neu.  Und  es  mm  hier 
festgestellt  werden,  dass  keine  Geschichten  die  Kinder  so  feseln  und 
im  Innersten  erL:^rcifen,  als  die  märchenhaften  Wunden^eschichten, 
Krankcnliciiungen,  Totencrwcekun;^a-n  des  Neuen  Testaments.  Und 
klarer  und  klarer  bildet  sich  in  den  Kindern  die  anfangs  nebelhafte 
Gestalt  eines  barmherzigen,  klugen,  ernsten,  mächt^en  Mannes  mit 
wunderbaren  .Xugen  und  einer  unendlichen  Liebe  im  Herzen,  einer 
unendlichen  Milde  und  Hoheit  und  einer  weichen  Demut.  Das 
Hcilandsbild  verdrängt  das  Bild  des  lieben  Gottes.  Es  spricht 
persönlich  zu  den  Kindern,  der  Heiland  redet  urid  weint  und  stirbt  — 
Gott  bt  unnahbar,  so  unendlich  gross,  so  ernst,  so  unfa.ssbar,  dass 
das  Kind  mehr  und  mehr  von  dem  einfachen  reinen  Gottesbegriff 
seiner  ersten  Kindheit  wegrödct 

Je  höher  das  Kind  in  seinem  Klassenverbande  steigt,  desto 
geringer    wird    die   Wirkung    der  religiösen  Unterweisung.  Die 


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Empfaiigli^keit  schwindet.  Die  Nebenwirkung  des  Elternhauses 
wird  von  Tn^  zu  Tag  schwächer.  Nur  das  Gebet  bleibt  vielfach 
erhalten  als  Rest  der  kindhchen  Abhängigkeit  vor  Gott.  In  der 
Schule  wächst  das  Memoriermaterial.  Die  Jesusgeschichten  nehmen 
nur  einen  Teil  der  rdigiösen  Besprechung  ein.  Es  kommt  der 
Katechismus  und  behandelt  anatomisch  mit  Strenge  und  Gedanken« 
klarheit  das  Bild  Gottvaters  mit  der  Fhmmenschrift :  du  sollst' 

Auch  das  Christiisbild  wird  im  IL  Artikel  den  Kindern  nicht 
lieb  und  wert  gemacht  Zu  viel  Nebenwerk  wird  geboten,  die 
Weihe,  'der  Zauber,  der  über  Jesu  Person  liegt,  unbarmherzig 
zerstört  durch  subtile  Gliederung  und  systematische  Zusammen* 
fassung  aller  I.cbcnskleinheitcn  und  -unvvesentlichkeiten  zu  einem 
künstlichen  VVachschristus,  der  alle  Teile  des  Korpers  in  wunder- 
barer Korrektheit  besitzt,  aber  nur  eins  nicht :  das  Leben.  Hast  du 
im  Gldchnis  vom  barmherzigen  Samariter  das  Jesusbild  in  seiner 
unendhchen  mensclilichen  Liebe  und  Milde  gekennzeichnet  und  die 
Herzen  leise  durchschüttert  —  hast  du  das  Leben  des  Heilandes 
in  seiner  Einzigartigkeit  und  Gotte^rösse  und  seinem  Menschen- 
jammer gross  in  die  Herzen  der  Kinder  gemalt,  dass  ihre  Augen 
in  Tranen  glänzen:  dann  sprichst  du  in  der  Katechismusstunde 
wohl  von  den  Standen  des  Erlösers  und  prägst  den  jungen  Geistern 
den  Spruch  ein:  Einen  solchen  Hohenpriester  sollten  wir  haben  — 
und  hebst  damit  das  menschlich- warme  Jesusbild  in  die  Kisluft  des 
dogmatischen  Lehrbegriffs;  und  in  der  Kälte  friert  alles  Leben.  Du 
tötest  hier,  was  du  dort  entzündet.  Dazu  die  katechetische 
Deduktion»  die  sich  an  das  Denken  wendet  und  nicht  an  die 
Phantasie  und  die  Gemütstiefe.  Nur  besondere  Kunst  und  innere 
Wärme  kann  die  Kinder  an  diesen  Klippen  vorüberfuhren  —  die 
p^rosse  Mehrheil  unserer  Kinder  lernt  diesen  Christus  kennen. 
Lud  m  dammrigcs  Dunkel  führt  dann  die  Betrachtung  des  heiligen 
Geistes  und  seiner  für  die  Kinder  vollständig  unfassbaren  „Wirkungen", 
die  die  Kirchenlehre  ihm  zuschreibt.  Mag  man  auch  nach  Hempels 
Vorgehen  die  ganze  I  Iciligungslehre  an  die  Person  des  Apostel- 
fürsten Petrus  anlehnen  und  anknüpfen  —  es  bleiben  die  Vorgänge 
im  besten  Lalle  ein  halbverstandenes  Mysterium,  wenn  man  sich 
nicht  mit  Worten  begnügt,  sondern  auf  ein  gewisses  Verständnis 
Wert  legt.  Diejen^en,  die  eine  Schwierigkeit  in  der  Materie  nicht 
finden  —  es  gibt  allerdings  wenige  ~—  begnügen  sich  mit  einem 
Wort  wissen,  mit  VVortantworten ,  die  zwar  dem  Unwissenden  ein 
falsches  Bild  eines  Erfolges  vortäuschen,  aber  ohne  jegUchen  Wert 
sind.  Unsere  gesamte  Katechismusbehandlung  leidet  unter  einem 
Wortnachhcten.  Die  ganze  £rlösungslehre ,  die  das  IL  LIauptstUck 
gibt,  ist  in  der  landläufigen  Betrachtung  unfruchtbar  und  ausser- 
ordentlich schwer  verständlich.  Wir  dürfen  die  Menschheit  nicht 
als  verdammt  ansehen,  die  vor  Christus  lebte,  wie  es  die  Missionäre 
samt  und  sonders  taten  und  tun.   Wir  dürfen  die  Welt  von  heute 


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niclii  i^Iücklicher  preisen  weil  sie  von  der  Erlösung  weiss.  Wir 
dürfen  die  Völker  nicht  unglücklich  nennen,  die  heute  noch  das 
Christentum  nicht  kennen  oder  noch  nicht  annehmen  wollen.  Wir 
müssen  das  Hauptgewicht  darauf  legen,  dass  Christus  dadurch  die 
Welt  erlöst  hat  —  und  das  ist  der  gewaltige  Fortschritt,  den  seine 
Lehre  für  die  Welt  bedeutet  — ,  dass  er  die  todüberwindendc  [jebe 
gezeigt,  die  ihre  ^anze  t^rosse  Lebensaufgabe  in  der  uneigennüt/ic^en, 
Stillen,  heiligen  Arbeit  an  der  Menschheit  sieht.  Der  ist  wahrhalt 
erlöst,  der  in  diesem  Sinne  Christus  als  seinen  Herrn  und  Meister« 
als  den  unvergleichlichen  Lehrer  ansieht.  Das  sind  die  Gedanken, 
die  unsere  Kinder  verstehen,  und  die  auch  bestehen,  wenn  im 
Lebenskämpfe  der  Zweifel  kommt.  (An  diesem  Christus,  dieser 
Auffassung  der  Erlösung  können  auch  Atheisten  nicht  rütteln.  Der 
Christus  ist  grösser  als  sie.) 

Das  in.  Hauptstück,  das  Gebet,  ist  in  seiner  Tiefe  von  reiferen 
Kindern  wohl  zu  behandeln  und  bietet  einen  Schatz  von  sittlichen 
Momenten,  sie  geben  dem  Lehrer  praktische  relij^iöse  Grc- 
sichtspunkte  an  die  Hand,  die  der  Fassungskraft  der  Kinder  ent- 
sprechen. Die  grossen  Themen  von  der  Vaterliebe  Gottes,  von 
dem  grossen  Gottesreiche,  das  alle  Menschen  umfassen  soll,  aber 
nicht  in  der  Ewigkeit  liegt,  sondern  in  der  Zeit,  von  dem  grossen 
Glückswillen  Gottes,  von  dem  täc^Hchen  Brot,  von  der  Menschen- 
schuld ein  Thema,  das  sich  besonders  er^^rcifend  und  erschütternd 
behandeln  lässt,  weiui  man  in  die  Lebensscliicksale  von  Völkern 
und  Einzelmenschen  blickt  —  von  der  Versuchung  des  Lebens,  von 
dem  grossen  Übel,  dessen  Begriff  sich  in  der  Menschheitsgeschichte 
allerdinc"-  fortlaufend  ändert  entrollen  das  ganze  Menschenleben 
vor  den  Knidcrn  und  lassen  sie  riesige  Nebclbilder  aus  dem  Zauber- 
lande Leben  sciiauen,  erschüttern  und  erheben  /zugleich  und  be- 
fruchten Geist  und  Gemüt,  Phantasie  und  Willen,  erziehen  den 
inneren  Menschen  und  geben  ihm  die  beste  Ausrüstung  för  den 
Gai'i:  durchs  Leben  mir 

So  ringt  sicli  aus  den  dunklen  Umrissen  des  Gotteshüdes,  wie 
es  die  Kinder  aus  dem  Elternhause  mitbrachten,  allmaiüich  eine 
halbklare  Vorstellung  von  Gott  ddrch.  Das  Christusbild  tritt, 
freiUch  meist  nüchtern  und  lehrhaft  gedeutet,  in  den  Vordergrund 
des  religiösen  Denkens,  während  die  \'^orstellung  vom  heiligen 
Geiste  von  der  Stufe  einer  dämmernden,  verschwommenen 
mysteriösen  Erscheinung  nicht  loskommt  Eins  aber  vermag  unser 
RcUgionsunterricht  nicht  mehr  zu  erzeugen:  einen  lebendigen  per 
sönlichen  Verkehr  mit  Gott,  der  das  tägliche  Tun  und  Beginnen  in 
den  Schatten  Gottes  stellt  und  sich  der  Nähe  des  Ewigen  stets 
bewusst  bleibt.  Der  Römer  in  grauer  Heidenzeit,  der  bei  Beginn 
der  Reise  den  Göttern  seine  Opfer  darbrachte  wie  bei  seiner  Rück- 
kehr, war  frömmer  als  der  heutige  Christ.  Die  Fronmiigkeit,  d.  h. 
die  Betätigung  des  religiösen  Sinnes  im  Leben,  in  allen  grossen 


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-   i69  - 


und  kleinen  Handlungen  und  Cjeschehnisscn  des  Lebens,  ist  heute 
meist  vcisdiwunden.  Auch  unsere  Schule  ist  weit  davon  entfernt, 
eine  fromme  Schule  in  diesem  Sinne  zu  sein. 

Die  religiöse  l'inicleidung  unseres  Lebens  ist  nur  ein  Schatten, 
den  nur  Hellscher  tur  Leben  halten;  die  reli^ösc  Formengcbung 
unseres  Schulunterrichts  lebt  nur  noch  in  schwachen  Andeutungen. 
Sie  beschränkt  sich  im  Alltagsveriauf  auf  die  Morgenandadit  und 
das  Gebet  am  Schluss.  Zu  Morgen-  und  Schlussgebet  treten  die 
religiösen  Formen  des  Fcstaktus,  der  mit  Lied  und  Gebet  verbunden 
ist.  Beide  ^^ind  religiös  von  geringer  Bedeutung.  So  richtig  der 
Satz  ist,  dass  religiöse  Betätigung  eine  Übung  voraussetzt,  dass 
Religion  zuerst  Grewöhnung  sein  muss,  ehe  ne  inneriich  eine  Madit 
werden  kann,  so  falsch  ist  die  Meinung,  dass  die  Form  von  Wert 
sein  kann,  wenn  sie  nur  lose  mit  dem  Inhalt  verbunden  ist  oder 
gar  den  Inhalt  ersetzen  soll.  .Anfangs-  und  Schlussgebet  werden 
leicht  zur  Gewöhnung  und  schleifen  sich  ab;  die  Gebete  gleiten 
vorüber  an  der  Seele,  und  es  ist  nicht  die  Regel,  dass  der  Ton 
Wärme  und  Andacht  verrät.  Von  den  Schulfeiern  erscheint  die 
Entlassungsfeier  der  Beachtung  für  wert.  Die  patriotisdien  Feiern 
leisten  für  die  reinreligiöse  Erbauung  des  Herzens  nur  wenig. 
Gewiss  lernen  sie  immer  wieder  und  wieder  auf  den  Schlachten- 
gott und  Völkergott  schauen,  der  über  allem  Geschehenen  thront, 
in  dessen  Händen  Wohl  und  Wehe  der  Völker  liegt;  aber  innige 
Gemütserregungen  religiöser  Naturen  sind  nicht  das  Ergebnis. 
Anders  bei  jenen  sclilichten  Feiern,  d.i  die  Sclnilkinder  nach  Ab- 
schluss  ihrer  Lernjahrc  Abschied  nehmen.  Hier  verwandeln  sich 
grosse  menschliche  Gefühle  in  religiöse.  Der  Ernst  der  Abschieds- 
Stunde  an  sich,  die  Anwesenheit  der  Eltern^  die  ihre  Lieblinge  aus 
der  OUtut  der  Schule  zurückholen,  um  sie  ins  rauhe  und  kalte 
Leben  zu  entlassen,  der  Gedanke  an  dies^'-  F,'"ben,  das  mit  seinen 
grossen  dunklen  Sorgenaugen  schon  zu  den  Fenstern  hereinschaut, 
stimmen  die  Herzen  weich,  lassen  in  die  innersten  Kammern  der 
Seele  hineinschauen,  wischen  alles  Künstliche,  Angewöhnte  mit 
starker  Hand  weg.  Aber  ausser  dieser  Feier  hat  die  Schule  wenig 
rrluTiös-kirchlichc  Einwirkungen  in  ihrem  Machtbereich.  Es  ist  die 
Signatur  nicht  nur  der  christHchen  Schulordnun;::^,  dass  unsere 
religiösen  Formen  nicht  mehr  dem  Inhalt  entsprechen. 

Schauen  wir  zurück  in  das  Haus,  dessen  religiöse  Einwirkungen 
auf  das  Kind  vor  seinem  Eintritt  in  die  Schule  wir  schon  be- 
leuchtet  haben. 

Neben  der  rcligi(')scn  Unterweisung  und  den  religiösen  Formen 
der  Schule  wirkt  der  elterhche  und  kirchliche  EinHuss.  Aber  der 
elterliche  ist  kümmerlicher  geworden.  Fast  will  es  scheinen,  als  ob 
mit  dem  Beginn  der  schulischen  Religionsstunden  die  religiöse 
Unterweisung  im  Flternhause  dahinscluvände.  Fast  will  es  scheinen, 
als  ob  Bonus  recht  habe  mit  seiner  bissigen  Bemerkung,  dass  man 


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—   170  — 

irgend  ein  Gebiet  nur  schulisch  -  schulmeisterlich  tu  behandeln 
brauche,  um  die  Lust  daran  gründlich  auf  Grenerationen  hinaus  zu 

ersticken. 

Die  Schule  hat  den  Rcligion«;unterricht  in  die  Hände  j^^enommen. 
Die  Mutter  scheut  sich  jetzt,  ihre  einfache  Belehrung  fortzusetzen, 
sie  wird  unsicher,  sie  fühlt  sich  der  Aufgabe  nicht  mehr  gewachsen. 
Auch  der  Vater  nimmt  wenig  Anlass»  an  der  religiösen  Bildung  des 
Kindes  mitzuarbeiten.  Der  kirchlich  •  religiös  interessierten  Väter 
werden  immer  wcnif^er.  Steht  der  Vater  nicht  auf  dem  Boden 
kirclilichcn  Christentums,  so  schweigt  er  meist  taktvoll  zu  den 
Lehren,  die  sein  Kind  aus  der  Schule  mitbringt,  in  der  Meinung, 
die  heute  noch  Tausende  teilen:  die  Kinder  sollen  den  Glauben 
noch  lernen  und  behalten  —  das  Leben  wird  schon  korrigieren, 
wird  streichen,  was  ohne  inneren  Wert  ist. 

Die  religiöse  Übung  des  Hauses  besteht  heute  in  bürgerlichen 
Kreisen  im  ziemlich  regelmässigen  Kirchgang.  Morgen-  und  Abend- 
andachten im  Hause  sind  längst  tot  —  wenige  Bauern-  und  Pfarr- 
häuser ausgenommen.  Das  Bibellesen  und  stille  Erbauungsstunden 
vor  Gesangbuch  und  Poslille  sind  selten,  recht  selten  f'f^worden. 
(Mein  Grossvater  las  jeden  Abend  ein  Kapitel  aus  einem  alten 
Erbauungsbuche  mit  allerdings  prächtig  anschaulichen  Betrachtungen 
eines  Seelsorgers,  eines  Mannes,  dessen  Bild  mit  seinem  klugen 
dunklen  Auge  auf  dem  ersten  Blatte  des  Buches  mir  heute  noch 
deutlich  vor  Auircn  steht.  Und  meine  Grossmuttcr  nahm  'jcm  das 
Gesanv^buch  zur  Hand  —  sie  konnte  orsiaunlich  \iel  [Jeder  aus 
dem  Gedächtnis  rezitieren  und  auch  anwenden  zur  rechten  Zeit, 
am  rechten  Ort,  Aber  wo  ist  heute  diese  Frömmigkeit?)  Es  ist 
ein  anderes  Geschlecht  geworden,  eine  andere  Familie,  eine  andere 
Familienerziehung.  Es  fehlt  dem  Kinde  die  Macht  des  Beispiels 
religiöser  Persönlichkeiten,  zunächst  im  engeren  Kreise.  Der  grösste 
Erzieher,  auch  der  grösste  Verführer,  ist  das  Beispiel,  und  dieses 
Beispiel  kann  unsere  an  kirchlichen  Lebensformen  arme  Zeit  dem 
Kinde  nicht  mehr  bieten.  Noch  vor  $0  Jahren  waren  die  Eltern 
kirchenstrenge  Persönlichkeiten,  in  ihren  kirchlichen  Cbungen  zwar 
oft  starr  und  formell,  aber  ernst  und  andachtsvoll.  Die  Formen  des 
mehrmaligen  läghchen  Gebets,  des  sonntäglichen  Ganges  nach  dem 
Gotteshause,  die  Beurteilung  der  Lebensgeschehnisse  nach  den 
Worten  der  Bibel,  der  Gebrauch  der  Bibel  in  dunklen  Lebenstagen 
gewöhnten  das  heranwadiscnde  Geschlecht  an  die  Vorstellung  von 
einer  grossen,  dunklen  Macht  der  Rclit^ion,  von  der  t^rossen  Macht 
Gottes  und  waren  gewiss  manchen  eine  wunderbare  Mitgabe  für 
das  Leben.  Dass  diese  religiösen  Gewolinheiten  oft  nur  Ausseriich- 
keiten,  lediglich  Gewohnheiten  und  Formen  waren,  dass  mancher 
dieser  Frommen  in  den  Stürmen  des  Lebens  und  seinen  Gefahren 
nicht  nach  demselben  Worte  der  Schrift  handelte ,  das  er  so  oft 
zitiert,  dais  können  Kinder  nicht  beobachten,  nicht  beurteilen,  ihnen 


—   171  — 


war  das  Wort  und  der  Brauch  alles.  Heute  sind  die  Tage  der 
Kirchenfrömmigkeit  in  den  Zeiten  des  modernen  Lebens,  in  den 
Grossstadten  vorüber.  Auf  dem  platten  Lande  lebt  sie  nach  den 
TrSghcitsgesetzcn  menschlicher  Entwicklung  gemächlich  weiter, 
wenn  auch  der  Inhalt  dieser  Formen  immer  dürftiger  wird.  Soll 
man  das  Geschlecht  dieser  Tage  als  entartete  Epigonen  bezeichnen? 
Oder  als  die  Grundlage  einer  Generation  der  Zukunft?  Soll  man 
die  Wandlung  beklagen  oder  bejubdn  oder  sie  indifferent  als 
charakterlose  Übergangszeit  betrachten?  War  das  alte  Kirchentum 
voll  innerer  Kraft  und  Lebensfülle?  Oder  war  es  viel  Stimmunffs- 
christentum  ohne  tieferes  Nachdenken  und  grosse  Wcltanschauun«^. 
dem  beschränkten  Weltbilde  einer  versunkenen  Epoche  entsprechend? 

Noch  heute  ist  der  Kirchgang  die  Form  kultischer  Betätigung 
in  wetten  Kreisen  des  breiten  lindes.  Unsere  Jugend  geht  gleich 
unseren  Gro-^scltcrn  im  allL^'omoiiien  gern  in  die  Kirche;  ich  erinnere 
an  die  sehr  gut  besuchten  Kindcrgottesdienste ,  die  allerdings  für 
die  religiöse  Unterweisung  unserer  Kleinen  fast  wertlos  sind  und 
im  besten  Falle  eine  Gewöhnung  an  den  Kirchenbesuch  erzielen. 
Dk  Glocken  läuten  seit  Jahrhunderten  durch  die  Lande,  und  immer 
noch  wallen  die  Beter  ins  Gotteshaus,  Die  Mutter  hält  auf  den 
Kirchenbcsucli  und  nimmt  die  Kinder  schon  beizeiten  mit.  Sie  ist 
das  konservative  Element  in  der  Familie,  und  je  mehr  sie  in  ihrem 
Familienkreise  ihr  Glück  findet,  je  weniger  das  tausendfaltig  be- 
gehrende Leben  mit  modernen  Forderungen  in  ihre  Zurückgezogen- 
heit hineinbrandet,  desto  treuer  und  sicherer  überliefert  sie  die 
Elemente  alter  Kirchlichkeit.  Und  der  V'ater  sieht  ihr  Walten  gern 
oder  sieht  es  schweigend.  Das  Kind  geht  gern  ins  Gotteshaus. 
Ihm  gefallt  die  feieriioie  Stille,  die  rauschende  Orgelmusik,  Ihm 
gefallen  die  bleichen  rotbrennenden  Kerzen  am  Altar  und  die 
hohen  bunten  Fenster,  die  zahlreichen  stillen  schwarzen  Menschen. 
Es  kommt  sich  selbst  vor  wie  in  einer  anderen  Welt.  Fs  deucht 
ihm,  als  gehöre  es  zu  den  Erwachsenen;  Mutter  zankt  nicht  und 
sieht  so  feierlich  aus.  Und  wenn  es  auch  von  der  Predigt  nicht 
viel  versteht,  es  hört  dem  Pastor  gern  zu. 

Endlich  fordert  in  der  Konfirmandenzeit  die  Kirche  Streng  den 
Kirchenbesurh.  Die  Frage,  ob  der  Kirrhcnhesuch  in  seiner  religiös- 
pädagogischen Einwirkung  hoch  einzuschätzen  sei,  ist  zu  verneinen. 
Die  Predigten  müssen  grossenteils  über  die  Köpfe  hinweggehen. 
Das  Wertvolle  und  Unvei^ngliche  ist  nur  die  Erregung  einer 
feligiösen  Weihestimmung.  Die  äussere  Gewöhnung  zum  Kirchen- 
besuche aber  hält  nicht  vor,  wenn  die  Seele  im  Gottesdienste  keine 
Befriedigung  gefunden  hat;  oft  «genügt  eine  Änderung  in  den  Lebens- 
verhältnissen, um  den  Kirchenbesuch  einschlafen  zu  lassen.  Es  sind 
nicht  die  Klügsten  und  Tüchtigsten,  die  am  Schulbesuche  nach  der 
Schulentlassung  festhalten.  Friedsame  einfache  Naturen  mit  starker 
religiöser  Stimmung  und  geringer  kritischer  Neigung  und  Unlust 


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—     172  — 


zum  Umdenken  alter  Werte  bilden  die  Mehriieit  neben  bequemen 
Alltagsmenschen  und  solchen,  die  gern  eine  äussere  Frömmigkeit 

zur  Schau  tragen.  Sicher  t^ibt  es  auch  eine  grosse  \n/,ahl  derer, 
(leren  geistigem  Standpunkte  das  heutige  Kirchentuin  gerade  ent« 
spricht. 

Religiös  l>edeutsam  sind  neben  den  kirchlichen  Gottesdiensten 
die  christlichen  Familienfeste  der  Taufe  und  Trauung.  Religiös  am 
tiefsten  packen  die  christlichen  Totenfeiern.  Selbst  in  unserer  Zeit, 
die  nach  ganz  anderen  Formen  der  Religion  ringt  als  wir  sie  bisher 
gewöhnt  sind  und  durclüebt  iiabcn,  stimmt  der  Ruheplatz  der 
Toten  ttefemst  Wo  die  steinernen  Säulen  ragen,  schwarze  Kreuze 
tief  eingesunken  in  den  morschen  Grabhügeln  verwittern  und  dfistere 
Lebensbäume  schwarzen  Flammen  f^lcich  züngeln,  da  pflegt  es  stille 
zu  sein;  ..iniii  hört  nur  leises  Jk'ten  bei  Kreuz  und  [.eichenstein". 
Und  der  Gcuanke,  der  den  Menschen,  den  Staubgeborenen,  am 
tiefeten  ergreift,  ist  immer  der  an  das  Schdden  von  der  Erde. 
Merkwürdig,  wie  fest  die  Erden  menschen  an  der  Scholle  haften,  die 
sie  so  oft  als  Jammertal  und  Unglücksland  bezeichnen.  Und  Kinder 
auf  dem  i  oienacker.  Hier  zuerst  werden  sie  von  den  Schauern  der 
Ewigkeit  durchweht  Hier  zuerst  fühlen  sie  etwas  uncndhch  tirosscs, 
Unnennbares,  Unfassbares,  Dunkles  und  Ungeheures,  vor  dem  ihr 
Denken  stille  steht.  So  erzieht  der  Friedhof  religiös,  schafft  innere 
Werte.  Nur  ist  seine  Wirksamkeit  auf  wenige  beschränkt.  Den 
meisten  unserer  Kinder  bleibt  der  Tod  fremd.  Sic  sehen  seiner 
Arbeit  nur  aus  der  Ferne  zu.  Nur  -  der  lernt  des  I'odes  Macht 
innerlich  fühlen,  dem  er  in  die  Schar  der  Liebsten  hineingreift 
Und  dann  ist  das  Wesen  des  Kindes  sonnig  und  gedaidcenlos.  Es 
neigt  nicht  dem  Düsteren  zu,  es  fehlt  ihm  noch  das  Verständnis  der 
Tragik  des  Menschenseins,  und  es  sieht  mit  grossen,  verwunderten 
.Augen  die  iieeressäulen  der  loten  durch  die  Pforten  der  Ewigkeit 
ziehen. 

Ich  kennzdcbne  im  folgenden  den  Schulunterricht  nach  seiner 
Bedeutung  filr  die  religiöse  Entwicklung  unserer  Jugend. 

Von  jeher  ist  die  N  a  t  u  rw  i  ss  e  ns  c  h a  f t  dazu  benutzt  worden, 
(icjttcs  (1  rosse  unti  Allmacht  und  seine  Weisheil  und  Ewigkeit  und 
auch  seine  Liebe  ad  oculos  zu  demonstrieren.  ,,Die  Himmel  er- 
zählen die  Ehre  Gottes  und  die  Feste  verkündiget  seiner  Hände 
Werk"  —  dieses  Psalmwort  ist  in  tausend  Variationen  verkündet 
und  verbreitet  worden:  mit  äusserer  l'Vömmigkeit  und  raffinierter 
Zweckausnutzung  ist  das  iMiize  Naturreich  als  Gottes  grosses 
Spiegelbild,  alles  Geschehene  uuicriiaJb  seiner  Grenzen  als  Gottes 
Wille  dargestellt  worden,  bis  hinab  —  oder  hinauf?  —  zu  jener 
Kategorie  \  on  Religionslehrern,  deren  einer  allen  Ernstes  behauptete, 
auch  darin  sähe  man  die  Weisheit  Gottes,  dass  die  Katzen  gerade 
dort  Löcher  im  belle  hätten,  wo  die  Augen  seien.  Hei  der  Pracht 
der  Blumen   und  ilirem  wunderfeinen  öau,  angesichts  der  vicl- 


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—    1/3  — 


gestaltigen  Klassen  der  Tierwelt  und  ihrer  Lebensaufgabe  im  grossen 
Rrichc  des  Seins,  beim  Blick  nnf  die  Ausrüstung  der  Lebewesen 
regt  sich  das  Gefühl  des  Erstaunens,  des  Wunderns,  regt  sirh  das 
Nachdenken  und  Sinnen  und  Grübeln,  aber  erst  der  Hinweis  auf 
den  göttUchen  Schöpfer,  meinte  man,  kann  diese  unbestimmten 
Gefühle  und  Vorstellungen  in  wertvolle  klare  Gefühlsbilder  wandeln. 
P>  seien^^  hier  Gellerts  cinraltig-frommc  kirchliche  Dichtungen  ge- 
nannt. Übereifrige  Männer  haben  seit  Jahrhunderten  ganze  Natur- 
geschichten unter  diesem  Gesichtswinkel  bearbeitet  und  immer 
wieder  auf  den  gütigen  Schöpfer,  auf  die  Zweckmässigkeit  der  Natur, 
auf  das  wunderbare  Ineinandergreifen  von  tausend  Radchen  und  auf 
den  Menschen  als  Zweck  und  Mittelpunkt  der  ganzen  Schöpfung 
hingewiesen.  .Aber  einmal  passieren  gerade  hei  Betonung  des 
letzten  Gedankens  leicht  droUige  Widersprüche,  wenn  z.  B.  auf  den 
ersten  Seiten  des  Buches  der  fromme  Verfasser  sagt,  dass  auch  die 
hasslichsten  und  kleinsten  Tiere  Kostganger  des  lieben  Gottes  seien, 
und  ein  paar  Seiten  weiter,  dass  wir  dem  heben  Gott  danken 
sollten,  dass  er  uns  seine  gefiederten  Jäger  zu  Hilfe  schicke,  damit 
wir  das  „alles  verwüstende,  schädhche,  unnütze  Gcsiadel"  vernichten 
können.  Und  dann  ist  doch  auch  zu  beachten,  dass  etwas  oft 
Gehörtes  abstumpft,  dass  das  Kind,  dem  immer  und  immer  wieder 
vorgesagt  wird:  darin  sehen  wir  Gottes  Grösse  und  Wdshdt,  nie 
zur  Hhrfurcht  vor  Gottes  Grösse  kommt.  Ich  meine,  dass  die 
Naturgeschichtsstunde  mit  dem  Hinweis  auf  die  Notwendigkeit 
frommer  Gewöhnung  die  wiederholte  religiöse  Belehrung  nicht 
stützen  kann.  Die  Naturgeschichtsstunde  predigt  in  Wahrheit  Gott 
am  lautesten,  die  seinen  Namen  kaum  oder  nicht  nennt,  wie  es 
eine  durchaus  falsche  Auffassung  ist,  wenn  man  die  Naturkörper 
nur  von  dem  .Standpunkte  des  ängstlich  (icwinn  und  Schaden  be- 
sehenden Menschen  berechnet  und  so  in  die  Enge  des  Krämer- 
geistes hineinzieht,  was  man  ins  Licht  universaler  Betrachtungsweise 
erheben  sollte.  Gott  ist  gross,  unendlich  gross,  und  ein  wunder- 
bares Sichverzehren  unri  Wiedergebären,  Vernichten  und  Erschaffen, 
Kämpfen  und  .lusgleichcn  sind  die  (irundlagen  der  ganzen  Natur. 
Gebt  den  Naturgeschichtsunterricht  mit  inniger  Liebe  zur  Natur, 
mit  sinniger  Betrachtung  und  philosophischer  Zusammenfassung, 
nicht  eine  Gliederung  in  einzelne  Objekte  in  anatomischer  Zerlegung, 
und  ihr  tut  mehr  für  das  religiöse  Gefühl  als  mit  frommen  Sal- 
badereien. Wem  (he  Naturgeschichte  nicht  in  frommer  Fredigt 
Gott  kündet,  der  wird  nicht  gottgläubig  durch  tausendfach  wieder- 
holte Wendungen.  Aber  immerhin  ist  die  religiöse  Wirkung  auch 
dann  nicht  wägbar  und  messbar,  wenn  der  Unterricht  in  der  an- 
gegebenen Weise  —  und  sie  ist  heute  die  Regel  —  gegeben  wird. 
Es  bleibt  eine  Phrase,  zu  behaupten,  dass  der  Naturgeschichtsuoter- 
rieht  durch  den  Religionsunterricht  „verklärt"  werde. 

Und  die  Geschichte?  Wenn  in  einem  Fache  der  oftmalige 


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Hinweis  auf  Gott  nicht  gefehlt  hat,  so  ist  es  die  Weltgeschichte. 
Es  ist  die  grosse  Menge  unserer  Geschichtsbücher,  die  nach  Art 
der  Darstellung  des  Alten  Testaments  in  jeder  Wendung  der  Gc- 
schkdite  Gottes  besondere  Fügung  sehen  und  dabei  alles  vom 
Standpunkte  des  gotteseigenen  V<dke8  betrachten,  in  jedem  Siege 
eine  Hilfe  des  National  Rottes,  in  jeder  Niederlage  seine  Prüfung 
sehen  und  so  das  ganze  Geschehen  auf  dem  weiten  Erdenrund  von 
den  Zeiten  der  ältesten  Dynastien  der  Pharaonen  und  der  Griechen- 
mythe  an  bis  auf  unsere  Tage  in  das  Licht  eines  göttlichen  Willens» 
eines  Gesetzes  stellen,  das  für  ein  Volk  besonders  gesdiaflen  er» 
scheint  Kine  Auffassung,  die  nur  insoweit  zn  verwenden  ist,  als 
tntsächlich  jedes  Volk  eine  Sonderaufgabe  in  der  Welt<]^cschichte 
y.u  erfüllen  hat.  Wenn  dicae  Geschichtsschreibung  z.  B.  Gustav 
Adolfe  Einfall  in  Norddeutschland  mit  den  Worten  erzahlt:  ,J)a 
erleuchtete  Gott  einen  frommen  und  gerechten  Herrn,  den  König 
Gustav  Adolf  von  Schweden,  dass  er  .  .  —  so  ist  das  zwar 
gewiss  eine  schöne  fromme  Auffassun^^,  aber  sie  hat  doch  nur  einen 
recht  bedingten  Wert  und  nur  bedinf^tc  (leltung;  sie  gilt  doch  nur 
fiir  gläubige  Protestanten  von  enger  ^geschichtlicher  Betrachtungs- 
wdse,  während  der  Katholik  und  Freund  des  Habsburger  Hauses 
etwa  schreiben  müsste:  „Da  fjefiel  es  dem  Teufel,  einem  nordischen 
Wehrwolf  ins  Ohr  zu  flüstern,  dass  gute  Gelegenheit  wäre ,  dem 
siegreichen  frommen  deutschen  Kaiser  sein  Werk  zu  zerstören,  und 
alsobald  rüstete  der  blutige  Polensieger  seine  Schiffe  und  fuhr  mit 
seinen  gierigen  und  rohen  Räuberscharen  gen  Süden."  Und  wenn 
der  Dichter  singt: 

„So  hat  sie  (JoU  geschlagen 
mit  MMOik  und  Ross  nnd  Wagen" 

—  so  singt  das  ein  deutscher  vaterländischer  Mann,  aber  die 
Franzosen  jener  Zeit,  unter  denen  es  doch  auch  gute  Christen  gab, 
haben  als  gute  Patrioten  und  Untertanen  bittere  Tränen  über  den 
Sturz  des  g^rossen  Korsen  geweint  und  nichts  von  göttlichem  Straf- 
gericht darin  gesehen.  Und  umgekehrt:  Während  alle  freiiieitlich 
Denkenden  am  Anfange  des  19.  Jahrhunderts  Napoleon  als  den 
grossen  Zerstörer  fauler  und  morsdier  Staatswesen  ansahen,  haben 
die  frommen  Höfe  keinen  mit  frömmeren  und  christlicheren  Flüchen 
bedacht  als  den  Franzosenkaiser.  Auch  Kaiser  Wilhelms  Wort: 
„Welch  eine  Wendung  durch  Gottes  Fügung"  ist  ein  herrliches 
starkes  Glaubenswort,  aber  nur  ein  Zeugnis  persönlicher  Auffassung 
eines  Vorganges,  der  immer  von  mehreren  Seiten,  nicht  nur  vom 
Standpunkte  des  deutschen  Volkes  aus  betrachtet  werden  muss. 
Freilich  sind  wir  es  fjewöhnt,  diesen  Standpunkt  als  den  rechten 
cliristhchcn  /.u  betrachten.  Haben  doch  unsere  ( jottesmänner  in 
diesem  Glauben  gelebt,  den  Cromwells  Wort  wiederspiegelt;  „Nicht 
unser  Verstand«  nicht  unser  Mut  und  unsere  Starke  vollbringen  das 
Werk.  Alles,  was  wir  tun  können,  ist  dem  Herrn  folgen,  der  vor 


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—    1/5  — 


uns  einhergeh^  und  einsammeln,  was  er  ausstreut'*  Es  zeigt  diese 

Betrachtung  ein  ergreifendes  starkes  Gottvertrauen,  zeigt  ein  ent- 
wickeltes persönliches  Glaubcnsleben  von  solcher  Enerpfic  cLiss  wir 
Epigonen  fast  demütig  aufschauen  zu  den  Männern  solcher  Grosse.  In 
diesem  Zeichen  haben  sie  gesiegt,  und  es  gehört  zum  Verständnis  ihrer 
Persönlichkeit  und  ihrer  £ifol|^.  Aber  eine  andere  Fr^e  ist  es,  ob 
diese  Art  religiöser  Betrachtung  eine  religiöse  Förderung  unserer 
Jugend  bedingt,  ob  es  nicht  uir  den  Unterricht  weiser  ist,  die 
göttliche  \Vcltreg^crLlng  als  {grosse,  dunkle  Macht  liinter  allem  Ge- 
schehenen leise  und  chrlürchlig  anzudeuten,  als  mit  groben  Linien  ihre 
Idttdlich-ldeine  Einmischung  zu  zeigen.  Ist  nicht  unsere  Anschauung 
von  Gott  und  Menschheit,  von  Weltgeschichte,  Weltziel,  von  Erden- 
sehnsucht und  Himmelsglück  eine  andere  geworden?  Betrachten  wir 
nicht  von  höherer  Warte  aus  das  Geschehene  auf  dem  Krdcnkrcisc 
als  jene  Männer,  die  doch  bei  alier  Grösse  Kinder  ihrer  im  uni- 
versalen Denken  stark  beschränkten  Zeit  waren?  Aber  sollen  wir 
mit  der  alten  Weise  brechen?  Sollen  wir  eine  neue  Melodie  suchen 
auf  den  alten  Text?  Fügen  wir  der  reli*:^lösen  Anschauung  unserer 
Kinder  nicht  unberechenbaren  Schaden  zu,  wenn  wir  so  ketzerischen 
Gedanken  Eingang  gewäliren  r  Sollen  wir  den  Kindern  sagen,  dass 
alles  Geschehene  nicht  mit  der  Nachtkerze  des  kleinlich  rechnenden 
Menschengeistes,  sondern  im  Lichte  der  Ewigkeit  angeschaut  sein 
will?  Ist  die  moderne  Weltanschauung^  wirklich  schon  so  weit  Ins 
Volk  gedrun^'en,  dass  man  mit  der  alten  Lehre  brechen  kann?  Mag^ 
man  die  Frage  beantworten,  wie  man  will;  es  muss  die  Schule  von 
heute  schon  einen  Anfang  machen;  vorsichtig,  rücksichtsvoll,  klug 
und  fein  —  einen  Anfang!  Es  soll  die  bildliche  Ausdrucksweise 
des  Alten  Testaments,  dass  Gott  zürnte,  ergrimmte,  dass  es  Gott 
reute  —  nicht  mehr  die  Sprache  unserer  volksgeschichtlichen 
Schilderung  sein.  Gott  ist  nicht  ein  lachender  und  weinender, 
zürnender  oder  verzeihender  Kieinkindergott ,  Gott  ist  nicht  jener 
kleine  Duodezfiirst,  der  mit  jedem  Untertanen  sdnes  Zweimeilen- 
königreiches auf  du  und  du  Steht*  Und  dabei  kann  die  geschicht- 
liche Darstellung  durchaus  gross  und  erhaben  sein  .  soll  Lwigkeits- 
gedanken  auslösen  und  Ewigkeitsstinimung  wecken.  Alles  Ge- 
schehene richtet  sich  nach  ewigen  Gesetzen.  Völker  blühen  und 
welken  und  werden  vom  Gewitterwind  der  Weltgeschichte  zensaust 
und  entwurzelt,  und  Tausende  von  Menschen  sterben  für  Ideen,  die 
oft  schon  die  folgende  (leneration  für  klein  und  nichtig  oder  für 
falsch  erkannte  oder  scliät/.te ,  und  dabei  ^cht  die  Welt  trotz  aller 
Rückschläge  mit  leisem  Donnerrollen  vorwärts,  aufwärts,  nähert 
sich  dem  Ziele  der  Vollendung,  werden  die  Mensdien  immer  mehr 
aus  Menschenkindern  zu  Gotteskindern. 

Was  ist  denn  religiös?  Nicht,  dass  ich  täglich  zehnmal  grüsse: 
Grüss  dich  Gott!  und  in  jedes  Geschäftsbuch:  Mit  Gottl  schreibe 
und  Sonntags  fromme  Lieder  singe,  nein,  dass  ich  mein  ganzes 


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Leben  in  Beziehung  setze  zur  Ewigkeitsbestimmung  des  Menschen. 

Je  kleiner  der  Mensch  ist,  desto  inn'f^er  h"m<^t  rr  an  äusscrlichen 
Zeremonien  und  kleinen  kultischen  Betätigungen.  Je  weiter  aber 
die  Gesichtswelt  sicii  dehnt,  je  weiter  der  Blick  in  die  Unendhch- 
keiten  schaut,  desto  grösser  wird  Gott  und  desto  grösser  dto  Welt, 
desto  gewaltiger  alles  Geschehen  im  weiten  Sonnenreich,  desto 
höher  wächst  die  Aufgabe  des  Menschen  aus  der  Beschränkung  auf 
sein  eigen  (ilück  und  Heil  hinaus  in  die  Sphäre  eines  allgemeinen 
Volkerglücks,  allgemeiner  Wohlfahrt,  in  die  Sphäre  zum  Gottes- 
reiche, jenes  goldenen  lichtalterst  von  dem  schon  die  Alten  träumten. 
Träumten  l  So  wie  der  Mensch,  so  ist  sein  Gott,  sein  Glaube I 

Der  Sprachunterricht  steht  in  der  Reihe  der  Fächer,  welche 
religiöse  BiMungswerte  vermitteln  helfen,  insofern  er  die  Poe»e  in 
der  Volksschule  vertritt.  Kommt  doch  die  Poesie  nicht  nur  im 
heiteren  Gewände  des  Kinderliedes,  des  Friihlingssanges  und  des 
Marchens  in  das  düstere  Schulzimmer,  sondern  auch  in  der  Ritter- 
rüstung der  Ballade  und  dem  frommernsten  Kleide  der  Legende 
und  des  Stimmungsgedicht?.  Dichtung  und  Religion  sind  nahe 
verwandt.  Nicht  nur  die  religiöse  Dichtung  ist  religiös.  Alle 
Poesie  betrachtet  das  iMensclienlebeu  aus  reiner  edler  Ferne  und 
will  erheben  und  innerlich  ergreifen  ~  und  damit  weckt  sie  die* 
selbe  Stimmung,  welche  auch  die  Grundlage  religiösen  Erlebens  ist, 
Muss  doch  alle  Religion  /.unächst  die  edlen  menschlichen  Gedanken 
und  ( icfühle  erwecken,  ehe  sie  unter  Hinweis  auf  die  ewigen  Mensch- 
heitsgesetze und  den  Völkergott  sagen  kann,  dass  edler  Mensch  zu 
sein  zugleich  göttlich  sein  heisst,  dass  der  Mensdi  Gott  am  nächsten 
ist,  der  am  vollkommensten  alle  edlen  menschlichen  Fähigkeiten 
ausbildet.  Dass  die  Poesie  gerade  mit  berufen  ist,  ein  Fülircr  zu 
sein  ins  Land  des  Kdlen  Schönen,  Guten,  Menschbeglückenden, 
Seligen  kann  nicht  bestriiicn  werden. 

Doch  darf  bei  aller  unteniditlichen  Unterweisung  jenes  Faktors 
nicht  vergessen  werden,  der  wahrend  der  Zeit  der  höchsten  inteUek- 
tuellen  Reife  des  Schulkindes,  vor  Vollendung  der  Schulzeit  einsetzt 
und  mit  dem  Dnick  äusserer  Autorität  und  der  Gcw'alt  äusserer 
jahrhundertealter  Sitte  Beachtung  verdient:  des  Konfirmanden- 
unterrichts. 

Nach  Meinung  vieler  Geistlicher  ist  der  Konfirmandenunterricht 

ein  Faktor  rel^isier  Einwirkung,  der  alles  das  an  Energie  übertrifft, 
was  Elternhaus  und  Schule  in  14  Jahren  gearbeitet  haben;  be- 
zeichnete doch  ein  Geistlicher  auf  der  VIII.  sächsischen  evang.-luth. 
Landessynode  die  Volksschularbeit  im  Religionsunterrichte  als  eine 
„gute  Vorarbeit"  für  den  kirchlichen  Konfirmandenunterricht.  Eine 
loritische  Beurteilung  der  kirchlichen  vorbereitenden  Unterweisung 
zeigt  freilich  ein  total  anderes  Bild.  Ich  halte  die  Konfirmanden- 
stunden für  nahezu  wertlos  oder  ihren  Nutzen  nur  für  kurzfristig, 
wenn  sie  nicht  eine  Fortsetzung  der  Volkssciiuiarbcit  bilden,  emc 


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—   177  — 


innere,  lebendige  Fortsetzung  mit  Ireiem  Blick  und  warmem  Herzen. 
Wenn  anders  ihnen  nicht  das  IV.  und  V.  Hauptstück  zu  einfach- 
schlichter menschlicher  Behandlun,;^  überwiesen  wird  Wenn  anders 
nicht  der  Geistliche  frei  von  <ier  Presse!  des  Katechismus  religiöse 
Lcbcnsprobleme  mit  den  Kindern  in  erbauender  und  ergreifender 
Weise  behandelt  Wenn  anders  nicht  lebendiges  Wasser  geboten 
wird.  Konfirmandenstunden  können  so  fruchtbar  sein,  ist  dodl 
schon  die  Autorität  des  Geistlichen ,  die  für  unsere  Kinder  un- 
bestritten ist,  ein  günstiger  Faktor  für  die  Nachhaltigkeit  der 
reUgiöseii  Belehrung,  sind  doch  die  Kinder  in  einem  Alter,  da  das 
Verständnis  für  religiöse  Lebensfragen  sich  zu  entwickeln  beginnt 

Aber  wir  leiden  im  Konfirmandenunterrichte  noch  am  meisten 
unter  der  katholischen  Msudme,  sich  genügen  zu  lassen  mit  einem 
Bekenntnischristentum,  weiter  nichts  herauszubilden,  weiter  nichts 
zu  fordern  als  das  Bekenntnis.  Wir  leiden  unter  der  Maxime,  dass 
religiöses  Wissen  zugleich  religiöses  Tun  bedinge,  unter  dem  Riesen- 
balUist  des  religiösen  Memorierstofles,  unter  der  verhängnisvoUen 
Überschätzung  alles  Wortwissens.  1906  hat  auf  der  Synode  ein 
Geistlicher  das  W^ort  ausgesprochen:  Religion  ist  Dressurl  —  Der 
Memorierstoff  inuss  eingerammt  werden.  Man  darf  annehmen,  dass 
heute  schon  eine  starke  Minderheit  diesen  Standpunkt  nicht  mehr 
teilt  Aber  alle  Entwicldung  geht  langsam,  schrittweise  vorwärts, 
und  die  Kirche  hat  nie  in  dem  Rufe  revolutionären  Eifers  und  all- 
zugrosser  Hast  gestanden.  Ks  bedarf  erst  noch  einer  gnjntne'.^endcn 
Umwälzung,  ehe  unsere  kirrhliche  Geistlichkeit  insgesamt  .luf  dem 
Boden  der  Reform  stehen  wird.  Die  römische  Hierarchie  wird  nie 
dahin  kommen.  Eine  Welt  trennt  im  letzten  Grunde  Katholizismus 
und  Protestantismus.  Kur  diejenigen  evangelischen  Kreise,  die  das 
innere  Wesen  des  Protestantismus  völlig  verkennen ,  können  von 
einer  Gemeinsamlceit  beider  Kirchen  reden.  Und  grundversrhicden 
ist  auch  die  Autiassun^  von  der  Erziehung  der  Jugend,  insonderheit 
von  der  religiösen  Erziehung. 

Die  religiöse  Erziehung  insgesamt,  die  Erziehung  durch  Um- 
welt, Elternhaus,  Schule  und  Kirche  und  alle  Nebenfaktoren  ist  in 
evangelischen  und  katholischen  (.ändern  grundverschieden.  Die 
sinnenfälligen  Zeremonien  der  katholischen  Kirche,  die  alles  innerliche 
veräusserlicht  und  am  liebsten  jeden  inneren  seelischen  Vorgang 
symbolisch  in  eine  äussere  Handlung  umsetzt,  weil  die  stumpfe 
Menge  nur  das  Äussere  sieht  und  sich  über  die  heiligsten  Vorgänge 
nicht  den  Kopf  zerbricht,  werden  stark  unterstützt  durch  tausenderlei 
religiöse  Hinweise  und  Krinnerungen  in  Stein  und  Holz,  in  greller 
Buntheit  und  schlichter  Einfachheit,  die  sich  allerorten  dem  Auge 
zeigen. 

Es  wirken  auf  das  katholische  Kind  starke  religiös-kirchliche 
Momente.  Von  früh  auf  ist  der  Kirchgang  ihm  heilige  Pflicht.  Sein 
ganzes  Leben  steht  unter  der  steten  Kontrolle  des  Geistlichen  im 

PidagofiMlie  Studieo.  XXIX.  a.  18 


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-    178  - 


Institut  der  Beichte,  der  Ohrenbeichte,  der  Bdchtzettd,  die  vom 
zwölften  Jahre  an  im  kirchlichen  Leben  ihre  Herrschaft  begimien. 

Mit  grosser,  scheuer  Ehrfurcht  schauen  katholische  Kinder  zum 
Priester  empor.  Von  klein  auf  wird  ihnen  das  Gotteshaus  vertraut. 
Die  dämmerigen  Schatten  der  altehrwürdigcn  Dorfkirche  mit  ihren 
wurmstichigen  Emporen  und  Bänken»  verstaubten  hohen  Fenstern, 
bunten  Kirchenfahnen  im  Hintergrunde  und  dem  goldstrotzenden 
Hochaltar  nimmt  früh  den  Kindergeist  gefangen.  Am  Eingange 
schon  übt  es  das  Zeichen  des  Kreuzes,  ^ve^n  die  kleinen  Hände 
in  seltsamem  Schauer  in  den  Weih  Wasserkessel  tauchen.  In  den 
Bankreihen  stille  Beter.  Das  ganze  Mysterium  unter  dem  Silber- 
klang der  GlÖckchen,  den  &remoniea  des  Priesters  unter  der 
Assistenz  der  jugendlichen  Ministranten.  Goldene  heilige  Bücher 
und  blaue  Weihrauchwolken.  Und  die  rot<j^limmen<le  ewi'jfe  Lampe. 
Das  düstere  Altarbild  mit  der  Himmelfahrt  uer  Mutter  (iottes.  Die 
starken  und  eckigen  heiligen  Gestalten  an  den  Nebenaltären.  Dazu 
der  feine,  die  Sinne  umschmeichekide  Weihrauchduft.  Traum- 
stille —  Weltentrückung  —  seitab  von  dem  brausenden  Strom  des 
Löbens  scheint  das  Kirclüein  eine  Stätte»  wo  die  Zeit  rastet  und 
betet,  ehe  sie  zur  Ewigkeit  weitergeht. 

Die  evangelischen  Kinder  kennen  alle  diese  sinnenfälligen 
Wirkungen  nidit.  Der  Protestantismus  ist  nach  innen  gerichtet, 
und  die  Lehre  vom  allgemeinen  Priestertum  hat  die  Organisation 
der  Kirche  nie  stark  werden  lassen  und  le£:;t  auf  alles  Äussere,  auf 
Bilder  und  Kirchenfahnen,  auf  Wallfahrten  und  Hcili^^^cnverehrunsr 
keinen  Wert.  Je  weiter  der  Protestantismus  fortschreitet,  desto 
grösser  muss  seine  Gottesauffassung  werden,  desto  innerlicher  sein 
Christentum,  desto  mehr  treten  Kirche  und  Kirchenformen  und 
kultische  Betätigung  in  den  Hintergrund.  Unser  modernes  Leben  — 
und  unser  modernes  Leben  ist  frei  -  protestantisch  —  hat  keine 
Stunden  mehr  für  religiöse  Übung.  Unser  Verkehr  mit  Gott  hat 
andere  Formen  angenommen.  Es  fehlt  die  äussere  Erkennbarkeit 
und  Siditbarkeit  religiöser  Verehrung.  Hinein  in  die  Stille  des 
Gewissens  und  des  Denkens  ist  aller  üliersinnliche  Verkehr  mit 
Gott  gelej:(t.  Der  Mensch  muss  in  sirh  selbst  die  Krlösunj;^  erleben, 
Die  Auffassun^r  der  Erlösuni^statsache  und  die  Auffassung  von  Christi 
wunderbarem  Zeit-  und  Weltbild  und  Ewigkeitscharakter  hat  sich 
gewandelt  und  die  Irindlich'fromme  biblische  Erzählung  der  Evan> 
gdien  wird  in  das  Licht  geistig-kritischer  und  dennoch  tiefrelif^iose 
Stimmungen  auslösender  Betrachtung  getaucht.  Das  kirchliche  Leben 
ist,  äusserlich  betrachtet,  nüchterner  geworden.  Es  hat  seine 
schreiende  Buntheit  verloren,  allerdings  auch  seine  volkstümliche 
Eigenart,  seine  umfassende  Wirkung  am  die  Seele  der  Unmündigen, 
die  grosse  Menge.  Das  katholische  Kind  hat  geweihte  Kerzen  zu 
Hause:  es  geht  allsonntäglicb  /um  Gottesdienste;  es  beichtet;  es 
erhält  Heiligenbilder  und  fromme  Blatter  und  sieht  in  der  Kloster- 


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—    179  — 


Idrche  die  Bilder,  wdche  die  wunderbare  Macht  der  aUerheUifrsten 

Jungfrau  und  der  Heiligen  in  grellen  Farben  schildern.  Das 
protestantische  Kind  sieht  zu  Hause  kaum  mehr  einen  Ch'-istuskopf, 
vielleiclu  noch  den  Haussegen  mit  einfachen  Worten  o  lcr  einen 
Bibelvers  in  gestickten  Perlenbuchstaben.  Es  sieht  nicht  mehr  den 
Leib  Christi  als  kümmerliche  Holzfigur  im  Sarge  und  nicht  mehr 
die  Mutter  Gottes  auf  einem  geputzten  Xebenaltar  sitzen  und  nicht 
mehr  die  Pctni^  ^c^trilt  mit  vergoldeter  Zehe,  die  die  Andächtigen 
küssen,  um  hunderttägigen  Ablass  zu  erhahen.  Es  wallfahrtet  nicht 
mit  den  Grossen  unter  Absingung  alter  Kirchenweisen  nach  der 
Gnadenkirche  zu  X.  und  opfert  keine  Wachskerzen  und  kein  Wadis- 
händchen  mehr  und  rutscht  nicht  die  Stufen  der  heiligen  Skala 
hinauf.  Zwar  ^Ibt  es  —  es  ist  nützlich,  daran  nicht  vorüber- 
zugehen -  -  auch  in  der  evan^^elischen  Kirche  eine  Richtung,  die 
wünscht,  dass  unser  ganzes  religiöses  Leben  wieder  in  streng- 
kirchliche Bahnen  gebannt  würde;  aber  ihre  Vertreter  bedenken 
nicht,  dass  unser  Kirchentum  überhaupt  dne  Anlehnung  an  das 
romische  tatsächlich  ist,  eine  Anlehnung,  die  zweifellos  eine  reale 
Notw^endigkeit  darstellte  und  von  unendlichem  Segen  auch  für  die 
religiöse  Erziehung  unseres  deutschen  Volkes  geworden  ist,  eine 
Anlehnung  aber  auch,  die  allmählich  zur  Entfremdung  von  Christen- 
tum  und  Religion  Überhaupt  fuhren  kann,  wenn  es  sich  weiterhin 
an  feste,  aber  vom  I^ben  überwundene  Formen  klammert. 

Es  fehlt  ihm  das  grosse  reiche  Bilderbuch  der  katholischen 
Kirche.  Zwar  erhält  es  mitunter  Flugblätter  mit  kirchlich  -  christ- 
lichem liUialt.  Es  sieht  in  Zeitschriften  Bilder  aus  der  heiligen 
Geschichte  und  aus  dem  Leben  der  Apostel  Und  es  liest  religiöse 
Bücher?  Was  lesen  unsere  Kinder?  Märchen-  und  Sagenbücher, 
Jagdi^eschichten,  Indianerpeschichten,  historische  Erzählim^en,  Tier 
geschichtcn,  Bilder  von  der  See,  Biographien.  Religiöse  Erzählungen 
sind  selten  darunter.  Noch  gibt  es  allerdings  tausende  von  Volks- 
büchern, die  eine  fromme  Moral  enthalten  und  die  Menschen 
künstlich  mit  religiösen  Gefühlen  bekleiden,  wie  das  Kind  seine 
Puppen  ausschneidet  und  mit  Kleidern  beklebt,  aber  religiöse  Bücher 
sind  es  nicht.  Die  frommen  Sonntagsblätter  sind  nicht  für  Kinder 
bestimmt  und  werden  selten  von  ihnen  gelesen.  Einige  wenige  für 
die  Hand  der  Kinder  bestinunte  Wochenschriften  sind  meist  religiös 
zu  handgreiflich  und  tragen  zu  dick  auf,  als  dass  sie  auf  klügere 
Kinder  wirken  könnten  —  religiöse  Erbauung  können  sie  nicht 
entzünden.  Sie  entbehren  der  Forderung,  die  Kinderschriften  er- 
füllen müssen:  detaillierte,  mit  Kinderblick  gesehene  Ausschnitte 
aus  dem  wirklichen  Leben  zu  sein.  Alles  in  allem:  wenig,  sehr 
wenig. 

Dieser  konfessionellen  Erziehung  durch  das  gesamte  kirchliche 
Leben,  durch  die  kirchliche  Umwelt  des  Kindes  und  durch  das 
kirchliche  Beispiel,  die  zweifelsohne  bei  der  römischen  Jugend  viel 

12* 


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—  i8o 


intensiver  wirkt  als  bei  der  protestantischen,  steht  die  konfessiondle 

schulische  Unterweisung  zur  Seite.  Eine  Prüfung  der  Frage,  welcher 
Art  sie  hüben  wie  drüben  ist,  erfordert  eine  Wertung  di  r  kon- 
fessionellen Qualitäten  der  Gegenwartsschuie.  Der  Volksschule  l 
Denn  nur  um  diese  kann  es  sich  handeln,  da  unser  gesamtes  höheres 
Schulwesen  simultan  ist 

Die  Vertdd^er  der  Konfessionsschule  sind  der  Meinung,  dass 
das  Christentum  nur  in  der  kirchlichen  Form,  konfessionell  ge- 
schieden, den  Kindern  ans  Herz  gelegt  werden  könne,  dass  es  eine 
Allerweltsreligion  nicht  gäbe,  dass  das  Christentum  nur  in  einer 
ausgeprägten  Form  und  Fassui^  den  Geistern  überliefert  werden 
könne,  dass  der  religiöse  Charakter  sich  nur  in  der  Konfessions- 
schule ausbilden  lasse,  dass  m-^n  in  der  Simultanschule  Gefahr 
laufe,  durch  Verwischung  der  Konfession  zugleich  die  (irundlinien 
des  Christentums  selbst  zu  verwischen,  und  die  kräftigsten  inneren 
Antriebe  lahme.  Ich  bin  der  Meinung,  dass  unsere  heutige  Kon- 
fessionsschule ,  so  weit  sie  protestantisdi  ist,  keine  eigentlich  kon- 
fessionelle Schule  ist;  dass  nur  insofern  der  Xame  zutreffend  er- 
scheint, als  sie  die  katholische  Kirchenlelirc  von  der  heiligen  Mutter 
Gottes,  von  der  Heiligenanbetung,  von  dem  Primat  des  Papstes, 
von  dem  Prtestertum,  von  dem  Fegfeuer  in  der  Weise  heranzieht» 
dass  sie  diese  Dogmen  ausgesprochener-  oder  unausgesprochener- 
masscn  ablehnt.  Im  übrigen  lehrt  sie  die  heute  noch  von  der 
Kirche  anerkannten  Grundwahrheiten  des  Christentums,  stellt  in 
den  Mittelpunkt  der  Unterweisung  den  schöpferischen  und  gcsctz- 

{reberischen,  Himmel  und  Erde  umwaltenden  Gottvater,  die  Er- 
ösung  durch  den  Gottmenschen  Christus  und  die  (mehr  oder 
weniger  frei  aufgefasste)  heiligende  Wirkung  des  heiligen  Geistes. 
Der  Katholiken  wird  etwa  Erwähnung  getan,  wenn  in  der  Heimat- 
kunde von  den  Kirchen  gesprochen  wird,  oder  wenn  man  im 
3.  Schuljahre  bei  der  Erzählung  von  den  Weisen  aus  dem  Morgen- 
lande davon  spricht,  dass  auch  die  Heiden  kommen  sollen,  um  an 
den  Herrn  Jesus  zu  glauben.  Denn  weithin  herrscht  bei  den 
Kindern,  die  in  konfessionell  einheitlichen  Gegenden  leben,  bis  etwa 
zum  neunten  Lebensjahre  die  Meinung,  dass  nur  die  Kvangelischen 
Christen  seien,  und  dass  es  daneben  noch  Heiden  und  Katholiken 
gäbe,  und  es  bedarf  immer  wieder  eines  klaren,  eindringlidien  Hin- 
wdses,  dass  die  Christen  in  Evangelische  und  Katholiken  geschieden 
werden.  Zweifellos  steht  das  Kindergemüt  einer  Zweiteilung  der 
christlichen  Religion  verständnislos  gegenüber.  Der  Religions- 
unterricht handelt  darum  nur  klug,  wenn  er  in  den  evangelisch- 
konfessionellen Schulen  jede  nähere  Auf  Idärung  bis  auf  die  Ober- 
stufe verschiebt,  wo  ein  Verständnis  für  religiöse  Bekenntnis- 
Unterschiede  vorausgesetzt  werden  darf.  Beim  III.  Artikel  bei  der 
Betrachtung  der  Kirche  ist  der  Ort,  wo  eine  kirchlich  konfessionelle 
Belehrung  in  der  Regel  einsetzt;  andernfalls  kann  sie  an  den  Schiuss 


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—    i8i  — 


der  Katechismusbetrachtung  gestellt  oder  an  die  Behandlung  der 
biblischen  Briefe  angeschlossen  werden,  unbeschadet  dessen,  dass 

ihrer  in  der  Kirchengeschichte  unzweifelhaft  gedacht  werden  muss^ 
die  doch  eine  Entwicklungsgeschichte  des  Christentums  darstellt, 
und  in  der  Weltgeschichte,  wenn  das  Reformationszcitaltcr  in  den 
Kreis  der  Betrachtung  tritt.  Der  Konfirniandcnunterricht  nimmt 
nur  selten  Bezug  auf  die  Kirchentrennung  oder  greift  auf  die  in  der 
Schule  gelernten  Begriffe  zurück.  Es  ergibt  sich  aus  alledem,  dass 
in  der  evangclisrhm  Kirrhc  und)  Schule  der  konfessioneile  Unter- 
richt von  ganz  genn^i  r  i  Jeutung  für  die  Au.sprägung  der  religiösen 
Persönlichkeit  ist.  Kaum  ein  Steinchen  fügt  er  in  den  Bau  des 
religiösen  Charakters  ein.  Tiefer  denkende  Kinder  macht  er  vid» 
leicht  aufmerksam  auf  die  Möglichkeit  der  Kntwicklun^'  auch  der 
Kirchen,  nähert  sie  vielleicht  dem  Lessingschen  Standpunkte,  wie 
ihn  des  i^rossen  Denkers  Drama  Nathan  der  Weise  darstellt.  Hass 
gegen  die  Anders^laubigkeit  wird  protestantischer  ReUgionsunter- 
ri<£t  niemals  weckea  Ein  Gegensatz  der  Konfessionen  entsteht 
vielmehr  öfter  durch  die  kultischen  Äusserungen  der  römischen 
Kirche,  die  dort,  wo  sie  in  einer  ansehnlichen  Minorität  oder  gar 
in  der  Majorität,  gewöhnt  ist,  keine  Rücksicht  auf  Andersgläubige 
zu  nehmen  in  dem  Gefühl,  ja  die  Kirche  zu  sein,  in  jenem  Gefühl, 
das  geringschätzig  und  spottend  von  dem  Protestantismus  spricht, 
„der  sich  Kirche  nennt".  Hier  lernt  das  Kind  die  Unterschiede 
zwischen  seinem  und  dem  katholischen  Glauben  viel  handgreiflicher 
kennen.  Ks  sieht  die  Marienverchrung,  die  Heilighalt un^;,^  der 
Monstranz,  die  absonderlichen  Gebetsgepflogenheiten  der  Römischen, 
ihre  pomphaften  Prozessions-  und  Wallfahrtsformcn  und  fühlt  sich 
stolz  und  darüber  erhaben  als  Kind  einer  grossen  anderen  freien 
Kirche.  Aber  dieser  offene  Cregensatz  ist-  nur  dort  sichtbar,  wo 
Rom  keine  Rücksicht  tu  nehmen  braucht.  In  überwiegend 
protestantischen  Gegenden  ebenso  wie  in  Grossstädten,  wo  die 
religiösen  Formen  von  der  Strasse  sich  zurückziehen  in  die 
Dämmerung  und  Stille  der  Gotteshauser  und  Betsale,  ist  diese  kon- 
fessionelle Ausbildung  und  Einwirkung  auf  Geistes-  und  Charakter- 
bildung nicht  zu  beobachten. 

Der  dürfti<:^en  Ausbildung  des  konfessionellen  Verständnisses 
beim  evangelischen  Kinde  steht  eine  bewusste,  planmässige,  ziel- 
sichere Bearbeitung  des  römischen  gegenüber.  Liegt  doch  hier  der 
Unterricht  grossenteils  in  der  Hand  des  Priesters,  des  jungen 
Priesters,  des  Vertreters  der  Kirche.  Der  römische  Katechismus  ist 
scharf  konfessionell.  Er  ist  nicht  zu  vergleichen  mit  den  evan- 
gelischen Religionsbüchern.  Seine  Sätze  sind  durchweht  von 
exldunv-römischem  Geiste.  Da  ist  kein  Wort,  was  nicht  approbierte 
Kirchenwahrheit  ist,  keine  Freiheit  der  Auslegung,  sondern  strenge 
Bindung  an  die  Lehre  der  heiligen  unveränderlichen  Kirche.  Und 
der  Religionsunterricht  wird  durchweg  in  diesem  Geiste  erteilt. 


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—    I82  — 


Der  dogmatisch-konfessionelle  Standpunkt  wird  selbst  bei  der  Be- 
handlung des  4.  Gebotes»  bei  der  Betrachtung  der  Pflichten  der 
Kinder  gegen  die  Eltern,  in  den  Vordergnjnd  gerückt   Das  Verbot, 

mit  evangelischen  Kindern  zu  verkehren,  ist  oft  genug  ausgesprochen 
worden.  Ks  haben  sich  Priester  nicht  gescheut,  Kinder  vor  ihren 
evangelischen  Müllern  zu  warnen,  Kindern  zu  verbieten,  der  Mutter 
gewisse  Marienbilder  und  Gebete  zu  zeigen.  Zugunsten  der  Be- 
Handlung  der  strengen  Kirchenlehre,  die  alle  Andersgläubigen  als 
verlorene  Ketzer  ansieht,  zerstört  hier  die  römische  Kirche  die 
besten  GrundlaL^en  für  eine  innere  religiöse  Ausbildung  des  Gemüts: 
die  Khrfurcht  vor  der  Mutter!  Weckt  den  Gedanken  in  den  Kinder- 
herzen, dass  die  Mutter  als  törichte  Ketzerin  unrettbar  verloren  sei, 
untei^äbt  den  Familiensinn  und  bringt  in  die  kindlichen  Vor- 
stellungen einen  unheilbaren  Riss!  Bei  der  Betrachtung  des  Bildes 
vom  Fegefeuer,  in  dem  die  Verdammten  im  Feuersclievi  der  HöUen- 
flammen  Grässliches  dulden,  erscheint  dem  armen  Rinde  das  Bild 
seiner  ketzerischen  Mutter,  seines  ketzerischen  Vaters  —  und  martert 
das  Ideine  Gehirn.  Und  ist  sein  Mütterlein  bereits  gestorben  —  mit 
welchen  Gefühlen  gedenkt  es  sein,  wenn  es  an  dem  stillen  Tage 
Allerseelen  an  den  einsamen  Grabhügel  auf  dem  Ketzerfriedhofe 
tritt,  den  röniisclie  Priester  niclu  geweiht  haben! 

Mag  auch  leichter,  fröhlicher  Kindersinn  im  Verkehr  mit  den 
andersgläubigen  Spielgenossen  die  Mahnungen  der  geistlichen  Herren 
beiseite  stellen,  mögen  auch  einsichtige  Eltern  an  Stelle  des  Gebotes 
der  Kirche  ihr  eigenes  stellen,  es  ist  der  Keim  des  Zweifels  in  das 
Kinderherz  gelegt;  zwiespältig  erscheint  dem  Kinde  die  Welt  der 
Christen,  und  die  innere  Begründung  des  Hauplgebotcs  der  Christen- 
lehre: liebe  deinen  Nächsten!  erscheint  erschüttert,  wenn  der  Christ 
nicht  immer  dem  Christen  gegenüber  an  dieses  Gebot  gebunden 
ist.  Man  braucht  zur  Ergänzung  dieses  Satzes  durchaus  nicht  erst 
die  Famecker  Kirchhoisafi^e  und  die  Praxis  katholischer  Kranken« 
häuser  heranzuziehen. 

Die  Simullanschule  wird  zweifellos  diese  katholisch-konfessionelle 
Unterweisung  stark  beschränken,  wird  die  Erziehung  freier  gestalten, 
dem  Leben  entsprechend,  das  weder  katholisch  noch  evangdisch 
ist.  Das  Leben  ist  eine  grosse  SiiTniltrtnschulc,  in  der  die  Menschen 
jeglicher  Bekenntnisse  friedlich  nebeneinander  wandeln  und  unter- 
richtet werden  in  der  Kunst  des  recliten  Lebens  und  des  guten 
Sterbens.  Sie  wird  ^^egeo  den  Ultramontanismus  eine  Todfeindin 
sein,  wird  auch  katholischen  Kindern  schon  früh  die  Augen  öffnen 
über  die  rcli<^iösen  Zusammenhänge  des  Lebens  und  die  Zusammen- 
gehörigkeit aller  Christen,  wird  sie  Andersgläubige  schätzen  lehren. 
Die  Unterweisung  der  protestantischen  Kinder  wird  in  der  Simultan- 
sdiule  kaum  eine  Änderung  erfohren. 

Welches  Ergebnis  hat  nun  diese  konfessionell  •  kirchliche 
Erziehung?  Es  sei  aus  dem  Gegebenen  kurz  zusammengefasst:  die 


-   183  - 


protestantischen  Kinder  haben  ein  freieres  Weltbild.  Die  Betonung 
dogmatischer  Unterschiede  innerhalb  der  Christenheit  ist  dürftig  und 
ohne  Wirkung  förs  I  1  n.   Die  Andeia^ättbigen  werden  mit  gleicher 

Achtunor,  gleichem  Respekt  angesehen  wie  die  Glaubensgenossen. 
Nur  in  konfessionell  stark  gemischten  Gegenden  wächst  im  pro- 
testantischen Kinde  ein  (iefüiü  der  Überlegenheit  empor. 

Die  katholischen  Kinder  wachsen  in  einer  gewissen  Enge  des 
Bewusstseins  auf.  Ihr  Gesichtsfeld  ist  klein.  Sie  gehören  zur 
Kirche  —  die  Protestanten  sind  verlorene  Ketzer.  Zwar  entfernt 
sich  der  heranwachsende  Kathoiik,  der  auf  den  Strassen  der  Welt 
herumwaadert  und  dem  das  Menschenleben  den  Blick  weitet  und 
schärft,  bald  von  dem  Kircfaenstandpunkte  seiner  Jugend  und  lernt 
die  Protestanten  schätzen,  und  es  kommt  ihm  zum  Bewussts«n,  wie 
die  protestantischen  Völker  ol>en  stehen  im  Weltkampfe  und  die 
katholischen  Nationen  sinken  ofler  gesunken  sind.  Aber  die  grosse 
Zahl  der  Katholiken  behält  das  \Velibild  und  Urteil  der  Jugend- 
jahre. Nur  zu  fein  ist  der  Organismus  der  kathohschen  Kirche 
ausgebaut.  Er  schlingt  in  unzähligen  konfessionellen  Vereinen  sein 
festes  Band  um  die  katholisdien  Volksgenossen  auch  in  der  Fremde 
und  hält  mit  eherner  Kon-^equcnz  die  (iläubigen  7usammen,  hält 
sie  kirchentrevi,  liäit  Leib  und  .Seele  in  seiiHMTi  Mai  iitl  creich. 

Nach  diesem  Blick  auf  die  GegenwaiLicrz,ichung  in  religiösen 
Bahnen  ein  Ausblick  in  die  Zukunft:  wie  wird  ach,  wie  soll  sich 
in  künftigen  Tagen  die  religiöse  Erziehung  unserer  Kinder  gestalten  ? 
Die  Gcgenwartserzichung  erscheint  im  ganzen  ungenügend.  Die 
häusliche  religiöse  L  nlerwcisutig  ist  heute  stark  verblasst.  Hinter 
den  religiösen  Vorstellungen,  die  die  Eltern  den  Kmdcrn  über- 
mitteln, steht  nicht  mehr  religiöses  Gefühl.  Der  Religionsunterricht 
der  Schule  arbeitet  stark  mit  veralteten  Vorstellungen,  die  heute 
keine  religiösen  Empfindungen  mehr  auslösen  können.  Die  kirchliche 
Unterweisung  betont  nur  die  verhängnisvolle  Seite  der  Srhiilarbeit, 
ebenso  wie  die  rehgios  gefärbte  Umwelt  nur  historische  Vorstellungen 
stützt  Dabei  bin  ich  mir  wohl  bewusst,  dass  Haus  und  Schule 
und  Kirche  keine  religiösen  Pefsönlichkeiten  schaffen  können.  Aber 
keusche,  religiöse  Stimmungen  wecken,  das  ganze  Leben  in  religiöse 
Beleuchtung  rücken .  einen  religiösen  Willen  keimen  lassen :  das 
muss  die  rechte  religiöse  Unterweisung  vollbringen.  Sie  hat  es  m 
der  Gegenwart  nicht  erreicht  Unsere  Kinder  sind  religiös  schwach 
interessiert  Religiöses  Leben  ist  nur  in  kummeriichen  Anfangen 
vorhanden. 

Und  diese  Jugend  stellt  man  hinein  in  eine  Zeit  des  reUgiösen 
Suchens,  des  religiösen  Zweifels,  innerer  Unruhe  und  tiefer  Sehn- 
sucht. Man  sage  nicht:  das  ist  sie  nicht  für  unsere  Kinder.  Gewiss 
sind  Kinder  keine  rel^ösen  Grrübler.  Einmal  ist  der  Ge«chtskreis 
des  Kindes  klein,  sein  Bewusstsein  eng;  zum  andern  wandeln  sie 
im  Taie  des  Lebens  insofern,  als  tausend  Schranken  für  sie  die 


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—    l84  — 


geistige  Umwelt  verhüUen.  Es  fehlt  dem  Kinde  jeder  Blick  über 

das  Universum,  jede  philosophische  Betrachtungsweise,  jede  ver- 
gleichende, forschende,  allgemeine,  religiöse  Anschauungsweise  ist 
dem  Kinde  fern.  Ist  doch  das  Kind  selbst  ein  Mikrokosmos  in 
einem  Makrokosmos.  So  klein  ist  seine  Welt,  nach  so  kleinen 
Gesichtspunkten  handeln  (tir  es  die  Menschen,  so  kleine  Wünsche 
und  so  kleine  Pläne  scheinen  ihm  weltbewegend  zu  sein.  Darum 
sieht  es  auch  ohne  Verständnis  ins  wallende  Treiben  auf  dem  Markte 
der  Religion,  auf  das  ganze  Gären  und  Grübeln  unserer  Zeit. 

Aber  eins  bleibt  dem  reifenden  Kinde  von  heute  nicht  mehr 
erspart:  es  begegnet  auf  Schritt  und  Tritt  dem  grossen  Zwiespalt 
unseres  Lebens,  dem  Zwiespalt  zwischen  der  kirchlichen  Religion 
und  dem  Lebensglaubcn ,  wie  dem  anderen  zwischen  Wort  und 
Handeln.  Unser  Leben  mit  seiner  Riesenniacht,  unsere  hohe  Kultur, 
unsere  gesamte  innere  Entwicklung  haben  ein  anderes,  grösseres, 
tiefer  blickendes  Geschlecht  geschaffen.  Und  dieser  Zwiespalt 
gebiert  den  Zweifel.  Unsere  reiferen  Kinder  stehen  manchenfalls 
in  Seelennot.  Nicht  nur  die  Kinder  des  Proletariats,  in  deren 
Herzen  der  freireligiöse  Vater  das  Misstrauen  gegen  die  Schul- 
religion jy;eptianzt.  Auch  das  Kind  der  oberen  Schichten  bleibt  vor 
frühem  Zweifel  nicht  bewahrt.  Es  kommen  ihm  allerhand  ernste 
Gedanken,  vor  denen  die  Kirchenlehre  nicht  besteht  Wohl  fehlt 
die  direkte  Mitschuld  der  Eltern.  Mögen  sie  auch  der  Kirche  nicht 
sympathisch  gegenüberstehen  —  zu  stark  wirkt  die  Tradition,  zu 
schwer  ist  das  Gewicht  der  bürgerUch-sozialen  Stellung  des  Vaters, 
als  dass  er  sein  Kind  irgendwie  antikirchlich  beciniiusste.  Aber 
das  Kind,  das  einen  viel  weiteren  Gesichtskreis  hat,  ak  Kinder  des 
4.,  9.,  16.  Jahrhunderts,  denkt  viel.  Es  liest  viel.  Es  hört  und  sieht 
viel:  das  Leben  predigt  zu  laut,  zu  eindringlich.  Und  die  leisen 
Zweifel  und  Bedenken  werden  in  wenigen  Jahren  eine  Macht,  aus 
leisem  Weh  wird  ein  nagender,  quälender  Schmerz,  Seelcnooti 
Religionslehrer  höherer  Sdiulen,  die  das  Vertrauen  ihrer  Schüler 
besitzen,  wissen  von  Sedenkampfen»  von  bitterem  Ringen  nach  der 
Wahrheit  viel  zu  sagen. 

Dieser  Gruppe  der  religiös  zum  Denken  gekommenen  Knider 
steht  die  grosse  Majorität  der  kirchlich  erzogenen  —  so  weit  man 
heute  noch  von  einer  streng  kirchlichen  Entwicldungsforni  reden 
kann  —  gegenüber.  Ihr  Innenleben  ist  ruhig.  Teils  entspricht 
ihrer  Seelenstimoiung  die  kirchliche  Religion,  teils  sind  sie  indifferent 
und  flach. 

Und  so  treten  unsere  Kinder  in  das  brausende  Leben.  Es 
spült  bei  Tamenden  und  Abertauw»iden  die  altldrchlichen  Vor- 
stellungen über  Bord  und  tötet  damit  die  religiöse  Empfindung; 

Das  Leben  ist  immer  hart  und  grausam.  In  schärfster  Form  er&sst 
seine  Skepsis  die  unvorbereiteten  Seelen,  und  nichts  kann  unerbitter- 
licher,  nachhaltiger,  hoffnungsloser  zerstören.   Zuerst  fallen  ihm  die 


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-    185  - 


Zweifler  zum  Opfer.  Aber  auch  Jene  Stillen  und  innerlich  Ruiugcn 
sinken  in  Scbarai  dahin.  Ihre  Seelen  können  keinen  Widerstand 
leisten,  die  altkirchlichen  Vorstellungen  haben  keine  Stützpunkte 

mehr  in  unserer  Zeit,  und  mit  ihnen  sinkt  die  relif^iöse  Empfindung- 
weit  in  Trümmer.  Zwar  bleibt  cm  Rest.  Aber  er  umf;isst  nicht 
die  geistige  Blute.  Die  Mittelmässigkeit  bleibt  der  Kirche  und  dem 
historischen  Kirchentum  erhalten.  Die  anderen  sitzen  vor  den 
Kirchentürea.  Die  Kräftigen  und  Edlen  ringen  sch  nacli  Jahren 
innerer,  aufreibender  Kämpfe  durch  zu  einer  neuen  Religion,  zu 
einem  neuen  Glauben.  Die  Schwachen  aber  leben  religiös  inditTcrcnt, 
innerlich  tot  daliin,  um  vielleicht  in  satten  Jahren  wieder  zur  Kirche 
turackzukehren. 

Und  nun  dat  Frage:  was  ist  zu  tun?  Wie  soll  die  religiöse 
Gesamterziehung  gestellt  werden,  damit  sie  die  rechte  Vorbereitung 
für  das  Leben  bildet?  Zwei  Anschauungen  stehen  einander  gegen- 
über. Ich  will  sie  als  die  altkirchhche  und  die  neukirciüiche  be- 
zeichnen. Jene  sucht  die  Ursachen  der  grossen  Glaubenslosigkeit 
in  der  ungenügenden  Einpflanzung  der  christlichen  Lehre  in  die 
Gemüter,  in  der  Entchristlichung  des  Elternhauses,  der  Predigt 
liberaler  Theologen ,  dem  Pünfluss  einer  glaubenslosen  Presse  und 
Literatur,  der  VVirkung  einer  unchristlichen  Kunst.  Das  fieil  sieht 
sie  in  einer  Vermehrung  der  Rcligionsstunden  im  Seminar  und 
hl  der  Volksschule,  in  der  Einfiihrui^  des  Religionsunterridits  in 
der  Fortbildungsschule;  der  Entfernung  glaubensloser  Hochschul- 
lehrer und  Theologen,  in  der  Beschränkung  und  Zensur  der  Kunst 
und  Literatur.  Diese  hält  die  Kntkirchlichung  durchaus  nicht  für 
eine  Entchristlichung,  sieht  in  dem  Ablall  der  Massen  von  der 
Kirche  durchaus  nidht  einen  solchen  von  der  Religion  überhaupt^ 
hofft  von  einer  Umformung  der  Kirche  und  einer  Revision  der 
dogmatischen  W  rstellungcn  eine  Wiedergewinnung  der  kämpfenden 
Seelen,  wie  der  indifferenten  .Masse.  Ihre  Forderungen  sind  freie 
Lebenspredigt,  eine  Demokratisierung  der  kirchlichen  Einrichtungen, 
eine  Reform  des  Religionsuntetridits  der  Schule  (und  Kirche)  in 
der  Weise,  welche  die  Evolutionsbestrebungen  auf  diesem  Gebiete 
dringend  heischen. 

Die  vorstehenden  .-Xusfülirungen  lassen  keine  Zweifel,  welche 
Anschauung  die  Zukunft  haben  muss.  Es  ist  damit  auch  kurz 
gesagt,  was  für  die  religiöse  Erziehung  des  künftigen  Geschlechts 
vonnöten  ist  Was  die  Demokratisierung  der  Kirche  nur  in  wenigen 
Fällen  erreichen  kann,  indem  sie  Eltern  der  Kirche  wieder  geneigt 
macht,  das  erzielt  zwar  ebenso  langsam,  aber  sicherer  die  Reform 
des  Rehgionsunterrichts.  Sie  erntet  erst  nach  Jahren,  aber  erntet 
hundertfalt^e  Frucht 

Ins  eimdne  gedacht»  eivibt  sich  die  Forderung  eines  neuen 
Aufbaus  unserer  religiösen  Unterweisung  auf  psychologisch -päda- 
gogischer Grundlage. 


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—   i86  — 


Zunächst  im  Elternhaus.  Nach  wie  vor  ist  eine  retigiöse  Be- 
lehrung der  Kleinen,  eine  Unterrichtung  über  die  religiösen  Grnind- 

laj^cn,  V  ic  sie  oben  ^csrbildert  wurde,  zu  fordern.  Dabei  müssen 
Vater  und  Mutter  Gott  und  Christentum  verkünden.  Ks  darf  nicht 
versäumt  werden,,  schon  im  zarten  Alter  die  wunderbare  Zweck- 
mässigkeit des  AUs  den  Kindern  xu  zeigen.  Doch  soll  Gottes  Bild 
licht  sein,  nicht  der  harte,  gerechte  Nationalgott  der  Hebräer»  ein 
Gott,  mit  dem  man  die  Kinder  zum  Gehorsam  zwingen  will,  wohl 
aber  kann  die  Unterredung  mit  dem  Kinde  Gott  als  den  schildern, 
vor  dciiscn  Augen  die  Menschen  leben  und  sterben,  als  den  Vater 
der  Menschen,  der  aller  Glück  will  So  wird  der  Gott  Jesu  in  den 
Kindern  geboren. 

In  allem  gelte  der  Grundsatz  der  Freiheit,  der  Natürlichkeit, 
und  alle  freie,  ungezwungene,  gelegentliche  Unter^'eisung  geschehe 
mit  leiser  Vorsiclit  und  heiliger  Scheu.  „Jeder  V^wanf:^,  jede  Eng- 
herzigkeit ist  tötlicher  Frost  für  die  zarten  Blütenkeime  des  Frühlings." 

Ein  Aufbau  auf  psychologisch-pädagogischer  Grundlage  —  das 
gilt  insonderheit  ftir  den  Religionsunterricht  der  Schule,  ein  Aufbau 
auf  einer  Anschauung,  die  den  Katechismus  Luthers  als  Ausgangs- 
punkt, als  Schema  und  Norm  endgültig  ablehnt,  eine  Verkindlichung 
der  jgesanUen  Darbic-iungsweise,  eine  Vernichtung  des  Kuiu»  des 
religiösen  MemorierstofTes  bedeutet  und  eine  offene  Aussprache  auf 
der  Oberstufe  über  die  religiösen  Weltanschauungen  der  Vellingen- 
hrit  und  Ge^en^Yart.  vielleicht  in  Form  eines  relijrionsgeschichtlichen 
Kursus,  für  notwendig  hält.  Zwar  ist  Bonus  der  Meinung,  dass 
der  Religionsunterricht  der  Schule  auf  die  Religion  tötend  ein- 
gewirkt habe,  wie  man  Überliaupt  nur  etwas  in  der  Volksschule 
scfaulmässig  zu  betreiben  brauche,  um  es  für  das  Leben  wert-  und 
interesselos  zu  machen,  aber  die  Schule  kann  sich  als  Kultur- 
brincrcrin  nimmer  der  Aufgabe  entziehen,  das  Kostbnrste  aller 
Kulturgüter;»  die  Religion,  zu  verkünden.  Freilich,  das  nuiss  sie  in 
Zukunft  tun  dürfen:  die  Religion  in  der  Form  den  Kindern  naher^ 
zubringen,  die  dem  kindlichen  Geiste  entspricht  Wenn  die  Schule 
eine  grosse  Schuld  hat  an  der  Glaubenslosigkeit  unseres  Volkes^ 
so  liegen  die  Wurzeln  dieser  Schuld  in  dem  dof^^matisch-doktrinärcn 
Betriebe  unseres  Religionsunterrichts,  der  im  Dienste  des  Bekennt- 
nisses steht  und  darum  das  gedächtnismässige  Einprägen  dogma- 
tischer  Schriftstellen  in  den  Vordergrund  rückt  Indem  die  Schule 
die  Lehre  der  Kirche  den  Kleinen  überliefern  wollte  und  meinte, 
damit  rcchtc^läubi-r^e,  wahrhaft  religriöse  Christen  heranzubüden,  dass 
sie  die  Glaubenssatze  in  die  Kopfe  rammte  sanii  unzähligen  Be- 
weisstellen, hat  sie  der  Kirche  den  schlechtesten  Dienst  erwiesen. 

Dabei  darf  man  sich  die  Schwierigkeit  des  Unternehmens  nicht 
verhehlen.  Radikale  Forderungen  müssen  vor  das  Forum  päda> 
rT(v^i<r!icr  Klugheit  gestellt  werden,  ehe  sie  durchgeführt  werden 
dürfen. 


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-  18; 


Zunächst  ist  die  Behandlung  der  Kinder  je  nach  der  Schul- 
stufe verschieden.  Der  Religionsunterricht  auf  der  Unterstufe  kann 
im  ganzen  in  den  bisherigen  Formen  gehalten  werden  mit  Aus- 

scheiduiiLC  der  SchÖJ:lfur!c:^m^'th^  und  der  Wundergeschichten  des 
Alten  Testaments  und  nnt  Streichung  alles  Memorieren';  Sollen 
Schriftwortc  eingeprägt  werden,  dann  geschehe  es  auf  dem  Wege 
erbaulicher,  gelegentlicher  Wiederholung;  ohne  Zwang. 

Die  Mittelstufe  ist  im  allgemeinen  unter  dieselbe  Forderung  zu 
stellen.  Es  ist  eine  noch  nicht  genüffend  erörterte  geschweige 
denn  entschiedene  Fr.if^e ,  ob  die  Totenerweckungen  Jesu ,  seine 
Natur-  und  manche  Heilwunder,  kurz:  die  Wundererzählungen  des 
Neuen  Testaments  mit  Ausnahme  einiger  Krankenheilungen  hier 
noch  behandelt  werden  soUen.  Dasselbe  gilt  von  Jesu  Auferstehung, 
Himmelfahrt  und  den  hierher  gehörenden  Geschichten.  Bejaht  man 
die  Frage,  dann  ist  kritiklose  Darstellung;  die  cinzij^  anwendbare; 
nur  lasse  man  das  Wunder  in  den  Hintergrund  treten  und  hebe  die 
religiösen  Gefühlswerte  bcsojiders  heraus. 

Die  Oberstufe  endlich  sucht  die  Zusammenhänge,  rückt  alle 
Geschehnisse  in  das  Licht  religionsgeschichtlicher  Entwicklung.  Wie 
weit  man  darin  fj^ehen  darf,  muss  die  Rücksicht  auf  die  Kinder 
bedingen.  Ks  ist  ein  grosser  Unterschied,  ob  die  Kinder  in  relicrios 
gemischten  Gegenden  oder  In  konfessionell  einheitlichen  Gegenden 
aufgewachsen  sind.  Es  ist  ein  grosser  Unterschied,  ob  die  Kinder 
sozialistische  oder  bürgerliche  Väter  hal)en.  Ich  habe  jahrelang 
Mädchenoberklassen  in  einem  stark  sozialistisch  ciurchsctztcn  Stadt- 
teile unterrichtet.  Im  Klternhnusc  vieler  wurden  nicht  nur  das 
sozialistische  Abendblatt,  sondern  auch  sozialistische  Monatschriften 
gelesen,  und  in  den  wenigsten  fehlten  religionsfetndliche  Schriften 
atheistischer  Tendenz.  In  solchen  Klassen  ist  es  nicht  nur  ohne 
Zwan;^  tnö;^lich,  sondern  auch  nötig,  dringend  nötig,  aus  der  Enge 
des  Bekennt nis<^laubens  den  Blick  hinauszulcnken  auf  die  Religionen 
der  Völker  und  Zeiten,  auf  die  religiösen  Weltanschauungen  der 
Vergangenheit  und  der  Gegejiwart ;  den  Kindern  zu  sagen,  dass  alle 
Religionen  eine  Entwicklung  gehabt  haben ;  dass  die  Menschen  ewig 
Gott  suchen  und  ihn  immer  auf  andere  Weise  finden  würden,  dass 
die  Religion  cwicf  bleiben  werde;  da«s  sich  die  Anschauung  über 
die  heiligen  Bücher,  insonderheit  über  die  Bibel,  gewandelt  habe; 
dass  viele  meinen,  sie  sei  nicht  in  allen  Teilen  Gottes  Wort,  sondern 
sie  enthalte  Gottes  Wort;  dass  es  in  ihr  Sagen,  Mythen  und  Legenden 
gäbe;  dass  manche  Teile  später  eingeschoben  oder  angefugt  worden 
seien;  dass  es  Christen  gäbe,  die  über  manche  Lehre  der  Kirche 
eine  andere  Meinuni:^  hätten  als  die  Christen  vor  T400  Jahren,  dass 
diese  Christen  glaubten,  dass  auch  die  christliche  Religion  sich 
weiter  entwickeln  könne  und  müsse;  dass  in  unserer  Zeit  über  diese 
Frage  viel  geschrieben  und  gesprochen  würde;  dass  man  den 
Mei^cheo  nicht  darnach  fragen  solle,  ob  er  diese  und  jene  Lehre 


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—  m  — 


anerkenne,  sondern  darnach,  ob  er  religiös  sei,  d.  h.  ob  er  sein 
ganzes  Leben  in  den  Dienst  der  Menschheit  gestellt  habe  und  sidi 

bemühe,  immer  besser  und  edler  zu  werden;  dass  viele  Christen, 
die  einige  Punkte  der  Lehre  nicht  mehr  verstehen  \ind  sich  zu 
eigen  machen  konnten,  damit  noch  nicht  dem  Christentum  und 
ihrem  Herrgott  zu  entsagen  brauchen;  dass  unser  Gott  ein  Gott 
aller  ist. 

Das  sind  Gedankengänge,  die  unseren  Kindern  mancherorts, 
unter  gewissen  Verhältnissen ,  gezeigt  werden  müssen.  Unsere 
Kinder  müssen  heute  vorbereitet  werden  auf  ein  Leben,  das 
durchaus  anders  ist  wie  vor  50  Jahren,  als  unsere  Eltern  ihr  Eltern* 
haus  verliessen.  Niemals  mehr  als  in  unseren  Tagen  ist  die  Mahnung 
des  Dichters  zeitgemässer  gewesen:  Treib  nie  mit  heilten  DingOl 
Spott   und   ehr   auch   fremden    Glauben!  da   die  ver 

schiedensten  religiösen  Weltanschauungen  unser  Geschlecht  be- 
wegen. Es  darf  dem  Kinde  der  Glaube  anderer  nicht  fremd  sein. 
Dann  fallt  die  geheimnisvolle  Madit  fremder  Religionsphilosophie. 
Früher  zogen  die  Kinder  hinaus  in  ein  Leben,  das  zwar  schlechte 
und  gute  Mensrhi  n  barg  wi«"  unsere  Zeit,  aber  einheitlich  kon- 
fessionell gefärbte  Christen.  ikute  ist  eine  sarke  Mischung  un- 
verkennbar. Am  stärksten  oben  und  unten,  wenig  berührt  ist  nur 
die  bauerlich-handwerkerliche  Mittelschicht  geblieben.  Früher  glich 
das  Leben  in  religiöser  Hinsicht  einem  stillen,  weiten  See,  heute 
ist  es  einem  grossen  Flusse  gleich  mit  verschiedenen  Gegen- 
strömungen untl  rcissendem  Gefälle.  Und  darum  darf  die  Heiehrung 
auch  in  den  stillen  Schulen  stüier  Bezirke  nicht  feiiien,  wenn  sie 
auch  andere  Formen  haben  muss.  Unser  ganzes  Lebe»  ist  fivkr 
tuierend.  Auch  die  Bewohner  des  abgelegenen  Dorfes  lernen  die 
Welt  kennen  und  die  Grossstadt,  ihren  Brennpunkt  Die  Zeitungen 
liegen  im  einfachen  Dorfkruge  wie  in  der  armseligen  Meideschänke. 
Moderne  Gedanken  dringen  auch  in  die  Baucrnkopfe  des  Hinter- 
waldes —  Zentrumsmänner  ausgenommen.  Auch  hier  muss  die 
Schule  auf  das  Leben  vorbereiten,  auch  im  Religionsunterricht. 
Nur  vorsichtiger  und  langsamer  wie  bei  der  schnellebigen  Gross- 
stadtjugcnd. 

Das  ist  das  Ziel,  dem  unsere  Schule  zusteuern  muss,  wenn  die 
religiöse  Erziehung  unserer  Kinder  zeitgcmäss  und  daniit  zugleich 
von  Ewigkeitsgewinn  sein  soll 

Und  das  ist  der  Weg,  der  zu  einer  Rückkehr  der  Menge  zur 
Kirche  fuhren  kann  —  wenn  die  Kirche  zum  Volke  zurü'^kkehrtl 
Die  Kirche  muss  sich  der  Volksanschauung  anpassen,  in  der  l  .t  fire. 
in  der  Kultusfonn,  in  ihrer  Beteiligung  am  i  amiiicn-  und  sozialen 
Leben,  muss  eine  Volkskirche  werden,  dann  wird  sie  eine  Kirche 
des  Volkes  sein.  Sie,  die  seit  Jahrhunderten  zäh  festgehalten  hat 
an  der  I  berlieferung  vergangener  Zeit,  die  die  Augen  geschlossen 
hat  gegenüber  der  iüitwicklung,  die  vor  den  Mauern  ihren  Weg 


♦ 


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-    189  - 


gegangen  ist  und  die  Geister  mit  neuen  religiösen  Idealen  erfüllt 
hat,  muss  f3r  die  Zurfickgewinnung  der  Familie  sorgen,  dass  auch 
in  ihr  ^deder  ein  Boden  bereitet  wird  für  die  rdi^öse  Lebendig- 
machung  unserer  Jugend.  Familie  und  Schule  —  die  beiden  Hau(3t- 
faktoren  aller  reli^ösen  Erziehung  —  mlis'=;cn  ein  anderes  Gcpräj^c 
erhalten:  dann  wird  neues  rehgiöses  Lebcu  unser  V^olk  durchglühen. 
Vietteicfat  nicht  in  dem  Sinne  wie  Kirchentum  und  AUchristentum 
wünschen,  aber  sicher  in  der  Richtung^  einer  Weckung  rdigiöso: 
Qnollrn,  einer  Neubelebung  eines  erstarrten,  eines  dürr  gewordenen 
inneren  höheren  Lebens.  Schon  ist  die  Lehrerschaft  g^rossenteils 
zugänglich  für  eine  neue  religiösgeschichtlichc  Auffassung  von  Schrift 
uad  Qiristentum,  sdion  stehen  zahlreiche  Greistliche  im  Dienste  der 
neuen  Idee  neben  tausend  Männern  der  Wissenschaft,  lebendiges 
Grün  sprosst  allüberall :  möge  die  Kirche  es  nicht  als  eine  Aussaat 
des  Bösen,  sondern  als  eine  gute  Hoffnung  künftiger  reicher  Krnte 
betrachten.  Macht  die  iorc  auf,  reisst  die  Kirchenmauern  nieder, 
nur  eine  kleine  Gemeinde  ehrt  drinnen  ihren  Gott  in  alter  Weise  — 
draussen  singt  die  Riesengemeinde  der  Unldrchüchen  das  Lied 
vom  Leben. 


Häusliche  Kindererztebiing  in  der  Gegenwart 

Von  0.  HieronyBas,  Rektor  ia  Leer. 

Motto:  Freunde,  eint  Eure  Kraft  mit  uns, 

Ans  dem  Irdiichen  lainmelnd  das  Gottliche, 
Dan  wir  Leben  emtea. 

FenUnuid  AvciiBriiis. 

Der  Schatten  der  leuchtend  aufgestiegenen  Sonne  der  Kultur 
iaUt  dunkdi  und  drohend  in  das  innere  Leben  der  Menschheit 

hinein,  wenn  er  die  Menschheitswurzel,  das  Kindcrgeschlccht,  er- 
kältend bedeckt,  wenn  er  sie  da  bedeckt,  wo  volle  Sonnen- 
bestrahlung am  notwendigsten  ist:  im  Eltemhause.  Das  Haus  mit 
seiner  warmen  Atmosphäre  muss  den  gesunden  Nährboden  bieten» 
aus  dem  alle  Kraft,  alles  Sein  und  alles  Schaffen  der  aufwachsenden 
Menschheit  hervorkeimen  kann.  Im  EUcrnhausc  bietet  sich  die 
Möglichkeit,  die  Menschenpflanze  mit  der  Hand  zu  schützen  und 
zu  leiten  —  eine  MögUchkeit,  die  bei  dem  ausgewachsenen  Baume 
ausgeschlossen  ist  Kann  man  zweifeln,  dass  die  häusliche  Erzi^ung 
eine  der  höchsten  und  wichtigsten  Angelegenheiten  nicht  nur  für 
das  Haus  selbst,  sondern  auch  für  Staat  und  Volk  ist?  Ist  es 
wahr,  dass  trotzdem  diese  Erziehung  der  wundeste  Pimkt  in  dem 


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heutigen  Gesellschaftsleben  daistellt,  indem  sie  emestdls  nicht  die 

gebührende  Reachtunf^  findet,  welche  ihr  zukommt,  anderseits  oft 
eine  Drachensaat  aussät,  deren  riesenhafte  Folgen  und  bösartigen 
Wucherungen  unaustilgbar  sind?  In  neuerer  Zeit  lenkt  man  der 
Familieneniehung  erhöhtes  Interesse  zu,  angeregt  durch  die  Anteil- 
nahme nicht  nur  der  Gesetzgebung,  sondern  auch  der  ganzen 
bürgerlichen  Gesellschaft  an  den  Wohlfahrtsbestrebungen  auf  den  ver- 
schiedensten Gebieten  der  Fürsorge,  Besserung  und  Rettung.  Femer 
weist  die  gegenwärtig  bis  ins  Kleinste  durchgeführte  und  in  alle 
Gebiete  hineindringende  Statistik  immer  wieder  darauf  hin,  wie  die 
KriminaUtät  noch  stets  ein  erschreckendes  Anwachsen  aufzeigt,*)  wie 
die  Zeichen  der  innerlidien  Verrohung  der  Massen  in  dem  Ver* 
halten  des  Menschen  zum  Menschen  (Sadismus,  Lustmorde,  Ver- 
brechen an  Kindern)  oder  auch  des  Menschen  zum  Tier  oft  in 
grauenhafter  Weise  zutage  treten.  Da  forscht  man  den  Gründen 
nach  und  —  so  kommt  man  dann  ohne  weiteres  auch  zur  Familien- 
erziehung.  Die  Neuzeit  stellt  für  letztere  neue  Probleme  auf,  sucht 
ihr  neue  Gesichts-  und  Richtpunkte  zu  geben,  die  vielleicht  alle 
gut  gemeint,  aber  in  ihrer  Art  so  verschieden  sind,  dass  sie  ihre 
Einseitigkeit  an  der  Stirn  tragen.  Nicht  alles  erweist  sich  als 
praktisch  und  gut,  und  wir  sind  aus  dem  Stadium  des  Suchens  und 
Experimentierens  noch  nicht  heraus.  Leider  ist  es  ja  oft  „das  un- 
vermeidliche Schicksal  neuer  und  guter  Gedanken,  dass  sie  bornierte 
und  fanatisclie  Aniicänj^^er  finden,  die  sie  bis  zum  Unsinn  übertreiben ; 
es  ist  die  Tragik  grosser  Ideen,  dass  sie  in  kleinen  Köpfen  klein 
werden  müssen.*} 

Den  Blick  auf  diese  Gegenwarts-Strebungen  und  •Erscheinungen 
zu  lenken,  insonderheit  auch  die  neuen  Ideen  hinsichtlich  ilues 

Wertes  oder  Unwertes  etwas  näher  zu  beleuchten,  die  Mittelwege 
zu  suchen,  die  auch  in  der  Gegenwart  am  sichersten  zum  Ziele 
führen,  soll  unsere  Aufgabe  sein.  Hierbei  ist  eine  Einschränkung 
dahin  zu  machen,  dass  es  sich  handefai  soll  um  die  pädagogische 
Seite  der  Erziehungsfrage;  die  gleichzeitige  Bdiandlung  der  psycho- 
logischen, physiologischen  und  soziologischen  würde  die  Arbeit  ins 
Weite  dehnen  und  auf  Gebiete  fvihren,  die  in  der  Gegenwart  zwar 
gleichfalls  im  lebhaften  Flusse,  aber  u.  E.  nicht  so  folgeschwer  sind, 
wie  die  erstgenannte,  das  Haus  und  die  Fanulie  in  erster  Linie  an- 
gehende. 

Darum  ist  es  auch  notwendig,  zuvor  noch  besonders  die  häus- 
liche Erziehung  von  jeder  andern  Erziehung  abzugrenzen,  zu  zeigen, 
dass  eben  die  häusliche  Erziehung  eine  ganz  eigenartige,  unersetz- 
bare und  unübertragbare  ist   So  wird  vorweg  der  Einwand  ent- 


1)  1896  unter  493  59$  Bestraften  =  14 167  Jiigvndlidie  unter  15  Jahren  —  3,06  %; 
1905:  JupfnrfHchr  —  ^'-2  "'q. 

Utlo  Ernsi,  Des  Kindes  Freiheit  and  Freude.    Leipzig  1907,  HaesseJ.    Pr.  I  M. 


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—   191  — 


kräftet,  dass  bei  diesen  oder  jenen  unangenehmen  Folgeerscheinungen 
dner  mangelnden  oder  falschen  häuslichen  Emthnng  andere  Faktoren : 
die  Schule,  die  Gesellschaft,  der  Staat  mitverantwortlich  seien, 
während  c?;  doch  einzig  und  allein  die  Familie  ist.  I^ie  Familien- 
erziehun;^  ist  eine  eigenartij^c :  sie  stützt  sich  nämlich  auf  das 
natürliche  Verhältnis  der  Abstammung  und  ist  die  erste,  die  Urform 
aller  Erzi^ung.  AHe  grossen  Pädagogen,  wie  Comenius,  Pestalozzi, 
Herbart,  heben  diese  Eigenschaften  hervor;  der  letztere,  wenn  er 
sagt,  ,,dic  Krzichung  bleibt  wesentlich  immer  eine  häusliche  Aufgabe 
und  kein  I^remder  kann  das  ersetzen,  was  dem  Angehörigen  fehlt". 
Deshalb  ist  „das  Haus  in  all  seinen  Verhältnissen  und  Umgebungen 
unendlich  sdiätzbar" ; es  ist  der  einzige  Ort,  wo  die  Personen  sich 
gänzlich  unverhüUt  gegenübertreten.  Die  häusliche  Erziehung  ist 
auch  die,  welche  von  der  Geburt  an  ununterbrochen  fortdauert,  sei 
es  gewollt  oder  nicht  gewollt,  bewusst  oder  unbewusst,  und  diese 
stete  Andauer  bewirkt  eine  Sicherheit  und  Nachhaltigkeit  der  häus- 
lichen Grundlagen,  <Ue  kdn  anderer  Erziehungsfaktor  und  keine 
Zukunft  ganz  beseitigen  können.  — 

L 

Suciien  wir  nun  einige  für  die  Gegenwart  typische  Erscheinungs- 
formen, weiche  die  FamiUencrziehung  von  heute  zeig^,  auf.  Eins 
der  modernsten  Schlagwörter  ist:  Erziehe  möglichst  wenig!  Lass 
das  Kind  nach  seiner  Individualität  sich  ausleben!  Kein  Eingreifen, 
kein  Zwang,  keine  Regel,  keine  Pflichten!  Man  sieht,  der  Zeitgeist 
äussert  sich  auch  inbe/ug  auf  das  heranwarh^^cnde  Geschlecht.  Man 
kommt  unbesehen  und  unvermerkt  in  euic  geistlose  Befolgung 
Rousseauscher  Einseitigkeiten  hinein.  Diese  absichtliche  und 
scheinbar  pi^chologisch  wie  ethisch  berechtigte  Untätigkeit  ist 
aber  nur  zu  häufig  ein  Zeichen  innerer  Gleichgültigkeit  gegenüber 
der  wichtigsten  aller  Aufgaben,  die  das  Haus  hat.  Fs  ist  ja  das 
kritiklose  (ie währenlassen  eine  bequeme  Art  der  Erziehung,  die  viel- 
leicht den  Kindern  woiilgefällt,  die  aber  in  ihren  Folgen  unabsehbar 
ist  Dabei  beruht  ne  auf  falschen  Voraussetzungen,  denn  das  Kind 
kuin  eben  nicht  herrenlos  aufwachsen,  weil  es  nicht  nur  Individualist, 
sondern  in  erster  Linie  Egoist  ist.  .^llc  die  schlimmen  Folgen 
des  Egoismus  werden  sich  in  dem  Tempo  und  Masse  ver^jchlimmern, 
als  die  Erziehung  fehlt  Darum  fort  mit  der  modernen  i  iuinanitäts- 
duselei,  als  dürfe  man  nicht  in  die  kindliche  Freiheit  eingreifen,  als 
müsse  man  ihm  „ohne  Unterbrechung  Grold,  Weihrauch  und  Myrrhen 
streuen.  Diese  ungchinficrtf  Entwicklung  der  Individuali*rit  kann 
nämlich  sehr  leicht  zur  Verlumpung  führen."^)    Doch  hat  solche 

*)  Her  hart,  Umriss  pädag.  Vorlesungen,  §  333  und  334. 
i)  Otto  Emst,  Dm  Kindes  Freiheit  und  Freude. 


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—     192  — 


Erziehungsmethode  —  und  so  lässt  sich  manche  Erscheinung  ver- 
stehen, verwandte  Seiten  im  Erziehenden  selbst :  der  eigene  Egoismus 
spielt  dabei  ohne  Zweifel  eine  ^ros-^p  Rolle.  Solche  Erziehung  legt 
nämlich  den  Kitern  keine  Pflichten  auf  und  stört  ihre  Ruhe  nicht, 
gcwaiirt  fröhliche  Sorglosigkeit  und  ein  ruhiges  Gewissen.  Viele 
Eltern  sorgen  denn  auch  nach  Jean  Paul  mehr  für  ihre  Ruhe  als 
fiir  das  Wohl  des  Kindes,  halten  es  sich  stets  ein  paar  Schreib- 
tisrhe  weit  vom  Leibe,  haben  für  alles  Zeit,  nur  nicht  für  die 
eigenen  Kinder.^)  Die  Gegenwart  zeigt  viele  solcher  Menschen,  die 
alles  für  sich  selbst  in  Anspruch  nehmen,  die  verlangen,  dass  sich 
altes  um  sie  dreht,  dass  alles  sich  um  sie  kümmert,  die  aber  nie 
daran  denken,  auch  ihrerseits  andern  zu  tun,  was  man  ihnen  tut. 
Dieser  Egoismus  ist  dann  besonders  bedenklich,  wenn  er  in  Gegensatz 
tritt  zu  dem  Wohl  der  heranwachsenden  Jugend.  Pflicht  ist  heute  zu 
einem  harten  Worte  geworden.  Hedda  Gabler,'-)  die  Tochter  des 
Generals,  das  durchaus  modern  denkende  Weib  mit  den  stahlgrauen 
Augen,  den  vornehmen  Zügen,  der  kalten,  klaren  Ruhe,  kann  sich 
weder  bequemen,  auf  die  vitalsten  Lebensinleressen  ihr^  Mannes  ein- 
zugehen: „Lass  mich  doch  aus  dem  Spiele;  daran  verschwende  ich 
nicht  einen  Gedanken  —  noch  viel  weniger  Mutterpflichten  zu 
übernehmen:  Zu  dergleichen  habe  ich  keine  Anlage;  man  soU  mir 
nicht  mit  Anforderungen  kommen."  Gabriele  Reuter  hat  so  Unrecht 
nicht,  wenn  sie  den  markanten  Satz  aufstellt:^  „Die  Manner  ver< 
langen  Freiheit,  die  Frauen  verlangen  Freiheit.  Und  vor  ihnen 
erhebt  sich  plötzlich  das  Kind  und  sagt :  ,,Und  wie  komme  ich  zu 
meinem  Reciite,  wenn  jeder  von  Euch  nur  an  sich  selber  denkt?" 
Zu  diesem  Nichtstun  aus  Selbstsucht  kommt  in  der  Gregenwart 
mehr  wie  je  die  Untätigkeit  aus  eingebildetem  oder  wirklichem 
Zwang  hin/AI.  Der  letztere  hängt  mit  den  sozialen  Zuständen,  den 
Arbeits-  und  Erwerbsbedingungen  zusamincn,  die  die  soziologische 
Behandlung  unserer  Frage  erheischen  wurden  und  auf  die  wir  aus 
obengenannten  Gründen  hier  nidit  naher  eingehen.  Ebenso  schlimm 
erscheint  uns  aber  die  eingebildete  Notwendigkeit,  sich  um  die  Er- 
ziehung der  Kinder  nicht  kümmern  zu  können,  wie  sie  in  wohl- 
habenden und  besseren  Kreisen  zutage  tritt:  es  sind  die  gesell- 
schaftlichen Pflichten,  die  namentlich  die  Mutter  in  eine  ganz 
falsche  Stellung  zu  ihren  Kindern  bringen,  es  sind  insonderheit  die 
Aufgaben,  die  das  Weib,  auch  wenn  es  Mutter  ist,  noch  iiir 
Wissenschaft,  Kunst,  Poesie  usw.  meint  leisten  zu  müssen.  Findet 
man  doch  kaum  noch  eine  Zeitschrift,  ein  Buch,  ein  Zeitungsblatt, 
in  dem  nicht  die  Frau  das  Feder-Zepter  schwingt.  Kein  Redner- 
stuhl ist  zu  hoch,  es  steht  heute  darauf  —  die  Frau;  keine  Ver- 


>)  Lrrami,  VoiTede. 

•)  Henrik  Ibstn,  Ilcdda  Gabkr. 
•)  Das  Problem  der  Ehe. 


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—   193  — 


sammlttfig  ist  so  gross,  so  redet  —  eine  Fraul   Dieser  geradezu 

zur  Kalamität  gewordene  Kulturauswuchs  zeitigt  den  berüchtigten  und 
allgemein  verbreiteten  literarischen  und  künstlerischen  Dilettantismus 
der  Kunst  und  Wissenschaft  nicht  fordert,  in  der  Familienerziehung 
aber  viel  Schaden  anrichtet  —  Fände  doch  jede  Mutter,  statt  in 
der  Öffentlichkeit  prunken  zu  wollen,  mehr  Befriedigung  daian,  in 
stiller  unverdrossener  Arbeit  ihren  KJ^em  sich  zu  widmen,  denn 
„die  Mutterstube  und  die  Mutterpflef^e  kann  keine  Anstalt  und  kein 
Pfleger  ersetzen".  Wir  sind  gewiss  die  letzten,  die  etwa  das  Weib 
in  den  zweiten  Rang  der  Meuschheitswürde  drängen  wuilen,  aber 
die  vornehmste  Au^be  der  Frau  und  die  einzig  unerlassUche  der 
Mutter  ist  —  das  Kind!  Zusammenfassend  können  wir  nun  sagen, 
dass  die  heutige  Familienerzichung  vielfach  den  Stempel  der  (ilcich 
gültigkeit  und  Untätigkeit  trägt,  und  dass  deshalb  mehr  Interesse 
wr  das  Kind  und  treue  Pflichterfüllung  durchaus  erforderlich  ist 


U. 

Ein  wichtiger  Faktor  im  Gesdlschaftslebcn  ist  der  Stand  des 
Menschen.    Die  häusliche  Erziehung  trägt  heute  mehr  denn  je  den 
Stempel  der  Standeserziehung.    Dabei  braucht  man  keineswegs  nur 
an  die  sogen,  besseren  Stände  zu  denken,  denn  schon  lierbart  sagt, 
„das  Wohlleben  wie  die  Dürftigkeit  haben  ihre  Gefahren".^}  Die 
vornehme  Hedda  Gabler,  die  sich  so  weit  erniedrigt  hat,  die  Gattin 
des  Universitäts  -  Dozenten  Tcsmann  zu  werden,  ist  ein  Produkt 
solcher  Standeserziehung.    ,.Die  ärmlichen  Verhältnisse,  in  die  ich 
hineingekommen  bin,  sind  es,  die  mir  das  Leben  so  jämmerlich  und 
lacherUch  machen;  man  hat  keinen,  der  nur  ein  bischen  von  „unsern 
Kreisen"  weiss."   Es  liegt  im  Greist  der  Zeit,  auf  das  Äussere,  auf 
Äusserlichkeit  Gewicht  zu  legen,  die  Kinder  nicht  nur  in  ihren 
Kleidern,  sondern  auch  in  ihrer  Persönlichkeit,  ihrem  Wissen  und 
Können,  ihrem  Charakter  möglichst  hoch  und  von  Stand  erscheinen 
zu  lassen.   Nicht  so  sehr  kommt  es  dabei  auf  die  Frage  an,  ob 
einerseits  der  elterliche  Geldbeutel»  anderseits  das  geistige  Vermögen 
des  Kindes  hierzu  ausreichen.   Die  EHem  wollen  auch  dem  Stande 
nach  ihre  Kinder  höher  hinaufbringen;  sie  sollen  sich  unter  den 
Gespielen,  in  der  Schule  usw.  auszeichnen.    Bei  diesem  an  sich  nicht 
unberechtigten  Wunsche  liegt  nur  die  Gefahr  nahe,  dass  neben  dem 
Streben  nach  äusserem  S<£ein  der  innerliche  Bau  des  Seins  nicht 
g^eichmassig  gedeiht    „Nicht  nur  fort  sollst  Du  dich  pflanzen, 
sondern   hinauf."-)     So    sehen  wir  denn  schon  inbezug  auf  die 
Lebensführung  das  Kind  durch  die  Geburt  in  dem  Strom  seiner 
Gesellschaftsklasse  schwimmen:  alles  Gewicht  wird  darauf  gelegt, 

')  Utnriss  pädag.  Vorlesuilfni,  §  333. 

*J  Nietzsche,  Zarathuslra. 

PidMCOgiKbe  Studien.   XXIX..    8.  18 


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—    IC/4  — 


dass  die  äussere  Form  gewahrt  bleibt,  die  äusseren  Manieren 
tadellos  sind.  Für  den  Denkenden  dokumentieren  diese  Ausserlich- 
keiten  oft  innere  Hohlheit  und  Phrasenhafti<j;keit  einer  veräusser- 
lichten  Erziehungsmethode.  Solche  „jungen  Herrchen  und  Dämchen 
mit  eingebildeten  gesellschaftlichen  Pflichten  des  Flirtens  sind  etwas 
Grreuliches".^)  Die  Folgen  dieser  Er/iehunpspraxis  sind  um  so 
tragischer,  als  die  Jugend  dadurch  für  wissenschaftliche,  künstlerische 
oder  religiöse  Vertiefung  weniger  empfänglich  wird,  aber  auf  Ge- 
bieten der  Oberfläche,  der  Äusserlichkcit  mehr  leistet,  denn  zuvor, 
wie  dies  in  allerlei  sogen,  tdlen  Jugenctetreichen  in  die  Erscheinung 
tritt  Möchten  sich  doch  die  elterlichen  Erzieher  durch  „ober- 
flächliche Lebendigkeit  nicht  verleiten  lassen,  auf  künftige  Entwick- 
lung von  Talenten  zu  hoffen".^)  Tolle  Jugendstreiche  sind  keine 
Garantie  für  spätere  Tüchtigkeit,  und  Launen,  Eigensinn,  Ziererei, 
Leichtsinn,  diese  typischen  Jugendfehler,  dürfen  keine  unnötige 
Kräftigung  erfahren.  Mehr  denn  je  ist  notwendig,  die  Kinder 
darauf  hinzuweisen,  dass  des  Mannes  Kleid  nicht  er  selbst  ist, 
damit  sie  Gefühl  und  Verständnis  dafür  behalten,  Sein  und  Schein 
zu  unterscheiden,  und  auch  schon  in  ihrer  Jugend  erfahren,  dass 
man  nur  durch  Mülie,  Anstrengung  und  Ausdauer  sich  hinaufarbeiten 
kann  —  äusserlich  wie  innerlich.  Dies  zu  betonen  ist  um  so  not- 
wendiger,  als  gerade  der  zunehmende  Wohlstand  und  die  bessere 
Lebenshaltung  grosser  Volkskrcisc  die  Gefahr  des  sittlichen  Hcruntcr- 
sinkens  naher  rücken.  ,,Ini  Wohlleben  auf  sittHcher  H'>he  bleiben, 
erfordert  einen  hohen  (rrad  bewussten  Wollens;  Reichwerden  eines 
Volkes  bedeutet  häufig  zugleich  ein  Heninteisinken."*)  Darum  ist 
auch  die  Erziehung  in  den  Häusern  der  unteren  VoUcsklassen  der 
VeräusserUchung  nicht  in  dem  Masse  ausgesetzt;  aucli  ist  die  „Er- 
ziehung um  so  besser,  je  mehr  Kinder  die  Familie  zählt."  —  Wir 
haben  gefunden,  dass  die  heutige  Familicncrziehung  sich  zu  sehr 
auf  Äusseres  und  Äusserlichkeiten  richtet,  deshalb  Verinnertichung 
und  Vertiefung  erfahren  muss. 

m. 

Eine  der  markantesten  Erscheinungen  des  gegenwärtigen  Kultur- 
lebens ist  die  Raschlcbigkeit ,  mit  der  man  einerseits  so  früh  wie 
möglich  alles  mitzumachen  und  auszukosten  beginnt,  anderseits 
hastend  von  einem  zum  andern,  vom  Alten  zum  Neuen  eilt  Diese 
Eile  und  Unruhe  hat  sich  auch  auf  die  Erziehung  übertragen.  „Man 
verfrüht  heute  ziemlich  alles;  man  hat  eine  entsetzliche  Angst  davor, 
die  Kinder  nicht  rechtzeitig  an  alle  denkbaren  Interessen  heran- 

Baumgarten,  Über  Kinderendehoog.  TBbiogeo  1905,  Molur.   2  M. 

«)  Herbart.  l  niris<;  §  30I. 

•)  Tews,  Vortrag  über  KiDdcrcrzichung.    iianaov.  Scholzeitung  1907,  No.  19. 


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-    195  — 


zubringen."^)  Es  gibt  kaum  etwas  bezüglich  der  äusseren  und 
inneren  Erkenntnis,  des  körperlidicn  und  geistigen  Genusses,  woran 
man  die  Kinder  nicht  frühestens  wollte  teilnehmen  lassen:  Diners 
wie  Soupers,  Theater  wie  Konzertbesuch,  Hygiene  wie  Politik, 
Kränzchen  wie  Bälle,  Kunst  wie  Wissenschaft,  Vegetarier-  wie  Anti- 
alkoholbewegungen  —  was  könnte  man  noch  alles  anfuhren  1  Wie- 
viel Mühe  und  Kosten,  wieviel  sorgenvolles  Nachdenken  legt  sich 
doch  die  Familie  auf,  um  mir  ja  d<*n  Kindern  inbezug  auf  Kleider- 
pracht  AuLjen-  und  Oiircneri(<:'»tzung.  (lesclUgkeit  gerecht  tu  werden. 
Das  „muss"  das  Kind  docii  haben,  das  inuss  es  doch  mitmachen 
schon  in  Rücksicht  auf  Gesellschaft  und  Bekanntschaft!  Man  müsste 
weit  in  der  sozialen  Rangstufenliste  der  Familten  abwärts  steigen,  um 
iWr^c  Auswüchse  der  Neuzeit  nicht  zu  finden,  und  doch  sollen  die 
Kinder  vor  solchem  verfrühten  und  gehäuften  (leniessen  mögüchst 
bewaiirt  werden.  Aber  Kindergesellschaften,  Geburtstagsvisiten, 
Kranzchen  junger  Herren  und  Dämchen  sind  etwas  Selbstverständ- 
liches und  so  oft  und  regelmässig  Wiederkehrendes,  dass  die  Kinder 
von  einem  dieser  Feste  zum  andern  die  Tapfc  \-orauszählcn.  Ab- 
gesehen von  der  unnützen  Schleckerei  der  Zun^c  lernt  das  Kind 
hier  schon  das  Naschen  rümpfen  über  die  ^uaütät  der  Zubereitung 
des  Kuchens  und  der  Torte,  auch  ein  Urteil  sich  bilden,  wie  gast- 
gebende Häusar  untereinander  in  der  Feinheit  und  Kostspieligkeit 
des  Gebotenen  sich  übertreffen  —  wahrlich,  das  Kind  wird  früh 
urteikfähig!  Und  nun  gar  erst  die  Kindcrbälle:  die  muss  heute 
nicht  nur  jeder  festgebende  Verein  veranstalten,  die  muss  auch  ein 
einigermassen  fashtonables  Haus  in  seinem  Kindersalon  mit  sechs-  bis 
zwölfjährigen  Puppen  abhalten.  Welch  ein  Kontrast  zwischen  kind* 
lieber  WcsensnatürHchkeit  und  dieser  Blasiertheit,  die  künstlich  gross- 
gezogen wird!  —  Aber  auch  auf  geistigem  Gebiet  soll  das  Kind 
ein  Frühwisser  und  ein  Vielwisser  sein;  es  soll  sich  geschickt  und 
mit  Sachkenntnis  an  einer  Unterhaltung  beteiligen  können,  es  soll 
ein  Gefühl  und  Verständnis  für  die  Werke  der  Kunst  bekunden. 
Die  Kunst  überhaupt  scheint  für  die  modernen  Heissspome  als 
Erziehungsprinzip  nur  noch  einzig  in  Frage  zu  kommen!  Man  sagt 
sich  aber  vemünftiL^crweise,  namentlich  wenn  man  die  (icist- 
reichigkeit  und  Schongeistigkeit  in  Kinderschuhen  mit  anzuhören 
verdammt  ist,  dass  diese  Weise  des  Frühwissens  doch  zu  sehr  den 
Stempel  des  Altklugen,  der  Blasiertheit  tragt,  die  nicht  imponieren 
kann,  sondern  nur  l;edauernde  Gefühle  nn-^Tist.  —  Bedenklicher  sind 
die  Folgeerscheituui|^eii,  wenn  sich  das  l'rühwissen  und  -Lieniessen 
auf  das  geschlechtliche  Gebiet  ausdehnt.  Solche  Resultate  können 
aber  nicht  ausbleiben,  wenn  man  die  Kinder  wie  Erwachsene  be- 
handelt, sie  den  Genussstätten  der  Erwachsenen  zuführt  und  an 
deren  Vergnügungsweisen  zu  früh  teilnehmen  lässt.   Da  ist  eine 

Bauiugarten  a.  a.  O. 

1»» 


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-   196  - 


Atmosphäre,  die  frühzeitig  die  kindlichen  Anschauungen  und  Urteile 
verdreht,  ja  vergiftet,  den  Schleier  des  Bildes  /.u  Sais  hebt  —  nicht 
ungestraft  Um  so  bedauerlicher  und  unverständlicher  ist  es,  wenn 
fanatische  Aufklaningsapostei  in  ihrem  Unveretand  die  preschlecht- 
liehe  Aufklarung  als  berechtigt  und  notwendig  anpreisen;  unter  der 
stolzen  Fahne :  Wirklichkeit  und  Wahrheit,  jedes  Sexualmärchen,  auch 
das  vom  Storch,  verdammen.  „Wahrheit  sucht  man,  aber  man 
begeht  die  grosse  Unwahrheit,  von  den  wahren  und  natürlichen 
Interessen  des  Kindes  abzuweichen.  Wie  kann  man  in  die  un- 
schuldige Welt  des  Kindes  von  8 — 12  Jahren  einen  Zündstoff  hinein- 
bringen, von  dem  es  selbst  keine  Ahnung  hat.')  Darum  auch 
Ludwig  Gurlitt:*)  „Man  reisse  die  Kinder  nicht  gewaltsam,  eilig 
und  zu  früh  aus  der  unschuldigen  Märchenwelt  in  die  kalten 
Regionen  der  gesellschaftlichen  Moral.  Weg  mit  diesen  armseligen 
Dressierkünsten,  die  das  Verständnis  nicht  abwarten  können."  ,»Man 
habe  doch  mehr  Achtung  vor  der  Majestät  des  Kindes  und  störe 
seinen  ahnungsvollen  Schlummer  nicht  durch  zu  friihes  Wecken.*'*)  — 
Auch  hinsichtUch  anderer  sogen,  edler  Genüsse,  wie  Reisen,  Theater- 
besuch usw.,  an  die  man  das  Kind  vielleicht  in  guter  Absicht  teil- 
nehmen lässt,  geht  man  heute  von  der  vielfach  irrtümlichen  Voraus- 
setzung aus,  als  habe  das  Kind  schon  dasselbe  Interesse  und 
Verständnis  für  Wald  und  Flur,  Dichtung  und  Skulptur,  wie  der 
Erwachsene  es  bei  sich  vorfindet  —  die  Erfahrung  lehrt  das  Gegen- 
teü!  Ebenso  falsch  ist  und  der  kindUchen  Natur  unangemessen, 
wenn  man  schon  Kinder  in  politischen  Vereinen  zu  überzeugten 
Politikern,  in  sozial  wirkenden  Gesellschaften  zu  Streitern  in  der 
Bekämpfung  dieser  oder  jener  sozialen  Missstände  zu  schulen  sucht; 
denn  solche  Krziehungsrichtung  —  und  geschehe  sie  noch  so  über- 
zeugt und  gutgemeint  —  ist  verfrüht  und  unnatürUch  und  deshalb 
aus  erziehlichen  Gründen  nicht  zu  rechtfertigen.  —  Nach  alledem 
haben  wir  nachgewiesen,  dass  die  heutige  FamiUenerziehuog  fast 
alles  verfrüht,  sich  vielfach  überstürzt  und  das  äussere  wie  innere 
Erkenntnis-  und  Genussleben  des  Kindes  in  unnatürlicher  und  des- 
halb schädlicher  Weise  beeinflusst.  — 


IV. 

Nach  Herbart  setzt  eine  richtige  Familienerziehung  richtige 
pädagogische  Begriflfe  voraus.*)  Diese  brauchen  nicht  etwa  in 
schulgemässer  Weise  in  Thesen  aufzählbar  sein,  sondern  sie  müssen 


■)  Hieronymus,  Die  gcmciBsame  ElrEiehung  der  Geschlechter.   Pid.  Stndiea  1906, 
Heft  5,  Separatabdnick.    BIcyl  &  Kacnunerer,  Dresden  1906. 
'}  L.  Gurlitt,  Pflege  und  Entwickelilog  des  Penaolichkek. 

Baningartcn  a.  a.  O. 

Umms,  §  336. 


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—  197  — 


auch  ohne  wörtliche  Ausdrucksform  ein  wesenhaftes  System  dar- 
stetteo,  welches  das  Haus  beherrscht,  welches  jedem  dnzelnen  Gfiede 
desselben,  auch  dem  Kinde,  genau  bekannt  ist  Dieses  System 
wird  vorzugsweise  drei  Seiten  zeigen  müssen:  die  Objektivität,  die 
Konsequenz  und  die  Sorgfalt ,  sowohl  in  der  Erziehung  selbst  als 
in  der  Wahl  der  Hrzichungsmittel.  Jene  oben  geschilderten  Ver- 
treter des  Untätigkeitsprinzips  halten  es  gleichwohl  lur  nötig,  dass 
für  andere  Kinder  gar  eine  drakonische  Erziehung  notwendig  ist, 
sobald  sie  mit  diesen  andern  in  irgend  eine  unangenehme  Berührung 
gekommen  sind.  Be/.üglicli  der  eigenen  Kinder  und  deren  Schwächen 
und  Unarten  behnden  sie  sich  in  vollständiger  Selbsttäuschung  und 
Blindheit  Diese  Aflenltebe  zur  eigenen  Art,  bei  absoluter  Skepsis 
gegen  alle  Wirklichkeit,  ist  ziemlich  weit  verbreitet  Sie  sieht  die 
Unarten  der  eigenen  Kinder  nicht,  nimmt  unbesehen  und  mit 
Empfindlichkeit  sofort  für  diese  Partei  —  sehr  zum  Nachteil  der 
Charakterentwicklung  des  Schützlings.  Solche  schwächliche  Ver- 
hätschelung sieht  auch  nur  zu  häufig  ab  von  Massregeln  zur 
Korrektur  des  kindlichen  Verhaltens  gegenüber  Vater,  Mutter  und 
Geschwistern,  scheut  sich,  kräftige  Mittel  anzuwenden  und  „hinter 
den  Wünschen  im  äusserstcn  Notfälle  die  physische  Gewalt  zu 
setzen".^)  In  vielen  Familien  üben  aber  die  Kltern  ihr  Recht,  ihre 
Freiheit  gegenüber  den  Kindern  tatsächlicii  aus,  ohne  die  segens- 
reichen Erfolee,  die  man  erwarten  könnte,  ernten  zu  können. 
Woher  diese  betrübende  Erscheinung?  Es  mangelt  die  Konsequenz 
in  der  Anwendung  der  Mittel:  Verhätschelung  wechselt  mit  über- 
mässiger Strenge,  I  iehe  mit  Zorn,  schlaffe  Geduld  mit  wildem  Auf- 
brausen —  wie  SüU  da  ein  gutes  Resultat  zustande  kommen  1  „Die 
Erzieher  sollen  den  Kindern  möglichst  stets  die  gleiche  Stirn 
ze^en/'*)  sidi  sdt»t  beherrschen  können.  „Nicht  die  grossen  Strafen, 
sondern  die  unausbleiblichen,  sind  mächtig  und  allmächtig;"")  ferner 
werden  Gemütsaufregungen-,  langatmige  Ermahnungen,  Tränen  in 
ihrer  Wirkung  auf  das  Kind  stets  überschätzt  —  Gegenwärtig  wird 
der  grösste  Schaden  dadurch  angerichtet,  dass  das  Haus  es  fehlen 
lässt  an  der  sorgfältigen  und  konstanten  Überwachung  in  allem,  was 
das  Kind  tut,  was  es  zu  sehen  und  zu  hören  bekommt.  Das  Gefühl 
des  ständigen  Überwachtseins  muss  im  Kinde  Platz  greifen  und  in 
dem  Gedanken  sich  äussern:  was  würden  meine  Eltern  dazu  sagend 
Hae  unglaubliche  Sorglosigkeit  herrscht  besonders  inbezug  auf  die 
Lektüre  der  Kinder;  danach  wenigstens  zu  urteilen,  welche  Schriften 
12— 15jährige  Kinder  in  ihrem  Hause  mit  oder  ohne  Wissen*  der 
Eltern  lesen.  Alles  Krankhafte,  Perverse,  die  Leidenschaften  er- 
regende findet  sich  da,  wovon  kein  Erwachsener  eine  Ahnung  hat 


OUo  Emst  a.  a.  O. 

E.  Ackermann,  Die  btoalicbe  Enklntiig.  LMgenMlift,  Beyer  &  S.  Pr«  «,50  M. 
*)  Jean  Panl,  Lerana,  §  64. 


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Hier  z.  B.  der  Wirklichkeit  entnommen  das  Lektürenest  eines 

1 4 jährigen  jungen  Mädchens:  v.  Gaudi,  Schülerliebe;  Rotstiber, 
Tagebuch  eines  bösen  Buben;  Ladenbcri^,  Testament  des  Fraiicn- 
hasscrs;  Alfred  Sassen,  Die  Beichte  der  ersten  Liebliaberin;  Die 
7  Leidensstationen  eines  Bräutigams  zum  Traualtar  —  selbst- 
verständlich auch:  Das  Provinzniädel,  Ghrossstadtrange  und  —  ein 
Ltebesbriefsteller  —  in  Summa  alles,  was  diesem  uoldugen,  früh- 
reifen Kinde  den  Charakter  verdirbt  und  die  Seele  \'er^nftet.  Hier 
ist  eine  der  Ursachen,  warum  in  dem  oben  cfczcii^ten  Nachtbilde 
der  Verbrechen-Statistik  gerade  diejenigen  ^egen  die  Sittlichkeit 
am  stärksten  zunehmen.  Und  das  Kind  ist  nicht  etwa  eine 
verdammenswerte  Ausnahmepflanze,  sondern  der  Typus  vieler 
Gleichaltriger.  Aber  wie  oft  hört  man  trotz  alledem:  es  sind 
ja  „Kinder",  man  kann  ihnen  doch  nicht  „alles"  vcrsap^en!  „Ist 
erst  die  Kinderseele  mit  unzüchtigen  Bildern  und  Einbildungen, 
bösen  Gedanken  und  Einbildungen  befleckt,  so  bleiben  diese 
Schmutzflecke  trotz  der  Erziehersoi^e  immer  zurück."')  Eine 
besonders  sorgfaltige  Überwachung  sollte  deshalb  das  Haus  aller 
Lektüre,  auch  den  '/eiUmcfen,  die  das  Kind  liest,  den  Bildern 
und  KunstL^e;^enständcn,  die  es  sieht,  den  Kineiiiatoirra]i!ien,  die  es 
besucht,  zuwenden.  „Gross  ist  die  Herrschaft  der  rem  unsittlichen 
Literatur.  Auf  dem  Gebiete  der  Bilderkunst  kann  selbst  das  Laster 
ästhetisch  schön  dargestellt  werden,  aber  —  es  ist  auch  dann  noch 
kein  Erzieliinittel ;  ferner  taitj^  nicht  alles  künstlerisch  X'nllendete 
nun  auch  für  das  Kind."-)  Es  ist  ein  xerhängnisvoller  hehler,  dass 
das  Haus  gerade  im  letzteren  Punkte  sich  seiner  Pflicht  der  Über- 
wachung entschlägt  und  sich  um  diesen  Umgang  setner  Kinder  bei 
völliger  Unterschätzung  der  drohenden  Gefahren  weni^^  kümmert 
oder  ihn  gleichgültig  gewähren  lässt.  Der  <^deiche  Vorwurf  kann 
ihm  auch  nicht  erspart  bleiben  in  Hinsicht  auf  den  schriftUchen 
oder  persönlichen  Verkehr,  den  das  Kind  oft  mit  oder  ohne  Wissen 
der  Eltern  zu  seinem  eigenen  Verderben  pflegt.  Mehr  Aufeicht, 
mehr  Sittel  ruft  gebieterisch  der  Engel  der  Unschuld  und  Tugend. 
Wir  konnten  und  mussten  feststellen,  dass  hei  1er  häuslichen  Er- 
ziehung^ der  Getrenwart  vielfach  die  klare  Objektivität,  die  konsequente 
Durchführung  und  die  sorgfaltige  Überwachung  fehlt  — 

T, 

„Die  Wahrheit  Ist  die  erste  Bedingung  der  Wirksamkeit  geistigen 

Einflusses"  (Tolstoi),  Die  Wahrhaftigkeit  ist  ^deichsam  das  Fundament, 
der  sittliche  Halt,  der  ethische  Berechtigungsnachweis  der  Familien- 
erziehung.   Darum  ruft  Nietzsche  dem  Vater,  der  Mutter  zu:  „Aber 

>)  Schule  und  Leben  1894,  Ober  häusliche  Erziehung. 
*)  Nach  Schercr  im  Pfdagognchcn  Jahresbericht  1903. 


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—   199  — 


du  musst  mir  erst  selber  gebaut  sein,  rechtwinklig  an  Leib  und 
Seele"  (Zarathustra).    Die  WahrbiftiL^keit  in  der  Erziehung  führt 
zum  Gefühl  für  Recht  und  Gut,  zum  i^cwusstsein  des  Tugendhaften, 
stärkt   die   Autorität   und    flüsst   kindliches   Vertrauen   ein.  Der 
modernen  Familienernehung  kann  der  Vorwurf  nicht  erspart  werden, 
dass  es  bei  ihr  sehr  an  der  nötigen  Wahrhaftigkeit  mangelt,  sowohl 
was  das  Verhältnis  des  Mannes  zur  Frau ,  als  der  Familie  zur  Ge- 
sellschaft, endUch  der  Kitern  zum  Kinde  anbelan^.    „Es  ist,"  sa^t 
Adolf  Barteis,  „ein  Zug  der  Zersetzung  im  deutschen  Familienleben 
vorhanden,  de^n  hervorragende  Kennzeichen  die  starke  Abnahme 
der  Geburten  und  die  prozentuale  Zunahme  der  Verbrechen  sind"*) 
Es  fehlt  die  vom  Kinde  aus  gesehene  untrennbare  Einheit  zwischen 
Mann  und  Frau;  nur  zu  häufig  zieht  das  eine  Pferd  vor  und  das 
andere  hinter  dem  Wagen,  und  so  geht  für  Sohn  und  Tochter  der 
verborgene  Reiz  dieser  einzigartigen  Gemeinschaft  verloren,  und 
damit  Pietät  und  Autorität.  Und  dann  die  Art  der  Lebensführung  I 
Nach  aussen  hin  ein  geradezu  ewiges  Theaterspielen.    Man  gibt 
Gesellschaften,  man  ladet  Gäste,  man  beräuchert  sich  in  Super- 
lativen und  —  hinterher  erfälirt  das  Kind,  dass  alles  nichts  ist,  als 
konventionelle  Lüge.    So  geht  die  natürliche  üftenheit  des  kind- 
lichen Herzens  verloren.   Wenn  im  Hause  femer  das  Festefdem 
so  betrieben  wird,  dass  der  abgehende  Trupp  Gäste  dem  neu  an* 
kommenden  Platz  macht,  wenn  infolgedessen  der  Tacjeshimmel  im 
Hause  in  blci-^rauer  Schwere  lastet,  wenn  die  Mutter  erst  gegen 
Abend  auflebt,  um  ins  Theater  oder  in  Gesellschaft  zu  gehen  und 
die  Liebenswürdige,  allzeit  Heitere  zu  spiden:  so  wird  die  Haupt- 
pflicht, den  Kindern  zu  leben  und  die  geselligen  Pflichten  dieser 
Hauptpflicht  hintan  zu  stellen,  gröblich  verletzt.    Die  Frau  bestimmt 
Ton  und  Wesen  des  Ilauskbens.    Da  möchte  man  mit  jean  Paul 
rufen:  „Sehet,  die,  welche  unter  eurem  Herzen  waren,  und  jetzt 
nicht  in  demselben,  strecken  die  Arme  nach  dem  Verwandtesten 
aus  und  bitten  zum  zweitenmal  um  Nahrung."*)   Es  ist  kein  Wunder, 
dass  das  Kind  durch  dieses  Vorbild  zu  einer  ganz  schiefen  Auf- 
fassung  hinsichtlich   der  Lebensführung  und  Lebensziele  gelangt 
Geniessen  und  nur  Geniessen,  und  wenn  dieses  einmal  ein  Ende 
haben  muss,  dann  —  im  äussersten  Falle  lieber  den  Tod  als  die 
Pflicht    „Tätigkeit  erhält  heiter  —  nicht  der  Genussl   Das  Ge- 
messen erschöpft  uns  bald,  nicht  das  Streben"  (Jean  Paul).  Wie 
sagt  doch  die  vorgenannte  Hcdda  Gabler?    „Ich  hatte  mich  müde 
getanzt  —  meine  Zeit  war  um.    So  nahm  ich  den  Fachmenschen 
Tesmann,  der  darauf  ausging,  mich  versorgen  zu  wollen.  Tesmauin 
macht  sich  immer  Sorgen,  woher  er  die  Mittel  zum  Leben  nehmen 
soll;  daran  verschwende  ich  auch  nicht  einen  Gedanken.  Eins  habe 


')  Adolf  Bartels  Deutsche  Litfititnr,  EinilchtcD  und  AuMtchteo. 
*)  Levana,  III.  Bruchstück. 


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—  200 


ich  doch  auf  jeden  Fall  —  meine  Pistolen  —  General  Gahlen 

Pistolen  1"  —  In  dem  Verkehr  zwischen  Eltern  und  Kind  muss  Auf- 
richtigkeit herrschen.  Vater  und  Mutter  müssen  untereinander  und 
inbczug  auf  die  Kinder  nichts  beschönigen  und  vertuschen,  denn 
der  schlimmste  aller  F'ehler,  die  Heuchelei  und  Lüge  im  Familien- 
kreise, nimmt  alle  Achtung  vor  den  Eltern  und  jedes  Interesse  f&r 
ihre  Lehren  hinweg;  „die  Lüge  ist  der  fressende  Lippenkrebs  des 
inneren  Menschen !"  (Jean  Paul).  Und  auch  dieses  beachten  die 
Eltern,  vorzugsweise  in  den  niederen  Ständen  und  Arbeiterkreisen, 
gar  zu  wenig:  „Tadeln  und  zanken  die  Gatten  vor  ihren  Kindern 
sich  schamlos,  ach,  wie  bald  erstickt  Liebe  und  Ehrfurcht  im  Sohn." 
Man  fragt  sich:  wo  haben  wir  die  Familie,  welche  eine  solche  auf 
Wahrhaftigkeit ,  Autorität  und  hochschätzender  Liebe  begründete 
Erziehung  dem  jungen  Nachwuchs  zuteil  werden  lässt.''  Nicht  das 
Leben  in  äusseren  Manieren,  die  tugendhafte  Lebensführung  vor 
den  Augen  der  Welt,  die  nur  vor  dem  Skandal  eine  tötliche  Angst 
hat,  kann  das  Resultat  einer  vemüni^gen  häuslichen  Erziehung  dar- 
stellen, sondern  die  freie  Entwicklung  des  Handelns  und  Tuns,  wie 
CS  aus  dem  wohlgeformten  eigenen  Innern  des  Menschen  erwächst. 
Mehr  als  je  muss  auf  die  Erziehung  zu  sittlicher  Tatkraft  Gewicht 
gelegt  werden.  Die  gesamte  Fürsorge-  und  Besserungserziehung 
der  Gegenwart  ist  eine  öffentliche  Anidage  über  die  mangdnde  Er- 
aehung  zu  individueller  sittlicher  Tatkraft.  Der  Mensch  muss  nicht 
seinen  sittlichen  Halt  in  der  Beobachtung  durch  andere,  sondern  in 
dem  steten  Bewusstsein  eigener  Selbstbeobachtung,  die  wiederum 
der  Selbstachtung  entspricht,  haben.  Dahin  wird  nur  eine  wahr- 
haftige Erziehung,  die  gegründet  ist  auf  wirldicher  HochschStzung 
der  Eltern  und  ihrer  Lebensführung,  die  Jugend  führen.  Wir  konnten 
feststellen,  dass  der  häuslichen  Erziehung  die  nötige  Wahrhaftigkeit 
des  Verhaltens  zwischen  Vater,  ^hltter  und  Kind,  zwischen  FamiHe 
und  Gesellschaft  mangelt,  die  aber  ihre  Grundlage  sein  muss,  wenn 
die  Jugenderziehung  wahrhaft  sittliche  Ziele  erreichen  soll. 

Sahltss. 

Wir  hatten  uns  nicht  die  Aufgabe  gestellt,  die  Pädagogik  des 
Hauses    überhaupt   in   all  ihren   Vorkommnissen,  Eigenheiten, 

Richtungen,  Regeln  zu  betrachten,  sondern  wir  wollten  diejenigen 
Seiten  der  häuslichen  P>ziehung  beleuchten,  die  als  typische  Er- 
scheinungen der  Gegenwart  aus  dem  Gesamtbild  der  häuslichen 
Pädagogik  hervortreten.  Die  von  uns  au^ezcigten  Charakteristika 
bedeuten  zudem  diejenigen  Erziehmittel,  welche  als  allgemein  be- 
achtenswert angesehen  werden  können  und  deren  verschiedene  Auf- 
fassung  und  Durchführung  von  grundlegender  Bedeutung  fiir  die 
allgemeine  Menschcnbildung  sind.  Sie  werden  an  verschiedenen 
Orten,  bei  verschiedenen  Standes-  und  Berufsklassen  in  der  Art 


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—    20I  — 


ihrer  Erscheinung  voneinander  abweichen,  liire  Idee  und  Grundlage 
findet  sich  aber  in  der  Gegenwart  allgemein.  Wir  woUen  niAt 
gerade  behaupten,  dass  die  Resultate  der  Familienerzichung  in  der 

Gegenwart  wesentlich  schlechter  seien  als  in  der  Vergangenheit  — 
vielleicht  sind  wir  auch  als  Gegenwartsmenschen  etwas  feinfühliger, 
ja  etwas  nervöser  hinsichtlich  dieser  und  jener  Vorkommnise:  sieber 
ist  al>er,  dass  in  der  Vergangenheit  die  hausliche  Ersiehung  in  ein* 
fadiercn  Bahnen  sich  bewegte,  sidi  in  ihrer  Tragweite  besser  über- 
schauen und  in  ihren  Zielen  sicherer  verfolgen  licss.  Sicher  ist  auch, 
dass  jede  Zeit  ihre  besonderen  Vorzüge  hat  —  auch  die  heutige 
bietet  sie  —  aber  auch  ihre  besonderen  Aufgaben  stellt  und  be- 
sondere Sdiwierigkeiten  darbietet  Von  neuem  ist  uns  aber  die  un» 
geheure  Tragweite  der  Eltemerdehung  nach  der  guten  sowohl  wie 
nach  der  bösen  Seite  hin  klar  geworden,  und  es  ist  Pestalozzi, 
welcher  scharf  betonte,  „dass  die  P>:istenz  einer  Volks-  und  Striats- 
gemeinschaft  unbedingt  auf  die  in  Reinheit  erhaltene  Gcmcinscliaft 
des  Hauslebens  angewiesen  ist  —  ein  Gedanke,  den  alle  sozialistisch 
internationalen  Utopien  nicht  haben  beseitigen  können".^)  Was  för 
die  Jugend  geschieht,  dient  zur  Gestaltung  der  Zukunft,  und  „der 
kurze  Kinderarm  ist  der  lange  Hebelarm  für  die  Zukunft".-}  Aber 
die  rechte  Ausübung  der  Erziehung  ist  gleichzeitig  eine  Schicksals- 
frage für  das  Familienleben  selbst.  Nicht  nur  das  Verxiallnis 
zwächen  Mann  und  Frau,  sondern  erst  recht  das  zwischen  Eltern 
und  Kindern  bedingt  Frieden  und  Glück  oder  Unheil  und  Hölle: 
„Habt  Ihr  Euer  Kind  recht  erzogen,  so  kennt  Ihr  Euer  Kind.  Nie, 
nie  wird  eins  seine  reine  und  recht  erziehende  Mutter  vergessen."*) 

Und  noch  eins:  Unsere  Kinder  werden  uns  selbst  erst  zu  Ende 
erziehen,  denn  wer  im  Kinde  das  Bild  des  Menschen  in  seiner 
Reinheit,  „das  Gotteskind  sieht,  ehrt  und  bildet,  der  wächst  selbst 
hinauf  zur  Würde  eines  Werkzeugs  der  ewigen  Güte."*)  Nicht  nur 
fort  sollet  <\u  dich  pflanzen,  sondern  hinauf!  Dazu  helfe  dir  der 
Grarten  der  Elie  (Nietzsche). 

CrashalMt: 

I.  Die  hausliche  Kindererziehung  ist  infolge  ihrer  Eigenart, 
Unersetzbarkeit  und  Unübertragbarkeit  die  Urform  und 
Grundlage  aller  Erziehung;  sie  ist  deshalb  für  die  in  der 
Gegenwart  hervortretenden  Schäden  auf  dem  Gebiete  des 
persönlichen  Familien^  und  Voltalebens  in  erster  Linie  ver- 
antwortlich. 


I)  ^licronymas,  Bcttrldliiiig  der  PettaloandiCB  Pildafogik.   Hmu  «nd  Schale  1903. 

')  Jean  Faul, 

^  Jean  Pul,  LevMUi. 


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—    202  — 


2.  Die  heutige  Familienerziehung  trägt  vielfach  den  Stempd 
der  Gleichgültigkeit  und  Untätigkeit;  deshalb  ist  ein  grösseres 
Interesse  für  das  Kind  und  treuere  Pflichterfüllung  durchaus 

erforderlich. 

3.  Die  heutige  Familienerziehung  richtet  sich  zu  sehr  auf 
Äusseres  und  Ausserlichkeiten  und  muss  deshalb  Verinner* 

lichung  und  Vertiefung  erfahren. 

4.  Die  heutige  Familiener/ichung  verfrüht  fast  alles  und  über- 
stürzt sich  vielfach;  sie  heeinflusst  dadurch  das  äussere  wie 
innere  Erkenntnis-  und  Genussleben  in  unnatürlicher  und 
deshalb  schädlicher  Weise. 

5.  Der  heutigen  Familienerziehung  fehlt  vielfach  die  Idare 
Objektivität,  die  konsequente  Durchfuhrung  und  die  soi|^ 
faltige  Uberwach  unt^r 

6.  Der  heutigen  Faniiiicnerziehung  mangelt  die  nötige  Wahr- 
haftigkeit des  Verhaltens  zwischen  Vater,  Mutter  und  Kind, 
zwischen  Familie  und  Gesellschaft,  die  aber  ihre  Grundlage 
sein  muss,  wenn  die  Jugenderuehung  wahrhaft  sittliche  Zide 
erreichen  solL 


III. 

Die  neuzeitliche  Dichtung  in  der  Schule. 

Ein  Beitng  cur  VeijQiiKWV  ^  LelurpUuu. 
Von  F.  HtMer,  Rektor  tind  Oitedralinspektor  in  WeisswasMr  O/L. 

Mit  lauten  Schlägen  pocht,  Einlass  begehrend,  die  Gegenwart 
an  die  Pforten  der  Schule,  der  höheren  wie  der  niederen  j  aber  sie 
findet  vielerorts  noch  verriegelte  Türen.  Ihre  dringendsten  Forde* 
rungen  erstrecken  sich  einerseits  auf  eine  zeitgemässe  Auswahl  der 
Lehrstoffe  und  andrersf^it^  auf  das  bei  der  unterricbtiichen  Ver- 
arbeitung der  letzteren  einzuschlagende  V^erfahreii. 

Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  die  moderne  Schule  in  immer 
steigendem  Masse  bemüht  ist,  dem  Verlangen  nach  einer  natur- 
gemässen,  d.  h.  einer  dem  Wesen  der  kindlichen  Psyche  ent- 
sprechenden Lehrweise  Rechnung  zu  tra^^cn.  Die  Kenntnis  der 
Beziehungen  zwischen  Psychologie  und  Didaktik  gewinnt  zusehends 
an  Boden  und  bildet  je  länger  je  mehr  das  sichere  Fundament  für 
eine  erfolgreiche  Erziehungs-  und  Unterrichtspraxis. 

Nicht  mit  demselben  Eifer  und  der  gleichen  Aufmerksamkeit 
bemühen  sich  die  Schulpädagogen  der  Gegenwart  um  eine 
modernen  Zeitverhältnissen  gerecht  werdende  Stotlwahl.  Wer  sich 
mit  unbefangenem  Blicke  in  das  Studium  der  herrschenden  Lehr- 


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und  Stoffpläne  vertieft,  dem  will  es  scheinen,  als  ob  man  da  und 
dort  geradezu  bemüht  sei,  jeden  Hauch  des  Gegenwartsiebens  von 

der  Schule  fernzuhalten. 

In  der  Tal  macht  sich  in  der  modernen  Schule  hinsichtlich  der 
Sloffwahl  auf  verschiedenen  Gebieten  ein  Chinesentum  breit,  weiches 
weniger  in  einem  unbegreifliciien  laisser  faire  iaisser  aller  seine 
Wurzel  hat  als  in  der  Meinung,  dass  die  Gegenwart  nur  aus  der  Ver- 
gangenheit heraus  verstanden  werden  könne.  Diese  althergebrachte 
Begründung  zu  einer  Hegemonie  der  Verj^anj^cnheitsstoffc  steht  wie 
manche  andere  noch  immer  sorgsam  gehütete  Ansicht  auf  tönernen 
Füssen  und  ist  dadurcn,  dass  man  ihr  allgemeine  Geltung  für  den 
Bereich  der  Schulpädagogik  zuerkannt  hat,  geradezu  verhängnisvoll 
geworden. 

Welcher  Pädagoge  wollte  sich  vermessen,  seine  Schüler  mit  der 

Hoffnung  auf  den  rechten  Erfolg  in  die  Verhältnisse  und  An- 
schauungen vergangener  Zeiten  einzuführen  ohne  den  Massstab,  den 
das  Verständnis  der  Erscheinungen  des  Gegenwartslebens  gewährt? 
Eine  Pädagogik,  welche  allein  dem  Aufsteigen  aus  dem  Dunkel  fern- 
liegender Zeitlaufe  zu  den  lichten  Höhen  der  Gegenwart  die  richtige 
Bahn  erblickt  und  welche  es  darum  verschmäht,  die  Vergangenheit 
unter  dem  Sehwinkel  der  Gcf^enwart  anschauen  und  auffassen  r.u 
lassen,  ist  jene  .,Päda<^oL(ik  auf  Umwegen",  von  der  man  in  unsern 
Tagen  nicht  ohne  Grund  mit  bittrer  Ironie  behauptet: 

Es  wird   lic  Jugend  in  unsrcr  Zeit 
durch  Schulen  nicht  gescheiter; 
die  schlcp|>cn  allein  die  Vergangenheit 
auf  müden  Schultern  weiter. 

Klagt  Otto  Anthes  nicht  mit  volletn  Rechte  darüber,  ,,dass  die- 
Lehrpläiit:  unsrcr  Schulen  von  Vergangenheitsstofifen  strotzen  und 
dass  die  paar  Gegenwartsstoffe,  die  man  in  den  Winkeln  unter« 
gebracht  hat,  von  jenen  schier  zerquetscht  und  vollständig  verfärbt 
werden"  ? 

Tatsächlich  bewegt  sich  in  der  Mehrzah!  clor  hens(^lienden 
Lehrjjlänc  die  Auswahl  der  Stoffe  i;cnau  in  denselben  Grcnzeri  wie 
vor  mehreren  Jahrzehnten.  Nur  liier  und  da  wagen  sich  schüchterne 
Versuche  hervor,  welche  auf  eine  modernen  Verhältnissen  Rechnung 
tragende  Stofifwahl  abzielen,  und  dort,  wo  Gegenwartsstoffe  schon 
Aufnahme  gefunden  haben,  müssen  sie  in  (Icr  Untcrrirhtspraxis  in 
der  Re^el  unbeachtet  zurückstehen  oder  sich  mit  einem  bescheidenen 
Platzchen  im  Hintergrunde  begnügen.  Oft  genug  beschränkt  sich 
cUe  Bezugnahme  auf  ihr  Dasein  auf  blosse  Hinweise,  fem  jeder  ein- 
gehenden untenichtlichen  Verwertung. 

Es  sei  hier  beispielsweise  auf  die  vaterländische  Greschichte 

hingewiesen.  Der  meist  mit  historischer  Strenp^e  inneLTchaltenc, 
lückenlose  Gang  bei  der  Darstellung  der  geschichtlichen  Ereignisse 


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hat  fast  in  der  Regel  zur  Folge,  dass  im  Unterricht  die  grund- 
legenden Ereignisse  der  letzten  Jahrzehnte,  insbesondere  die  Kriegs- 
und Friedcnstaten  der  neuen  deutschen  Kaiser,  nur  kurz  g^cstrcift 
werden,  besonders  dann,  wenn  ihnen  der  Stoffverteilungsplan,  indem 
er  dem  leider  immer  noch  nicht  gebrochenen  Prinzip  der  kon- 
zentrischen Kreise  huldigt,  ihren  Flatz  im  letzten  Monate  des  Schul- 
jahrs anweist  Wie  oft  beschränkt  sieh  unter  solchen  Umstanden 
die  Darbietung  der  neuesten  Zeitereignisse  auf  einen  trockenen, 
dürftigen  Überblick!  Statt  lebensfrischer  Gc<5talten  nur  Schatten! 
Die  Unvernunft  einer  solchen  Stoffwahl  und  Stoffverteilung,  welche 
das  Alte  auf  Kosten  des  Neuen  über  Gebühr  in  den  Vordergrund 
rückt,  welche  die  G^enwart  zugunsten  der  Vergangenheit  ver- 
ächtlich beiseite  schiebt,  tritt  ohne  weiteres  zutage,  wenn  man  daran 
denkt,  wie  ein  «solches  Verfahren  auf  die  lehen^krcäftigen  Apper- 
zeptionshilfen ver/.ichtet.  welche  gerade  inbezut^^  auf  jenen  Hochtfanti; 
der  geschichtlichen  Ereignisse  in  Fülle  zur  V'crlüguiig  stehen.  Man 
muss  es  in  den  Augen  der  eignen  Schüler  gesehen  haben,  wie  die 
Darbietung  tagesge^hichtlicher  Gegenwart  packt,  zündet  Stunden 
inneren  Erlebens  waren  es  für  die  Schüler,  wenn  sie  z.  B.  vor 
wenif^en  Jahren  auf  (iiund  der  eingegangenen  Depeschen  und  der 
Zeitungsnachrichten  täglich  nach  Schluss  des  Unterricht  oder  ge- 
eigneten Orts  auch  innerhalb  einer  Stunde  von  den  Heldentaten 
der  Buren  erzählen  konnten,  oder  wenn  sie  mit  mir  zur  Zeit  der 
chinesischen  Wirren  oder  des  südwestafrikanischen  Feldzugs  den 
Verhuif  der  wichtigsten  Geschehnisse  an  der  Hand  von  Bildern, 
Skizzen  und  Karten  verfolgen  durften. 

Auch  in  den  übrigen  Unterrichtsfädiem  bietet  sich  dem  auf- 
merksamen Schulmanne  jederzeit  Gelegenheit,  zu  erkennen,  wie  das 
lebhafteste  kindliche  Interesse  wachgerufen  wird,  sobald  Kr>"l  cinungen 
und  Tatsachen  aus  der  Fülle  des  Gcf^cnwartslehcns  in  den  Vorder- 
grund gerückt  oder  gar  in  den  Kreis  unterrichtlicher  Betrachtung 
gezogen  werden.  Was  das  Kind  selbst  sieht,  mit  erlebt,  das  darf 
auf  seine  innere  Teilnahme  rechnen,  und  es  wäre  verkehrt,  zu 
glauben,  dass  das  Wunderbare  vergangener  Zeiten  ein  stärkeres 
Tntere<;se  in  ihm  auslöse,  als  das  Reale  der  Gcc^enwart;  denn  oft 
genu^  crgil)t  sich  bei  der  Analyse  des  kindHchen  Vorsteliungs- 
Inhaltes,  dass  Geringfügiges  bei  der  Aufnahme  grosseres  Entgegen- 
kommen gefunden  hat  ab  Tatsachen  von  weittragender  Bedeutung. 

So  erweist  sich  die  Gegenwart  nach  ihrer  räumlichen  und 
zeitlichen  Seite  als  die  sicherste  Basis,  als  der  beste  Xährbodcn  für 
den  Auf-  und  Ausbau  des  kindüchen  (ledankcnkreises ,  als  das 
Stoffzentrum ,  von  dem  aus  der  Unterricht  die  Fäden  nach  der 
Vergangenheit  und  der  Zukunft  spinnen  muss.  Ein  Unterricht, 
welcher  sich  bemüht,  das  Gegenwartsleben  als  Ausgangspunkt  und 
Kraftquelle  anzuerkennen  und  auszunutzen,  darf  von  vornherein  des 
höchsten  Masses  der  Teilnahme  der  Schüler  sicher  sein;  denn 


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ffLeben  zündet  sich  eben  nur  am  Leben  ^  nämlich  an  dem 
modernen  —  an".  Darum  kann  gerade  in  unsem  Tagen,  in  denen 
das  Mass  des  auch  in  der  einfachsten  Schule  zu  behandelnden 
Stoffes  bis  zum  Uberfliessen  ang'eschwollen  ist,  nicht  laut  genug  die 
Forderung  nach  einer  Reform  des  Lehrplans  zum  Zwecke  seiner 
Verjüngung  erhoben  werden,  welche  bei  der  Auswahl  der  Stoffe 
ihr  Netz  vor  allem  in  das  Meer  des  frischen  Gegenwartslebens  wirft 
und  damit  der  Mahnung  gerecht  wird:  „Warum  in  entlegene  Zeiten 
greifen?  Als  wenn  nicht  jede  Gegenwart  ihren  Reichtum  hätte!  — 
Aus  dem  Himmel,  der  über  uns  Lebenden  ist,  muss  der  zündende 
Blitz  fallen;  was  er  beleuchtet,  das  wird  lebendig  für  den,  der  sehen 
katm,  und  läge  es  versteinert  in  dem  tie&ten  Grrabe  der  Vergangen- 
hcit"  (Theodor  Storm,  Psyche). 

Unter  dem  Gesichtspunkte,  dass  das  frisch  pulsierende  Leben 
der  Gegenwart  mit  seinen  tiefen  und  breiten  geistigen  Strömen,  mit 
dem  reichen  Bildungsgehalte  seiner  Kultur  schier  unerschöpfliche 
Mittel  zu  einer  heilsamen  Verjüngung  der  Lehrpläne  zu  gewähren 
vermag,  wollen  die  nachfolgenden  Darlegungen  den  Nachweis  er« 
bringen,  dass  auch  im  deutschen  Sprachunterricht  und  zwar  be- 
sonders  nach  seiner  literarischen  Seite  eine  Umgestaltung  des  Stoff- 
pians  durchaus  notig  und  möfTÜrh  ist. 

Wir  sind  moderne  Menschen  und  sollen  auch  unsere  Schüler 
zur  tätigen  Teilnahme  an  dem  Leben  der  Gegenwart  befähigen. 
Und  wenn  wir  das  emstlich  wollen,  so  muss  es  uns  gelingen, 
Menschen  erziehen  zu  helfen,  die  den  Erscheinungen  und  An- 
forderungen ihrer  Zeit  nicht  fremd  und  ratlos  gegenüberstehen, 
sondern  Freude  daran  finden,  sie  ,.zu  schauen,  zu  gemessen  und 
sich  darin  zu  vertiefen",  sie  zu  erfüllen. 

Was  wäre  aber  besser  geeignet  zur  Befriedigung  der  Geistes- 
und Herzensbedürfnisse  moderner  Menschen  ^  und  das  sind  auch 
unsere  Schüler  — ,  als  der  unerschöpflich  reiche  Schatz  unserer  neu- 
deutschen Dichtung?  Wo  spiegelt  sich  das  moderne  Leben  klarer 
und  vielgestaltiger  ab  als  in  dem  klaren  und  tiefen  Strome  der  zeit- 
genössischen Poesie?  Gibt  es  etwas,  aus  dem  der  heranwachsenden 
Ueneration  der  Pulssdilag  unserer  Zeit  lauter  und  vernehmbarer 
entgegentönt  als  aus  den  poetischen  Schöpfungen  unsrer  Tage,  die 
man  nahezu  den  Erzeugnissen  der  klassischen  Literaturperiode  an 
die  Seite  stellen  kann  ? 

Es  dürfte  zunächst  am  Platze  sein,  Stellung  /u  nehmen  zu  der 
Frage,  ob  denn  die  zeitgenössische  Dichtung  Bildungswerte  enthält, 
welche  der  Erziehung  unserer  Jugend  mit  ^olg  dienstbar  gemacht 
werden  können.  Wer  davon  überzeugt  ist,  dass  die  Dichtung  der 
notwendige  Ausdruck  der  jeweiligen  Kulturbetätigung  ist,  und  auch 
zugibt,  dass  es  Aufgabe  der  Schule  ist,  ihre  unterrichtliche  und 
erziehiicbe  Tätigkeit  nach  allen  Richtungen  hin  so  viel  als  nur 


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möglich  in  stetem  Kontakt  mit  dem  Leben  zu  erhalten»  der  v/ird 
diese  Frage  an  si  !  i  ohne  weiteres  bejahen  müssen. 

Wenn  nach  J.  üiimm  die  Poesie  „nichts  anderes  als  das  Leben 
ist,  gefasst  in  Reinheit  und  j^^chalten  im  Zauber  der  Sj^raclie", 
dann  sind  es  im  weitesten  Sinne  auch  die  Dichtungen  unserer  Tage. 
Man  merkt  es  ihnen  unverkennbar  an,  dass  sie  Schöpfungen  moderner 
Menschen  sind.  Diejenigen  unserer  zeitgenössischen  Dichter,  welche 
für  die  Schule  in  Frage  konunen,  „greifen  nicht  hinauf  in  die  Wolken 
und  Sonnen,  sondern  graben  und  tauchen  hinab"  in  die  Tiefen  des 
Lebens,  der  Seele  und  spiegeln  deutsches  Fühlen  und  Empfinden 
aufs  klarste  wieder.  Ihr  Inhalt  verliert  sich  nicht  in  fremde,  welt- 
ferne Sphären,  sondern  hat  vielmehr  das  voUe  reale  Leben  als  Basis 
und  Hintergrund.  Sie  interpretieren  den  ganzen  Reichtum  der 
Lebensv  nrt^ängc  von  den  grossen,  weltbewegenden  l-.rcignissen  der 
Gegenwart  herab  bis  zu  den  kleinen  Tagesverhäitnissen.  Manchem 
schönen  Gredicbt  merkt  man  es  deutlich  an,  dass  der  moderne 
Dichter  am  Waldesrande  ausser  dem  uralten  Geflüster  der  i^ume 
auch  das  geheimnisvolle  Klingen  windbewegter  Telegraphendrähte 
vernimmt  und  dass  an  Gärten,  die  „überm  Gestein  verwildern",  und 
an  Brunnen,  die  „verschlafen  rauschen",  nicht  mehr  das  Gefährt  des 
Postillous,  sondern  das  hastige  Dampfross  vorüberzieht  Und  indem 
die  Poesie  mit  der  Zeit,  in  der  wir  leben,  die  engste  Fühlung  erstrebt 
hat,  ist  sie  ernster,  mäni  II  I  cr,  gehaltvoller  geworden.  Sie  erhebt 
sich  bei  weitem  über  die  Dichtunj^  vergangener  Jahrzehnte  durch 
die  Wahrheit  in  der  Naturdarsteüung ,  durch  die  Plastik  der 
Scliilderung,  durch  die  psychologische  Vertiefung  der  i'roblcmc 
und  durch  eine  kraftvolle  Phantasie. 

Neben  dem  lebensvollen  Inhalte  ist  es  die  sprachliche  Dar- 
Stellung,  weiche  der  zeitgenössischen  Dichtung  einen  hohen  Bildungs- 
werl verleiht.  Sic  wahrt  sich  Ungezwungenheit  in  der  Diktion  und 
erfreut  durch  farbenfrohe  Malerei.  Unter  Vcr/aciitleistung  auf  die 
Wucht  und  Schwere  des  lateinischen  Prinzips  im  Versmasse  strebt 
sie  nach  klangvoller  Leichtigkeit  und  Frische. 

Da  nun  c'ic  zeitgenössische  Poesie  das  Leben  selbst  ist  im 
Refiex  der  Dichtung  und  da  sie  zu  dem  Besten  gehört,  was  unserer 
Jugend  geboten  werden  kann,  muss  ihren  Erzeugnissen  unbedingt 
dn  berechtigter  Anspruch  auf  Grastrecht  in  unsem  Schulen  zu* 
gestanden  werden. 

Auch  die  Forderung  einer  auf  Anbahnung  des  Kunstvcrständ-  * 
nisses  gerichteten  Krziehung  der  modernen  Jugend,  welche  seit 
einigen  Jahren  mit  so  regem  Eifer  verfochten  wird,  lässt  die  aus- 
gedehnteste Berücksichtigung  der  zeitgenössischen  Diditung  als 
höchst  willkommen  erscheinen.  Die  Poesie  ist  und  bleibt  unter 
allen  Künsten  diejenige,  durch  welche  es  auf  dem  kürzesten  Wege 
ermöglicht  wird,  die  Jugend  Blicke  ins  Land  der  Schönheit  tun  zu 
lassen.     Unmittelbar    tritt  hier  die  Kunst  in  ihrem  den  Geist 


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klärenden,  das  Herz  berückenden  Glänze  an  das  Kind  heran.  Es 
bedarf,  wie  wir  weiterhin  sehen  werden,  im  wesentlichen  nur  einer 

seelenvollen  Darbietung,  verbunden  mit  \  orsichtigcr  Hinwegräumung 
dessen,  was  etwa  dm  Inhalt  versclileiert ,  um  das  Kind  zum 
„freudigen  Schauen ,  Genicssen  und  Vertiefen"  zu  führen.  Die 
Werke  walirer  Poesie  lassen  sich  ohne  Zweifel  viel  unmittelbarer, 
leichter  und  darum  erfolgreicher  in  gangbare  Münze  prägen,  das 
soll  heissen :  zu  verständiger  Auffassung  und  gemütvoller  Aneignung 
bringen  als  die  Schöpfungen  p.ndcrcr  Kunstgebicte.  Wenn  daher 
die  Schule  ihrer  kunsterzieherischen  Aufgabe  ernstlich  gerecht 
werden  will,  kann  sie  gar  nicht  anders,  als  den  Gaben,  welche  uns 
das  moderne  Schrifttum  verliehen  hat,  Tür  und  Tor  so  weit  als  nur 
möglich  zu  öffnen.  Handelt  es  sich  doch  hierbei  um  den  Versuch 
und  das  Bestreben ,  einer  gewissen  Einseitigkeit  in  der  Rctcätigung 
des  literarischen  (leschmacks  weiter  Volk?;srhichtcn  entgegenzutreten. 

Es  ist  näinhch  eine  ebenso  auffällige  als  beklagenswerte  Er- 
scheinung, dass  sowohl  Kinder  als  auch  Erwachsene  aller  Kreise 
ausserordentlich  wenig  Sinn  und  Neigung  für  metrische  Lektüre 
entwickeln,  dass  sie  vielmehr  bei  der  Auswahl  ihres  Lesestoffs  fast 
ausschliessh'ch  nach  Darstellungen  in  ungebundener  Rede  greifen. 
Diese  Walirnehmung  macht  der  Lehrer,  wenn  er  nachforscht,  ob 
.  seine  Schüler  in  ihren  Mussestunden  daheim  am  Lesen  von  Ge- 
dichten Gefallen  finden,  und  zu  dem  gleichen  Ergebnisse  gelangt 
jeder  Verwalter  einer  Volksbücherei,  wenn  er  darauf  achtet,  in 
welchem  Umfange  die  Leser  auch  gereimte  Dichtungswerke  als 
Lektüre  wählen.  Line  Ausnahme  machen  höchstens  lujmoristische 
Dichtungen,  besonders  solche,  welche  in  irgend  einem  Dialekt  ge- 
schrieben sind.  Abgesehen  von  solchen  Gesellschaftskreisen,  denen 
zu  einem  umf rn  len  Genüsse  neuzeitlicher  Dichtungen  in  hin- 
reirhrndcr  Wi  r  Zeit  und  Mittel  zur  Verrügiing  stehen,  ist  bei  der 
lebenden  Generation  und  also  leider  auch  bei  unserer  heran- 
wachsenden Jugend  die  vorstehend  beklagte  Gleichgültigkeit  gegen 
die  metrisdien  Schöpfungen  unserer  neueren  Dichter  ganz  allgemein. 
Soll  es  in  dieser  Beziehung  besser  werden,  so  muss  damit  bei  der 
Jugend  in  ihren  frühesten  Altersstufen  angefangen  werden.  Da  be- 
greiflicherweise unter  den  jetzigen  Verhältnissen  auf  die  Mitarbeit 
des  Elternhauses  nicht  ohne  weiteres  gerechnet  werden  kann,  so 
wird  es  in  erster  Linie  Aufgabe  der  Schule  sein,  in  den  Herzen  der 
ihr  zur  Erziehung  anvertrauten  deutschen  Knaben  und  Mädchen  ein 
lebendiges  und  nachhaltiges  Interesse  für  die  Erzeugnisse  der 
metrischen  Dichtung  der  Neuzeit  zu  wecken  und  zu  pflegen. 

Hier  gilt  es,  das  Eisen  zu  schmieden,  solange  es  warm  ist. 
Wer  unsere  liebe  deutsche  Jugend  kennt,  weiss,  dass  sie  be- 
geisteningsfahig  ist;  deshalb  ist  unter  Voraussetzung  einer  richtigen 
Handhabung  des  Verfahrens  au&  bestimmteste  zu  hoffen,  dass  es 
gefingen  wird,  sie  dahin  zu  bringen,  dass  mit  Freuden  „ihre  Augen 


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trinken,  was  die  Wimper  halt»  von  dem  goldnen  Ubemuse  der 

Welt".  Auf  diesem  Wege  vermag  die  Schule  nach  ihrem  Teile 
dazu  zu  helfen ,  dass  einer  weiteren  einsichtigen  P'ntwicklung  des 
literarischen  Geschmacks  Einhalt  getan,  die  ästhetische  Urteils* 
fiOiijlfkeit  g^ehoben  und  das  LesebedtirfiUs  nach  einer  Richtung 
gelenkt  werde,  nach  welcher  es  sich  bis  jetzt  bedauernawerterweiie 
durchaus  indifferent  verhält. 

Nach  diesen  Erwägungen  über  die  Notwendigkeit  einer  stärkeren 
Berücksichtigung  der  zeitgenössischen  Dichtung  in  der  Schule  möge 
nunmehr  zu  der  Auswahl  des  Stoffes  geschritten  werden. 

Dr.  Jacob  I^ewenberg,  dem  wir  sdber  eine  vortrefflidie  nAua> 
wähl  aus  neueren  deutschen  Dichtern"  verdanken,  weist  in  der 
Vorrede  7\\  derselben  mit  Recht  auf  die  Tatsache  hin,  dass  der 
bei  weitem  grösste  I  eil  unseres  Volkes  seine  poetische  Nahrung 
und  die  Kenntnis  seiner  Dichter  aus  den  in  den  Schulen  ein- 
geführten Lesebüchern  schöpft,  und  klagt  mit  gutem  Grunde  gieidi- 
zeitig  darüber,  dass  seit  einem  Menschenalter  trotz  des  „goldenen 
Überflusses"  der  poetische  Besitzstand  in  den  meisten  I.esebüchern 
fast  unverändert  geblieben  ist.  Und  tatsächlich!  In  falscher  Pietät 
gegenüber  dem  Vergangenen  befangen,  haben  bis  auf  unsere  Tage 
Verfasser  zahlreicher  Lesebücher  an  solchen  poetischen  und  prosa- 
ischen  Stoffen  festgehalten,  welche  nach  ihrem  Inhalte  durch  eine 
neue,  gegen  frühere  Zeiten  veränderte  Denk-  und  Anschamirv^^s weise 
längst  überliolt  sind,  an  Stoften,  lür  welche  in  Her  rtegcnwart  viel- 
fach die  nötigen  Anknüpfungs-  und  Berührungspunkte  kaum  noch 
vorhanden  sind. 

Es  sind  daher  jene  Klagen  wohlberechtigt,  welche  der  preussische 

Ministerialerlass  vom  28.  Februar  1902  laut  werden  lässt,  der  eine 
durchgreifende  Umgestaltung  der  VolksschuUcsebücher  zum  Ziele 
hat.  Es  heisst  in  diesem  Erlasse  unter  anderem:  „Manciie  der 
Bücher  iiihren  einen  beträchtlichen  Ballast  veralteter  Stoffe  mit  sich, 
was  in  der  starken  Abhängigkeit  von  gemeinsamen  älteren  Quellen 
und  in  dem  Mangel  an  eigenem  Forschen  nach  geeigneten  Lese- 
stücken seinen  Grund  hat;  unser  Schrifttum  seit  1870  ist  zu  wenig 
ausgenutzt."  Diesen  Erwägungen  zustimmend,  darf  man  behaupten, 
dass  in  fast  allen  zur  Zeit  gebräuchlichen  Lesebüchern  sich  „wie 
eine  ewige  Krankheit"  Stücke  forterben,  welche  niemals  iür  den 
Jugendunterricht  so  recht  geeignet  gewesen  sind. 

Als  durchaus  unzeitgemäss  muss  es  bezeichnet  werden,  wenn 
in  Lesebüchern,  die  heute  noch  in  mehreren  i^anzen  Provinzen 
Preusscns  und  waiirscheinlich  auch  in  manchen  anderen  Bundes- 
staaten verbreitet  and,  Autoren  wie  Gleim,  Geliert,  Hebd,  Hölty, 
Hey,  Overbeck,  Dieffenbach,  Krummacher  u.  a.  in  einem  Umfange 
vertreten  sind,  der  durchaus  in  keinem  Verhaltnisse  zu  ihrer  heutigen 
Bedeutung  steht  Ein  solches  Lesebuch  —  nomina  sunt  odiosa  — 
bringt  beispielsweise  von  GüU  allein  22,  von  Hebel  21,  von  Hoff- 


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mann  von  Falleisleben  2$,  von  Diefienbach  17  und  von  Hey  gar 
47  Stücke;  auch  der  allerdings  in  die  Gegenwart  hineinreichende 

Julius  Sturm  ist  mit  nicht  weniger  als  26  Proben  vertreten.  Ks  mag 
nun  wohl  zugestanden  werden,  dass  auch  von  diesen  Dichtern 
vereinzelte  Literaturproben  in  einem  modernen  Lesebuche  unter 
Umständen  am  Platze  sein  mögen;  aber  es  steht  ausser  jedem 
Zweifel,  dass  sie  in  der  gerügten  Anzahl  auf  Gastrecht  keinen  An> 
Spruch  haben ,  wenn  eben  nicht  unsere  zeitgenössische  Dichtung' 
zum  unberechenbaren  Schaden  unserer  Jugend  in  den  Winkel  ge- 
drückt werden  soll. 

Eine  ganze  Reihe  älterer  Gedichte  passt  ihrem  Inhalte  nach 
dier  in  das  Gesangbuch  als  in  das  Lesebuch.  Es  sind  dies 
gewisse  Festgedichte  oder  ähnliche  Stücke  rein  religiösen  Inhalts. 
Hierher  gehören  beispielsweise:  „Geh'  aus,  mein  Herz,  und  suche 
Freud'"  von  Paul  Gerhardt,  „Der  Mond  ist  aufgegangen"  von 
Matthias  Claudius,  ,4n  die  Ferne  möcht'  ich  ziehen"  von  Max  von 
Schenkendorf,  „Lasst  mich  gehn"  von  Gustav  Knak,  „O  du 
fröhliche  usw.",  drei  Strophen  von  Job.  Daniel  Falk.  Was  sollen 
sich  die  Schüler  denken  bei  der  letzten  dieser  Strophen,  in  der  es  • 
inbezug  auf  das  Ffingstfest  heisst:  „Christ,  unser  Meister,  heiligt  die 
Geister"  ? ! 

Auch  Gedichten,  welche  auf  gespreiztes  Moralisieren  hinaus« 
laufen  und  demzufolge  für  jede  praktische  Lebenslaufe  ein  wirksames 

Rezept  verschreiben  möchten,  sollte  in  unseren  Lesebüchern  ent- 
schieden das  Gastrecht  cntzoj^en  werden.  In  diese  Katej^^orie  muss 
neben  vielen  Geliertschen  und  Lichtwerschen  Fabeln  z.  B.  das  be- 
kannte Höltysche  Gedicht  „Der  alte  Landmann  an  seinen  Sohn" 
(Ob'  immer  Treu  und  Redlichkeit  — )  gerechnet  werden,  das  man 
nur  in  seiner  ganzen  respektablen  Lcänc^c  zu  lesen  braucht,  um  ein- 
zusehen, dass  CS  iHcht  in  ein  modernes  Schullesebuch  gehört. 

Zu  Nutz  und  Frommen  der  neuzeitlichen  Dichtung  muss  ein 
modernes  Lesebuch  auch  auf  solche  Stücke  verzichten,  welchen  nur 
noch  ein  literar-historischer  Wert  zugestanden  werden  kann,  wie 
beispielsweise  folgende  Dichtungen:  „Johann,  der  muntere  Seifen- 
sieder" von  Hagedorn,  „Das  Habermus"  von  Hebel,  „Das  Lied  vom 
braven  Mann"  von  Bürger  und  vielleicht  auch  „Die  Sonne  bringt 
CS  an  den  Tag"  von  Chamisso. 

Selbst  die  Auswahl  solcher  Dichtungen,  deren  Entstehung  nur 
wenige  Jahrzehnte  zurückliegt,  muss  mit  grosser  Vorsicht  gehand- 
habt werden,  damit  nicht  auch  weiterhin  Gedichte  zur  Aufnahme 
gelangen,  deren  Inhalt  in  den  Empfindungen  des  Kindesherzens 
keinerlei  Anknüpfungspunkte  und  darum  auch  nur  geringes  Interesse 
findet,  wie  etwa  das  im  höchsten  Grade  pessimistisch  angehaudite 
„Lied  eines  Armeti"  von  Uhland  oder  „Das  alte  Haus"  von  Friedrich 
Hebbel.  Meines  Krachtens  gehört  das  zuletzt  f^enannte  Gedicht 
ebensowenig  in   die  Schule  als  das  bekannte  Rückertsche  Lied 

PtdafOfteob«  Studien.  XXIX.  3.  14 


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—     210  — 


,  Au-  der  Jugendzeit".    Schülern,  welche  nodi  das  Glüdc  der 

goldenen  Jugend  in  vollen  Zügen  genies!>en,  ohne  sich  des  unwider- 
bringlichen Zaubers  derselben  bewusst  zu  werden,  die  wehmuts\  olle 
Rückerinncrung  des  gereiften  Mannes  imputieren  zu  wollen,  hicsse 
doch  nichts  anderes,  als  Blinden  von  der  Farbe  pre<%en. 

Als  ein  weiterer  Bdag  daför,  wie  sorglos  bisweilen  bei  der 

Auswahl  von  Literaturproben  vorgegangen  wird,  diene  der  Hinwds 

auf  ein  Gedichtchen  von  Hoffmann  von  Fallersleben ,  welches  'n 
vielen  Volksschullesebüchern  Aufnahme  gefunden  hat.  Es  hat  unter 
der  Überschrift  „Klage  der  Vöglein"  folgenden  Wortlaut: 

I.  Wie  war  so  schön  doch  Wald  und  Keldl 
Wie  i&t  SU  traurig  jetzt  die  Welt! 
Hin  ist  die  schöne  Sommerzeit, 
und  nach  der  Freude  kommt  das  Leid, 

3.  Wir  wussten  nichts  von  Ungemach; 
wir  sassco  noterm  Lattbesdach 
veiipillCt  «od  froh  beim  Sooneuchein 
und  nagen  in  die  Wdl  hinein. 

3.  Wir  armen  Vöf;l<'in  irauoni  sehr, 
wir  haben  keine  Heimat  mehr. 
Wir  mlliten  jetzt  von  hinnen  fliehn 
nnd  in  die  weite  Fremde  zielio  l 

Wird  nicht  der  Lehrer  bei  der  Verwertung  dieses  Gedichtchens 
mit  der  Wirklichkeit  in  argen  Widerspruch  geratend  Beim  Abzüge 

der  Vögel,  der  doch  schon  im  August  oder  spätestens  im  September 
erfolgt,  ist  die  Welt  durchaus  nicht  „traurif:^",  der  Sommer  noch 
lange  nicht  „hin".  Noch  herrscht  der  wärmste  Sonnenschein  und 
Überfluss  an  Futter.  Von  einer  Trauer  und  Heimatlosigkeit  armer 
Vöglein  kann  zu  dieser  Zeit  gar  nicht  die  Rede  sein;  Ursache  zur 
Klage  haben  höchstens  die  bei  uns  überwinternden  Vögel,  die  der 
Dichter  jedoch  nicht  im  Auge  hat. 

An  solchen  an  innerer  Unwahrheit  leidenden  Gedichten  ist  in 
den  zur  Zeit  gebräuchlichen  Lesebüchern  kein  Mangel  Sie  dürfen 
der  Jugend  nicht  dargeboten  werden. 

So  viel  zunächst  über  einen  Teil  des  gegenwärtigen  poetischen 
Besitzstandes  unserer  Lesebücher.  Wie  viele  verwdkte  statt  tau> 
frischer  Blumen  aus  dem  Garten  der  Schönheit l  Wenn  nun  auch 
schon  wenigstens  für  Preusscn  infol.^e  des  erwähnten  Ministerial- 
erlasses  Ansätze  zu  einer  Besserung  dieser  Verhältnisse  vorhanden 
sind,  indem  die  bereits  vorliegenden  Lesebuchumarbeitungen  einen 
den  Forderungen  unserer  Zeit  einigennassen  angemessenen  literar- 
ästhetischen  Inhalt  aufweisen,  so  werden  doch  noch  Jahre,  vielleicht 
gar  Jahrzehnte  vergehen,  ehe  die  heranwachsende  Generation  zu 
einem  möglichst  umfassenden  Genüsse  kommt,  wenn  nicht  die 
Lehrerschaft,   selbst  erfüllt  und  überzeugt  von  der  strahlenden 


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—    211  — 


Schönheit  der  zeitgenössischen  Dichtung,  eifrig  bestrebt  ist,  ihr  den 
Weg  sowohl  in  die  Häuser  des  Wohlstandes  süs  auch  in  die  Hütten 

der  Armut  zu  bahnen. 

Je  sorgfaltiger  bei  der  Auswahl  der  aus  der  neudeutschen 
Dichtung  zum  Schulgebraucb  herüberzunehmenden  Stücke  verfahren 
wird,  desto  leichter  wird  das  Ziel  wenigstens  annähernd  erreicht 
werden.  Die  nachfolgenden  Zeilen  wollen  für  diese  Auswahl  einige 
Fingerzeif^e  hirten. 

NicliL  auib  ücriitcwohl  darf  beim  Suchen  zugegriffen  werden. 
Vorsicht  und  scharfe  Kritik  sind  um  so  mehr  am  Platze,  als  der 
Stoff  von  allen  Seiten  in  Fülle  herzuströmt. 

Bei  der  Beurteilung  der  Aufnahmefähigkeit  eines  Gedichts 
dürfen  auf  keinen  Fall  zunäch<^t  Nel)en7.\vecke  in  die  VVaf^schalc 
fallen.  Solche  Nebenzwecke  fassen  diejenigen  ins  Auge,  weiche  bei 
der  Auswahl  der  poetischen  Stoffe  vor  allem  darauf  sehen,  ob  sich 
aus  den  au&unehmenden  Gedichten  „etwas  machen  lasst".  Wer 
dieses  Moment  als  ausschlaggebend  betrachtet,  der  vergisst  es  zum 
Schaden  der  Sache,  dass  Gedichte  in  erster  Linie  erfreuen  und 
erheben  sollen  und  entweder  überhaupt  nicht  oder  doch  erst  an 
letzter  Stelle  belehren,  warnen,  ermahnen,  also  das  Willensleben 
unmittelbar  beeinflussen  wollen.  Wirkliche  Dichtungen  sind  eben 
Kunstwerke  und  dürfen  unter  keinem  andern  Gesicluspunkte  be- 
trachtet werden  als  Werke  der  Malerei  oder  der  bildenden  Kunst. 

Wer  die  Qualität  eines  Gedichts  /.unäclist  oder  bloss  nach 
seinem  Inhalte  beurteilt,  legt  einen  veralteten  Massstab  an.  „Hin 
Gedicht  kann  den  höchsten  Wert  haben»  wenn  sein  Inhalt  religiös 
oder  patriotisch  ist ;  aber  es  hat  ihn  ni<^t  deshalb,  weil  es  religiös 
oder  patriotisch  ist."  Auch  soi^en.  , zwecklose"  Gedichte,  d.  1..  solche, 
welchen  jede  Absicht,  zu  unterrichten,  zu  belehren,  zu  cr/.ieiien,  fern 
liegt,  erfreuen,  erheben,  ergreifen  das  Gemüt  Gerade  an  derartigen 
Poesien  ist  die  zeitgenössische  Dichtung  ausserordentlich  reich. 

Es  ist  also  vor  allem  die  rein  künstlerische  Bewertung,  welche 
bei  der  Auswahl  der  Gedichte  den  leitenden  Gesichtspunkt  bilden 
soll  Gedichte,  welche  in  allen  oder  auch  nur  in  einzelnen  Teilen 
gehaltlose  Reimereien  darstellen,  wirken  nicht  Sic  „haben  kein 
hochzeitliches  Kleid  an"  und  gleichen  in  ihrem  Werte  jenen  Farben» 
klexereien,  mit  welchen  jedes  Kunstverständnisses  bare  Leute  die 
Wände  ihrer  Räume  „schmücken"  wollen. 

Spielen  so  einerseits  bei  der  Auswahl  ästhetische  Fragen  eine 
wichtige  Rolle,  so  dürfen  auf  der  andern  Seite  doch  auch  die 
Forderungen  der  Pädagogik  nicht  ausser  acht  gelassen  werden. 

Freudenberg  weist  in  der  Vonrede  zu  seiner  Sammlung  deutscher 
Gedichte  „Was  der  Jugend  gefällt"  nachdrücklich  darauf  hin,  dass 
sicti  in  einem  Kinderkopfe  die  Welt  nun  einmal  anders  malt  als 
hinter  der  Stirn  des  Grossen.  Dies  treffende  Wort  mag  bei  der 
Auswahl  von  Litcraturproben  aus  neuer  und  neuester  Zeit  für  die 


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Schule  dem  Lehrer  ein  Anlass  sein,  im  wesentlichen  nur  solche 
Dichter  und  Dichtungen  zu  berücksichtigen,  welche  nacli  Mö^^dichkeit 
der  Forderung  der  „Kindertümiichkeit"  gerecht  \s-erden,  indem  sie 
nach  ihrem  Inhalte  der  kindlichen  Lebens*  und  Gedankensphäre 
entsprechen. 

Zu  diesem  Zwecke  muss  in  umfassendster  Weise  auf  das 
apperzipierende  Vorstellungsmaterial,  welches  das  Kind  durch  Um- 
gang und  Erfahrung,  durch  Anschauung  und  Unterricht  gewonnen 
hat,  Bedacht  genommen  werden.  Aus  diesem  Grunde  werden  bei- 
spielswetse  brandenburgisdie  Sdiulen  unter  anderen  besonders  die 
Dichtungen  eines  Fontane  verwerten,  die  Schule  in  Heide-  und 
Moorgegenden  die  eines  Allmers  und  einer  Droste  -  HülshoflT  be- 
sonders berücksichtigen,  wit-  für  die  Schuljugend  in  der  Nähe  der 
Meeresküste  solche  Gedichte,  in  weichen  sich  die  Leiden  und 
Freuden  des  Strandbewohners  wiederspiegeln,  in  den  Vordersprund 
u  rücken  sind.  Gerade  solche  Dichtungen,  welche  nach  ihrem 
Inhalte,  vielleicht  auch  nach  ihrer  Sprache  ein  heimatliches  Gewand 
tragen,  werden  im  Geiste  und  Gemüte  des  Kindes  Anknüpfung* 
punkte  von  bedeutender  Stärke  linden. 

Bei  der  Auswahl  des  Stoffes  darf  auch  nicht  vergessen  werden, 
dass  die  Fähigkeiten  des  Kindes  eine  Grenze  haben,  die  nicht  un< 
gestraft  überschritten  werden  darf.  Daher  muss  auf  Gedichte, 
welche  nach  Inhalt  und  Ausdruck  jenseits  der  Krfahrungs-  und 
Verständnisgrenze  der  Schüler  liegen,  ohne  weiteres  verzichtet 
werden.  Aus  diesem  Grunde  können  im  Stofiplan  der  mittleren 
und  niederen  Schulen  poetische  Schöpfungen  wie  etwa  solche  von 
Friedrich  Nietzsciie,  Hugo  von  Hoffmannsthal ,  Stefan  George, 
Maximilip.n  Dauthendey,  Alfred  Mombert  u.  a. ,  ebenso  viele  von 
Arno  liülz  und  Richard  Dehmel  überhaupt  keine  Stelle  finden. 

Im  allgemeinen  ist  die  Zulassung  oder  Ablehnung  eines  Ge- 
dichts natürlich  ganz  und  gar  von  der  Art  und  dem  Standpunkte 
einer  Klasse  bezw.  Schule  abhängig.  Wenn  so  die  Stoffwahl  unter 
sorg^faltigster  Abwägung  des  Kunstwertes  und  der  Kindertümiichkeit 
und  unter  iierücksichtit^unL;  der  V^erständnissphäre  der  Jugend  erfolgt» 
dann  werden  von  selbst  solche  Stoffe  femgehalten,  die  sich  in  der 
unterrichtüchen  Praxis  als  die  sogen,  crux  interpretum,  als  das  Kreuz 
der  Au5l^;ung  erweisen.  Zweier  derartiger  Gedichte  wurde  bereits 
weiter  oben  Erwähnung  getan;  es  sei  aber  hier  beispielsweise  noch 
auf  folgende  hingewiesen:  „Die  Worte  des  Glaubens"  und 
„Hottnung"  von  Schiller,  „Sehnen"  von  Heine  und  „Muttersprache" 
von  Schenkendorf. 

Dem  Lehrer,  dessen  Aufgabe  es  ist,  die  Jugend  in  die  Schön- 
heit und  hülle  der  zeitgenössischen  Dichtung  einz.uführcn,  muss  bei 
der  Auswalil  des  Stoffes  die  nötige  Bewegung' ^frci heil,  die  unerläss- 
liehe  Vorbedingung  jedes  Gegenwartsunterriclits,  durchaus  gewahrt 
bleiben.   Zwar  werden  im  Stofif-  und  Lehrplan  diejenigen  Gedichte 


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namentlich  bezeichnet  werden  müssen,  deren  unterrichtliche  Dar* 
bietujig  und  Verwertung  verbindKdi  ist;  im  übrigen  wird  man  aber 
dem  Lehrer  zutrauen  dürfen,  dass  er  mit  feinem  Takte  und  tiefem 

Verständnis  nach  Massgabc  der  Zeit  und  des  geistigen  Standpunkts 
seiner  Schüler  der  Kette  dieser  Gedichte  weitere  Perlen  der  neueren 

Poesie  zufüj;ft. 

Bei  der  Beantwortung  der  Frage,  woher  die  darzubietenden 
Dichtungen  zu  nehmen  seien,  sei  vorweg  bemerkt,  dass  man  nicht 
erwarten  oder  verlangen  soll,  dass  das  eingeführte  Lesebuch  das 

erforderliche  Material  in  hinreichender  oder  gar  erschöpfender  FüUc 
cnthahen  mög;e.  Das  T.esf^lvich  <]icnt  auch  noch  anderen  Zwecken 
als  bloss  dem  schöngeistigen,  und  ihm  ein  rein  literarisches  Gepräge 
zu  geben,  wäre  unter  den  obwaltenden  Verhältnissen  nicht  ratsam 
und  aus  mannigfachen  Gründen  auch  untunlich.  Auf  die  aus- 
schliessliche  Hilfe  des  Lesebuchs,  welches  selbstverständlich  neben 
den  durch  ihren  tiefen  Gehalt  und  die  sprachliche  Schönheit  un- 
sterblichen Werken  eines  Goethe,  Schiller,  Arndt,  Körner,  Uhland  usw., 
die  auch  in  Zukunft  im  Mittelpunkte  des  literarischen  Deutsch- 
unterrichts Stehen  müssen,  auch  die  schönsten  Perlen  der  zeit« 
genösaschen  Dichtung  in  mi^Vchst  reicher  Zahl  enthalten  muss» 
kann  um  so  leichter  verzichtet  werden,  weil  es  nicht  an  ergiebigen 
Quellen  fehlt,  die  sowohl  dem  Lehrer  als  auch  seinen  Schülern 
leicht  ziigäni^lich  sind. 

Durchdrungen  von  der  Notwendigkeit ,  Möglichkeit  und  Kr- 
spriesslichkcit  einer  stärkeren  Berücksichtigung  der  zeitgenössischen 
Dichtung  im  Unterrichte  haben  Dichter  und  Schulmänner  die 
schönsten  Blumen  aus  dem  Garten  der  modernen  Poesie  gesammdt 
und  zu  Sträussen  p^ewunden,  um  .sie  dem  deutschen  Volke  und 
seinen  Bildungsanstaltcn  zu  „freudigem  Schauen  und  Geniessen"  dar- 
zubieten. Es  sei  zur  Förderung  dessen,  wa.s  wir  zum  Segen  der 
Jugend  erstreben,  auf  folgende  Sammlungen  hingewiesen: 

1.  Schulrat  Dr.  K.  Lange,  Dichterstimmen  aus  neuerer  und 
neuester  2<eit  Anhang  zu  dem  Leaebuche  von  Jütting  imd 
Weber  und  anderen  Lesebüchern.   Leipzig,  Julius  Klinlmardt. 

0,10  M. 

2.  Rektor  .Au<^ri*;t  T.omberp.  .Auswahl  neuerer  Gedirlite  Beyer 
und  Söhne,  Langensalza.  0,20  M.  (Hierzu  als  Lrlauterungs- 
werk  Heft  VI  der  „Pmparationen  zu  deutschen  Gedichten" 
von  Lomberg  aus  demselben  Verlage.) 

3.  Dr.  Jacob  Loewenberg,  Vom  goldnen  Überfluss.  Leipzig, 
Voigtländer.    Gbd.  r,6o  M. 

4.  Alwin  Freudenberg,  Was  der  Jugend  gefallt.  Deutsche  Ge- 
dichte aus  neuerer  und  neuester  Zeit  Mit  Bildern  und  Buch- 
schmuck.    Alexander  Köhler,  Dresden.    Gbd.  1,60  M. 

5.  Rektor  Richard  Lange,  Dichtergaben.  Ein  Lesebuch  für 


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die  Obei-stufe  mehi klassiger  Volksschulen  und  iui  Üurgcr- 
und  Mittelschulen.   Leipzig,  Dürr.    Gbd.  2  M. 

6.  Dr.  Ernst  Wasserzieher,  Deutsche  Lyrik  seit  dem  Ausgange 
der  klassischen  Zeit  bis  zur  Gegenwart   Leipzig,  Max  Hesse. 

Gbd.  1,50  M. 

7.  Hans  Bethge,  Deutsche  Lyrik  seit  Liüencron.    Leipzig,  Max 
Hesse.   Kart  1,80  M. 

S.  Rektor  Joh.  Meyer,  Spiegel  neudeutscfaer  Dichtung.  Leipzig, 
Dürr.    Gbd.  3  M. 

9.  Maximilian  Bern,  Deutsche  Lyrik  seit  Goethes  Tode.  Leipzig, 

Reclam.  Gbd.  1,50  M. 
la  Scfaulinspektor  Karl  Friedrich  Linke,  Poesiestunden.  Dk; 
deutsche  Dichtung  von  den  Sängern  der  Freiheitskriege  bis 
zur  Gegenwart.  Zu  freudigem  Schauen,  Geniessen  und 
Vertiefen.  (130  Dichter  mit  über  450  Dichtungen,  zugleich 
Präparat ioiis werk.)  Hannover  u.  Berlin,  Carl  Meyer  (Gustav 
Prior).    Geh.  6,50  M. 

11.  Ferdinand  Avenarius,  Hausbuch  deutscher  Lyrik.  München, 
Call  W  ey.    Gbd.  J  M. 

12.  Ferdinand  Gregori,  Lyrische  Andachten.    Leipzig,  Hesse. 
1,80  M. 

13.  Vespers,  Die  Ernte.    Braiid-Langewiesche,  Düsseldorf  1907. 

14.  Hans  Benzmann,  Moderne  Lyrik.   Leipzig,  Reclam.   1,50  M. 

15.  Aus  Münchs  Hausschatz,  Deutsche  Dichtung  der  Neuzeit 

Band  1.    Charlottcnbur"^,  Richard  Münch  1907. 

16.  Neuer  deutscher  Balladenschatz.   Berlin  1907,  August  Scherl 
Kart.  2.  i\l 

17.  Balladenbuch   der  deutschen   Dichter  •  Gedächtnisstiftung. 

Hamburg^-Grossborstel  1905. 

Die  \orbczeichiieteii  .Xntholoi^icn  befriedigen  durch  die  in  ihnen 
dar^^eboli-ncii  Literatuqiroben  auch  die  weitgehendsten  Bedürfnisse 
aller  niederen  und  mittleren  Schulen. 

Natürlich  darf  der  Lehrer  nicht  daran  denken  wollen,  den  ge« 
samten  Inhalt  eines  oder  mehrerer  dieser  Bücher  ohne  vorauf- 
gegangene Sichtung  wahllos  im  Unterricht  zu  verwerten.  Es  wird 
vielmehr  darauf  ankommen,  dass  er  unter  Rückf^ichtnahme  auf  den 
geistigen  Standpunkt,  den  Erfahrungskreis  und  das  Interesse  seiner 
eigenen  Schüler  und  nach  Massgabe  der  verfugbaren  Zeit  diejenigen 
Dichtungen  auswählt,  deren  unterrichtliche  Behandlung  ihm  be- 
sonders wirkungsvoll  und  erspriesslich  erscheint.  Am  besten  und 
zweckmässijTstcn  ist  es,  wenn  der  Lehrplan  der  Schule  die  Richt- 
linien für  die  Stichwahl  gibt  und,  wie  schon  erwähnt  ist,  einige 
Gedichte  aus  neuerer  und  neuester  Zeit,  welche  neben  denen  aus 
früheren  Literaturperioden  unbedingt  zur  Behandlung  gelangen 
müssen,  genau  bezeichnet  und  nach  Klassen  verteilt  Au%kbe  des 
Lehrenden  wird  es  sein,  ausserhalb  dieses  „eisernen  Bestandes",  der 


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—   215  — 


übrigens  auf  ein  geringes  Mass  zu  beschränken  ist,  unter  Berück- 
sichtigung aller  massgebenden  Faktoren  eine  weitergehende  Aus- 
wahl zu  treffen,  um  den  Forderungen  der  Gregenwart  an  den  lite- 
rarischen  Deutschunterricht  nach  Kiwtcn  zu  genügen.   Es  wird  dem 

Lehrer  hierbei  sehr  wohl  möglich  sein,  auch  seinem  persönlichen 
Kunstempfinden  Raum  zu  gewähren  und  Ausdruck  zu  geben. 

Schluss  folgt. 


IV. 

Neue  Rechenmethode,  gegründet  auf  das  natürliche  Werden 

der  Zahlen  und  dee  Rechnene. 

Voo  Dr.  L  Wllk-Goduu 
SeUnn. 

IT. 

Lekrplo  fir  das  I.  Sduiljahr. 

a)  Die  Zahlen  1—4. 

Die  allermeisten  Kinder  bringen  die  Fähigkeit,  die  Zahlmoniente 
sichtbarer  Dinge  momentan  zu  bestimmen ,  mit  in  die  Schule, 
höchstens  bei  der  4  hapert  es  hie  und  da.  Der  Lehrer  hat  sich 
von  dem  Können  zu  überzeugen  und  durch  fortgesetzte  Übung  die 
Klasse  gleichmässig  zu  machen. 

"  I.  Momentane  Bestimmung  (also  ohne  Zählen)  der  Zahlmomente 
von  2,  I,  3,  4  Dingen  auf  Grund  von  Empfindung^en  (Sehen,  Hören, 
Tasten).  Etwa,  wie  folgt :  Wieviel  Augen  habe  ich  ?  Hier  ein  Auge, 
da  ein  Auge  (zeigen!):  zwei  Augen.  Was  kommt  am  Körper  auch 
noch  zweimal  vor? 

Was  ist  am  Körper  nur  einmal  vorhanden?  I  Mund  usw. 
W'elche  Gegenstände  sind  in  der  Stube  einmal  oder  zweimal  vor- 
handen?   Ein  Tisch,  zwei  Stühle  usw. 

Wievielmal  habe  ich  geklopft? 

Ebenso  Gegenstände,  welche  in  der  Stube  dreimal  und  vier- 
mal vorkommen. 

Dann  alles  durcheinander  mittels  bestimmter  Fragen  des  Lehrers: 
z.  B.  wieviel  Fenster  hat  die  Stube?  Drei  Fenster:  hier  eins,  da 
eins,  dort  eins  (immer  zeigen  1)  usw. 

2.  Einführung  der  Rechenmaschine: 

Stelle  soviel  Kugeln  auf,  wie  du  Augen  hastl  zwei  Augen,  zwei 
Kugeln.   Ebenso  die  übrigen  21ahlen.  Jetzt  werden  auch  nicht  an- 


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wesende  Dinge  durch  Kugeln  ersetzt,  so  dass  ihr  Zahlmoment 
sichtbar  wird.    Z.  R.  Stelle  soviel  Kugeln,  als  du  Eltern  hast: 

Vater,  Mutter,  zwei  Eltern,  zwei  Kugeln, 

Die  Anordnung  der  Dinge  im  Räume  wird  dabei  zunächst  noch 
gewahrt:  Bei  den  Tischbeinen  werden  die  4  Kugeln  in  Form  eines 
Quadrates,  bei  den  Beinen  des  Pferdes  in  Form  eines  Rechtecks, 
bei  den  Kindern  der  vieratzigen  Schulbank  in  gerader  Linie  ge- 
ordnet« 

3.  Abstraktion.  Die  Zahlen  2 — 4  an  der  Rechenmaschine  in 
allen  möglichen  Formen  zcip^en,  so  dass  die  q^eo metrische  Gestalt 
des  Zahlenbildes  durch  Hemmung  aus  dem  Begriffe  der  Zahl  aus- 
fallt Jetzt  wird  auch  nur  noch  gesagt:  das  ist  die  i,  die  2  usw.; 
und  noch  kürzer:  i,  2,  3,  4  (das  Wort  Kugeki  wird  weggelassen). 
Von  jetzt  ab  werden  die  Kugehi  nur  noch  in  geradliniger  Reihe 
gestellt. 

4.  Die  Einfuhrung  der  Finger.  Die  Renutzung  beginnt  mit 
dem  kleinen  Finger  der  Unken  Hand  und  endigt  mit  dem  kleinen 
der  rechten.  Die  Hand  wuxl  dabei  auf  den  Rand  der  Bank  gelegt, 
die  gebrauchten  Finger  über  die  Platte,  der  Rest  darunter.  Der 
Lehrer,  welcher  vor  den  Schülern  stehend  in  entc^ec^engesetzter 
Richtung  sieht ,  hebt  natürlich  die  Finger  in  umgekehrter  Reihen- 
folge, wenn  er  es  vormachen  will,  mit  dem  kleinen  Finger  der 
rechten  Hand  beginnend. 

Lege  2,  4,  3>  I  Fingerl  oder  die  3,  i,  4,  3. 

5.  Das  Hinzufugen  und  Wegnehmen  der  i. 

a)  Ableitung  der  additiven  Beziehungen  i  -f-  i;  2  -j-  I;  3+1 

in  Begleitung  von  Kugeln  oder  Fingern  zuerst  in  ihrer  Rolle  als 
Vertreter  von  Dingen  (also  zuerst  Sachaufgnben) ,  dann  abstrakte 
Kmubang,  möglichst  bald  auch  durch«,  inander.  Nun  erst  der  Auf- 
bau der  Zahlenreihe  I — ^4,  etwa  wie  folgt: 

Lehrer:  Lege  1  Finger  (i  Kugel);  Kinder:  „i  Finger", 
„      noch  einen  dazu;  „      „2  Finger" 

usw.  usw. 

Legt  und  sagt  das  der  Reihe  nach  noch  einmal:  „i  Finger, 
2  Finger.  3  Finger,  4  Finger";  abstrakt;  „l,  2,  3,  4".   Einübung  des 

Zaiilens  bis  4- 

b)  Ableitung  der  subtraktiven  Beziehungen:  4 —  i,  3  —  f,2  —  i, 

ganz  analog  der  Entwicklung  der  additiven,  so  dass  zum  Schluss 
die  Reihe  4,  3,  2,  i  entsteht   Aufwärts«,  Abwärtszählen.  Zählen 

von  Dinggruppen. 

6.  Das  I  ün- iilViL;(  n  und  Wegnehmen  der  2. 

a)  1  ^-  - .  -      -  (mit  Fingern  und  Kugeln), 

b)  4  —  2 ;  3  —  2  (  „        „         „        „  ). 

Bemerkung:  Nur  das  Ilinznftgen  tmd  Wegoebmen  der  l  wird  jetzt  Mhon  ohne 
Uilfinnittel  gefordert.  Bei  den  Übrigen  Zahlen  worden  so  Innge  die  Finger  tarn  Rechnen 


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—    217  — 


benutst,  bw  die  betr^nden  Rd«tioaen  von  «elbtt  tich  dem  Gedlebtots  eingeprägt 

haben.  Bei  dem  einen  Kinde  wird  d;\s  früher,  bei  dem  anderen  spater  ^eschthen;  das 
eine  rechnet  daher  aus  dem  Kopfe,  das  andere  an  den  Fingern.  Diese  Bemerkung  gilt 
ftr  ailei  Folgeade, 

7.  Das  Hinzufögca  und  Wegnehmen  der  3. 
a)  I  +3;  b)  4  — 3. 

Übung  über  alle  Au%aben  aus  Abschnitt  5 — ^  durcheinander. 

8.  Das  Unterschiedsuchen:  Wieviel  ist  3  grösser  (mehr)  als  2, 
kleiner  (weniger)  als  4?  Die  beiden  zu  vergleichenden  Zahlen 
werden  am  Apparat  vor  Au^jen  gestellt,  die  eine  auf  dem  oberen 
Draht,  die  andere  auf  dem  unteren. 

Das  Untcrschicdsuchcn  wird  schliesslich  auch  in  folgender  Form 
geübt:  Legt  2  Finger;  wieviele  muss  ich  zufiigen,  dass  es  4  Finger 
werden?  oder:  Legt  3  Finger;  wieviele  muss  ich  wegnehmen,  dass 
nur  I  Finger  liegen  bleibt  ?  Ahnliche  Au%aben  auch  abstrakt»  aber 
immer  mit  Hilfe  der  Finder. 

Das  Untersciiiedsuchen  wird  ausgedehnt  auf  den  Inhalt  der 

Abschnitte  5 — 7. 

Zahlenschreiben:  |,  ||,  |||,  ||||  (einfache  Striche  ohne  ab- 
schliessende Querstriche). 

Schnltiiche  Aufgaben  in  der  Form : 

1  +  1  =  11  oder  IUI- 111  =  1. 

10.  Sachaufgaben  (ab  Anwendung)  über  Gegenstände  des  kind- 
lichen Gebrauchs. 

Das  Geld :  Pfennige,  Zweier.  Gestalt,  Farbe,  Grösse  und  Dicke 
zueinander.  Geldwechseln:  Hier  hast  du  einen  Zweier,  gib  mir 
dafür  Pfennige,  i  Zweier  ist  soviel  wert  wie  2  Pfennige,  ob  du 
dem  Kaufmanne  zwei  Pfennige  gibst  oder  einen  Zweier,  ist  einerleL 

1  Zweier  =  2  Pfennige. 

Du  hast  ein  Dreiersbrötchen  zu  bezahlea  Bezahle  es  n^t 
Pfennigen;  bezahle  es  mit  Zweiem  und  Pfennigen.  Also:  ein  Zweier 
und  dl  Pfennig  =  drei  Pfennige.    Wieviel  Pfennige  sind  aber 

2  Zweier?  usw. 

Jedes  Kind  muss  die  Geldstücke  in  die  Hand  bekommen  und 
einzelne  solcher  Zahlungen  ausfuhren. 

b)  Die  5. 

I.  Wie. ici  einzelne  Blätter  hat  dieses  Blatt  (wilder  Wein,  auch 
einzelne  Kastanienbiätter)  ? 

BemerlcDsg:  Wenn  xaflUlii;  ein  Gegemtand  flinfinal  in  der  Stabe  TOiltonnnt,  kann 

auch  diese  Gruppe  als  Ausgangspunkt  bcnnt/t  werden.  Vielleicht  auch  5  Schieferstifte, 
Schiefeitafeln  usw.  Von  den  5  Fingern  der  Hand  auszugeben,  würde  ich  venneiden, 
vdl.Yide  Kinder  Mhon  aonrend^  trisMB,  dut  die  Hud  5  Finger  hat»  olwe  daw  aie 
«■  Kcbt  bcgiiAsn  haben,  «dl  sie  eben  mir  vorgeingte  Worte  gelernt  bähen. 


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—    2l8  — 


Die  ersten  4  Blatter  werden  durch  Zählen  oder  momentan 
festgestellt;  dann  noch  i  Blatt  Also: 

4  Blatter  und  i  Blatt;  das  nennen  wir  5  Blatter.  Demnach 
4  Blatter  +  i  Blatt  =  5  Blätter. 

2.  Ersetjren  der  Blätter  oder  der  anderen  Gegenstande  durch 

die  Kugeln,  durch  die  Fiiij^er. 

Auswendig:  Die  Hand  hat  5  Fin^ci. 

Andere  Gegenstandsgruppen  mit  dem  Zahlmoment  5,  für  jeden 
Gegenstand  i  Finger  gelegt. 


4.  Die  Reihe  der  Addition  der  i  erweitert  bis  5.   Also  i  -)-  i ; 

2+1:  3-ri;4+i;  kurz:  l,  2,  3,  4.  5. 

Rückwärts;  S  —  4  —  l;  3  —  i;2  —  l;  kurz  S,  4,  3,  2,  I. 
Durcheinander! 

5.  Das  Hinzulugen  und  Wegnehmen  der  2. 

a)  I  +  2;  2  +  2;  3  +  2. 

b)  5  —  2;  4  —  2;  3  —  2. 

6.  Das  Hinzufügen  und  Wegnehmen  der  3. 

a)  I  +2;  2  +  3. 

b)  5      3  ;  4  —  3. 

7.  Das  Hinzufügen  und  Wegnehmen  der  4. 
a)  I  H-  4;  b)  5  —  4, 

Übungen  ausser  der  Reihe. 

8.  Das  Unterschiedsuchen  auf  den  Inhalt  von  4  —  7  ausgedehnt 

9.  Schriftliche  Aufgaben. 

IG.  Anwendung  auf  Sachen.  Insbesondere  der  Fünfer  oder 
das  Fünfpfennig^Stück.   Geldwechseln.  Einkaufen  und  Bezahlen. 

Bemerkungen: 

a)  Hier  kann  nunmehr  auch  das  „Nichts"  hinzugenommen 
werden.    Fs  erscheint  als  l  —  i ;  2  —  2;  3  —  3 ;  4  —  4;  5  —  5. 

b)  Die  5  wird  von  jetzt  ab  als  Einheit  aufgefasst,  wenn  kein 
besonderer  Grrund  vorliegt,  sie  in  ihre  Vielheit  zu  zerlegen.  Beim 
Fingerrechnen  bildet  die  Hand  die  Einheit,  beim  Kugehrechnen  wird 
sie  dadurch  angedeutet,  dass  die  Kugeln  ohne  Zwischenräume  gesetzt 
werden.  Sobald  also  die  Hand  [gezeigt  wird  oder  die  Kuf];eln  ohne 
Zwischenräume  erscheinen,  so  weiss  das  Kind,  dass  die  5  gesetzt 
ist  Eine  Nachprüfung  durdi  Zahlen  ist  nicht  zu  fordern. 


I.  Ausgangspunkte:  Für  6  die  Anzahl  der  Schuhage  zwischen 
zwei  Sonntagen,  vielleicht  auch  die  Wände  (Begrenzungsäächen)  des 


3.  Abstrakt:  4 

5 


-1=4/ 


mit  und  ohne  Finger  oder  Kugeln. 


c)  Die  Zahlen  6 — 10. 


Digittzed  bv  GoooIp 


—    219  — 


Schulschrankcs  oder  der  Schulstubc,  die  Fensterscheiben,  wenn  das 
Fenster  6teilig  ist 

Für  7  die  Anzahl  der  Wochentage  oder  das  Kastanienblatt 
Für  8  die  Fensterscheiben,  wenn  das  Schulfenster  Steilig  ist» 
oder  die  Anzahl  der  Kinder  auf  zwei  viersitzigen  Banken. 

Die  9  kann  vielleicht  durch  Ergänzung  ohne  besonderen  sach- 
lichen Ausgangspunkt  an  den  Fingern  gewonnen  werden;  vielleicht 
auch  9  Schieferstifte  oder  was  sonst  gerade  9  mal  vorhanden  ist 
(z.  B.  Türfüllungen). 

Für  10  die  Finger  beider  Hände. 

Überall  Übertragung  des  Zahlmomentes  der  Gruppen  zuerst 
auf  die  Finger,  dann  auf  die  Kugeln.   Es  entstehen  folgende  Finger- 

Ulder: 

Hand  und  l  Finger;  5  Finger  und  i  Finger;  heisst  6  Finger. 

Also  5  -|-  1  =  6. 
Ebenso  wird  gewonnen ; 

;       2  =  7 ;  5  -f-  3  =:  S ;  ;  4-  4  =  9;  s  -}-  t;  =  lO. 
Diese  i'ingcrbildcr  sind  fest  einzuüben  in  der  doppelten  Form:  der 
Lehrer  zeigt  das  Bild,  die  Kinder  sagen  sofort  die  Zahl  (6,  8  usw.) 
und  umgekehrt:  der  Lehrer  sagt  die  Zahl,  die  Kinder  stellen  das  Bild. 

2.  EinreihuTig  der  neuen  Zahlen  in  die  Zahlenreihe  durch  Hinzu- 
fiigung  der  i,  beginnend  mit  5. 

a)  5  +  i;  6-{-i;  7  +  1;  S  i ;  g  -\-  i  (an  den  Fingern  ab- 
lesen) kurz:  5,  6,  7,  8,  g,  10.    Zählen:  i  — 10. 

b)  10  —  I ;  9  —  I ;  8  —  I ;  7  —  i ;  6  —  I  (an  den  Fingern  ab- 
lesen), kura:  10,  9,  8,  7,  6,  5.   Zählen:  10— i. 

Übungen  durcheinander  ohne  Hilfsmittel;  auch  in  der  Form: 
die  7  steht  zwischen  6  und  8,  ist  i  grösser  als  6  und  I  Ideiner 
als  8  'also  in  der  Form  des  Unterschiedsuchens).  Bestimmung  von 
Zahlmomenten  von  Din^gruppen  durch  Zählen.  Die  Kinder  be- 
kommen ein  Bündel  Stäbchen  in  die  Hand  und  haben  davon  8,  6, 
9,  7,  10  Stäbchen  abzuzahlen. 

3.  Hinzulegen  und  Wegnehmen  der  2.  Pas  Folgende  zunächst 
alles  noch  mit  Hil&mitteln.) 

a)  1  +  2;  2  +  2;  3-|-2;4  +  2bis8-h2. 

b)  10—2    0  —  2  bi.s  2  —  2. 

Ausser  (ier  Reihe  üben. 

4.  Das  Hinzufügen  und  Wegnehmen  der  3. 

a)  I  -f-  3;  2  +  3;  3  -f  3;  4  -f-  3  bis  7  +  3. 

b)  10  —  3;  9  —  3  bis  3  —  3. 

5.  Das  Hinzufügen  und  Wegnehmen  der  4. 

a)  I  +  4;  2  +  45  3  +  4;  4  -f  4;  5  +  4;  6  +  4. 

b)  10  —  4:  9  —  4;  8  —  4  bis  4  —  4. 


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6.  Das  Hinzufügen  und  Wegnehmen  der  5. 

a)  i  +  S;2  +  5i  3  +  5J4+5;  5  +  5. 

b)  10— 5;  9— 5  bis  S  — 5- 

Das  Unterscfaiedsuchen  auf  den  Inhalt  von  3 — 6  ausgedehnt 
8.  Schriftliche  Aufj^aben  und  Anwendung  auf  Sachen.  Dabei 
der  Groschen  oder  das  10-Pfennigstück,  auch  kurz  ,^hncr"  genannt 

Bcmerkan^:  Alle  diese  Zahlcnrcihco  sind  aar  Stofliuordntingcn  für  den  Lehrer 
und  nicht  etwa  wie  das  Eiomaleia»  auvwcodig  za  lernen  Alie  natttrliche  Zahlenreihe 
selbstverständlich  ausgenommen).  Die  Hauptsache  wt,  da«  diese  Relationen  aniier  der 

Reihe  geiibt  werden. 

Wenn  der  Unterricht  bis  hierher  gekommen  ist,  sitzt  sicher  im 
Gedächtnis  die  Zahlenreihe  bis  10  (zählen  auf-  und  abwärts,  Hinzu- 
fügen und  Abziehen  der  i).  Manche  der  übrigen  Relationen  des 
Einszueinses  werden  ebenlaJls  schon  behalten  sein,  alle  aber  jeden- 
falls nicht. 

Sie  sind  nunmehr  bis  zur  Geläufigkeit  einzuprägen.  Um  aber 

eine  doppelte  Belastung  des  Gedächtnisses  zu  vermeiden,  ist  es 
jetzt  an  der  Zeit,  die  Vertauschbarkcit  der  Posten  aufzAizeigen. 
So  lange  mit  Hilfsmitteln  gerechnet  wurde,  war  das  zwecklos. 

Die  Vertauschbarkeit  ist  sofort  selbstverständlich,  wenn  die 
Addition  in  Form  des  Summierens  gefasst  wird.  Es  werden  also 
Aufgaben  gegeben  wie:  Wieviel  ist  3  und  2  zusammen?  Dabei 

müssen  die  beiden  Kugel-  oder  Finf^ergruppen  gleichzeitirr  vor 
Augen  stehen;  sie  werden  daher  gesetzt  vor  Stellung  der  AülL;abe. 
Am  Kugelapparat  werden  die  beiden  Gruppen  geschieden  durch 
einen  etwas  grösseren  Zwischenraum.  Sobald  die  Überzeugung 
von  der  Vertauschbarkeit  der  Posten  an  Beispielen  gewonnen  ist, 
hat  der  Unterriclil  besonders  auf  diejenigen  Relationen  hinzuarbeiten, 
in  welchen  der  zweite  Posten  kleiner  otler  höchstens  gleich  dem 
ersten  ist  Diese  bilden  den  Stamm  des  Einszueinses.  Die  übrigen 
werden  durch  Vertauschung  der  Posten  auf  diese  zurückgefiihrt, 
müssen  aber  ebenfalls  tüchtig  geübt  werden. 

Das  schriftliche  Rechnen  nimmt  \on  jetzt  ab  den  Charakter 

einer  Wiederholung  gcdächtnismässigcr  Leistungen  des  Kopf- 
rechnens an.  Deshalb  werden  die  römischen  Zahlzeiclien  über- 
flüssig und  ersetzt  durch  die  kürzeren  und  bequemeren  arabischen 
Ziffem.  Nur  die  römische  Zehn  wird  noch  beibehalten,  bis  im 
zweiten  Schuljahre  der  Stellenwert  der  Zahlen  gewonnen  ist 

d)  Die  Vertauschung  der  Posten  in  den  unmittelbar 
aus  der  natürlichen  Zahlenreihe  sich  ergebenden 

Relationen. 

Voraussetzung:  Die  Zahlenreihe  i  — 10;  Auf-  und  Abwärtszählen; 
die  Relationen  i  ^-  i ;  2  -|-  i ;  3  +  i  bis  9  -f-  i* 


221 


1.  Die  Vertauschung  der  Posten :  Die  Gruppen  dieser  Relationea 

werden  nacheinander  gesetzt  und  bei  jeder  die  Frage  gestellt:  Wie- 
viel zusammen?  Diese  Posten  werden  dabei  von  beiden  Seiten  her 
gelesen.    Wir  erhalten: 

2+1=3  3-1-1=4  bis  9+1=  io 
1  +  2  =  3       1  +  3  =  4  1+9  =  lO 

Bemerkung:  Wenn  es  güt,  einzuprägen,  nehme  der  Lehrer  immer  nur  so  viet 
Glieder  einer  sulchen  Reihe  vor,  wie  er  einprägen  kann.  Ks  v/iri!  mch  gut  sein,  gleich 
die  folgenden  Xuniniern  (das  ünter^chiedsuchea  und  Abziehea)  tur  dicj»c  (ilicder  vorweg- 
zunehmen, elie  der  UnUfficht  dic  folgende  mdditive  Relation  in  Bearbeitung  nimmt.  Das 

gilt  auch  für  das  Folgen  ie. 

Probe  der  gelungenen  Einprägung:  Welche  von  diesen  Zahlen 

geben  zusammen  3,  7,  6  usw.? 

2.  Unterschiedsuchen:  Wieviel  ist  eine  Zahl  grösser  als  die 
andere?  z.  B.  7  grösser  als  6;  7  grösser  als  i? 

3.  Abziehen:  z.B.  6  —  i;6  —  5;8  —  i;8  —  7  usw. 

4.  Schriftliche  Aufgaben:  Wenn  die  Kinder  jetzt  schri^che 
Aufgaben  wie  5  +  1=  6;  1  +  5=  6;  6  —  i  =  5;  6  —  5  =  i 
gerechnet  haben,  werden  sie  auch  das  Schema  verstehen: 

5  +  ?  =  6;  I  +  r  =  6;  6  -  '  =  5 :     -  ?  =  I. 

5.  Sachaufgaben  über  Dinge  und  Geldwerte:  z.  B.  i  Zweier 
und  I  Pf.  =  ?  Pf.;  I  Pf.  und  I  Fünfer  =  ?  Pf.  Du  hast  4  Pf.  zu  be- 
zahlen und  gibst  einen  Fünfer  hin;  wieviel  bekommst  du  heraus?  usw. 

e)  Die  Reihe  der  geraden  und  ungeraden  Zahlen. 

i.  Gegenstandspaare  z.  B.  Paare  von  Schuhen.  Für  jedes  Paar 
werden  zwei  Kugeln  gestellt,  so  dass  nach  und  nach  folgendes  Bild 
entsteht : 


1  Paar  Schuhe  sind  2  Schuhe; 

nocli  ein  Paar  hinzu:  2  Sch.  +  2  Sch.  =  4  n  '-, 
„  „  n  „  4  ^ch.  +  2  Sch.  ^6  „  i 
>«  »  »  »  6  Sch.  +  2  Sch,  =  8  „  ; 
„     „     „       „     8  Sch.  +  2  Sch.  =  10  n 

Die  Kinder  rechnen  d.il>ei  an  den  Fingern  ,  der  Kuge!apparat  (vom  Lehrer  ge» 
bandhabt)  dient  nur  dam.  das  p;uirwcisc  Auftreten  der  l>inge  zu  versinnbüdlichrn. 

Der  Reihe  nach  einprägen  immer  in  Begleitung  von  Kugeln 
und  Fingern.  Dasselbe  mit  nackten  Zahlen.  Daraus  die  Reihe  der 
geraden  Zahlen:  2,  4,  6,  8,  10  (auswcndi^^  lernen!).  Jetzt  muss  das 
Mnzufiigen  der  2  für  diese  4  Fälle  sitzen.    Der  Lehrer  überzeugt 

sich  und  übt  besonders  auch  ausser  der  Reihe. 

Das  Abziehen  der  2  (10  —  2^8  —  2  usw.)  wird  nunmehr  ohne 
weiteres  ebenfalls  gehen. 


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2.  Wir  haben  einen  einzelnen  Schuh  und  setzen  dazu  ein  Paar; 
noch  ein  Paar  usw.   Es  entsteht  am  Kugelapparat  folgendes  Bild: 


Der  T  phrrr  lasst  das  Bild  nach  und  nach  entstehen,  die  Kinder 

rechnen  an  den  Fingern: 

Zuerst  vorhanden:  I  Schuh; 

dann  i  Sch.  -\-  2  Sch.  =  3  Schuhe: 
dann  3  Sch.  4~  2  Sch.  =  5     „  ; 
usw. 

Das  Weitere  wie  bei  den  geraden  Zahlen.  Wir  erhalten  die 
Reihe  der  ungeraden  Zahlen,  so  genannt,  weil  immer  i  über  die 
Paare  hinausragt  (siehe  Bild  am  Apparat).  Auswendig  lernen!  Nun» 
mehr  muss  auch  das  Hinzufügen  der  2  in  den  übrigen  Fällen  ohne 
Hilfsmittel  gclicn.  Ebenso  das  Abziehen  üben.  Dann  beide  Fälle 
gehörig  durcheinander  mischen. 

3.  Die  Vertauschung  der  Posten: 

3  +  2  =  5  4+2  =  6  5  +  2  =  7  6+2  =  8  7  +  2  =  9 
2+3=0     2+4=6     2+5=7     2+6=8  2+7=9 

8  -J^  2  10 

2  -|-  8  =  10. 

Probe:  Welche  von  diesen  Zahlen  geben  zusammen  5,  8  usw.? 

4.  Unterschied:  Wieviel  ist  7  grosser  wie  5?  7  grösser  wie  2? 

Wieviel  fehlt? 

5.  Abziehen:  z.  B.  j  —  2;  7  —  5  usw. 

6.  Anwenden:  Schrifthche  Aufg.j  Sachaufgaberu 

f)  Die  Beziehungen,  welche  eine  3  als  Posten  enthalten. 

Frage:  Wieviel  ist  zusammen? 
3  +  3  =  6    4+3  =  7     5  +  3  =  8    64-3  —  9    7  +  3  —  10 

3  +  4  =  7     3  +  5^-^     3  +  6  =  9    3  +  7  =  10 
Posten  am  Apparat  gestellt :  die  Kinder  rechnen  an  den  Fingern, 

bis  es  auswendig  geht  (vgl.  obige  Ikmerkung  unter  d,  l). 
Alles  weitere  wie  unter  e,  4 — 6. 

g)  Die  Beziehungen,  welche  eine  4  als  Posten  enthalten. 

Frage:  V^eviel  ist  zusammen? 

4  +  4^=8    5-4-4  =  9   6  +  4=10 

4  +  5=^9  4  +  6—  lo 

Alles  weitere  wie  vorher. 

Letzte  Beziehung:  5  +  5  =  10.  Diese  sitzt  längst  fest  (2  Hände). 
Zur  Übung  —  und  nur  in  dieser  Absicht  —  können  nunmehr  auch 
die  Relationen  sämtlich  um  Einzelzahlen  gruppiert  werden. 

Z.  B.  10=5  +  5=6  +  4  —  7  +  3  —  8  +  2  —  9+1, 


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—     223  — 

Übungen,  welche  die  Multiplikation  und  Diviston  vorbereiten. 

h)  Die  Reihe  der  Anzahlen  von  Zweien. 
Am  Kugelapparat  wird  vorgeführt  (Finger  überflüssig): 


1  Zwei    =  2  ^nsen; 

2  Zweien  =  4     „  ; 

3  .»     =6     „  ; 

4  M     =  8     „  ; 

5  =10  „ 


1.  I  Paar  Schahe  =  2  Schuhe ; 

2  »»         n  4  » 

3  n  n  ^  n 

4  »  n        =8  fi 

5  »I      »     =  >o    „    .    _  . 
Einüben  in  und  ausser  der  Reihe.  Dasselbe  ohne  Apparat. 

2.  Umlcehrung  (Vorstufe  des  Enthaltenseins  oder  Messens): 
Wieviel  Paar  sind  2,  4,  8,  6,  lO  Schuhe?  Wieviel  Zweien  sind  2, 
4,  8,  6,  10  Einsen? 

3.  Sachrechnen:  Wieviel  Pf.  sind  i,  4,  3,  2,  5  Zweier?  Wieviel 
Zweier  sind  2,  4,  8,  6,  10  Pf.?  Wieviel  Pf.  kosten  i,  4,  3,  5,  2 
ZweierbrÖtdien?  Wieviel  Zweierbrot^en  erhält  man  für  4,  8,  6,  2, 
10  PC?  Ahnliche  Aufgaben.  Schriftliches  Rechnen  unterbleibt 

i)  Die  Reihe  der  Dreien. 

I.  AusganiTspunkt :  3  Bänke  mit  je  3  Kindern.  Der  Lehrer 
lasse  an  der  Tafel  folgendes  Bild  entstehen: 


Auf  I  Bank     sitzen  3  Kinder;    i  Drei     hat      3  Kinscn ; 
„    2  Bänken     „     6      „     ;    2  Dreien  haben  6       „  \ 

M     3         w  tt       9        n      *     %        n  fi      9         I»  • 

Daraus  die  Reihe  der  Drden:  3,  6,  9.  (auswendig!) 

2.  Umkehrung:  Wenn  auf  jede  Bank  3  Kinder  zu  sitzen 
kommen  sollen,  so  hrauclit  man  für  3  Kinder  i  Bank,  für  6  Kinder 
2  Bänke,  für  9  Kinder  3  Bänke.    Allgemein;  Wieviel  Dreien  sind 

6,  9,  3  Einsen? 

3.  Sachrechnen:  Wieviel  kosten  1,  2,  3  Dreiersbrötchen  r  Wie- 
viel Dreiersbrütchen  bekonunt  man  (ur  6,  9,  3  Pf.? 

k)  Verdoppeln  und  Halbieren. 

Vorbemerkung:  Der  Begriff  des  „Verdoppeins**  oder  „Noch- 
einmalstcllens"  wird  im  folgenden  gleich  mitgewonnen.  Die  Begriffe 
„Halbieren,  halb,  Hälfte,  Mitte"  müssen  aber  vorher  schon  an  vielen 
Beispielen  klar  gemacht  sein.  Man  halbiere  also  zuerst  Gegen- 
stände, am  besten  zuerst  runde  z.  B.  Äpfel,  Kartoffeln,  Kreise; 
dann  auch  Papierbogen,  Papierblätter,  ein  Stabchen,  eine  gerade 
Strecke  usw.  Einen  Apfel  halbiert  man  also,  wenn  man  ihn  mitten 
durchschneidet,  in  zwei  gleiche  Teile  zerlegt  Halber  Apfel;  die 


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beiden  Hälften.  Die  beiden  halben  Äpfel  zusammen  der  ganze 
Apfel,  die  beiden  Hälften  das  Ganze  usw. 

1.  Der  Lehrer  stellt  i,  2,  3,  4,  5  Kugeln  auf  den  einen  Draht. 

Der  Srhüler  erhält  die  Aufgabe,  das  ( rrstcllte  zu  verdoppeln,  also 
noch  einmal  zu  stellen  (auf  dem  anderen  Draht).    Wir  erhalten: 
2  Einsen  -  -  2;     oder:  die  1  verdoppelt  gibt  2^ 
2  Zvveien=  4^  „2         „  »4; 

2  Dreien«  6;  „3        „  „  6; 

2  Vieren  =  8;  „4        „  »8» 

2  Fünfen  =  to;  „5        „     *      »  I<X 

Einüben  in  und  ausser  der  Reihe! 

2.  Umkehrun^:  Teile  oder  brich  jede  der  Zahlen  2,  4,  6  usw. 
in  2  gleiche  Teile  (halbiere  sie);  wie  gross  ist  jede  Hälfte?  Die 
Hälften  der  2  sind  Einsen»  die  Hälften  der  4  sind  Zweien  usw. 

3.  Sachrechnen:  Wieviel  Kinder  auf  2  Banken  (Zweisitzer,  Vier* 
sitzer)?  Wieviel  Beine  2  Menschen,  2  Pferde,  2  Hunde?  Wieviel 
Finger  2  Hände?  Wieviel  Fenster  2  Schulzimmer?  usw.  2,  4,  6,8, 
10  Äpfel  unter  2  Kinder  zu  verteilen;  wieviel  erhält  jedes?  Die 
Schulwoche  zerfällt  in  2  halbe  Wochen;  wieviel  Tage  jede  Hälfte? 
Welche  Tage  gehören  zur  ersten  Hälfte,  welche  zur  zweiten?  2 
kleine  Heftchen  kosten  10  Pf.;  udeviel  jedes?  2  Brötchen  kosten 
4  Pf.,  6  Pf.;  wieviel  jedes?  2  Federn  (Schieferstifte)  kosten  2  Pf.; 
wieviel  jede?  usw. 

I)  Verdreifachen  und  Dreiteilung  (Dritteln). 

Ini  ezug  auf  die  Vorbereitung  der  Begriffe  Dreiteilung  und  Vier- 
teilun^  gilt  das  über  das  Halbieren  Gesagte. 

3  Einsen  =  3;  3  Zweien  ~  6;  3  Dreien  =  9.  Umkehrung. 
Die  Verdreifachung  durch  Punkte  an  der  Tafel  illustrieren.  An 

demselben  Bilde  die  Dreiteilung  zeigen  l 

m)  Die  Vervierfachung  und  Vierteilung  (Vierteln). 

4  Einsen  =  4;  4  Zweien  =  8  und  Umkehnmg. 


SehlMSwort 

Unsere  heutige  Rechenmethodik  ist  erklügelt  und  gekünstelt 
Man  hat  weilläufif^e  und  schwierige  Untersuchungen  angestellt  über 
das  VS'esen  der  Zahlen.  Wozu?  Solche  Nüsse  mag  der  Philosoph 
knacken,  dem  nun  einmal  von  Amts  wegen  die  Pflicht  obli^^ 
fiberall  nach  den  letzten  Gründen  des  Gewordenen  zu  suchen.  Der 
Pädagoge  braucht  sie  nicht.  Wenn  die  Menschheit  hätte  warten 
sollen,  bis  die  Philosophie  mit  ihrem  Denken  zu  Rande  gekonunen, 
hätte  sie  bis  auf  den  heutigen  Tag  noch  nicht  bis  zwei  zu  zählen 


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—    225  -— 


fdernt   Die  Zahlen  und  das  Rechnen  and  die  einfachste  Sache 

von  der  Welt,  wenn  man  sie  mit  den  Augen  des  Volkes  und  des 
Kindes  ansieht.  Die  Schule  hat  mit  dem  Wesen  der  Zahlbegriffe 
so  wenig  zu  tun  wie  mit  der  Metaphy'sik  der  Dinge. 

Aber  man  will  ja  mit  solciicn  hohen  Gedankengespinsten  einen 
einfachen,  den  richtigen  Weg  linden,  wie  die  Zahlen  an  das  Kind 
heranzubringen  sind.  Wir  zweifeln  an  dem  Erfolge,  und  die  Er- 
fahrung —  so  will  uns  bedünken  —  gibt  uns  ein  Recht  dnzn.  Was 
ist  herausgekommen?  Unklare  und  falsche  lit  lai^kcn  über  die 
Schaubarkeit  und  Vorstell  bar  keit  der  Zahlen,  eine  unabsehbare  An- 
lahl  von  Rechenmasclunen,  eine  immer  gdcüastdter  und  kompli- 
zierter als  die  andere.  Und  trotzdem  1  Der  Nürnberger  Trichter 
ist  noch  immer  nicht  erfunden. 

Aber  es  scheint,  als  ob  es  anfinge  zu  tagen.  Schon  regen  sich 
Spott  und  Hohn  über  die  Erfindungssucht  und  die  philosophischen 
Anwandlungen  unserer  Rechenkünstler.  Wer  zuviel  doktert,  kann 
unter  Umständen  ein  gesundes  und  kräftiges  Kind  zu  Tode  kurieren. 
Uns  will  es  scheinen,  als  ob  am  Rechenunterricht  wirklich  etwas 
zuvnel  herumkuriert  worden  sei.  Umkehr  tut  not.  Die  Rechen- 
niethodik  wird  erst  wieder  gesund  werden,  wenn  man  alle 
Künsteleien  in  Theorie  und  Praxis  aufgibt  und  die  Wege  aufeucht, 
weldbe  die  Zahlen  und  das  Rechnen  im  natürlichen  Laufe  gegangen 
sind.  Leider  wird  die  freie  Entwicklung  des  Kindes  innerhalb  der 
Kulturvölker  abgebrochen  durcli  dns  gewaltsame  Eingreifen  der 
Schule,  gerade  da,  wo  die  Beobachtungen  der  Psychologen  uns  am 
notwendigsten  wären.  Zum  Glück  liegt  das,  was  in  der  kindlichen 
Seele  auf  .kurze  Zeiträume  zusanmiengedrängt  entsteht,  über  Jahr- 
tausende  auseinandergezogen  vor  unseren  Blicken  ausgebreitet  in 
der  Entwirklun;^  ricr  Volker.  Hier  ist  zu  finden,  was  uns  not  tut 
iur  den  Rechenuuterricht,  die  Natürlichkeit 


B.  Kleiner«  Beltrige  und  HltteUniigei. 

L 

Ober  E.  V.  SallwQrks  „Prinzipien  und  Methoden  der  Erziehung"  und 
die  dritte  Auflage  der  „Didaktischen  Normalformen". 

Von  Fr.  Franke  in  Leipzig. 
SckluM  zn  Heft  1. 
II. 

r»ip  dritte  Anflajre  der  ..Normalformen'*  ist  fast  plf»icbzeitifr  mit  meiner 
Besprechung;  dir  zweiten  Auflage  encliieaeiij  ich  habe  mich  alao  bei  dieser 

PUafOglache  äludien.   iUUX.  B.  15 


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—     220  — 


Allfeige  mdit  in  der  nii«igeo«3iiiieii  Weiia  wie  bei  der  Tongen  mit  Erwidernngee 

zu  befassen.  Im  Vorwort  sagt  der  Verf.  sogar,  weil  die  Schrift  Ober  „Das  Ende 
der  Zillerschen  Schule"  die  Angriffe,  welche  von  Zillerscher  Seite  ireg^n  die 
Norroalformen  erhobeu  worden  seien,  sarUckgewiesen  habe,  habe  er  in  der  dritten 
Auflage  „allaa  Pelenlaehe  gern  getilgt",  und  dfti  wvrde  in  der  »Dentichen  Sdude" 
eofört  belniuit  gemaditw  In  Wirklichkeit  rind  allerdiogt  nur  einige  polenieehe 
Stellen  weggelassen,  darunter  auch  einige,  die  ich  beanstandet  hatte,  der  Ausfall 
ist  aber  dnrrli  tipup  Zusätze  rÄumlich  fast  bis  auf  <^ie  Zeile  ausgeglichen.  In 
diesen  Ä.uderuu';;eD  zeigt  sich  nun  eine  gewisse  Wandlung  nicht  nur  in  der 
Polemik,  sondern  auch  in  der  eigenen  Aiuioht  des  Verfuiers. 

1.  Die  Aiueige  der  1.  Auflege  der  Kormalfonnen  (Fid.  Stud.  1906^  8. 402) 
bat  ohne  weitere  Bemerkung  mitgeteilt,  dass  Yerf.  den  üntenieht  in  den 
„Fertigkeiten"  des  Schreibens.  Siujrens,  Zeichnens  und  Turnens  von  seiner 
Normaldidaktik  ansschliesse.  Auf  .soine  Fray;(*,  ob  „eine  mit  leiblichen  Mitteln 
SU  leistende  iuLigkeit  nach  der  Methode  unserer  Normaididaktik  ausgebildet" 
werden  ktane,  antwortete  er  denmb  eellMt:  «l^ie  Frage  mnie  ohne  weiten» 
Temeint  werden;  denn  die  letztere  ist  denOeeetzen  der  Erkenntnishildung  gemäss 
gfestaltet  worden  und  nimmt  infolgedessen  auf  leibliche  Tätigkeiten  keinerlei 
Rücksicht:  Diese  können  ihr  nur  Mittel,  aber  nie  Zwecke  werden.  Eine  ptinze 
Hälfte  der  Akte,  die  bei  der  Ausbildung  dieser  Akte  zu  durchlaufen  ist,  entspricht 
dem  Sehema  Srkenntniabfldung  nicht  Nor  die  bdden  enten  [nSndich 
1.  genane  VorsteUong  der  Bewegnn^  ihrer  einaelnen  Akte  nnd  der  richtigen 
Reibenfolge,  2.  sichere  Einprägung  dieser  Ordnung]  zeigen  eine  gewisse  Ver- 
wandtschaft mit  den  beiden  Herbartschen  Sttifen  der  Klarheit  nnd  Assoziation, 
und  das  kann  vielleicht  zu  dem  Irrtum  der  Zillerschen  i)chule  beigetragen  haben, 
die  aneh  Fertigkeiten  nadi  den  ForaieJetttfen  behandeln  will;  mit  unserer  dldak- 
tiaehen  Methode  berlkhren  aida  aneb  dieae  beiden  Akte  nicht»  nnd  ee.iat  wichtiiTi 
dasH  der  Unterricht  «ich  klar  darftber  sei,  was  er  leisten  kann  nnd  was  er  fremder 
S'rjr^r''  überlassen  muss."  Man  mn.<*8te  sich  damals  fracren .  wie  denn  nnn  die 
Ptlege  dieser  Fertigkeiten,  die  der  Unterricht  „Cremder  Sorge  tiberla-nsten  nmss", 
eigentlich  heissen  solle,  wenn  sie  nicht  Unterricht  sei.  Auf  jeden  Fall  rflckte 
Yerf.  diese  Pflege  ren  dem  Gebiet  seiner  didaktischen  Normalform  weit  ab  und 
tadelte  die  Zillefsehe  Sdiule,  weil  sie  es  anders  machte.  Ähnliche  starke  Änise- 
rangen  hatte  er  sehon  weit  früher  (in  „Handel  nnd  Wandel"'  cfetan. 

Zu  di^er  Ansicht  hatte  dann  Natarp  in  seiner  Ijcspreclniiij^  der  „Nonnal- 
foruien"  gesagt:  „Eä  ist  uuwahrdcheiulich,  da^s  die  Methode  iu  diesen  Gebieten 
eine  von  Omnd  ans  andere  a^  mflsse^  wahrscheinlich  dagegen,  dass  sie  inneriialb 
des  weiten  Rahmens  der  Methode  —  es  gibt  nur  eine  —  sich  in  besonderer 
Weise  gc^'t-iitim  wird."') 

Herr  v.  Sallwürk  nahm  in  der  bald  darauf  erscheinenden  Schrift  „Haus, 
Welt  und  Schule"  (vgl.  Päd.  Stud.  1906,  S.  21»  ff.)  sofort  darauf  Bezug  (S.  8öf.) 
nnd  venichwte  selbst,  dass  es  sich  bei  den  leiblieliNi  Ftotigkeiten  „nnr  nm  eine 
Modifikation  der  Methode  bandeln  kSnnen.  .  .  .  Eine  fttr  Erkenntnisbildang 
wid  WiUenabildnng  geeignete  Methode  noss  so  viel  Geschmeidigkeit  heben,  das* 


1)  Rheinische  Blätter  für  Erz.  u.  Unt  1UU2,  S.  lia. 


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—    227  — 


ancb  die  leiblichen  FMtig'keiteii  in  ihrem  Rahmen  PlaU  finden  können."  Aber 
die  Differenz  mit  der  Zillerschen  S<  hn!f  inir  lp  dadorch  in  seinen  Ani,'CTi  nicht, 
wie  man  hätte  erwarten  mftwn.  genu^ar,  mir  war  nicht  mehr  die  Rede  darou, 
d&ss  die  Einzelakte  der  leiblichen  Tätigkeiten  sich  nicht  mit  den  Akten  der 
firkanntnistitiglreiteii  deckten«  Miidera  enter  Lbüe"  tollte  das  „phanteetiielie 
LehrpUnj^jetem"  Schwierigkeiten  geschaffen  haben,  zu  deren  Beeeitiguog  eine 
besondere  Arbeit  nötig  sei.  Die  2.  Atiflfic"'^  der  „Normal formen"'  Hess  znnSchst 
die  ganze  oben  ani,'efülirte  Steile  weg.  lu  dem  darauf fnlircTKlen  Stück  hiess  es 
noch:  „Wenn  in  der  Zillerschen  Schale  nach  den  Fornialstuteu  gesnngen  and 
geiciiiliiiet  wird,  weiden  dleee  Fleher  dem  Xouwntmtionegednaken  dieeutbsr 
genmchl  Sie  verlieren  damit  Ihre  eigenen  Zwecke;  die  Xetlwde  kann  bei  »deber 
Bflliandlnng  jedenfalls  nicht  der  Kunst  als  solcher  dienen.**  Diese  gewiss  wenig 
«winsrende  Art  zu  schliessen  wurde  in  der  3  Auflage  ebenfalls  weßTrela<i»<»n 
und  durch  eine  neue  Stelle  ersetst,  welche  nunmehr,  wie  die  unterdes  erschienene 
Schrift  aber  die  Prinapien  «ad  Mstboden  Idire,  behauptete,  der  L'nterricht  in 
den  Fettigkeiten  wriange  nur  eine  Hödidkalion''  der  allgemdtoen  plda- 

gogiaehen  Methode. 

Nun  liegt  es  mir  t^ewiss  fem,  an  sieh  t-'wvn  Wandel  der  Ansicht  tadeln  jtn 
wollen;  jeder  wirkliebe  Fortachritt  geschieht  hioss  dadurch,  da^s  mau  von  der 
Unwissenheit  zum  Wissen  oder  von  einem  falschen  zu  einem  besseren  Wissen 
IttergAt,  nnd  danini  mnw  Jeder  ateta  bereit  aein,  daa  aelbat  an  tnn>)  und  ea  bei 
dem  Andern  aninericennen*)  —  wenn  nur  die  UmwandlnngsfonnaliUlten  einwand- 
frei erfüllt  -werden.  Aber  die  Art,  wie  der  Verf.  erst  von  dem  einen,  spüter  von 
dem  anderen,  entgegengesetzten  Standpunkte  aus  an  der  Zillerschen  iSchuie  Kritik 
übt,  ist  nach  dem  Gesagten  aufiäiiig,  und  et»  wiederholt  uich  auch  die  leider  schon 
belnumte  Wakmehmnng,  dMa  in  eeinen  kiitiachen  Ananhmngen  Uber  die  Hethode 
Zillen  sehon  der  Bericht  darüber  nicht  zuverlässig  ist.  HierfOr  nut  ein 
Beispiel.  Er  hehaupti^l  in  „Haus,  Welt  und  Schule-^  iS.  HR)  über  das  Singen,  der 
Betrieb  „nach  den  didaktischen  Formalstufen,  welche  für  die  formale  Behandhm^ 
des  geaamteu  die  Kulturstufen  darstellenden  Stoffes  massgebend  Hind**,  müsse  zur 
»Gewalttitigkeit*'  in  der  Aoawahl  nnd  snr  „VemadiUtosigung  dar  tedimaoben 
Anabildnng"  flliren.  i,l>ut  Süignnterricht,  der  vom  Geainnnngsanterricht  eich 
aeiaan  Stoff  zuweisen  lässt,  wird  sich  nicht  die  Zeit  zu  stimmbildenden  Übungen 
nehmen  und  nicht  jene  einfachsten,  in  heschrRnktestem  Rnnme  sich  bewegenden 
Helodieu  wähltu  oder  selbst  gestalten  dürfen,  welche  die  Kücksicht  auf  die  noch 
unentwickelte  jugendlidie  Stimme  nnd  nnf  die  Oeaondbeit  der  Kinder  fordert" 
Xnn  aagt  aber  Ziller  Uber  den  Qeanng:  «Er  trlgt  gleldifalla  [Torher  war  vom 
Zeichneu  die  Rede]  dazu  bei,  dass  sich  eine  engere  Verbindung  der  Erziehung 
mit  der  Kunst  knüpft.  .  .  .  Nur  muss  sich  der  Text  und  seine  Behandlung  dem 
besonderen  Sachgebiete  genau  anschliessen  [hier  also  wirkt  der  Kouzentrations- 
gedauke],  und  Text  nnd  Melodie  mUssen,  ganz  abgesehen  von  den  ästhetischen 

»)  .,Über  lebhafte  Gefühle  und  Liebliutrsineinungen  ist  der  Fühlende  nnd 
Meinende  stets  ein  parteiischer  Richter.  Überzeugung  ist  nur  da  vorhanden,  wo 
man  sich  bereit  weiss,  auch  das  Gegenteil  fttr  wahr  gelten  an  laaaen,  wenn  ea 
bewiesen  würde."   Rerhart.  Kehrb.  l.  S.  618;  Hart  7,  613. 

')  Krläuteruugeu  zum  36.  Jahrb.,  S.  16. 


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—    228  — 


FDrdernn^en  fderen  Befolgung  also  alg  BellMVttttlndlkh  gilt],  in  Angemeneiibeit 
znr  Tuilividnalifät  de«  Gn-^tc---  nii'I  (Im  StimroorsrAns  stehen  lu  beiderlei  Be- 
ziehunjtr  atelleu  die  Tolkstuiulicbeu  melodischen  Kinderreime,  die  sog.  MutterUeder, 
die  im  Liederhort  vou  ß«>chholz  enthalten  sind,  ein  wurklichea  Maater  aoi.  Sie 
halten  tieh  gaas  im  QttriehtakraiBe  dce  Kindel  «od  ftbenehrelteii  anch  die  eof* 
begrenzte  Stufenfolge  von  Tönen  nicht,  die  dem  Kinde  in  der  KindergtrfeenMit 
EU  (tfbnte  steht."')  Hätte  da  drr  Verfasser  nicht  n^cht  anders  reden  nir!«"«en' 
Denn  auch  bestimmte  Fehlt^niU'  <\i^v  Aii«fölirung,  wenn  er  solche  im  ^ume 
gehabt  hätte,  wUrden  die  übereinsiimmuug  lu  den  wet»euüicheu  Punkten  der 
Theorie  md  die  ffiditigk^  denelben  nicht  nnfhebea.  Zum  Oberflnie  aagt 
Terf.  seibat  an  einer  anderen  Stelle  deaidben  Buches  (S.  106):  ^Wir  schliessen 
daher  das  Singen  an  unsere  Geschichten  an.  so  dass  die  Texte  volles  Verständnis 
fimlfMi  V:"nnpn/  Und  was  tun  die  Konaentrationsmethoiiiker Weiter  sagt  Verf. 
an  demseibtiu  Orte:  „Singen  ist  gehobenes  fieden";  und  „der  Gesangonterricht 
giht  dmn  Kinde  ein  WMwbndi  der  Anadmckamittd  der  mnaiheliat^en  KonsK". 
Und  deegleiofaen  Ziller  a.  a.  0.:  „Das  Iniefeme  aoll  jn  ala  OefttU,  jn  als  bleibende 
Oefühlsstimmung  den  Zögling  erfüllen,  und  es  liegt  in  der  Natur  eines  lebendigen 
Geflhls.  das.«;  es  znr  Entäugserun^.  insbesondere  aooh  anm  Qeaange  hindzingtb**  — 
Damit       es  über  diese  Fraiy^e  genug. 

2.  Hit  der  „Methode  der  sittlichen  Gewuhnung'  hängt  eine  an  mich  ge- 
richtete Note  auf  8.  48  naammen,  die  in  der  2.  Anflage  dazugekommen  iat: 
„Biner  der  Benenaenten  dleeea  finchea  bemeriit,  die  unbedingte  Wirkung  der 

ethisch-ftsthetischen  ürteüe  aal  ein  Axiom  nnd  bedürfe  infolgedessen  des  Beweiaea^ 
den  wir  vermissen,  nioht  Ttm  ist  eine?  der  Missverstäudnisse.  die  der  Zillerschen 
Schule  bei  der  Anwendung  Herbartiächer  Sätze  so  häufig  begegnen.  Herbart 
b^anptet,  daaa  daa  iathetiaehe  Drtdl  sich  uns  unbedingt  aufnötige.  Darüber 
mOge  er  sich  mit  der  Wlsaenachaft  der  Äathetilc  abfinden,  die  ihm  heute  uidit 
mehr  raeht  geben  wird.  Dass  das  ethische  Urteil  den  nämlichen  Zwang  «uaAbe, 
«fafllr  nnrht  er  wenigstcn^i  «»inon  indirekten  Rrweis  l>»'izubriniren.  Aber  ztrischen 
dem  theoretischen  Wohlgefallen  euii  s  eiluMheu  Verbältni.s^<»'s  nnd  der  praktischen 
Wirkung  eines  ethischen  Urteils  klafft  eine  groHse  Lücke,  die  Herbart  gesehen, 
aber  nicht  anagelttUt  hat*  Wer  meine  frithefe  Aibelt  (Pfd.  Studien  190B, 
8.  480 f.)  nachschlägt,  wird  finden,  wie  ea  mit  don  HiasTerständnisse  liegt.  Dass 
das  ethische  Elemf^ntrxrnrtpil  sich  nnht'tlingt  aufnötiirt  —  1  is  \<t  das  Axiomatische, 
das  ich  herrorhoben  wollte.''^  nnd  daneben  wies  ich  danitit  hin,  dass  Verf.  ohne 
deutliche  Unterscheidung  noch  einen  zweiten  Beweis  venaisst,  nämlich  dafür,  das« 
daa  efandne  Slementarurteil,  nachdem  ea  sich  unbedingt  aufgenötigt  hat,  nun 
auch  soc^leich  die  ganze  Folge  jener  praktischen  Wirkungen  nach  aich  nIdM,  die 
im  Handeln  eines  Mennchen  und  in  der  Wissenschaft  letztlich  auf  Omnd  jenes 
JElementarorteils  „gut"  geheisseo  werden.  Mit  dieser  „Lücke",  sowie  mit  der 

»)  Ziller,  AUg.  Päd.  §  21,  3.  Reihe  der  Unterrichtsfächer,  d. 

•)  Übricens  sprach  es  Ziller  au-><drücklif^h  nns  jUiss  der  Ausdruck  Axiom 
hierbei  nicht  ganz  den  Sinn  habe  wie  in  der  Mutiicmatik;  ,.denn  die  mathe- 
matischen Axiüme  werden  als  metaphysisch  ableitbar  betrachtet,  dagegen  die 
ethiecheA  Ideen  sind  seibat  Prinnipien,  alao  nicht  ableitbar.  £rl&atemngen  aum 
0.  Jahrbuche  a  66.  ^ 


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—    239  — 


Behauptung  v.  SaiiwUrkfi,  der  Gedanke,  darch  ästbetische  Darstellung  der  Welt 
den  Zögling  dttUch  m  delermliiiereii,  lelMiiie  tob  H^riwitB  Schute  n^hMretisoli 

ond  praktisch  Terlaften**,  sollen  .sich  diese  Zeilen  nicht  befassen.  Die  Zweifel 

und  Gegenbehauptungen,  die  Verf.  besonders  in  seiner  dabei  angeführten  Ab- 
handlung^ über  ^ästhetischen  Zwang"  vorbringt,')  /.eigen  am  besten  die  Kluft, 
welche  ihn  jetzt  von  Herhart  trennt,  aber  ein  Spalt  ist  schon  vor  langer  Zeit 

ICine  immer  irietokehrende  Klag«  des  Verf.  Uit,  da«  die  Zillersche  Schnle 
ihn  nicht  verstehe;  nachdem  er  in  den  „Prinzipien  und  Methoden  der  Er- 
fiehunc"**  einen  Überblick  Ober  seine  „ganie  Pädagt>gik"  gegeben  habe,  hofft  er, 
das«  auch  die  Gegner  seiner  Didaktik  „den  Pnnkt  in  ihr  entdecken  werden,  aa 
dem  sie  der  ZiUeiedien  Ldure  ttoli  ein  fttr  aUemal  eattonen  rnnss*'  (Vonr. 
der  8.  AdL).  Idi  gfanbe,  du»  der  Ver£  tiidi  detuit  den  Sadifexlialt  nidit  gman, 
trifft  Nicht  dieses  Verständnis  brmdit  an  fehlen,  sondern  die  völlige 
Znstimmang  ist  ausiff bl ieben,  nnd  dass  das  mit  Unrecht  geschehen  sei, 
ist  darch  seine  bisher  gewühlte  Art  der  Entgegnung  noch  nicht  nachgewiesen. 

Daes  ich  gleich  im  Anfange  die  Meinung  geänaMit  habe,  ohne  ZiHen  Tor- 
azMt  würde  dieie  „Nonnaltonn*  ao  niolit  ana  Lieht  gebradit  worden  aein  (1908^ 
S.  407,  423  CF.).  ^^^^  ziemlich  weitgehende  ZuBtimmnng  enthalten,  aber  auch 
in  der  neuen  Norm  ptwas  mehr  finden  als  blosse  ^Reminiszenzen  an  Ziller",  wie 
das  jetzt  nicht  wieder  mit  abgedruckte  Vorwort  der  2.  Auflage  sich  aus- 
drückte. Jedoch  auch  dem  „Puukt',  an  dem  Verf.  von  Ziller  abweicht,  d.  h.  der 
Gmadanaidit,  wdehe  an  Aliweiclningen  fShrte,  ist  eogleieh  Anfmerkaamkiiit  an- 
gewendet worden  (1903,  S.  418  ff.)-  Hiervon  abgoiehen,  kann  man  jetat  MfeUf 
dass  «ierjenige  „Gegner  seiner  Didaktik",  dem  er  am  bittersten  entg'egnet  bat, 
den  „Pnnkt',  an  dem  sich  v.  Sallwttrk  von  der  Zillerschen  Lehre  eutfemte,  den 
bekauuU:u  Anzeichen  nach  früher  erkannt  hat  als  —  v.  Sallwürk  selbst.  Der 
letatere  hat  ea  ttr  aDgebracht  gehalten,  ana  einem  Privatbriefe,  den  er  1883  iwn 
Prat  TheodMr  Tagt  erhalten  hat,  in  der  Broschüre  „Das  Ende"  (S.  17)  eine  Stelle 
anzuführen,  welche  er  ben-its  1885  in  „Handel  und  Wandel-'  (S.  fit)  verrtffentHcht 
hatte.  Vogt  hatte  damals  geschrieben;  „Ich  habe  noch  immer  den  Eindruck,  als 
ob  in  Ihre  Betrachtang  ein  der  ganzen  Zilierschen  Pädagogik  völlig  entgegeu- 
geaetatea  Prinaip  hereinepiele,  obwohl  nieht  heixaehend  darin  an  ündan  Da 
nun  ana  aoldian  Hereinapielen  ao  ItnMg  MisawatlndniMe  entstehen,  so  werde 
ich,  80  viel  ich  kann,  mich  bemtthen,  an  der  Hand  des  alten  Est  distingxiendura 
mop!i<^h'=t  «<^harf  zu  scheiden"  usw.  Im  Jahre  1886  sab  v.  Sallwürk  hierin  nur 
eine  willkürliche  Entscheidung;  er  wi«i  darauf  hin,  dass  er  „in  keinem  prinzi- 
piellen Punkte  Ziller  beatritten"  habe»  und  wie  er  aieh  damala  an  Herbart  atdlta, 
fat  Fid.  Stnd.  1906,  8.  888  mitgeteilt.  Jetat,  meine  loh,  hat  daa  ^^mg  ant* 
gegengesetzte  Prinaip"  Uber  den  Verf.  beträchtlich  mehr  Harrschaft  erlangt,  wenn 
es  ihn  aticb  noch  immer  nieht  völlig  beherrscht;  jetzt  legt  er  selbst  Wert  darauf, 
das«  sein  Abstand  von  Ziiler  und  von  Uerbart  möglichst  gross  angesehen  werde; 
w&re  es  da  nicht  auch  ftlr  ihn  Zeit,  jenes  Urteil  Vogts  endlich  andern 
ananaehen? 


>)  Rhainiiche  Blätter  fftr  Kra.  n.  Unt.  1801,  8.  8öaiL 


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—    230  — 


3.  Au  dem  „Bade**  bftt  Verf.  stiae  Behauptung;  herttbergenoiMiieii»  die 
Zillereehe  Schule  habe  Überhaupt  die  didaktischeR  Qrttndlehren 

Zillers  aufgegeben.  Libenig  auf  meinen  Gegenstand,  auf  den  ich  mich  hier 
beschränken  muss,  hatte  es  nwh  die  zweite  Auflaufe  g-erade  als  ein  Argument 
gegen  meine  Einwände  geltend  gemacht,  dass  die  Zillersche  Schale  und  dtf 
Vereiii  fttr  wusenschaftliche  P&dagogik  an  ZiUers  Formalatnfen  „fe  et  hielte  n". 
•Das  ist  min  nS^tilgt",  und  Verf.  Ohrt  jetst  (S.  89 f.)  snnftehtt  Zillen  Fordening 
an:  „Diese  Gliederung  [nach  den  formalen  Stufen]  innss  eintreten,  so  gewiss 
alles  Lernen  ein  Appcrsieptionsprozess  ist**  usw.  (Muf^rirtHen  zur  speziellen  Päda- 
gogik 188t>,  ^  12y,)  Damfich  sasrt  er  selbst:  ^Der  Verein  für  wissenschaftliche 
Pädagogik  jedoch,  der  ZiUera  Erbschaft  angetreten  hat,  erklärt  jetzt  in  seinem 
Jahrhach  fttr  1901  S.  2fi3  die  Fonnabtnfen  fttr  ein  variables  Schema"  nur. 
„Dieser  Ziller  anft  Schärfste  widersprechenden  Anttasrang  hat  sich  nun  aoeh 
Rein  angeschlns<?cn  im  2.  Bande  seiner  Pltdagpon^ik  in  systematischer  Darstellung 
(1906)."  Nnr  um  des  ünssercn  Scheines  willen  behalte  man  „die  Formal- 
gtnfeu  Ziiiers  sowohl,  für  welche  dieser  die  unbedingteste  Anerkennung  verlangt, 
als  die  Knltnrstnfen,  die  naeh  dessen  Meinung  der  Natar  des  menschlichen  Geistes 
gemifls  jeder  durchmachen  muss,  .  .  .  als  mSgliehe  und  arbiträre  Formen  bei". 
(Vorwort  der  3.  Aiiflatfe.';  Per  wuhre  Sachverhalt  ist  Päd.  Stud.  lOOfi.  S.  330ff. 
nntofeteilt  und  es  i.st  schwer,  noch  mehr  zu  sagen  nud  doch  di'^  Meinung-  fem- 
zubaiten,  die  Beschuldigung  sei  umgekehrt  nur  ausgesprochen  und  eifrig  verbreitet 
wnden,  nm  den  insteren  Anschein,  dass  die  Lehren  aufgegeben  Misn, 
hervor  anrufen.  Denn  an  sich  hat  die  Sache  selbst  keine  Schwierigkeiten. 
ZUler  betrachtet  wirklich  seine  formalen  Stufen  als  die  natürlichen  Akte  des 
Apperzeption.^'prnr^'sses  und  fordert  daher  Ptrcn(*e  Befolpning".  Aber  er  bezieht 
die  Forderung  salbit  ausdrücklich  nur  auf  die  Fälle,  wu  es  gilt,  konkrete  .Stoffe 
anbofessen  und  diesen  Auffassungen  höhere  Geistesprodnkte  absngewinnen,  und 
Bohliesst  sie  damit  von  anderen  FMlIen  ans;*)  anch  weist  er  wiederholt  hin  anf 
„Modifikationen",  welche  der  Beschaffenheit  des  Stoffes  gemäss«  eintreten  kOnnen*) 
oder  der  .^Itprsperiode  geniRss  eintreten  Tiifl^spy;  Nur  atif  diese  von  Ziller 
selbst  namhaft  {,'eniachteu  M  o  «1 1  f  i  k  al  i  on  en  hat  Votrt  tatsächlich 
hingewiesen,  um  den  Vorwurf  des  Meehani&mu»  abzuwehren;  waü  mau  weiter 
dann  g^nflpft  hat,  ist  sohVpferischm'  Mnm.  Gans  Ihnlich  sagt  Pioi  Bein: 
„Die  formalen  Stufen  sind,  eben  ihrer  formalen  Natur  wegen,  auf  alle  Lehrfächer 
des  erziehendea  Unterrichts  anzuwenden,  bei  welchen  es  sich  um  die  Bearbeitung 
von  Vorstelluntren  handelt.  di«i  zu  Begriffen  verdichtet  werden  sollen.  Wo  dieses 
Ziel  nicht  vorliegt,  sind  sie  selbstverständlich  nicht  am  Platz/  (Man  sehe  die  Bei- 
qddstllle  S.  612.)  Gleich  darauf  werden  die  AnMagen  Schräders  angeführt,  denen 
Vogts  Ansftthmi^en  vom  variablen  Schema  anertt  galten.  Ohne  ansdrilcklichen 
Znsammmenhang  damit  —  denn  dieselben  Anklagen  sind  ja  auch  von  anderen 
erhoben  worden  —  sa^  dann  Rein  S.  547:  „Die  Formalstufen  «ind  nidit  etwns 
Festes,  Unabänderliches,  Dogmatisches,  sondern  wollen  dem  deukenücn,  künstlerisch 


Allg.  Päd.  3.  AnÜ.  S.  291  f.  iß,  Aufl.  S.  2^4 f.].   Materialien  §  131. 
«)  Allg.  Päd.  S.  271  12741  und  323  [JÖSl. 
Allg.  Päd.  ä.  271  (273L]. 


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—    231  — 


f«Ml«irten  Lehier  nur  dia  gnudtoffeaileii  Q«aiditqwiikttt  lii«fe«n.  DmIh  Utgt 
ngkich .  iläss  die  ForBulatnfeBtlieorie  einer  steten  Fortbildnnip  flhig  iat.  Im 

TOn  allem  Mechanismns,  frei  von  allem  SchabloneotniD.*' 

Das  kommt  alles  auf  «las  fri^hpr  'F ül  Sttid,  1906,  S.  332;  erürterte  Verhältnia 
xwischen  Prinzipien  und  Mitteln  iiiimiu.  Herr  Saliwürk  hingegen  fährt  seiner 
wrgtiuHtai  Vdnang  gemSw  fort:  „Um  wnm  mm.  abwtitoB,  ob  die  AnUbiger 
SKUen,  da  de  die  Fordemngen,  die  dieser  eiis  eeinen  pqrdiologiBehen  Priiudi^ 
gezogen  hat,  nicht  mehr  anerkennen,  eine  neue  Be^ifründunc;  des  Formalstnfen- 
systeras  versnchen  werden,  das  sie  äusserlich  beibehalten  haben;  jedeufalls  aber 
mOflsen  sie  angeben,  nach  welcher  Bichtang  hin  sie  eine  Abweichong  von  Zillers 
perentariedier  Yonelirift  gestatten  woUeiL**  Bs  ist  »ber  Jedenfelte  sehr  ttbel 
getan,  von  Zille»  SehBlon  eine  sokhe  naehtri^liehe  Begrandinf  des  fsst- 
steiiflnden  Schemas  zu  erwarten,  gerade  weil  sie  sich  fort  und  fort  bemüht  haben, 
d»Mi  psychologischen  Prinzipien  den  Plat?;  vor  nnd  über  dpn  daraus  aby»'!fiteten 
methodischen  Massregeln  zu  wahren;  für  sie  mnss  die  Aufgabe  bedenklich  en 
die  Frage  erinnern,  was  man  verd&nen  nttsse,  nm  hygienisch  gut  ~  speisen  n 
kVnnen.  Wie  in  der  DÜtetik  die  Frage  nmgekehrt  lantet,  so  moM  umA  die 
Methodik  die  Psychologie,  die  schon  für  sieh  selbst  vom  tfiUigen  Aheeblnss  noch 
w  !T  Mirfernt  ist,  immer  anfs  nene  befracpn  tind  ihren  Antworten  mit  immer 
trueuieui  Phiitste  uacbzuieben  suchen.  Damit  ii»t  auch  der  andere  Wunsch,  den 
V.  Sallwürk  äussert,  abgewiaten.  Dass  man  die  oder  jene  Abweichungen  ge<- 
stntten  wolle,  kann  nnd  mag  ein  Vorgeeelnter  in  dienstlicher  Bielttnng sagen, 
aber  wer  in  freier  wissensch  if  Ii  her  Arbeit  etwaa  entscheidet,  tnt  das  nicht  ans 
„gutem"  oder  in  strong-em  Willen,  sondern  normalerweise  nur  um  Gehorsam 
gegen  die  <jri\nde,  ilie  seinen  Willen  gebtindeu  haben,  und  brinti^t  so  nicht 
„arbiträre m>uderu  uutweudige  Funueu  hervor.  Die  Taktik,  von  der  v.  äall- 
wllrk  ao  viel  spricht,  wird  allerdings  bei  Beurteilung  Torliegender  Yennehe  immer 
nodi  den  geeignetsten  Hassstab,  der  jeweilig  ansnlegen  ist,  an  treffen  suchen 
müssen.  Dass  der  Verf.  hierin  die  Anlegung  des  strenq:er(^n  Masses  vcrmiäst, 
kSnnte  an  sich  erfreulich  sein,  wenn  nicht  die  TTm^ebung,  in  der  dieser  Wnn^^rh 
auftritt,  so  sehr  geeignet  wäre,  misstraaisch  zu  machen.  Hierzu  rechne  ich  auch 
die  Anneiknng  anf  8. 18  der  2.  nnd  9.  Anflage,  wekke  dareh  die  ungenaue  Art, 
wie  sie  von  der  Freikoit  in  der  Anwendung  der  Formalstofen  q»rieht,  den 
Sckein  nnd  dieGe6üiren  der  Will  kürlicbkeit  möglichst  naiie  an  rttcken  snobt, 

Die  Art,  wie  Ziller  seine  methodischen  Torschriften  aussprach  nnd  verteidi^?:te, 
war  allerdinifü  mit  bestimmt  dadurch,  dass  er  damit  der  Mcinnn%^  seiner  Zeit  ent- 
gegentrat, eine  solche  strenge  Stufenfolge -sei  überhaupt  Uberflüssig,  die  angebotene 
Pom  aei  nidit  beieehtigt,  die  berechtigte  Form  flnde  jeder  von  selbst,  oder  ai« 
aei  Boek  niidit  geftinden,  oder  do  aei  Oberbanpt  niekt  m  ibdra,  oder  wie  et  eonst 
im  Gewirre  der  Meinungen  damals  heissen  mochte.  Versetzt  man  sich  in  diese 
Zpjtlace  zurück,  so  bemerkt  man,  wie  es  jetzt,  nachtleni  Ziller  und  seine  Schule 
den  stärksten  Wogenprall  ausgehalten  haben,  t.  Sallwürk  mit  seiner  Normalform 
doeh  betrioktHek  leiditer  hat.  Immerhin  darf  man  der  Lage  noch  nicht  an  sekr 
trauen;  dio  Zeit  ist  stark  mit  BnbJektiTitRt  getodeu,  und  daa  Auftreten  Meatmero 
scheint  fast  dieselbe  zu  stärken.  Ich  sehe  daher,  wie  in  meiner  ersten  Bespreeknng 
eiUirt  worden  ist  (Pftd.  Stud.  1908»  S.  428f.),  des  Torf,  fiintieten  fftr  eine  all- 


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—    232  — 


gmdM  Metlioda  inun«  noeli  ils  ein  Verdiemt  «b  ud  würde  gegen  dieielbe  tu 
tMk  Mhwciüeh  die  Feder  gerittut  beben,  wenn  dee  Bmb  ntcbt  tber  die  Metiiode 

Zillen  und  Aber  seine  Anhänger  so  viel  ünnttreffendei  belichtete  oder  anch  Zn* 

treffendes  mcht  ht^richtptp  mi«l  wenn  nicht  znß-leich  gerafli»  ifnp  Berichte  so 
begierig  aufgegriffen  und  ausgebeutet  worden  wären,  ünterdeüsen  ist  nun  ein 
weiterer  Onind,  nicht  ganz  xa  schweigen,  hiiucngekomiiien :  die  Behaaptimg,  dass 
nuHi  die  didaktiecben  Qrandlehren  an^iegeben  beb«. 

a 

Praffmor  Boutstt  fibtr  BttetforMhinig. 

Yen  Jnl.  Honke  in  Oeestemlbide. 

Im  Lebrerrerein  fttr  Geestemttnde,  Lehe  und  Umgegend  hielt  UniTersitäts- 
pfeteeMir  Boneiet  Tor  Itngerer  Zeit  einen  Yortng  über  BiMloreebnnff.  Dieee 
Yemnunlnng  wer  nicht  nnr  von  Lehreni,  eondem  eneh  von  vielen  AngehSiigen 
anderer  Berufe  besucht. 

Einleitend  legte  der  Referent  die  Berechtigung  der  modernen  Hibelkritik 
dar,  verwarf  jedoch  die  Cnterscheidang  zwischen  poflitiver  und  negativer  Kritik, 
deui  eine  Kiitifc,  iUe  nur  lentflren  wolle,  gebe  eii  nicht.  Der  Anidnick  «Bibel- 
hrttik'*  habe  ttberfaanpt  viel  nur  Yerdnnkelnng  dei  fledie  beigetragen,  dämm  aei 

es  richtiger,  dafür  den  ÄnsdrodE  „Bibelfor^^chnng"  an  gebranchen«  Oae  Ziei  dieser 
Forschung  sei,  flie  Bibel  im  ßranzen  nnd  in  ihren  verschiedenen  Teilen  griindlich 
kennen  zu  lernen.  Bei  der  Bibelforschong  mUssten  die  gleichen  Grnndsätze  zur 
Anwendtmg  kommen,  die  bei  der  profanen  OeschichtaforKhong  oubestritten  in 
Geltnng  rind.  Jede  wiesenecbaftliche  Fcreehnng  enthalte  aiieh  Kritik,  dieee  laeee 
rieh  deshalb  auch  bei  der  Bibelfor^chung  nicht  ausschalten. 

Die  Bibel,  d.  h.  Buch  der  BiUht  r,  setze  sich  ans  einer  Anzahl  grösserfr  nnd 
kleinerer  Schriften  zusammen,  die  in  dem  Zeitraum  von  1000  v.  Ohr.  bis  2lX) 
n.  Chr.  entstanden  sind.  Der  Kanon  des  alten  Testaments  ist  kurze  Zeit  vor 
CQiiiati  Oebnrt  aosanmengeetelit  worden,  der  dee  nenen  im  8.  Jabrhnndert  nach 
Christi  Geburt.   Die  Auswahl  ist  im  aligemeinen  als  gut  zu  bezeichnen. 

Die  Forschnng  richtet  zunächst  ihr  Augenmerk  darauf,  den  richtigen  Text 
festzustellen.  Daj*  ist  nicht  so  einfach,  wie  man  wohl  irlanben  könnte,  weil  wir 
kein  einziges  Buch  der  Bibel  iu  der  Urschrift  besitzeu.  Was  wir  haben,  üind 
Bandeehriftea  ans  späterer  Zeit,  meietene  am  dem  4.  Jehrhnndert  n.  Chr.  AttMi>> 
dem  besitsen  wir  griechische  Übereetaangoi  ane  dem  2.  Jahrhundert  Die  einseinen 
Handschriften  zeigen  vielfache  Unterschiede.  Luther  henntzie  fi\r  seine  Über- 
setzung, di<'  leider  im  Bereich  der  evangeünchen  Kifhf  niuHtergüitig  geworden 
ist,  da»  lateini.<iche  Bibelwerk  des  Krasmus  von  Rutterdaro.  Dieses  ist  aber 
eeineramt  in  grosser  Eile  beigestellt  worden  und  entbilt  wohl  deshalb  nele  nnd 
schwere  Fehler  nnd  Ungenanigkeiten.  So  gehSrt  x.  B.  der  Ym  1.  Job.  6»  7: 
„Drei  sind,  die  da  zeugen  im  Himmel,"  nicht  in  die  Bibel.  Der  Schlnss  des 
Karknaerangelioms  Mark.  16,  d— 10,  ferner  die  &  nnd  7.  Bitte  im  Vatenmeer 


—  233  — 


4m  LokM  sind  ebeuitlla  von  frander  Hand  liiiiiiigtAkgt  Beim  alten  TetUment 
ttiauncn  »war  die  Hudachriften  beeser  ttberein,  des  itthit  aVer  nnr  daher,  da« 

wir  sie  nnr  in  der  Form  besitzen,  die  sie  im  P>.—9.  Jahrhundert  n.  Chr.  erhalten 
haben  'Hie  ans  frttherer  Zeit  stammenden  j?riechi-i  hen  f'hereetzungen  alten 
Testamentes  zeigen  z.  B.,  dass  im  Jeremias  kein  Kapitel  mehr  an  der  richtigen 
Stdle  steht  Die  Uniieherfaeit  des  Textes  ist  mittmter  so  gross,  dsas  moderna 
Ohanetsung«»,  wie  die  sdir  n  empfehlende  von  Kautsdh,  die  Lttdcen  dureh 
Striche  und  Punkte  andeuten.  In  dem  Handkommentar  zum  alten  Testament 
yon  f'njfessor  Nowack  liest  man  ffi^t  hH  jeiiem  der  zwölf  kleinen  Propheten  die 
Anmerkaug,  dass  der  Text  an  einer  sjtelie  g-anz  und  gar  verderbt  oder  unrettbar 
verdorben  sei.   Der  ursprüngliche  Wortlaut  kimn  vielfach  nur  vermutet  werden. 

Eine  weitere  Aofigabe  der  Forschung  ist  die  sprachliche  Bearbeitung  des 
BibeltaKtes.   Ton  der  Sehivierigkeit  dieser  Anllgahe  kann  maii  sich  ein  Bild 

machen,  wenn  man  bedenkt,  dass  z.  B.  Christus  aramäisch  gesprochen  hat,  seine 
Worte  niT?  aber  in  griechischer  Sprache  fiberliefert  sind.  Da  die  SprachforBchnnp: 
grnsjäo  Furi.Hthnile  gemacht  hat,  kann  man  jetzt  besser  nnd  richtiger  übersetzen 
als  zur  Zeit  ded  deutschen  Reformatorb.  Desdalb  versteht  mau  jetzt  auch  eiuzelue 
AasdrOcke  hesser.  Beispieisweise  bedeutet  dv  Ansdraok  JB«lha  Gottes"  nicht 
dsa,  was  das  Dogma  daranter  versteht,  »ondem  so  viel  als  „Ansgewiihlter  Gottes", 
was  jfleicbbedeutend  mit  dem  Ausdruck  ^MeKsias"  ist.  Indem  sie  den  Dingen 
anf  den  Grand  geht,  hilft  so  die  Spraehfurschang  vieleu  f alr^chen  Schein  zenttüreu. 

Die  Forschung  hat  weiter  festzustellen,  ob  der  Inhalt  der  geschichtlichen 
BSdMr  aneh  als  wiiUiehe  Gesehiehte  sa  hetraditen  ist  Vidbeh  ist  das  nicht 
dir  IUI,  denn  saust  mttssten  die  Btleher  der  CSiroaiker  nnd  dw  KSnige  besser 
tbereinstimmen,  wenn  auch  nicht  in  den  Tendenzen,  so  doch  in  den  Tatsachen. 
Die  fünf  Bücher  Mosis  sind  aus  verschiedenen  älteren  Urkunden  zu8amn)*'nL'f'fügt. 
Daraus  erklärt  es  sich  z.  6.,  dass  im  Anfang  der  Genesis  verschiedene  Sciiupluugs- 
httiehte  luid  Blatberiehte  sa  einem  Oaiuten  Terarbeitet  worden  sind,  obgleich  die 
KiMeiheiteii  nieht  saeinander  pttsm,  gam  ahfesdien  von  der  fast  irSrtlicheii 
Übereinstimmung  mit  den  viel  älteren  babylonischen  Urkunden.  Ähnliche 
Piffpr^nzen  fin<!*'Ti  si^h  anch  im  neuen  Testament.  Jesu  Oebnrtsgeschichte  nach 
Matthäus  nnd  Lukas  ut  grundverschieden.  Übereinstimmung  herrscht  nur  darin, 
dsas  beide  eine  wanderbare  Gebart  annehmen.  Weitere  Differenzen  finden  sich 
in  den  Anfeistdnuigsheif^iten,  heim  Vaterunser,  in  der  BinBetsmig  des  Aheod- 
md  in  der  Bergpredigt,  die  hei  Lukas  eine  Feldpredigt  ist. 

Femer  mnsa  auch  die  Frage  nach  der  Datierung  und  Herkmift  fler  Bücher 
erforscht  werden.  Mau  dar!"  sich  hierbei  nicht  anf  die  Cberiieleruug  ver- 
lassen, noch  aui  däJi,  was  die  BUcher  selbst  Uber  ihre  Herkunft  und  Abfassung 
beriehten.  So  ist  Moses  nidit  der  Vertssser  der  nach  ihm  genannten  Bücher 
ond  die  Kapitel  40 — 60  im  Jcsaias  sind  von  einem  unbekannten  Propheten 
verfasst  worden.  Daü  Evangelium  von  Matthäus  ist  niehf  von  Matthäus  und 
der  Hebräerbrief  nicht  von  Paulus.  Man  ihirf  sich  auch  nicht  daran  binden,  was 
die  biblischen  Schriftsteller  Uber  sich  selbst  sagen.  So  ist  daM  Buch  Daniel  nicht 
von  Daniel  geschrieben,  sondern  von  jemand,  der  splter  gelebt  hat  Das  6.  Buch 
Ifosea  wurde  eist  unter  Jonas  im  Tempel  ,.gefnnden'',  wahrscheinlich  ist,  dass  es 
dsdttals  oder  erat  kvn  vorher  verfüist  worden  ist.  Aach  sind  die  Fastoralhride  (an 


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—   234  — 


Tiuiütheuü  uud  Titus)  nicht  von  Paulas  geschiiebeu  aud  Johauue«  ist  nicht  der 
YerfaMer  des  4.  STftiigeliiiins.  Du  LnkaMvanfeliiiin  eneheint  tb  das  jftiigate. 

Manche  Stoffe  des  alten  Testament»  werden  intünilich  für  Gc-chichtti  gehalten, 
z.  B.  die  Geschichte  der  Patriarchen.  Ihr  Inhalt  ist  Sai^e  oder  DichtunfiT-  Zwar 
hat  Jesus  sie  offenbar  aia  Geschichte  betrachtet,  aber  er  ist  in  dieser  Beziehung 
nicht  als  Autorität  anzusehen. 

Wichtiger  al«  Eehtheitaftagen  und  Datiemng  der  Qaetten  Ist  die  Frage 
nach  dem  inneren  W«t.  Wichtig»  ala  die  Frage,  ob  Abtaham  eine  historische 
Figur  ist,  ist  uns  der  Gott  Abrahams.  Ebenso  ist  es  gleichgültig,  nb  der 
Schöpfungsbericht  Geschichte  oder  Mythe  ist,  bestehen  bleibt  der  Kern,  dass  die 
Welt  aus  dem  Willen  Gottes  hervorgegangen  ist.  Vom  neuen  Testament  bleibt 
«la  Hauptsache  beetehen  diu  gcjächiehtlaclke  PeraSnUchkeit  JeiO,  wenn  Mch  nandie 
Einaelheiten  nicht  genttgend  heglanUgt  dnd. 

Die  Forschung  hat  weiter  festgestellt,  dass  die  Frömmigkeit,  wie  sie  in  der 
Bibel  zum  Ausdruck  kommt,  in  den  einzelnen  Teilen  dpr  heilisren  Schriften  sehr 
verschieden  ist.  80  ist  z.  B.  der  Gott  Israels  nur  ein  Volksgott,  die  Propheten 
hatten  durchweg  eine  edlere  Vorstdlung  von  Gott  In  der  Folgezeit  (rat  ein 
Verfall  ein,  da  kam  das  Oeeets  und  der  öde  KnltiiB  cor  Henaehaft.  In  der 
Peiaou  Jesu  erreidite  die  Frömmigkeit  ihren  unttbertrefTlichen  Höhepunkt. 

Wir  kftnnfn  unsere  Augen  auch  nicht  vor  d'^r  Tatsache  verschlu^isen,  dass 
die  Keli^fion  Israels  viele  Anregungen  aus  der  Religion  anderer  Völker  empfangen 
bat.  Das  hat  Delitzsch  in  seinen  Vorträgeu  über  Babel  und  Bibel  schon  weit- 
Iftnfig  aaadnandeigmtst. 

Welche  Slellnng  nahm  Jesus  za  diOm  seiner  Zeit  vorhandenen  Teil  der  Bibel 
ein?  Antwort:  eine  sehr  freie.  Er  war  kein  Buchstabengläubiger ,  mehrfach 
sagte  er:  Ihr  habt  gehört,  dass  zu  den  Alten  gesagt  ist  .  .  ich  aber  sage 
euch  .  .  und  dabei  behauptete  er  doch,  er  sei  nicht  gekommen  aufzulöneu, 
soudem  au  erfttUen.  Im  Gegensata  in  ihm  waren  ea  die  Pharisäer,  die  eich  au 
den  Bnehstaben  dea  Kanena  UaamMiten.  Jean  Stellung  ist  die  richtige.  Wenn 
auch  zugegeben  werden  muss,  dass  einzelne  Teile  der  Bibel  minderwertig  sind, 
was  Luther  schon  erkannt  hat,  als  er  von  der  ..ströhernen  Epistel"  sprach,  so 
bleibt  doch  sehr  viel  Yortrefnicbes  übrig.  ist  nicht  nötig,  die  Bibel  gegen  die 
Kritik  m  bendiataen,  aie  kann  Kritik  vertragen.  Dareh  den  Sdiatten  wird  daa 
Gttte  in  ihr  nnr  um  ao  plaatiaeher  heraaBgeataUt  Wir  erkennen,  daae  ms  die 
Bibel  doch  noch  daa  HQehste  und  Beste  zu  sagen  hat.  Darum  wird  sie  sich  aehmi 
wieder  ilire  Stellung"  verschaffen,  wie  die  Sonne,  die  das  Gewölk  zerstreut. 

Laugauhaitender,  brausender  Beifall  folgte  diesen  Ausführungen.  Ein  Lehrer 
und  ein  Pastor  sprachen  dann  noch  im  Sinne  des  Beferenten,  ein  K.ata8ter> 
kontrellenr  Tertddigte  den  orthedexen  Standponkt.  Der  Yonitaende  gab  um 
Schluss  unter  Ichliafter  Zustimmnag  der  Lehrer  bekannt,  dam  yoranaiichtlich  Herr 
Dr.  Bonaiet  in  nicht  an  femer  Zeit  hier  eine  Bmhe  fon  Vortiigcn  halten  wiid. 


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—  235  — 


C.  Beurteilungen. 


Bosenbur^,  Dia  Geschichte  für 
Prftparandenanstalteu.  (2  Teüe, 
sni.  a,10  M)  nna 

He!uze,  Tili:  Geschifht«-  für 
Leh rerbildungsaustalten  (nea> 
bearbeitet  und  ergiost  von  B«Ma* 
bnry.  4  Teile,  zas.  10  M.).  Hannover 
und  Berlin,  C.  Mejer  (ü.  Prior), 
1905—6.  (Die  leUsten  twei  Tdle 
Up:cn  dem  Unteneiehiieteii  nicbt 
mit  vor.) 

Da«  Brett»cliiii'i'ler<M'he  Werk  (siehe 
Beaenalon  im  zweiten  Heft  eifurdert 
einen  ganzen  Lehrer,  dus  il.inze- 
Rusenburgsche  macht  ihu  fast  über- 
tiiis>4ig.  Bezeichnend  ist,  dass  eine 
Menge  schou  vorliegender  Kritiken  da^ 
Werk  «nr  selbständigen  Vorbereitung 
für  dit-  Ijehrerprilfungen  empfiehlt. 
Brettscbueideni  üilfebncb  soll  die  inner» 
liehe  yerarbeitiing>  des  Stoffe  nach  dem 
gtiioH.s»?iR'n  riitrrrichtf  fördern,  da« 
andere  wiederhoit  die  im  Unterrichte 
gebotene  anscbavlicheSefaildemnir.  Daher 
srhwillt  es  anf  insgesamt  (>  Bände  an, 
deren  Preiü  angeHicnts  der  guten  Aus- 
stattung (dem  vierteiligen  Werke  sind 
Bilder  angeheftet  i  no*  h  liillii;  erscheint. 
Stellenweise  üiud  Qaell^u  int  Anazuge 
oder  wörtlich  aufgenommen  worden. 
Das  Kulturgeschichtliche  erfährt  auf 
allen  Stufen  entsprechende  Betununi^. 
Interessant«  Einzelheiten  erhöhen  die 
Anschaulichkeit.  Die  Diaponicmng  ist 
klar,  der  Stil  llQsfiig,  die  .Stoffwahl 
etwan  reichlich,  die  Stoffbehandlung 
xuverläseijr.  Stets  wird  nach  An^ 
deeknng  der  gesehiditKehen  Znminiinen- 

Iianj;»!  i^  r richtet,  doch  steht  ilie  Höhe 
der  Auffa(j8ung  der  bei  Brettschueider 
naeh.  Die  angefQgten  Zeittafeln  dienen 
nnr  der  Einprägung  der  Daten,  niiht 
dl  a  Ztisammenhanges,  und  der  Schüler 
wird  daneben  zum  Exzerpt  oder  snr 
Tabelle  greifen.  Wenn  wir  von  einem 
moderueu  Lehrbuche  Übersichtliche  Za- 
:^aiimienfa.s8ung  und  Aiangang  Stt 
denkender  Vertiefnng  verlancren.  dann 
gibt  das  Heinze-Rosenhurgsche  Werk 
zn  viel  Hilfe  für  die  unmittelbare 
Wiedergabe  des  Stoffes,  zu  wenig  ftlr 
die  Einpr&^ng  and  fortdauernde  Ver- 
erbeitmiff.    Se  bleibt  ein  enpleblei»- 


wertes  Geschichtslesehuch  und  vorzilij- 
Uch  geeignet  zur  Vorbereitung  de» 
Lehren  aut  den  Schvlmitenidit 

■•Ins«,  Die  Geschichte  in  ta- 
bellarischer Über.-^ieht.  19.  Aufl. 
heraosgeff.  von  HagefSrde.  Hannover, 
Helwing,  im,  2  IL 

Geachiehtetaliellen  sind  wohl  eine 

antiquierte  mfthodi.sche  Erscheinung. 
Als  alleinige  (nundhijre  für  den  Unter- 
richt sind  sie  unbrauchbar,  da  sie  an 
das  Gedächtnis  des  Lernenden  zn  Erms«te 
Anfordeningen  stellen;  und  neben  dem 
als  ausirefiihrtcs  Merkbnch  gedachten 
Hilfsbncb.  das  durch  Druck  im  Text 
oder  durch  Glossen  die  Hauptsachen 
heranshebt  und  im  Anhange  Zeittafaln 
bietet,  sind  sie  überflüssig.  Nur  wo 
an  einem  Lehrbuche  mit  breiter  Dar- 
stellung ft'styt'lmlten  wird,  da  kann 
eine  Tabelle  tfute  Dienste  ton.  Sie 
erspart  aeltranbende  Ezserpte.  wie  sie 
wenigstens  Heissii^c ScliUler vc  r/n ivbiuen 
pflecren.  Exzerpte  sind  aber  Eigen- 
erarbeitetea,  nnd  ihre  Einprägung  wird 
durch  das  LokalgedBrhtnis  stark  unter- 
stützt. Heinzes  Tabelle  ist  ja  ge- 
schickt  zusammengestellt,  aber  von 
erdrückendem  Stoffr<'ic!itnni  Wie  nun, 
wenn  sich  Schüler  aus  der  Tabelle 
wieder  eine  Tabelle  exzerpieren?  Viel 
lieber  sehe  ich  in  der  Hand  des  Lernen- 
den ein  geschichtliches  Fragebuch,  das 
zn  Längs-  und  Querschnitten,  anregt 
und  deren  Herstellung  anbahnt.  Übrigens 
ist  die  StoiTwahl  bei  Hcinze  für  prenssi- 
3che  Verhältnisse  zuj^eschnitten.  Darf 
mau  aas  der  starken  Verbreitnng  des 
Boebs  anf  mnneherorts  noeh  flnliche 
Oedlehtnisftberlastnng  sehliessen? 

Ifenbaner-Seyfert,  Lehrbneh  der 

(le  schichte  für  sflchp.  Real- 
schulen und  verwandte  Lehr- 
anstalten. Halle ,  Buchhandlung 
des  Waisenhanses,  1906^.  8  Teile, 

ZU.S.  ö,(><)  M, 

Dm  Werk  ist  eine  üu^tserat  praktische 
Bearbeitung  des  für  prcussiscne  hObere 
Schulen  bestimmten  und  stark  ver- 
breiteten Meubauerschcn  Lehrbuche«  der 
Geschichte  in  der  dnroh  den  Titel  be- 


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236  — 


MieliDeten  Ricbtnng.  Vou  der  grieeU- 

ichen  und  rSmischen  Gesohichte  ist  ntir 
dM  kultnrgeschicbtli'-h  BfMlt'ntsame  und 
nmtfcUich  Ansprechende  aufg-encnumeu 
worden.  Die  sächsische  Geschichte  ist 
der  allgemeinen  deutschen  eingefügt 
Daa  Ausland  wird  mit  Konsequenz  nur 
da  ETCstreift.  wo  seine  Verhältnisse  die 
deiu.scbeu  unmittelbar  bestimmten  Zu 
der  Darstellung  der  politLschen  (le- 
Bchichte  treten  wie  bei  Ivenbauer  in 
angemessenem  ümfange  Terfassnnj^.H- 
g^chicbtliche ,  knltnrTiistorische  und 
ToUuwirt&cbafÜiclieBeleiirungeu.  Trotz- 
dem ist  der  gCBUnte  Stoff  auf  niclit 
^  iiu  ll^iM  Seiten  untergebracht  Die 
Sprache  lat  die  der  klaren  Beschreibung; 
stets  entspricht  sie  dem  Standpunkte 
des  Realschü!» i'!  -  r^i  htliche  Gliede- 
rung des  Sttittes,  Heran»hebuug  durch 
den  Druck,  Randglossen  nnd  angehängte 
Zeittafeln  r-rhrshen  die  Leichtigkeit  der 
Auffassung  und  Eiupräguug.  Der  An- 
■chauung  dienen  die  dem  Lehrbncbe 
gleichfalls  beiß-efHjften  Bilder  und  Karten. 
Jene  sind  mit  Verständuis  gewählt  und, 
wenigstens  im  1.  Teile,  gut  ausgeführt. 
Diese  sind  sauber  and  halten  sich  fem 
von  Terwirrender  Überladung.  Der  un- 
bestreitbare Vorzug  des  Buchen  liegt 
darin,  dasa  es  erstens  dem  Lehrer 
(nrdwte  Freiheit  in  der  Heranbringnng 
de»  S^  ff  .  ui  I  n  Schüler  ISsst  —  für 
die  Glitiduraug  i»t  nur  die  Zeitreilie, 
nicht  der  methodische  Gesiehtsimiikt 
massgebend  — ,  dass  es  zweitens  dem 
Lernenden  die  Aneignung,'  wesentlich 
erleichtert,  und  dass  es  drittens  jedes 
weitere  Hilfsmittel  (ausser  Wandkarte 
und  -bild;  entbehrlich  macht.  Der  Geld- 
pnukt  ist  aber  bei  der  TolkstUmlicben 
KealKolm!«'  beachtlich,  die  ihre  Schüler 
auch  aus  weuiger  bemittelten  Kreisen 
empfängt.  Unsere  Zeit  neitft  ohnehin 
zu  philontropistiaeher  Übertxeibaog  des 
Lemapparates. 

Kurse«  Deutsche  Geschichte  I 
(Mittelalter  hU  1619).  8.  Aufl., 

1906.  Deutsche  Geschichte  III 
(Vom  westfälischen  Frieden  bis 
snr    Aiififisnng     des  alten 

T^eichs,  1648—1806).  Sammlung 
Göschen,  33.  nnd  3ö.  Bändchen  (je 

Modem  ist  an  diesem  Leitfaden 
g«genttbcr  ihnlicheii  die  Chanücteri- 


aiemng  der  Quellen  an  Schluss  der 

Kapitel.  M-i'*('rRiUtig  gegliedert  und 
in  knajjper,  klarer  Sprache  wird  vor- 
wiegend die  politische  Geschichte  der 
Deutschen  dargeßtellt.  Die  Entwick- 
lung der  kulturellen  Verbaltiii.sse  ist 
auf  einen  angemessenen  Kaum  be- 
schränkt Die  Verknüpfungen  der 
deut.>*chen  Grschicbte  mit  der  des  Aus- 
lands werden  genttgenu  beleuchtet.  Am 
£nde  jedes  Bändctoas  befinden  sich  die 
flblichen  Zeittafeln.  Stichproben  er- 
gaben, dass  das  Werkchen  nn  Cf  nauig- 
keit  der  Verarbeitooff  von  üueiie  und 
Literatur  auf  der  flOhe  der  Zeit  itehl 
Der  gebildete  Laie,  der  Studierende, 
der  reifere  Schüler  wird  es  dankbar 
hegrtlsaen. 

Mwgk,  Germanische  Mjrthologie. 
&iBalxag  Gitooken.  16.  Bttndckea. 
1906  (pIS  M.). 

Dieses  lichtvolle  Bürhl.iTi  rr>rhr!nt 
zn  einer  Zeit,  wo  wir  auiaugca,  iu  den 
religiösen  Vorstellungen  des  alten 
Orients  heimischer  zu  werden  als  in 
dem  Heidentum  unserer  eigenen  Vor- 
fahren. Auf  124  Seiten  führt  uni 
ein  in  die  Quellen  des  altgermaniscben 
Glaubens,  in  Auimisnius  und  Manismus, 
die  vielfältig  ineinander  überfliessen,  in 
die  alt gennaniscbe  (iötterwelt ,  iu  die 
von  der  isländischen  Dichtung  über- 
lieferte Kosmogonie  und  Eschatolngie 
nnd  endlich  in  den  alt^ermani:»chen 
Kult.  Bei  aller  Knappheit  zeigt  das 
Werkclien  die  grösste. Klarheit  und  die 
Vollständigkeit  des  Überblicks.  Uo^k 
ist  anerkannter  Faehmaiin ,  und  sein 
grösseres  gleichnamige^^  ^Vr  rlc  wird 
gegenwärtig  in  Facharoeiteu  am  meinten 
ritiert.  Das  vorliegende  Bttchldn  ist 
an  die  Stelle  von  Kauffmauns  ,.Dent8cher 
Mythologie"  getreten  nnd  erscheint 
gegenüber  dieser  inkaltlieh  bedeutend 
vertieft. 

■erInger,  Das  dentsche  Hans  nnd 

sein  Hausrat.  IIH.  Bündchen  der 
Sammlung  „Ans  Natur  und  Geistes- 
weit**.  Leipzig,  Tenhner,  1906. 
1,36  M. 

Aus  Vorträgen,  die  df>r  Verfasser 
1905  iu  Salzburg  gehalten  hat,  hervor- 

Segangen,  führt  das  Büchlein  ein  in 
ie  Üesoluehte  des  dentacben  üanaea 


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—   237  — 


Ton  der  Urzeit  bis  zur  Gegenwart. 
Die  Wahl  dea  Stoffes  und  der  Ab- 
bUdangen  ist  vorzüglich.  W  enn  ein 
Gelehrter  den  Mnt  hat,  einen  Stoff, 
dessen  wissenschaftliche  Ergründniig 
noch  nifht  ah!3rsfh!o<^ppn  ist,  znsamnien- 
slellt'ud  zu  ul^erscliituea,  ist  eiue  sub- 

1'ektive  Ordnung  dea  Stoffes  nnd  die 
Cinführung  mancher  einseitiger  Über- 
zengongen  nicht  zn  rermeiden.  Der 
Venas8er  knüpft  das  Vorhandensein  von 
Haustypeu  uichl  schlechthin  an  die 
geographieehen  Eänllttiise,  s.  6.  des 
Klimas  und  der  Bodenbeschaffenheit, 
■onderu  an  die  Macht  der  Nachahmung 
im  Yerkelnr.  Der  komervmtiTen  ZBhig<- 
keit  des  Bnnrm  tind  dem  TTmstande. 
dass  jener  vor  kurzem  die  vSpeziali- 
Mening  der  'ntigkeiten  noch  nicht 
kannte,  also  auch  sein  eigner  Bau- 
meister war,  verdanken  wir  es,  dasa 
wir  heute  noch  anf  ferne  Urzeiten  dee 
Hausban-^s  znrüf  kblicken  oder  ans 
Eest«;u  (laiaui  zurUckischliesseu  künuen. 
Darum  behandelt  M.  im  ersten  Hanpt- 
teile  die  heutigen  Bauernhäuser  Europas, 
im  besonderen  das  oberdeutsche,  und 
ffibt  im  zweiten  Teile  die  tJeschichte 
letatereo.  Der  Fachmann  darf  da» 
MdUein  nkbt  eis  bleuen  Popnlni- 
tfenmglffflliueh  ansehen,  und  dem 
Liüfln,  du  lieli  „in  seinen  vier  Pfählen** 
Mnuach  naeheii  will,  wiid  ee  ein  m- 
Terlässifi:er  FQhrer. 
Hochlitz  i.  S. 

Dr.  phil.  Wngner. 

Deutscher  Literatnratlas.  Von 
Dr.  Siegfried  Robert  ^agel,  k.  k. 

Prüfessür  in  '*^t<*yr.  Wien  und 
Leipzig  1907,  k.  u.  k.  Hofbuchdr uckerei 
und  Hof-Verlags-Buchbandloii^  Cud 

Fromme.    K.  7,20  -  3f.  ß.— . 

nDieUeottzapbie  ist  eine  assoziierende 
WmtittKlIaal  und  soll  die  Gelegenheit 
nützen ,  Verbindung  unter  mancherlei 
Kenntniasen^dae  nicht  vereinselt  stehen 
dlbrfen^  so  ftiften"  —'  Mgt  Herbart  In 
seinem  ümriss  padatroe^i8ch(  r  Vor- 
lesungen. Die  politische  Geschichte 
machte  sich  den  assoziierenden  Chetnkter 
der  Geogrmphiü  schon  immer  zunutze. 
Li  neuerer  Zeit  haben  auch  die  anderen 
geschichtlichen,  sowie  die  naturwissen- 
Bohaftlichen  Disziplinen  angefangen, 
mit  der  Geographie  ein  Bündnis  ein- 
ngnbciL  Vmi  wnietoen  kkfnttniii  be- 


j^renzten  Versuchen  abgesehen,  ist  Nagels 
deutscher  Literatnratlas  das  erste  grfoii- 
liche,  umfassende  Unternehmen  zu  dem 
Zwecke,  die  Beziehungen  zwischen 
Landschaft  nnd  literetnr  durch  Karten 
deutlich  zn  machen.  „Dit^se  Karten 
sollen  eiuerseitÄi  zeigen,  welche  Land- 
schaften überhaupt  an  der  Henror- 
bringuug  der  bedeutenderen  Dichter 
nnd  Denker  Anteil  haben,  anderseits, 
«eiche    Landschaften    oder   Städte  zu 

Sewissen  Zeiten  besondere  Auziehongs- 
raft  fttr  diese  Geister  besemeD  haben.* 
Es  ist  für  jeden  Literaturforscher  und 
Literatorfrennd  wertvoll,  an  der  Hand 
der  13  Hanpttafeln  und  einer  grSsserea 
Zahl  von  Nebenkarten  lir  (ifschichte 
des  deutschen  Schrifttum»  bis  zum 
Jahre  1848  zu  verfolgen.  Dass  die 
letzten  f)  Jahrzehnte  nicht  berück- 
sichtigt wunieu  .sind,  ist  erklärlich 
genn^.  Die  Tafeln  14  nnd  15  enthalten 
ftnsser'!erTi  noch  eine  Anzahl  Lebens- 
karten ( liiiihor,  Sachd,  Opitz,  Klopstock, 
Wieland,  Lessing,  Herder,  Schiller, 
Goethe,  Kleist,  Hebbel,  Grillparzer). 

Behufs  sicherer  Orientierung  wäre 
es  wünschenswert,  das.s  natürliche  Stüt«- 
punkte  —  am  besten  die  FlussUlufe  — 
mit  in  die  Skizsen  eingezeichnet  wSren. 
Vii'lleicht  entschliessen  sich  Verfasser 
und  Verlag  bei  einer  2.  Auflage  dazu, 
obwold  ieb  die  damit  Terbnndenen 
Schwierififkeiteu  nicht  verkenne.  Es  ist 
für  den  Benutzer  des  Karteuwerkes 
unbequem  und  zeitraubend,  politisdie 
nnd  physikalische  Karten  daneben  zu 
halten,  damit  er  sich  genau  zurecht- 
findet. Das  beigefügte  Sachregister  i8t| 
wie  ich  mic:h  durch  verschiedene  Proben 
Uberzeugt  habe,  gründlich  und  genatti 
die  Äussere  Ausstattung  des  Werket 
swnr  einfach,  aber  geschmackvolL 

Joseph  Victor  v.  Scheffel.  5.  Heft 
der  Bilder  aus  der  neueren  Literatiir, 
berensgeg.  von  August  Otto,  Kgl. 
Seminarlehrer  in  Hilchenbach.  III  S. 
Minden  i.  W.,  C.  Marowsky. 

Ottos  Bilder  stellen  uns  Rosegger, 
Gerok,  Raabe,  Riehl,  Scheffel,  Storm, 
Mörike,  Keller,  Freitag,  PnV.n  also  das 
Leben  und  Schaffen  von  Männern  mit 
gesunder,  gut  deutscher  Gesinnui^  Tor 
Augen.  Pii  Lt  bensgeschichte Scherls  — 
in  der  Hauptsache  im  Anschluss  an  die 
BiflgMpble  von  Job.  FkeelM  —  ist 


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—    23»  — 


firitoh  und  uuehanllcli  geschrieben  tind 

eröffnet  gleichzeitig  das  Yrntanrlnts 
fUr  das  poetische  Schaffen  des  Dichters. 
Der  ^Trompeter  von  SjUtkingen"  und 
der  „Ekkehftnl''  sind  diibei,  wie  recht 
und  billig,  in  ausführlicherer  Weise 
bedacht.  Lehrreich  wird  die  Mone- 
jrmphic  Lf.^ioniicrs  anrh  «iaduroh,  dass 
sie  ihis  Lt-beu  8cbeffds  niit  der  all- 
gemeinen politischen  Geschichte  und 
der  Geschichte  Badens  in  Verbindiuig 
bringt  und  seine  Beziehungen  zn  anderen 
bedeuteiidL'u  Männern  (Emil  Fromniel, 
Morita  t.  Schwind ,  Ludwig  Uäusser 
«ad  «Ddere  HiUrHeder  des  „Eueren" 
in  Heidelberi^,  Paul  Heyse,  Willielni 
Biebl,  Aneelm  Feuerbach,  Felix  Dabo, 
Anton  Werner,  Adolf  Hannrath) 
aufdeckt. 

(techatn.  Dr.  Mein  ho  Id. 

Fiits  Lehnentlek,  Kertilieder  der 

Kirche  in  S  t  i  ni  m  u  n  t;-  s  h  i  1  d  e  r  n. 
Dresdeu-Blasewitz,  Verlag  von  Bl^l 
nnd  Kaenmerer  (0.  Sehanbaeh)  1907. 
XVI  und  15(;  S    Bzocch.  2  M  dO  F£, 

geb.  3  M.  20  Pf. 

Es  ist  eine  besondere  Freude,  ein  so 
wertvolles  Hilfennittel  fQr  den  evan- 
gelischen neliq-ioiisuiiti  ri  icht ,  wie  das 
vorliegende,  anzeigen  zu  können.  Bis- 
her war  wohl  die  „Behandlung  des 
Kircht'uH'de.s  r\nf  historischtT  (trund- 
lage''  von  Fritz  Acheubach  die  beste 
Adeitong  au  dieser  schwierigen  Seite 
des  Reli£rinTi?Tintorrichtes.  Aber  A.  ist 
zu  Kcheniatitich.  zu  trocken  and  zn 
schwierig  für  die  Kinder.  L.  wendet 
eine  ühnlirhe  Methode  an,  aber  mit 
lebendigerer  rhauta.Hie  und  wärmerem 
Gefühl.  Jedem  Lied  gibt  er  einen  an- 
pchaulirhen  I^ntL-rirnunl .  ati«?  drm  in 
iiatürlieher  Wci.se  die  Stiiniimiig  herauÄ- 
wächst,  die  in  den  Vt  rseii  des  Liedes 
ihren  Ausdruck  findet.  Dabei  liegt 
ihm  jeder  unfreie  Schematismus  fern. 
Je  iiach  th'n  besonderen  Verhältnissen 
l^t  er  biblische  Geschiebten  des  Alten 
oder  Nenen  Teatamentes ,  Sitiiatioiien 
ans  dt  r  Kirchenireschichte  oder  Welt- 
geschichte, die  Zeitiage  oder  die  per- 
sSnlichen  Verhlltnissen  des  Piehtsva, 
aus  der  berans  ein  Lied  entstanden  ist 
nd*>r  anch  eine  freie  lliantasieachöpfung 
ans  dem  Leben  der  Gegenwart  seiner 
Behandlung  an  Qmnde.   Die  üntec^ 


streichnng  der  m  betonenden  Worte  ist 

ttberflUssig. 

Der  Beurteiler  hat  die  Methode 
Lehraensicks  im  Unterricht  erprobt  und 
damit  vorzü^iliehe  Ertfebnisse  erzielt. 
Dos  Buch  wird  Jeden,  dem  die  Be- 
handlung der  Kirchenlieder  lilsher 
Schwieriirkeit  trema<'lit  hat.  auf  den 
richtigen  Weg  leiten  und  ihm  diesen 
Zweig  des  BeUgtonsnuteniehtes  Heb 
machen. 

Pirna.  Dr.  fi.  TG  geh 

Dr.  E.  Kotte,  Oberlehrer,  Dresden. 
Lehrbuch  der  Chemie  f&r  höhere 
Lehranstalten  nnd  anm  8elbstiutter> 

rieht.  I.  Teil:  Tlinführunir  in  die 
Chemie.  Bleyl  &  Kaemmerer,  Dresden 
1908.  Pieis  geb.  8  H. 

Der  Veifasser  nennt  sein  Bnch  einen 

Lehrgang  „auf  modemer  Grundlage 
nach  methodischen  Grundsätzen**  und 
bezeichnet  damit  trefflich  die  Eigenart 
seiner  Arbeit.  Das  Buch  ist  ans  der 
Praxis  herausgewachsen  nnd  didaktische 
Gesichtspunkte  haben  zu  einer  Ant- 
nähme  und  teilweisen  Elementarisiemng 
von  wichtigen  Kapiteln  der  modernen 
Chemie  jjefiihrt.  So  ist  diese  Ein- 
führung eine  .physikalische  Chemie" 
geworden,  ein  Lehrgang,  der  bewnsst 
den  phy. alkalischen  (behalt  der  Einzel- 
erscheinungen nnd  allgemeinen  Gesetze 
in  den  Voraergntnd  rttekt 

Die  Gedankenarbeit,  die  der  Ver- 
fasser damit  geleistet  hat,  wird  be- 
sonders der  zn  schätzen  wissen,  —  da.s 
trifft  die  meisten  l.ehrer  an  unseren 
höheren  Schulen  —  der  mit  physikalisch 
ungenügend  vorgebildeten  Sehlllem  den 
elieniisehen  Kursus  beirinnen  soll  nnd 
der,  der  chemische  SchtÜerUbungen  mit 
seinem  Unterridite  verbindet. 

Schon  in  den  ersten  Kapiteln  treten 
quantitative  Versuche  auf,  deren  Er> 
gebnisse  graphisch  und  tabellarisch  dar- 
t^cstellt  werden,  l'ie  experinieutellen 
Ergebnisse  Uber  Gewichts-  und  Volumen- 
▼eniiUtnisse  ffthren  in  sehr  einfadier 
und  übersichtlicher  W- isr  zu  den 
chemischen  Orundgesetzeu  und  zu 
stSehiometrisehm  Proportionen.  Esmnn 
dem  Tf  rf  r -^pf  als  Verdienst  angerechnet 
werden,  dat^s  er  diese  scbwierigcu  Kapitel 
in  seiner  ^{ttfOhnuijg''  an  einfaeluil 
EipeiütteBteD  mnOgiidit.  und  da«  er 


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—   239  — 


die  Atombypothcfle  erat  einführt,  nach- 

dem  diese  (luaiititativcn  Beziehong^en 
erJumit  and  g&üht  sind.  Nar  ao  wird 
der  Atombegriff  fflr  den  Schüler  ein 
Werkieng',  nur  dadnrch  wird  dt^r 
ScbQler  bewahrt,  die  Hypothese  als 
Gfimdlftge  der  ^nzen  Chemie  zn  be- 
arteilen  nnd  den  Erfabrnngagehalt  der 
£xpehiuente  zn  fibersehen. 

Zn  einem  Spiel  mit  halbverstandenen 
chemischen  Formeln,  die  den  Schttler 
Knut  wissenschaftlichen  Dünkel  erziehen, 
Terleiteii  alH>r  alle  Lehrblleher,  die 
chemische  (iloichnngen  als  „Ab- 
kürzungen-' der  Beschreibung  von  Ex- 
perimenten benützen,  ehe  die  Ver- 
bind nngsgesetze  und  die  Volamgesetce 
anareicbend  behandelt  lind.  Dann  bildet 
der  Unterricht  das  nedüchtiiis.  aber 
nicht  das  Denken  und  die  Schüler 
etohen  ratlos ,  wenn  rie  des  einfulitte 
Eiperimrn!    elbst  machen  sollen. 

Besouder»  hervorgehoben  sei  die  He- 
bandlon^desLitaangsbegriffes.  Von  der 
klaren  Unterfcheidnnij  von  GcTnenue  Tind 
Lösnnjg^,  von  der  Auffassnug  de.s  Gleieh- 
Ifewiehts  in  Lösungen,  die  durch  eine 
elementare  .Tonentheorie  gestützt  wird, 
nnd  der  Erweiterung  dieses  Gleich- 
fewiefatsbegriffes  in  dem  des  all- 
gemeinen ehemischen  Gleichcrewichtes 
k&rni  uiau  viel  für  das  seibätändige 
Denken  der  Schüler  erwarten. 

Als  Vorzog  des  Baches  müssen  die 
einfachen  und  klaren  Zeichnungen  be- 
s<<:>ndf'rs  erwähnt  werden.  Möcht«  sirh 
des  Buch  die  berechtigte  Wertschätzung 
in  weitesten  Kreisen  recht  bald  erwerben. 

Leipsi^.     0.  Frey,  SeuL-Oberl. 

Prof.  Dr.  A.  Müller,  Waud tafeln 
snr  Brklirnng  derFormen  der 

Erdöberflü  h'  'i  Tafeln  in  - '  h^- 
faihenj  Fiirbtii.iiuck  nach  Onj^maieu 
von  Leo  Kainradl.  —  ^orOMt 
123  :  176  cm.  I';  i?  einer  Tafel  nn- 
anfgesogen  6  M...  auf  Leinwand  un- 
IscUert  mit  Stäben  8  M.,  ant  Lein- 


wand lackiert  mit  Stiben  9  X. 
Sehieiber»  EssUngai,  1907. 

Mr  Wandtafeln  sind  für  den  ersten 
geographischen  Unterricht  bestimmt  nnd 
wollen  dem  Entwicklnngsgedanken,  der 
die  moderne  Erdkunde  beherrscht,  ge- 
recht werden.  Tafel  I  enthält  die 
Formen  am  Boden  und  am  Rande  stehen- 
der Gewasiser  (I>elta,  Nehmng,  KOsten- 
lagnne,  Düne,  Form  der  Küstenlinie  — 
Brandungswirknni,'  an  der  Steilküste, 
Vorsprünge,  Fjorde,  CnselformenX 
Tafel  II  binnenl&ndische  Formen  (TU> 
bildung,  Verwittemng,  einebnende 
Kräfte  usw.). 

Man  darf  unter  den  Tafeln  nicht 
eine  neue  Form  der  VeranHchanlirlmi  L  — 
mittel  für  die  sogenannten  „geographi- 
tdien  Grondbegrufe**  snehen,  die  beiite 
so  hätttiir  einen  allznbreiten  Raum  im 
heimatkundlichen  Unterrichteeinnehmen. 
Sie  beschränken  sich  aumeblieiBlich  auf 
diejenigen  Landschaftstypen,  dir  in 
Lehrbüchern  der  physischen  Erdkiuido 
nnd  der  dynamischen  Geologie  be- 
handelt werden.  Die  Verwendung  für 
„den  ersten  geographischen  Unterricht", 
wie  sie  der  VeHasser  im  Sinne  hat,  ist 
nicht  recht  verstiindlich.  Eine  syste- 
matische Behandlung  der  auf  den 
Tafeln  dargestellten  Formen  ist  l  ei 
Volksschülem  wie  aach  bei  den  Sex«' 
tanem  der  hShereo  Lehranstalten  nn- 
möglich,  und  eine  ge  legen  tlile 
Herbeiaiehung  derselben  im  Verlaufe 
des  (JntMriohts  ist  deswei^  vntonlidi, 
weil  solche  Gesamthnd,'^Llinft"Ti.  wie  sie 
auf  den  Tafeln  znr  Darstellung  ^ 
langen,  nirgends  eiistieren.  sw  im 
Unterrichte  verwenden  zu  wollet  ^ 
ebenso  falsch,  als  wenn  man  im  Ge- 
schichtsnntemchte  wollte  verschi^ene 
Ztiitalter,  etwa  Belatrernncfsepisodf  n  ans 
dem  3Üjährigen  Kriege  und  der  Er- 
stürmung von  Port  Arthur,  oder  in  der 
Biologie  künstliche  Lebensgemein- 
schaften auf  einem  Bilde  vereinigen. 

Loscbwite.        Dr.  £.  Sebane. 


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—    240  — 


Eiogegiiigeiie  Btteli«r. 

(Besprecbong  TorbehAlten.) 

Mk,  W.,  Encyklopädbchci  Handbuch  der  Pädagogik.    2.  Aufl.    6.  Bd.    i.  Hllfte. 
Musikalische  Enodmag.  —  Oalcrreichüches  Schalwecai,    Langemba  1907, 

Beyer  &  Söhne. 

Mlkter,  Prof.  Dr.  R.,  DoflUiniflc  ia  die  Philosophie.  Leipdg  1907,  Tcaboer.  Ptaif 

geb.  1.25  M. 

Varworn,  Prof.  Dr.  M.,  Die  Mechanik  4ca  Geictesiebeo«.  Eheiida.  Fr.  geb.  1,9$  11 
Wilsemann,  A.,  Das  Interesse,  oenbcaib.  'von  Dr.  Herrn.  Walievann.  Hamiovcr  1907, 

C.  Meyer.   Pr.  1,80  M. 
OIrr,  Prof.  Dir.      Die  Lehre  von  der  Aufiueilaamkeit.   Leipzig  1907,  QoeHe  dt  Meyer. 

Pt   f'      4.40  M. 

Sohroibsr,  H.,  Geschichtliche  Eatwicklong  der  Anschauung.  Paderborn  1907,  bchöningh. 
Wltitlit  Dr.  I.,  Psychologie  und  Logik  und  ihre  Bedeutung  fOr  die  allgemdae  Mkhuig. 

Strassburg  i.  E.  IQ07,  Strassb-jrj^f-r  Druckerei  und  W-rlagsansLilt. 
HtiM,  F.,  Ziele  und  Wege  zur  \>rv-niikoion>nung  dc&  Meoschcngcschkcbtir.  Lrtpäg, 

Siegismuad  9t  Volkening.    Pr.  I  M. 
ClMrIlftrdt- Humanus,  Ernst,  Die  Polarität  als  GrundLigc  einer  einheitlichen  Welt- 

anschiiuung.    licrhn-Schlachtcnsce  1907,  Wilh.  Schwancr.    Pr,  50  Pf. 

Meinann,  Prof.  Dr.  L,  l-infuhrung  in  die  Ästhetik  der  Gegenwart.  Leipzig  1908, 

Quelle  &  Meyer.    Pr.  geb.  1,25  M. 
Waber,  Dr.  Adolf,  Die  Grossstadt  und  ihre  sozialen  Probleme.    Ebenda,    ft.  geb.  1,2$  M. 
PStorSOn,  Dr.  Joh.,  Die  öflentliche  Fttn>orgc  für  die  sittlich  gefährdete  und  cUe  ge> 

werblich  tätige  Jugend.   Ldoog  1907,  Teuboer.    Pr.  geb.  1,25  M. 
^         Derselbe,  Dir  «ITenWdie  FBrsorge  fflr  die  Mlftbedttrftige  Jugend.  Ebenda.   Fr.  I,S$  M. 
Nwandorff,  Dr.  Edmund,  Modcmc  pädagogische  Sirumungen  und  ihre  Wnndn  ini 

geistigen  Leben  der  Zeit,   Realschule  zu  Haspe  1907. 
moMtr,  Dr.  P.,  Martin  Lnthen  frihlagogisdie  Sduiften  und  refonnatwische  Verdienste 

um  Schule  und  Unterricht.    Halle  a.  S.  1907,  II.  Schroedcl.    Pr.  I.25  M, 
fli§alp  0.,  Herbarts  lehren  und  Leben.    Leipzig  1907,  Teubncr.   I^.  geb.  1,25  M. 
IlMIHl,  Prof.  Dr.  P,,  Ronneaa.   Ebenda.  F^.  1,25  M. 

Mger,  Prof.  Dr.  Ludwig,  Jean  Jacques  Rousseau.  Sein  Leben  und  seine  Wecke. 

Leip/ig  1907,  (>uelle  &  Meyer.   Pr.  geb.  I,a$  M. 
ToltObar,  Dr.  Wendelin,  (>csehiebte  der  PIdagogik.  Kempten  und  Mtbidicn  1907, 

Jos.  K     ;     Pr.  I  M. 

Dirlttt,  Prof.  Dr.  L,,  l'est.i!otzi.    Auswahl  aus  seinen  Schriften.    Stuttgart,  Greincr 

und  Pfeiffer.    Pr.  geh.  2,50  M. 
IMlHliNI,  A.«  Briefe  Adolf  Dicsterwegs.   Leipzig  1907,  Qnrile  ä  Mejrer.   Pr.  geh. 

3.60  M. 

Münch.  Prof.  Dr.  WllhahUi  Jean  Paul.    Berlin  1907,  Reuther  4c  Reichard.   Pr.  3  M. 
OikMOmoa,  Dr.  phIL  CkriatOt  P.,  Die  pidagOgisclien  Anschauungen  des  Adamantios 
Koratt  und  ihr  Einihiss  «bf  das  Schulweten  und  das  politische  Leben  Gtiedien» 

lands   nebst   einem   AlnÜS  der  geschichtlichen   Entwickelung   des  griechisdws 
Schulwesens  Ton  1453 — 1821.   Leipzig  1908,  A.  Deichcrt.   Pr.  2,80  M. 
■OWM,  Prtf.  Dr.  PmI,  A  Mef  Coorse  in  the  History  of  Edocation.  New  York  1907, 

The  Maemillin  Company. 

Mittaiiangaa  der  Gesellschaft  f.  deutaolie  Erziehiw|a-  y.  Sobulgeaoblohte.  t8.  Jahrg. 
(1908),  I.  Heft.   Berlin,  A.  Hofinann  &  Komp. 

Cflflnd,  P. ,  Grundzüge  der  Pädagogik  und  ihrer  Hilfswissenschaften  in  elementarer 
Darstellunf;.  I.  Teil-  Psychologie.  U.  Teil:  Elemente  der  Ethik  und  allgemeine 
Pädagogik.  I.  bis  4.  Lief.  2.  veib.  «.  vem.  Aufl.  Chur  1906  luid  190S, 
F.  Schnier.   Pr.  geb.  je  7  Fr. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Druck,  ▼on  A.  Rk*u  <fc  öotm  iu  ^aumborg  a.  S 


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A.  Abhaudlungeu. 

I. 

Wlilensbridung  und  Interasse.^) 

Von  Dr.  M.  Sohilling. 

Lin  Blick  auf  die  pädagogische  Literatur  der  Gegenwart  und 
der  jüngsten  Vergangenheit  zeigt  bunte  Bilder  in  buntem  Wechsel. 
Bald  wird  die  Kunsterziehung  auf  den  Schild  erhoben,  bald  eine 
Persöolichkeitspadagogik  proklamiert,  die  die  Persönlichkeit  des 
Lehrers  zum  Zentralbegriffe  der  ^ranzen  Pä  ia^o^ik  macht;  bald 
wieder  findet  man ,  dass  der  Lehrer  und  Erzieher  ledif,dich  vom 
Kinde  die  Direktiven  seines  Tuns  zu  empfangen  und  dem  Kinde 
zu  folgen  hat;  heute  lässt  man  die  Erziehungsschule  gelten,  morgen 
erwartet  man  alles  Heil  von  der  Arbeitsschule;  hier  stellt  man  für 
die  Behandlung  der  verschiedenen  Unterrichtsstoffe  feste  Regeln  auf, 
die  der  Lehrer  wie  mathematische  Formeln  zu  handhaben  hat,  dort 
gilt  es  als  die  beste  Methode,  keine  Methode  zu  haben. 

Anstatt  an  das  historisch  gegebene  Wertvolle  anzuknüpfen  und 
es  unter  Benutzung  der  reichen  modernen  Hilfsmittel  fruchtbar  für 
die  unterrichtliche  und  erzieherische  Praxis  auszugestalten,  erfasst 
man,  des  historischen  Zusammenhanges  oft  unbewusst,  einen  an  sich 
richtigen  Gedanken,  um  ihn  ohne  Rücksicht  aufs  (ianze  der  Päda- 
gogik einseitig  zu  überspannen  und  als  neue  Pädagogik  zu  vcr« 
kündigen. 

Mit  starker  Energie  verbundene  Einseitigkeit  fährt  zu  radikalem 
Tun.  Radikalismus  ist  stets  unhistorisch.  Umwertung  aller  Werte 
ist  sein  Schlagwort.  Was  er  Umwertung  nennt,  ist  oft  nur  eine 
Verkennung  ^ter  Werte.  Kr  stösst  vorwärts  und  zerreisst  die 
Fäden  der  Entwicldung.  Feuer  und  Schwert  sind  seine  Waffen; 
ihn  verzehrt  die  eigne  Glut.  Daher  der  rasche  Wechsel  einseitiger, 
mit  radikaler  Heftigkeit  geforderter  und  geförderter  Bestrebungen. 

*)  Erweiterter  Konferenzrortrag,  gehalten  auf  der  32.  Haaptkoofereoz  der  Lehrer 
dei  S^nlimpcktkMnbedrlGi  Rochlitz  1907. 

»«■CDgileh«  Stödten.  ZZXZ.  4.  16 


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—    242  — 


Die  Pädagogik  muss,  wie  alle  Wissenschaften,  die  Theologie 
nicht  ausgeschlossen,  der  Entwicklungsidee  Rechnung  tragen.  Die 
Idee  der  Entwicklung  ist  aus  historischem  Denken  geboren.  Das 

historische  Denken  wahrt  den  ZusaTT'inienhanf:^  mit  der  Vergangenheit 
und  damit  die  Kontinuität  der  Wissenschaft.  Pestalozzi  und  Herbart 
sind  in  vieler  Munde.  Wie  viele  aber  kennen  sie?  Die  Hast  der 
Gegenwart  schöpft  eilig  aus  den  bequemen  Sammelbronnen  zweiten, 
dritten  und  noch  tieferen  Ranges  und  entwöhnt  sidi  des  Genusses 
lebendigen  Quells  von  den  Höhen.  Daher  so  grosse  Meinunj^s- 
verschiedcnheiten,  so  viele  Missvcrstandnissc,  so  viel  Kritiklosigkeit 
neuauftaucheiiden  und  Anspruch  auf  Originalität  erhebenden  Gc- 
danlcen  gegenüber.  Nicht  auf  Schlagwörter,  sondern  nur  auf  klare 
BegrüTe  kann  eine  Wissenschaft  gegründet  werden.  Die  Pädagogik 
arbeitet  mit  den  Mitteln  der  Gegenwart,  doch  ist  sie  kein  Mode- 
und  Saisonartikel  Die  fast  an  Zerfahrenheit  j^'^rcn/cnde  Unruhe  auf 
dem  Gebiete  des  Erziehui^wesens  scheint  nm  veranlasst  zu  sein 
durch  einen  Mangel  an  IQarheit  über  die  pädagogischen  Grund- 
begriffe.  Man  operiert  zwar  allenthalben  mit  ihnen,  denkt  aber  oft 
sehr  Verschiedenes  dabei. 

Wir  Avcrden,  ohne  den  Blick  für  die  Bedürfnisse  und  Fort- 
schritte der  Gegenwart  zu  verlieren,  die  Quellen  immer  von  neuem 
aufsuchen  und  freilegen  müssen,  aus  denen  der  Strom  der  Gegen- 
wart gespeist  wird;  wir  werden  dem,  was  pädagogischer  Tiefblick 
und  Weitblick  geschaut  hat,  immer  von  neuem  nachdenken  müssen, 
um  grosse  und  richtige  Gedanken  klar  und  rein  zu  erfassen  und 
nicht  der  Vcrj^c^senhcit  anheimfallen  zu  lassen;  wir  werden  die 
Aufmerksamkeit  immer  wieder  den  Gnrundbegriffen  der  Pädagogik 
zuwenden  müssen.  So  nur  kommt  Zusammenhang  und  Folge* 
richtigkeit  in  die  Pädagogik  und  wird  sie  auf  die  Bahn  sicheren 
Fortschritts  gestellt. 

I. 

Willensbildung  und  Interesse!  Diese  Betrachtung^  «^rhliesst  sich 
der  in  den  „Pädag.  Studien"  {1907,  Heft  i)  vcröftentlichten  Abhand- 
lung über  Unterricht  und  Interesse  an.  Das  Interesse,  das  der  er- 
ziehende Unterricht  anzustreben  hat,  wurde  auf  Grund  des  Umrisses 
pädagogischer  Vorlesungen  und  der  Allgemeinen  Pädagogik  von 
Herbart  durch  folgende  Merkmale  gekennzeichnet: 

1.  D;i^  Interesse  ist  Selbsttätigkeit,  die  aus  der  ijnv.-illkürlichen 
und  zwar  der  apperzipierenden  Aufmerksamkeit  sich  ent* 
wickelt 

2.  Es  ist  ein  Streben  nach  Erweiterung  des  Wissens  und  steht 
der  Gleichgültigkeit  entgegen. 

3.  Das  Interesse  hängt  mit  unwillkürlichem  Wohlgefallen  an 
seinem  Gegenstande,  dem  es  als  solchem,  nicht  aber  in 


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—    243  — 


Rücksicht  auf  künftige  Zwecke  und  Vorteile  einen  Wert 

beilegt. 

4.  Das  Interesse  ist  ein  dauernder  Gemütszustand,  der  Denken, 
Fühlen  und  Streben,  also  alle  Grundersrheinungen  des 
seelischen  Lebens  in  sich  schUesst,  ein  Gemütszustand,  in 
dem  notwendige  Bedingungen  der  Entstehung  eines  sittlichen 
Willens  liegen. 

Mit  der  letzten  Bemerkung  wird  angedeutet,  dass  das  Interesse 

noch  nicht  Wille  ist,  sondern  nur  eine  Redingning  seiner  Enlstehunpj. 
Da  nun  die  ErzienunL^^  die  sittliche  Persönlichkeit  oder  die  Bilduni^ 
eines  sittlichen  Charakters  aiizusLreben  iiai,  der  Charakter  aber  im 
Willen  seinen  Sitz  hat:  so  darf  die  Jugenderziehung  nidit  bei  der 
Pflege  des  Interesse  stehen  bleiben.  Sie  muss  audi  die  anderen 
Faktoren  der  Willensbildung  berücksichtigen. 

Wenn  das  Interesse  noch  nicht  Wille  ist,  erhebt  sich  die  Fmge: 
Wie  kann  aus  dem  Interesse  Wille  werden'  Diese  I  r  iv;c  1  isst 
sich  nicht  ohne  weiteres  beantworten.  Man  mochte  zuvor  darüber 
Aufechluss  haben,  was  Wille  ist  Da  aber  sehen  wir  uns  einem 
Problem  gegenüber,  an  dessen  Lösung  die  bevorzugtesten  Geister 
gearbeitet  haben,  ohne  dass  bis  heute  ein  befriedigendes  Ergebnis 

gewonnen  ist. 

Der  Lrziehcr  kann  auf  diese  Antwort  nicht  warten ;  er  wird 
von  der  Sorge  um  die  Gegenwart  gedrängt.  Metaphysische  und 
psychologische  Probleme  dürfen  ihm  nicht  zum  Vorwande  werden, 
das  Widitigste  zu  vernachlässigen.  Wir  verachten  daher  bis  auf 
weiteres  auf  die  philosophische  Beantwortung:^  der  Frafjc:  Was  ist 
der  Wille?  stellen  uns  mit  Herbart  entschlossen  auf  den  Er- 
fahrungsbegriff des  Willens  und  lassen  uns  von  den  Wider- 
sprüchen, die  allen  Erfohrungsbegriffen,  also  auch  dem  vom  Willen 
innewohnen,  nicht  beunruhigen  und  beirren;  ebensowenig,  wie  von 
den  sich  widersprechenden  Antworten  auf  die  Frage :  Ist  Willens- 
bildung möglich  oder  nicht?  Wir  halten  sie  auf  Grund  der  Er- 
fahrung für  möglich  und  versuchen  das  Möglichste.  Damit  wird 
selbstverständlich  die  wissenschaftliche  Notwendigkeit,  jene  Fragen 
zu  erheben  und  an  ihrer  Lösung  zu  arbeiten,  nicht  bestritten. ' 

Die  Pädagogik  muss  die  Möglichkeit  einer  Willensbildung  an- 
nehmen. Ein  spontaner  (autonomer,  ursachloser)  Wille  ist  in  der 
Erfahrung  nicht  gegeben.  Der  empirische  Wille  ist  von  Gedanken- 
verbindungen, Gefühlsregungen  und  physischen  Voraussetzungen 
abhängig.  Herbart  hat  dieser  Tatsache  Rechnung  getragen  und 
auch  erkannt,  dass  der  Kantisdie  kategorische  Imperativ  eine  leere 
Formel  ist,  die  bei  der  Erziehung  zur  Sittlichkeit  versagen  muss. 
Mit  der  Forderung  der  Willensbildung  hat  Herbart  der  Erziehung 
die  höchste  und  schwerste  Aufgabe  gestellt,  ohne  Zweifel  aber  auch 
die  Sache  an  der  Wurzel  gefasst. 

10» 


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Was  ist  Wille?  Herbart  sagt:  „Wer  da  spricht:  ich  will!  — 
der  hat  sich  des  Künftigen  in  Gedanken  ?;choa  bemächtigt;  er  sieht 
sich  schon  vollbrinijcnd,  besitzend,  geniessend.  Zeifjt  ihm,  dass  er 
nicht  könne;  er  will  schon  nicht  mehr,  indem  er  euch  versteht" 
(AUg.  Päd.  3.  B.,  4.  Kap.  1,  S.  163).^) 

In  Münchs  „Zukunftepädagogik"  heisst  es:  „Zwischen  dem 
Sollenden  und  dem,  der  das  Sollen  auferlegt,  besteht  eine  Art  von 
Feindschaft  oder  doch  Spannung;  wer  uns  das  Bewusstsein  des 
Könnens  \crmittelt,  wird  uns  zum  Freund."  Mit  andern  Worten: 
durch  das  Bewusstsein  des  Könnens  wird  die  Spannung  /svischen 
dem  Sollen  und  dem  fremden  Wollen  gelöst;  durch  das  Bewusstsein 
des  Könnens  wird  das  im  Sollen  mir  entgegentretende  fremde 
Wollen  zu  meinem  Wollen,  zu  einem  Sclbstgebot,  das  ich  als 
freien  Entschluss  empfinde.  Prof.  Dr.  Julius  Baumann  in  Göttingcn 
hat  eine  Schrift  über  „VVille  und  Charakter"  (Berlin  2.  Aufl.  1905, 
Reuther  &  Keichard)  herausgegeben.  Er  nennt  sie  eine  Erziehungs^ 
lehre  auf  moderner  Grundla^^e.  In  dem  Abschnitte  über  die  physio- 
lettische  Bedingtheit  des  Willens  führt  er  u.  a.  folgende  .Aussprüche 
zeitgenössischer  Autoritäten  an:  ., Die  Begehrungen  werden  eingeteilt 
in  Wunsch-,  Strebens-  und  Wiliensakte.  Das  wesentlichste  Merkmal 
des  Wunsches  ist  das  völlige  Absehen  von  der  Verwirklichung. 
Kommen  zur  Vorstellung  Bewegungs-  oder  psychische  AnstrengungS' 
empfindungen  hinzu,  so  entsteht  ein  Streben.  Treten  Urteile  über 
die  Erreichbarkeit  zum  Wunsche  oder  znm  Streben  hinzu,  so  ent- 
steht das  Wollen"  (von  Ehrenfels).  —  „Wünschen  ist  Streben,  bei 
dem  es  sein  Bewenden  hat,  Wollen  Streben,  das  Hindernisse  über- 
windet, Wollen  ist,  wenn  ich  zur  Verwirklichung  des  Zieles  etwas 
tun  kann"  (Lipps).  Baumann  selbst  vertritt  diesen  Willensbegriff. 
Ich  führe  das  nur  an,  um  zu  beweisen,  dass  Herbarts  Auffassung 
von  der  Entstehung  des  Willens  modernen  Anschauungen  cnts[)richt. 
Das  möchte  icii  denen  gegenüber  betonen,  die  es  inni  zum  schweren 
Vorwurf  machen,  dass  er  den  Willen  nicht  iiir  autonom  (Air  ur- 
sprünglich)  hält,  dass  er  den  Kantischen  Begriff  der  transzendentalen, 
ursarhloscn  PVeiheit,  den  Begriff  einer  Freiheit  als  absoluter  Selbst- 
bestunnuing  ablehnt.  Herbart  lehnt  diesen  Willensbegriff  ab,  weU 
die  Annahme  eines  absolut  freien  Willens  einen  erzieherischen  Ein» 
fluss  in  der  Richtung  der  Willensbildung  ausschliesst 

Man  hat  Herbarts  Auffassung  von  der  Entstehung  des  Willens 
in  die  Formel  gefasst:  Der  Wille  ist  das  Wissen  vom  Können. 
Damit  wird  aber  Herbarts  .Auffassung  nicht  scharf  getroffen.  Die 
Formel  ist  knapp  und  merkt  sich  leicht,  doch  erschöpft  sie  den 
Begriff,  ich  wül  lieber  sagen:  die  Charakteristik  des  Willens  nicht 
Das  blosse  Wissen  vom  Können  erzeugt,  wie  die  tägliche  Erfahrung 

Es  wird  im  foigeodea  «teto  nach  der  Ausgabe  tob  Dr.  Th.  Fritisch  (Letpcif, 

Reclam)  zitiert. 


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—    24S  — 


lehrt,  nocli  nicht  den  Willen.  Richtig  aber  ist  und  haiten  wir  das 
ninächst  fest:  Wenn  jemand  weiss,  dass  er  etwas  nicht  kann,  so 
kann  er  auch  dieses  Etwas  nicht  wollen.    Besteht  jemand  trotz 

des  Wissens  vom  Xichtkönnen  auf  einem  Vorhaben,  so  nennen  wir 
ein  solches  Verhalten  nicht  Wollen,  sondern  Unvernunft.  Der  Wille 
ist  nicht  ein  blosses  Wissen  vom  Können,  aber  auch  mehr  als  ein 
blosser  Antrieb. 

Wie  gelangen  wir  zum  Wissen  vom  Können?  Die  Antwort 
kann  nur  lauten:  durch  die  Tat,  und  zwar  durch  die  gelingende 

und  oft  geübte  Tat.  Einen  anderen  We^^  <,Mbt  es  nicht  Hier  kann 
niemand  für  mich  eintreten.  Dn-^  t  cdarf  keines  Beweises.  Herbart 
spricht  sich  darüber  nicht  naher  aus.  Er  begnügt  sich  mit  der 
Behauptung,  dass  die  Tat  den  Willen  aus  der  Begierde  erzeugt 
(Allj^.  Päd.  S.  164  65),  indem  sie  das  Wissen  vom  Können  vermittelt. 
Das  Tun,  das  Handeln,  Sichbetätigen  ist  also  nach  Herbart  eine 
wesentliche  Voraussetzung  für  die  Entstehung  des  Willens.  Haumann 
stimmt  hierin  in  seiner  angeführten  Schrift  mit  Herbart  übercin;  er 
begründet  die  Bedeutung  der  Betätigung  für  die  Willensbildung 
eingehend  physiologisch  und  psychologisch  mit  den  Mitteln  der 
modernen  Wissenschaft  Er  untersucht  das  Abhängigkeitsverhältnis 
zwischen  Betätigung,  Vorstellung  und  Wertschätzung  und  gelangt 
auf  diesem  Wege  zu  Hauptgesetzen  der  Willens-  und  Charakter- 
bildung. Den  Ergebnissen  semer  Untersuchung  und  ihrer  Anwendung 
auf  die  Willensbildung  kann  man  sich  vom  Standpunkte  der  Her- 
baitschen  Pädagogik  anschliessen,  ein  Beweis,  dass  Herbart  in 
seinen  Erfahrungsbegriff  des  Willens  mancherlei  eingeschlossen  hat, 
was  tiefer  eindringende  Untersuchung  mit  den  Mitteln  fort- 
geschrittener Wissenschaft  bestätigt.  Es  möge  genügen,  wenn  hier 
nur  folgende  Sätze  aus  Baumanns  Schrift  angefülirt  werden. 
„Zweierlei  ist  die  Hauptsache: 

1.  vielseitige  Ausbildung  des  Tuns,  d.  h.  der  verschiedenen 
Arten  von  Bewegungen,  denn  ohne  diese  bleibt  es  bald 
beim  Wünschen  und  ergibt  keinen  effektiven  Willen; 

2.  vielseitige  .Ausbildung  des  Vor.stellens,  denn  ohne  diese 
bleibt  der  Geist  dürftig  und  ungelenk.  Auf  diese  Weise 
kann  dem  Misslingcn  vorgebeugt,  dem  Gelingen  Leichtigkeit 
vorausbereitet  werden"  (S.  47). 

Das  Interesse  und  die  Tat,  die  Betätigung  haben  wir  als  Be- 
dii^ui^cn  der  W'Illcnsbildung  bezeichnet  Wie  aber  gelangen  wir 
von  dem  Gemütszustande  des  Interesse  zur  Tat?  Der  bekannte 
badisclie  Schulmann  Geh.  Rat  Dr,  E.  v.  Sallwürk  behauptet,  dass  es 
nicht  klar  werde,  wie  bei  Herbart  das  Interesse  zur  Tat  gelangen 
könne  (Lit.  BeiL  No.  it  2.  Päd.  Zeitung  1905»  No.  44).  Treten  wir 
der  Sache  näher I  Es  kann  hier  nur  das  ursprüngliche,  oder  un- 
mittelbare Interesse  in  Frage  kommen.    Wir  haben  es  kennen 


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gelernt  als  ein  Streben  nach  Erweiterung  des  gebtieen  Besitzes» 
verbunden  mit  unwillkürlichem  Wohlgefallen  an  seinem  Gegenstande. 

verbunden  also  mit  warmen  Gefühlstöncn.  Herbart  weist  darauf 
hin,  dass  sich  das  Interesse  dadurch  über  die  blosse  Wahr- 
nehmung erhebt,  „dass  bei  ihm  das  Walirgenommene  den  (jeist 
vorzugsweise  dnnimmt  und  steh  unter  den  übrigen  Vorstellungen 
durch  eine  gewisse  Kausalität  geltend  macht"  (Allg.  Päd.  2.  B. 
2.  Kap.  I,  S.  72).  Diese  Kausalität,  diese  Wirksaml^t  der  den 
Geist  vorzugsweise  einnehmenden  Vorstellung,  tritt  nach  Herbart 
hervor  im  Merken  (Aufmerken,  Beobachten)')  und  kann  zum  Er- 
warten, zum  Fordern  und  zum  Handeln  fortschreiten.  Das,  worauf 
beim  Interesse  die  Auimericsamkeit  gerichtet  ist,  ist  das  Gegen- 
wärtige; davon  geht  das  Erwarten  aus.  Das  Erwartete  aber  Hegt 
in  der  Zukunft.  „Veränderte  aber,"  fahrt  Herbart  fort  ^Allg.  Päd. 
2.  B.  2.  Kap.  TT,  S.  7^),  „der  Gemütszustrind  sich  so,  dass  der  Geist 
mehr  in  da.s  KuaiLiy,e  als  in  das  Gegenwärtige  sich  verlöre,  und 
risse  die  Geduld,  welche  im  Erwarten  liegt:  so  würde  aus  Interesse 
Begehrung,  und  diese  würde  sich  durdis  Fordern  ihres  Gegen- 
Standes  ankündigten.  Das  Fordern  aber,  wenn  ihm  die  Oro^ane 
dienstbar  sind,  tritt  als  Handlung  hervor."  Soweit  Herbart! 
Der  Begriff  „begehren"  umfasst  bei  ihm  alle  geistigen  Regungen, 
die  aus  dem  Bereich  des  Innenlebens  hinausstreben  und  auf  den 
Besitz  eines  Gegenstandes  gerichtet  sind. 

Wenn  ai  >  das  Wahrgenommene,  das  im  Interesse  den  Geist 
vorzugsweise  einnimmt,  in  seiner  Wirkung  die  Grenze  des  Auf- 
merkens  und  Erwartens,  d.  i.  die  Grenze  des  Interesse,  überschreitet, 
so  geht  der  Gemütszustand  des  Interesse  in  den  des  Begehrens 
über;  in  dem  auf  das  Zukünftige  gerichteten  Erwarten  bereitet  sich 
das  Begehren  vor.  Das  Begehren  kündigt  sich  durch  das  Fordern 
seines  Gegenstandes  an.  Das  Interesse  hängt  an  seinem  Ge;^en- 
stande,  aber  es  disponiert  nicht  über  ihn;  die  Begehrung  fordert 
ihren  Gegenstand;  das  Handeln  greift  zu.-) 

Wir  haben  das  Interesse  und  die  Tat  Bedingungen  der  Willens- 
bildung genannt;  nach  Herbarts  Ansidit  geht  jedoch  die  Tat  nicht 
luunittelbar  aus  dem  Interesse  hervor,  sondern  aus  der  dem  Interesse 
entsprungenen  Begehrung,  also  aus  einem  vom  Interesse  ver- 
schiedenen, jenseits  seiner  Grenze  hegenden  Gemütszustande.  Der 


')  Allg.  Päd.  S.  73,  Umriss  (her.  v.  H.  Zimmer)  S.  46,  .\phorUmen  (her.  von 
ButholomEi)  S.  459. 

*)  Nicht  möchte  ich  mit  Felschc  (Die  Hauptpunkte  der  Psychologie  usw., 
Cöthea  1904,  S.  3i2flr.)  die  Kausalitäten  der  im  Interesse  den  Geist  vorzxigsweise  ein- 
nduneoden  Vorstellung,  die  Stufen  de»  Interesse  nemien;  dann  mu^$tc  nuuk  Begehren 
und  Handeln  in  den  Rt'fjrilT  des  Int^T'-«^«-  «•iTT-^-hü-'-ic,..;  xi,^,^  dürfte  vorn  Interesse  nicht 
sagen,  da^s  es  ara  aii^'-'^'^haulcn  Gcgrnwartigen  haln  t.  an  seinem  ücgcnstande  hängt, 
nicht  aber  Uber  ihn  disponiert  ^Herbart,  .\Ug.  Päd.  2.  Kap.  I).  Jene  KaimÜtHiten 
werdcD  richtiger  als  Stufen  der  geistigen  Regsamkeit  zu  bezeichnen  sein. 


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—   247  — 


Weg  vom  Interesse  zur  Tat  führt  durch  die  Begehrung.  Im  Be- 
gehren liegen  demnach  die  Motive,  die  Antriebe  zum  Handeln. 
Herbart  behauptet  also  gar  nicht,  wie  v.  SaJlwürk  anzunehmen 
scheint,  dass  das  Handeln  unmittelbar  aus  dem  Interesse  hervor- 
geht  Wohl  aber  ei^bt  sich  aus  unserer  Darlegung,  wie  wichtig 
die  Pflege  des  Interesse  für  das  Beehren  und  somit  für  die  Willens- 
bildung ist.  Ein  schwaches  Interesse  wird  entweder  gar  kein  oder 
nur  ein  schwaches  Begehren  erzeugen;  einem  schwachen  Begehren 
mangelt  die  Kraft  zur  Tat,  und  es  entsteht  kein  Wille.  Ein  ein- 
seitiges Interesse  erzeugt  ein  einseitiges  Begehren,  inseitiges  Be- 
gehren  aber  entartet,  wenn  es  stark  genug  ist,  zur  Begierde  und 
Leidenschaft;  der  Wille,  der  durch  Taten  der  Leidenschaft  erzeugt 
wird,  unterliegt  der  Verurteilung.  Hängt  das  Interesse  an  Un- 
löblichem, dann  ist  auch  das  Begehren  und  der  durch  die  Tat 
daraus  erwachsende  Wille  unlöblidu  Treflend  wird  deshalb  das 
Interesse  im  Herbartadien  Sinne  als  Wurzel  des  Willens  bezeidinet. 
Aber  wie  die  Frucht  nicht  unmittelbar  der  Wurzel  entwächst ,  so 
geht  auch  der  Wille  ebensowenig  wie  die  Tat  nicht  unmittelbar 
aus  dem  Interesse  hervor.  Das  Interesse  sieht  und  beobachtet 
scharf,  verweilt  gern  und  mit  Ausdauer  bei  seinem  Gegenstande, 
sich  nach  allen  Seiten  in  ihn  vertiefend;  es  schafft  so  einen  Reich- 
tum inneren  Lebens.  Hingabe  und  Geduld  sind  seine  Merkmale. 
„Das  geduldige  Interesse  kann  nie  zu  reich  werden;  und  das  reichste 
Interesse  wird  am  ersten  geduldig  bleiben"  (Herbart,  Allg.  Päd.  2.  B. 
2.  Kap.  II,  S.  74).  Ein  Reichtum  inneren  Lebens,  innerer  Regsamkeit 
aber  ist  die  Voraussetzung  eines  kraftigen«  vielseitigen  WoUens.^) 

Das  Interesse  bildet  nach  Herbart  die  unterste  Stufe  auf  der 
Leiter  menschlicher  Regsamkeit  (Allg.  Päd.  2.  B.  2.  Kap.,  S.  71  fg.). 
Die  innere  Regsamkeit  schreitet  fort  zur  Stufe  des  Begehrens  und 
erreicht  ihren  (jripfel  im  Handeln. 

Wir  wissen  aus  dem  Dargelegten,  dass  der  Wille  vicht  un- 
mittelbar  aus  dem  Interesse  hervorgeht,  sondern  durch  die  Tat  aus 
dem  Begehren  erzeugt  wird.^   Der  £rzieher  darf  deshalb  nicht  bei 

')  Prof.  P.  Natorp  in  Maibni^  ist  cnt;;<'gcngesetster  Menmiiff.   In  der  Dentadien 

Schuir  1899,  Urft  7  u.  S  i'Gi'-iamnK'ltf  At)handlungen  I.  3S2)  sagt  er.  nur  wCbA  daS 
Wollen  dais  Interesse  bestimme,  nicht  umgekehrt,  könne  dieser  BegrüT  zum  ZeoUal- 
begrifle  der  Pädagogik  werden.  IMete  Abweichung  eildSrt  sieh  danras,  dass  Natorp 
von  einem  ganz  anderen  Willensbi'grifTr  aus^'cht  als  Herbart.  Natorp  v  r'rif.  i  n 
Kaotischcn  Begriff;  er  behauptet,  dass  der  Wille  autonom,  etwas  Ursprüngliches  sei. 
FasM  man  jedoch  mit  Herbart  den  Willen  als  ein  Produkt  der  geistigen  Entwicklang 
auf,  so  muss  man  zu  der  Ansicht  gelangen,  dass  das  Interesse  die  Wurrel  des  Willens 
iil,  nicht  aber  der  Wilk-  die  Wurzel  des  Interesses.  Dieser  Unterschied  ist  für  die 
Gestaltung  der  pädagogischen  Praxis  von  tiefgehendem  Einflüsse. 

•)  HerV)art  ilrückl  sich  so  aus:  ,.Dic  Tat  erzeugt  den  Willen  aus  der  Begierile" 
(3.  B.  4.  K;ip.  I).  iJamit  meint  er  selbstverständlieh  nicht  das  sittlich-anstössigc  Be- 
gebren, das  wir  tadelnd  Begierde  nennen ;  deshalb  isl  obeo  dieser  Ausdruck  vermieden 
tind  Begehren  oder  Begelming  gesetzt  worden.  Früher  wude  das  Wort  Begierde  ohne 
den  tadelnden  Nebensinn  gebraucht,  den  wir  heule  in  der  Regd  daaoit  verUndeii. 


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der  Pflege  des  Interesse  stehen  bleiben :  er  muss  dafür  sorgen,  dass 
auf  der  nächsten  Stufe  der  inneren  Regsamkeit,  der  Stufe  des  Be- 
gehrens, wertvolle  Motive  des  Handelns  sich  bilden,  rein,  viel- 
seitig  und  stark  genug,  um  zur  Tat  zu  treiben,  die  das  Wissen  vom 
Können  erzeugt.  Auch  solche  Motive  sind  noch  nicht  Wille.  Das 
aus  Antrieben  des  blossen  Begehrens  hervorstehende  erstnialii^e  Tun 
hat  mehr  den  Charakter  eines  Ereignisses,  als  einer  VVillcnshandlung; 
es  ist  unwillkürlich.  Nur  durch  übende  Wiederholung  des  1  uns 
entsteht  das  Bewusstsein  des  Könnens  und  verbinden  sich  die  An« 
triebe  des  Begehrens  und  die  Tat  so  eng  miteinander,  dass  sie  sich 
gcj^enseitig  leicht  reproduzieren.  Dann  erst  wird  das  Begehren 
zum  W'ollen  und  kann  der  Wille  zum  Tatmotiv  werden.  Das  Kind 
wird  durch  das  erstmalige,  unmittelbar  seinem  Begehren  ent- 
springende gelingende  Tun  wie  durch  einen  unerwarteten  Erfolg 
überrascht.  Auen  der  Erwachsene ,  der  vom  Begehren  zu  rascher 
Tat  sich  hinreisscn  lässt,  steht  nicht  selten  betroffen  und  ruft:  Das 
habe  ich  nicht  gewolltl  Die  populäre  Auffassung  vertritt  mehr  den 
Satz;  Ich  kann,  weil  ich  will.  Sic  sieht  in  der  Tat  nur  die  Wirkung 
eines  WUlens.  Und  doch  bestdit  auch  der  Satz  zu  recht:  Ich  will, 
weil  ich  kann,  d.  h.  der  Wille  ist  das  Erzeugnis,  die  Wirkung  der 
Tat.  Der  scheinbare  Widerspruch  löst  sich  so:  bei  der  Ent- 
wicklung des  Willens  geht  die  Tat  dem  W'illen  voraus,  wirkt  sie 
als  Ursaciie;  beim  fertigen  Willen  folgt  die  Tat  dem  Willen, 
wirkt  der  Wille  als  Motiv.  Wir  aber  wollten  unsere  Aufmerksamkeit 
nur  auf  die  Willensbildung,  auf  die  Entwicklung  des  Willens 
lenken.  Deshalb  durften  wir  den  Willen  nicht  sdion  als  vorhanden 
annehmen  und  als  Motiv  ins  Au^e  fassen,  mnssten  vielmehr  die 
Antriebe  zur  Tat  in  einer  Vorstufe  des  Willens,  im  Begehren  auf- 
suchen.   So  entstand  die  Reihe:  Interesse,  Begehren,  Tat,  Wille.*) 

Mit  dem  Satze:  Der  Wille  ist  das  Wissen  vom  Können  — 
wird  das  Wesen  des  Willens  nicht  erschöpft,  sondern  nur  ein 
charakteristisches  Merkmal  scharf  zugespitzt  hervorgehoben.  Der 
Wille  ist  mehr  als  blosses  Wissen  vom  Können:  er  schliesst  in  sich 
das  beharrliche  Streben  und  die  warme  Gefühlsbetonung  des  Inter- 
esse mit  seiner  unwillkürlichen  Hingabe  und  geduldigen  Ausdauer, 
das  in  die  Aussenwelt  strebende  Fordern  des  Begehrens  mit 
seinen  mannigfaltigen  und  geheimsten  Motiven  und  das  zuversicht- 
liche Bewusstsein  \'on  der  Möglichkeit  des  X'^  ollbringen  s. 
Er  trägt  als  ein  Gewordenes  alle  Spuren  seines  Werdens  in  sich. 

O.  Willmann  bemerkt  in  seiner  Didaktik  als  Bildungslehre 
(n,  3S3):  ,3ci  Herbart  erhält  das  Können  im  Ganzen  des  Systems 


Im  volkstümlicbca  Spracbgcbraochc  wird  Bcgehrea  nicht  ain  cioe  Vorstufe  des 
Wollen«  ftufge&sst,  sondern  mit  dem  Wollen  identifineit.   „Die  Sterne,  die  bcgdirt 

man  nicht,  man  freut  sich  ihrer  Pracht"  (Goethe;  Trost  in  Tränen,  Str.  7).  Das  Kind 
begehrt  die  Sterne,  der  Mann  weiss,  das«  er  sie  nicht  hcraotcrholcn  kann;  deshalb 
begehrt  er  sie  nklit,  d.  h.  hier:  will  er  sie  niclit  Iwben. 


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—    249  — 


kdncswegs  die  ihm  gebührende  Stellung."  Der  Gang  unserer  Be- 
trachtung^ führt  zu  der  Behauptung^:  In  Herbarts  Erzich ungssystem 
ist  das  Können  eine  Hauptbedingung  für  die  Erreichung  des  Er- 
ziehungszieles. 

Ein  charakteristisches  Merkmal  des  Interesse  ist  die  Selbst- 
tätigkeit. Herbart  sagt  kurz:  „Interesse  ist  Selbsttätigkeit  (Umriss 
§  71).  IHe  Tätigkeit  aber,  die  im  Interesse  sich  kundgibt,  ist 
anderer  Herkunft  und  anderer  Art,  als  das  Tun,  das  aus  dem  Be- 
gehren her\'ortTetrieben  wird  und  das  Wissen  vom  Können  erzeugt. 
Nach  der  Seite  des  Gefühls  hin  steht  das  hitcrcssc  im  Gegensatz 
zur  Gleichgültigkeit,  nach  der  Seite  des  Strebens  hin  im  Gegensatz 
zur  Untätigkeit  Mit  dem  Satze:  „Interesse  ist  Selbsttätigkeit"  soll 
nur  angedeutet  werden:  Das  Interesse  ist  ureigene  seelische  Reg- 
samkeit, eingeschlossen  in  den  Bannkreis  seelischen  Lebens,  nicht 
hinausgreifend  in  die  Dinge  der  Aussenwelt,  nicht  eingreifend  in 
den  Gang  und  die  Verhältnisse  dieser  Dinge.  Das  Interesse  verfügt 
nicht  über  seinen  Gegenstand,  sondern  hängt  an  ihm,  vertieft 
sich  in  ihn.  Das  Tun  jedoch,  das  das  Wissen  vom  Können  erzeugt, 
somit  eine  weitere  Bedingung  für  die  Entstehung  des  Willens  wird, 
erhält  seinen  Antrieb  durch  einen  anderen  Gemütszustand,  durch 
das  aus  dem  Interesse  erwachsene  Begehren.  Deshalb  greift  es 
zu,  verfügt  es  über  die  Dinge,  um  äe  b^timmten  Zwecken  dienst- 
baur  zu  machen;  in  diesem  Tun  wirken  die  Gesinnungen  aus  dem 
stillen  Kämmerlein  des  Herzens  hinaus  in  die  Verhältnisse  der  Welt 
und  zeigen,  was  sie  vermögen. 

Auch  in  der  Pädagogik  Fichtes  und  Pestalozzis  spielt  die  Selbst- 
tätigkeit eine  grosse  Rolle.  Dr.  P.  Vogel  weist  in  seiner  Schrift 
über  Fichtes  philosophisch-pädagogische  AubiciUca  in  ihrem  Ver- 
hältnis zu  Pestalozzi  (Langensalza  1907,  Beyer  &S.)  darauf  hin,  dass 
nach  Fidlte  und  Pestalozzi  der  gesamte  Bildungsprozess  in  einer 
planmässigen  Entfaltung  des  Willens  und  der  Erkenntnis  besteht, 
Wille  und  Erkenntnis  aber  aus  der  Selbsttätigkeit  als  ihrer  gemein- 
samen Wurzel  entkeimen.  Metaphysisch  begründet  Fichte  diese 
Ansicht  durch  die  BesdiaflTenheit  des  reinen  Ichs,  das  ewiges 
Werden,  absolute  Tätigkeit,  frei  und  selbstherrlich  ist ;  psychologisch- 
crkenntnistheoretisch  ist  nach  Fichte  das  Weltbild  jedes  einzelnen 
seine  schöpferische  Tat,  nach  Pestalozzi  alles  Seelenleben  eine 
spontane  Entwicklung  (Vogel  a.  a.  O.,  S.  92  ff.). 

Im  wesentlichen  steht  Natorp  auf  demselben  Standpunkte. 
Wenn  er  von  Selbsttätigkeit  spricht,  vom  Selbstschöpferischen  in 
der  Bildung,  so  meint  er  die  a  priori  •  Grundlagen  der  Er- 
kenntnis  (Natorp,  Gesammelte  Abhandlungen  I,  381),  die  vor  aller 

Erfahnmg  gegeben  sind;  er  meint,  dass  der  Mensch  nur  durch  die 
ursprünglich  in  der  Seele  liegenden  Kräfte  die  Aussenwelt  gestalte 
und  schaffe.    Dann  ist,  wie  bei  Fichte,  „alles  Wissen  lediglich  ein 


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Wissen  von  mir  selbst,  alle  Erkenntnis  Selbsterkenntnis"  (Vogd 

a.  a.  O.,  S.  93). 

Natorp  lehnt  von  diesem  seinem  Standpunkte  aus  die  nach 
Herbart  im  foteresse  liegende  Selbsttätigkeit  ab  und  leugnet,  da» 

die  Regsamkeit  des  Interesse  überhaupt  Tätigkeit  ist  (Ges.  Abb.  I, 
381,  451).  Das  ist  begreiflich.  Herbirt  erkennt  ein  ursprüngliches, 
ursachloses  Wollen,  vor  aller  Erfalirun:^^  gegebene  iiegritte  und  Ideen, 
ursachlose  Tätigkeiten  nicht  an.  Wenn  aber  Natorp  die  im  Interesse 
hervortretende  geistige  Regsamkeit  überhaupt  nicht  als  Tätu^keit 
gelten  lässt,  so  verkennt  er  die  tatsächliche  Wirklichkeit  Auch 
muss  der  bei  ihm  immer  wiederkehrenden  Behauptung  wider- 
sprochen werden,  dass  bei  Herbart  die  Bildung  dc=;  (Gedanken- 
kreises „nur  Bearbeitung  von  aussen,  nicht  Entwicklung  von  innen" 
ist;  dass  die  ganze  „innere  Aktivität"»  „welche  das  Interesse  be- 
deuten soU,  doch  nur  von  aussen  her  .  .  .  erregt  wird"  (Ges.  Abb.  I, 
452,  262,  381.  448,  450). 

Bei  Natorp  hat  der  Erzieher  sich  auf  eine  „Pflege"  zu  be- 
schränken „gleich  der  des  Gärtners  und  Arztes,  die  nicht  das 
normale  Wachstum  im  Organismus  „her\'orbringt",  sondern  bloss 
die  äusseren  Bedingungen  herstellt,  unter  denen  es  sich  selber 
hervorbringt"  (a.a.O.,  S.  381/82,  262).  Was  es  heissen  soll:  Das 
Wachstum  bringt  sich  selbst  hervor,  ist  so  schwer  verständhch, 
es  zweifelhaft  ist,  was  von  Natorps  Standpunkte  aus  der  Erzieher 
zu  tun  hat.  Mit  der  Zurückweisung  einer  ursachlosen,  rein  spon- 
tanen Tätigkeit  der  Seele  entspricht  Herbart  dem  modernen 
Denken  mehr,  ab  Natorp,  und  bereitet  der  praktischen,  wie  der 
theoretischen  Pädagogik  einen  fruchtbaren  Boden. 

Herbarts  Pädagogik  fordert  mit  der  Willensbildung 
die  Erziehung  zur  Tat 

Richtig  ist,  dass  Herbart  die  Anregungen  von  aussen,  die  Aussen- 
weit  als  einen  Faktor  alles  seelischen  Geschehens  und  Werdens 
scharf  betont;  aber  er  ist  weit  davon  entfernt,  das  Seelische  als 
bloss  von  aussen  gegeben,  nur  als  „Bearbeitung  von  aussen",  An- 
eignung von  aussen",  als  etwas  von  aussen  bloss  Übertragenes  auf- 
zufassea  Die  auf  Anregung  von  aussen  erfolgenden  seelischen 
Reaktionen  sind  eigene,  doch  aber  nicht  ursachlose  Tätigkeiten 
der  Seele. 

Es  ist  schwer  rerständlich,  wie  Dr.  E.  von  Sallwürk  (Die 
deutsche  Schule,  1900,  12.  Heft,  S.  740,41)  sagen  kann:  „Herbart 
schätzt  die  Erziehung  höher,  die  aus  dem  Wechsel  des  bewcgften 
Lebens  zur  kontemplativen  Ruhe  fuhrt,  als  diejenige,  welche  den 
Zögling  ins  Leben  hinaus  und  an  die  Arbeitsstelle  brii^,  wo  nun 
seine  Kraft  im  Wechsel  der  menschlichen  Generationen  wirksam 
werden  kann  .  .  .  Aber,  wird  niati  einwenden,  sein  Erziehungssj'stem 
geht  ja  doch  von  der  Aktivität  des  Zöghngs  aus  (v.  S.  denkt  dabei 
ans  Interesse).    Gewiss,  aber  es  fährt  den  Zögling  von  dieser 


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Aktivität  zurück  zu  untätiger  Beschaulichkeit;  denn  diese  Aktivität 
ist  ein  fremder  Gedanke  in  Herbarts  Pädac:n[^ik." 

Diese  auftallijre  Behauptunj,^  wird  schon  durch  unsere  bisherige 
Betrachtung  widerlegt  Wir  wollen  ihr  noch  einige  Aussprüche  aus 
der  AUg.  Päd.  Herbarts  gegenüberstellen. 

In  dem  Abschnitte  über  die  Stufen  der  gdstigen  Regsamkeit 
(Aufmerken,  Krwartcn.  Fordern,  Handeln)  heisst  es:  ,,Wie  wohl  nun 
das  Handeln  ganz  eigentlich  das  \^orrecht  des  Charakters  ist:  so 
gibt  es  doch  auch  eine  Art  von  Tätigkeit,  die  den,  natürlich  noch 
charakterlosen,  Kindern  vorzüglich  wohl  ansteht,  das  Versuchen. 
Dies  kommt  nicht  sowohl  aus  Begierde,  als  aus  Erwartung  hervor; 
sein  Resultat  ist  ihm  (dem  Kinde),  wie  es  auch  ausfalle,  gleich 
merkwürdig;  immer  hilft  es  der  Phantasie  vorwärts  und  bereichert 
das  Interesse"  (Allg.  Päd.  2.  B.  2.  Kap.  II,  S.  74).  Damit  soll  gesagt 
sein:  Die  Betätigung  des  Kindes  im  Versuchen  ist  etwas  anderes, 
als  die  aus  dem  Begehren  oder  aus  einem  fertigen  Willen,  also  aus 
Motiven  hervorgehende  Tat.  Das  Versuchen  des  Kindes  entspringt 
der  untersten  Stufe  geistiger  Regsamkeit,  dem  Interesse,  das  sich 
in  seinen  Gegenstand  vertieft.  Das  Versuchen  ist  das  Handeln  des 
Kindes  im  Spiel.  Der  Knabe  z.  ß.  beschäftigt  sich  so  eingehend 
mit  seinem  Pferd,  das  Mädchen  mit  seiner  Puppe,  dass  deren  ur- 
sprüngliche  Gestalt  und  Beschaffenheit  oft  Veränderungen  erleiden, 
für  sie  kaum  noch  als  das  erscheinen  lassen,  was  sie  narh  der  Ab- 
sicht ihres  Schöpfers  sein  sollten.  Diese  Veränderungen  stören 
und  beunruhigen  das  an  dem  Gegenstande  seines  Interesse  sich 
versuchende  Kind  durchaus  nicht  Das  oft  arg  zugerichtete  Pferd, 
die  gewisser  Zierden  entkleidete  Puppe  ist  dem  Kinde  nur  inter- 
essanter und  lieber  geworden.  Es  hat  sich  daran  versucht,  die 
Veränderungen  sind  seine  Tat.  Nicht  will  es  zerstören.  Ks 
vertieft  sich  in  den  egenstand  seines  Interesse.  Würde  der 
Gegenstand  seiner  Tätigkeit  Veränderungen  sich  unzugängig  erweben, 
dann  würde  er  dem  Kinde  gleichgültig  werden.  Die  Mutter  sieht 
mit  Befremden,  dass  die  neugeschenkte  Puppe  nach  flüchtiger  Be« 
trachtung  beseite  gelegt  und  der  hässliche  Puppenbalg  wieder  her- 
vorgesucht wird.  An  ihm  hat  das  Kind  schon  so  manche  inter- 
essante Entdeckung  gemacht;  er  hat  sich  schon  vieles  gefallen  lassen 
und  wird  der  Phantasietätigkeit  des  spielenden  Kindes  auch  künftig 
ernsten  Widerstand  nicht  entgegenstellen.  Die  eigentliche  Tätigkeit 
des  Kindes  ist  das  Spielen ;  spielend  versucht  es  sich  an  den  Dingen 
der  Aussenwelt  und  verfolgt  es  mit  Spannung  die  Veränderungen, 
die  seine  Tätigkeit  an  ihm  hervorbringen,  ohne  dass  es  bei  dieser 
Tati^dt  bestimmte  Ziele  im  Auge  hat;  die  Erfolge  seiner  Tatzeit 
bereiten  ihm  Überraschungen.  Das  Versuchen  des  spielenden  Kindes 
ist  eine  wesentlich  andere  Tätigkeit,  ril^  dis  \''ersuchen,  das  Experi- 
mentieren des  forschenden  Gelehrten.  Em  nicht  spielendes  Kind 
ist  kein  geistig  gesundes  Kind.    Im  Spiel  des  Kindes  betätigt  sich 


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—    252  — 


das  unmittelbare  Interesse;  schon  deshalb  ist  es  von  grosser  Be- 
deutung^ für  die  Willensbildung. 

Wir  werden  Herbart  beistimmen  müssen:  die  im  Versuchen 
hervortretende  Tätigkeit  des  Kindes,  die  ihm  so  wohl  ansteht, 
kommt  nicht  aus  dem  Begehren,  sondern  aus  der  Erwartung  des 
in  den  Gegenstand  seines  Interesses  sich  vertiefenden  Kindes.  Das 
Ergebnis  seiner  Täti<^keit  ist  dem  Kinde,  wie  es  auch  ausfalle, 
gleich  merkwürdig.  Immer  hilft  diese  Tätigkeit  der  Phantasie 
vorwärts  und  bereichert  das  Interesse.  Wie  das  Interesse  noch 
nicht  WiUe  ist,  so  sind  auch  die  aus  ihm  hervorgehenden  Tätig' 
keiten  no<^  nicht  Willcnshandlungen. 

In  dem  Kapitel  über  den  natürlichen  Gang  der  Charakterbildung 
lesen  wir:  „Offenbar  aber  gewinnt  die  Charakterbildung  so  viel  an 
Sicherheit  des  Erfolgs,  wie  sie  beschleuiügt  und  in  die  Erzichungs- 
periode  hineingezogen.  Und  dies  ist . . .  nur  dadurch  mögUch,  daiss 
man  den  Jüngling,  ja  schon  den  Knaben  früh  in  Handlung  setze. 
Diejenigen,  welche  blo.ss  yiassiv  als  gehorsame  Kinder  heranwuchsen, 
haben  noch  gar  keiticn  Charakter,  wenn  sie  aus  der  Aufsicht  ent- 
lassen werden;  sie  geben  ihn  sich  nach  ihren  verborgenen  Neigungen 
und  nach  den  Umständen  —  jetzt,  da  niemand  mehr  Gewalt  aber 
sie  hat  oder  da  jede  Gewalt,  die  man  vielleicht  noch  ausüben 
könnte,  sie  schief  treffen  .  .  .  würde  "  (.Mlg.  Päd.  3.  B.  4.  Kap.  IV, 
S.  171^  Hier  hat  Herbart  eine  höhere  Stufe  der  geistigen  Reg» 
samkeit  im  Auge;  er  spricht  vom  Knaben  und  vom  Jüngling.  Bei 
beiden  hat  sich  im  Verlauf  der  Entwicklung  aus  dem  Interesse  eine 
Mannigfaltigkeit  von  Begeh run gen  gebildet  und  aus  den  mannig* 
fachen  Versuchen,  in  denen  sich  das  Interesse  von  frühester  Kindheit 
an  betätigte,  hat  sich  die  Fähigkeit  zu  vielerlei  Tun  entwickelt: 
Hand  und  Fuss,  Auge.  Ohr  und  alle  Sinne  haben  im  Dienste  des 
Interesse  gestanden.  Vielfache  Bewegungsvorstellungen  sind  ent- 
standen, die  zu  nichts  weniger,  als  zu  untätiger  Beschaulichkeit 
zurückführen.  Den  aus  dem  Interesse  erwachsenen  Begehrungen 
des  Knaben  und  des  Jünglings  muss  der  h>/.ieher  die  sorgfaltigste 
Aufmerksamkeit  zuwenden,  niciit  nur  um  unlöhlichcm  Begehren  ent- 
gegenzuwirken, ihm  die  Nahrung  zu  enl^iehcn,  damit  es  verdorre: 
sondern  um  dem  Knaben,  dem  Jünglinge  Gelegenheit  zu  geben,  die 
löblichen  Antriebe  in  Handlung  umzusetzen.  Hierbei  wird  der 
Erzieher  einen  gewissen  Sjiielraum  gewähren;  denn  nicht  selten 
wird  er  erst  an  der  Maniilung  gewahr,  welche  Begehrungen  den 
Zögling  bewegen,  und  umgekehrt  merkt  er  an  der  ausbleibenden 
Handlung,  dass  gewisse  Motive  der  Stärkung  bedürfen.  „Der 
Knabe  muss  gewagt  werden."  Die  Gelegenheit  zur  Betätigung 
kann  dann  wie  ein  Sicherheitsventil  wirken.  Für  die  Willensbildung 
aber  bleibt  es  immer  1  lauptsache,  dass  durch  die  Tat  das  Bewusst- 
sein  des  Könnens  erreicht  wird,  ohne  das  nie  ein  Wille  entsteht. 
Auf  dieser  Stufe  kann  unter  Umständen  der  Befehl  gute  Wirkung 


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—  253  — 


tun,  der  gegenüber  dem  nur  spielend  sich  betätigenden  Kinde  aus- 
geschlossen ist.  Denn  Knabe  und  Jüngling  haben  schon  Erfahrungen 
vom  Köfinea;  der  Appell  an  dieses  Bewusstsein  ist  ein  Appell  an 
den  Willen»  der  dann  zum  Motiv  der  Tat  wird.  Aber  hiermit 
greifen  wir  über  den  Gegenstand  unserer  Erörterung  hinaus.  Es 
war  nur  darauf  hinzuweisen,  dass  das  Handeln  auf  den  verschiedenen 
Altersstufen  aus  verschiedenen  Gemütszuständen  entspringt:  das 
Handeln  der  frühen  Kindheit  aus  dem  unmittelbaren  Interesse,  das 
Handeln  späterer  Stufen  aus  dem  Begehren;  —  und  weiter  war 
im  Ani^r  zu  behalten,  dass  Herbart  auf  allen  Stufen  der  Entwicklung 
innerer  Re5:^samkeit  dem  Handeln  eine  hohe  Bedeutung^  beilegt.^) 
Die  Behauptunj^  E.  v.  Salhvürks ,  dass  das  Erziehungssystem 
Herbarts  den  Zögling  von  der  Aktivität  des  Interesse  zurückführe 
zu  untätiger  Beschaulichkeit,  ist  nicht  zutreffend.  Herbarts  Pädagogik 
ist  eine  Pädagogik  der  Tat.  „Handeln  ist  das  Prinzip  des  Charakters" 
(AUg.  Päd.  S.  163).-) 

Im  Widerspruch  mit  Herharts  Forderung,  dass  der  Knabe  und 
der  Jüngling  möglichst  früh  m  Handlung  zu  setzen  ist,  scheint  es 
zu  stehen,  wenn  er  an  anderer  Stelle  sagt:  „Wer  zu  früh  auf  eine 
bedeutende  Weise  d  h.  in  hohem  Masse  in  Handlung  gesetzt  ward, 
dessen  Erziehung  ist  vorbei  oder  sie  kann  wenigstens  nur  mit  vielen 
Unannehmlichkeiten  und  halbem  Frfolgc  wieder  angeknüpft  werden. 
Überhaupt  aber  muss  die  äussere  Tätigkeit  nie  so  sehr  überreizt 
werden,  dass  die  geistige  Respiration  —  jener  Wechsel  von  Ver- 
tiefung und  Besinnung  —  dadurch  gestört  würde"  (AUg.  Päd.  3.  B. 
5.  Kap.  m,  S.  196). 

Herbart  warnt  hiermit  vor  dem  Anreizen  zum  Handeln,  wenn 

die  inneren  Voraussetzungen  dazu  nicht  gegeben  sind ,  wenn  das 
Interesse  sich  nicht  hinreichend  vertieft  hat  und  die  Antriebe  zum 
Handeln  noch  zu  tiüchtig  sind.  Das  Begehren  ist  immer  reicher 
als  das  Handeln.  Wird  nun  das  Handm  zu  früh  und  zu  heftig 
angereizt,  so  leidet  darunter  die  Durchbildung  des  Begehrungskreises. 
In  die  mannigfaltigen  und  von  Natur  unruhigen  ßegehrungen  muss 
erst  eine  gewisse  Ordnung  und  Ruhe  gebracht  werden.   Auch  sind 


))  In  diesem  Zasftroraenhange  wird  die  Stell«  im  3.  Boclie  der  Allff.  Pfid.. 

4.  Kap.  II  verstfindlich,  wo  Herbart  sa^t,  -la-s  die  Stufen  der  gcistigm  Rcgs.inii^cit  niil 
den  menschlichen  Altersstufen  zusammenpassen.  Sie  lautet;  „Dem  Kinde  ziemt  ein 
teilnehmendes  Merken,  dem  Kmibcn  das  Erwarten,  deo  JOaj^line  kleidet  die 
Forderung'  der  Teilnahme.  Hamit  Her  Mnnn  daflir  handeln  möjje."  Das  ist  sicher 
nicht  aufzufassen,  als  ob  das  Kind  nur  merken,  der  Knabe  nur  orw;irtcn  usw.  solle. 
Herbart  scheint  hier  nur  die  Genesis  der  Willenshandlung  andeutrn  /u  wollen. 

*)  ..Charakior  ist  die  stetig  bestimmte  Art,  wir-  <l.  r  Mensch  sich  mit  der  Ausscn- 
vrelt  in  \  <rhaluais  setzt."  —  ..Zur  Bildung  des  sittlichen  Charakters  gehurt;  der 
Mensch  mu.H$  ohne  Vergleich  mehr  mit  den  gescUscbaftlichea  Beziehungen,  als  mit  sich 
lelbst  beschäftigt  werdea"  (Herbart.  Aphorismen  znr  Pädagogik).  E.  v.  SallwUrk 
•dieint  durch  Herbarts  Wort  vom  geduldigen  Interesse  zu  »einer  Behauptung  veranlasst 
worden  ra  sein  (rgl  oben  S.  S47). 


—   254  — 


sie  den  Werturteilen  zu  unterwerfen,  d.  h.  sittlich  und  religiös  durch- 
zubilden. Dadurch  kommt  dem  Zöglinge  zum  Bewusstsein,  dass  es 
nicht  löblich  ist,  jedem  inneren  Antriebe  zu  folgen.  Oberflächlich- 
keit, Voreiligkeit,  Überschätzung^  der  eif^enen  Kraft,  Enttäuschungen 
sind  die  Früchte  einer  Erziehung,  die  den  Zögling  zu  früh  und  in 
zu  hohem  Masse  in  Handlung  setzt  Das  alles  aber:  Oberflächlich- 
keit. Überschätzui^  der  eigenen  Kraft,  Enttäuschungen,  Mangel  an 
sittlichem  und  religiösem  Bewusstsein  sind  seelische  Zustände,  die 
die  Willensbildung  erschweren,  verhindern  oder  auf  falsche  Bahnen 
leiten. 

Das  zuletzt  angeführte  Wort  Herbarts  stellt  sich  demnach  nicht 
als  ein  Widerspruch  zu  seinen  Forderungen  fiir  die  Willensbildung 
dar,  sondern  als  eine  wohlbegründete  W^arnung. 

Wenn  man  eine  Bestimmbarkeit  des  \\'i]]cns  annimmt,  dann 
ist  sie  nur  denkbar  durch  den  Inhalt  des  seelischen  Lebens,  von 
innen  iieraus.  Deshalb  legt  Herbart  der  .-Ausbildung  des  Gedanken- 
kreises eine  hohe  und  entscheidende  Bedeutung  bei  Er  denkt  dabei 
nicht,  wie  manchmal  behauptet  wird,  an  das  bloss  Intellektuelle, 
sondern  an  alles,  was  die  geistige  Regsamkeit  fördern,  ordnen, 
veredeln  und  bis  zum  Handeln  fontreiben  kann,  also  auch  an  Ik- 
gehrungen  und  Gefühle,  an  Regeln  und  Grundsätze,  an  Sittliches 
und  Religiöses.  ,J>er  Gedankenkreis  enthalt  den  Vorrat  dessen, 
was  durch  die  Stufen  des  Interesse  zur  Begehrung  und  dann  durchs 
Mandeln  zum  Wollen  aufsteigen  kann.  Er  enthält  noch  überdies 
den  Vorrat  zu  allem  Maschinenwerk  der  Klugheit  —  ihm  gehören 
die  Kenntnisse  und  die  Umsicht,  ohne  welche  der  Mensch  seine 
Zwecke  nicht  durch  Mittel  verfolgen  könnte.  Ja  in  dem  Gedanken- 
kreise hat  die  ganze  innere  Geschäftigkeit  ihren  Sitz;  hier  ist  das 
ursprüngliche  Leben,  die  erste  Energie."  —  „Die  Grenzen  des  Ge- 
dankenkreises sind  Grenzen  für  den  Charakter:  wiewohl  nicht 
Grenzen  des  Charakters.  Denn  bei  weitem  nicht  der  ganze  Ge- 
dankenkreis geht  in  Handlung  über.  —  Jedoch  auch  das,  was  in 
der  Tiefe  des  Gemüts,  «ich  selbst  gelassen,  ruhig  liegt:  ist  wichtig 
für  die  weichen  Stellen  des  Charakters.  Umstände  können  es 
aufregen.  Darum  dnrf  der  Unterricht,  was  er  nicht  weit  genug 
treiben  kann ,  doch  noch  lange  nicht  vernachlässigen.  Es  kann 
wenigstens  die  Reizbarkeit  bestimmen  helfen;  es  kann  die 
Disposition  ftir  künftige  Eindrücke  vermehren  und  verbessern" 
(Al^f.  Päd.  3.  Buch  4.  Kap.  11).^)  Herbart  zeigt  hiermit  dem  Erzieher 

*)  „Es  iit  nicht  tu  crwaitcn,  daa»  der  Mencch  alle  seine  VoistcUaagcn  in  I^dkuif 
setze.  Zu  vieles  blriht  hintrr  dm  wenigen  starken  Trirhfv<l(rn  unlt  rdrückt  Hepen,  und 
die  Triebfedern,  wenn  sie  auch  anfangs  nar  ein  schwaches)  Übergewicht  hatten,  stärken 
sieb  im  Handeln  selbst.  So  entschieden  nun  alter  auch  durch  sie  das  Huidlelii  sein 
oder  werden  map;  so  leichl  kann  doch  ein  nrurr  Eindruck,  wenn  er  alte  verwandte 
wK-dcr  zu  erwecken  im  Gemüte  antriflt,  dem  Charakter  eine  neue  Biegung  geben.  Hier 
kommt  es  sehr  auf  die  in  der  Tiefe  versteckten  Vorrtdlttafca  nn"  (Herbwt,  ^»horiiiiien 
cor  Pidagogik). 


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—  255  — 


die  Steile,  an  der  er  den  Hebel  seiner  Tätigkeit  am  wirksannsten 
einsetzen  kann. 

Wir  haben  folgende  Satze  gefunden: 

1.  Für  die  fi;eistige  Regsamkeit,  die  als  Streben  bezeichnet 
wd,  bUdet  das  Interesse  das  Anfangsglied  einer  Reihe, 

deren  Endglied  der  Wille  ist. 

2.  Der  Wille  entspringt  nicht  unmittelbar  aus  dem  Interesse. 

3.  Aus  dem  Interesse  erwachsen  zunächst  Begehrungen. 

4.  Die  Begehrungen  treiben  zur  Tat 

5.  Durch  die  gdingende  und  oft  geübte  Tat  entsteht  das 

Wissen  vom  Können. 

6.  Das  Wissen  vom  Können  erzeugt  aus  der  Begehrung  den 

Willen. 

Damit  breche  ich  die  Untersuchung  ab.  Sie  wird  weit  genug 
geführt  sein,  um  das  Verhältnis  zwischen  Interesse  und  Willen  und 
die  Bedeutung  des  Interesse  für  die  Willensbildung  erkennen  zu 
lassen. 


IL 

Für  die  Entstehung  des  Willens  ist  nur  die  gelingende  Tat 
von  Wert.   Deshalb  muss  der  Erzieher  den  Zögling 

1.  zur  Tat  befähigen, 

2.  ihm  Gelegenheit  zu  gelingender  Tat  bereiten, 

3.  durch    anhaltende  Übung   den  leichten  Vollzug  der  lat 
sichern. 

Im  folgenden  mögen  einige  |>raktische  Forderungen,  die  sich 
aus  den  Darlegungen  über  Willensbildung  und  Interesse  ableiten 

lassen,  eine  SteUe  nnden. 

Wenden  wir  uns  dem  Deutschunterrichte  zu!  Der  Zögling 
soll  zum  guten  Vortrage  eines  Gedichtes  befähigt  werden. 
Nicht  selten  wird  als  vornehmstes  Mittel  zur  Erreichung  dieses 
Zieles  der  mustergültige  Vortrag  des  Ldirers  angesehen  und  das 
Kind  in  die  Rolle  des  bloss  Nachahmenden  versetzt  Es  lernt  das 
Gedicht  deklamieren".  ,,Wie  er  räuspert  und  wie  er  spuckt,  das 
hat  es  ihm  glücklich  ab^ej^uckt."  Ist  der  so  erreichte  Xortrag- 
wirklich  die  Tat  des  Kmdcs?  Wie  es  betont,  mit  wcldicm  Aus- 
druck es  spricht,  ist  nicht  seine  Tat,  es  ist  die  nur  nachgeahmte 
Tat  des  Lehrers.  Sein  Herz,  sein  Kopf  weiss  oft  nichts  von  dem, 
was  der  Mund  spricht.  Daher  das  oft  Unnatürliche,  Unkindliche, 
Schauspielerische  solcher  Deklamationen,  im  Vortrage  des  Kindes 
soll  sich  offenbaren,  wie  es  sich  innerlich  zu  dem  Inhalte  des 
Gredidites  stdlt,  wie  das  Kunstwerk  auf  sein  Gemüt  gewirkt  hat. 
Deshalb  muss  ihm  dessen  Gredanken-  und  Gefühlsgehalt  vorher 
cnchlossen  werden,  muss  es  durch  eigenste  Selbsttätigkeit  ihn 


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erfassen.  Dieses  Nachsinnen  und  Nachfuhlen  kann  man  auch,  wie 
oft  geschieht»  ein  Nachschaffen  nennen.    Betont  das  vortragende 

Kind  sinnwidrig,  deckt  sich  sein  Gefühlsausdruck  nicht  mit  dem 
Gefühlsgehalte  des  Gedichtes,  dann  hat  innerlich  noch  nicht  die 
richtif^e  Stellung  dazu  gewonnen.  Hier  muss  die  Korrektur  ein- 
setzen, nicht  darf  sie  sich  darauf  beschränken,  dass  es  heisst:  So 
musst  du  betonen»  mit  diesem  Ausdrucke  musst  du  das  sprechen. 
Durch  das  Eindringen  in  den  Gedankengehalt  wird  die  bewusste 
logisch  richti.^e  IVtortnng,  durch  die  lebendige  Versetznngr  in  den 
Gefühlsgehalt  der  ästhetisch  wahre  Ausdruck  ;:,'e\vonnen.  Eine  der- 
artige selbständige  Betätigung  ist  natürlich  nur  unter  der  Voraus- 
setzung denkbar»  dass  ein  Gedicht  dem  geistigen  Standpunkte  des 
Zöglings  entspricht. 

Nicht  kann  erwartet  werden,  dass  alle  Kinder  dasselbe  Gedicht 
mit  demselben  Ausdrucke  vortragen.  So  viel  Individuen,  so  viel 
Schattierungen.  Eher  noch  lässt  sich  eine  gleichmässige  logische 
Betonung  anstreben,  wiewohl  auch  manche  Gedankenverbindungen 
verschiedene  logische  Beziehungen  und  Auffassungen  zulassen.  Zart- 
fühlenden Kindern  widerstrebt  es,  fremde  Gefühle  zu  heucheln. 
Lässt  man  sie  nicht  gewähren,  verzichten  sie  lieber  ganz  auf  Be- 
tätigung. Ihr  Interesse  am  Gegenstande  schwindet.  Von  diesem 
Standpunkte  aus  erscheint  das  so  häuhg  geübte  Lesen  und  Vor- 
tragen  im  Chor  in  wenig  vorteUluftem  Lichte:  es  gewöhnt, 
ganz  abgesehen  von  anderen  notwendig  damit  verbundenen  Nach* 
teilen,  an  einen  Herdenmut,  erzieht  nicht  zu  persönlichem  Mute. 
Nur  der  persönliche  Mut  treibt  zur  persönlichen  Tat ,  nur  die  per- 
sönliche lat  wirkt  willenbildeiid.  Nicht  selten  ist  zu  beobachten, 
dass  es  im  Chor  „glatt  geht",  beim  Einzellesen  und  Einzelvortrag 
aber  viele  versagen;  dass  im  Chore  laut,  oft  überlaut  gesprochen, 
beim  Einzelvortrag  aber  nur  undeutlich  geflüstert  wird. 

Vor  kurzem  erkundigte  ich  mich  in  einer  Schulklasse  nach  den 
gelernten  Gedichten.  Ich  griff  das  zuletzt  gelernte  heraus  und 
fragte:  Wer  kann  es  vortragen?  Viele  meldeten  sich.  An  leinen 
munter  dreinschauenden  Knaben  erging  die  weitere  Frage:  Willst 
du's  einmal  recht  schön  vortrasrcn'  Rr  blieb  verlegen  sitzen  und 
schwieg.  Warum  willst  du  nicht .'  Ich  kann's  nicht  gut  betonen. 
Er  wollte  nicht,  weü  ihm  der  Mangel  seines  Könnens  bewusst  war. 

-  Nicht  selten  geschieht  es,  dass  Kinder  einen  Befehl  des  Lehreis 
mit  Untätigkeit  und  Schweigen  beantworten.  Das  Bewusstsein  des 
Nichtkönnens  hemmt  ihnen  Hand  oder  Fuss,  die  Scheu,  das  vor 
anderen  zu  gestehen,  schliesst  ihnen  den  Mund.  Übel  angebracht 
ist  in  solchen  Fällen  strenges  Beharren  auf  dem  Befehle.  Verhilf 
dem  Zöglinge  zum  Bewusstsein  des  Könnens,  freudiges  Tun,  williger 
Gehorsam  danken  es  dir. 

\'on  den  Gegenstanden  des  Deutschunterrichts  ist  den  Zöglingen 
der  Aufsatz  am  wenigsten  angenehm.   Er  ist  ihnen  ein  lästiger 


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Zwang,  ein  Muss,  das  den  Antrieb  zur  Tat  hemmt.  Bis  zur  äussersten 
Grenze  wird  die  Arbeit  hinausschoben.   Woher  diese  bekannten 

Erscheinungen  ? 

Oft  wird  übersehen,  dass  das  Interesse  die  Wurzel  des  Willens 
i&L  Aus  dem  Interesse  erwächst  das  Begehren,  das  Begehren  strebt 
zur  Tat,  Uber  einen  Gegenstand  des  Interesses  spricht  man  sich 
schriftlich  wie  mündlich  gern  aus. 

Die  Vorbereitung  des  Au&atzes  verläuft  meist  nach  dem  Schema: 
Stoffsammlung,  Stoffanordnung,  stilistische,  orthographische  Vor- 
bereitung. Liegt  das  Aufsatzthema  im  Interessekreise  des  Kindes, 
dann  ist  die  Stotfsamnüung  bald  erledigt  und  em  natürlicher,  ein- 
facher  Gedankengang  bald  gefunden.  Zur  Qual  nur  werden  diese 
Stufen  der  Vorbereitung,  wenn  das  Thema  ausserhalb  der  unmittel- 
baren Erfahrung  liegt,  wenn  der  Zögling  nicht  im  Stoffe  lebt.  Dann 
auch  wuchert  und  blüht  die  Phrase,  die  klingende,  gedankenlose, 
unwahre,  charakterlose  Phrase.  Die  Gewöhnung  an  sie  macht  un- 
iahig  zu  jeder  wahren  und  ernsten  Vertiefung. 

Vielfach  glaubt  man,  einer  besonderen  stilistischen  Vorbereitung 
nicht  entraten  zu  können.  Man  lässt  den  Gegenstand  mündlich 
darstellen ,  Sätze  bilden  und  variieren.  Einen  treffenden  Ausdruck 
für  das  zu  finden,  was  uns  innerlich  bewegt,  ist  keine  Sache,  die 
sich  kommandieren  lässt  Was  selbst  dem  gebildeten  Erwachsenen 
schwer  fallt,  sollte  man  nicht  von  Kindern  verlangen.  Die  münd- 
liche Aussprache  über  den  Gegenstand  des  Aufsatzes  darf  nicht  als 
stilistische  Übung  behandelt  werden  sie  soll  nur  als  Massstnb  dn^fiir 
dienen,  wie  weit  die  Kmder  den  Stoff  beherrschen.  Weulcn  Sat/e 
gebildet  und  eingeprägt,  so  binden  sich  die  meisten  Kmdcr  an 
diese  Formen,  auch  wenn  der  Lehrer  es  nicht  verlangt  Eis  wird 
zu  einer  Gedächtnissache,  was  selbständiges  Tun  sein  sollte.  Das 
Variieren  von  Sätzen  ist  gewiss  eine  gute  Sprachübung,  aber  n!s 
direkte  stilistische  Vorbereitung  zu  einem  Aufsatze  nicht  zu  cmp- 
icnien.  Die  begabteren  Kinder  bedürfen  ihrer  nicht,  sie  wenden 
schliesslich  doch  den  Ausdruck  an,  der  ihrer  Ansdiauung  gemäss 
ist  —  die  Anschauung  ist  der  Stil  — ;  die  schwächeren  Kinder 
aber  werden  durch  solche  Variationen  nur  beunruhigt  und  unsicher 
gemacht  Ihr  Vertrauen  auf  die  eigene  Kraft  sinkt  Sie  möchten 
es  den  Begabteren  nachtun  und  geraten  in  Unfreiheit  Sie  ahmen 
nach,  anstatt  den  ihrer  Anschauung  angemessenen  Ausdruck  an- 
zuwenden. Besser  die  unvollkommenere  einne,  als  die  vollkommenere 
fremde  Ausdrucksweise.  Gerade  die  Schwachen  bedürfen  der 
Stärkung  des  Vertrauens  auf  die  eigene  Kraft,  des  Mutes  zur  Tat, 
sonst  erfahren  sie  nie,  was  sie  können.  „Unmut,*)  der  habituell 
wird,  ist  die  Schwindsucht  des  Charakters"  (Herbart,  AUg.  Päd, 
3.  E  4.  Kap.  I,  S.  165).  Der  Erzieher  muss  sidi  hüten,  die  Keime 


*)  D.  b.  hier:  Mangel  an  Mut,  Verzagtheit. 
fUifOgtooh«  Blndien.  XXIX.  4.  17 


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—  258  — 


dieses  Leidens  in  die  Seele  des  Kindes  zu  legen  oder  zu  nähren. 
Auch  der  Schwache  wünscht  und  begehrt  Alles  Begehren  aber  ist 
Leiden.  Befähige  zur  gelingenden  Tat,  du  befreist  von  Leiden, 
gibst  Krafti^efühl,  Freude  und  Willen. 

Nicht  selten  beschränkt  sich  der  Unterricht  im  Schreiben 
und  Zeichnen  auf  ein  bloss  nachahmendes  Tun  des  Zöglings. 
Es  fShrt  auch  zum  Können,  aber  za  einem  Können,  das  nidit  ak 
Faktor  der  Willensbildung  wirkt  WiUe  ist  Selbständigkeit  Der 
Selbständige  soll  nicht  nur  selbst  stehen,  sondern  seinen  Standpunkt 
auch  behaupten  können;  der  Selbständige  spürt  hervortretenden 
Mängeln  seines  Werkes  nach  und  findet  neue  Wege.  Ein  bloss 
nachahmendes  Tun  ist  kein  wurzelechtes;  ihm  fehlen  die  Wurzeln 
des  Interesse  und  der  daraus  sich  entwickelnden  natürlichen  An- 
triebe. Der  nur  mechanisch  Handelnde  ist  rat-  und  hilflos,  sobald 
der  Mechanismus  versagt  oder  veränderten  Verhältnissen  nicht  ge- 
wachsen ist  Schon  der  Gedanke  an  den  möglichen  P^intritt  solcher 
Verhältnisse  macht  unruhig,  schwächt  das  Bewusstsein  des  Könnens 
und  hemmt  die  Entwicklung  eines  starken,  selbstsicheren,  freien 
Willens. 

Bei  der  zeichnerischen  Darstellung  eines  Gegenstandes,  bei  der 

schönen  Ausführung  einer  Buchstabenform  muss  klare  Anschauung 
und  ästhetisches  Empfinden  die  Hand  regieren.  Fehlen  diese  natür- 
hchen  Antriebe,  so  ermangelt  das  Tun  des  erziehenden  Wertes. 
Nicht  bloss  Fertigkeit,  sondern  ein  Hinaussetzen,  ein  Hineinbilden 
der  Anschauung  und  Empfindung  in  die  äussere  Welt,  die  Welt 
der  Erscheinungen,  ist  die  darstellende  Kunst,  ,  Dns  ist's  ja,  was 
den  Menschen  zieret  Und  dazu  ward  ihm  der  Versland ,  dass  er 
im  inneren  Herzen  spüret,  was  er  erschafft  mit  seiner  Hand."  Nur 
dann  erschafft  die  Hand  im  eigentlichen  Sinne,  wenn  sie  darstellt, 
was  die  Seele  erlebt  und  beweget. 

Das  gilt  nicht  nur  vom  Künstler,  das  gilt  auch  vom  Kinde, 
das  ein  Mensch  werden  soll,  ein  bewusst  handelndes,  zur  Fähigkeit 
des  Wollens  sich  durchringendes  Wesen.  Das  Wollen  ist  nichts 
Angeborenes  j  der  charaktervolle  sittliche  Wille  ist  das  Werk  der 
höchsten  menschlichen  Leistung. 

Im  Unterrichte  der  Schwachsinnigen  wird  mit  Recht  und  mit 

gutem  Krfolrrc  die  Betätigung  gepflegt^)  Aber  auch  hier  darf  man 
sich  nicht  auf  eine  rein  mechanische,  maschinenmässige  Tätigkeit 
beschränken:  es  ist  eine  Betätigung  zu  erstreben,  die  aus  dem  zum 
Begehren  fortschreitenden  Interesse  hervorgeht  Das  Interesse  und 
infolgedessen  das  Begehren  solcher  Kinder  ist  schwer  und  nur  in 
geringer  Starke  und  geringem  Umfange  zu  erzielen;  deshalb  erfolgt 
die  Betätigung  spät»  zögernd,  auf  eng  begrenztem  Gebiete  und  ist 


<)  Vgl  Päd.  Studien  1908,  H.  i. 


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—   259  — 

der  Wille  einseitig  und  schwach.  Durch  die  Praxis  in  gut  geleiteten 
Eniefaungsanstalteo  för  Schwachsinnige  wird  unsere  Theorie  von 

der  Willensbildung  bestätigt.*) 

Das  Leben  in  der  Schulgemeinschaft  gibt  reichlich  Gelegenheit, 
die  Kinder  zur  Betätigung  des  Ordnungssinns,  der  Dienstfcrti'^kcit, 
Vertragiidikeit,  des  Gehorsams  anzuhalten.  Der  Reiigiuns-  und 
Geschichtsunterricht  berührt  aber  vidfach  Gebiete,  die  dem 
Kindes-  und  JüngÜngsalter  noch  fernliegen.  Können  wir  hier  die 
innere  geistige  Regsamkeit  über  die  Stufe  des  Interesse  hinausführen? 
Können  wir  hier  das  im  Fordern  sich  äussernde  Begehren  zur  Tat 
fortschreiten  lassen,  die  in  die  Aussen  weit  eingreift?  Offenbar  nicht 
Mfissten  dann  diese  Gebiete  nidit  ausgesdiieden  oder  auf  ein 
späteres  Lebensalter  verschoben  werden?  Das  würde  so  sein»  als 
ob  wir  im  Rcchcni:nterrichtc  von  der  Zinsrechnung  absehen  wollten, 
nur  weil  die  Kinder  Kapitale  noch  nicht  ausleihen  oder  auinchmcn. 
Das  Handeln  auf  diesen  Gebieten  muss  von  langer  Irland  vorbereitet 
sein.  Ein  Handehi  auf  ein  nur  von  aussen  kommendes  Gebot  ist 
noch  nicht  religiöses  oder  sittliches  Handeln.  Die  äussere  Unter- 
werfung unter  solche  Gebote  erweckt  nur  den  Schein  der  Reli- 
giosität und  Sittlichkeit.  Nur  wenn  das  äussere  Handeln  das  Nach- 
bild inneren  Handelns  ist,  ist  die  Tat  meine  Tat;  dann  erst 
gewinnt  sie  den  Charakter  des  Religiösen  und  Sttlichen  oder  des 
Gegenteils. 

Wir  stehen  hier  vor  der  höchsten  und  schwierigsten  Aufgabe 
der  Erziehung:  Gesinnungen,  Motive  zu  bilden,  die  zur  Tat  treiben. 

Ein  ungenannter  Militärschriftstellcr  schreibt  in  einem  Aufsatze 
»JMe  Zukui^tsschlacht"  (Velhagen  &  Klasings  Monatshefte  1907, 
H.  7,  S.  78):  ^n  kuhner  Ge<&nke  mag  noch  so  ein&di  und  ein- 
leuchtend  sein  —  der  innerliche  Vorgang,  der  ihn  in  die  Tat  um- 
setzt, erfordert  einen  ganzen  Mann  und  eine  Truppe  von  hingebender 
Tapferkeit  und  von  stillem  ernsten  Pflich^efühi  .  .  .  Da  müssen  die 
edelsten  Kräfte  der  Menschenseele  tätig  werden:  Selbstverleugnung, 
strenge  Selbstzucht  und  Treue  bis  zum  Tode. 

Diese  Kräfte  lassen  dch  in  der  Stunde  der  Ge&hr  nidit  schaffen. 
Sie  müssen  in  der  Truppe  vorhanden  sein,  geweckt  und  gestählt 
durch  eine  unermüdliche  Friedenstätigkeit.  Die  festeste  Stütze  eines 
Heeres  aber  ist  ein  schlichtes,  einfältiges  Gottvertrauen  .  .  .  Und 
dass  es  nicht  gleichgültig  ist,  ob  ein  Heer  vor  der  Schlacht  das 
Lied  singt:  „Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott"  —  oder  ein  Operetten- 
hed  —  das  hat  auch  der  Krieg  von  1870  eindrin^dieh  bewiesen." 

Das  sind  Worte  mitten  aus  dem  Krnste  des  Lebens.  Ganz 
richtig:  die  Kräfte,  die  standiiaitea  und  uberwinden,  lassen  sich 


Nitzsche,  G.,  Die  KgL  Sachs.  Ländes^Erziehungs- Anstalt  für  schwachsionige 
Kinder.  (  hcmaitz  1907.  Di«K  lehr  bcttchttanrerte  VeröffieadiclMUif  bietet  iDch  dnen 
Lehrplap  (S.  26—76). 

17* 


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nicht  in  der  Stunde  der  Gefahr  schaffen,  aber  auch  nicht  in  nur 

zwei-  oder  dreijähriger  militärischer  Vorbereitungszeit.  In  der 
Friedenszeit  des  Lebens,  in  der  Jugend,  müssen  sie  geschaffen  und 
geübt  werden. 

Sehr  richtig  betotit  jener  MiUtärschriftsteller ,  dass  die  gute 
Gesinnung  den  nachhaltigsten  und  zuverlässigsten  Antrieb  zur  Tat 
bildet  Immerhin  ist  das  Wi^en  vom  Können  eine  unerlässliche 
Vorbedin.Tun^  des  Entschlusses  7ij!rTat  und  des  gelingenden  Hanr^eln-^, 
da  es  die  (  irimdlage  des  St  Ibstvertrauens  ist.  Mit  dem  bott- 
vertrauen  muss  das  Selbstvertrauen  sich  verbinden,  sonst  erhält  es 
einen  stark  fiitalistischen  Zug  und  artet  leicht  in  Aberglauben  und 
Tollkühnheit  aus,  die  nur  geringe  Gewahr  itir  das  (Clingen  der 
Tat  bieten. 

In  dem  Abschnitte  der  AUg.  Päd.  Herbarts,  der  die  Uberschrift 
trägt  „Handeln  ist  das  Prinzip  des  Charaiciers  *  (3.  B.  4.  Kap.  1,  S.  163) 
lesen  wir:  „Vor  allen  Dingen  aber  muss  man  hierbei  in  Betracht 
ziehen,  dass  der  grössere  Teil  der  Tätigkeit  des  gebildeten  Menschen 
bloss  innerlich  vorgeht,  und  dnss  es  meist  innere  Erfahrungen  sind, 
weiche  von  unserem  Können  uns  belehren  .  .  .  Dann  kommt  es 
darauf  an,  weiche  Art  von  äusserer  Geschäftigkeit  in  ihrer  ganzen 
Komplikation  der  Phantasie  mit  vorzüglicher  Klarheit  vorzubilden 
gelingt.  Der  grosse  Mann  hat  längst  vorher  in  Gedanken  gc* 
handeil,  —  er  fühlte  sich  handelnd,  er  sah  sich  auftreten.  — 
ehe  die  äussere  Tat,  das  Nachbild  der  inneren,  in  die  Erscheinung 
eintritt" 

Was  hier  gesagt  ist,  gUt  wiederum  nicht  nur  von  dem  schon 
gebildeten,  es  gilt  auch  vom  werdenden  Menschen;  es  gilt  nicht 
nur  vom  grossen  Manne,  sondern  von  jedem  ernstschaffenden 
Menschen.  Über  die  Bedeutung  der  Phantasie  für  die  geistige, 
insbesondere  auch  für  die  Willensbildung  ist  bereits  an  anderer 
Stelle  gesprochen  worden.*) 

Im  Religions*  und  Ge^iiditsunterrichte  handelt  es  sich  meist 
um  ein  Handeln  in  der  Phantasie.  Bei  geeigneter  Gelegenheit 
müssen  die  Kinder  durch  einen  anschaulichen  Unterricht  so  lebhaft 
in  gewisse  religiöse  und  sittliche  Lagen  versetzt  werden,  dass  sich 
starke  Antriebe  zum  Handeln  regen.  Kann  aus  irgend  welchen 
Gründen  das  Handeln  nicht  in  äussere  Tat  übergehen,  dann  muss 
es  dem  Zöglinge  Bedürfnis  werden,  auszudenken  und  auszusprechen, 
wie  er  in  dieser  oder  i^-rter  Lage  sich  verhalten  würde.  Durch 
häufig  her! itngetuhrte  iTeiegenheit  zu  solch  inrrerer  Betätigung  wird 
eine  Übung  und  Fertigkeit,  eine  Gew^öhnuug  erzeugt,  die  im 
Ernstfälle  nicht  versag 

Dass  zwischen  dem  Handeln  in  der  Phantasie  und  der  in  die 
Verhältnisse  .der  äusseren  Welt  wirklich  eingreifenden  Tat  noch 


»)  PSd.  Studien  1906,  b.  3776". 


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—    26l  — 


vielerlei  besorgt  werden  muss,  braucht  hier  nicht  weiter  ausgeführt 

zu  werden.  Ganz  allgemein  sei  nur  daran  erinnert,  dass  die  ge- 
lingende äussere  Tat  gewisse  Anforderungen  an  körperliche  Kraft 
und  Gewandtheit  stellt,  Kenntnisse,  Fertigkeiten  und  Erfahrungen 
mancherlei  Art  voraussetzt,  die  erst  im  späteren  Jünglingsalter  ge- 
wonnen werden,  zum  Teil  erst  dem  gereiften  Manne  su  Gebote 
stehen.  Bisweilen  gelingt  die  rasche,  durch  den  Schwung  des  Ideals 
beflügelte  Tat  des  Jünglings;  der  Erzieher  soll  den  jugendlichen 
Wagemut  nicht  unzeitig  tadeln.  „Wer  gar  zuviel  bedenkt,  wird 
wenig  leisten."  Tollkühnheit  aber  ist  noch  nicht  Wille.  Zum 
Wagen  muss  das  Wägen  sich  gesellen.  Auch  das  Zaudern  kann 
eine  Tat  sein.  Manche  freUich  lernen  ihre  Schranken  erst  durch 
eine  Reihe  von  Misscrfolgen  krnnen.  Doch  ist's  etwas  Missliches 
darum.  Misscrfolgc  cntmutigeti  und  lahmen  die  Tatkraft:  für  die 
Willensbildung  ist  die  gelingende  Tat  forderlich.  Dem  gereiften 
Manne  verbindet  sich  mit  dem  Bewusstsein  des  Könnens  das  Be- 
wusstsein  von  den  Schranken  seiner  Macht,  das  Bewusstsein,  dass 
der  Mensch  nie  alle  Fäden  zum  Gelingen  der  Tat  in  seiner  Hand 
hält.  „Ein  rechter  Mann,  der  beten  kann,  und  Gott  dem  Herrn 
vertraut."  Die  iat,  die  nur  dem  Bewusstsein  des  Könnens,  der 
Überlegenheit  der  eigenen  Kraft  entspringt,  gewinnt  leicht  den 
Charakter  des  Brutalen.  Der  Erzieher  wird  dafür  sorgen,  dass 
edlere,  feinere  .Antriebe  die  Schärfe  und  Herbheit  des  fordcr;^r!cn 
Be-t^chrens  mildern,  dass  der  Zöghng  sich  scheuen  lernt,  unreife 
Gedanken  und  unlöbiiche  Gesinnungen  zur  iat  werden  zu  lassen. 

Mit  der  Durchbildung  des  Gedankenkreises  nach  der  sittlichen 
und  religiösen  Seite  hin,  mit  der  Anregung  des  Handelns  in  der 
Phantasie  muss  ferner  die  Ausbildun«^'  der  P>kenntnls  von  den  Be- 
dingungen  der  gelingenden  Tat  Schritt  halten.  Sonst  überspringt 
das  innere  Handeln  in  Ungeduld  voreilig  seine  Schranken,  Ent- 
täuschung folgt  und  jener  Unmut  schlägt  Wurzel,  der  die  Schwind- 
sucht  des  Charakters  ist.  Deshalb  warnt  Herbart  davor,  den 
Zögling  zu  früh  in  bedeutender  Weise  in  Handlung  zu  setzen. 

Die  Gesinnungen  eines  Menschen  so  zu  bestimmen,  dass  aus  ihnen 
die  gute  Tat  hervorgehen  muss,  ist  unmöglich.  Wenn  man  auch 
eine  psychische  Kausalität  annimmt,  so  muss  man  sich  doch  des 
Unterschieds  zwischen  psychischer  und  physischer  Kausalität  be- 
wusst  bleiben,  .^uch  der  feinste  Psycholo«^;  \  crmag  nicht,  alle 
seelischen  Vorgänge  so  zu  erfassen  und  zu  beeinflussen,  dass  der 
Erfolg  seiner  Bemühungen  mit  mathematischer  Sicherheit  eintritt. 

Trotz  dieser  selbstverständlichen  Einschränkungen  bleibt  die 
Verpflichtung  des  Erziehers  bestehen,  die  innere  geistige  Regsamkeit 
des  Zöglings  so  vielseitig  zu  gestalten,  so  hoch  zu  spannen,  so  an- 
dauernd zu  üben,  dass  sie  bis  in  das  Alter  hinein  vorhält»  das  die 
Mittel  zur  äusseren  Tat  in  die  Hand  gibt. 

Das  innere  Handeln,  das  Handeln  in  der  Phantasie  wird  durch 


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262  — 


jeden  dogmatisierenden  Unterricht  vereitelt,  d.  h-  durch  jeden 
Unterricht,  der  Fertiges  und  Unverständliches  bietet,  der  auf  bloss 
gedächtnismässic^e  und  mechanische  Aneignung  hinwirkt  oder  auf 
blosses  Nachahmenlassen  sich  beschränkt.*) 

Ein  jeder  Unterricht,  der  die  Selbsttätigkeit  des  Schülers  hemmt 
und  hindert,  oder  dec  sich  mit  blosser  Scheintätigkeit  begnügt,  ver- 
stösst  gegen  die  Gesetze  der  Willensbildung.  Nicht  alles  Tun  ist 
Selbsttätigkeit.  Nur  dem  Lehrer  wird  es  gelingen,  die  Kinder  zu 
wahrer  Selbsttätigkeit  anziirejren,  der  in  kindliches  Denken,  Fühlen 
und  Wollen  sich  vertieft,  die  Beziehungen  zwischen  ihm  und  dem 
Unterrichtsgegenstande  erkennt  und  die  richtigen  Anknüpfungspunkte 
zu  finden  weiss.  Berichtigt  der  Lehrer  falsche  Antworten  selbst 
oder  lässt  er  sie  durch  andere  Schüler  berichtitren  und  das  RichtiiTC 
nur  nachsagen,  so  hat  er  durch  das  Nachsagen  zwar  Tätigkeit,  aber 
keine  Selbsttätigkeit  veranlasst  Die  Selbsttätigkeit  wird  nicht  in 
Anspruch  genommen,  wenn  der  Lehrer  durch  eine  Flut  von 
Zwischenfragen  den  Schüler  so  leitet,  dass  er  das  richtige  Ergebnis 
gar  nicht  verfehlen  kann  und  wie  mit  verbundenen  Augen  das  Ziel 
erreicht.  Vor  allem  muss  der  Lehrer  den  Schüler  anhalten,  ein 
Ziel,  und  wenn  es  noch  so  nahe  gesteckt  ist,  scharf  ins  .Auge  zu 
fassen;  dann  darf  er  nicht  Langeln,  sondern  nur  anregen,  aus  eigener 
Kraft  dahin  zu  gelangen.  Das  ist  freilich  schwerer,  als  die  Klapper- 
mühle  katechisierender  Fragerei  in  Betrieb  zu  setzen,  und  den  Schein 
7.U  erwecken,  dass  etwas  unterrichtlich  Bedeutsames  geschieht, 
während  der  Zögling  doch  nur  mehr  oder  weniger  mechanisch  in 
Anspruch  genommen,  gelaagweilt  und  geärgert  wird.  Das  Interesse 
will  selbst  sehen,  suchen  und  finden,  sich  aber  nicht  jeden  Schritt 
und  jedes  Schrittchen  vorschreiben  oder  gar  vormachen  lassen;  es 
setzt  sich  selbst  Aufgaben  und  will  sich  bei  ihrer  Lösung  nicht 
beständig  dreinreden  lassen.  Ein  echter  Lehrerkünstler,  wer  diese 
innere  geistige  Regsamkeit  zu  wecken  und  bis  zu  ihren  höchsten 
Stufen  zu  steigern  versteht;  wer  nicht  mit  plumper  Hand  in  das 
zarte  Gewebe  w:i  Ii  enden  geistiL;cii  Lebens  hineingreift,  sondern 
fein  beobachtend  und  leise  lenkend  und  richtend  weise  im  Hinter- 
gründe  sich  hält. 

Dem  Christenlume  wird  von  gewisser  Seite  zum  Vorwurfe 
gemacht,  dass  es  zur  Charakterschwäche  führe.  Dieser  X'orwurf 
mag  aus  dem  einseitig  und  übermässig  betonten  Gedanken  ent- 
standen  sein:  „Du  bist  ein  armer,  elender,  sündiger  Mensch  und 
kannst  gar  nicht  tun,  was  Gott  von  dir  fordert."  Was  fordert  Gott 
im  Christentume  ?    Die  treue  kindliche  Hingabe  an  seinen  guten 


')  Bei  dcni  Begriffe  des  dog  mal  i  s  i  e  r  c  ad  e  u  Latcrriclus  isl  uicht  etwa  nur  ud 
Religioa  zu  deaken;  auch  im  natiirkundlichen  Unterrichte,  im  G^hichts«,  Sprach*, 
Rechen»,  Zeichen-,  Schreib-  und  HandfertigkeiUiuterrichle  kann  dogmatiicli  in  oben 
angedeuteten  Sinne  veifihren  werden. 


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—  263  — 


väterlichen  Willen.  Der  Gott  wäre  ein  schlechter  Pädagoge  der 
mehr  von  seinen  Kindern  verlant^,  was  sie  leisten  können. 

Wir  dürfen  nicht,  wie  oft  im  Religionsunterrichte  geschieht, 
den  Kiodem  vorreden,  dass  sie  nicht  tun  können,  was  Gott  haben 
will;  wir  dürfen  zwischen  dem  AUheiUgen  und  dem  strebenden 
strauchelnden,  irrenden  Menschenkinde  nicht  eine  unüberbrückbare 
Kluft  konstruieren.  Das  ist  unpädat^oj^sch,  weil  der  Wiilensbildun'T 
hinderlich.  Dabei  brauchen  wir  uns  nicht  auf  den  unhaltbaren 
Standpunkt  zu  stellen,  dass  der  Mensch  von  Natur  gut  sei.  Das 
Christentum  stellt  Gesrnnungsideale  auf  und  fordert  ein  unmittelbares 
Interesse,  die  reine»  voUe  Hingabe  an  diese  Ideale.  Die  Gesinnun^^en 
sollen  treibende  Kräfte  werden.  „Das  Evangelium  ist  eine  Kraft 
Gottes"  (Rom.  I,  l6).  „Welche  der  Geist  Gottes  treibet,  die  sind 
Gottes  Kinder"  (Rom.  8,  14).  „Lm  Beispiel  habe  ich  euch  gegeben, 
dass  ihr  tut,  mt  ich  euch  getan  habe"  (Joh.  15,  15).  I&  Ge- 
sinnungen  sollen  zur  Tat  treiben.  Freilich  kann  der  Abstand 
zwischen  unseren  Gesinnrm<^en  und  Taten  einerseits  und  jenen 
Idealen  anderseits  nicht  \ri[)orgcn  bleiben.  Das  Bewusstsein  dieses 
Abstandes  aber,  d.  i.  die  wahre  christliche  Demut,  darf  nicht  herab- 
sinken oder  hcrabgedrückt  werden  zu  dem  entnervenden  Gefiihle 
der  Unfähigkeit,  den  Willen  Gottes  zu  tun,  es  muss  vielmehr  zum 
Antrieb  eines  unermüdlichen  Strebens  nnrh  drn  Idealen  werden. 

Das  wird  der  christliche  Relii^innsuntcrncht  im  Auge  behalten 
müssen,  wenn  die  willen-  und  charakterbiidende  Kraft  des  Christen- 
tums zur  Geltung  kommen  soll 

•       •  • 

Die  lebendige  Wechselbeziehung  zwischen  Erziehungspraxis  und 
Erziehungswissenschaft  bewahrt  vor  Einseitigkeiten  und  Über- 
treibungen, vor  schablonenhaftem  und  handwerksmässigem  Tun. 
Eine  Praxis,  die  enge  Fühlung  mit  der  Wissenschaft  halt,  ist  immer 
auf  der  Bahn  besonnenen  und  wahren  Fortschritts  zu  finden.  Sie 
hat  Leben  und  kann  Lebenswerte  schaffen. 

Die  Untersuchung  über  Willensbildung  und  Interesse  wird  ge- 
zeigt haben,  dass  ein  iirziehuiigssystem,  in  dessen  Mittelpunkte  die 
Charakterbildung  steht,  nicht  zu  untätiger  Beschaulichkeit  ftihren 
kann.   Herbarts  Pädagogik  ist  eine  Pädagogik  der  Tat 


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264  — 


Die  Methode  des  modernen  erdkundlichen  Unterrichts. 

Von  Rektor  K.  Ehrhardt  in  Königscc  (Thüringen), 

L  Die  Aufgab«  de«  eeographischen  UnterrichtSw 

Wesen  und  Umfang  der  Geographie  als  Wissenschaft  werden 
je  nach  dem  subjektiven  Ermessen  der  Gelehrten  in  verschiedener 
Weise  dargestellt.  Seit  der  ältesten  Zeit  ist  die  Kenntnis  der  Erd- 
räume nach  ihrer  Verschiedenheit  die  eigentUche  Aufgabe  der  Geo- 
graphie, die  einseitige  Bevorzugung  der  mathematischen  Geographie, 
die  blosse  Beschreibung  der  Länder  und  die  ebenfalls  einseitige  Be- 
trachtung der  Stellung  des  Menschen  auf  der  Erde  musstcn  den 
Hauptaufgaben  weichen.  Erforschung  der  Erdoberfläche,  der  festen 
Erdrinde,  des  Wassers  und  der  Luft  wird  aligemein  als  das  Haupt- 
ziel hingestellt,  dazu  kommt  noch  die  Darlegung  der  Wechsel- 
wirkung jener  drei  Faktoren  und  die  Erklärung  der  Beziehungen 
zum  Sonnensystem  und  zu  der  gegenwärtigen  Verbreitung  der  ge- 
samten Pflanzendecke,  Tierwelt  und  Menschheit.  Entsprechend  der 
Methode  der  Naturwissenschaften  bleibt  die  Geograpliie  nicht  bei 
der  Beschreibung  der  Länder  stehen,  sondern  sie  dringt  bei  der 
Behandlung  ihrer  Stoffe  in  die  Ursachen  ein  und  sucht  diese  zu 
erforschen.  Nach  Professor  Wagner  ist  die  Geographie  „eine  natur- 
wissenschaftliche Disziplin  mit  einem  ihr  innewohnenden  historischen 
Element.  Sie  zeigt  uns  einerseits  die  Erde  als  einen  eigenartigen 
Naturkörper,  an  dessen  mannigfaltig  gestalteter  Oberfläche  eine 
Fülle  von  Naturerscheinungen  durch  ihr  gesetzmassiges  Ineinander- 
greifen das  Leben  zahlloser  Einzelwesen  bedingt ,  anderseits  be- 
trachtet sie  dieselbe  als  Wohnplatz  eines  höherorganisierten  und 
dem  Naturwalten  nicht  blindlings  hingegebenen  Wesens,  des 
Menschen". 

Über  die  Aufgabe  der  Schulgeographie  können  kaum  noch 
Zwtifel  bestehen,  da  sie  ihre  Aufgaben  aus  den  Arbeiten  der 
Wissenschaft  ableitet.  Sie  hat  einerseits  die  natürlichen  Verhältnisse 
darzulegen,  anderseits  die  Wirkungen  derselben  auf  die  Organismen 
zu  zeigen.  Nur  inbezug  auf  die  Durclidringung  und  den  Umiang 
des  Stoffes  bestehen  zwischen  der  wissenschaftlichen  Geographie 
und  Schulgeographie  Unterschiede.  Weder  die  wasserloscn  Wüsten 
und  undurchdringlichen  IVwälder,  noch  die  schneebedeckten  Hoch- 
gebirge und  weiten  Weltmeere  können  dem  Vordringen  der  geo- 
graphischen Wissenschaft  Halt  gebieten.  Mit  gleicher  Genauigkeit 
sucht  sie  jeden  Winkel  der  Erdobetflädie  zu  durchforschen,  jede 
Erscheinung  nach  dem  ursächlichen  Zusammenhang  zu  erklären. 


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kein  Moment  wird  fortgelassen;  mit  demselben  Interesse  betrachtet 

sie  unser  Thüringen  wie  die  Polarlandschaften .  die  Inseln  der 
cieutschen  Kviste  wie  der  fernen  Meere  Der  wissenschaftliche 
Geograph  steigt  auf  den  Spitzen  des  Himalaja  herum,  er  untersucht 
den  Aufbau  der  Anden,  er  stellt  die  Bedeutung  von  Timbuktu  und 
Kano  fest,  er  misst  die  \-erschiedenen  Temperaturen  der  Meeres- 
tiefen mit  derselben  Sorgfalt  wie  die  der  Hohen  des  Festlandes,  er 
erforscht  die  Tier-  und  Pflanzenwelt  der  K  il  J  ari  und  die  Lebens- 
vernaitnisse  der  Massai- Leute  von  Ostatnka.  Die  Wissenschaft 
erstreckt  sich  mit  grosser  Gleichmassigkeit  über  die  ganze  Erde. 
An  It  rs  ist  es  im  geographischen  Unterricht  der  Schule;  er  kann 
sich  nicht  über  die  ^anze  Erde  erstrecken,  da  der  Stoff  /u  umfang- 
reich, die  Zeit  des  Unterrichts  zu  beschränkt  ist,  und  der  Schüler 
nicht  alles  zu  umspannen  vermag.  An  den  höheren  Lehranstalten 
kann  der  Geographielehrer  weitere  Gebiete  der  Erde  einer  genaueren 
Betrachtung  unterwerfen,  da  die  Schüler  in  einem  reiferen  Alter 
stehen,  der  l'nterricltt  mehr  Zeit  zur  Verfügung  hat  und  genügende 
Lehrmittel  geboten  sind. 

Da  die  Volksschule  Hrzichun;^sschule  ist,  so  ist  der  durch  Inhalt 
und  Form  dieses  Unterrichtsfaches  vermittelte  Kreis  von  Vorstellungen 
nicht  Selbstzweck,  sondern  es  soll  auf  die  Veredelung  der  Gesinnung 
und  auf  die  Bildung  des  Willens  eingewirkt  werden,  der  Stoff  sou 
in  dem  Schüler  die?  bestinü^-lichc  Wirkung  hervorbringen.  Dem 
dient  als  Hauptmittel  die  Bildung  des  Interesses.  Der  gcocrraphische 
Unterricht  weckt  und  entwickelt  besonders  das  empirische,  das 
Streben  nach  Erkenntnis  des  Tatsächlichen,  das  spdculative,  das 
nach  dem  Warum  fragt  und  zur  Erforschung  des  kausalen  Zu- 
sammenhanges fuhrt  und  das  ästhetische  Interesse,  das  Wohlgefallen 
an  den  Schönheiten  der  Länder  empfindet.  Neben  den  Interessen 
der  Erkenntnis  werden  auch  die  der  Teilnahme  gebildet 

2.  Di0  fiesieIrtHunkte  fQr  die  StofautwahK 

Oie  Bildung  des  Interesses  ist  abhängig  von  dem  „Was"  und 
von  dem  „Wie**  des  Unterrichts»  von  der  Auswahl  der  Unterrichts^ 
Stoffe  und  von  deren  methodischer  Behandlung.    Eine  zweckmässige 

Auswahl  und  Verteilung,  die  Rücksicht  nimmt  auf  die  feststehenden 
und  im  Verlaufe  der  Entwicklung  sich  verändernden  Kigentümlich- 
keiten  des  Kmdcs,  kann  wesentlich  zur  Erreichung  des  Zieles 
beitragen.  Für  die  Dinge  müssen  genügende  Anknüpfungspunkte 
in  der  Seele  des  Schülers  vorhanden  sein,  und  die  zu  behandelnden 
Stoffe  müssen  der  geisti  ^cn  Fassungskr:ift  Srhiürrs  entsprechen. 
Was  über  den  ^eistijren  Standpunkt  emer  bestimmten  Unterrichts- 
stufe hinausgeht  und  nur  mit  Mühe  angeeignet  werden  kann,  muss 
unbedingt  aus  dem  Lehrplan  gestrichen  werden.  ^^Nichts  schadet 


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der  geisti^^en  Gesundheit  mehr,  als  eine  ungeeignete  geistige  Nahrung." 
Jede  methodische  Einheit  muss  die  Geisteskräfte  des  Schülers  in 
Anspruch  nehmen  und  fördern,  damit  das  Gefühl  des  erfolgreichen 
Gelingens  der  Arbeit  entsteht,  ein  geistiges  Fortschreiten  zustande 
kommt  und  sich  ein  beglückendes  GefUhl  einstellt  Die  leichte  und 
sichere  Verschmelzung  neuer  Vorstellungen  mit  älteren  erzeugt  ein 
Lustgefühl,  durch  welches  das  Verlangen  nach  weiterer  Beschäftigung 
mit  dem  Gegenstande  geweckt  wird.  Wenn  das  Neue  im  Innern 
apperzipierende  Vorstellungsmassen  vorfindet,  wenn  durch  die  sich 
leicht  volhdehende  Apperzeption  einem  Bedürfnis  Genüge  gdeistet 
wird,  so  wird  durch  den  Unterricht  Interesse  erzeugt  Die  Fülle 
der  Vorstellungen,  die  das  Kind  zur  Schule  mitbringt,  muss  geklärt 
vertieft  und  erweitert  werden,  denn  wenn  wir  von  dem  Kinde  ver- 
langen, die  stummen  Zeichen  der  Karte  in  klare  Anschauungen  von 
rauschenden  Flüssen  und  klaren  Seen,  von  fruchtbaren  Tälern  und 
öden  Wüstoi,  von  verkehrsreichen  Städten  und  stillen  Gebifgs* 
Ortschaften  zu  verwandeln,  so  ^^^nschen  vAt,  dass  «^f^incri 
Inneren  heraus  diese  Objekte  belebe.  Das  ist  eine  Arbei:,  iic  nur 
verrichtet  werden  kann,  wenn  die  licimatskunde  die  richtigen  und 
zahlreichen  Vorstellimgen  herbeigeföhrt  hat,  wenn  sie  den  Unterricht 
ii^  der  Gec^raphie  beginnt  und  auf  den  weiteren  Stufen  audi 
begleitet 

Blicken  wir  auf  die  h' utiLycn  Erwerbs-  und  Verkehrsverhältnisse, 
so  erkennt  man,  dass  eine  gewisse  Menge  des  geographischen 
Wissens  auch  für  den  gewöhnlichen  Mann  Bedürfnis  ist,  und  der 
Schule  erwächst  die  Aufgabe,  dieses  Bedürfnis  in  angemessener 
Weise  zu  befriedigen.  Soll  der  Schüler  später  das  Leben  und 
Treiben  in  der  Weltwirtschaft  verstehen,  soU  er  die  Ricsenlettem, 
welche  die  arbeitende  Menschheit  dem  Antlitz  der  Erde  eingräbt 
deuten,  soll  er  die  kolonialen  Interessen  seines  Volkes  ricfat^  ein« 
schätzen,  soll  er  endlich  die  Ausdehnung  des  Handels  und  der 
Industrie  und  die  Machtstellung  eines  Staates  richtig  erkennen,  so 
ist  in  keinem  anderen  Unterrichtsfache  als  in  der  Geographie  die 
,  geeignete  Gelegenheit  zur  Belehrung  gegeben.  Auch  eine  gründliche 
Betraditung  der  kolonialen  Bestrebungen  ist  notwendig.  Denn  als 
Deutschland  nach  dem  erfolgreichen  Kriege  von  1870/71  politisch 
erstarkte,  musste  das  wirtschaftliche  Gebiet  in  der  Form  von  Er- 
werbungen an  Aussenbcsitzungen  eine  Ausdehnun;:^  erhalten.  Wir 
können  uns  durch  einen  flüchtigen  Bück  auf  die  Handelsgüter  leicht 
davon  überzeugen,  dass  wir  ohne  übeisedsche  Produkte  nidit  mehr 
auskommen;  für  die  Kolonialwaren,  die  wir  alltaglich  nötig  haben, 
müssen  wir  Quellen  besitzen.  Wenn  nun  auch  noch  lange  Zeit 
vergeht,  ehe  die  Kolonien  einige  Produkte  uns  ganz  und  gar  liefern, 
so  kann  doch  durch  den  Fortschritt  der  Pflanzungen  wenigstens  ein 
TeU  der  Ausgabeh  an  fremde  Lander,  ein  TeU  der  Millionen  deutschen 
Vermögens,  das  in  die  Taschen  der  amerikanischen  und  englischen 


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—  26;  — 

Spekulanten  flicsst,  dem  eigenen  Volke  gerettet  werden.  Deutsch- 
lanci  hat  sirh  nach  und  nach  von  einem  A^rar-  zu  einem  Industrie- 
Staate  entwickelt,  der  sich  durch  Handelsverträge  Quellen  für  die 
Rohstoffe  und  Absatzgebiete  für  die  fertigen  Waren  verschafft,  aber 
das  Wohl  eines  Industriestaates  wird  durch  einen  Krieg  bedeutend 
mehr  bedroht,  als  das  eines  Ackerbaustaates.  Am  sichersten  sind 
cic^cnr  Besit7.ungen ,  die  einerseits  die  zu  verarbeitenden  Stoffe 
liefern,  anderseits  für  die  Industrieerzeutrnissc  Absatzgebiete  abgeben. 
Die  deutsche  Textilindustrie  allein  beschäftigt  etwa  i  MilL  Arbeiter, 
sie  bezog  an  Rohstoffen  im  Jahre  1904  für  471  Mill.  M.  fast  voll- 
ständig vom  Auslande,  besonders  von  Amerika  und  £ngland.  Im 
nächsten  Jahre  zahlte  Deutschland  für  den  gleichen  Bedarf  an 
Baumwolle  nur  398,2  Mill.;  73  Mill.  M.  flössen  an  das  Ausland. 
Amerika  hat  die  Baumwolle  selbst,  England  erhält  sie  aus  Ost- 
indien und  Ägypten,  wenn  nun  durch  einen  Konflikt  die  Zufuhr 
nach  Deutschland  für  kurze  Zeit  unterbliebe,  so  wäre  ein  Haupt- 
industriezweig bei  uns  lahmgelegt.  Wir  können  verstehen,  dass  das 
kolonial-wirtschaftliche  Komitee  mit  dem  grössten  Eifer  den  Anbau 
der  Baumwolle  in  den  Kolonien  zu  heben  versucht,  um  die  Ab- 
hängi^^kcit  Deutschlands  inbezug  auf  die  Zufuhr  von  Baumwolle  zu 
überwinden.  Alle  afrikanischen  Kolonien,  ausgenommen  Südwest- 
afrika, liefern  schon  jetzt  Baumwolle,  und  die  ostafrikanischen  Er- 
zeugnisse übertreffen  an  Güte  die  amerikanische  und  ägyptisch f> 
Ware,  Es  gilt  jetzt  nur  noch  die  Produktion  zu  steigern,  dass  aller 
Bedarf  von  unseren  Kolonien  gedeckt  weiden  kann,  und  das  ist 
wohl  möglich,  denn  die  statistischen  Angaben  zeigen  deutlich,  wie 
die  Kolonien  sich  wirtschaftlich  von  Jahr  zu  Jahr  heben.  Auch 

wir  an  Kakao  und  Reis,  an  \nt;'hölzem  tind  Gerbstoffen,  an 
Kautschuk  und  Ölfrüchten .  an  Federn  und  Häuten  von  dem  Aus- 
lande beziehen,  kann  durch  unsere  Kolonien  recht  gut  gedeckt 
werden.  In  dem  Gelingen  der  Unternehmungen  der  Pflanzungs- 
gesellschaften liegt  die  Zukunft  der  deutschen  Schutzgebiete  C^t- 
afrika,  Kamerun,  To^o,  Kaiser  W'IIhelmland. 

Aber  auch  jene  Absatzgebiete,  die  noch  vor  einigen  Jahren 
eine  bedeutende  Zahl  von  Waren  aus  dem  Deutschen  Reiche  be- 
zogen, kaufen  nicht  mehr  soviel  wie  früher,  ihre  Industrie  hat  sich 
gehoben,  so  dass  sie  auf  dem  Weltmarkte  bereits  als  Konkurrenten 
der  deutschen  Industrie  auftreten.  Amerika  wie  Jayjan  sind  eifrig 
bemuht,  alle  Waren  für  den  eigenen  Bedarf  selbst  herzustellen.  Wir 
müssen  für  unsere  Industrie  Absatzgebiete  suchen,  und  wenn  auch 
diese  Absatzgebiete  unsere  Kolonien  noch  nicht  sein  können,  so 
sind  sie  doch  bedeutsame  Warenniedeilagen,  von  denen  der  deutsche 
Handel  weiter  verbreitet  und  weiter  entwickelt  werden  kann.  „Das 
Deutschland  von  heute  muss  entweder  über  See  verkaufen  oder 
Untergehn." 

Die  Kolonien  sind  aber  auch  dazu  bestimmt,  die  Massen- 


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auswanderungr  des  übervölkerten  Heimatlandes  aufzunehmen.  Die 
Zahl  der  deutschen  Auswanderer  betni;;^  in  den  letzten  Jahren 
rund  etwa  30000,  dem  steht  eine  jährliche  Zunahme  von  etwa 
700  000  Seelen  gegenüber.  Es  muss  notwendig  eine  steigende  Aus* 
Wanderung  einsetzen,  ein  Teil  des  Volkes  muss  steh  abzweigen,  und 
deshalb  ist  es  nötig,  dass  ein  Gebiet  mit  einem  annähernd  gleichen 
Klima,  mit  einer  ähnlichen  Bodenbeschaffenheit  und  Pflanzendecke, 
mit  einer  möglichst  f^eringen  Bevölkerung  zur  Besiedelung  vorhanden 
ist.  Solche  Strecken  sind  in  Ost-  und  Südwestafrika  vorhanden. 
Bisher  ist  fast  der  ganze  Teil  des  Auswandererheeres,  nachdem  es 
das  Vaterland  verlassen  hatte,  in  der  weiten  Welt  untergetaucht, 
die  deutschen  Auswanderer  wurden  intelligente  und  energ^ische  Be- 
wohner von  den  X'ercinic^cn  Staaten,  von  Brasilien  und  Australien, 
die  ihre  Nationalität  bald  ganz  und  gar  vergassen,  ja  sogar  mit 
ihren  Kräften  die  Konkurrenzfähigkeit  anderer  Lander  verstärkten 
und  das  Vaterland  schädigten.  Unsere  Kolonien  in  Afrika  haben 
bisher  eine  sehr  geringe  Anziehungskraft  gehabt,  nur  einige  Hundert 
wanderten  nach  Afrika,  1901  bloss  55  Menschen. 

Endlich  dienen  die  Kolonien  der  Kriegsflotte  als  Operations- 
basis, in  den  Häfen  können  die  Schiffe  Sdiutz  finden,  Reparaturen 
lassen  sich  ausführen,  die  Ausrüstung  kann  ergänzt  werden,  sie 
können  wichtige  Nachrichten  aus  der  ficimat  empfangen. 

Die  ideelle  .'\ufgabc  der  Kulturnationen  suchen  neben  den 
Kolonisten  die  Missionare  auszuführen,  indem  sie  die  Erziehung  der 
Naturvölker  zur  Arbeit,  die  Hebung  ihres  materiellen  und  geistigen 
Wohles,  die  Ausbreitung  der  Segnungen  unserer  Kultur  auf  die 
tieferstchenden  Menschenrassen  anstreben.  Die  Stoffauswahl  hat 
demnach  auf  die  Erzeugung  des  \'erständnisses  für  die  Kolonial- 
bestrebungen Rücksicht  zu  nehmen,  dadurch  wird  der  wirtschaft- 
liche WoMstand  des  Volkes  gefördert 

Schon  aus  der  Fülle  des  geographischen  Stoffes  ergibt  sich 
notwendig,  dass  sich  der  Unterricht  nicht  mit  derselben  Gleich- 
mässigkeit  über  die  ganze  Erde  erstrecken  kann.  En7;yklopädische 
Vollständigkeit  ist  ganz  wertlos,  da  die  Aneignung  und  Darbietung 
des  Stoffes  in  formal*bildender  Weise  zu  erfolgen  hat,  durch  an* 
schauliche  Betrachtung  und  Beobachtung,  auf  heuristischem  Wege 
sollen  die  Kenntnisse  erarbeitet  werden.  Der  gec^aphische  Unter- 
richt der  Volksschule  muss  das  Vaterland  als  geographischen  Haupt- 
stofl  aufstellen.  Der  Schüler  soll  Mitträger  der  nationalen  Aufgaben 
seines  Volkes  werden,  er  soll  sein  Vaterland  lieben,  seinem  Vater- 
lande soUen  seine  Sympathien  gehören.  Erst  dann  folgt  die  Be- 
handlung der  Lander,  die  für  Deutschland  eine  besondere  Bedeutung 
haben,  von  Europa  und  den  übrigen  Erdteilen  werden  nur  solche 
Stoffe  betrachtet,  die  in  historischer,  politischer,  wirtschaftlicher  oder 
kommerzieller  Beziehung  zu  un.screm  Vatcrlande  stehen.  Bisweilen 
wird  das  allgemeine  Interesse  auf  einen  bestimmten  Punkt  der  Erde 


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gelenkt,  ein  Krieg,  ein  Naturereignis  kann  uns  zur  Besprechunfj  eines 
fernen  Landes  veranlassen.  Alle  anderen  Stoffe  brauchen  nicht  be- 
handelt zu  werden.  Mit  dem  Prinzip  der  stofflichen  Vollständigkeit 
müssen  wir  brechen,  wenn  uns  an  einer  anschaufidien  Darbietung, 
an  rechter  Vertiefung  und  an  selbsttätiger  Aneignung  des  Lehr- 
stoffes gelegen  ist.  Der  Lehrplan  der  Geographie  leidet  noch  unter 
der  Last  des  „didaktif^chen  Materialismus",  er  erstreckt  sich  noch 
mit  ziemlicher  Gleichmässigkeit  über  den  ganzen  Erdball.  Besser 
ist  es,  wenn  wir  charakteristische  und  für  alle  Zeiten  bedeutungs- 
volle Stoffe  auswählen,  die  fluchtige  Betrachtung  einer  Unmenge 
von  Landschaften  ist  nur  gceic^net,  das  im  Kinde  vorhandene 
Interesse  für  die  Erdkunde  abzustumpfen.  Wir  können  auch  hier 
eine  kursorische  und  statarische  Behandlung  recht  gut  zur  An- 
wendui^  bringen,  im  übrigen  bleiben  auch  unbehandelte  Gebiete 
durchaus  nicht  fiir  das  Verständnis  unerschlossen,  ferner  gilt  es  oft 
genug  nur,  das  Gelernte  auf  eine  neue  Landschaft  anasuwenden. 

In  der  mathematischen  Geographie  will  Pickel  nur  solche 
Fragen  behandelt  wissen: 

„I.  welche  auch  dem  c^emeinen  Bewusstsein  naheliegen,  d.  h. 
die  auch  innerhalb  der  Formen  des  gewöhnlichen  Daseins 
zu  immer  wiederkehrender  Betrachtung  Anlass  geben; 

2.  für  deren  Beantwortung  ein  inneres  Bedürfnis  im  Schüler 
vorhanden  ist  oder  doch  leicht  geweckt  werden  kann; 

3.  die  bei  ihrer  T  rkiin^r  mindestens  eine  teilweise  tatige  Mit- 
arbeit des  Scliülers  zulassen." 

Diese  Gesichtspunkte  für  den  Unterricht  in  der  mathematischen 
Geographie  sind  ganz  berechtigt;  was  mit  dem  Leben  der  Schüler 
'  in  keiner  Beziehung  steht,  das  muss  ausgeschieden  werden. 

Es  leuchtet  ein,  dass  nicht  alle  Schulen  denselben  Stoff  bc' 
handeln  können,  die  einklassige  Schule  mit  nur  einer  wöchentlichen 
Geographiestunde  muss  notwendig  eine  geringere  Stoffmenge  auf 
den  Plan  setzen  als  die  mehrklassige  mit  zwei  wöchentlichen 
Stunden.  Ist  die  Mittelabtcilung  gar  mit  der  Oberabteilung  im 
Greograplueunterricht  vereinigt,  so  wird  der  Unterricht  durch  diesen 
Umstand  auch  noch  ungünstig  becinflusst.  Am  besten  ist  die 
mehrfach  gegliederte  Schule  daran,  die  gerade  soviel  Klassen  besitzt 
als  Jahrgänge,  also  die  achtklassige  Schule.  Wie  in  der  Natur  und 
im  Menschenleben  die  reichere  Gliederung  der  Organe  eine  voll- 
kommenere Erreichung  der  Lebenszwecke  darstellt,  so  muss  auch 
in  einem  reichgegliederten  Schulsystem  das  Unterrichtsziel  voll- 
kommener erreicht  werden.  In  der  achtklassigen  Schule  wird  mit 
dem  3.  Schuljahr,  nachdem  der  Anschauungsunterricht  der  ersten 
Jahre  auf  die  Interessen  des  späteren  geographischen  Unterrichts 
ausföhrlich  Rücksicht  nehmen  konnte,  die  Heimatskunde  mit 
wöchentlich  zwei  bis  drei  Stunden  selbständiges  Unterrichtsfach. 


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In  den  fünf  folgenden  Klassen  wird  nun  Geographie  erteilt,  das 
sind  jährlich  400  Stunden  Erdkunde.  Das  ist  eine  schöne  Zeit, 
aber  doch  im  (finbUck  auf  die  Menge  des  Stoffes  noch  lange  nicht 
ausreichend. 

3.  Olo  SMVertenunii  siner  achtklanigen  Schule. 

In  dem  ersten  und  zweiten  Schuljahr  tritt  ein  besonderer  Unter- 
richt in  der  Erdbeschreibung  noch  rucht  auf.  Anschauen,  Auffassen, 
Besprechen  und  Darstellen  einfacher  G^enstande  sind  die  Haupt« 
tätigkeiteUp  die  das  Kind  im  Anschauungsunterricht  ,  der  auch  die 

Interessen  des  geographischen  Unterrichts  eingehend  wahrnimmt, 
auszuführen  hat.  Wie  sicli  der  naturkundliche  Unterricht  auf  die 
Anschauung  aulbaut,  so  auch  der  geographische;  er  muss  demnach 
mit  der  Heimatskunde  beginnen,  denn  hier  allein  können  sinnliche 
Wahrnehmungen  gemacht  werden.  An  den  Objekten  der  Heimat 
soll  der  Schüler  den  Zusammenhang  der  cjeot^rajihkchen  Fr- 
scheinungen  erkennen  lernen,  er  soll  die  Heimat  denkend  be- 
trachten. Dieser  Unterricht  sucht  aus  der  unmittelbaren  An- 
schauung die  meisten  geographischen  Grundbegriffe  zu  gewinnen, 
schon  hier  ist  es  bei  naturgemässer  Behandlung  möglich,  den 
Schüler  mit  den  Fragen  der  Wissenschaft ,  ich  meine  die  Frage 
nach  dem  Warum  der  Dinge ,  zu  fesseln.  Es  ist  nicht  zu  schwer, 
wenn  ihm  in  der  freien  Natur  die  erderschaffenden  und  erd- 
umbildenden Kräfte  gezeigt,  die  Abhängigkeit  des  Menschen  von 
seiner  Umgebung  und  seine  umgestaltende  Tätigkeit  auf  die  heimat- 
lichen Fluren  klargelegt  werden.  Im  übrigen  Verlauf  ist  oft  weiter 
nichts  7.U  tun,  als  die  heimatlichen  Vorstellungen  und  die  heimat- 
lichen Gesetze  auf  fremde  Gegenden  anzuwenden;  je  mehr  Stoff 
durch  unmittelbare  Anschauung  dargeboten  und  angeeignet  wird, 
desto  fruchtbririL; ender  ist  der  spätere  Unterricht  und  desto  leichter  ' 
wickelt  sich  der  Denkvorgang  dann  ab.  Die  Unterrichtsausgänge 
berücksichtigen  auch  die  naturgeschichtlichen  Tatsachen  der  Heimat, 
so  dass  sich  aus  dem  Anschauungsunterricht  der  ersten  Schuljahre 
die  übrigen  Zweige  der  realistischen  Fächer  ei^eben. 

Ansdiauungsuntenicht 
Heimatskunde.  Naturkunde. 

Geographie.  Geschichte. 

Die  unmittelbare  Anschauung  führt  das  dritte  Schuljahr  weiter, 
indem  das  kleine  Stück  Erde,  die  Heimat  als  die  wichtigste  Quelle 
der  Erkenntnis  vorgeführt  wird.  Schulzimaier.  Schulhaus,  Heimatort 
und  Umgebung  werden  betrachtet,  soweit  urunittclbare  Anschauung 
möglich  ist  Soll  auf  den  Hauptkursus  in  rechter  Weise  vorbereitet 
werden,  so  sind  alle  Zweige  der  Geographie,  daneber.  auch  noch 
die  Geschichte  der  Heimat  zu  berüc&icntigen.  Auch  die  Natui^ 


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kuade  ist  noch  ein  Stuck  Heimatskundc,  werden  doch  die  heimischen 
Tiere  und  Pflanzen  behandelt,  und  die  Wanderungen  bilden  die 
Grundlage  und  schaffen  das  naturlcundliclie  BcobaätongsRiaterial 
herbei,  das  nadi  besonderen  G^tchtspunkten  in  eigenen  Stunden 
verarbeitet  wird.  Die  astronomischen  Beobachtungen  werden  er- 
weitert, der  Horizont  und  die  scheinbare  Gestalt  des  Himmels,  die 
scheinbare  Bew^ung  der  Sonne  und  des  Mondes,  die  Himmels- 
gegenden zur  Bestimmung  der  Lage  werden  besprochen.  Von  den 
eingeschlagenen  Wegen,  den  Beiden,  den  Tätern  und  Bächen  werden 
auf  Grund  von  Messunj^en  und  Schätzungen  Faustzeichnungen  an- 
gefertigt, die  einzelnen  Skizzen  werden  am  Ende  des  Schuljahrs  zu 
einer  Karte  der  Umgebung  des  Heimatortes  vereinigL  Berge  und 
Taler  werden  auch  in  Sand  nachgeformt,  Durchschnitte  angefertigt» 
Terraindarstellungen  geübt,  das  Kind  baut  nach  und  nach  seine 
Karte  auf  und  erarbeitet  sich  das  nötige  Karten  Verständnis.  All- 
gemeine erdkundliche  Gesetze  und  erdkundliche  Sätze  werden  durch 
die  Beobachtung  des  Bodens,  des  Wassers,  der  Pflanzen,  der  Tiere 
und  der  Menschen  gewonnen;  durch  die  geregelten  und  umfassenden 
meteorologischen  Beobachtungen  werden  die  Verhältnisse  des  heimat- 
lichen Klimas  gefunflen.  Auf  dem  Wege  sinnlicher  Anschauung 
werden  an  der  Umgebung  des  Ortes  die  GrundbegrifTe  wie  Berg, 
Tal,  Bergkette,  Kamm,  Gipfel,  Abhang,  Fuss,  Hohlweg,  Quelle, 
Flussbett,  Ufer,  GefiUle,  Lauf,  Graben  als  Kanal,  Teich,  See,  Neben« 
fiusßf  Mündung,  Insel,  Halbinsel,  Vegetationsform,  Siedelung,  Grenzen 
gewonnen,  damit  der  spätere  Unterricht  auf  dieser  Grundlage  erfolg- 
reich weiterbauen  kann  und  nicht  Gefahr  läuft,  bloss  mit  Worten 
zu  arbeiten.  Grundbegriffe,  zu  denen  die  Heimat  keine  Anschauung 
bietet,  dürfen  hier  nicht  behanddt  werden,  sondern  sie  werden  auf 
spatere  Zeiten  zurückgestellt  Die  geschichtlichen  Elemente,  wie 
Sagen  der  Landschaft,  Ortssagen,  geschichtliche  Begebenheiten 
werden  ebenfalls  angeschlossen.  Sollen  die  Kinder  ihre  Heimat 
lieben,  so  müssen  sie  dieselbe  zunächst  kennen  lernen.  In  den 
meisten  Schulen  wird  dieses  Fach  noch  zu  wenig  bewertet,  und 
vides  ist  dem  Zufall  und  der  Willkür  des  Lehrers  überlassen;  ein 
weiterer  Hauptmangel  ist,  dass  der  Lehrer  sich  zu  oft  mit  dem 
blossen  Worte  begnügt,  die  Ausflüge  finden  nicht  statt,  am  genauen 
Beobachten  mangelt  es,  und  oft  wird  ein  über  die  Fassungskraft 
der  Schüler  hinausgehender  Steif  behandelt  Zur  Hebung  des  Unter- 
richts  in  der  Hdmatskunde  ist  notig: 

1.  Die  Lehrer  haben  an  jedem  Orte  das  zu  verarbeitende 
Material  zusammenzustellen.  Das  Material  bleibt  Eigentum 
der  Schule. 

2.  Aus  dem  Material  ist  sorgfältig  das  fär  den  Unterricht 
Nötige  auszuwählen  und  auf  die  passende  Zdt  zu  verteilen. 

5.  Beim  Lelurverfahren  ist  immer  von  der  Anschauung  aus- 
zugehen. 


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—  — 


4-  Es  werden  so  oft  als  möglich  Wanderungen  vorgenommen, 

und  der  Unterricht  wird  oft  in  das  Freie  verlegt 
5.  Die  Dinge  werden  nicht  bloss  aufgezählt,  sondern  die 

Schüler  werden  zur  Erkenntnis  des  ursächlichen  Zusammen- 
hangs geführt,  soweit  dies  die  Fassungskraft  der  Schüler 
ermöglicht. 

6*  Die  Selbsttätigkeit  muss  angeregt  werden. 

7.  Genügende  Zeit  ist  zu  verwenden. 

8.  Die  nötigen  Lehrmittel  sind  zu  bescliaffen  als 

a)  Grundriss  des  SchuUimme«, 

b)  des  Schulhauses, 

c)  Plan  vom  SchuUiaus  und  dessen  Umgebung, 

d)  Plan  vom  Wohnort  und  dessen  nächster  Umgebung, 

e)  ReUef  der  Heimat, 

f)  Karte  der  Heimat, 

g)  Bilder  der  Heimat. 

„Ein  geographischer  Unterricht,  der  nicht  in  den  Ergebnissen 
einer  ausfwirlichen  Heimatskunde  seine  Hilfe  suchen  kann,  spielt 
auf  einem  Instrumente,  dem  die  Saiten  fehlen."  Stoy.  „Der  Unter- 
richt in  der  Heimatskunde  soll  sich  wie  ein  roter  Faden  durch  die 
ganze  Schulzeit  hindurchziehen." 

Dem  vierten  Schuljahr  weise  ich  als  einiieitlichen  Stoll'  die 
heimatliche  Provinz,  das  engere  V  aterland,  demnach  unseren  Schulen 
das  Thüringcrland  zu.  Bei  der  Betrachtung  wird  nicht  vor  der 
Landesgrenze  Halt  gemacht,  sondern  der  StofT  ist  nach  natürlichen 
Landschaften  zu  ordnen  und  durchzuarbeiten.  Thüringen  würde  ich 
nach  folpi^enden  natürlichen  Landschaften  behandeln: 

1.  Thüringer  Wald  und  Frankenwald. 

2.  Das  südwestliche  Vorland  des  Thüringer  Waldes. 

3.  Das  nördliche  Vorland  des  Thüringer  Waldes. 

4.  Die  Saale-  und  Elsterplatte. 
Das  Gebiet  der  Pleissc. 

Ls  wird  stets  mit  der  Landschaft  begonnen,  der  die  Heimat 
angehört  j  wir  beginnen  mit  dem  ihüringer  Wald.  Diese  natür- 
lichen Landschaften  wotlen  wieder  in  einzelnen  methodischen  Ein- 
heiten durchgearbeitet,  den  Schluss  bildet  eine  politische  Übersicht 
Thüringens.  Ich  ver\\'eise  auf  Pritsche,  Präparationen  zur  Landeskunde 
von  Thürinj^en.    Verlag  von  Oskar  Rondc  in  .AltenburjT.    Preis  2  M. 

In  der  Naturgeschichte  werden  aus  dem  Pflanzen-  und  Tierreich 
die  wichtigsten  Vertreter  der  heimatlichen  Lebensgemeinschaften 
durchgesprochen,  in  der  Geschichte  werden  die  Thüringer  Sagen 
behandelt  Die  meteorologischen  und  astronomischen  Beobachtungen 
erstrecken  sich  über  den  Verlauf  des  ganzen  Schuljahres. 

Das  fünfte  Schuljahr  behandeh  Deutschhmd  nach  natürlichen 
Landschaften,  Festes  und  Flüssiges  geben  meistens  die  Richtung 


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—   273  — 


bei  der  Gliederung  an.  Diese  natfirtichen  Landschaften  bilden  ein 

organisches  Ganze,  in  dem  die  einzelnen  Glieder  in  einem  ursäch- 
lichen Zusammenhang  stehen,  sie  heben  sich  deutUch  von  der  Um* 
gebung  ab. 

1.  Die  oberdeutsche  Hochebene  =  das  deutsche  Donaugebiet. 

2.  Das  schwäbisch-fränkische  Stufenland  =  Main-  und  Neckar- 
land. 

3.  Die  oberrheinische  Tiefebene        Mittellauf  des  Rheins, 

erster  Teil. 

4.  Das  lothringische  Stufenland  und  seine  Umwallung  =  Mosel- 
und  Maasgebiet 

5.  Das  rhembehe  Sehiefergebirge  ^  Mittellauf  des  Rheins, 
zweiter  Teil. 

6.  Das  hessische  und  Weser-Bergland  =s  Fulda  und  Weser. 

7.  Thüringen  und  Harz  =  Saale. 

8.  Schlesisch-sächsisches  Gebirgsland  =  Eibe  und  Oder. 

9.  Das  ost-  und  westdbische  Tiefland  =  der  Unterlauf  der 
deutschen  Hauptströme. 

10.  Die  deutschen  Meere. 

Dem  deutschen  Vaterland  wird  die  inten^vste  Behandlung  zu* 

gewiesen,  indem  sich  die  Betrachtung  auf  ein  ^nnzcs  Jahr  erstreckt, 
in  dem  nächsten  Schuljahr  der  Stoü'  wieder  aultnit  und  im  letzten 
Schuljahr  nochmals  unter  anderen  Gesichtspunkten  durchgenommen 
werden  muss.  Da  die  Landesgrenzen  von  den  natOriidien  Land* 
Schaftsgrenzen  oft  bedeutend  abwdchen,  so  ist  es  in  cfsttr  Linie 
nötig,  dass  sich  die  Schüler  zunächst  den  Stoff  nach  der  natürlichen 
GHederung  aneignen,  erst  dann  wird  die  sondertümliche  Landes- 
aufteüung  eingeprägt.  Nicht  Jede  natürliche  Grenze  bedingt  eine 
poHtische  Grrenze,  denn  jeder  Staat  ist  bestrebt,  nach  seiner  iSgenart 
und  Macht  die  Grrenze  festzulegen.  Werden  die  politischen  Ver* 
hältnisse  durchgenommen,  so  haben  die  Schüler  das  in  klarem 
Flächenkolorit  ausgeführte  Kartenbild  Deutschlands  vor  sich,  und 
das  aus  den  einzelnen  Stücken  zusammengesetzte  Bildwerk  wird 
durch  Anschauen  gar  bald  genügend  erfasst. 

Das  Pensum  des  sechsten  Schuljahres  ist  die  Greographie  von 
Europa,  ausserdem  werden  noch  zu  Anfang  Lektionen  aus  der 
mathematischen  Geographie  gehalten,  da  die  Beobachtungen  der 

vorhergehenden  Schuljahre  zur  weiteren  Verarbeitung  anregen.  Die 
Gestalt  und  die  Grösse  der  Erde  werden  betrachtet,  die  Himmels- 
gegenden zum  Zwecke  der  Orientierung  auf  der  Kugel  festgelegt, 
die  geographische  Länge  und  foeite  entwickelt  und  die  Entstehung 
von  Tag  und  Nacht  und  von  den  Jahreszeiten  zur  klaren  Anschauung 
gebracht.  Sind  noch  die  notwendigen  Kenntnisse  über  die  klima- 
tischen Verhältnisse  auf  der  Erde  angeeignet,  so  verlassen  wir  wieder 
den  analytischen  Gang  und  wenden  den  synthetischen  weiter  an, 

Pidagogiicbe  ätudien.   XXIX.   L  18 


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—   274  — 


Wir  betrachten  Europa  in  lo  natürlichen  Landschaften,  die  sich 
meistens  mit  den  politischen  Gebieten  decken.  Sollen  jene  Be- 
lehrungen aus  der  mathematischen  Geographie,  die  auf  dieser  Stufe 
unbedingt  nötig  sind,  nicht  in  der  Luft  schweben,  so  müssen  in 
den  vorhergehenden  Schuljahren  die  erforderiichen  Beobachtungen 
am  Himmel  gemacht  werden,  auch  die  besten  Veranschaulichungs- 
mittel  können  dir  Beohachtunf^en  nicht  ersetzen.  Es  ist  empfehlens- 
wert, ja  unerlassiich,  dass  die  Kinder  die  Beobachtungen  in  ein  Heft 
gewissenhaft  und  regelmässig  eintragen.  An  die  Besprechungen  der 
natürlichen  Landschaften  schJttessen  v/ir  die  politischen  Verhältnisse 
an.  Mit  Deutschland  wird  begonnen,  dann  folgen:  Alpen,  Karpaten- 
länder, Balkanhalbinsel,  Apenninenhalbinsel,  Pyrenäenhalbinsel,  Frank> 
reich,  britische  Inselpfnippe,  Skandinav^ien,  Osteuropa. 

Das  siebente  Schuljahr  behandelt  die  aussereuropäisclien  Erd- 
teile. Ich  b^nne  mit  Nordamerika,  da  dieser  Erdteil  durch  Handel 
und  Verkehr  in  unsere  nächste  Nähe  gerüclet  ist,  auch  dem  Interesse 
des  Kindes  am  nächsten  steht.  Nachdem  bei  dem  Erdteil  Ver- 
hältnis zum  Ganzen  und  Gliederung  betrachtet  worden  sind,  richten 
wir  uns  bei  der  Ableitung  der  methodischen  Emiicitcn  nach  dem 
Aufbau  und  nach  dem  Klima.  Nordamerika  wird  in  den  kalten 
Norden,  das  westliche  Gebirgsland,  das  mittlere  Tiefland  und  in 
das  östliche  Gebirgsland  mit  dem  Tiefland  am  atlantischen  Ozr  an 
gei;'1iefK  rt.  Das  Nordamerika  der  heissen  Zone  ist  Mittelamerika 
und  W  esiindien.  Südamerika  gliedert  sich  in  drei  Landschaften: 
das  westlidie  Gebirgsland»  das  mittlere  Tiefland  und  das  östliche 
Gebirgsland.  Dann  betrachten  wir  Afrika,  das  durch  eine  Linie 
vom  Golf  von  Guinea  nach  Osten  zum  Golf  von  Aden  in  das 
niedrigere  nördliche  Viereck  Nordafrika  und  in  das  höhere  südliche 
Dreieck  Südafrika  geschieden  wird.  Der  Norden  umfasst  an  natür- 
lidien  Landschaften  die  AtJasländer,  die  Wfiste  Sahara,  die  Nilländer, 
den  Sudan,  Togo  und  Kamerun.  Südafrika  wird  zerlegt  in  Kongo- 
becken, Deutsch-Süd  Westafrika,  Britisch-Südafrika,  Ostafrika,  dann 
sind  noch  die  afrikanischen  Inseln  zu  besprechen.  Asien  wird  zerlegt 
in  Vorderasien  =  Fassateebiet,  Südasien  =  südliches  Monsungebiet, 
Ostasien  «  östliches  Monsungebiet  und  Nordasien  ^  Sibirien. 
Vorderaaen  bildet  sieben  Einheiten:  Kieinasien,  Syrien,  Arabien, 
Mesopotamien,  Armenien,  Kaukasien,  Iran;  Südasien  drei:  Vorder- 
indien, Hinterindien,  die  malayische  Inselwelt;  Ostasien  zwei:  China, 
Japan;  Nordasien  drei:  Sibirien,  Kirgisensteppe,  Turan.  Bei-Austrahen 
wären  etwa  Festland,  Inselwelt  und  der  deutsche  Besitz  in  der 
Südsee  zu  t>etrachten.  Zum  Schluss  empfiehlt  ^ch  eine  Zusammen- 
stellung der  deutschen  Besitzungen  in  Verbindung  mit  Deutschland. 

AUe  diese  angeführten  Stoffe  sollen  nicht  mit  der  gleichen 
Intensität  behandelt  werden,  sondern  ich  mochte  eine  kursorische 
und  statarische  Behandlung  unterscheiden.  Bei  dieser  Scheidung 
soll  aber  nicht  der  Einteilungsgrund  im  Belieben  des  Lehrers  liegen. 


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—   275  — 


sondern  es  soll  darauf  hingewiesen  werden,  dass  die  Landschaften 
nach  ihrer  Bedeutung  und  Ausgestaltung^  eine  verschieden  ausführ- 
liche Behandlung  beanspruchen.  Unbehandelte  Gebiete  sind  für 
den  Schüler  nicht  unerschlosscn ,  auch  in  der  Naturgeschichte 
werden  nicht  alle  Individuen  einer  Klasse  mit  gleicher  Ausführ- 
lichkeit behandelt,  und  das  muss  auch  im  geographischen  Unter- 
richt geschehen.  Wir  haben  es  hier  mit  „geographischen  Individuen" 
(Ritter)  zu  tun,  welche  die  Bedingungen  der  Existenz  in  sich  tragen; 
genaues  Betrachten  einer  Landschail  ist  die  wichtigste  btulzc  für 
das  Verständnis  anderer,  auf  die  vielleicht  erst  im  i^teren  Leben 
das  Interesse  gerichtet  Wird. 

Das  letsete  Schuljahr  hat  den  gesamten  geographischen  Stoff 
übersichtlich  zu  wiederholen  und  an  einigen  Stdlen  zu  efganzen 

oder  zu  vertiefen.    Es  werden  betrachtet: 

A.  Die  astronomischen  Verhältnisse  der  Krde^  Sonnensystem 
und  Kalender  sind  besonders  zu  behandeln. 

B.  Die  physischen  Verhältnisse  der  £rde:  Verteilung  von  Luft, 
Wasser  und  Land,  die  Luft  inbezug  auf  die  Wärme,  der 
Luftdruck,  die  Winde,  die  Niederschläge,  das  Wasser  nach 
Meeren,  Seen  und  Flüssen;  das  Laad  nach  Gliederung,  Ge> 
birgen,  Vulkanen. 

C.  Die  Produkte  der  Erde:  Mineralien,  Pflanzen,  Tiere ^  es 
kommt  besonders  die  Verbreitung  und  Bedeutung  in  Frage. 

D.  Die  Bewohner  der  Erde:  Verteilung  der  Mofflchen  auf  der 
Erde;  die  Menschenrassen:  die  Lebensformen;  die  Staats- 
formen, Sprachen  und  ReUgionen. 

L.  Die  Weltmeere  und  Erdteile  nach  ihrer  Weltstellung. 
F.  Die  wichtigsten  Verieehrs«  und  Handelswege:  Der  Binnen- 
verkehr;  der  Seeverkehr;  der  elektrische  Verkehr. 

Bei  allen  diesen  Besprechungen  wird  stets  auf  unser  deutsches 
Vaterland  Rücksicht  genommen,  die  Kolonien  kommen  nochmals 
inbezug  auf  ihren  nationalen  und  wirtschaftlichen  Wert  zur  Be- 
trachtung. Es  heissi:  Welche  Stellung  nimmt  Deutschland  im 
Weltverkehr  ein?  Welches  sind  die  wichtigsten  Verkehrsstrassen 
des  Deutschen  Reidies?  Welchen  Antdl  hat  es  an  der  Eisen>  und 
Kohlenproduktion?  ^^eviel  Eisenbahnen  kommen  in  Deutschland 
auf  I  qkm?  Ich  bemerke  hier,  dass  die  Vergleiche  richtig  an- 
gestellt werden  müssen,  damit  nicht  falsche  Vorstellungen  gebildet 
werden.  Eisenbahnlinien  dürfen  nicht  auf  die  Einwohnerzahl  ver- 
rechnet werden,  wie  wir  es  an  einigen  SteUen  in  dem  Lehfbuch 
von  Scydlitz  finden.  Auf  loooo  Einwohner  haben  die  Vereini{^en 
Staaten  42,6  km  Eisenbahn,  Belgien  nur  8,8  km,  und  doch  hat 
Bol^ncn  das  engmaschigste  Eisenbahnnetz  von  allen  I^^dcrn  der 
Erde,  nämlich  2108  km  auf  io<XX>  qkm,  die  Union  nur  334  km  auf 
dieselbe  Fläche.  Dieses  soll  ein  Beispiel  sein,  wie  ein  Vergleich 

18» 


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—     2/6  — 


bei  falschen  Veri^leichsgrössen  sich  gestaltet   Festes  ist  mit  dem 

Festen,  Beweglichem  mit  dem  Bewei^lichen  zu  vei^eichen;  also 
Eisenbahnen  nur  mit  der  Grrösse  des  Landes. 


4.  Di«  Behandlung  der  Heimai 

Mm  eine  Pflanze  kennen  zu  lernen,  betrachten  wir  sie  mit  Auf- 
merksamkeit, wir  merken  uns  ihre  (iestalt,  untersuchen  iiire  Teile 
und  Eagensdiaiten,  beachten  Farbe,  Genich,  Beschaffenheit  der 
Blumenkrone  und  der  Blatter,  wir  untersuchen  Standort,  Lebens- 
bedürfnisse und  Umgebung,  dadurch  erhalten  wir  ein  klares  Bild 
von  der  Pflanze.  Dieses  aufmerksame,  eingehende,  genaue  Be- 
trachten eines  Gegenstandes  nennen  wir  Anschauen,  und  das  Er- 
gebnis des  Anschauens  ist  das  klare,  deutliche  geistige  Bild  des 
sinnUch  wahrnehmbaren  Gegenstandes  oder  die  Anschauui^.  Auf 
die  Anschauung  bauen  sich  die  Vorstellungen  und  Begriffe  und 
damit  unsere  gesamten  Kenntnisse  auf.  Die  Schüler  sollen  die 
Heimat  kennen  lernen,  es  ist  also  unbedingt  nötig,  dass  sie  die 
heimatlichen  Objekte  durch  wirkliche  Anschauung  in  ihren  Geist 
aufnehmen.  Wir  wissen,  dass  die  Kinder  von  den  Dingen,  die  sie 
wohl  schon  hundertmal  gesehen  haben,  sehr  wenig  anzugeben  ver* 
mögen,  sie  haben  wohl  Grösse,  Fnrbc,  Umriss  und  Teile  von  dem 
Gegenstande  durch  einzelne  Siniiescindrücke  wahrgenomnioii ,  sie 
kennen  die  Acker  und  Wiesen,  die  Hecken  und  Baume,  die 
Wälder  und  Fluren,  jedoch  besitzen  sie  kein  in  allen  Teilen  deutEch 
unterschiedenes  Gresamtbild.  Für  die  Ergänzung  und  Vennehrung, 
für  die  Berichtigung  und  Bcfestiirnng  der  Anschauvm j^en  soll  gesorgt 
werden,  deshalb  müssen  wir  mit  den  Schülern  die  Dinge  und  Vor- 
gänge in  der  Natur,  die  Pflanzen  und  Tiere,  die  Berge  und  Täler, 
die  Abhänge  und  Tiefen,  die  Bäche  und  Flfisse,  die  Seen  und  Teiche^ 
die  Dörfer  und  Städte,  die  Burgen  und  Ruinen,  den  Aufgang  und 
Untergang  der  Sonne  zu  den  verschiedenen  Jahreszeiten  beobachten. 
Vieles  lässt  sich  schon  vom  Schulhaus  und  Schulplatz  aus  be- 
schauen, manche  Aufgabe  kann  durch  selbständiges  Beobachten 
gelöst  werden,  jedoch  die  beste  Ansdiauung  kann  nur  durch  regel- 
mässige ,  nach  einem  bestimmten  Plane  festgelegte  Wanderungen 
in  die  Umgebung  des  Schulortes  vermittelt  werden.  Diese  Wande- 
rungen, welche  im  Frühling,  Sommer  und  Herbst  bei  schönem 
Wetter  vorgenommen  werden,  sind  unter  allen  Umständen  auch 
durchzuführen,  wenn  nicht  das  Kind  die  ganze  Schulzeit  hindurch 
mit  Worten  arbeiten  soll,  denen  die  Anschauungen  fehlen.  Alle 
Ausgänge  sind  so  vorzubereiten,  dass  die  Schüler  bereits  wissen, 
um  was  es  sich  eigentlich  handelt ,  was  sie  beobachten ,  was  sie 
kennen  lernen  sollen,  was  durch  den  Ausgang  herbeigeschafft  werden 
soIL   Es  muss  gestattet  sein,  getrennt  liegende  Stunden  zusanunen- 


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—   277  — 


zulegen,  Stunden  vom  Vormittag  auf  den  Nachmittag  zu  verlegen. 
Drei  Stunden  Heimatskundc  wöchentlich  sind  unbedingt  nötig,  die 
mehr  aufgewendete  Zeit  kann  an  anderer  Stelle  wieder  gespart 
werden.    Dass  mancher  Schulinspektor  auf  diese  Wanderungen 

nicht  gut  zu  sprechen  ist,  kann  nicht  wundernehmen,  wenn  man 
sieht,  wie  oft  diese  Ausgänge  in  Bummeleien  und  Spaziergänge 
ausarten.  Es  soll  auf  dem  Ausflug  etwas  gelernt  werden,  deshalb 
muss  er  in  bestimmter  Ordnung  erfolgen.  Der  Lehrer  hat  sich 
gründlich  vorzubereiten,  er  muss  vorher  selbst  die  Wanderung 
unternehmen  und  sich  zu  Anfang  einen  festen  Plan  für  den  Weg, 
für  die  Uulieounktc,  für  die  anzustellenden  Beobachtungen,  für  die 
Massbestimmungen,  für  die  weitere  unterrichtliche  Behandlung  fest- 
legen. 

Die  Haltepunkte  der  Ausgange  sind  möglichst  an  solche  Stellen 

zu  legen ,  wo  wenig  Störungen  durch  den  Verkehr  eintreten ,  da 
wird  gemeinsam  angeschaut,  ausgesprochen,  bestimmt  und  berichtet, 
was  klargelegt  werden  soll  Tritt  ungünstiges  Wetter  ein,  oder  ist 
der  Stoff  eines  bestimmten  Gebietes  durchgesprochen,  so  wird  in 
der  Klasse  Über  das  Beobachtete  in  derselben  Reihenfolge  berichtet, 
in  der  es  drausscn  erlebt  wurde.  Die  bereits  auf  dem  Ausgange 
in  Sand  ausgeführten  Zeichnungen  werden  an  die  Tafel  nach  einem 
bestimmten  Massstabe  gezeichnet  Jede  einzelne  Wanderung  wird 
in  Teilstrecken  zerlegt,  die  nach  Länge  und  Richtung  bestinmit 
werden.  Die  Lange  wird  durch  tatsächliches  Abschreiten  und  durch 
Umrechnung  der  Schrittzahl  in  Meter  gefunden,  manche  Entfernungen 
werden  auch  nur  ab'^^esrhätzt ,  die  Kilometersteine  werden  zur  Er- 
mittelung der  We'^^cst; ecken  nicht  unbeachtet  gelassen.  Oft  genug 
wird  die  Notwendigkeit  eintreten,  dass  der  Lehrer  die  Masse  gibt, 
auf  jeden  Fall  aber  müssen  die  Schüler  die  Richtung  bestimmen, 
von  dieser  Arbeit  können  sie  niemals  befreit  werden. 

So  arm  ist  keine  Gegend ,  dass  sie  der  .'\nschauung  und  Be- 
obachtung des  Kindes  gar  nichts  darbietet,  suchen  wir  nur  recht 
mit  den  Schülern  unsere  Heimat  zu  erforschen,  und  wir  werden 
erstaunt  stan  über  die  Fülle  von  Ansdiauungen,  die  sie  uns  för  den 
weiteren  Unterricht  liefert  Dass  die  Wanderungen  noch  nicht 
überall  durchgeführt  v.  erden,  führe  ich  auf  die  häufig  noch  herrschende 
völlige  Unklarheit  über  den  Begriff  Heimatskundc  zurück.  Man 
versteht  unter  Heimatskunde  die  Betrachtung  des  ganzen  Heimat- 
landes oder  der  Heimatprovinz,  der  Unterridit»  der  diese  Gebiete 
betrachtet,  ist  bereits  Länderkunde.  Die  Heimat  kann  das  Kind 
durchwandern  und  unmittelbar  anschauen;  hört  die  unmittelbare 
Anschauung  auf,  so  treiben  wir  Länderkunde,  nnd  es  ist  dann  iür 
die  methodische  Beliandiung  ziemlich  gleichgültig,  ob  der  Ort  lO 
oder  TOO  km  von  der  Heimat  entfernt  liegt.  Im  Interesse  des 
weiteren  erfolgreichen  Unterrichts  ist  es  unbedingt  nötig,  dass  die 
Wanderungen  nicht  nur  im  2,-^4.  Schuljahr  unternommen  werden. 


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—   278  — 


sondern  sie  sollen  sich  über  die  Dauer  der  ganzen  Schulzeit  er- 
strecken, so  oft  sich  die  Notwendigkeit  zur  gründlichen  Anschauung 
bietet,  so  oft  die  Heimat  die  Begriffe  zum  Vergleiche  mit  einer 
fremden  Landschaft  darlegt,  wird  gewandert. 

Fruchtbringender  sind  freilich  die  Reisen ,  da  dur-^h  sie  die 
Schüler  ein  weiteres  Gebiet  mit  anderen  Lebensverhältnissen ,  mit 
anderer  Bevölkerung  und  init  anderen  klimatischen  Verhältniiisen 
kennen  lernen.  Aber  je  wdter  die  Reisen  ausgedehnt  werden  sollen, 
desto  mehr  häufen  sich  die  Schwierigkeiten,  die  sich  den  Aus- 
führungen entgegenstellen  und  von  den  meisten  Schulen  nicht 
überwunden  werden  können.  Viele  Schubai'?f (i^^c,  die  im  Frühjahre 
jedes  Schuljahres  fast  allgemein  unternommen  werden,  sind  in  der 
Tat  nur  mit  Mühe  und  Kosten  verknüpft,  aber  «geographische  An- 
schauungen  werden  wenig  oder  meistens  gar  nicht  gesammelt.  Auf 
einem  Aussichtspunkte  anfjekommen,  ist  es  Pflicht  des  Lehrers,  das 
vor  den  Augen  sich  ausdehnende  lachende  Landschaftsbild  seinen 
Schülern  in  allen  Einzelheiten  klarzulegen;  was  sehen  wir,  ist  wohl 
die  erste  Frage,  dann  werden  mit  der  Heimat  Vergleiche  angestellt, 
oft  bietet  sich  Gelegenheit,  den  ursächlichen  Zusammenhang  auf- 
zudecken. Von  dem  Lehrer  der  Geographie  verlangen  wir  ein 
offenes  Auge  für  die  Natur,  er  muss  sich  in  der  Welt  umsehen,  er 
muss  aus  seinem  Inneren  herausschöpfen  können,  wenn  er  durch 
seinen  Unterricht  Leben  erwecken  wilL 

In  der  Heimatskunde  müssen  wir  auch  bereits  den  Blick  des 
Kindes  auf  den  kausalen  Zusammenhang  der  geographischen  Elemente 
richten,  wenn  es  später  überhaupt  die  Zusammenhänge  der  geo- 
graphischen Objekte  lernen  soll.  Der  heimatkundliche  Unterricht 
kann  insofern  mit  grossem  Vorteil  an  der  Lösung  dieser  Au%abe 
arbeiten,  als  hier  die  Schüler  aus  der  unmittelbaren  Naturanschauung 
schliessen  können.  Wie  leicht  lässt  sich  in  der  Heimat  das  Feste 
und  Flüssige  in  der  stetigen  Wechselwirkung  und  in  dem  Zusammen- 
hang mit  den  atmosphärischen  Erscheinungen  beobachten.  Hier 
kann  der  Schüler  lernen,  wie  sich  an  der  einen  Stelle  das  Land 
neu  bildet,  wie  es  an  anderen  Orten  verschwindet,  hier  lonn  er 
einen  Einblick  in  die  elementaren  Naturvorgänge  gewinnen,  wie  ^e 
sich  täglich  vor  seinen  Augen  abspielen.  Die  kleinen  Regenrinn sp.le 
an  den  heimatlichen  Bergen  sind  die  Gewalten,  W'clche  das  Antlti/. 
der  Heimat  umgestalten,  der  Bach  arbeitet  an  seinen  Ufern  und 
nimmt  Teile  hinweg,  baut  an  anderen  Stellen  den  Schwemmboden 
auf  und  verändert  die  Bodengestaltung.  Die  Staubwolken,  welche 
an  heissen  Sommertagen  von  einem  Wirbelwinde  plötzlich  in  die 
Höhe  geführt  werden,  richten  unsem  Blick  auf  die  Ablation  des 
Windes.  Die  Schüler  lernen  verstehen,  wie  die  durch  eine  Vege- 
tationsdecke geschützte  Landschaft  der  Arbeit  des  Windes  weniger 
ausgesetzt  ist,  wie  aber  die  Wüste  das  eigentliche  Reich  des  Windes 
sein  muss;  sie  verstehen  dann  die  Schilderungen  von  den  Staub» 


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und  Sandstürmen  in  den  Wüsten  und  Steppen,  welche  die  Sonne 
verfinstern  und  in  manchen  G^enden  Innera^ens  noch  bei  Wind- 
stille den  Sonnenstrahlen  den  Durchgang  verwehren,  sie  können  sich 
auch  eine  Vorstellung  von  der  Entstehung  der  äolischen  Sand- 
ablagenin^en  bilden.  Bei  dem  eintretenden  Tauwetter  wird  t^elernt, 
wie  aui  der  Südseite  der  Häuser  und  Berge  der  Schnee  zuerst 
verschwindet,  die  Strahlung  hier  am  kräftigsten  bt,  folglich  auf 
dieser  Seite  die  Früchte  zuerst  reifen  müssen;  nun  ist  das  Ver- 
ständnis dafür  geweckt,  dass  auf  der  Südseite  der  Gebirge  andere 
klimatische,  biolo^^ische  und  anthropologische  Verhältnisse  herrschen 
müssen  als  auf  der  Nordseite.  Das  kleine  Kömchen,  das  sich  oben 
auf  dem  Firste  des  Daches  ablöst  und  als  grosser  Ballen  klatschend 
auf  die  Strasse  fallt,  erklärt  uns  die  Ursache  und  Wiricung  der 
Lawinenstürze  in  den  Hochgcbir{:;;en.  In  der  Heimat  können  w"r  mit 
den  Schülern  die  Tätigkeit  des  die  Spalten  durchsetzenden  und 
die  Gesteinsmassen  sprengenden  Wassers  beobachten.  Wir  selten, 
wie  es  durch  Risse  und  Spähen  seinen  Weg  in  das  Gestein  findet, 
wie  es  sich  infolge  von  Temperaturschwankungen  ausdehnt  und  zu- 
sammenzieht, wie  Risse  und  Sprünge  das  Resultat  sind.  So  schreitet 
die  mechanische  Auflösung  vorwärts,  ein  Blick  in  die  Verwitterungs- 
vorgänge ist  getan.  Das  Kind  versteht,  wie  Kaikstcm  und  Dolomite, 
Anhydrit  und  Gips,  Salz  und  andere  Bifineralien  durch  kohlensäure- 
haltiges Wasser  aufgelöst  und  fortgeführt  werden,  es  lernt  die  Ent- 
stehung der  Höhlen  und  Erdfölle  verstehen.  Die  vulkanischen 
Gesteine  geben  uns  Anlass,  von  dem  Vulkanismus  der  Erde,  die 
Versteinerungen  von  der  vorweltlichen  iVleeresbedeckung  der  Heimat 
zu  reden.  Wie  der  Knabe  schon  frühzeitig  seinen  Blick  auf  die 
Schmetterlinge,  Käfer  und  Blumen  richtet,  so  g^It  es  nun  auf  den 
Ausfliigen,  ihn  anzuleiten,  seinen  Sinn  auf  die  gesetzmässige  Ver- 
breitung zu  lenken.  Er  lernt  -y^r  bald ,  dass  von  dem  Boden  die 
Bedeckung  abhängig  ist,  dass  auf  der  Wiese  andere  Pflanzen  als 
im  Walde  wachsen,  im  tiefen  Waldschatten  andere  Lebewesen  als 
auf  der  sonnigen  Halde  zu  finden  sind.  Über  alles  sieht  er  die  das 
Antlitz  der  Erde  verändernde  Macht  des  Herrn  der  Schöpfung.  Er 
erkennt  den  Einfluss  des  Menschen,  wenn  er  die  heimatlichen  Fluren 
durchwandert.  Die  Acker  und  Gärten,  die  Ortschaften  und  Gehöfte, 
die  Strassen  und  Eisenbahnen  erzählen  dem  Schüler  von  der 
mensdilichen  Arbeit,  durch  welche  die  früheren  Urwalder  aus- 
gerodet, die  sumpfigen  Niederungen  getrocknet  und  in  fruchtbaren 
Ackerboden  verwandelt  worden  sind  Indem  wir  auf  die  Re- 
schäftigfun^  der  Rp\'n1kerung  hinweisen,  dass  hier  BeiL^Hcute,  da 
Ackerbauer,  dort  iiaadwerker  und  Fabrikarbeiter  leben.  Iragen  wir 
sogleich,  warum  entwickelten  sich  diese  Erwerbszweige  gerade  an 
diesen  Orten.  Die  Verkehrsstrassen  sin  1  \on  der  BodenbeschafTen^ 
heit  abhängig,  die  Ortschaften  entwickeln  sich  nn  den  Hauptstrassen, 
in  den  fruchtbaren  Tälern  häufen  sich  die  Siedelungen;  für  jede 


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—    28o  — 


Ansiedelung;  muss  die  Natur  den  erforderlichen  Raum  bieten.  Für 
alle  diese  Tatsadicn  ist  das  Verständnis  zu  v,  ecken,  die  Schüler 
sollen  die  Herrschaft  des  Menschen  über  die  Erde,  zugleich  aber 
auch  die  Abhängic^keit  von  derselben  verstehen  lernen. 

Die  geographischen  Gebilde  der  Heimat  werden  nicht  nur  auf- 
gezählt, sondern  der  Lehrer  muss  sich  bemühen,  es  dahin  zu  bringen^ 
dass  die  Wechselbeziehungen  soviel  wie  möglich  erkannt  wer&n. 
Warum  bildet  der  Fluss  hier  ein  Knie  ?  Warum  ist  er  im  Sommer 
so  flach'  Welche  Ursachen  bedingen  sein  Anschwellen  im  Frühiahr? 
Solche  Fragen  heben  den  Kausadzusammenhang  der  heimatlichen 
Objekte  hervor.  Es  werden  auch  allgemeine  Sätze  und  Gesetze 
abgeleitet  wie:  Bei  uns  weht  der  Wind  meistens  aus  Westen;  der 
Ostwind  ist  trocken;  je  steiler  der  Boden,  desto  schneller  fliesst 
das  Wasser;  die  Nebentäler  liegen  höher  als  die  Haupttäler.  Werden 
solche  Fragen  gestellt  und  beantwortet,  so  fasst  die  vergleichende 
Erdkunde  schon  hier  feste  Wurzeln. 

Die  Heimatskunde  hat  weiter  die  Aufgabe,  die  geographischen 
Gnmdbe^flTe  zu  gewinnen  und  dem  späteren  Unterricht  die  Muster- 
bilder zu  verschatien.  Die  zahlreichen  wichtigen  Grundbegritfe  der 
physikalischen  Geographie  lernt  der  Schüler  während  der  Wande- 
rangen durch  Anschauung  der  Heimat.  An  Bergen  werden  auf  der 
Exkursion  durch  gründliche  Anschauung,  sorgfaltige  Beobachtung 
und  gewissenhafte  Erklärung  die  Begriffe  Gipfel,  Kamm,  Abhang, 
Fuss,  Tal  gewonnen,  am  Bache  lernt  der  Knabe  Richtung  des 
Laufes,  Bett,  Ufer,  Quelle  und  Mündung  kennen,  er  lernt  Haupt- 
und  Nebenfluss  unteisäeiden.  Joch  und  rass,  Hoch>  und  Tiefebene, 
Längs-  und  Quertal,  Bucht  und  Busen,  Halbinsel  und  Txisei,  Steil« 
und  Flachküste  lassen  sich  an  heimatlichen  Objekten  veranschau- 
lichen. Der  Unterricht  macht  ihn  auch  mit  den  Bodenarten  be- 
kannt, damit  für  die  Moor-  und  Marschgegenden,  für  die  Steppen 
und  Wüsten  klare  und  bestimmte  Begriffe  im  cigcatlichen  geO' 
graphischen  Unterricht  zur  Hand  änd.  Wo  sich  durch  die  heimat- 
liehe  Gegend  eine  durch  Grenzsteine  deutlich  gekennzeichnete 
Landesgrenze  hinzieht,  die  den  Staat  von  seinem  Nachbarlande 
trennt,  so  muss  auf  dem  Aufgange  natürlich  auch  diese  berück- 
sichtigt werden.  Diese  Grenzsteine  sind  aber  durchaus  nicht  die 
Grenzen  seiner  Heimat  Der  Schüler  lernt  die  Nachbardörfer  seines 
Hdmatsortes  kennen,  gleichviel  ob  sie  zu  Schwarzburg-Sondexshausen 
oder  zu  Rudolstadt  <:^chören,  er  besteigt  den  Langenberg  und 
geniesst  die  in  seiner  Heimat  weiteste  Fernsicht,  und  dabei  ist  es 
liini  höchst  gleichguiug,  dass  durch  einen  rein  gescliichtlichen  Zufall 

ferade  dieser  Berg  nicht  zu  dem  Fürstentum  gehört,  das  sein 
[eimatland  ist. 

Die  Geschichte  der  Heimat  interessiert  das  Kind ,  Dorf  und 
Stadt verfissung  muss  behandelt  werden ,  doch  übersteigen  die 
Fragen  aber  die  einzelnen  Verwaltungsbezirke  und  über  die  Ver- 


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—    28l  — 


fassung  des  Heimatlandes  das  Verständnis  des  8 —  i  o  jährigen  Schülers. 
Das  Messen  und  Schätzen  von  Wegstrecken  und  Landnachen  führt 

ihr:  7v.  klaren  und  deutlichen  Vorstellunf^en  von  den  geographischen 
Irrundmassen  wie  qkm,  km;  wie  gross  ein  KiloTnetcr  ist,  muss  an 
einem  bestimmten  Wegeabschnitte  klargelegt  werden,  so  dass  diese 
Grundanschauung  jederzeit  leicht  in  das  Bewusstsein  znTücktreten 
kann. 

Der  gesamte  Reobachtungsstoff  der  Heimat  braucht  nicht  durch- 
gearbeitet zu  werden,  es  bietet  sich  später  noch  oft  genug  im  Unter- 
richt Gelegenheit,  auf  diesen  oder  jenen  Begriff  zurückzukommen. 
Manche  Landschaft  ist  von  der  Natur  nicht  so  ausgestattet,  dass 
sie  reichlichen  Stoflf  för  die  Gewinnung  der  Grundbegriffe  darbietet, 
doch  wird  sich  der  Lehrer  in  allen  F"ällen  zu  helfen  wissen.  Auch 
der  Gewitterregen,  der  hier  und  da  ein  Gewirr  von  allen  möglichen 
kiemcn  Rinnsalen  erzeugt,  kann  durch  diese  Wirkungen  ein  Fluss- 
system im  kleinen  Massstabe  vor  die  Augen  fuhren.  Im  Flachlande 
muss  ein  kleiner  Hügel  zur  Gewinnung  der  Begriffe  Berg,  Gipfel, 
Abhang  und  Fuss  als  Notbehelf  dienen,  ein  gutes  charakteristisches 
Bild  ist  dann  am  rechten  Platze,  auch  das  Relief,  natürlich  ohne 
Überhöhung,  ist  ein  vortreffliches  Veranschaulichungsmittel. 

Je  nach  der  Schwierigkeit  wird  jedem  Schuljahr  eine  bestinmite 
Auswahl  des  Beobachtungsmaterials  über  die  Erscheinungen  in  der 
Atmosphäre  und  am  Himmel  zugewiesen.  Die  Beobachtungen  haben 
den  Zweck,  das  Klima  der  Heimat  verstehen  zu  lernen  und  für  die 
mathematische  Geographie  die  unentbehrliche  Grundlage  zu  schaffen. 
Alle  nötigen  Beobachtungen  werden  erst  unter  Anleitung  des  Lehrer^, 
dann  von  den  Schülern  selbständig  ausgeführt  und  in  ein  besonderes 
Heft  aufgezeichnet.  Dasselbe  enthalt  neben  den  Anmerkungen  für 
die  Naturgeschichte  solche  für  unsere  Beobachtungen  über  Wetter, 
Luftdruck,  Luftwärme,  Wind,  Sonne,  Taj^eslänge,  Miltai^sstellung  der 
Sonne,  scheinbaren  Ort  der  Sonne,  Mond  und  Sterne.  Im  3.  oder 
4.  Schuljahre  wird  mit  der  graphischen  Darstellung  der  Wärme  be- 
gonnen; die  Verhältnisse  der  Luft  sind  ein  wichtiges  Stück  der 
Heimat,  sie  erfordern  eine  regelmässige  Beobachtung. 

Auf  allen  Ausflügen  ist  der  Schüler  auch  im  Messen  und 
Schätzen  zu  üben.  Lr  muss  die  Schritte  zählen,  die  er  von  einem 
Kilometersteine  bis  zum  nächsten  zurücklegt,  er  muss  sich  auf  den 
Bergeshöhen  und  Aussichtspunkten  ein  Bild  von  der  Grösse  der 
Überschnuten  Landfläche  bilden.  Von  den  Längen-  und  Flächen- 
massen muss  er  die  richtigen  Grössen  Vorstellungen  haben,  damit 
nicht  alle  späteren  Angaben  über  Flächen  und  Entfernungen  un- 
haltbarer Zahienballast  bleiben.  Bei  den  Erwachsenen  sehen  wir» 
welche  Unterlassungssünde  nch  hier  der  heimatkundliche  Untemdit 
hat  zusrhulden  kommen  lassen.  Die  meisten  Soldaten  müssen  bei 
den  Schiessübungen  erst  das  Entfernungsschätzen  einigermassen 
erlernen;  kaum  glaubliche  Urteile  werden  ausgesprochen,  wenn  wir 


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—    282  — 


fragen,  wie  hoch  wohl  der  Turm,  der  Baom,  der  Berg  sein  mögen, 
wie  weit  wohl  der  Ort  entfernt  ist.    Auch  Temperaturgrössen 

(Wärme  der  Luft  in  der  Sonne,  im  Schatten,  Temperatur  des 
Wassers),  (xcschwindigkeitsgrösscn  (Eisenbahn,  Wasser  im  Bach,  Pferd» 
Radfahrer),  Zeitgrössen  werden  ebenfalls  zweckmässig  geschätzt. 

An  das  Messen  scMiesst  sich  das  Zeichnen  an.  wie  aufGnind 
der  Anschauung  die  wichtigsten  BegrifTe  für  den  erdkundlichen 
Unterricht  gewonnen  werden,  so  müssen  auch  auf  Grund  der  An- 
schauung die  Zeichen  gelernt  werden ,  durch  welche  die  einzelnen 
Objekte  auf  der  Karte  zur  Darstellung  gelangen.  Die  heimatliche 
Landschaft  Uefert  das  Musterbild  zur  Erklärung  der  fremden  Gegenden, 
und  die  Hetmatkarte  ist  das  Musterbild  für  das  Verstandiüs  aller 
kartographischen  Darstellungen.  Der  Unterricht  geht  von  der  Sache 
zum  Zeichen,  damit  die  Schüler  im  eij^entlichen  geographischen 
Unterricht  den  umgekehrten  Weg  selbständig  zurücklegen  können. 
Es  ist  eine  Hauptaufgabe  des  gesamten  geographischen  Unterrichts, 
dass  die  Schüler  die  Kartendarstellung  richtig  erfassen,  die  S3nnbol- 
sprache  richtig  verstehen  lernen.  Eine  gute,  übersichtliche  und 
klare  Karte  bildet  für  die  Gewinnung  der  geographisch- n  Kt  rmtnissc, 
für  die  Vorstellungen  über  die  Landschaft,  für  die  Wecliselbeziehungcn 
zwischen  den  Objekten  die  Grundlage. 

Durch  die  Fertigkeit  im  Kartenlesen  wird  der  Schüler  beßttugtp 
seine  erdkundlichen  Kenntnisse  zu  erweitem,  er  kann  sich  selbst 
unterrichten,  er  vermag  Länder  und  Orte,  die  mit  seinem  Vaterlande 
in  Verkehr  stehen,  aufzusuchen,  er  kann  Entfernungen  berechnen 
und  Reisepläne  festlegen.  Hat  er  das  gelernt,  so  hat  er  einen  wert- 
vollen Besitz  edangt,  der  nicht,  wie  es  mit  den  meisten  Namen  und 
Zahlen  geschieht,  nach  dem  Verlassen  der  Schule  wieder  verloren 
geht.  Schon  im  3.  Schuljahre  wird  mit  der  planmässigen  Einführung 
der  Schüler  in  das  Kartenverständnis  begonnen.  Wie  die  Schüler 
im  I.  Schuljahre  gar  bald  lernen,  die  Zeichen,  die  Buchstaben  in 
hörbare  Laute  umzusetzen,  obwohl  diese  mit  dem  Zeidien  keine 
Ähnlichkeit  haben,  die  gesammelten  Buchstaben  dann  zu  Laut- 
verhindungen  zusammenziehen  und  durch  das  gehörte  Wort  einen 
Seeletünhalt  hervorrufen ,  so  soll  der  Schüler  allmählich  die  Be- 
deutung der  Kartenzeichen  kennen  lernen,  zusammensetzen  und 
durch  dieselben  einen  Sedeninhalt  des  LandschaftsbDdes  reprodu- 
zieren.  „Die  Kartenzeichen  sind  Steine  der  Weisefi,  aber  de  «nd 
auch  nichts  als  Steine,  wenn  der  Weise  fehlt."  Peschel. 

Die  Vorstellungen  von  den  geographischen  Objekten  der  Heimat, 
wie  sie  auf  den  zahlreichen  Wanderungen  angeeignet  wurden,  müssen 
mit  den  Kartenzeichen  fest  verbunden  werden.  Kein  anderes  Land 
als  die  Heimat  kann  in  Wirklichkeit  nach  allen  Seiten  hin  betraditet, 
in  Sand  nachgebildet,  als  Skizze  dargestellt,  im  Relief  wieder  be- 
trachtet werden.  Eine  Karte,  welche  den  Heimatort  in  der  Mitte 
und  dann  einen  Umkreis  von  etwa  7 — 10  km  im  Massstabe  i :  locxx) 


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—   283  — 


darstellt,  ist  das  erste  Lesestück  für  den  Unterricht  in  der  Geograpiuc. 
Neben  der  Karte  von  dem  Fürstentum  oder  von  der  Heimatprovinz 
muss  noch  jene  eigentliche  Heimatkarte  vorhanden  sein.    Der  Mangel 

rührt  daher,  dass  man  da5  Wesen  der  Hcimat^kimde  überhaupt 
auch  heute  noch  nicht  richtiqr  crfasst  hat,  sie  ist  Kenntnis  der  Gegend, 
soweit  sie  der  bciiuler  durchwandern  kann  und  auch  durchwandern 
soIL  Diese  fehlende  Karte  muss  herbeigeschafft  werden,  wenn  es 
mit  dem  heimatkundlichen  Unterricht  endlich  citunal  vorwärt^ehen 
soll,  jeder  Lelirer  sollte  die  Karte  nach  allen  Regeln  der  Karto- 
graphie anfertigen. 

Von  jedem  Ausfluge  wird  eine  Teilskizze  entworfen,  dann  wird 
die  Gegend  in  Sand  nachgebildet,  auf  dem  Relief  der  zurückgelegte 
Weg  nochmals  verfolgt,  am  Ende  werden  alle  Teile  zu  einer  Ge- 
samtskizze der  Heimat  vereinigt.  Kartenbild  und  Landschaft 
müssen  immer  wieder  miteinander  verglichen  werden.  An  der 
Heimatkarte  werden  Übungen  im  Ablesen  und  in  der  Ausführung 
fingierter  Wanderungen  vorgenonmien ,  auch  im  Freien  wird  die 
Karte  mit  der  Landschaft  öfters  verglichen,  damit  der  Schüler 
dahin  gelangt,  die  Zeichen  in  die  Wirklichkeit  umsetzen  und  den 
Atlas  richtig  lesen  zu  können.  V^iel  Zeit  und  viel  Mühe  sind  er- 
forderlich. Das  Rehef,  am  besten  ohne  Überhöhung,  und  wo  solche 
unvermeidlich  Ist,  mit  ganz  geringer,  wird  beim  Übergang  von  der 
Landschaft  zur  Karte  mit  Erfolg  benutzt  In  unserem  Gelände 
kommen  wir  überall  ohne  Überhöhung  aus.  Auf  diesem  Wege 
erkennt  der  Schüler,  dass  selbst  die  beste  Karte  dir  Rodenplastik 
nur  unvollkommen  anzudeuten  vermag;  in  den  nächsten  Jahren 
müssen  die  Schüler  immer  wieder  darauf  hingewiesen  werden,  dass 
sich  der  Massstab  bei  der  Darstellung  grösserer  Landschaften  ver- 
kleinert, dass  bei  der  Zeichnung  immer  mehr  generalisiert  werden 
muss.  Bilder  von  Denkmälern  und  (iebäuden,  von  Dörfern  und 
Landschaften  der  Heim;it  sind  hier  nötig,  denn  der  spätere  Unter- 
richt bringt  auch  diese  Anschauungsmittel,  schon  jetzt  muss  das 
rechte  Verständnis  für  die  Bilder  vorbereitet  werden. 


5.  Die  uaterrichtlicbe  Behandlund  der  Fremde. 

Der  zu  behandelnde  Unterrichtsstoff  wird  zunächst  nach  fach- 

wissenadiaftlichen  Gesichtspunkten  in  einzelne  Landschaften  und 
nach  methodischen  Rücksichten  in  kleine  L'nterrichtsganze ,  metho- 
dische tinheiten,  zerlegt,  die  einen  bcgritfÜchen  Ertrag  liefern.  Die 
Einheiten  dürfen  nicht  zu  gross  sein,  weil  sie  sonst  das  Behalten 
erschweren,  aber  auch  nicht  zu  klein,  damit  noch  genügender  Inhalt 
g^cben  wird.  Die  Behandlung  selbst  geschieht  nach  den  Formal- 
stufen, da  sie  den  Weg  angeben,  auf  dem  das  Interesse  gebildet 
und  die  Verwirklichung  des  letzten  Unterrichtszweckes  ermöglicht 


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wird,  auf  dem  auch  der  Stoff  natur^mäss  angeeignet  wird.  Scfaoii 
allein  die  Verschiedenheit  des  geographischen  Stoffes,  die  ver- 
schiedene Beziehung  der  Objekte,  die  verschiedene  Ausgestaltung 

der  Untenrichtsstufcn  verhindert  jede  Schabionisierung. 

Ziel:  Die  meisten  Ziele  der  Präparationswerke  enthalten  in 
ihrer  Fassung  Merkmale  des  Landes,  die  der  Schüler  erst  von  der 
Karte  ablesen  oder  durch  eigene  Denkarbeit  finden  soll,  ausserdem 
stellen  sie  meist  einen  einzigen  Teil  in  den  Mittelpunkt  der  Be- 
trachtung, der  oft  genug  nicht  einmal  der  wichtigste  Punkt  der 
I-andschaft  ist.  ,.VVir  wollen  Grossbritannien  kennen  lenit  :i'  ist  ein 
Ziel,  das  allen  Aiiiurderungen  entspricht,  denn  es  ist  aiiscliaulich, 
kurz  und  fiasslich,  weckt  Interesse  und  Aufmerksamkeit,  trilft  den 
Kernpunkt  der  ganzen  Lektion,  ist  inhaltlich  bestimmt  und  konkret, 
ermöglicht  ungesuchten  Anschluss  der  folgenden  Behandlung  und 
schliesst  sich  den  Vorstellungen  des  Schülers  an.  Der  Schüler  wird 
aufgcfürdert,  durch  Überlegen  und  Kartenlesen,  durch  Anleitung  und 
Schilderung  des  Lehrers,  jenes  Ziel  zu  erreichen.  Jede  Landschaft 
soll  der  Schüler  nach  bestimmten  Unterziclcn  durcharbdten,  um  am 
Ende  auf  der  Stufe  der  Anwendung  n^chvveisen  zu  können,  warum 
England  sich  zur  ersten  Handelsmacht  emporgeschwungen  hat  oder 
warum  Italien  das  Land  der  Sehnsucht  vieler  Deutschen  ist  oder 
warum  das  britische  Inselreich  den  Angriffen  Napoleons  gegenüber 
seine  Freiheit  und  Seehandelsmacfat  behaupten  konnte  oder  warum 
Indien  ein  Wunderland  genannt  werden  kann.  Die  Ziele,  welche 
aus  der  Geschichte  oder  aus  der  Naturc^eschichtc  ein  für  das  be- 
treffende Land  hervorragendes  Moment  aufnehmen,  sind  zu  ver- 
werfen, weil  man  die  Lebenswelse  eines  Volkes,  die  Art  und  Weise 
eines  Tieres  erst  durch  die  Landschaft,  also  nach  der  geographischen 
Behandlung  richtig  verstehen  lernt.  Die  meisten  Ziele  der  geo- 
graphischen Präparationswerke  sind  eigentlich  Auff^aben,  die  auf  der 
Stufe  der  Anwendung  mit  Vorteü  gestellt  werden  können. 

Vorbereitung:  Der Wahmramungsstoff kann  nur  apperzipiert 
werden,  wenn  apperzipierende  Vorstellungen  geweckt  worden  sind. 
Dem  Verständnis  des  Neuen  wird  nicht  durch  die  Mitteilung  von 
fremden  Erfahrungen  der  Weg  gebahnt,  sondern  aus  dem  Inneren 
des  Schülers  heraus,  aus  seinem  Gedankenkreis  müssen  alle  die- 
jenigen Hilfen  leicht  emporsteigen,  welche  die  Aneignung  ermög* 
liehen.  Diese  apperzipierenden  Vorstellungen  steigen  selbstverständ- 
lieh  am  leichtesten  und  reichsten  empor,  wenn  der  Schüler  über 
Gegenstände  seiner  Erfahrung  berichten  kann,  wenn  also  die  in  der 
Heimat  gewonnenen  Begriffe  und  Gesetze,  die  hier  Verwendung 
finden  können,  bewegUch  gemacht  werden.  Der  Schüler  teilt  mit, 
was  er  bereits  von  der  Landschaft  weiss,  er  führt  auch  den  übrigen 
gelernten  Stoff  an,  welcher  zum  Ziele  in  Beziehung  steht,  er  legt 
sich  einen  Arbeitsplan  zurecht,  nach  dem  er  nun  das  fremde  Gebiet 
durchforschen  soll.  Die  Ergebnisse  des  heimatkundhchen  Unterrichts» 


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vor  allen  Dingen  die  auf  den  Ausflügen  gemachten  Beobachtungen 
soQcn  daf&r  sollen,  dass  ein  reicher  Schatz  apperzipierender  Vor- 
stellungen in  der  Seele  des  Kindes  fiir  den  späteren  Unterricht 

bereitliern. 

Darbietung:  „In  der  Schule  werden  weder  Entdeckuni^'^en 
noch  triindungen  gemacht,  noch  auch  Entdecker  oder  Erhndcr 
grossgezogen,  aber  vorsfebildet  sollen  die  Schüler  dadurch  werden, 
dass  man  sie  anleitet,  das  Entdeckte  zu  entdecken,  das  Erforschte 
zu  erforschen,  das  Gefundene  tu  finden."  Lazarus.  Dem  Schüler 
wird  gestattet,  das  Ziel  auf  dem  selbstgewählten,  eigenen  Wege  zu 
erreichen.  An  dem  Kartenbild  soll  er  nun  selbsttätig  sich  den 
grössten  Teil  des  Stoffes  erarbeiten,  den  stummen  Zeichen  soll  er 
denkend  entnehmen,  wenn  er  eben  rechtes  Kartenverständnis  hat, 
was  ihm  sonst  der  Eehrcr  durch  seinen  Vortrag  erst  bieten  müsste. 
Andauernde  Passivität  verträgt  sich  nicht  mit  der  Kindesnatur,  der 
lebiiafte  Tätigkeitstrieb  verlangt  nach  aktiver  Beteiligung  am  ünter- 
riebt,  wird  dieser  Trieb  in  entsprechender  Weise  berfickstchtlgt, 
so  wecken  wir  das  Gefühl  der  eigenen  Kraft  Die  Schüler  soUen 
selbst  suchen,  finden,  zeigen,  reden,  zusammenfassen,  und  der  geo- 
graphische Unterricht  bietet  hierzu  die  mannigfachste  und  reichste 
Gelegenheit.  Das  Kind  soll  in  der  Schule  selbst  zugreifen  lernen, 
der  Kopf  soll  nicht  ohne  eigenes  Arbeiten  voUgesteckt  werden,  von 
dem  Selbstgefundenen  geht  wenig  verloren,  von  dem  widerwillig 
Angeeigneten  nach  kurzer  Zeit  fast  alles. 

Die  Landkarte  ist  dasjenige  Veranschaulichungjsmittel ,  das  im 
Mittelpunkte  der  Geographiestunde  stehen  muss.  Manche  Lehrer 
gehen  von  der  Wandlorte  aus,  andere  vom  Adas,  andere  von  der 
Kartenskizze.  Ich  halte  dafür,  dass  der  Adas  am  besten  den  Aus> 
gangi^unkt  bildet,  da  die  Wandkarte  doch  nicht  so  genau  \-on 
jedem  Schüler  betrachtet  werden  kann,  dass  er  die  fraghchen 
Objekte  seibst  zu  entdecken  vermag,  sie  verliert  doch  etwas  ihre 
Wirkung  für  die  entferntsitzenden  Schüler,  ferner  sind  die  Schulen 
noch  zu  dürftig  mit  Kartenmaterial  ausgerüstet  Die  Kinder  sollen 
audi  nidit  die  Wandkarte,  sondern  ihren  Atlas  kennen  lernen,  sie 
sollen  in  demselben  den  Stoff  wiederholen  und  üben,  in  dem  Atlas 
ist  ihnen  das  geographische  Lesebuch  gegeben,  den  Atlas  ziehen 
sie  im  späteren  Leben  bei  verschiedenen  Fragen  zu  Rate.  Die 
Ordnung  leidet  durchaus  nicht,  wenn  es  der  Lelurer  richtig  versteht, 
die  Sdiäler  zum  Forschen  und  Entdecken  anzuleiten.  Von  der 
Skizze  auszugehen,  muss  abgelehnt  werden,  da  sie  z\i  unvollkommen 
ist,  auch  die  Anfertigung  zu  viel  kostbare  Zeit  beansprucht.  Zu 
einer  erfolgreichen  Benutzung  des  Atlasses  ist  nötig: 
I.  dass  alle  Schüler  einen  Atlas  haben, 
3.  dass  alle  den  gleichen  Atlas  besitzen, 
3.  dass  es  der  Lehrer  versteht,  den  Unterricht  richtig  an  die 
Karte  anzu^chliessen, 


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4.  das6  der  Atlas  grosses  Fonnat  hat, 

5.  dass  er  die  nöti«,'en  Karten  enthält» 

6.  dass  der  Atlas  nicht  stumm  ist. 

Der  Schüler  verschafft  sich  zuerst  einen  Überblick,  er  liest 
Lage,  Grösse,  Bodcflbeschafienbeit  des  Landes  ab,  zieht  Schlüsse 
auf  Klima  und  Bevölkerung.  Bei  seiner  Arbeit  stösst  er  aber  auch 
auf  Hindemisse,  und  durch  die  Frage  des  Lehrers  wird  er  dahin 
geführt ,  diese  zu  überwinden.  Wenn  auch  durch  die  Frage  dem 
Selbstfinden  und  Sclbstdenken  eine  bestimmte  Richtung  gegeben 
wird,  so  darf  sie  doch  nicht  zu  viel  angewendet  werden,  da  der 
Schüler  leicht  zurücktritt  und  die  GelegeiDbeit  zu  einer  Ruhepause 
för  seine  Denk-  und  Sprechtätigkeit  benutzt  Gerade  bei  der  Bc- 
tonufif^  des  vergleichenden  Momentes  muss  der  Schüler  viele  geo- 
graphische Erkenntnisse  selbsttätig  auffinden,  die  Frage  muss  daiier 
sehr  zurücktreten. 

Von  der  (jcsamtaufiassung  geht  es  zu  den  einzelnen  Teilen, 
diese  sind:  Lage,  Grenzen,  Gestalt  und  Glied enmir^  Grösse,  Bodeiir 
Bewässerung,  Klima,  Pflanzen,  Tiere,  Menschen;  vereinfachen  wir 
diese  zehn  Glieder  durch  ZusammenfassunL'^ ,  so  erhalten  wir  Lage, 
Bodengestalt,  Bewässerung,  iviima,  Ptianzcn-  und  Tierwelt,  Be- 
völkerung oder  physikalische  Verhältnisse,  biologische  Verhaltnisse, 
Bevölkerung.  Auch  liir  den  geographischen  Unterricht  ist  das 
Schema  ein  recht  brauchbarer  Weg,  aber  jedes  Schema  schliesst 
einen  Mangel  ein,  da  den  Dingen  oft  genug  Gewalt  angetan  wird, 
wenn  alles  nach  einer  Schablone  ablaufen  soll.  Wer  in  der  i^tianzen- 
oder  Tierkunde  jedes  Objekt  von  der  Wurzel  bis  zur  Blüte  oder 
von  dem  Kopfe  bis  zu  den  Füssen  beschreibt,  der  schafft  Lange- 
weile; jede  Schablone  tötet  das  Leben.  Die  Landschaften  sind 
auch  Organismen,  an  denen  Gleiches  wiederkehrt,  doch  in  anderem 
Zusammenhang  und  in  anderer  Beziehung.  Ein  Merkmal  steht  meist 
bd  jedem  Lande  im  Vordergrunde  und  verieiht  der  Landschaft  das 
besondere  Gepräge.  Diese  Eigentümlichkeit  hat  der  Unterricht  zur 
Darstellung  zu  bringen ,  und  deshalb  muss  der  im  Stofi'  selbst 
liegende  Gang  für  die  Darbietung  der  massgebende  sein.  Bei  Togo 
würde  ich  von  dem  Anschauungsbilde  „Wochenmarkt  an  der  Lagune 
von  Togo"  ausgehen,  da  ein  besonderes  Merkmal  bei  diesem  Lande 
nicht  in  den  Vordergrund  zu  setzen  ist  Fehlt  das  Bild,  so  könnte 
Togo  nach  folgenden  Punkten  betrachtet  werden:  Wo  liegt  Togo 
und  wie  gross  ist  es  Wie  sieht  die  Küste  aus.  Der  Auilbau  des 
Hinterlandes.  Weiches  Klima  herrscht.  Einfluss  des  Klimas  auf 
Pflanzen-  und  Tierwelt.  Die  Bewohner  Togos.  Dir  Aussehen,  ihre 
Kleidung,  Nahrung,  Wohnung  und  Arbeit.  Wie  die  Weissen  dort 
leben.  Welche  Orte  gibt  es.  Womit  wird  besonders  Handel  ge- 
trieben.   Welchen  Wert  hat  Togo  für  Deutschland. 

Nach  dem  Gesetze  der  sukzessiven  Klarheit  soll  sich  der 
Schüler  von  Abschnitt  zu  Abschnitt  in  den  Stoff  vertiefen,  darum 


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—   28;  — 


wird  der  einzelne  Abschnitt  durch  Lesen  im  Adas  dargebuLcn,  es 
folgt  dann  die  zusammenhängende  Wiedergabe  von  Seiten  eines 
besseren  Schülers;  die  Tätigkeit  des  Lehrers  besteht  darin,  durch 
ein  ein(^^estre5!tes  Wort,  durch  Fragen  und  Aufgaben  die  Schüler  vor 
Unterbrechungen  und  Stockungen  zu  bewahren.  Dann  wird  derselbe 
Abschnitt  durch  erklärende  Besprechung  von  etwaigen  Mangeln 
befreit»  die  Schüler  tragen  zur  Aufhellung  von  Unldarheiten,  zur 
Ergänzung  des  Ausgelassenen  bei,  und  der  Lehrer  erweitert  den 
Stoff  durch  entsprechende  Mitteilungen.  Das  Hild  tritt  neben  der 
Karte  ergänzend  und  erklärend  im  Unterrichte  auf.  Ein  schönes 
Bild  bringt  mit  einem  Schlage  vieles  zum  Verstananis,  es  vermittelt 
diejenigen  Anschauungen,  die  beim  Betrachten  der  Karte  «ch  im 
Kopfe  des  Schülers  einstellen  sollten.  Karte,  Bild  und  Schilderung 
müssen  einander  ergänzen,  wenn  wir  anschaulich  unterrichten  wollen. 
„Die  Karte  gibt  die  Grundform  des  Körpers,  Schilderung  und  Bild 
geben  das  Kleid."  Nach  den  ergänzenden  Mitteilungen  folgt  die 
nochmalige  Wiedergabe,  und  das  Ganze  wird  unter  Berücksichtigung 
des  Hauptinhaltes  durch  eine  Oberschrift  kenntlich  gemacht') 

Die  Namen  werden  inbezug  auf  Aussprache,  Schreibung  und 
Bedeutung  berücksichtigt,  die  Namenerklärung  wird  nur  dann  be- 
achtet, wenn  die  Richtigkeit  wissenschaftlich  feststeht  \md  durch 
die  Erklärung  die  Eigentümlichkeit  des  Objektes  klargelegt  wird. 
Das  statistisdie  Matenal  ist  nur  in  beschranktem  Um&nge  heran> 
zuziehen,  sobald  es  eben  in  einer  bestimmten  Landschaft  in  exakter 
Sprache  das  sagt,  was  Karte  und  Landschaftsdarstellung  nicht  aus- 
drücken können,  oder  wenn  der  machtvolle  Aufschwung  des  Vater- 
landes in  vergleichende  Beziehung  zum  Auslande  gesetzt  werden 
sdL  Deutschknd  erzeugt  z.  B.  99  MUL  t  Steinkohl^.  Diese  Zahl 
gewinnt  erst  Wert,  wenn  zahtenmässig  nachgewiesen  wird,  dass  es 
mit  dieser  Produktion  an  dritter  Stelle  auf  der  Erde  steht.  Die 
Sache  wird  klar,  wenn  ich  sage:  1898  erzeugte  an  Kohlen  England 
174  Mill.  t,  Union  155  MiU.  t,  Deutschland  99  Mill.  t. 

Die  Geschichte  ist  eine  Hilfewissenschaft  der  Geographie,  die 
nötig  ist,  w^sdls  Terrestrisches  dadurch  seine  Erklärung  ^ndet".  Em 
für  die  ganze  Landschaft  wichtiges  Merkmal  oder  Ereignis  kann 
nicht  unerwähnt  bleiben,  Namen  von  re|^ieren< Jen  Herrschern  oder 
die  Verfassungs-  und  Vei  vvaitungseinrichtungen  werden  nicht  gelernt, 
nur  fiir  das  Deutsche  Reich  Warden  ErklSningen  gegeben,  die  sich 
auf  Angelegenheiten  des  Reiches  oder  der  EinzelsUaten,  auf  die 
Aufgaben  des  Bundesrates  oder  des  Reichstages  erstrecken.  Am 
besten  \",  eisen  wir  diese  Stoffe  der  Geschichte  zu. 

Die  Geologie  ist  ebenfalls  eine  Hilfswissenschaft  \  c  n  den 
geolo^achen  Tatsachen  sind  die  orographischen  und  hydrugrciphi- 


>)  über  die  Stellang  der  Sehadcmiig  im  Uatenridile  siclie  PXdag.  Stadial  1906, 

S.  13/14. 


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—   288  — 

sehen,  von  denen  wieder  zum  grössten  Teil  die  kulturellen  und 
politischen  Verhaltnisse  abhängig.    Ausbeutung  und  Verwertung 

der  Bodenschätze  haben  für  ganze  Gegenden  eine  Umgestaltung 
der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  zur  Folge  gehabt.  Die  geologische 
Wissenschait  steht  so  sicher  fundiert  da,  jeder  Teil  des  Vaterlandes 
ist  so  durchforscht,  dass  wir  die  Geologie  unbedenklich  in  den 
Schulunterricht  aufndunen  können.  Für  die  Geographie  ist  sie  aber 
unentbehrUch,  wenn  man  nicht  die  Unterwdsung  über  den  Bodenbau 
rein  beschreibend  mitteilen  will,  wenn  man  nicht  das  Bestehende 
nach  seinen  Ursachen  unergründet  und  nach  seinen  Wirkungen  un- 
beachtet lassen  will 

Am  Schlüsse  der  Darbietung  wird  der  Stoff  von  Seiten  der 
Schüler  nach  einer  bestimmten  Gliederung,  nämlich  an  der  Hand 
der  erarbeiteten  Überschriften,  zusammenhängend  \vieder»egeben. 

Verknüpfung:  Wir  dürfen  aber  nicht  dabei  stehen  bleiben, 
das  Bild  aufzufassen,  Länder,  Städte,  Gebirge  und  Flüsse  zu  be- 
schreiben, Stoflanhäufung  ist  nicht  das  Ziel  der  Arbeit  Die  geo' 
graphbchen  Momente,  welche  im  Verlauf  der  Darbietung  erarbeitet 
worden  sind,  dürfen  nicht  -gesondert  betrachtet  werden,  sondern  sie 
sind  nach  ihren  Weciisehvirkungen  und  nach  ihrem  kausalen  Zu- 
sammenhange zu  behandeln.  Schon  aus  der  Reüienfolge  der 
einzdnen  Elemente  eigibt  sich,  dass  das  eine  Element  auf  das 
andere  einen  gewissen  Einfluss  ausübt,  dass  das  folgende  von  dem 
vorhcrp^ehenden  abhängig  ist.  Diese  wechselseitige  Abhäng^igkeit 
den  Schülern  vor  die  Augen  u  führen,  ist  die  Aufgabe  drr  \'er- 
gleichenden  Erdkunde,  die  besonders  auf  der  Stufe  der  V^erknuplung 
zur  Anwendung  kommen  muss.  „Jede  Erscheinung  ist  ein  Glied 
einer  grossen  zusammenhängenden  Kette  von  Erscheinungen."  Die 
c^rwonnenen  neuen  Vorstellungen  werden  nun  teils  unter  sich,  teils 
mit  älteren  Vorstellungen  verglichen  ,  damit  sie  nicht  vereinzelt  in 
der  Seele  liegen,  damit  sie  auch  nach  ihrem  Werte  erforscht  werden, 
damit  sich  die  einzelnen  Voisteilungen  zu  Gruppen  und  Reihen 
verbinden  und  dadurch  an  Haltbarkeit,  Sicherheit  und  Klarheit  ge- 
winnen. Es  werden  nur  mit  bereits  bekannten  Erscheinungen  Ver- 
gleiche angestellt,  und  durch  die  Vergleiche  sollen  nur  wertvolle 
Gedankenverbindungen  erzeugt  werden,  die  mit  den  Jahren  an 
Festigkeit  immer  mehr  zunehmen. 

Die  Vergleiche  treiben  uns  dazu,  die  Kulturgeographie  in 
gebührender  Weise  zu  berücksichtigen,  auch  der  Mensch  muss  mit 
seinen  Bedürfnissen  zu  der  Erde  in  Beziehung  gesetzt  werden.  Wir 
sehen  ihn  bei  seiner  Arbeit  auf  dem  Acker,  bei  der  Gewinnung 
und  Verarbeitung  von  Rohmaterialien,  wir  begegnen  ihm  auf  den 
Weltmeeren  mit  seinen  HandelsschifTen  und  Kriegsflotten,  wir  er- 
kennen seine  Sorge  für  Nahrung,  Kleidung  und  Wohnung,  vni 
richten  den  Blick  auf  Kunst  und  Wissenschaft ,  auf  staatliche  Ein- 
richtungen und  auf  die  Religionen.   Auch  bei  den  Kolonien  sind 


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—   289  — 


die  ursachlichen  Bedingungen  für  die  natüriichen  Verhältnisse,  für 
Gewerbe ,  Handel  und  Verkehr  klarzulegen ;  erst  durch  Erkenntnis 
des  Zusammenhangs  zwischrn  den  natürlichen  Verhältnissen  der 
Kolonien  und  ihrem  wirtsciiaiLliciien  Zustand  lernen  wir  die  kulturelle 
Entwiddung  verstehen,  lernen  wir  den  derzeitigen  und  spateren 
Wert  würdigen.  Hier  können  zweckmässig  Zahlen  als  Bdeuditungs* 
material  dienen,  aber  auf  Beschränkung  und  auf  treffende  Darstellung 
ist  zu  achten.  Die  Zahlen  dienen  nur  der  V  ergleichung,  ausserhalb 
des  Vergleichs  haben  sie  selbst  für  die  Wissenschaft  keinen  Wert, 
Die  Bevölkerungszahl  darf  nie  aUeinstehen,  sondern  sie  ist  stets  mit 
dem  Flachen uiiialte  zu  vergleichen,  die  Verteilung  auf  i  qkm  gibt 
das  beste  Bild  für  die  Bevölkerungsdichte.  Um  einen  Vergleich  gut 
durchzuführen,  unterstützen  uns  C)bjckte  der  Heimat,  geographische 
Grossenbilder,  Prohle  und  statistische  Angaben. 

Zusammenfassung:  Sind  die  kausalen  Verhältnisse  der 
geographischen  Elemente  von  mehreren  Landschaften  miteinander 
verglichen,  so  ergibt  sich  aus  dem  Kinzclnen  und  Besonderen  das 
Allgemeine  und  Begriffliche,  das  aus  dem  konkreten  Inhalt  heraus- 
gearbeitet wird,  und  nicht  als  langer  Begriff  oder  als  Kegel,  sondern 
als  allgemeine  Wahriieit  und  als  allgemeines  Urteil  zum  Ausdruck 
kommt.  Es  sind  entweder  allgemeine  geographische  Wahrheiten, 
z.  B.  die  Steppen  sind  wenig  bewohnt.  Auf  den  Steppen  wohnen 
Nomaden.  Die  Beschäftigung  der  Nomaden  richtet  sich  nach  der 
Bodenbeschaffenheit  eines  Landes.  Hohe  Gebirgsmauern  sind  Wasser-, 
Klima-,  Pflanzen*  und  Völkerscheiden.  Je  reicher  die  Erwerbsquellen 
sind,  desto  dichter  ist  die  Bevölkerung.  Es  können  auch  Beg^riffe 
sein,  wie  Delta,  Wasserfall,  Stromschnelle,  Stcji[)e,  Mangrove.  Alle 
Wahrheiten  und  Begriffe  können  nicht  ohne  konkreten  Hintergrund 
geistiges  Eigentum  bleiben,  sollte  irgend  ein  Merkmal,  irgend  ein 
GUed  des  allgemeinen  Urteils  verloren  gehen,  so  muss  auf  Grund 
der  konkreten  Tatsachen,  wie  sie  in  der  Darbietung  erarbeitet 
wurden  und  auf  der  Stufe  der  Verknüpfung  sich  ergeben  haben, 
die  Möglichkeit  zur  P'meuenmg  des  Begriffes  vorhanden  sein.  Schon 
in  der  Heimatskunde  lernte  der  jugendliche  Geist  die  (irundbegriffe 
kennen,  die  einfachsten  Gesetze  ableiten,  er  erkannte  die  über- 
mächtige Grösse  der  Natur  und  die  Abhängigkeit  des  Menschen 
von  der  Scholle.  Dieses  Verständnis  wird  nunmehr  vertieft,  die 
Urteilskraft  gefördert  und  eine  gerechte  Beurteilung  des  Auslandes 
angebahnt.  Zur  P>rcichung  des  Ziolps  mangelt  es  weder  an  Zeit, 
noch  sind  die  Voiksschüler  dazu  uniaiug,  nur  muss  die  Zeit  richtig 
eingeteilt  und  die  Lektion  in  geschickter  Weise  zu  Ende  geführt 
werden. 

Anwendung:  Mit  dem  .^pperzcptions-  und  .Xbstraktions- 
prozess  ist  die  Unterrichtstätigkeit  noch  nicht  beendigt,  denn  das 
Wissen  soll  zum  Können  erhoben  werden,  und  das  geschieht  durch 
die  Übung. 

FUmbelM  Sliidl««.  ZXIZ.  4.  19 


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290  — 


1.  Die  Anwendung  geschieht  zunächst  durch  Übungen  im 
Anschluss  an  (V'.r  Knrto.  Nachdem  auf  der  Stufe  der  Dar- 
liictuHL''  das  Karteillesen  vorang^egangen  ist,  kann  nun  hier 
der  Schüler  zeichnen  j  er  zeichnet  kleinere  Landschaitsgebiete, 
t>rpische  Objekte,  er  entwirft  Profile  und  GrössendarsteUungen» 
er  fertigt  Skizzen  von  Flusssystemen,  Mündungsarmen, 
einzehicr.  Gebirgszügen  und  Küstcnlinien  an.  Alle  diese 
Zeichenübun^  i  n  sind  ein  wertvolles  Hilfsmittel  zur  Förde- 
rung klarer  Anschauungen  und  zur  sicheren  Einprägung  der 
geographischen  Objekte.  An  der  Wandkarte  werdra  Zeige- 
übungen angestellt 

2.  Die  Übung  geschieht  durch  Losen  von  Aufgaben  und  durch 

Beantwortung  von  Fragen,  Entfemui^  und  Ausdehnung 
können  die  Kinder  recht  gut  berechnen,  wenn  die  Heimats- 
kunde nicht  versäumt  hat,  den  Massstab  zu  berücksichtigen, 
und  wenn  der  weitere  geographische  Unterricht  auf  der 
Grundlage  fortgebaut  hat  Hier  zu  stellende  Fragen  sind 
z.  B.  Warum  heisst  Kuba  die  Perle  der  Antillen?  Warum 
wird  Indien  ein  Wunderland  genannt? 

3.  Es  werden  Bilder  betrachtet.  Sind  ^geographische  Charakter- 
bilder nicht  vorhanden,  so  tut  ein  Bilderatlas  gute  Dienste. 
Empfehlenswert  sind  Sammlungen  von  Bildern  aus  illustrierten 
Zeitschriften i  diese  Bilder  werden  gesammelt,  nach  den 
Ländern  geordnet  in  Mappen  aufbewahrt  und  immer  er- 
ganzt,  so  dass  nach  und  nach  ein  gutes  Anschauungsmaterial 
vorhanden  ist.  Stereoskop  und  Skioptikon  sind  äusserst 
wertvolle  Veranschaulichun^smittel,  die  ein  naturtreues, 
klares  und  plastisches  Kild  liefern. 

4.  Es  werden  fingierte  Reisen  ausgeführt,  die  so  zu  unter- 
nehmen  sind,  dass  der  Reiseweg  die  wichtigsten  Punkte  der 
Landschaft  berührt 

5.  Die  entsprechenden  Abschnitte  des  Lesebuches  werden 

gelesen,  gute  Charakterschilderungen  liest  der  Lehrer  vor, 
noch  besser  träfet  er  sie  frei  vor.  Die  Schilderung  kommt 
jetzt  erst  zu  ihrer  vollen  Geltung,  da  alle  Voraussetzungen 
zum  völligen  Verständnis  nunmehr  erfüllt  sind;  sie  ist  die 
Krone  des  Ganzen.  Soll  die  Schilderung  in  dem  Hörer 
eine  klare  und  deutliche  Vorstdlung  von  den  Objekten  und 
Verhältnissen  schaffen ,  so  muss  sie  mit  den  glühendsten 
Farben  ein  Bild  malen  und  der  Kartendarstellung  nun  das 
Leben  einhauchen. 

6.  Schriftliche  Arbeiten  werden  angefertigt. 


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—    291  — 


Zusammenfassung. 

1.  Der  geographische  Unterricht  hat  einerseits  die  natürlichen 
Verhältnisse  darzulegen,  anderseits  die  Wirkung  derselben 
auf  d  e  OrL;rinismen  zu  zeigen.  Die  Vermittelung  eines 
bestimmten  Kreises  von  Vorstellungen  ist  nicht  Selbstzweck, 
sondern  es  soll  auf  die  Veredelung  der  Gesinnung  und  auf 
die  Bildung  des  Willens  eingewirkt  werden. 

2.  Die  Stofiauswahl  muss  auf  die  subjektive  Kraft  der  Schüler 

achten,  sie  muss  auf  das  praktische  Leben,  darum  auch  auf 
die  Erzeugung  des  Verständnisses  für  die  kolonialen  Be- 
strebungen Rücksicht  nehmen.  Der  Stoft'  ist  zweckmässig 
zu  beschränken,  Heimat,  Deutschland,  Kolonien  und  das 
Wichtigste  aus  der  mathematischen  Geographie  bilden  den 
geographischen  Hauptstoff,  erst  dann  werden  solche  Länder 
betrachtet,  die  in  hislorischer ,  politischer,  wirtschaftlicher 
oder  kommerzieller  Rezichun;^  zum  Vatcrlande  stehen.  Mit 
dem  Prinzip  der  stofflichen  Vollständigkeit  müssen  wir 
brechen,  wenn  uns  an  anschaulicher  Darstellung,  an  rechter 
Vertiefung  und  an  selbsttätiger  Aneignung  des  LehrstofTcs 
gelegen  ist.  Die  Gliederung  der  Schule  und  die  zur  Ver- 
fügung stehende  Zeit  ist  bei  der  Auswahl  des  Stoffes  eben- 
falls in  Betracht  zu  ziehen. 

3.  Erstes  bis  drittes  Schuljahr  betrachten  ausfuhrlich  die 
Heimat,  denn  ohne  diese  unmittelbare  Anschauung  läuft  der 
spätere  Unterricht  Gefahr,  bloss  mit  Worten  zu  arbeiten. 

Schon  der  Anschauun^untcrricht  muss  auf  die  Interessen 
des  späteren  geographischen  Unterrichtes  ausführhch  Rück- 
sicht nehmen.  Das  vierte  Schuljahr  behandelt  Thüringen, 
das  fünfte  Deutschland,  das  sechste  Europa  und  das  siebente 
die  übrigen  Erdteile.  Im  siebenten  und  achten  Schuljahr 
werden  die  Stoffe  nicht  mit  Reicher  Intensität  behandelt, 
auch  in  der  Naturgeschichte  werden  nicht  alle  Individuen 
mit  gleicher  Ausführlichkeit  betrachtet.  Genaue  Betrachtung 
einer  Landschaft  ist  die  wichtigste  Stütze  für  das  Ver* 
ständnis  anderer,  auf  die  viellei^  erst  im  späteren  Leben 
das  Interesse  gerichtet  wird.  Das  acino  Schuljahr  wieder- 
holt und  erweitert,  das  Deutsche  Reich  wird  in  seinen 
Kulturbcziehungen  zur  Fremde  betrachtet. 

4.  Die  Heimatskunde  ist  Kenntnis  der  Gegend,  soweit  sie  der 
Schülern  durchwandern  kann  und  audi  durdiwandem  solL 
Die  Grundlage  für  die  Behandlung  der  Heimat  bilden  die 
Wanderungen.    Es  wird  soweit  als  möglich  der  kausale 

Zusammenhang  aufgedeckt ,  allgemeine  Sätze  und  Gesetze 
werden  abgeleitet,  damit  die  vergleichende  Erdkunde  schon 

19* 


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—     292  — 


jetzt  Wurzel  fasst  Auf  den  Wanderungen  werden  die 
Grundhcj^riffe  gewonnen.  Die  Heimatskunde  hat  r.xir  Vor- 
bereitung  für  die  mathematische  Geographie  die  Er- 
scheinungen in  der  i^tmosphäre  und  am  Himmelsgewölbe 
zu  beachten.  Auf  den  Wanderungen  wird  gemessen  und 
geschätzt.  Auf  Grund  der  Anschauung  wird  die  heimatliche 
Karte  aufgebaut,  der  Schüler  lernt  die  Zeichen  kennen, 
durch  welche  die  einzelnen  Objekte  auf  der  Karte  zur  Dar- 
stellung gelangen. 

5.  Die  unterrichtliche  Bciiandlung  der  Fremde  geschieht  nach 
den  formalen  Stufen. 


in. 

Die  neuzeitliche  Dichtung  in  der  Schule. 

EiD  Beitrag  nir  VetjüDgnns  des  Lehrplaiis. 
Von  F.  Helder,  Rektor  und  Ortstchuliiispdctor  in  Weittwasser  O/L. 

Schluss. 

Die  beste  Auswahl  unter  den  neueren  Gedichten  wird  unstreitig 

die  sein,  welche  der  Lehrer  auf  Grund  eigener  Lektüre  unter  Rück- 
sichtnahme auf  die  Bedürfnisse  seiner  Schule  oder  Klasse  selbst 
triflt.  Da  ihm  aber  ihres  hohen  Preises  wegen  nur  in  seltenen 
Fällen  die  oft  mehrbändigen  Werke  der  in  Frage  kommenden 
Dichter  zur  Verfiigung  stehen  werden,  ist  er  eben  zumeist  darauf 
angewiesen,  an  der  Hand  der  empfohlenen  Antliologien  sich  selbst 
eine  für  seine  Zwecke  bemasscne  Sammlung  zusammenzustellen. 

Eine  solche  Zusammenstellung  wird  in  der  nachfolgenden  Über- 
sicht als  Muster  dargeboten.  Sie  ist  auf  dem  Boden  eigener  unter- 
richtlicher Praxis  entstanden  und  will  etwa  das  Durchschnittsmass 
dessen  bezeichnen,  was  unter  günstigen  Schulverhältnissen  den 

Schülern  vom  10.  bis  zum  14.  Lebensjahre  aus  der  zeitgenössischen 
Dichtung  geboten  werden  kann.  Ks  sind  in  dieser  Zusammen- 
stellung nur  solche  Dichter  berücksichtigt,  welche  im  Schulunterricht 
bisher  fast  gar  nicht  oder  doch  nicht  in  hinreichender  Weise  zu 
Worte  glommen  sind.  Durch  die  Verwertung  ihrer  Dichtungen 
sollen  die  unsterblichen  Schöpfungen  eines  (ioetlie,  Schiller,  Körner, 
ühland  u.  a.,  soweit  sie  bisher  schon  zum  Pensum  des  literarischen 
Deutschunterrichts  gehörten,  aus  ihrer  dominierenden  Stellung  nicht 
im  geringsten  verschoben  werden. 


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—   293  — 


Zusa  tum  cnst  eilung. 

I.  Hermann  Alliner?;:  Ein  Mutterherz.  —  Wassersnot.  —  In  der 
Fremde.  —  *Der  Hailii^matrosc.  —  2.  Ferdinand  Avenarius:  Der 
goldene  Tod.  —  Vom  Kirschbaum.  —  Rolands  Horn.  —  Kom- 
rauschen.  —  3.  Rudolf  Baumbach:  Der  Holzwurm.  —  Die  Gäste 
der  Ruche.  —  *Mein  Thüringen.  —  4.  Hans  Benjsmann:  Christus 
beruhi<^t  das  Meer.  —  I leulemärchcn.  —  5.  Carmen  S>lva:  Zum 
letztenmal.  —  6.  FcUx  Dahn;  Wo  ist  Gott?  —  *Gotcritrcue.  — 
Saint  Frivat  —  Vor  Sedan.  —  *Sicgesgesang  nach  der  Varus- 
schlachL  —  7.  Annette  v.  Droste*Hülshoff :  Der  Knabe  im  Moor.  — 
•Das  Haus  in  der  Heide.  —  *Dcr  Heidemann.  —  Der  Weiher.  — 
*Der  sterbende  General.  —  Die  tote  Lerche.  —  Gethsemane.  — 

8.  Otto  Ernst:  Nis  Randers.   —  Genügen.  —  Ncujahrsgruss.  — 

9.  Gustav  Falke:  Die  Schnitterin.  —  *Zwicgcspiäch.  —  Die  Sorg- 
lichen. —  Vor  Tag.  —  'Die  Morgenprcdigt.  —  lO.  Theodor 
Fontane:  Letzte  Fahrt  —  Wo  Bismarck  liegen  soll.  —  Der  6.  No- 
vember 1632,  —  *ArchibaId  Douglas.  —  Herr  von  Ribbeck  auf 
Ribbeck  im  Havelland.  —  *John  Maynard.  —  (nitcr  Rat.  — 
11.  Reinhold  Fluchs;  Deutsches  Flottenhed.  —  Auf  einem  deutschen 
Berge.  —  12.  Martin  Greif:  Morgendämmerung.  —  Abend  im  Ernte- 
fcld.  —  Vor  der  Ernte.  —  •Die  einsame  Wolke.  —  13.  Gcrhart 
Hauptmann:  *Engeigesang  (Aus  ^^Hanneles  Himmelfahrt")  — 
14.  Friedrich  Hebbel:  Das  Kind  am  Brunnen,  —  Herbstbild.  — 
•Der  Heidcknabc.  —  *Schau  ich  in  die  tiefste  Ferne.  —  15.  Paul 
Heyi»e;  Morgenwind.  —  ■•'Cbcr  ein  Stündiein.  —  Vorfrülüing.  — 
Treueste  Liebe.  —  16.  Arno  Holz:  So  einer  war  auch  er!  — 
Winter.  —  Jüngst  sah  ich  den  Wind.  —  *Eeen  Boot  is  noch  buten. 

—  17.  Ludwig  Jacobe wsky :  Junge  Kät/chcn.  —  Am  Abend  des 
14.  Juni  i8S>>'.  -  -  Am  Morgen  des  15.  Juni  iSHS.  —  18.  (lottfried 
Keller:  Sonuncrnacht.  —  Stille  der  Nacht.  —  Abendlied.  —  -Schlaf- 
wandel.  —  •Die  kleine  Passion.  —  19^  Fritz  Lienhard:  Meinem  Vater. 

—  Vögel  im  Unwetter.  —  20.  Detlev  von  Liliencron :  Meiner  Mutter. 

—  *Das  taubstumme  Kind.  —  Abschied.  —  *Legende.  -  Tod  in 
Ähren.  —  Hcidcbilder.  —  Wer  weiss,  wo?  —  *Krie{T  und  Friede. — 
21.  Jacob  Loewenberg:  "''Gute  .\acht.  —  An  der  Strfissenecke.  —  Auf 
dem  Felde  der  Ehre.  —  Auf  der  Strassenbahn.  —  ♦Ännchens  Himmel- 
fahrt. —  22.  Julius  Lohmeyer:  Der  gute  König.  —  Ein  kleines  Nest. 

—  Unsere  Mainbrücke.  —  23.  Conrad  Vcrd.  .Mcycr:  Der  eleitcndc 
Purpur.  —  Luthcrlicd.  —  Hussens  Kerker.  —  Der  deutsche  Schmied. 

—  *Die  Füsse  im  Feuer.  —  Konradins  Knappe.  —  24.  Eduard 
Möricke:  Er  ist's.  —  •Der  Feuerreiter.  —  Denk'  es,  o  Seele.  — 
Zum  neuen  Jahr.  —  •Der  Zauberleuchtturm.  —  Um  Mitternacht.  — 


Anmerkung:  Die  mit  ^  bezeichneten  Gedtchlc  kuonea  bei  Mangel  an  Zeil 
fortbleiben. 


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—    294  — 


2$.  Frida  Schanz:  Der  singende  Eiscnbahnzuf^.  —  26.  Prinz  Emil 
V.  Sciiönaich-Carolath:  Daheim.  —  *Schleswig-Holstein.  —  Sommer- 
fest. —  *Neben  Gewittern.  —  27,  Victor  v.  Scheffel :  Alt  Heidelberg. 

—  Ausfahrt  —  28.  Heinrich  Seidel:  Bei  Goldhähnchens.  —  Die 
Speriinge.  —  Im  Herbste.  —  29.  Theodor  Storm:  Knecht  Ruprecht. 

—  Abseits.  —  Eine  Frühlincrsnacht.  —  30.  Johannes  Trojan :  T.crche 
und  I'"alk.  —  Der  schönste  Te[jpich.  —  *Xeues  von  draussen.  — 
31.  Heinrich  Vierordt:  Der  Sandmann.  —  Die  Grabstätten  der 
Namenlosen  (L  Insel  Sylt).  —  32.  Ernst  von  WUdenbruch:  Grross* 
mutter  Holzsammlerin.  —  Dem  F'ürsten  Bismarck.  —  Kaiser 
ITcinrich  IV.  —  Den  Söhnen  des  Vaterlands.  —  Der  Kaiserin 
Auguste  Viktoria.  —  Des  ersten  I  lohenzollern  Gruss  an  die  Mark. 

—  33.  Julius  VVollV:  Die  Fahne  der  Einundsechziger.  —  *Lied  des 
Rattenfängers  von  Hameln.  —  *Wo  dir  im  Leben  das  Gluck  er- 
blüht —  34.  Ernst  Ziel:  Abendfeier.  —  35.  Richard  Zoozmann: 
Bethlehem.  ^  *Welt  im  Kleinen.  —  Ameisen. 

Dass  neben  diesen  Gedichten  auch  einzelne  Wertstücke  der 
modernen  novellistischen  und  dramatischen  Literatur  geboten  werden 
müssen ,  mag  hier  nur  andeutungsweise  erwähnt  sein.  Die  weiter 
oben  gena nuten  Gedichtsammlungen  bringen  u.  a.  Kapitel  aus 
Liliencrons  ,,Kriegsnovellen",  aus  Frenssens  „Jörn  Uhl"  und  „Dorf- 
predigten", aus  Roseggcrs  „Wildlingen"  und  „VValdfcrien"  aus  Raabes 
„Chronik  der  Sperlinggasse",  aus  I^cyscs  ,,Colberg"  und  ans  Suder- 
manns .Jühaiuies".  (Für  etwaige  Neuauflagen  dieser  Sammlungen 
seien  auch  einzelne  Abscluiittc  aus  „Fcter  Moors  Fahrt  nach  Süd- 
west" von  Frenssen  zur  Aufnahme  empfohlen.) 

Wem  es  schwer  fallt,  in  seiner  unterrichtlichen  Tätigkeit  neue 
Bahnen  zu  beschreiten,  wer  sich  daran  gewöhnt  hat,  jeder  Ein- 
ni'Mu^g  neuer  Sfeofic  mit  Vorurteilen  gep;en{ibcrxutrcten .  dem  rr\n^ 
die  im  Vorauf^^ei^anj^renen  gekennzeichnete  Stoffmenge  eine  selbst 
unter  den  denkbar  günstigsten  Schulverhältnissen  nicht  zu  über- 
wältigende erscheinen.  Es  wvd  darum  Aufgabe  der  nachfolgenden 
Ausführungen  sein  müssen,  den  Nachweis  zu  erbringen,  dass  die 
MögHchkeit  ihrer  Eingliederung  in  den  I. ehrplan  sehr  wohl  vor- 
handen ist,  und  gleichzeitig  die  Wege  /.u  zeichnen,  auf  welclien  sich 
ihre  unterrichtliche  Darbietung  und  X'erwcrtung  bewerkstelligen  lässt. 

Die  Frage  der  Eingliederung  ist  zunächst  eine  Raumfrage,  deren 
Lösung  scheinbar  auf  grosse  Schwierigkeiten  stossen  muss.  Fast 
jeder  in  der  Praxis  stehende  Schulmann  empfindet  es  tägUch,  wie 
schwer  nach  der  stofflichen  Seite  h\r.  das  Schulschiff  belastet  ist, 
und  dass  es  kaum  nvigHch  ist,  in  seuieu  bescheidenen  Räumen  noch 
weitere  Ladung  zu  v  erstauen. 

Wird  nun  aber  die  eingangs  erörterte  Einfügung  wertvoller 
Gegenwartsstoffe,  zu  denen  die  hervorragendsten  Erzeugnisse  der 
modernen  Poesie  doch  ohne  Zweifel  gehören,  als  notwendig  an- 


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—   295  — 


erkannt,  so  muss  auch  für  ihre  Aufnahme  Raum  bereitgestellt 
werden,  und  dieser  lässt  sich  hauptsächlich  dadurch  gewinnen,  dass 
aus  den  zur  Zeit  geltenden  Lehrplänen  mit  beherzter  Hand  zahl- 
reiche Stoffe  gestrichen  werden  und  zwar  mit  derselben  Berechtigung, 
mit  welcher  z.  B.  der  Foistmann  in  gewissen  B^tänden  alten  oder 
morschen  Bäumen  die  Axt  an  die  Wurzel  legt,  um  neue  Pflanzungen 
anzulegen  oder  um  verheissunf^vollcm,  kcrnii^em  Nachwüchse  Platz 
und  Licht  und  Luft  zu  gedeihlicher  Entfaltung  zu  verhelfen. 

Kritische  Gänge  durch  das  Dickicht  der  überkommenen  Stoff- 
gebiete ergeben  ohne  langes  Suchen  Stellen,  wo  die  sichtendCp 
Raum  schaffende  Hand  angreifen  kann.  Die  vorliegenden  Aus- 
fiihrun^en  müssen  sich  auf  einige  Andeutungen  beschränken. 

Zunächst  vermag  der  Deutschunterricht  im  eigenen  Hause  für 
unsere  Zwecke  Raum  zur  Verfügung  zu  stellen.  Ks  ist  schon  an 
einer  Reihe  von  Beispielen  nachgewiesen  worden,  dass  die  meisten 
der  zur  Zeit  gebräuchlichen  Lesebücher  in  verhältnismässig  grosser 
Zahl  Gedichte  enthnltcn,  die  nicht  allein  des  hochzeitlichen  Kleides 
moderner  Formeüschonheit  vollständig  ermangeln,  sondern  auch 
nach  ihrem  Inhalte  als  durchaus  veraltet  angesehen  werden  müssen. 
Wenn  diese  von  zeitgenössischen  Schulleuten  nicht  ohne  Ghrund  als 
j^^adenhüter"  bezeichneten  Gedichte  ohne  Erbarmen  ausgemerzt 
werden,  so  wird  schon  dadurch  allein  ein  breiter  Raum  für  die 
Einfügung  gehaltvoller  Stoffe  aus  der  Poesie  unserer  l  äge  gewonnen. 

Auch  das  mit  Freuden  zu  begrüssende  Bestreben  vieler  Päda* 
gogen  unserer  Zeit,  die  grosse  &hl  der  zur  Unterstützung  der 
übrigen,  namentlich  der  ethischen  und  realistischen  Lehrnicher 
bisher  in  die  Lesebücher  aufp;enommenen  Sprüche,  Geschichten,  Ge- 
schichtchen und  sonstiL^er  kleiner  Stücke  auf  ein  weit  geringeres 
Mass  zu  beschränken  und  an  die  Stelle  dieser  sowohl  in  Unterricht- 
lidier  als  auch  in  erdehlicher  Hinsicht  wenig  wirksamen  Bruchstück- 
literatur  grössere,  zusanunenhängende  Darbietungen  mit  zeitgemässem 
Inhalte  zu  setzen,  lässt  die  Hoffnun>:j  aufkommen,  dass  es  möj^lich 
sein  werde,  die  erwünschte  Verjüngung  des  Stoifplans  mühelos 
herbeizuführen. 

Endlich  lässt  sich  auch  —  namentlich  in  den  Vo I ks s chu len  aller 

Gattungen  —  durch  Zurückdrängung  des  rein  grammatischen  Stoffes 
Platz  schaffen  für  die  Eingliederung  und  Betrachtung  neuer  poetischer 
St'jrke.  Noch  immer  gibt  e»;  Schulen,  welche  Grammatik  um  ihrer 
selbst  willen  treiben  und  also  ganz  vergessen,  dass  sie  im  wesent- 
lichen nur  die  bescheidene  Dienerin  des  orthographischen  Unterrichts 
sein  soll.  Wer  dazu  bedenkt,  dass  selbst  bei  geschicktester  Be« 
haodlung  trockene  granmiatische  Erörterungen  unsern  Schülern  meist 
nur  recht  wenig  Geschmack  abgewinnen,  der  wird  gern  zugeben, 
dass  in  einer  Reiiie  formvollendeter,  gehaltreicher  Gedichte,  deren 
Behandlung  an  ihre  Stelle  gesetzt  wird,  bei  weitem  höhere  Bildungs- 
werte liegen. 


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Auch  in  den  übrigen  Lehrgegenständen  lässt  sich  sehr  wohl 
durch  Ausscheidung  veralteter  oder  als  wertlos  erkannter  Stoffe 
manches  Plätzchen  zur  Einschiebung  eines  inhaUreichen  modernen 
Gedichts,  welches  den  Zwecken  der  Belebung  und  Vertiefung 
dienen  kann,  schaffen.  Ziele  und  Wege  hierzu  sollen  weiter  unten 
dargelegt  werden. 

Zuvor  mag  mit  kurzen  Worten  darauf  hingewiesen  werden, 
dass  sich  der  grösste  Gewinn  an  Raum  und  Zeit  durch  ein  zweck- 
mässig gehandhabtes  Verfahren  bei  der  unterrichtlichen 
Behandlung  der  poetischen  Lehrstoffe  erzielen  lässt. 

Noch  immer  herrscht  in  \  :rl' n  Schulen  jene  pedantische  Er- 
klärungssucht ,  welche  „sich  nimmer  erschöpfen  und  leeren"  will 
und  welche  die  Hauptursaclie  der  betrübenden  Erscheinung  ist, 
dass  im  langen  Laufe  eines  ganzen  Schuljahrs  im  besten  Falle  zehn 
bis  zwölf  Gredichte  als  sogenannte  „poetische  Musterstücke"  zur  Be- 
handlung und  mühevollen  Aneignung  gelanf^cn. 

Die  herkömmliche  Betrachtungsweise  muss  als  das  beklagens- 
werte Produkt  einer  verkehrten  Auffassung  des  Zweckes  jener  dick- 
leibigen Erläuterungswerke  angesehen  werden,  welche  in  den  letzt- 
verflossenen Jahrzehnten  zu  Dutzenden  veröffentlicht  worden  sind. 
Diese  Kommentare  stellen  es  sich  mit  wenigen  Ausnahmen  zur 
Aufgabe,  jede  Strophe,  jede  Zeile,  ja  fast  jedes  Wort  einer  Dichtung 
bis  zum  Tüpfelchen  auf  dem  1  zu  erläutern.  Sie  ziehen  zu  diesem 
Behufe  alle  nur  möglichen  geschichtlichen,  erdkundlichen,  ethno- 
graphischen und  naturkundlichen  Erklärungen  —  oft  an  den 
Haaren  —  herbei  und  können  es  nicht  verwinden,  bei  jedem  Ge- 
dichte eine  Disposition  aufzustellen,  einen  Grundgedanken  heraus- 
zuheben, ausgedehnte  Betrachtungen  über  metrische  und  dichterische 
Kunstformen  beizufügen,  zahlreiche  Themata  für  anzuschliessende 
schriftliche  Arbeiten  zu  bezeichnen  u.  a.  m.  Wird  nun,  was  meist 
geschieht,  im  Unterricht  He  Behandlun^^  der  Gedichte  in  dem  ge- 
schilderten Masse  unt^cbührlich  in  die  Breite  crezogen,  so  darf  es 
rucht  wundernehmen,  wenn  im  Laufe  der  langen  Schulzeit  nur 
wenige  unserer  deutschen  Dichter  zu  Worte  kommen,  abgesehen 
von  den  Nachteilen,  welche  in  psychologischer  Beziehung  durch  die 
sich  ergebende  stüdeweise  Darbietung  und  Verarbeitung  des  Stoffes 
entstehen. 

Es  maj^'  zur  Rechtfertigung  der  Verfasser  angenommen  werden, 
dass  sie  ihre  breitangelegtcn  Erläuterungswerke  nur  für  die  persön- 
lichen Studien  des  Lehrers  berechnet  haben;  aber  es  kann  auch 
kein  Zweifel  daran  sein,  dass  viele  Lehrer  sich  insofern  einer  miss- 
bräuchlichen  Anwendung  dieser  Kommentare  schuldig  machen,  als 
sie  in  ihrer  unterrichtlichen  Praxis  in  ganz  unselbstiindi<:^cr  Weise 
sich  Wort  für  Wort  an  die  dargebotenen  Entwürfe  und  ausgeiunrien 
Lektionen  halten  und  damit  in  jenes  Breittreten  verfallen,  welches 
eine  Verwasserung  der  Poesie  bedeutet   Wie  augenfällig  tritt  der 


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Unterschied  zwischen  den  Kommentaren  älteren  und  neueren  Datums 
hervor,  wenn  man  beispielsweise  die  noch  heute  7.ur  unterrichtliclien 
Vorberf-itun*:^  gern  benutzten  „Poetischen  Musterstücke"  von  Wunder- 
lich und  das  vor  etwa  vier  Jahren  erschienene  Linkesche  Fräparations- 
werk  „Poesiestunden"  in  Vergleich  zieht) 

In  welcher  Weise  muss  sich  die  unterrichtliche  Behandlung 
eines  Gedichts  p^cstnltcn ,  damit  mö<::^Hchst  an  Zeit  gespart  und 
Raum  für  die  Darbietuni^  möglichst  vieler  Dichtungen  gewonnen 
werde,  ohne  der  gemütsbildendenden  Wirkung  irgendwie  Abbruch 
zo  tun? 

Zunächst  mag  darauf  hingewiesen  werden,  dass  sich  im  Hin* 
blick  auf  die  X'ielgestaltigkeit  der  poetischen  Lehrstoffe  inbezug  auf 
das  unterrichtliche  Verfahren  bestimmte  Grenzen  nicht  ziehen  und 
feste  Regein  nicht  aufstellen  lasse«,  hs  hiesse  einem  Kunstwerke 
Gewalt  antun,  wollte  man  die  Behandlung  dnes  Gredichts  in  die 
Zwangsjacke  eines  Schemas  pressen. 

Wie  viel  oder  wie  wenig  über  ein  darzubietendes  oder  dar- 
gebotenes Gedicht  zu  reden  ist,  ist  ganz  individuell  und  wird  einer- 
seits durch  seinen  Inhalt  und  seine  Form  bedingt  und  hängt 
andrerseits  von  den  Faktoren  ab,  deren  Gesamtheit  man  als  das 
gegenständliche  und  geistige  Milieu  des  Kindes  bezeichnen  kann. 

Im  allgemeinen  muss  tunlichste  Kürze  die  Signatur  der  Ge- 
dichtbetrachtung sein.  Nur  bei  nichtlyrischen  Dichtungen  wird  die 
Behandlung  bisweilen  einen  weiteren  Umfang  nehmen  dürfen,  sofern 
nicht  etwa  schon  ausserhalb  der  betreflfcnden  Literaturstunde  der 
Boden,  aus  dem  der  Inhalt  des  Gedichts  entsprossen  ist,  hinreichend 
bearbeitet  wurde. 

Der  unterrichtende  Lehrer  soll  sich  dem  7.\\  behandelnden  Ge- 
dichte gegenüber  nicht  in  der  Rolle  des  Hotanikcrs  fühlen,  iler  eine 
Blüte  unter  die  Lupe  nehmen,  ja  zergliedern  darf,  um  ihren  inneren 
Bau  zu  erforschen;  er  muss  vielmehr  dem  Naturfreunde  gleichen, 
der  sich  an  dem  Dufte  und  der  Farbenpracht  einer  Blume  erfreut, 
ohne  sie  zu  zerpflücken. 

In  gewissem  Sinne  lässt  sich  behaupten,  dass  der  bei  der  Be- 
handlung eines  Gedichts  einzuschlagende  Weg  eine  Umkelu  ung  des 
bisher  beliebten  Verfahrens  sein  muss.  Während  bislang  viele 
Methodiker  das  Vortragen  bezw.  Vorlesen  eines  Gedichts  als  den 
notwendigen  Ausgangspunkt  der  Hehandlung  Ijezeichnctcn,  dem  die 
eingehende  Zergliederung  mit  ihrem  Drvun  und  Dran  sich  an- 
schHessen  musste,  wird  von  den  Reformern  mit  grosser  Berechtigung 
die  Forderung  aufgestellt,  dass  die  Hauptsache  der  Behandlung  in 
der  Form  einer  Vorbereitung,  einer  „Einstimmung,  welche  die 
Situation  des  Gedichts  entrollt",  der  Darbietung  des  Textes  vorauf- 
gehen müsse. 

Diese  Vorbereitung  hat  den  Zweck,  die  der  .Auffassung  des 
Gedichts  etwa  im  Wege  stehenden  Schwierigkeiten  fortzuräumen. 


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—  2gS  — 


den  Schleier,  welcher  seine  Schönheit  verdeckt,  hinwegzuziehen  und 
die  Hörer,  hier  also  die  Schüler,  in  jene  Stimmung  und  Spannung 
zu  versetzen,  welche  Adolf  Stöber  in  den  Worten  andeutet: 

Willst  du  lesen  ein  Gedicht, 
sammle  dich  wie  zum  Gebete, 
dass  vor  deine  Seele  licht 
das  GebUd  der  Schönheit  trete. 

Ist  dtird)  die  Vorbesprechung  einer  sachlidi<richtigen  und  ge« 
mütvoUen  Auffassung  der  Boden  geebnet,  so  folge  die  Darbietung 

des  Gedichts  durch  eine  Vortragsweise,  von  deren  Qualität  die 
Wirkung  zum  g^rösstcn  Teile  abhängt,  also  in  einem  Tone,  „der  aus 
der  Seele  dringt  und  mit  urkräftigem  Behagen  die  Herzen  aller 
Hörer  zwingt".  Bei  vielen  Dichtungen  hat  der  Lehrer  durch  eine 
warmherzige  Darbietung  die  Hauptarbeit  getan. 

Was  noch  /u  tun  bleibt,  ist,  dass  der  Lehrer  unter  Fernhaltung 
alles  beabsichtigten  Asthetisierens  und  jeder  trockenen  Gelehrsamkeit 
durch  das  Mittel  einer  kurzen  Besprechung  den  tieferen  üehalt 
eischliesst  und  die  Schüler  die  Schönheit  der  poetischen  Form 
finden  und  fühlen  lässt  Je  mehr  der  Lehrer  dabei,  fem  von  allem 
rhetorischen  Uberschwang,  „Lieb'  und  Glauben  in  die  Form  giesst," 
desto  ruhifTcr,  kräftiger  und  nachhaltiger  wird  sich  die  Wirkung  auf 
Geist  und  Gemüt  gestalten. 

Die  Besprechung  muss  durchaus  darauf  verachten,  alles  erklären 
zu  wollen.  Ihr  Zweck  ist  vollkommen  erreicht,  wenn  das  Kind  das 
Wesentliche  einer  Dichtung  erfasst  hat,  wenn  das  Aufleuditen  der 
Augen  eine  tiefere  Wirkung  verrät.  Was  etwa  nicht  tief  genug 
erfasst  worden  ist,  darf  der  Lehrer  sorglos  dem  Leben  anvertrauen. 
Sobald  der  Lehrer  nur  die  Gewissheit  hat,  dass  der  Schüler  die 
dargebotene  poetische  Gabe  mit  freudigem  Interesse  aufgenonunen 
hat,  dann  kann  er  gewiss  sein,  dass  die  Erfahrungen  des  Lebens 
2u  rechter  Zeit  das  k  >  tl  are  (lefass  mit  wertvollem  Tnhnke  füllen 
werden.  Ein  gehaltvolles  Gedicht  muss  dem  hchiiler  für  seui  ganzes 
Leben  etwas  bieten^  es  muss  eine  bleibende  Wirkung  haben  und 
muss  die  Kraft  in  sich  tragen,  in  der  Seele  des  Kindes  sich  all- 
mählich zu  einem  inneren  Erlebnis  zu  verdiditen. 

Wenn  so  bei  der  Hehandlung  an  dem  richtigen  Verhältnis 
zwischen  Dichtung  und  Auslegung  festgehalten  wird  und  zw*ar  in 
dem  Sinne,  dass  die  erstere  die  Hauptsache,  die  letztere  aber  immer 
nur  die  bescheidene  Dienerin  bleibt,  dann  wird  ein  doppelter  Zweck 
erreicht:  Raum-  und  Zeitersparnis  zum  Zwecke  der  von  uns  als 
unerlässlich  l)ezeichneten  Stoffverjüngung  und  ein  vermehrtes  Inter- 
esse für  die  erhabene  Kunst  der  l'oesie.  Denn  je  kürzer,  zwang- 
loser und  gemütvoller  die  Behandlung  der  Gedichte  in  der  Schule 
sich  gestaltet,  mit  desto  grösserer  Gewissheit  darf  darauf  gerechnet 
werden,  dass  die  Schüler  schliesslich  aus  sich  selbst  heraus«  also 


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—  299 


ohne  unmittelbare  Weisung  und  Leitung  seitens  der  Lehrenden  für 

den  Umg^anc^  mit  der  Poesie  lebhaftes  Interesse  gewinnen  und  dass 
dadurch  die  in  dem  iieran wachsenden  Geschlechte  leider  weit- 
verbreitete Abneigung  gegen  poetische  Lektüre  allmählich  an  Boden 
verliert 

Es  mag  hier  auch  darauf  lüngewiesen  werden,  dass  der  Lehrer 
auf  keinen  Fall  von  seinen  Schülern  fordern  darf,  alle  behandelten 
(ledichte  auch  auswendicj  zu  lernen.  Gewiss  wird  in  jedem  Schul- 
jahre eine  bestimmte  Reihe  von  Gedichten  zur  wörtlichen  Aneignung 
gelangen;  aber  fiber  dieses  Mass  hinaus  wird  das  Memorieren  ganz 
der  freien  Betätigung  überlassen  bleiben  müssen.  Je  mehr  es  dem 
Lehrer  fTclin*:^.  in  d^-ii  Herzen  seiner  Schüler  Liebe  zur  Poesie  zu 
entfaciien,  desto  meiir  wird  sich  jeglicher  Zwang  als  entbehrlich 
er  vs  eisen. 

In  der  Erwägung  der  Frage,  auf  welche  Weise  sich  ein  um- 
fangreicheres Bekanntwerden  unserer  Schuljugend  mit  den  schönsten 
Perlen  der  neuzeitlichen  Dirhtuni^  und  ihr  ■  nntrrrichtliche  Einreihung 
ermöglichea  lässt»  sei  nunmehr  eines  weiteren  Mittels  Erwähnung 
getan. 

Wie  die  Dichtkunst  geeignet  ist,  mit  ihrem  belebenden  Glänze 
das  gesamte  menschliche  Dasein  zu  erhdlen  und  zu  erklären,  so 

besitzt  sie  auch  die  Kraft,  ausser  im  deutschen  Sprachunterrichte 
auch  in  anderen  Lehrgegenständen  Licht  zu  spenden,  erklärend  zu 
wirken,  das  Interesse  zu  vertiefen,  Leben  zu  wecken.  In  dieser 
Erdehung  bilden  gerade  die  Erzeugnisse  der  neueren  und  neuesten 
Dichtung  eine  ergiebige  Fundgrube.  Welcher  praktische  Sdiulmann 
wollte  seine  Schüler  nicht  so  oft  als  nur  möglich  an  diesem  munter 
sprudelnden  Quell  trinken  und  sich  erfrischen  lassen! 

Inbezug  auf  den  Religionsunterricht  macht  Paul  Staude^) 
von  „poetischen  Zugaben'',  als  welche  er  die  seinen  „Präparationen" 
angeschlossenen  Gedichte  bezeichnet,  in  weitestem  Umfange  Ge* 
brauch.  Er  greift  namentlich  zu  Dichtungen  aus  den  ersten  und 
mittleren  Jahrzehnten  des  vorigen  Jahrhunderts.  Zum  Zeugnis 
dafür,  dass  aber  auch  die  Poesie  unserer  Tage  ihre  Gaben  zur  Be- 
lebung und  Vertiefung  des  Rehgionsunterrichts  darbietet,  sei  z.  B. 
auf  folgende  Dichtungen  hingewiesen:  i.  Benzmann,  Christus  be- 
ruhigt das  Meer  fein  prächtiges  dichterisches  Gemälde  zur  Ge- 
schichte von  der  Stillung  des  Seesturois/.  2.  Carmen  Sylva.  Zum 
letztenmal  (Jüngling  zu  Xain).  3.  Zoozmann,  Bethlehem  (VVeihnachts- 
geschichte).  4.  Gustav  Falke,  Die  Sorglichen  (Warnung  vor  nutz- 
bser  Sorge,  Matthai  6,  2$ — 34).  5.  Droste-Hül^ofT,  Gethsemane  — 
und  als  Pendant  hierzu  6.  Detlev  v.  Lilieiicron,  Lqzende.  7.  Felix 
Dahn,  Wo  ist  Gott^  (1.  Artikel.)   8.  Lohmeyer,  Der  gute  König 


Faul  Suade,  Präpäratioaen  fiir  den  Kcligionsuntcrricht  in  danteUeader  Form. 
6  Hefte.  Langeitsaba,  H.  Beyer  &  Söhne. 


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(3.  Gebot).  9.  Liliencron,  Meiner  Mutter  (4.  Gebot).  lO.  C  F.  Meyer, 
Alle  (4.  Ritte). 

Der  Geschichtsunterricht  hat  es  von  jeher  verstanden, 
poetische  Erzeugnisse  seinen  Zwecken  dienstbar  zu  machen,  und 
auch  in  der  zeitgenössischen  Dichtung  findet  er  eine  Fülle  von 

wirkungsvollen  Stoffen,  Die  folgende  Blütenlese  beweise  es:  A.  Zur 
deutschen  Geschichte:  i.  Felix  Dahn,  Siegesgesan«^  nach  der  Varus- 
schlacht. 2.  Dahn,  Gotentreue.  3.  Avenarius,  Rolands  Horn. 
4.  Lingg,  Heerbannlied.  5.  Gerok,  Heinrich  der  Vogler  (Pendant 
zu  dem  gleichnamigen  Voglschen  Gedichte).  6.  C.  F.  Meyer,  Der 
gleitende  Purpur  (Otto  I.  und  sein  Bruder  Heinrich).  7.  Lingg,  Die 
Feme.  8.  E.  v.  Wildenbrudi.  Kaiser  Heinrich  TV.  9.  C.  F.  Meyer, 
Konradins  Knappe.  lO.  C.  F.  Meyer,  Hussens  Kerker.  II.  Fontane, 
Der  6.  November  1632.  —  B.  Zur  prcussisciien  Geschiciile: 
I.  E.  V.  Wildenbruch,  Bclehnung  des  Burggrafen  Friedrich  von 
Nürnberg  mit  der  Mark.  2.  Lili  r  on,  Wer  weiss,  wo  (Kolin, 
18.  Juni  1757).  3.  Richard  Dehmel,  .Anno  Doinini  1812.  4.  Loh- 
nieyer.  Die  Mainbrücke  (Einigung  zwi.schen  Nord  und  Sud  1870). 
ü.  Julius  VVolff,  Die  Fahne  der  Einundseciuiger.  6.  Wilhelm  Jensen, 
Lieder  aus  Frankreich.  7.  Dahn,  Saint  Privat  8.  Dahn,  Vor  Sedan. 
9.  Karl  Stieler,  An  Anfrag.  10.  Fontane,  Letzte  Fahrt  (Tod  Fried- 
richs III.).  II.  Jacobowsky,  Am  .Abend  des  14.  Juni  1888,  12.  Jaco- 
bowsky,  Am  Morci^en  des  15.  Juni  i8ss.  13.  K.  v.  Wildenbruch, 
Dem  Fürsten  Bismarck.    14.  Fontane,  Wu  Bismarck  liegen  soll. 

In  weit  geringerem  Masse  als  die  Geschichte  hat  die  Erd- 
kunde bisher  an  der  unterrichtlichen  Förderung,  die  aus  einer 
7.wcckniässij:;;"cn  FinfijtTun';:^  und  \'cn,vertun;^  poetischer  StotTe  cr- 
wäclist.  teihiehnien  cHirfen.  L'nd  doch  tut  gerade  diesem  L'ntcr- 
richtszwcige,  der  mehr  als  jeder  andere  einerseits  der  Gefahr  einer 
Anhäufung  von  Namen  und  Zahlen  ausgesetzt  ist  und  andrerseits 
die  höchsten  Anforderungen  an  die  Phantasie  der  Schfiler  stellt,  die 
grÖSStmöglich.ste  Entfesselung  des  Interesses  not. 

Wodurch  Hesse  sich  aber  eine  schönere  und  zweckentsprechendere 
Belebung  und  Vertiefung  des  Unterrichts  erreichen  als  durch  ziel- 
bewusstes  Einflechten  passender  Gedichte  in  den  Kränz  der  Land* 
Schaftsbilder,  welche  die  Schüler  auf  der  Wanderung,  im  Bilde  oder 
im  Geiste  schauen  dürfen?  Welcher  Lehrer  möchte  z.  ß.  bei  der 
Schilderung  der  I.ünehurger  Heide  auf  Theodor  Storms  prächtiges 
Gedichtchen  „Abseits"  oder  auf  Liliencrons  Zyklus  „Heidebilder" 
verzichten.'  Wer  wäre  imstande,  ein  anschauliches  Bild  von  dem 
Leben  an  der  deutschen  Meeresküste  zu  entwerfen  ohne  Bezugnahme 
auf  die  Gedichte  „Strandbild"  von  Rudolf  von  Gottschall,  „Wassers- 
not" von  Allmers,  „Nis  Ränder^*'  von  Otto  Ernst  und  „Tnsel  Sylt" 
von  \'ierordt'  Für  die  ScliibJcruni,'  einer  friesischen  .Vloorlandschaft 
findet  sich  in  der  neuereu  Literatur  kaum  ein  dichterisch-schönerer 
Ausdruck  als  in  der  Ballade  „Der  Knabe  im  Moor"  von  Annette 


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—   30t  — 


von  Droste  -  Hüishoft".  Welchen  schönen  Abschluss  für  die  Be- 
trachtung Thüringens  bietet  die  Verwertung  von  Rudolf  Bamnbachs 
Gedicht  „Mein  Thüringen"!  Wer  wird  an  der  schönsten  aller  Neckar- 
städte vorübergehen  wollen,  ohne  einzustimmen  in  Viktor  v.  Scheffels 
„All  Heidelberg,  du  feine"?  —  So  hat  jede  deutsche  Landschaft 
ihre  Poesie.  Und  wenn  der  Schüler  an  der  Hand  des  Lehrers  im 
geographischen  Unterricht  ganz  Deutschland  vom  Fels  bis  zum 
Meer,  von  der  Maas  bis  zur  Memei  durchwandert  hat,  dann  soll  er 
mit  Emil  von  Schönaich-Caroladi  am  Schlüsse  seines  Achtzeilers 
„Daheim"  begeistert  ausrufen: 


Auch  für  die  naturgeschichtlichen  Stunden  bietet  die 

zeitgenössische  Dichtvm«^  mancherlei  Stoffe  dar,  welche,  am  richtigen 
Platze  zu  geeigneter  Zeit  in  rechter  Weise  benutzt,  vorzÜGflich  da'/u 
geeignet  sind,  die  Schüler  zu  einer  „sinnigen"  Naturbetrachtung  zu 
fuhren.  Diesem  Zwecke  können  z.  B.  die  nachstehend  verzeichneten, 
zumeist  sehr  kurzen  Gedichte  dienen:  A.  Zur  [Pflanzenkunde: 
I.  Avenarius.  X'oin  Kirschbaum  fvortrefifliches  Seiteiistück  zu  dem 
gleichnamigen  Gedichte  von  Peter  Hebel).  2.  Ben/.niann ,  Heide- 
märchen (schildert  den  Blütenieupich  des  Heidekrauts}.    3.  Keller, 


rauschen  (ebenfalls  für  die  Erntezeit).  5.  Baumbach,  Die  Gäste  der 
Buche  (Waldleben).  —  B.  Zur  Tierkunde:  i.  Heinrich  Seidel,  Hei 
Goldhähnchens.  2.  Heinrich  Seidel,  Die  Sperlinjje.  3.  Trojan, 
Lerche  und  Falke  (Leben  und  Verfolger  der  Lerche).  4.  Trojan, 
HasensalaL  5.  EmU  Weber,  Waldabenteucr  (Eichhörnchen).  6.  Falke, 
Zwiegespräch  (Leben  auf  dem  Geflögelhofe).  7.  Baumbach,  Der 
Holzwurm.  8.  Zoozmann,  Ameisen.  9.  Keller,  Die  kleine  Passion 
(Insekteiileben  und  -sterben),  lü.  Lohmeyer,  Lin  kleines  Nest 
(Vogelschutz).  II.  Jordan,  Sei  mitleidsvoll  (Warnung  vor  Tier- 
quilerei)! 

Über  die  zweckmässigste  Art  und  Weise  der  Einfügung  solcher 
Gedichte,  welche  vornehmlich  zur  Würze  und  zur  Vertiefung  ge- 
wisser Lehrstoffe  dienen  sollen,  muss  die  „gebietende  Stunde"  ent- 
scheiden. Nur  in  ganz  seltenen  Fällen  werden  sie  den  Ausgangs- 
punkt einer  Lektion  bilden  können;  sie  werden  vielmehr  entweder 
getreten  Orts  in  die  unterrichtliche  Behandlui^  verflochten  werden 
oder  als  Zugabe  den  Schluss  bilden  müssen. 

Wie  die  unterrichtliche  Verknüpfung^  ist  auch  die  Art  der  Dar- 
bietung dieser  Gedichte  ganz  und  gar  von  den  jeweiligen  Verhält- 
nissen abhängig.  Die  V^ermittlung  kann  ebensowohl  dadurch  er- 
folgen, dass  der  Lehrer  sie  vorträgt  bezw.  vorliest,  als  dadurch, 
dass  sie  an  passender  Stefle  von  den  Schiilem  gelesen  oder  mög- 
lichenfalls gesungen  werden.    Dass  übrigens  auch  bei  solchen 


Sei  :ri"r  f:i-;::riis>t.  mr!::  'Ir-iit- lii 
Du  schüostcs  Land  von  allen! 


4.  Avenarius,  Kom- 


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—    302  — 


Gedichten,  welche,  ohne  in  der  Deutschstunde  behandelt  zu  sein, 
in  den  andern  Unterrichtsiachem  zur  Belebung  und  Vertiefung 
herangezogen  werden,  nötigenfalls  eine  kurze  Besprechung  am  Hatze 
istf  liegt  auf  der  Hand. 

Schliesslich  bieten  auch  Schulfeierlichkeiten  aller  Art 
(Kaisergeburtstag,  Sedanfest,  Gedenkfeierr.,  Reformationsfest,  Schülcr- 
entlassung)  und  Elternabende  reiche  Gelegenheit  zur  Verwertung 
neuzeitlicher  Dichtungen.  Leider  wird  bei  der  Aufstellung  von 
Programmen  fast  ausschliesslich  zu  jenen  veralteten  Deklamations* 
Stoffen  und  saft-  und  kraftlosen  Reimereien  gegriffen,  die  zumeist 
den  Inhalt  zahlreicher  „Festbüchiein"  für  die  Hand  des  Lehrers  oder 
der  Schüler  bilden. 

Wenn  Festgedichte  wirken,  d.  h.  die  feierliche  Stimmung  er* 
höhen  sollen,  so  müssen  sie  im  Festgewande  einherschreiten  und 
die  Sprache  des  Herzens  reden.  Solchen  Anforderungen  genügen 
beispielsweise  die  folgenden  Gedichte  aus  jüngstvergangener  Zeit: 
A.  Für  patriotische  Feste:  l.  E.  v.  Wildenbruch,  Den  Söhnen  des 
Vaterlands.  2.  Reinhold  Fuchs,  Auf  einem  deutschen  Betge. 
3.  R.  Fuchs,  Deutsches  Flottenlied.  4.  C.  F.  Meyer,  Der  deutsche 
S  Ii  mied.  —  B.  Zum  Rcfnrmnttnnsfestc :  I.  C  F  Meyer,  Hussens 
Kerker.  2.  C.  F.  Meyer,  Lutiierlicd.  3.  Fontane,  Der  0.  Xo%'ember  1632. 
—  C.  Zur  Schulentlassung;  i.  Benzmann,  Christus  beruhigt  das  Meer. 
2.  F.  W.  Weber.  Am  Amboss.  3.  Jutius  Wolff»  Wo  dir  im  Leben 
das  Glück  erblüht.   4.  Lingg,  Heimkehr. 

Wir  sind  am  Schlüsse.  Die  voraufgeganj^enen  Darlcg^ingcn 
haben  zunächst  den  Nachweis  fuhren  wollen,  dass  die  deutsciie 
Schule  die  Pflicht  hat,  der  zeitgenössischen  Dichtung  im  Rahmen 
der  bestehenden  Lehrplane  einen  breiteren  Raum  als  bisher  zu  ge- 
währen. Sodann  ist  eine  genau  erwogene  Auswahl  deijenigen 
neuen  Gedichte  dart^ebotcn  worden,  welchen  unter  Belseiteschicbun«:^ 
veralteter  oder  als  wertlos  erkannter  Stoffe  unbedin^^t  das  Gastrecht 
in  unseren  Schulen  zugestanden  werden  muss.  Schliesslich  ist  ver- 
sucht worden,  die  Bahnen  tu  bezeichnen,  auf  denen  die  geforderte 
Verjüngung  des  Stoffplans  ausführbar  ist. 

Hiermit  kann  die  Schule  jedoch  ihre  Aufi^abe  nicht  als  er- 
schöpft ansehen.  Auch  ausserhalb  des  eigentlichen  Unterrichts 
stehen  ihr  Mittel  zu  Gebote,  dem  heranwachsenden  Geschlechte  ein 
regeres,  tieferes  Interesse  für  die  reichen  Schätze  der  Gegenwarts- 
dichtung einzuflössen. 

Es  wird  sich  vor  allem  empfehlen,  den  Schül  erbüchereien 
einic^e  der  vorhin  bezeichneten  Antholoj:nen  in  mehreren  Exemplaren 
einzuverleiben  und,  nachdem  im  Verlaufe  des  Unterrichts  der  Boden 
zubereitet  ist,  die  Schüler  dahin  zu  beeinflussen,  dass  sie  bei  der 
Auswahl  der  Bücher  fiir  ihre  hausliche  Lektüre  vornehmlich  auch 
nach  den  vorhandenen  Gedichtsammluf^en  greifen,  sie  auch  Rienau 
lesen  und  Freude  daran  empfinden.  BuUge  Sammlungen,  wie  die 


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von  Dr.  K.  Lanj^e  und  Aui;ust  Lomberg,  welche  für  nur  lo  bczw. 
20  Pfennige  zu  haben  sind,  müssen  als  Ergänzung  zum  Klassen- 
lesebuche  in  den  Händen  aller  Schüler  sein. 

Bis  ins  Elternhaus  hinein  wird  ein  Lehrer,  der  das  Vertrauen 
seiner  Schuli^cmeinde  im  weitesten  Umfange  geniesst,  ^rine  He- 
mühun^jen  um  die  Herbeiführung  einer  höheren,  allgemeinen  VVert- 
sciiatzung  der  modernen  Dichtung  tragen  dürfen  und  zwar,  wenn 
es  mit  der  Wärme  des  Herzens  geschieht,  nicht  ohne  die  ge- 
wünschten Erfolge.  Es  wird  ihm  nicht  allein  gelingen,  die  Eltern 
und  sonstigen  Erzieher  dahin  zu  brinpjcn ,  dass  sie  ihren  Pflege- 
befohlenen „Dichtergaben"  in  Form  guter  Anthologien  auf  den 
Geburtstags-  oder  Weihnachtstisch  legen,  sondern  dass  auch  im 
Kreise  der  schulentwachsenen  Personen  der  Familie  das  Interesse 
fär  die  Schöpfungen  zeitgenössischer  Dichtkunst  Wurzel  lasst  und 
nach  und  nach  an  Ausdehnung  gewinnt. 

Wenn  die  Schule  der  deutschen  Dichtung,  insbesondere  der 
zeitgenössischen,  aus  ihrer  gegenwärtigen  Aschenbrödelstellung  heraus- 
hilft, dann  leitet  sie  einen  Strom  des  Segens  ins  deutsche  Haus. 
Dann  bereitet  sie  der  Kunst  eine  gewichtige  Stelle  in  der  Erziehung; 
dann  fuhrt  sie  die  ihr  anvertraute  Jugend  an  die  frische  Quelle 
edelsten  Genusses;  dann  hilft  sie  Damme  bauen  gegen  die  trübe 
Flut  solcher  Literaturerzeugnisse,  welche  die  Sitten  untergraben  und 
die  Seelen  morden. 

So  lange  die  Schule  das  kostbare  Kleinod  der  deutschen 
Dichtung  mit  dem  rechten  Eifer  hegen  und  pflegen  hilft,  dann  wird 
ihre  das  Leben  verklärende  Wirkung  dem  Volke  erhalten  bleiben, 
und  es  wird  sich  erfüllen ,  was  der  jüngst  entschhimmerte  Dichter 
Prinz  Emil  zu  Schönaich-Carolath  wünscht,  indem  er  singt: 

Gesegnet  >e:st  du,  (!u  Lirrlrrpracht, 
du  tiefe,  du  dcuuche,  du  holde, 
dn  Scbatz,  der  unserm  V'^olke  lacht 
in  vDTci^liigUchem  Golde! 

Dich  Warden  hfltcn  und  latsen  nicht 

die  Herzen  von  dcutechcm  Schlage, 
auf  das»  ihr  Leben  bei  ernster  Pflicht 
•teti  lachende  Ito«eo  trage. 


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B.  Kleinere  Beiträge  uud  JütteiluiH^en. 

I. 

Heimatliunde  im  Freien. 

Von  J.  Colbna  in  St  Wendel. 

^Es  würde  alles  besser  gehen,  wenu  mau  mehr  ginge."  (Seume.) 

Seit  Fingers  „Anweisung  zum  Unterricht  in  der  Heimatkunde"  ist  die 
lätentar  anf  dieaam  Oelnete  eine  raiehluütige  geworden.  Trotsden  ftbendl 
Stimmen  laut  werden,  die  fUr  den  heimatkiittdiiehen  Unterricht  Wanderungen 

im  Freien  fonlem ,  so  t,^il)t  es  leider  immer  iiocli  Schulen,  in  denen  diesem 
Unterrichte  viel  zu  wenig  Wert  beiyeleijt  wird,  die  auf  Anschaulichkeit 
rerzichteu  und  deu  Unterricht  in  der  althergebrachten  Weise  swischen  den  vier 
Winden  erteilen,  anetatt  mit  den  Sebaiem  hinanerawandem  in  Gottes  heiriiclie 
Natur,  nm  ihnen  hier  Herz,  Angen  nnd  Ohren  fttr  ihre  Umgebmig  an  SSnen. 

Allerdings  treten  dem  Unterrichte  im  Freien  manche  Schwierigkeiten 
ents:faren.  In  grossen  Städten  sind  die  Weire.  nm  ins  Freie  zn  Erklangen,  manchmal 
«0  weit,  dass  in  einer  üuterrichtsstnude  nichts  erreicht  werden  kann.  Hier  w&re 
dann  eine  Zneanmenlegung  der  beiden  Woehenatuideii  an  «atrdien.  Wenn  der 
Geographielehrer  aneh  den  Unterrioht  in  der  Natmrgeechidite  ert^t,  so  kOnnen 
diese  beiden  Stunden  nacheinander  gehalten  werden.  Auf  Tnmmärschen  wird 
man  es  nicht  vcrsitumen.  die  Schüler  auf  Ei£rentümlichkeiten  des  heimatlichen 
Bodens  und  der  heimatlichen  Tier-  und  Pdauzeuwelt  anfmerksam  zu  machen. 
Sind  in  einer  Sehnle  mdirere  Altersstufen  vereinigt,  so  wird  daa  fttr  die  nntere 
Stofe  nen  Dniehsuarbeitende  annichst  eine  nOtalicbe  Wiederholong  fttr  die  ftlteien 
SohttlW  sein,  dann  kann  aber  auch  manrhes  erweitert  und  zum  Vergleich  heran- 
gezogen werden.  Vielleicht  iSsst  es  sicli  aber  ;iu<  h  enn("i£rHchen.  die  Schüler  zu 
bewegeu,  aa  freien  Nachmittagen  mit  dem  Lehrer  zusammen  ins  Freie  zu  wandern. 
Li  der  hiesigen  Seatta  haben  noch  immer  alle  hier  wohnenden  Schüler  an  solchen 
Anaflttgen  freiwillig  teOgenommen.  Wenigstens  sollte  der  Lehrer  die  Sebttler 
anregen,  ihre  Spaziergänge  weiter  Musndebnen  uud  auf  ihuen  die  vom  Lehrer 
bezeichneten  Geß:enstände  genau  anr.nsehen  oder  bestimmte  Vorjs:änge  zu  be<)1)- 
achten.  Manchen  Lehrer  wird  wühl  auch  das  Urteil  Fernstehender,  weiche  diese 
Wanderungen  als  nutzlose  Spaziergänge  betrachten,  abhalten.  Tut  der  Lehrer 
aber  nnentwegt  seine  Pftieht,  ao  wird  aneh  dieses  Urteil  getodert^  nnd  besonders 
die  Eltern  werden  bald  anders  über  diese  Wanderungen  denken,  wenn  ihnen  ihre 
Kinder  V(dl  Freude  über  die  schSnen  S]mziergänge  und  das  dort  Geseheue. 
Geliürle  und  Erh^bte  heriobten.  Andere  Lehrer  wieder  werden  anfahren ,  es  sei 
hei  iiberfuilteu  Klassen  schwierig,  die  uutweudige  Aufmerksamkeit,  Zucht  und 
Ordnung  in  erhalten.  Zugegeben!  Aber  bei  riehtigem  Takte,  gntem  Willen 
und  gründlicher  Vorbereitung  wird  auch  diese  Schwierigkeit  zu  Uberwinden  seia. 
Wie  in  der  Klasse,  so  müssen  auch  im  Freien  die  Schüler  jeden  Wink  des  Lehrers 
befolgen.  An  einem  bestimmten  Orte  sammeln  sie  sich  and  stellen  sich  in  Beib 


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—  305  — 


ttud  Glied  wie  beim  Tnraen  anf.  Nun  geht  es  geschlossen,  in  uiifrfzwnngener, 
freier  Ualtun^  dem  Ziele  eotgegen.  Glaubt  der  äcbtUer  etwas  Besonderes  za 
tdien  od«r  sn  kSren^  m  mMht  er  din  Ldinr  ätiävi  nimAmm.  An  geeigneten 
SteUeD,  die  der  Lehrer  ai«ih  vurber  gemerkt  hmben  niue,  wird  Helt  gemeebt  und 

die  Aufmerksamkeit  der  ScbUler  auf  ein  bestimmtes  Ziel  hingelenkt  Ist  die 
Anfgabe  di*'  sich  <ler  Lehrer  für  diese  Stelle  gesr*^!!t  hat.  erleiligt,  so  wird 
wtiterge wandt: l  t.  Wenn  während  des  Marsches  keine  lieobachtnngen  an  machen 
nndf  liiet  nieii  vieUeieht  ein  munteres  Liedchen  singen. 

Sollen  aber  die  Wanderangen  niebt  In  Uoeae  Bammeldea  aneerten»  lo  mitH 
lieb  der  Lehrer  anf  jede  einselne  Stunde  gewiiaenhaft  vorbereiten,  er  mvm 

wissen,  was  er  auf  den  einxelnen  Wanderungen  erzielen  kann,  welche  Stellen 
sich  am  besten  zum  Haltmachen  eignen.  Durch  Beobftchtnngsanfirahpn, 
die  den  Schalem  für  die  nächste  Stunde  gestellt  werden,  kann  ein  gewi&ües  Ziel 
einer  Wanderung  aebon  f^^elegt  werden.  Das  Ton  d«i  Sobfilw  in  ihrer  freien 
Zeit  Beobaiditete  wird  dann  anf  der  Wanderung  sellMt  noeh  unmal  angeiehant^ 
Falsches  wird  berichtigt.  Unvollständiges  ergänzt,  Fehlendes  nachgetragen.  Eine 
andere  Vorb<>reitung  ist  das  Verteilen  bestimmter  AnftrSge  an  die  Schüler  bei 
Beginn  der  Wanderung.  Jeder  Schiller  mnss  einen  Bleistift  und  ein  Taschenbuch 
(Heftdioi}  mitführen.  Dann  eriiftlt  ein  SdiAler  den  Auftrag,  den  Kompass  zu 
Terwahren,  ein  anderer  trigt  oiit  Stola  das  Femrohr,  dn  dritter  die  Hessleine 
oder  ein  10  m  langes  Seil,  bei  dem  die  einzelnen  Meter  dnrch  Knoten  oder 
fällige  Striche  bestimmt  sind.  Wicfipr  ein  artfb  n>r  Sfhiü'T  hat  für  die  General- 
stabskarte oder  eine  vom  Lehrer  augefertigte  Karle  des  Bezirks  zu  sorgen.  Bei 
einigen  Wanderungen  werden  auch  Thermometer  und  Setzwage  mitgenommen. 

Sind  die  Wanderungen  so  vorbereitet,  so  werden  sie  dem  Lehrer  und  den 
Schlllem  manebe  Frende  bereiten,  die  Sdifller  werden  ihre  Heimat  schfttaen 

und  lieben  lernen,  sie  werden  mit  ihrer  Umgebung  bekannt  geroaelit  und 

angehalteTK  d^i«  Erlebte  mit  offenen,  klaren  At!cr<'n  zu  beobachten,  und 
ihr  geographisches  Wissen  erhält  eine  sichere  Gninllage.  Die  Schule  erfüllt 
damit  aunichst  eine  wichtige  soziale  und  pädagogische  Aufgabe,  indem 
sie  «in  dieser  Zrtt  der  Heimatlosigkeit  dem  Hensdira  das  sichere,  warme  und 
beglückende  Gefühl  der  Zugehörigkeit  zu  dem  Boden .  dem  er  entsprossen  ist, 
wiedergibt  tin<l  die  Seele  des  Kindes,  sein  Gemüt  hineinführt  in  dir  ^^■tmder  der 
heimatlichen  Natur,  damit  die  Schönheit  der  Heimat  klar  vor  die  Seele  trete  und 
»ein  Heimatgefühl  eine  wertvolle  Bereicherung  erfahre*"  (Barchewitz).*)  Die 
ScbtUer  werden  „denkend  nnd  fftblend  dnrch  dm  Wonnen  der  Heimat 
geführt"  (Kerp).  Wie  leuchten  ihre  Angen,  wenn  rie  der  Lehrer  an  eine  Stelle 
mit  .schgner  Runds!'1;T  führt,  wenn  er  ihnen  das  saftige  Grün  der  Wiesen  nnd 
den  reichen  Segen  der  Felder  zeigt  und  sie  aufmerksam  macht  anf  den  lieblichen 
Gesang  der  munteren  Vögel!  Was  viele  Worte  nicht  vermocht  uatt*:u,  das 
bewiiltt  eine  efaudge  Wanderung  in  Oottes  berdiehe  Natur.  So  lernt  das  Kind 
seine  Heimat  schätzen,  es  lernt,  was  Heimat  heisst,  es  findet  «in  ihr  einen  Schatz, 
der  es  reich  macht,  nnd  in  dessen  Besitz  es  nie  wieder  arm  werden  kann" 
(Batael).  ^^^^^^  Kindern,  den  Knaben,  der  Jagend  mehr  wahres  Kiafv* 

Fld.  Studien  1906,  Heft  1. 
PUscogtadM  atodton.  XXIZ.  4.  20 


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—   3o6  — 


gefübl,  regeres  und  sichereres  Gefühl  hüberen  Ereistitren  Löbens,  nicht«  wirkt 
st&rkender,  entwickelnder  und  erbebender  dafür,  als  das  sichere  UcfUhl  nud 
lebendige  BewnwtBeiiif  in  der  uAchiten  Umgebung,  in  der  Gegmd  eebor  Odmrt 
und  Hilles  doli  cntfÜteitdeii  Lebens  redift  in  Hiase,  recht  hetndseli  mit  der 
Natur  und  mit  den  NaturenengnisaMi  seiner  Umgegend  recht  bekannt  und 
vertraut  zu  sein"  (FrÖbel). 

Da  —  wie  schon  Finder  klag't  —  unsere  Zeit  sich  sn  sehr  von  der  Natur 
entfernt  hat,  daas  viele  dem  Geschriebeueu  mehr  glauben  alti  dem  eigenen  offenen 
Ange,  80  sollen  die  SchtUer  durch  eigene  Beohaehtvngen  frtthseitig  mit 
ihrer  Umgebung  bekannt  gemacht  werden.  Sie  sollen  die  sie  umgebenden 
Dinge  nicht  aus  Büchern,  „gleichsam  durch  Glas,  ein  dichteres  Medium,  das  die 
i^trahlen  brirht",  kennen  lernen,  sondern  Hclbst  mit  offenen,  klaren  Augen  beob- 
achten. „Darum  aläo  kein  Buch  hier,"*  obachon  es  immer  noch  Heimatkunden 
gibt,  die  „ftlr  die  JSmbA  der  Sdittler**  bestimmt  sind.  Ijehren  wir  nnsere  Sehttler 
in  dem  grossen  Bndie  der  Netnr,  des  aufgeschlagen  vor  uns  liegt,  lesen,  halten 
wir  sie  an,  ihre  Andren  zn  flben.  denn  „Kinder,  die  nichts  gesehen,  nichts  beoh- 
achtet  hab«u,  kann  mau  nicht  unterrichrr-tt''  „Zum  eigenen  Nachdenken  und  zn 
einem  selbständigen  Urteilen  über  das  Heimatland"  (Kerp)  wollen  wir  sie  heranbilden. 

Sine  andre  Anfgabe  erwächst  dem  heimatkundlichen  Unterricht  in  der 
Termittlnng  der  Grundbegriffe  der  aUgemdnen  Srdknnde.  «Demgemlss 
verlangt  der  heimatknndliehe  Unterricht  ein  Durchwandern  der  Heimat  nach  den 
verschiedensten  Richtungen;  er  erfordert  vom  Kinde  ein  fort L^'setztfts  Beobachten 
dessen,  was  in  seiner  üiosrebung  ist  und  geschieht.  Nimmermehr  vermag  auch 
die  lebhafteste  Vorstell  uug  des  Lehrers  die  eigene  Beobachtung  der  Schüler  zu 
ersetisn  nnd  nnratbehrlich  m  maeben.  Sie  mttssen  selbst  sehen  nnd  hören,  sdbst 
mit  den  Sinnen  wahrnehmen,  wovon  ihnen  eine  Ansdiaming  snteil  werden  seU** 
(D.  Laupci  (TfTfide  die  geocfraphischen  Belehrungen  mttssen  vor  alleü  midem  an 
die  eigeuf  Erialirung'  angeschlossen  werden.  „Man  niuss  zuerst  die  Augen  der 
Kinder  öffnen,  man  musä  durch  die  Augeu  da«  Verstäudniä  einziehen  lassen,  au» 
der  Betrachtung  mnss  das  Verst&ndnis  heranswachsen**  (Kath,  Refbrmbestrebvngen 
anf  dem  Gebiete  des  uaturwissenscbaftlidien  und  geographischen  Unterrichts  in 
Frankreich.  Natur  nnd  Schule,  Kd.  VI,  1.  Heft).  „Der  Anfang  aller  Erkenntnis 
i.st  die  Anächannng,  das  letzte  Ziel  der  deutliche  Begriii"  (Pe.<«talozziv  Nun 
kuuuie  mau  wohl  einweudeu,  die  Schüler  hallen  bereite  ihre  Heimut  auä  der 
Aasehanimg  kennen  gelernt,  man  braudle  die  mit  zur  Sebnle  gebraehten  Vei^ 
etellnngen  fiber  die  Heimat  nnr  wieder  wachzurufen.  Genaue  Erhebungen  haben 
aber  das  Gegenteil  bewiesen,  und  die  Erfahrunir  rfigt  immer  wieder,  wie  un- 
roUständig  und  unklar  die  zufällig  von  den  Kindern  gemachten  Anschauungen 
sind.  Zur  JErgänzong,  Berichtigung  und  Befestigung  der  vorhaudeueu  Vor> 
steUnngen  mttssen  wir  den  engen  Sehidraam  vertansehen  y,VBSt  der  weiter» 
Seb^^fungswelt.  ans  den  Ziimmem  mttssen  wir  hinans  ins  Freie,  ins  Msehe,  fiohe 
Leben.  Hier  ist  der  Ort,  wo  die  Lücken  im  Gedankenkreise  auszufüllen  und  die 
Mängel  in  der  Erfahrung  zu  beseitigen  sind.  Es  gilt  de.s  Kindes  Interesse  für 
die  Natur  lebendig  zn  macheu,  sein  Ange  zu  Offnen,  seinen  Blick  zu  fassen  und 
so  lange  anf  die  Gegenstlade  hinnleiiken,  bis  die  Ansebamug  Ihre  vtttlige  Beife 
erlangt  bat"  (Lemberg). 


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Sorgen  ivir  also  filr  Gewianimg  von  AnichkUtingen,  die  ans  erster 
Quelle,  ans  nnserer  Umgebnncf  selbst  geschöpft  werden.  An  Stoff  wird  es 
uns  nicht  fehlen.  Mit  dem  Nahen  beginnen  wir  „und  leiten  stnfenweise  Ange 
und  Phantasie  anf  das  Entfeniteie''  ^ttX  Oleich  die  erste  Oeographiestunde 
wird  im  Freien  ^  auf  d«iii  SchnUiofe  —  abgehalten.  Am  besten  wiUt  man 
hierm  die  letzte  Vormittagsstnnde.  Die  Schüler  lernen  die  Himmelsrichtun|L,'en 
CRlchtung  des  kürzr-t- ti  Schattens  N),  'lif  TaLrt'*:^f'iten,  Ort  vou  Soiinenauf-  nnd 
Sonnennntergaug  uud  den  Gebranch  des  Kompasses  keuueu.  l'm  die  Himmels- 
richtungen einznprägen,  wird  die  Lage  bekannter  Geb&ude,  Berge  nsw.  bestinunt. 
Dann  folgt  das  Ansnesaen  und  Zeichnen  dea  Klaasendmmen»  dea  Sdnügebftndea 
nnd  der  nlhezen  Umgebung  deaselben.  Anf  einem  oder  mehreren  Gängen  lernen 
die  .Schüler  nnn  ihren  Heimatort  (wichtige  Gebäude,  Richtung  nnd  Länge  der 
Hauptstrassen,  Fabrikaiilat'fn ,  K^^scliichtliche  Denkmäler  usw.)  kennen.  Unter 
reger  Teiluahme  der  Schüler  uud  mit  Benutzung  der  gemachten  Beobachtungen 
wird  in  der  Klasse  ein  Plan  deaselben  entwoifen.  Nnn  folgen  Wandemngen  in 
die  nihere  Ümgebnng  des  Heimatortes. 

Wohl  in  jeder  Gegend  stehen  für  die  grosse  Mehrzahl  der  geographischen 
Begrifte  heiiiiatliche  Vorstellunsren  zu  Gebote.  Es  bieten  sich  Stoffe  dar,  an  denen 
sich  GrumlheErrif fe  aus  der  physikalisf^hen  nnd  astronomischen 
Geographie  erkiüreu  la«iüeu,  Stoüe  topologischer  Statur  uud  eudlich 
Ersdieinnngen,  welche  vergleichende  Betrachtungen  Uber  die  gegen- 
aeitigen  Beziehunge  n  dieaeT  Qebiete  ermöglichen.  Fast  an  Jedem  Baclu-  findet 
man  mannitrfaltiije  I  ferformen,  Landencren,  Landzungen,  Inseln,  Halbinseln, 
Wa.^sertalle.  Wie  oft  bietet  sich  nicht  Gelegenheit,  Uber  die  Verwenduntf  der 
Wasserkraft,  über  Laudgewiuu  uud  Landverlust  zu  sprechen!  Zn  beiden  Seiten 
des  Baehea  sind  Wiesen,  deren  Qitser  je  nach  ihrer  Beeehaienhdt  verschieden 
sind.  Vielleicht  sind  sie  sumpfig  und  müssen  entwässert  werden,  oder  sie  liegen 
zu  trocken  nnd  werden  durch  eine  nahe  Quelle  oder  dnrch  das  Wns.^r  des  Baches 
bewässert.  Das  Gefit!!«»  'les  Baciies  mes.sen  wir.  indem  wir  au  verschiedenen 
Stellen  Korkstttckcheu  hmciuwerfen  nnd  zusehen,  wie  rasch  diese  eine  abgemessene 
Streike  durchschwimmen.  Li  dem  nahen  Busche  hat  schon  mancher  Schttler  eine 
Nachtigall  singoi  bOrm.  Ein  andeier  Schiller  eizählt,  wie  er  dort  einen  Fink 
gehört  und  beobachtet  hat.  An  dem  Abhänge  sehen  wir  eine  Eidechse,  die  sich 
rasch  zn  Terbergen  sucht.  Wir  stellen  fest,  da«»  ihre  FärbnuL'  '^-'u  Grase 
gleicht.  ^Schutzfarbe.j  Den  Landmann  beobachten  wir  bei  seiner  Arbeit.  Die 
Utigkeit  des  Fttisteis  nnd  Holshauers  gibt  nns  Qelegenhdt  ttber  den  Nutaen  dea 
Waldes  nnd  .die  Ttexe  in  demseRMU  m  spreizen.  Wandern  wir  auf  der  Land- 
ttrasse,  so  belehren  wir  die  Schiller  Ober  die  Zahlen  anf  den  Kilometersteinen, 
lassen  mit  der  T'hr  in  der  Hand  0,1  kra  abschreiten  nnd  dabei  die  Schritte  zählen, 
üben  die  Schiller  in  Schätzen  und  Messen,  vergleichen  die  Steine  der  Strasse  nüt 
den  Sandsteinen  des  nahm  Steinbmdica,  besdien  uns  hier  die  Schichtung  und 
Terwittenug  der  Steine,  beobachten,  wie  das  Wasser  tiefe  Gliben  gerissen  hat 
(Erosion),  merken  auf  den  Verkehr  auf  der  Landstrasse  usw.  Anf  einer  AnhiShe 
werden  die  Schüler  mit  «l*-n  innerhalb  ihres  Gesichtskreises  liegenden 
erdkundlichen  Gegtustaudeu  bekannt  gemacht.  An  einem  Berge  oder  Hügel 
werden  die  Begriffe  Spitze,  Gipfel,  Kuppe,  Abhang,  Fum  erU&rt,  anf  die  ver^ 

90* 


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-    308  ^ 


gchift'lt'iic  Rt^iannncr  wird  hingewiesen.  Unten  im  Tale  flie-'St  ein  Bach  oder 
FioBS,  auf  dessen  rechtem  Ufer  eine  Ortschaft  liegt  und  auf  dessen  linkem  Ufer 
die  Äüm  entlang  fährt.  Kommt  vieMcbt  ein  Personen-  oder  Güterzug  vorbei, 
•0  beobaeliten  wir,  womit  die  Guterwagen  beladen  sind  nnd  apreehen  Uber  den 
Verkehr  anf  der  Bahn.  Den  Schalem  wird  aufgegeben,  die  Beobachtungen  fort- 
rnsetzen  Auch  Beobachtnneren  flher  herrschende  Windrichtnner.  Richtung  der 
Bauinkrouen,  Wetterseite  der  Bäuiue  (Anhaltspunkte  für  die  Bestimmung  der 
Himmelsricbtangen),  Zeit  nnd  Ort  von  Sonneuauf-  und  -Untergang,  Veränderungen 
des  Mondes,  Stand  bekannter  Sterne  usw.  werden  angestdlt  INe  Beobaehtnngs- 
ani^ben  halten  die  Schüler  an,  sich  in  ihrer  Umgebung  heimisch  zu  machen, 
ihrf'  pcr^rmü' he  Tutiirkeit  wird  angsapomt,  sie  weiden  an  Veigletcbong  nnd  an 
Verallgemeinerung  gewühnt. 

Die  auterrichtliche  Tätigkeit  auf  den  Wandemngeu  besteht  darin, 
dass  man  an  Ort  nnd  Stelle  die  Begriffe,  die  man  sich  mm  Ziele  gesteckt  hat, 
nur  Klfttheit  bringt.  Ein  bestimmter  erdknndlicher  Gegenstand  wird  angeschant. 
die  Hanptinerkinale  desselben  werden  unter  reger  Teilnahme  der  Schüler  fest- 
gestellt und  hierauf  wird  erst  versucht  den  nHireraeiueii  Be^j-rifif  zu  bestiinincn. 

Hier  will  ich  aber  ia  keiner  VVeiöe  auswendig  gelernten  Begriöserklürnuiren 
das  Wort  reden.  Mit  diesen  kann  man  scheinbar  in  Prüfungen  paradieren,  aber 
fftr  die  AnBchanlieUieit  ist  wenig  oder  nichts  gewonnen,  im  Gegenteil,  die 
SchUer  werdf^n  eher  an  gedankenloses  .'-^iirecben  gewöhnt.  Die  einzelnen  Gegen« 
fitf?Tid»'  Arerdeii  dann  besiiroehen.  wenn  sie  sieli  «rerade  darbieten.  Erst  am  Sehlnssp 
eines  l^rüsaeren  Abschnittes  wird  da.s  Heid)a'htPte  und  Erlebte  iiber^icbtlicL 
zuBammeugestellt  und  nach  bestimmten  OeäicüLspuukteu  geurduet  und  ergänzt. 
„Obenter  Omndsats  bleibt:  nnr  was  vom  Kinde  angeschant  werden  kann,  gehOrt 
in  die  geographische  Heimatkunde"  (Rein,  Encjkl.  Handbuch  der  ntdagogik). 
•  Da.s  Lehrverfahren  ist  also  induktiv.    Anf  diese  Weise  kilnnen  die  eisrenen 

Beobftchtnntren  des  Schülers  erweitert  und  vertieft  nn<l  die  reichen  .\nschanungs- 
itiittel  des  heimatkundlichen  Unterrichts  voll  und  ganz  ausgenutzt  werden.  Auch 
bei  denBeformbestxebnngen  anf  dem  Gebiete  des  natnrfcnndliohen  nnd  geographischen 
Unterrichts  in  Frankreich  will  man  „alles  ausschliessen,  was  ntu*  Wortkram  nnd 
reine  (iedäi htnisübung  ist,  man  will  die  Berührungspunkte  mit  allen  dem  ver- 
mehren, was  real,  konkret,  unmittelViar  brauchbar  ist.  und  durch  diese  Bemühungen 
will  man  die  persönliche  Tätigkeit  der  Schüler  auäponieu.  mau  will  sie  an 
Beobachtung,  an  Ve^ileichnng,  an  Verallgemeinerung  gewShnen,  man  will  bei 
ihnen  mittels  der  sokratischen  Methode  die  Flhigkeiten  des  Geistes  entwickeln, 
die  dazu  dienen  die  Wahrheit  zu  entdecken  und  zn  begreifen"  (Nath,  Natur 
und  Schule  Bd.  VI  1.  Heft).  Es  ist  aber  nicht  genu^'.  da?s  die  Schüler  von  den 
einzelnen  Gegenständen  klare  unil  deutliche  Begriffe  erlangen,  sondern  es  mosa 
nach  der  nnlehliehft  Zostsmeinhang  der  erdkondfichea  Gcgenstlsde  vatereinander 
festgestellt  werden.  Die  Schfiler  TBVglddien  den  Pflaaiettreiohtnm  terschiedener 
Gebiete  und  ziehen  Schlüsse  auf  die  Fruchtbarkeit  des  Bodens;  sie  sehen,  dass 
sumpfige  Wiesen  andere  Gräser  anf%reiscn  wie  trockene:  sie  finden,  dass  an  den 
Sadabhängen  und  an  Stelleu,  die  gegen  die  kalten  Winde  geschützt  sind,  die 
Fflaaten  viel  flppigw  sind  als  an  w^reschfttBten  Stellen.  An  Bachen  oder 
missen  beobachten  sie  das  GeflOle,  Ltadgewinn  und  LaadTerlnat,  Terwendnng 


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—  309  — 


der  Wasserkraft,  uod  wir  haben  so  Teraulasstwg,  Uber  den  Einflnss  der  BewXsienmir 
auf  die  VerUltnisse  unserer  Heimat  m  spredieD.  Auf  nnsern  WiademngeB 
leraen  die  Schüler  verschiedene  Ortschaften  kennen,  und  es  ist  selbstverständlich, 

«lass  wir  einen  Vergleich  zwisrheu  (len?t']'>fM!  rmstellen:  der  eine  Ort  ist  gr^^sser 
ai»  der  andere,  vielleicht  infolge  eiues  ^früsseren  industrielien  Unternehmen« 
(KaUtboden,  Kalköfen  —  Lette,  Ziegeleien,  Backsteinfabrilieii  —  Kolüen,  gxQsseie 
Fabriken  nsw.),  oder  weil  er  eben  Bahnhof  hat.  YergrSsaert  sieh  der  dne  Ort 
immer  noch,  während  \k\  dem  andern  ein  gewisser  StUktand  zn  verzeichnen  is^ 
so  vrenlen  wir  .loch  wohl  nach  Gründen  ^nrhen.  Oft  gremic:  bietet  sich  Gelegen- 
heit, „die  Bt-ziehnngen  zwischen  dem  Erdboden  und  seinen  Lebewesen,  zwischen 
der  Natur  und  der  Knltnr*"  und  auf  «pätereu  Stufen  „zwischen  den  Ländern  und 
ihren  Völkern"  (Keip)  festanstellen.  Was  der  Anfniehnnng  wert  iet,  wird  von 
den  SchlUera  in  ihr  Taschenbuch  eingetragen.  Die  Lage  nnd  Gestalt  (Profil) 
bestimmter  erdkundlicher  Gfsrenstilndc  werden  in  einer  Kartenskizze  festgelegt. 
i-Terade  im  Freien  kann  sehr  vi«l  für  die  Einfiibnin^'  in  »las  Kartenverständnis 
getan  werden,  weil  hier  die  Schüler  da»  Karteubild  mit  der  Wirklichkeit  ver- 
gldeben  können.  Deshalb  ist  es  sehr  ansnratettf  daes  der  Lehrer  sieh  eine  Karte 
der  näheren  Urogebon^  des  Heimatortes  nach  dem  Muster  einer  guten  Kreiskarte 
mit  Benntznno:  der  Me?isti«cbblätter  im  Maasstabe  von  1  :  2'y(l^)0  uder  ner^b  Vp'j^.^r 
in  einem  auch  tfröaseren  Massstabe  anfertigt,  und  dies*?  auf  den  Wnufierungeu 
benutzt,  um  Urtschafteu,  Berge,  Bäche,  Flüsse,  Strassen  auf  der  Karte  autznsuchen 
nnd  ungeh^it  nadi  derselben  zn  beetinun«L 

Mit  dem  Unterricht  im  Freien  wechseln  Stunden  im  Klassensimmer 
ab.  Hier  wird  das  auf  den  Wanderungen  Angeschaute  nnd  Erlebte  zunächst  in 
der  erzählenden  Form  besprochen.  Die  Schüler  werden  wdhl  meist  Uber  N;\f"b- 
einanderfolgende«  und  Gleicbzeitigeti  berichten.  Falsches  wird  verbe:it>ert,  Fehleudes 
ergänzt,  unklare  und  nicht  deutliche  Begriffe  werden  zum  vollen  Verständnis 
gebracht.  Ist  ToUstlndige  Klarheit  erlangt,  so  tretm  Verknnpfangen  (Asaosiatlonen) 
ein,  mit  jeder  Wantlening  zahlreicher  nnd  tiefergehend.  Begrifflich  Gleiches  oder 
Verw^ndtp?  wird  Tergliclien ,  Gegensätze  werden  bervorcfehoben ,  örtlich  N;i!i->- 
-t  'hendeH  und  Gleichzeitiges  wird  angegeben.  Aber  auch  Neues  wird  hinzugelü^a 
viüil  mit  dem  schon  Bekannten  verknüpft.  Vor  verfrühten  und  zu  vielen  Begriffs- 
erklämngen  httten  wir  nns,  „sie  MrmAden  nnd  nfitsen  nicht  viel**.  Der  so  be- 
bandelte Stoff  wird  nun  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  eingeordnet.  Die  im 
Freien  gemachten  Anfzeichnungen  nnd  Kartenskisaen  bilden  die  Unterlagen  für 
die  Behandlung  in  «len  KUi^Äenzimmern. 

Die  Zahl  der  Wanderungen  richtet  sich  zunächst  nach  der  zu  Gebote 
8teb«sden  Zeit.  In  kleineren  Ottschaften  kOnnoi  die  Wanderungen  so  eingerichtet 
werden,  dass  meisteiiB  eine  Stunde  ansreieht.  Hier  kann  man  also,  besonders 
wenn  nur  eine  Klasse  unterrichtet  wird,  mehrere  Wandarnngen  machen.  In 
grösseren  Städten  wird  man  wohl  die  einzelnen  Waiidenincren  auf  mehrere  Stunden 
aoddehnen  müssen,  dabei  kann  mau  aber  ihre  Zahl  beschranken.  In  einklassigen 
Sehnlen  mnae  man  wohl  mit  1—2  Wanderungen  ansxnkommen  snchen,  wenn  es 
nicht  möglich  wird,  die  Schiller  tn  Wandernngoi  in  ihrer  freien  Zeit  an  bewegen. 
Dann  ist  die  Zahl  der  Wanderungen  aber  auch  abhängig  von  der  Boden^ 
beschaffenheit  der  Ueimat,  yon  dem  Vorhandensein  der  erdkundlichen  Qegen- 


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stittde,  an  denen  die  Qnindbegiiile  ▼entändlich  gemeeht  werden  kfonen.'j  ,.10»- 
llttge  in  die  Umgebiuir  det  Sehnlortef  aoUen  niebt  Uoes  von  Zeit  m  Zeit  eder 

zur  Abwecbslaug  und  Erholung^  stattfinden,  sundem  so  oft  der  heimatkundliche 
Unterricht  die  gründliche  Aii^channiie:  eines  Ohjektea  notwendig  macht''  (Tnuili, 
Die  Anschaulichkeit  des  geographischen  Unterrichts). 

Die  Wanderungen  ine  Freie  kommen  nber  nicht  nur  d«n  keimatkimdlidien 
üntanieht  sn  gate,  indem  ne  die  SchUer  mit  den  erdkundlichen  Grundbegriffen 
bekannt  machen  tmd  die  Heimat  schfttzen  und  lieben  lernen,  sondern  »ie  Oftien 
auch  Angen  und  Ohren  und  tragen  so  wesentlich  zur  ('bnnf  und  Schärfnnq:  der 
Sinnesorgane  bei.  „Diese  Austlilge  lassen  tiefe  Eindrücke  zurück  und  wirken 
mehr  anf  dea  Denken  nnd  Wollen  der  Kinder,  als  selbst  ein  gut  geleiteter  Unter- 
ridit  in  der  Sehnlatnbe''  (Trunk).  Znr  pftdagogisehen  Würdigung  der  Wande- 
nmgen  darf  anch  nicht  ausser  acht  gelassen  werden,  dass  der  Anfeuthalt  in  der 
frischen  Luft  ffcsini  li  r  ist  al^  in  den  Zimmern.  Namentlich  für  >lie  Kinder  der 
grösseren  Städte  iät  en  eine  Wohltat,  wenn  sie  fUr  einige  Stunden  aun  dem  Staub 
und  Baach,  ans  dem  Hasten  nnd  Jagen,  dem  Lärm  und  Gewühl,  ans  den  licht- 
armen  Bäumen  in  die  ruhige,  firiiehe  Natur  hinauskommen.  Hier  im  Freien  kann 
anch  ein  viel  ungezwungener  Verkehr  zwischen  Lehrer  und  Schtilern  herrschen, 
der  Schuler  tritt  dein  Lehrer  viel  näher,  der  Lehrer  lernt  die  Eigentttmlichkeiteii 
seiner  Schiller  viel  besser  kennen. 

Darum,  so  oft  als  es  der  Unterricht  fordert,  hinaus  ins  Freie,  dann  tritit 
uns  auch  nicht  der  Vorwurf,  den  Berthold  Sigismund  Tielen  Eltern  macht: 
nStatt  das  Kind  in  Flur  und  Wald  zu  fähren,  um  die  Wirklichkeit  beobachten 
zu  lassen,  gibt  man  ihm  Rücher  mit  nnn>htic:en .  nn?rhönen  Bildern;  statt  es 
zum  Ameisenhaufen,  Hieueukorbe  und  Vd^ehicste  zu  geleiten,  überreicht  n)ftii  iliiu 
ein  Fabelbuch;  statt  es  durch  Wanderung  mit  der  Heimat  vertraut  zu  macheu, 
schenkt  man  ihm  eine  Beiaebesehreibnnir  nach  dea  Wendekreisen  mit  den  grellsten 
Abenteuern!  Von  solcher  i»a]iicmen  Eniehung  rtthren  so  viele  Mingel  nnaeies 
jungen  Geschlechtes  her.** 

IL 

Jugendvereine. 

Ein  Vorschhig  sur  Weitereraiehung  der  sehulttitlassenen  Jagend. 

♦ 

Von  A.  Pietssch,  Anstaltslehrer  in  Brännsdorf 

Die  Klagen  über  die  Unbotmässigkeit  der  aus  der  Schule  eutlasseueu  Knaben 
w<^en  nicht  Terstnmmen,  ja,  vermebien  sich  alljährlich.  YorkomuMide  Bohdten 
und  Frechheiten  der  jngmdlichen  ArbeiterbeTälkerung,  die  Veriiöhnung  jeglidier 


*)  Unterrichtagänge  müssen  in  den  Lehrplan  eingefüllt  s*  in,  mit  1 — 2  Unter- 
ridltsgfingen  wird  nichtn  erreicht.  Nirht  unr  dem  erdkundlichen,  sondern  auch 
dem  natnrkuiidlichen  und  |feschi(  htlichen  Unterrichte,  dtr  Bekanntmachung  mit 
Verkclin»-  und  Wohlfahrtseinrichtungeu  usw.  usw,  müssen  die  Lnterhchtsg&uge 
dienstbar  gemacht  w  i  l<  n  Die  Heimat  ist  ein  Abbild  aller  menschlichen  Ver- 
hältnisse in  grosserer  oder  geringerer  Beschränkung.  D.  B. 


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—   311  — 


Avtocitftt,  die  endireekMid  giou»  Zahl  der  gariebfUehen  VenirteUiiDgen  Jugend- 
licher lassen  bei  einem  jeden  Freunde  des  Volkes  und  der  Jugend  tiefe  Be- 

kömraeniH  \v^<'h  werden.  Wir  ist  «lies  zu  erklären  trots  einer  wohlan'sccehantpn 
Volksschule,  trotz  mainagiui-her  Massnahmen  zur  Jugenderziehung  seitens  des 
Staates  uud  der  Gesellscliaftl-'! 

Das«  die  Y erhetmiig  der  Jngend  durch  die  Soaialdeinokimtie  in  Dentsehland 
eifoigfeieh  gewaieB  Ist,  dafür  hat  aneh  der  interoattonale  Kengreia  der  eodal« 
demokratischen  Jugendorganisation,  der  im  Änschlnss  an  den  internationalen 
sozialdemokratischen  Kongress  in  Stutfsrart  stattfand,  den  Beweis  erbracht.  Von 
Ö9Ü00  Mitgliedern,  die  dem  internationalen  Verband  angehören,  entfallen  auf 
DentaehlMid  nieht  weniger  als  6800.  Davon  sind  Auguhörige  der  jungen  Garde 
in  Hannheim  4600,  die  rieh  auf  790  Ortegmppen  Terteilen.  Der  Verband  der 
fr'-ien  Jui^t- mlorganisationen,  der  in  Beriin  vor  einigen  Jahren  getn'iindet  wurde» 
hiiT  Miti^Iiedcr  in  15  Ortsgnipp^n.  darunter  Berlin.  Hamburi^.  Bremen  usw. 

Iii  ürosa-Berliu  sind  in  ungefähr  20  Filialen  1300  Mitglieder  verzeichnet.  Die 
letitere  Organisation  wird  sonderbarerweise  als  unpolitische  bezeichnet.  Das 
geaehiebt  jedoeh  lediglich  mit  fiflckaicht  auf  daa  VerrinageBeti,  das  die  VeielBs- 
bildung  von  selten  jugendlldier  Peisonen  nntersagt  Im  Übrigen  witd  ahtr  in 
den  VerÄamniliii;i"  u  der  jugendlichen  Organisationen  genau  so  verffihren,  wie  in 
den  Tersaraiulun<,'eu  der  jungen  Garde.  Die  Behörden  lassen  diese  Versamminnsren 
überwachen,  und  nicht  wenige  davon  sind  schon  polizeilich  aufgelöst  worden, 
weil  die  Redner  Themata  erörterten,  die  tlbw  den  gesetsliehen  Bidtmea  hlaaiis- 
gingen.  Der  T,eit<^r  der  juni,'en  Garde  ist  der  neugewühlte  .\bgeordnete  Beidlta- 
anwalt  Dr.  Frank-Mannhtim ,  während  in  Berlin  die  Leitnnir  der  eigentlichen 
Jugendorganisation  in  den  Händen  de^i  l{e(  htännwalts  Dr.  Karl  Liebknecht  liegt, 
gegen  den  eine  Anklage  wegen  Uochvenatä  verhandelt  wurde. 

Daas  die  Verbinde  and  Terrine  Ten  jugendUehen  Axbritem  und  Lehrlingen 
krinen  andwn  Zweck  habeUt  als  den  jnngen  Lenten  daa  aorialdemekratiaebe  Gift 
einzuimpfen  nnd  sie  vor  ihrer  Einstellung  in  den  Militärdienst  gegen  den 
,,MiHtarismu8"  aufzuwiegeln,  zeigen  klar  nnd  deutlich  folgende  Stellen  ans  einem 
Leitartikel  der  „Jungen  Garde",  des  Organa  des  Verbandes  jugendlicher  Arbeiter 
nnd  Arbriterinnoi  Deittaehlands.  Kmshdem  anagefUiit  ist,  wdeha  Fertschritte 
die  aonialdemokratiache  Verhetsnng  der  Jagend  im  Anslande  gemaeht  hat,  heisat  ea: 
„Und  in  Deutschland  haben,  trotz  Polizei  nnd  Staatsanwalt,  die  Blätter  der 
beiden  Jugendorganisationen  heute  srLon  12(K>)  Abonnenten.  Die  snzia!i?'tiäche 
Jugend  der  ganzen  Welt  ist  einig.  D&s  BewussUseiu  gleicher  Ideale  schlingt  um 
ans  ein  nnzeireissbares  Band  .  .  .  Und  wir  pflanzen  in  die  jungen  Herzen  den 
Glanben  an  die  neue  Zrit,  die  sie  sehaiFen  sollen,  den  Glanben  an  den  Sorialiamna. 
Und  \vie  nach  der  schonen  Erzählung  tler  Bibel  ein  Engel  mit  dem  Flammen- 
jchwert  den  Eintritt  zum  Paradiese  wehrt,  —  so  hindert  der  Militarismus  mit 
bewaäneter  Fuu»t  im  Dienste  der  herrschenden  Klassen  die  Entwicklung  einer 
Gesellschaftsform,  die  nidit  auf  Ausbeutung  und  Unterdrückung  beruht.  So 
lehxen  wir  die  Jngend,  den  Mititarismna  als  Henuaschnh  des  Fertschritte  an  be< 
trachten.  Wir  verkennen  dabei  nicht ,  da»^  die  Erscheiamgaformen  des  Milita> 
n^mns  nnd  <«omit  «lie  Arten  ariner  Bekämpfung  in  den  TerBchiedenen  Ländern 
verschiedeu  sein  mtlsseu." 


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—    313  — 

So  gribt  die  Soaaldemokratie  in  die  Heraen  nnserer  deatsehen  Jugend  den 

Hass  gegen  das  IGlltir  «nd  den  Sinn  der  Unbotmässigkeit  ein,  der  die  Unter- 
ordnniiL'  r.nm  unbekannten  Becrriffe  werden  lässt  nnd  natnrg-einiiss  spSter  zn  flen 
8cbwerst«a  Folgen  führen  mnsa.  Darum  sollten  sich  gegen  eine  solche  Art  der 
Jngendanictag  einmütig  alle  Kreise  wenden,  die  der  hemnwnelisenden  Jugend 
Glttek  und  Zufriedenheit  gönnen,  lin  gatee  StBek  Volkswohl  gilt  es  vor  Itienden 
Giften  zu  bewahren;  de  mvss  jeder  Tolksfreunil  tütige  Mithilfe  leisten! 

Es  ist  nicht  abzustreiten,  dass  eine  klaffende  LUcke  in  der  Erziehung  der 
Jngeud  zwisthen  Sebnlentlassung  und  der  Militärzeit  liegt.  Diese  LUcke  wird 
durch  die  voUstäudig  veränderten  sozialen  Verhaltuisbe ,  in  die  Meister  und 
Lehrling,  Aibeitgeber  nnd  Arbeiter  versetst  werden  sind,  grell  belenehtet. 

Der  Lehrling,  der  frfther  der  TAterUchen  Antoritftt  des  MeisterB  geswnngai 
oder  ungezwungen  unterstellt  war,  entsieht  sich  seiner  Aufsiebt  mehr  und  ittcSir. 
In  grösseren  Städten  h'^-^on-lers  ist  er  nur  am  Tage  Lehrlin^^,  da  er  zu  Han?e 
wohnen  und  schlafen  muss.  Durch  dieses  Doppelleben  können  weder  Meister 
noch  Mtem  die  reehte  Kontrolle  ans&ben.  Andere  Handwerksmeister  sind  froh, 
wenn  sie  ttberhanpt  tinen  Ldirling  erhalten,  da  der  Zndnuig  snni  Handweik  mit 
Ansnahme  einiger  Zweige  sehr  nachgelassen  hat.  Ist  ein  Lehrling  geschickt,  so 
weiss  er  sehr  bald,  wie  ^nt  ihn  sein  M^istfr  brauchen  kann.  Er  beginnt  den  Kopf 
höher  zu  tragen,  und  wenn  ihn  der  Meister  nicht  Terliereu  will,  so  mmn  er  gar 
oft  gnte  Miene  snm  bösen  Spiele  machen.  Dazu  kommt,  dass  die  Lehrlinge  ihrer 
grosseren  Abblogigkeit  wegen  von  sogen,  freien  Arbeitern  ihres  Alters  vwspottet 
werden.  Da  ihnen  die  höhere  Einsicht  in  ihre  Pflicht  noch  fehlt,  suchen  sie  sich 
nnd  ihren  Kameraden  durch  Frechheit  nnd  Rüpenuifti^keit  zrx  imponieren.  Die 
Freizeit  an  Sonn-  und  Festtaji,'en  bringt  hir  die  I>ehrliiic:e  insofern  die  Anrcining 
zum  Schlechten,  als  die  jageudlicheu  Fabrikarbeiter  über  ein  verhältnismässig 
reiehes  Tasohengeld  verfttgen  nnd  den  Neid  des  Lehrlings  noch  dnreh  hVhnisehe 
Bemerkungen  ins  üngenessene  wachsen  lassen.  Ein  Griff  in  die  Ladenkasse,  ein 
Betrug  oder  eine  Unterschlagung  ist  dann  vom  Lehrling  leicht  ausgeführt,  um 
bei  den  andern  „jungen  Herrn"  durch  freigebiges  Geldausgaben  Kuhm  und  An- 
sehen zu  ernten. 

Vid  mehr  noch  steht  in  Gefahr  der  jugendliehe  Fabrikarbeiter. 

Bd  ihm  fehlt  jede  Einwirkung  des  Arbeitgebers.  Es  wird  lediglich  ein 
Vertrag  «her  die  Arbeitskraft  und  Entlohnung  des  Arbeiters  abgeschlossen,  der 
jeden  Augenblick  von  <len  Vertrac'sch liessenden  wieder  gelöst  werden  kann.  Der 
Arbeiter  bat  sich  der  Fabrikorduung  zu  unterwerfeUt  um  sein  Treiben  ausserhalb 
des  Fehriktoree  hat  sieh  niemand  ni  kttmmern.  Zwar  widmen  sehr  idde  dieser 
jnngen  Leute  hei  den  Eltern,  aber  sdhst  dann  ist  ihre  Bewahrang  vor  dem  BVsen 
auch  meist  unzureichend.  Die  Eltern  getrauen  sich  nichts  zu  sagen,  um  die 
zahlenden  KostgÄnger  nicht  zu  verlieren,  nnd  8pftt(?r  sind  ihnen  die  Herren  Jungen 
über  den  Kopf  gewachsen.  .Mit  dem  zeitigen  und  mitunter  reidilicben  Geld> 
wrdienst  wissen  die  Barschen  nieht  Tiel  ananfangen,  er  bringt  sie  war  anf 
Abwege.  Damit  hängt  «laammen,  dass  eine  gewisse  Oiössimnnssndit  sie  beflUlt^ 
die  sich  im  Biertrinken,  Rauchen  und  Prahlen  unangenehm  bemerkb»  macht. 
Rücksichten  anf  ältere  Leute  oder  Re^pektfpersonen  zu  nehmen,  gilt  ah 
schwächlich.  Darin  werden  sie  durch  sozialdemokratische  Irrlehren  unteistUtst 


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niid  gettfttkt.  Die  Mnaldonokratteclie  Jngendieitodiritt  ^Die  jange  Oude^  gibt 
d«fttr  saUreielie  Bekge.  Aneh  sonst  sadit  die  9e«ialdemoki«tie  «Itoe  Gute  und 

Edle  in  ihnen  dnrch  Einimpfung  blinden  Hasses  gegen  StAat  nnd  Gesellschaft  zn 
ertränken,  lediglich  nm  ans  parteipoHti«'heii  Motiven  einen  Nachwuchs  zn  ge- 
winnen, der  den  regierenden  Führern  willen-  und  gedankenlos  Gefolgschaft  leistet. 

Die  dritte  Gmppe,  nm  die  es  sich  in  vorliegenden  Ansfabrungen  bandelt, 
lüden  die  Undwirttcliaftliehett  Dienstboten. 

Es  sind  sehr  oft  die  geistig  minderwertigsten  Xnaben,  cUe  sidi  diesem 
Bertife  widmen.  Er  bietet  ihnen  Geleg^ibeit,  ihre  Kdrperkxifte  voll  ansxnntttsen, 

und  sie  mv\  m  den  einfftcheren  Arbeiten  wohl  zn  verwenden.  Ihre  g'eistige 
Schwerf&iii^'keit  erklärt  den  Mangel  jedes  Bildnngs'lranii-es ,  wiihrend  j<ich  die 
überquellenden  Korperkräfte  in  einer  gewissen  Boheit,  die  sich  in  Worten  und 
im  Betragen  zeigt,  Lnft  mseht  Statt  die  Awwftchae  an  i^em  Gesinde  na 
bekämpfen,  ist  der  Ontsbesitaer  geswimgea,  seine  Leute  in  verwOhneu;  denn 
der  Dienstbotenmangel  ist  gross.  Ein  unfreundliches  Wort  kann  schon  bewirken, 
da«>  der  Orhfen-  oder  Pferdejnnere  den  dringlichen  Lockungen  eines  liebens- 
würdigen Nachbarn  Folge  leistet  und  gerade  in  der  dringendsten  Arbeit  unter 
einem  nichtigen  Verwand  absiebt. 

Haboi  wir  bis  jetzt  die  nniiebsamen  Ersebcinnugen  an  einem  Teil  imseier 
Jünglinge  ans  den  sozialen  YerbUtnisien  zn  erklären  gesncht,  so  dürfen  wir 

dabei  nicht  stehen  bleiben;  denn  wir  finden  dieselben  Klagen  nicht  erst  in 
unseren  Tagen.  In  einem  1858  erschienenen  Schriftchen:  Über  die  Ungezogenheit 
der  beutigen  Jugend.  Ein  pädagogischer  Mahnruf  an  Eltern  und  Erzieher  von 
Dr.  £.  W.  Wiedenhidd"  —  heisst  es :  „Die  Ungezogenhdten  der  Jngend  onserer 
Tage  sind  eine  so  weitTesbreitete,  so  grell  nnd  Iceeli  tierrortretende  Eiscbeinnng, 
dass  wir  dieselbe  fUglicb  als  allenthalben  bekannt  und  als  allgemein  bitter  emp- 
fiinden  vnran«isetzen  müssen.  Ja,  die  Sache  ist  so  offenkundig:  und  allgemein 
beklagt,  dass  wir  in  onsem  Wabmehuiungen  durchaus  nicht  vereinzelt  dastehen, 
sondern  vidmehr  von  der  Tmranssetzuug  ausgehen  dfirlen,  dasi  dae  ganae  Utere 
Geschlecht  tief  Ton  ihr  berOhrt,  nnd  dass  namentlieh  Tansende  von  Eitern,  Lehrern, 
Predigpem  nnd  Erziehern  auf  die  sehiuerzlichste  Weise  davon  ergriffen  sind."  Der 
Verfa«<8er  findet  die  Ursache  dieser  Erscheinung  lediglich  in  ilnnseren  Verhältnissen, 
ohne  der  Psyche  des  heranwachsenden  Menschen  Beachtung  zu  schenken.  Daraue 
erlü&rt  sich  auch ,  dass  er  in  seinen  Vorschligen  zur  Bekämpfung  dieser  Obti 
nm  Teil  anf  ICttel  geiftt,  die  nnr  Insseriichen  Erfolg  ndtigen  können. 

Die  Zeit  nach  der  Schnlentlassnng  ist  fttr  den  jangen  Menschen  die 

kritischste.  Die  rasche  körperliche  Entwicklung,  insonderheit  der  Eintritt  der 
Fulertftt  äussern  ibr^n  Einfinss  anf  die  psychische  Entwicklung.  Dazu  treten 
die  veränderten  Lebensverhältnisse,  die  im  Verein  mit  den  psychischen  Ein- 
Wirkungen  den  Charakter  bestimmen.  Wagner>)  behauptet  sogar,  dass  „der 
JQngling  am  Anfange  neeh  Tollstladig  unter  dem  Einflnsa  des  Körpers  stehe. 
An  ihm  ist  alles  phjrsiologiseher  Reflexe  Gana  sicherlich  hensohen  im  jogend- 

')  Zur  Naturgeschichte  des  Fortbildunfi^sschillers.  Ein  Beitrag  zur  Kenntnis 
der  Altersstufe,  die  in  den  Fortbildungsschnfen  nnteirichtet  wird.  Leipzig,  Hahna 
Veilsg  1«07. 


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liehM  Alter  di«  GefShle  vor,  die  sam  grünen  Teil  in  k^rperlichtn  ZnBtlndM 

ihren  Ursprung  haben,  während  die  notwendige  Kritik  dieser  GefUhle  noch  zn 
schwach  einsetzt.  Daran  sollte  jeder  denken,  der  mit  dieser  Altorsstnfe  in  Be- 
rübmng  tritt.  Erst  am  Ende  der  JüngUngszeit  ist  eine  gewisse  Heife  des  GefühU 
und  Ventaudes  und  eine  Wechselwirkiuig  swischen  beiden  zu  enrarten.  Toiker 
gftrt  die  Natur  —  ans  dem  jungen  Host  kann  ent  nach  und  nach  klarer  Wein 
werden.  Dass  das  nicht  ohne  manche  körperliche  und  aeeliadie  SlrMh&tterang  ab- 
geht, ist  leicht  erklärlich,  und  dass  in  dieser  Zeit  der  junge  Mann  eine  richtis^e 
Leitung  nötig  hat,  ist  oft  schon  gesagt,  gewUnscbt  und  ausgeführt  worden. 
Staat,  Kirche,  Schule  —  olle  werden  aufgefordert,  ihre  Pflicht  m  erflUlen  und 
ilianehe  Einrichtnug  sengt  daTOn,  dam  man  allerorts  bemttht  ist,  Hand  ans 
sn  legen. 

In  ersttT  Linie  ?oll  die  Schule  ihren  Eiufluss  geltend  machen  und  die 
Leitung  uberuelimeü.  Die  obligatorische  Fortbildungsschule  wird  mit  Kecht  in 
allen  Staaten  erstrebt  und  hat  dort,  wo  sie  schon  besteht,  sicherlich  reichen  Segen 
gebracht.  Jedoch  allen  Anforderungen  kann  sie  aneh  nicht  gerecht  werden.  Ihre 
sittliche  Einwirkung  ist  meist  sehr  gering.  Dies  tritt  bei  ländlichen  Fortbildungs- 
schulen besonders  liervnr.  dn  in  den  wenigen  Woclu-iistundeli.  die  im  Sommer  an 
vielen  Orten  ganz  wcgtalleii ,  eine  tiefere  Kinwirkuni,'  auf  das  Seelenlehen  der 
JUnglinge  nicht  müglich  ist.  äoU  nicht  geleugnet  werden,  dass  liir  i^luilinss 
grosser  wird  dnreh  die  Stdlnng  des  Beruh  in  den  Uitteipnnkt,  wie  es  jetst 
immer  energischer  v<m  den  Fortbildnngsschulmännem  gefordert  wird.  Ein 
lehendicreres  Interp«;,*^  am  Unterriclit  wird  siclierlich  areweckt  und  dadurch  eine 
tiefere  t^ittliche  Einwirkung  gewunnen.  Dabei  ist  aber  nicht  zu  verkennen,  da^ss 
die  Fortbildungs^hebule  eben  „Schule  *  bleibt  und  von  den  jungen  Leuten  jederzeit 
als  ein  listiger  Zwang  geftthlt  wird,  wenn  sich  hd  ihnen  auch  mit  der  Zdt  die 
Erkenntnis  von  der  Nützlichkeit  dieser  Einrichtung  Bahn  bricht.  Froh,  die 
Pforten  der  Volksschule  hinter  sich  zn  haben,  zwingt  man  sie  sofort  in  dxs  neue 
.loch  hinein.  Die  Fortbildnufirsschnle  ist  wolil  imstande,  sie  wt  iter  zu  erziehen, 
aber  uicUl  den  wichtigen  Lbergang  zur  Selbsterziehuug  herzustellen. 

Übung  zur  Selbsterziehong  bietet  die  freie  Zeit  der  Jugend.  Darum  mttssen 
die  Erwachsenen  FttUung  mit  den  Janglingen  in  ihrer  freien  Zeit  an  gewinnen 
anchen,  ohne  dabei  einen  Druck  zu  erzeugen,  der  den  jungen  Lent^  listig  wird. 

Eine  rer  hte  Verwendung  der  Freizeit  ist  unserer  schttlentlassenen  Tugend  sehr 
schwer  j^emacht.  Die  schulentlassenen  Kuabeu  sind  weder  Frosch  noch  Fisch. 
Kinder  wulieu  sie  nicht  mehr  sein,  und  die  Erwachsenen  mögen  noch  nichts  von 
ihnen  wissen,  seh«!  sie  m^  als  „dumme  Jungen"  an.  Sie  ahmen  nun  vletcs 
den  Erwachsenen  nach,  nm  den  Abstand  swisehen  ihnen  und  sich  tu  verringern. 
Er-  wird  o^erancht .  man  trinkt  schwere  Biere,  sucht  durch  allerhand  RUi)elei«'U 
sein  Auseben  zu  erhöhen,  verütjt  im  VoUgefllhl  seiner  Kräfte  allerhand  Sach- 
beschädigungen usw.  Wer  wirft  den  ersten  Stein  auf  sie?  Die  ganze  Natur 
des  Jfinglings  drängt  anr  Betätignug,  der  kritisierende  Verstand  ist  an  sdiwach 
und  niemand  kQmmert  sieh  frenndschaftlidi  um  den  im  Übermut  Dahintanmelnden. 
Zwar  nehmen  sich  die  Jünglingsvereine  der  Jugend  an.  Aber  auch  dort 
fühlen  sich  die  jungen  Leute  nicht  recht  wohl ,  sie  sind  innner  wieder  die 
„Kinder",  die  sich  fügen  müssen,  die  nicht  bestimmen  dürfen,  die  kommandiert 


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—   315  — 


werden,  Iran,  die  «ueh  hier  nidit  für  toII  angesehen  werden.  Und  dies  verleitet 
iriden  den  Beitritt  la  diesen  lonst  eo  segeureiehen  Sinriehtniisen. 

Ont,  so  itellt  «ie  doch  anf  eigne  Fflsse. 

Ich  habe  dasselbe  Zntoinen  zu  nneerer  Jugend  wie  Biaman^  nun  jungen 
Deatschen  fieich,  das  er  nur  in  den  Sattd  setsen  wollte,  reiten  wOide  ee  sdion 

können. 

Die  Sozialdemokratie  hat  wohl  empfnndeu,  von  wekliem  Werte  die  Ein- 
wirkung auf  die  halbwilchaige  Jugend  iat.  Sie  sammelt  dieselbe,  gründet 
Vereine,  dchert  aber  der  Jugend  in  diesMi  Vereinen  die  grOaetmSgliebBte  SeLbet- 
stiindigkeit.  Der  Spott  Uber  diese  „1>amnien-Jnngen> Vereine"  hindert  nicht,  das« 
sie  siih  zn  grosser  BllUe  entfalten.  In  diesen  Vereinen  wird  die  Jugend  in  ein- 
seitig part^'iitolitischer  Wei.se  beeinflnsst.  «o  ilaa«  es  gelingt,  dif»  Srhfxrpii  der  An- 
häuger  der  doziaidemokratie  zu  renuehreu  und  einen  Nachwuchs  grosszuziehen. 
Ist  man  mancherorts  sogar  in  der  Lage,  Vereinsaeitungen  heiansai^lMn.  Wamm 
nimmt  man  das  Gesunde  aus  dieser  Idee  nicht  anf?! 

Damm  gründe  man  an  allen  Orten  JngendTereine,  in  denen 
die  T  u  <<:  e  II  d  a  u  l  h  H  r  r r  ist!  „Knaben  und  Jfingllnge  rnttssen  gewagt  werden, 

nm  3Iüiiuer  zu  werdeu.** 

1,  Zweck  dtvs  Veri'iiis.  Soiii  vuriiflimster  Zweck  besteht  in  der  T'bnno' 
ntirf  Anleitung  zur  ielbsttTzieluiut:.  r»r.  Schneidt  r  sagt  in  Schraid's  Pädagogischer 
Eucyclopädie :  „Es  muss  dem  Knaben  die  Gckgeuheit  gelassen  werden,  zu  wollen, 
ja.  er  ist  unter  Umständen  gersdesu  in  die  Lage  zu  bringen,  wollen  in  rnttssen." 
Die  Jungen  müssen  lernen»  sich  selbst  in  Zncht  an  nehmen.  Dies  ist  mOglich 
durch  freiwillige  Untfrwerfung  unter  eine  selbst  und  von  Altersgenossen  her- 
gestellte Verfiniordnnntr.  I>ie>p  bf'diTTjt  zugleich  eine  gegenseiticrp  Unterstützung 
und  Kontrolle.  Das  Ehrgefühl  wird  iiugespornt,  indem  jeder  verptlichtet  ist,  den 
Schild  des  Vereines  rein  an  halten.  Höflichkeit  und  GefftUigkeit  sind  Vor- 
bedingung eines  jeden  Gemeinschaftslebens.  Unterdrtteknng  der  Bohheit,  Gemein- 
heit und  niederer  Gesinnung,  dan»  alles  soll  und  kann  durch  diesen  Zu.sammeu- 
R«^hln««55  der  Jugend  erreieht  werden.  Inwieweit  Hne  Heranziehung  der  weiblichen 
Jngeud  möglich  ist,  luiiv^i  von  den  lokalen  Verbal tuisscii  ab. 

2.  Mitirliedschaft.        ijibt  ordentliche  und  ansserurdeiitliche  Mitglieder. 

a)  Ordentliches  Mitglied  kann  jeder  junge  Mauu  nach  seiner  Schulentlassung 
bis  inm  20.  Jahre  werd<m. 

b)  AnssarordentUcbes  Mitglied  kann  jeder  Brwaehsene  werden,  der  Interesse 
für  die  Saehe  besitet. 

Den  ordentlkhen  Mitgliedern  ist  der  Vonriti^de,  Kassierer  und  die  übrigen 

Vereinsbeamten  zu  entnehmen.  Von  den  ausserordentlichen  Mitgliedern  hat  eine 
Anzahl  beriitemle  Stimme,  und  einer  oder  mehrere  erhalten  die  Beftignis  eine 

gewisse  Kontrolle  auszuüben. 

Die  Hauptsache  dabei  ist,  dass  bei  den  jungen  Leuten  das  Bewusstsein  da 
ist,  dass  sie  diejenigen  sind,  die  die  Saehe  halten.  Dies  Bewusstsein  soll  Be- 
geistemag  nnd  Akteresse  bewirken.  Die  Erwachsenen,  die  beraten  und  kontroUleren 
sollen,  rnttssen  es  Terstehen,  hinter  den  Kulissen  die  Zttgel  in  den  Hftnden  in 


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—    3i6  — 


halten,  ohne  et  der  Jng^d  merken  zu  hamk.  Von  gnns  allein  wird  ale  Vor- 
sitzender einer  <Ier  tflcliti^rsteii  nud  besten  jnngen  Lente  gewählt  werden,  auf  den 
die  andern  als  auf  ihr  Vorbild  hinblickeu.  Mam  trlanbe  ja  nicht,  da?«;  die  Jtinglince 
einen  UnwtirdijLjen  wühlen;  nein,  gerade  die  Freiheit  nötigt  sie,  eich 
selbst  Zügel  anzulegen.  Wird  diese  Freiheit  beschnitten,  so  schwindet  die 
BegeiBtemngr  gar  bald,  die  fieteUignng  geht  nrHelc,  die  Veranstalter  bekemmen 
es  bald  satt  (siehe  JQnglingsvereine),  wenn  sie  nicht  von  Amts  wegen  daza  ge- 
zwungen sind.  Es  ist  für  die  von  mir  vorgeschlasreiien  Jne:eiidven  ine  von  g^rSsster 
Wichtigkeit,  dass  mf5glioh8t  viele  Erwachsene  al»  ausserordentliche  Mitglieder 
beitreten.  Nicht  nur  die  sogenauiiteu  „besseren''  Leute,  die  Besitzenden  des 
Ortes,  dnd  heranansiehen,  auch  die  etn&ehsten  Arbeiter  kOnnra  diesem  Werke 
durch  ihre  Mitgliedschaft  nützen.  Wenn  die  Bespektspersoneu  des  Ortes,  insonder- 
heit Geistliche  und  Lehrer,  allein  dabei  sind,  so  wird  bei  der  Jugend  leicht  Mi^?■ 
trauen  erregt,  ja,  das  £ltenibaiis  arbeitet  wohl  gar  in  Verkennung  der  21iele 
strikte  entgegen. 

3.  Gründung  des  Vereins.  Die  erste  Auitiguug  wird  meist  vom  Geist- 
lichen oder  Lehrer  ausgeben  müssen ;  aber  so  bald  als  mßglicb  ziehe  er  sich  in 
wdser  Besdirtokong  mt^lichst  snrttck  und  suche  den  jnngen  Yettan  unsiciitbar 
zu  fördern.  Findet  sich  im  Orte  eine  geeignete  Person,  so  dürfte  es  sidi  viel- 
leicht empfehlen,  dies?^  zn  vi  rrnilassen,  die  Initi^Ativc  zw  ergreifen.  Ti^hrfr  und 
Geistliche  trag^en  tilr  di*  i  ii^end  immer  das  Odium  des  Schul-  und  Zwangs- 
mässigen.  Auf  dem  Lande  und  iu  kleinen  Städten  ist  die  GrQuduug  solcher 
Veimne  leicht  su  emH^Tlichen,  ihr  Bestand  ist  am  ersten  gesichert. 

In  einer  Gemeindeversammlung,  einem  Elternabend,  einer  öffentlichen  Ver^ 
Sammlung  veranstaltet  Ton  irgend  einem  Verein  ist  das  Projekt  den  Erwachsenen 
YOiiulegen  und  von  allen  Seiten  zu  beleuchten.  Ja,  es  Hessen  sich  auch  im 
Anschlnss  an  schon  bestelu  nde  Vereine  i'Gewerhevereiu,  Arbeiterfortbildnncrs'VpreiTi) 
Jugendabteilungen  angliedern.  Durch  persönliche  Rücksprache  sind  junge  Leute, 
die  einen  gewissen  Einlluss  auf  ihre  Kameraden  haben,  zu  gewinnen,  und  einer 
von  ihnen  ist  surEinbentfong  der  konstitoierenden  Versammlung  m  Teraalass«. 
Neben  möglichst  vielen  JAnglingen  ist  auch  das  Erscheinen  Erwachsener  er- 
wünscht, um  den  Anschein  zn  vermeiden,  als  gelte  die  Sache  nicht  viel.  Nun 
ist  auch  den  jungen  Leuten  die  Angelegenheit  klarzulegen,  wobei  zu  beachten 
ist,  dass  sie  nicht  als  Kinder  behandelt  werden,  sondern  als  gleichberechtigte 
PersOnliidikeiten.  Sie  sollen  ja  durch  die  Venutstaltungen  ttbw  nch  raporgehobcn 
werden;  dann  muss  es  auch  änaseiüch  geschehen.  Bei  den  Besprechungen  sind 
die  Juj^endlichen  möglichst  alle  herauznziehen :  troti  ihrer  t'ngreschicklichkeit 
müssen  .sie  immer  wieder  ermuntert  werden,  die  Erwachsenen  niü.s.-ien  in  den 
Hintergrund  treten.  Die  Vereinssatzungeu  dürfen  nicht  durch  äusseren  Zwang 
gegeben  werden,  sondern  mttsaen  durch  die  jungen  Leute,  wenn  auch  unter  An- 
leitung nud  Mithilfe  Erwachaener,  selbst  geschaffen  werden.  Freiwillige  Unter» 
Ordnung  wirkt  nachhaltiger,  tiefer  als  erawnngene. 

4.  Veranstaltungen.  Die  Jugendvereine  sollen  eine  .\usfüllnng  der  Frei- 
zeiten in  nutzbrinq-ender  Weise  eimr^trliehen.  Es  ist  auf  körperliche  und  irei>tige 
Ausbildung  zu  achten.  In  grösseren  Vereinen  sind  Ansscbilsse  za  bilden,  die  die 


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YerauBteltiiiigen  aaMnarbeiteii  und  la  leiten  haben.  Bei  gtUutIgem  Wetter  «ind 

gemeinBchaftlicbe  Wanderungen  zu  unternehmen.  Dies  wUrde  natürlich  nur  die 
Sonn-  und  Feiertago  betreffen.  K'/uzern  Freizeiten  sind  durch  Tum-  und  Sport- 
spiele auszufällen.  !ni  Winter  tritt  der  Eialaui  und  bei  irünstigera  Gelände  die 
Ruscbelschlitteulabri  hinzu.  Schon  die  Herstellung  der  Plätze  und  Bahnen  bietet 
dne  anregende  und  gesnndheitftfrdenide  Beschlftigung.  Grossere  «nd  gut  «ob» 
gebaut«  Vereinigiingen  können  aadi  Gelegenheit  nnd  Anleitung  zu  HandfeftigkntB- 
arbeiten  bieten.  Allerhand  Vorträge,  womöglich  mit  LiobtbildervorfBhrmiß-Pn.  an- 
retreu'b'  ^''piele,  eine  gutgesichtete  Bibliothek  gewähren  auch  der  jjeistiaren 
Änsbüduug  genug  Gelegenheit.  SelbätTerat&ndlich  hat  jeder  Verein  sich  nach 
seinett  mtteln,  seiner  Gitese,  seinen  lokalen  EigeDtttuUchkeiten  sn  liehten.  AUe 
diese  Darbietungen  ktanen  nicht  allein  Ton  den  jungen  Leuten  ins  Werk  gesetst 
werden:  die  erwachsenen  Mitglieder  müssen  sich  daran  beteiligen,  se!  es  als 
Anreger,  als  Veranstalter  oder  auch  als  Publiktxm 

5.  Käumlichkeiteu.  Um  die  Zn^^ammenktinfte  iibznhalteu,  ist  ein  Kaum 
zu  mieten.  Vielleicht  ist  eine  Behörde  zu  bewegen,  im  Interesse  der  guten 
Sadie  Mnen  soldien  snr  TerfOgnng  sn  stellen  oder  gegen  ein  geringes  Entgelt 
zu  überlassen.  Als  Ziel  für  grosse  Vereine  schwebt  mir  ein  eigenes,  zweckmässig 
eingerichtete«?  Vereiushans  vor.  Ein  Spielplatz  Ist  ebenfalls  notic:.  Im  Vereinf- 
zimmer  i?t  für  eine  Anzahl  TTtterhaltungsspiele  (Brettspiele,  vielleicht  auch 
Billard;,  einige  Zeituugeu,  eine  gute  Handbibliothek  zu  sorgen.  B«;i  reichlichen 
Einkttnften  nnd  grosser  0|tferwiIligkeit  einselser  PereSnlichkeiten  nnd  Behörden 
v>\\Tvu  einem  Versammlttngsiaum  Lesezimmer,  Spielzimmer  nnd  Werkatfttte  für 
H  .1.  If' rtii^keitsarbeiten  nnzngliedern.  Die  Überwarhung  dor  Zimmer  nnd 
Emrichtunj^eu  wUrde  einzelnen  Mitgliedeni  als  Elnenanit  zufallen  und  erfüllte 
damit  einen  pädagogischen  Zweck.  In  den  Vereiusräumen  werden  billige  alkohol- 
freie Getrlnke  abgegeben.  Dieselben  sind  auch  gegen  Marken  sn  erhalten.  Solche 
Marken  kOnnen  sich  Meister,  Dienstkenren  nnd  auch  Privatlente  kaufen  und  sie 
als  besondere  Belohnunsron  oder  an  Stelle  ron  Trinlcceldem  an  Lehrlinge  und 
jugendliche  Personen  abgeben.  Dadurch  wird  einnuil  jeder  niissbrilucblichen 
Benutzung  des  Taschen-  und  Trinkgeldes  vorgebeugt  und  zugleich  der  Besuch 
der  YereinerSnnie  gefordert. 

Ob  diesee  Vereinszimmer  nor  an  Sonntagen  oder  aneh  an  anderen  TagMi 
geöffnet  wird,  zu  welcher  Tageszeit  und  wie  lange  es  zu  geschehen  hat,  hängt  • 
von  der  BedUrfnisfrage  und  den  örtlichen  Verhältnissen  ab.   Im  Auge  ist  zn 
behalten,  dass  es  ein  Zoflnchts-  and  Bewahrungsort  für  die  jungen  Leute  während 
ihrer  IVeisdt  sein  «oll. 

6.  Finansiernng.  Da  die  VerdnsbeitrBge  (Stenern)  der  Jttngliiige  nnr 
gering  sein  können,  ist  es  nicht  möglich,  damit  die  Anforderungen  zn  decken. 
Die  ausserordentlichen  Mitglieder  werden  es  hi  !.  nicht  nehmen  lassen,  nach 
Kräften  beiza:^teuem.  Industrielle  Untemehnuiuifeii  (Aktiengesellschaften),  die 
junge  Leute  in  ihren  Betrieben  beschäftigen,  werden  gern  bereit  sein,  namhafte 
Untenttttsongen  sn  tpendoi.  Da  daa  üntemehmen  Ar  eine  jede  Gemeinde  nnd 
seihst  den  Staat  von  grogsem  Nutzen  i^t.  werden  auch  diese  beiden  Faktoren  sidi 
nicht  8tr:iTibfn,  ein  solches  Vorhaben  nach  jeder  Richtung  hin  zn  begünstigen. 
So  ist  im  Königreich  Sachsen  angeordnet,  dass  die  Übersohttsse  der  Gemeinde» 


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Sparkmen  n  gvmeinBtttsigen  Zwecken  verwendet  werden.   Eier  bietet  sick 

eine  Gelegenheit,  dies  Geld  dnrch  den  idealen  Gewinn,  die  sittliche  FCrdernng 
'le?  künftigen  Geschlecht? ,  sich  reichHch  verzinsen  zn  !a?sen.  Sozialdenkende 
begüterte  Privatpersonen  werden  gern  helfend  diesen  Vereinen  beistehen,  wenn 
es  gelingt,  de  flr  die  Ziele  denetben  m  begeiste». 

Der  Zneemmeuchlnu  der  emadnen  Onsrereine  m  Be^ke-,  jk  Lendee- 
▼er^gnngen  läast  bei  genügendem  Ansban  fftr  die  einzelnen  Vereine  grosse 
Vnrtpile  irhoflFeTi  Wichtig  ist  mir,  daw  der  kleinste  Ort  wie  die  grOeste  Stadt 
imstande  sind,  den  Gedanken  in  die  Tat  umzusetzen. 

IMe  Weitererziehung  der  schulentlassenen  Jugend  ist  ein  sozial-pädagogisches 
Problem  von  grOseter  Bedentang.  Jeder  Bttiger  hat  die  Flieht,  deeselbe  Um 
sn  helfen,  das  ganze  Volk,  nicht  einzelne  Kreise  geht  et  an  1  usteine 
ergeben  eim  feste  Maner.  die  unser  Volk  schfitsen  soll  gegen  den  Verfall.  Jeder 
soll  daran  mit  bauen  helfen. 

Wer  die  Jugend  hat,  der  hat  die  Zukunft. 


III. 

Ferienkurse. 

Ferienkurse  in  Jena  vom  5—18.  August  1908  für  Damen  nnd 
Herren.  Diis  Pro^'ranim  für  dit-  Kurse  zeigt  fttr  dieses  Jahr  wieder  ein»'  ir.iiiz 
bedeutende  Erweiterung  auf.  Die  Zahl  der  Teilnehmer  war  im  vergaugeueu 
Jahr  bereite  anf  631  gestiegen,  wfthiend  der  erste  Kmane  im  Jahre  1868  nnr  85 
aufwies,  ein  Zeichen  fttr  die  Lebensfähigkeit  und  wachsende  Bedentnng  der 
Institntion.  Das  diesjährige  Prog^ramm  £:liedert  .licli  in  7  Abteilungen:  Xatur- 
wistieuschaft  (12  Kurse),  Pädaijogik  (9  Kurse),  Kolonialwissenschaft  (4  Kurse), 
Schulhygiene  (6  Kurse),  Theologie,  Geschichte,  Literatur  (ö  Kurse),  Sprachkurse 
(5  Rnree),  SfationaUIkonomie  nnd  Sozial  Wissenschaft  (12  Knrse). 

Im  Ganzen  werden  83  Terachiedene  Knrse  gehalten,  teils  6-,  teils  ISetflndigeL 
Xen  sind  in  diesem  Jahr  die  Abteilungen  für  kolonialwissenschaftlicbe  Kurse, 
welche  die  besondere  Aufgab«  verfolg-en,  in  den  weite.«ten  Kreisen  das  Verständnis 
und  Interesse  fär  unsere  koiuuialen  Bestrebungen  zu  beleben,  und  die  seitens 
der  dentsehen  Kolonialgesellsehaft  energisch  gefordert  werden,  flli  National- 
ökonomie nnd  SosialwiMenacbaft  (besonder»  fttr  Beamte)  und  flbr  SAnlhyglene 
(fQr  Lehrer,  Lehrerinnen  und  Arzte).  Programme  sind  kostenfrei  daroh  das 
Sekretariat,  Frl.  Clara  Blome^'er,  Jena,  Gartenstrasj^e  4,  zn  haben. 

An  der  Universität  Greifswald  findet  auch  in  diesem  Jahre  vom  13.  Juli 
bis  1.  August  ein  Ferieuknrsus  (XV.  Jahrgang)  statt.  Die  Fächer  sind 
folgrade:  Fbonetik  (Fiel  JBtoiidltaikamp),  Denttdie  Sprache  nnd  Idtamtnr  (Prof. 
Heller,  Prof.  Steaeh),  FkaniOeieeh  (M.  Pleasia),  Engliach  (Hr.  Anden) »  BeUgimi 

(Kousistorialrat  Prof.  Hanssleiter),  Philosophie  (Prof.  Rehmke),  Geschichte  (Prof. 
B^raheim),  Geographie  (Privatdozent  Dr.  Braun),  Kunstgeschichte  (I*rof.  SPTnrau\ 
Geologie  (Prof.  Jaekel),  Chemie  (Privatdozent  Dr.  Strecker),  Physik  (Prof.  Stark), 


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—   319  — 


Zoologie  (Prof.  Jaekel),  BoUnik  (Prof.  Sehfitt),  Physiologie  (Privatdoient 
Dr.  Hugüld),  Hygieae  (Geheimrat  Prof.  Löffler).  Den  Vorletiuigeii  rar  Seit» 

gehen  zoologische,  botanische,  physikalische  Übnngen  bezw.  Exkursionen,  psycho- 
logisches Seminar,  frauzrisische,  englische,  deutsche  Sprachübungeu.  Ansfilhrliche 
Programme  sind  gratis  unter  der  Adr^ae  „Ferienkurse  Greifswald^  sa 
erkelten. 


€.  Bearteilangen. 


Lehrbuch  der  dentschea  Lite> 

ratur,  filr  «lie  'Zwecke  der  Lehrer- 
bildung, veriasst  von  Ü.  Hotop, 
KreiMchiiliiiepeklor.  Teil  I  ffir  Prüpa- 
raudenanstalten.  4.  verb.  Aufl.  VIII. 
180.  Pr.  1,75  M.,  geb.  2^  M. 
Halle  iiK)6,  Verlag  Ton  BeraiMm 
Sduoedel. 

Neben  einigen  äusseren  Fehlem 
welche  dem  Setzer  zur  Last  fallen 
(S.  33.  40,  62,  73,  101,  109)  habe  ich 
im  eiazelnea  (olgeiide  Einw&nde  xa 
erheben.  leh  würde  Sehillen  „Kiikhen 
der  Fi-emde"  nicht,  wie  Hotop  will, 
aus  der  Schale  hinanaweisen  (8. 19).  — 
Ber  Name  Ballade  ist  wahrscheinlich 
englischen  l'rspmncfs  (37).  —  Bedeutet 
das  ,,Männleiu  auf  einem  Bein"  in  Hoff- 
manus  Rätsel  nicht  eher  den  Pik  als 
•lie  Hagebutte  (ö3)?  —  Beckers  Rhein- 
lied  ist  noch  nicht  vergessen  (76).  — 
Hotop  meint  (89),  Lied»,  welche  die 
srescblecbtlirhe  Liobe  bcMing-en.  geLurten 
lijclit  iu  die  Volksschule,  bma  kommt 
doch  ^anz  auf  die  Art  und  Weise  der 
Behandlung  an!  —  Die  Ausdrücke 
männlicher  und  weiblicher  Reim  (99) 
werden  besser  durch  die  Ausdrücke 
stumpfer  und  klingender  Heim  ersetzt  — 
Ich  giaabe,  Hotop  wird  dem  guten.Hebe1 
nicht  ganz  lti  r  1 1  1h'  .  In  der  Äusse- 
rung „Auf  eiueuKaleudermacher  schauen 
Tide  Angen.  Deswegen  mnss  er  sieh 
immer  gleich  bleiben,  d.  b.  er  mnss  es 
immer  mitdt;räiegeud«;n  Partei  halten  — " 
steckt  doch  wohl  ein  iriit  Stück 
Schelmerei,  sie  braucht  nicht  al^  Hebds 
ernste  persönliche  Anschauung  auf- 
g^asst  zn  werden.  —  J.  H.  \<m  hat 
nicht  «pin  Alter  in  Jena  verlebt,  ist 
auch  nicht  dort  gestorben  (Ilöj.  Er 
war  in  Jena  nur  kürzere  Zeit,  ver- 
brachte seiii  Alter  in  Heidelberg,  ist 


auch  hier  gestorben.  —  „Des  Knaben 

Wunderhorn*'  ersdiien  nicht  18T2  iLSO), 
sondern  iu  den  Jahren  lÖOÖ— IbOÖ.  — 
Ich  halte  es  für  veiMilt,  den  sdiwftbi- 
schen  Dicliteikreis  nnr  als  einen  Kreis 
-des  grossen  Bundes"  der  romantischen 
Schule  xn  betrachten  (ISS). 

ira  Lesen  des  T'nrlies  störten  tnii  h 
die  methodischen  Bemerkungen,  die  in 
die  Hterarisehen  Beteaehtimgen  ein* 
geflochten  oder  an  sie  angeschlo:^sen 
sind.  Für  wen  hind  sie  berechnet? 
Der  Lehrer  an  der  Präparanden-Anstalt 
braucht  .sie  nicht.  Der  Pruparand  nber 
hat  gar  kein  Bedürfnis  nach  päda- 
gogischen Reflexionen.  Er  (soll  und) 
will  die  Dichtung  in  sich  aufnehmen, 

{^eniessen  nnd  ohne  methodische  Be> 
dirung  verarbeiten. 

Vielleicht  versteht  sich  der  Verfasser 
bei  einer  Neuauflage  dazu,  auch  die 
neuere  Dichtung  mit  zu  bcaehtra.  Daa 
wäre  dnn  liaus  kein  Verstoss  gegen  den 
siclier  zn  billigenden,  im  Vorwort  aus- 
gesprochenen Grundsatz,  „dass  ein  der- 
artiges Lehrbuch  nur  das  enthalten 
darf,  was  für  den  künftigen  Lehrer 
dauernden  Wert  behiilt.  sei  es,  dass  er 
es  ittr  seinen  Beruf  brauche  oder  dasa 
es  seine  allgeneine  Oeiatesbildnng  in 
besonderem  Masse  fördert".  Man  kauu 
soust  mit  der  AuswaM  einverstanden 
•ein.  Mit  Recht  wird  das  Sehlidite  nnd 
VolktUlmliche  betont 


Deutsche  Grammatik  für  Prä- 
laranden,  Seminaristen  und 
1  ehrer.  Von  P.  Tesch,  KgL 
Seroinardirektor  zn  Herford.  Erster 
Teil:  Wortformen-,  Wortbildungs- 
nnd  Satzlehre.  3.  Aufl.  Halle  1906,. 
Verlag  von  Hermann  Sehroedd. 
Ungeb.  2,70  M.  IX,  27a 


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TfSfli  b-'Zficlnu't  Biltlun^en  wie 
„der  VortraÄdes  Professor  Daeke"  ab 
mischOn  (S.  S0>.  Ich  meiue  »ogar,  dass 
«■ine  solche  Wortfügunc:  falsch  i>>t.  Da«> 
Wort  Professor  gilt  hier  als  (.TattniiJärs- 
nanid  and  lunss  dekliniert  werden.  Will 
man  aber  Professor  als  blossen  Titel 
auffassen,  so  dass  er  nüt  ilem  eigent- 
lichen Namen  xm  dner  Einheit  ver- 
fcliniilzt,  so  rmis»«  man  eine  andere 
Form  wühlen.  .Uso  »agt  luaa  entweder 
,.iler  \'ortra(;  des  Professors  Daidce"  oder 
„Professor  Üaekes  Vortrag". 

Die  Forderung:  ^Die  verknüpfenden 
Fürwörter  welcher,  welche,  ur'.clii-s 
werden  nur  in  Yerbindnng  mit  einem 
Dingwort  frehnncht"  (S.  m)  —  wttrde 
ich  nicht  so  bedingungsl».'«  hinstellen. 
Ist  es  doch  manchmu  ratsam,  ans 
«tilistischen  Orttnden  jene  WOrtchen  fflr 
der,  die,  das  eintreten  rn  lassen! 

Die  Entstehung  des  Wortes  kein 
{S.  Si  ist  richtig  dargestellt.  Nur 
"wUnle  i(b  nicht  satjeu:  M:in  teilte 
ne-chein  ab  und  fas&te  ne  als  Ver- 
neinung. Es  handelt  sich  nicht  um 
blosse.'^  Auffassen:  in  dem  ne  steckt 
doch  tatsächlich  die  Verneinung.  — 
Falsch  ist  es,  die  Wörter  lioffentlicb, 
flehentlich,  wesentlich,  wissentlich  als 
^Znsammenaetsungen  aw  lidi  and  der 
Mittelform  der  Gegenwart  m  betetcbneu 
(S.  177). 

Es  wKie  endlich  aneh  dnmal  Zeit, 

mit  dem  Gebrauche  zu  brechen,  dass 
man  Formen  wie  ich  schlüge,  würde 
|;esdi]agen,  würde  schlagen  als  Ver- 
gangenheiten bezeichnet  Sie  sind  doch 
nie  und  nimmer  Tätigkeitt:n,  die  als  in 
der  Vergangenheit  ausgeführt  gedacht 
werden.  Neben  der  Ableitnngr  der 
Formen  hat  besonders  die  Abhängigkeit 
der  deutschen  Sprachlehre  von  der 
lateinischen  Grammatik  zu  dieser 
«chiefen  Darstellung  geführt.  Fast 
alle  la]iilliinti():en  Spiat  Ii  lehren  schleppen 
diesen  Irrtum  mit  sich  fort 

MiC  Beebt  rftt  Teseh  (S.  110  Anm.), 
den  Ausdruck  Wurzel  in  der  dentscheu 
Sprachlehre  zu  vermeiden.  Denn  dieser 
Begriff  ist  sehr  dehnbar,  nur  der  Spraeh« 
f«  rscber  wird  die  Wtirzel  eines  Wortes 
halbwegs  richtig  bestimmen  kr>iinen.  — 
<tut  sind  die  Ausdrucke  Zwielaut  (für 
Doppellaut),  stamniverdoiipt-Ind  (für 
reduplizierend) ,  vergangeuheitsformig 


(für  praeterito  —  praesens),  Tatform 
(für  TäüglLeitsform). 

Tesch  bezeichnet  (S.  262  Anm.)  die 

Ausilribke  Satzreihe  mid  Periode  als 
entbehrlich  für  die  Siirachlehre.  Gut, 
ich  stimme  dem  bei.  Wijzu  dann  aber 
beide  Gebiete  doch  besonilers  behixnileln? 
Ich  gehe  noch  weiter  und  meine,  dass 
vieles  von  dem,  was  Tesch  in  der 
Wort-  und  Satzlehre  ^reboten  hat,  ohne 
Schaden  wegbleiben  küunie.  Ich  will  — 
von  vielem  abgesehen,  was  auch  andere 
Sprachlehren  aus  Liebe  zur  herkömm- 
liehen,  aber  ziemlich  nutzlosen  Syste- 
matik bieten  —  auf  einzelne  Punkte 
hinweisen.  So  z.  B.  bin  ich  kein  Freund 
der  grapUsehen  SatsdarsteUnngen,  deren 
Tesch  eine  grosse  Zahl  vorführt.  Sie 
nützen  wenig,  können  mitunter  ver- 
wirren. Und  das  Tieli^taltige  Leben 
der  Siltze  kann  nnrnPe-lKli  durch  zeich- 
nerische i<arstellnng  widergespiegelt 
werden. 

Ancb  ist  es  umi?5ti£r.  von  einlantigen 
und  umschlossenen  Silben  zu  .««prccben. 
Zwecklos  ist  femer  der  Begriff  Zwischen- 
selbstlaut;  zwecklos  ist  es,  deswegen, 
weil  das  e  ausfällt  —  um  diesen  Laut 
handelt  es  sieh  ja  in  der  Heitel  — ,  be- 
sondere Wortgruppen,  s.  B.  Zwischen- 
setbitlRnÜose  ZntwKrter,  xn  bilden. 
Man  niuss  sich  er^t  '.mtre  iiberleireu, 
was  gemeint  ist.  Wozu  soll  wegen 
der  drei  W9rler  tnn,  gebn,  atehn  erae 
besondere  Klasse  von  Zeitwörtern  niit^r- 
schit-len  werden?  (Das  ebenfalls  un- 
regelinässige  sein  konnte  wegen  dieser 
unnötigen  Neuemnc  den  genannten  drei 
Vertretern  nur  ganz  lose  und  äusserlicb 
angegliedert  werden.)  Zndem  ist  das 
Wort  unsch«'tn 

Ich  bin  auf  einzelne  Dinge  etwas 
mehr,  als  üblich  ist,  eingegangen,  weil 
Teschs  Grammatik  eine '  ausführlichere 
Besprechung  verdient.  Besonders  lobens- 
wert erscheint  mir  fMlt;;en<lcs :  die  passeu- 
deu,  bildenden  Beispiele:  das  Betonen 
der  WortbildnngslebTe:  die  mancherlei 
geschichtlichen  Ausblicke,  wie  sie  «irh 
in  der  Erklärung  von  .\bleitnng.ssilben 
nnd  Wörtern,  in  der  Besprechung  von 
vielen  Sprichwörtern  und  Redensarten 
kundgeben.  Alles  in  allem:  ein  gut^ 
Buch. 

Osehata.  Dr.  Hein  ho  Id. 


Dnick  TOB  A.  BlM«  A  BoliB  tn  Naombwi  8 


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A.  Abhandlangeu. 


l 

Psychogenesis  und  Pädagogik. 

Von  Hant  LiMtl^  Kiel. 
I. 

Im  I.  Bande  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  und 
psychologische  Sanimelforschung  ^)  vcröfifentlicht  der  besonders  um 
die  Psychologie  der  Aussage  hochverdiente  Breslauer  Professor 
William  Stern  eine  Abhandlung  Über  Tatsachen  und  Ursachen  der 
seelischen  Kntwicldiing,  die  zugleich  als  Prolegomenon  dienen  soU 
zu  einer  Reihe  vr>n  „Monographien  <jber  die  seelische  Entwicklung 
des  Kindes".  Hei  der  Erörterung  der  Grundfragen  der  Psycho- 
genesis  streift  Stern  auch  pädagogische  Dinge,  die  er  in  ausser- 
ordentlich Interessante  Beleuchtung  zu  rücken  weiss. 

Dass  die  Beziehungen  tiefgreifender  Art  sind,  ist  von  vorn- 
herein selTjstvcrständlich.  Für  eine  ideale  Pädagogik  gilt  die 
Forderung,  dass  sie  entwicklungstreu  sei,  d.  h.  sich  in  ihren  Unter- 
richts- und  Krziehungsmassnahmen  dem  jeweilig  erreichten  Reife- 
Stadium  des  Zöglings  anpasse,  unbedingt.  Ldder  ist  davon,  meint 
Stern,  heute  wenig  zu  spüren,  man  begnügt  sich  zumeist  bei  der  Aus- 
wahl, Verteilung  und  Darbietung  des  Lernmatcrials  mit  stofflichen  und 
logischen  Erwägungen.  Und  doch  ist  das  erklärlich  und  entschuld- 
bar, weil  bisher  eine  I'sychogenesis  des  Schulkindes  fehlte.  Die 
bisherige  Ktndcrpsychologie,  sofern  sie  entwicklungsgeschicbtUch 
war,  schloss  zumeist  mit  dem  dritten  Lebensjahre  ab,  sofern  sie 
pädagogisch  war  und  sich  auf  das  Schulaltcr  beschränkte,  begnügte 
sie  sich  mit  der  Untersuchung  einzelner  Funktionen  bei  einer  be- 
stimmten Altersstufe,  selten  bei  verschiedenen  iCindem  verschiedener 
Altersstufen,  fast  nie  bei  den  gleichen  Kindern  und  verschiedenen 
Entwicklungsetappen.  Dazu  fehlt  gänzlich  die  Epoche  vom  dritten 
bis  zum  sechsten  Lebensjahr  und  die  Pubertat^eriode.  Mithin  ist 

*)  Borth,  Leipzig,  1907. 
ndafOfiMlN  StodiM.  XXIZ.  B.  21 


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—    322  — 


eine  voUausgebaute  Psychogenesis  dringend  notwendig.  I^en  wir 
den  Finger  auf  einige  Momente  der  praktischen  Pädagogik,  för  die 
sie,  nach  Stern,  von  ganz  besonderer  Bedeutung  istl 

Bekannteste  Tatsache  der  seelischen  Kntwicklung  ist  das 
psychische  Wachstum,  das  ziK^leich  als  Dillerenliation  und  Inte- 
gration aufzufassen  isL  Man  liat  neuerdings  das  Wachstum  der 
Gradmessung  unterworfen,  doch  erstreckt  sich  diese  zumeist  auf 
einzelne  psychische  Funktionen  und  verfolgt  wohl  nirgends  den 
sukzessiven  Entwicklungsfortschritt  desselben  Individuums.  Das 
Wachstum  ist  aber  kein  stetes  Dahingleiten,  sondern  rhythmisiert. 
Alles  seelische  Leben  verläuft  in  Wellenform,  auf  iiohenpunkte 
folgen  Erachlafiungsmomente.  Das  offenbart  sich  zunächst  an  der 
Entwicldung  der  Teilfunktion,  das  offenbart  aber  besonders  die 
Gesamtcntwicklung^  eines  Tndividi;t:mc'.  Allcrdin^  müssen  wir 
heute  noch  in  der  Abgrenzung  der  J',[.twicklun^sperioden  sehr  vor- 
sichtig sein,  weil  wenig  wissenschal üicii  gesichertes  Beobachtungs- 
material voiUegt;  man  ist  zumeist  auf.  die  Beobachtung  des  ge- 
wöhnlichen Lebens  angewiesen.  Diese  lehrt,  dass  die  Jugendzeit 
sich  in  drei  Wellen  von  etwa  6  — 7 jähriger  Dauer  zerlegt,  deren 
jede  einen  anfänf^Uchen  starken  Kntwicklungsfortschritt  mit  einer 
folgenden  schwächeren  Periode  aufweist  Die  Perioden  des  rapiden 
Wachstums  liegen  in  den  ersten  drei  Lebensjahren,  in  den  eisten 
Sdiuljahren  und  in  der  Pubertätsperiode. 

Wesentlich  ist,  Entwicklungslänge  und  Entwicklungsweite  zu 

imtcrscheiden,  die  crstcrc  geht  auf  die  Zeit,  die  zweite  auf  die 
Tiefe  der  Entwicklung.  \'on  besonderer  Bedeutung  ist,  sie  als 
relative  Grössen  zueinander  in  Beziehung  zu  setzen,  d.  h.  in  ihrem 
Verhältnis  zur  Gesamtlebenslängc  bezw.  dem  gesamten  Lebensinhalt 
des  Indi^duums,  also: 

El 

=  relative  El 

1  A 

^  «  relative  Ew. 

Lw 

Sicher  ist,  dass  die  Quotienten  von  Art  zu  Art,  vom  männ- 
lichen zum  weiblichen  Geschlecht,  vom  Individuum  zum  Individuum 
stark  variieren,  aber  untereinander  stehen  ae  einigermassen  in 

Proportionalität.    So  z.  B.  kommt  das  Menschoikind  viel  unfertiger 

auf  die  Welt  als  das  Tier,  aber  gemessen  an  der  Gesamt- 
lebenslänge und  der  Gesamtlebensweite  erweist  sich  diese 
Unfertigkeit  nur  als  relativ,  denn  sie  bedeutet  eine  viel 
stärkere    Entwicklungsmöglichkeit    und   Entwicklung.  Innerhalb 

der    menschlichen    Individuen    zeigt   sich   Wiederholung  dieser 

Varietätenbildungcn,  r\her  unter  viel  geringeren  Grössenvcrhältnissen. 
So  kann  der  bedeutende  Vorsprung ,  den  manche  Kinder  vor 
anderen  haben,  daher  rühren,  dass  ihre  gesamte  geistige  Potenz 


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—  323 


eine  höhere  ist  und  bleibt,  aber  auch  darauf  beruhen,  dass  sie  die 
&itwicklung  auf  eine  viel  kürzere  Zeit  zusammendrängt/  so  dass 
die  scheinbare  Oben;v  ertigkeit  durch  einen  früheren  Stillstand  kom- 
pensiert  oder  ^ar  überkompensiert  wird.  Die  Zahl  der  Menschen 
ist  ja  leider  recht  gross,  die  in  ihrer  JiiLTcnd  viel  versprachen,  aber 
hernach  nur  wen^  hielten.  —  Auch  Unterschiede  in  der  Psycho- 
genesis  der  verschiedenen  Geschlechter  erlauben  die  Anwendung 
gleicher  Geachtspunkte.  Den  zeitlichen  Vorsprung  in  der  Ent* 
Wicklung  des  weiblichen  Geschlechtes  gegenüber  dem  männlichen 
bestätigen  vulgäre  und  wissenschaftliche  Kindesbeobachtung.  Die 
wcibHche  Entwicklung  gelangt  aber  durchweg  viel  eher  zum  Still- 
stande als  die  mäimUche.  Während  im  25  jährigen  weiblichen ' 
Wesen  alle  seelischen  Potenzen,  die  es  überhaupt  zu  entwickeln 
vermag,  zum  mindesten  vorgebildet,  grossenteüs  schon  voll  ent- 
wickelt sind,  steckt  der  25j^rige  Jüngling  noch  voll  ungeahnter 
Zukunftsmöglichkeiten. 

Eine  weitere  geschlechtliche  DiiTerenziening  offenbart  sich, 
wenn  man  Entwicklungsumfang  und  -rhytfamik  miteinander  verbindet; 
denn  da  das  weibUdie  Geschlecht  einen  im  ganzen  etw^  geringeren 
Entwicklungsumfang  in  kür/>erer  Zeit  durcheilt,  so  ist  7x\  vermuten, 
dass  bei  ihm  auch  die  einzelnen  Stufen  sowohl  an  Höhe  wie  an 
Länge  hinter  denen  des  männlichen  Geschlechts  zurückstehen 
werden.  Stimmt  das,  so  steckt  darin  die  praktisch  mcht  un* 
V.C  entliehe  Folgerung,  dass  die  Entwicklungslinien  beider  Ge- 
schlechter nicht  parallel  laufen,  sondern  bald  konvergieren,  bald 
divergieren.  Am  Anfang  und  Finde  der  Schulpflicht,  mit  6 — 7  und 
14 — 15  Jahren  stehen  sich  beide  Geschlechter  ziemlich  nahe,  viel- 
leicht mit  einem  gewissen  Vorsprung  des  weiblichen.  Dazwischen 
aber  Idafft  eine  grosse  Differenz  zu  U;igunsten  der  Mädchen,  die 
um  das  10.  — 12.  Lebensjahr  am  grössten  ist.  Ja,  nach  schul- 
pflichtiger Zeit,  der  des  höheren  Schulwesens,  träte  dann  ein  neuer 
Vorsprung  für  Knaben.  Das  Ausgeführte  bedarf  zu  seiner  Be- 
festigung aber  noch  viel  genauerer  I^fungen  auf  breiter  Grundlage. 
Die  Bestätigung  wäre  dann  allerdings  ein  entscheidendes  Argument 
in  der  Beurteilung  der  Koedukationsfrni^f , 

Bisher  handelte  es  sich  um  r  ;i:  iruitative  Grundtatsachen  der 
psychischen  ii-atwicklung  —  von  nicht  geringerer  Bedeutung  sind  die 
qualitativen.  Zu  diesen  gehören  zunächst  die  Entwicklungsmeta« 
morphosen.  Die  Entwicklung  ist  nicht  blosses  Wachstum,  sondern 
bildet  eine  Kette  von  Metamorphosen.  VVohl  sind  im  Neu- 
geborenen alle  seelisclien  Hauptfunktionen  in  ersten  Anfangen  an- 
gelegt, aber  sie  wachsen  nicht  gleichmässig  nebeneinander,  sondern 
machen  erst  nacheinander  ihre  entscheidenden  Reifungsprozesse 
durch.  So  hat  jedes  Teilmoment  seine  Reifezeit,  da  es  nach 
Möglichkeit  dominiert,  um  später  einem  andern  Platz  zu  machen. 
Diese  Spezialisierung  geht  sicher  noch  viel  weiter,  als  die  wenigen 

21* 


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—    324  — 

genauen  Beobachtungen  ahnen  lassen,  die  heute  vorliegen.  Über 
äre  einzelnen  Phasen  wissen  wir  herzlich  wenig  —  und  doch  wäre 
eine  genauere  Kenntnis  derselben  notwendige  Vorbedingung  för 
eine  entwicklungstreu c  Pädagogik. 

Entwicklungsformeln.  Mancherlei  Feststellungen  belehren,  dass 
gewisse  Stadienfolgen  nicht  nur  bei  verschiedenen  Individuen, 
sondern  auch  bei  verschiedenen  Funktionen  sich  wiederholen*  Darf 
man  auf  Grund  solcher  Beobachtungen  einfache  Entwiddui^fsfonneln 
konstruieren?  Zweifellos  haben  solche  Formeln  (besonders  die 
Hegels:  Thesis,  Antithesis,  Synthesis)  gewissen  Wert,  sei  es 
heuristisches  Forschungsprinzip,  sei  es  als  Anzeichen  dafür,  dass 
dne  formale  Gesetzmassigkeit  vorliegt  —  aber  sie  verluten  auch 
zu  einer  Schematisierung,  bei  der  die  konkrete  Fülle  der  wirklichen 
Fntwicklungsphasen  geradezu  vergewaltigt  wird.  T>:xgegen  gibt 
es  keinen  besseren  Schutz,  als  die  empirische  Kinderforschung,  die 
wohl  Formein  hnden  und  anwenden  wird,  sich  aber  stets  darüber 
Idar  bleibt,  dass  mit  einer  solchen  Formel  sich  der  Reichtum  des 
psychischen  Lebens  nicht  erschöpfen  lässt. 

Als  Beweis  für  die  Rlchtip^keit  des  zuletzt  Gesnc^tcn  soll  der 
Versuch  dienen,  diejenige  Formel  herauszuarbeiten,  die  nach  dem 
heutigen  Stande  unseres  Wissens  am  besten  geeignet  sind,  die 
Hauptrichtung  in  der  seelischen  Entwicklung  des  Kindes  zu  charak- 
terisieren. Sie  lautet:  vom  Peripheren  zum  Zentralen.  Das  soU 
heissen :  das  sich  entwickelnde  Individuum  ist  ursprünglich  vor- 
wiegend peripheres  Wesen,  von  aussen  empfangend  und  nach 
aussen  sich  entladend,  ohne  inneren  Aufenthalt  von  einem  zum 
andern  übergehend.  IMese  ursprüngUchste  Entwicklungsform  ist 
einheitlich  sensomotorisch.  Die  Entwiddung  beruht  nun  darauf, 
dass  sich  in  diese  ursprüngliche  Ungeschiedenhelt  ein  ständig 
wachsendes  Zentrales  einschiebt.  F.s  macht  sich  so  geltend ,  dass 
sowohl  die  sensorischen,  wie  die  motorischen  Bewegungen  sich 
nach  und  nach  verselbständigen,  nicht  mehr  rein  reflektorisch  aus- 
gelöst werden.  Dazwischen  breitet  sich  die  innerlich  bleibende 
Tätigkeit  (physisch  =  Gehirn,  psychisch  =  Bewusstsein)  immer 
weiter  aus.  Zuerst  werden  diejenigen  Leitungen  ausgebildet,  die 
in  einem  unmittelbaren  Zusammenhang  zu  den  peripheren  JProzessen 
stehen,  dann  diejenigen,  in  denen  sidi  das  Bewusstsein  immer  mehr 
emanzipiert  und  immer  grössere  Selbständigkeit  erringt.  Das  ist 
die  Generalformel  für  viele  Teilformeln:  Von  der  Anschauung  zum 
Begriflf,  von  der  Rezeptivität  zur  Spontaneität,  von  der  einfachen 
Willeitö-  zur  Vernunfthandlung,  von  dem  Haften  an  der  Gegenwart 
zu  einer  immer  souveräneren  Fähigkeit,  auch  das  Abwesende  und 
Feme,  das  Zukünftige  und  Vei^angene  mit  einzubeschUessen  und 
zu  berücksichtigen  u.  s.  t  u,  s.  f.  Jede  dieser  Formeln  schliesst 
zahlreiche  Möglichkeiten  pädagogischer  Nutzanwendungen  in  sich. 
Doch  darf  man  sich  diese  Formeln  nicht  falschlich  so  vorstellen,  als 


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laufe  das  Ziel  der  Entwicklung  auf  ein  von  aller  sinnlichen  Wahr- 
nehmung und  von  aller  äusseren  Willenstätigkcit  losgelöstes  Bc- 
wusstscin  hinaus;  die  zentralen  Funktionen  lösen  nicht  etwa  nur 
antithetisch  die  sensomotorischen  ab,  sondern  verbinden  sich  mit 
Urnen  immer  wieder  zu  synthetischer  Einheit. 

Der  Generalformel  widersprechen  eine  Reihe  von  Entwiddungs- 
tatsachen,  die  in  umgekehrter  Richtung  verlaufen«  nämlich  von  der 
Selbständigkeit  zur  SelbstverständHchkeit ,  wo  nicht  eine  stete 
Steigerung  der  Innenvorgänge,  sondern  eine  Mechanisierung  des 
früher  Bewussten  stattfindet,  wie  bei  allen  Vorgängen  des  Ubens 
und  Lernens.  Der  Widerspnidi  ist  aber  nur  scheinbar.  Die 
Mechanisierung  ist  nur  eine  notwendige  Ergänzung  zu  der  fort- 
schreitenden X'ersclbständigung,  Die  Mechanisierung  t<=it  nur  eine 
notwendige  Selbsterlialtung,  ohne  sie  würde  die  geistige  Entwick- 
lung sehr  bald  an  der  Grenze  der  MögUchkeit  angelangt  sein.  Die 
Ecsparung  durch  die  Mechanisierung  macht  immer  wieder  Kräfte 
frei  für  die  progressive  Tendenz,  sie  erst  macht  weitere  Selbst- 
cntfaltung  möglich. 

Damit  wird  die  Pädagogik  vor  eine  eigentümliche  Antinomie 
gestellt;  auf  der  einen  Seite  ergibt  sich  die  I' orderung:  Erziehung 
zur  Selbständigkeit,  auf  der  andern:  Erziehung  zur  Sdbstverstand- 
lichkeit  Der  bequemere  Weg,  nur  eine  der  beiden  Formeln  zu 
berücksichtigen ,  hat  in  der  Pädagogik  bis  heute  genug  Unheil  an- 
gestiftet. Die  Wahrheit  liegt  in  der  Mitte:  der  Mensch  ist  ein 
progressives  und  konservatives  Wesen  zugleich,  es  gilt  Erziehung 
zur  Selbständigkeit  und  Selbstverständlichkeit 

Stern  fragt  weiter  nach  den  Ursachen  der  seelischen  Ent- 
wicklun;^  Zwei  Reihen  von  Faktoren  kommen  in  Iktracht,  äussere 
und  innere.  Zu  den  erstcren  gehören :  konstitutionelle  Einflüsse, 
sensorielle  Reize,  beabsichtigte  und  unbeabsichtigte  pädagogische 
Einllüss«,  —  zu  den  letzteren:  allgemeine  und  spezietie  Vererbung, 
sexuelle  Beschaffenheit  und  die  eigentliche  Besonderheit  der  Indi* 
vidualität  Die  Mtrrnntive  „Innen  oder  Aussen",  „Xativismus  oder 
Empirismus"  tritit  den  Kern  des  psychogenetischen  Ursachen- 
problcms  und  die  Entscheidung  für  diese  oder  jene  Seite  greift 
auch  tief  und  unmittelbar  in  die  Kulturprasds  ein.  Tatsachlich 
kann  jeder  der  beiden  Standpunkte  schwerwiegende  Argumente 
für  sich  in  Anspruch  nehmen  —  ein  Beweis  dafür,  dass  beide  teil- 
weise richtig  sind.  Aber  die  Argumentationen  halten  sich  an 
fertige,  nicht  werdende  Erzeugnisse  des  seelischen  Lebens:  in  diesen 
fertigen  Erzeugnissen  sind  aber  die  Wirkungen  des  Innen  und 
Aussen  so  innig  miteinander  verschmolzen,  dass  nur  ihre  willkürliche 
Scheidung  möglich  ist.  Erst  die  Kinderpsychologie  kann  zuverlässig 
entscheiden  —  und  sie  lehrt  unwiderleglich,  dass  alle  psychische 
Entwicklung,  ja  jede  psychische  Erscheinung  und  Leistung  im 
einzelnen  aus  Produkt  der  Konvergenz  des  Aussen»  imd  Innen- 


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326  — 


faktors  tu  begreifen  ist.  Damit  kommt  man  auf  den  Zentralbcgriff 
aller  genetischen  Ursprungsprobleme,  den  der  Anlage.  „Unter 
Anlage  verstehen  wir  den  ständigen  inneren  Anteil  an  den  Be- 
dingungen, die  zur  Verwirklichung  des  psychischen  Lebens  ge- 
hören." Der  Begriff  der  Anlage  enthält  drei  besondere  Merkmale: 
I.  das  Aktivitätsmerkmal.  Alles  psychische  Leben  ist  Tätigkeit, 
nicht  blosses  Dasein,  Kommen  und  Gehen,  doch  ist  diese  Aktivität, 
trotz  der  verschiedenen  Richtungen  und  Mittel,  eine  ursprünglich 
einheitliche;  man  kann  primär  von  Veranlagung,  nicht  aber  von 
Anlagen  sprechen.  2.  Das  teleologische  Merkmal.  Auch  das  Ziel 
ist  einheitlich,  es  handelt  sich  darum,  eine  geistige  Persönlichkeit 
bestimmter  Konstitution  zu  verwirklichen.  3.  Das  Merkmal  der 
Potentialität  ist  negativ.  Die  Anlage  ist  stets  ergänzungsbedürftig. 
Sie  bedeutet  nur  die  Möglichkeit  der  Betätigung  und  Tendenz 
auf  ein  Ziel  hin,  erst  wenn  sie  mit  den  von  aussen  kommenden 
Umweltbedingungen  zusammentreffen,  entsteht  der  konkrete  Inhalt 
des  seelischen  Lebens.  Das  Ineinandergreifen  beider  Faktoren  kann 
man  sich  nicht  innig  genug  denken. 

Kinc  ideale  Pädagogik  muss  im  psychogenetischen  Sinne  ent- 
wicklungstreu sein.  Die  Forderung  gilt  vom  Unterricht,  wie  von 
der  Erziehung  —  hängen  doch  beide  aufs  engste  miteinander  zu- 
sammen. Entwicklungstreu  kann  nicht  wohl  etwas  anderes  be- 
deuten» als  die  Pädagogik  muss  in  allen  Massnahmen  und  Forde- 
rungen sich  dem  jeweiligen  Stande  der  kindlichen  Entwicklung 
anpassen.  Sic  darf  nirgends  der  natürlichen  Entwicklung  vorgreifen 
oder  ihr  nachhinken.  Es  muss  auf  alle  Entwicklungsetappen  eine 
gewisse  Gleichgewichtslage  bestehen  zwischen  der  jeweilig  be- 
stehenden psychophysischen  Arbeitskraft  und  den  Arbeitsfordeningen 
durch  den  erziehenden  Unterricht.  Schwankungen  dürfen  in  dieser 
Gleichgewichtslage  nur  innerhalb  gewisser  enger  Grenzen  vorkomtnen, 
wenn  anders  das  V^crhältnis  gesund  und  erspriesslich  scui  solL 
Zugleich  enthält  dieses  Verhältnis  ein  Problem,  das  die  Pädagogik 
immer  wieder  beschäitigte.  Praktisch  and  offenbar  drei  Verhält- 
nisse zwischen  Arbeitsforderung  und  Arbeitskraft  möglich: 

Arbeitsforderung  >  Arbeitskraft, 

Arbeitsforderung  <r  Arbeitskraft, 
Arbeitsforderung  =  Arbeitskraft. 

Nur  das  Verhältnis  Arbeitsforderung  =  Arbeitski ;itt  i=;t  päda- 
gogisch richtig  und  wertvoll;  die  beiden  andern  werden  in  dem- 
selben Masse  unpädagogisch,  wie  sich  das  eingeschobene  Wert- 
zeichen positiv  bezw.  negativ  verändert  Ist  die  Arbeitsforderung 
grösser  als  die  Kraft,  auf  die  sie  gerichtet  ist,  wird  dem  Zögling 


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—  327  — 


zugemutet,  zu  leisten,  was  er  nicht  imstande  ist  oder  doch  nur 

unter  äusserster  Kraftanstrenj^unf^  zuwege  bringt ,  dann  sind  "Mut 
losigkeit,  Überdruss,  Langeweile,  diese  Todfeinde  einer  gesunden 
Arbeit,  notwendige  Folgeerscheinungen,    bei  dem  Massenunterrichte 
Ist  selbstveiständtich,  dass  der  Distanzwert  zwisdien  Kraft  und  An- 
forderung nahezu  ebenso  viele  Varianten  aufweist»  wie  Schüler  in 
der  Klasse  vorhanden  -^ind.    Auslese  durch  Versetzung  u.  a.  wird 
zwar  die  relativen  Ditlerenzwerte  auf  eine  kleine  und  kleinste  Zone 
einschränken,  aber  niemals  ganz  au^leichen  können.   Ein  steigender 
Pkosentsstz  der  Schüler  kommt  nadi  der  Auslese  doch  wieder  in 
eine  Lage,  da  Arbeitskraft  und  Arbeitsforderung  einander  nicht 
entsprechen.    Man  darf  den  Wert  ^  oder  <^  nur  dann  als  päda- 
gogisch bedenklich  verurteilen,  wenn  er  für  das  Gros  einer  Klasse 
zutrifft.  —  Genau  so  bedenklich  ist  das  zweite  Verhältnis,  worauf 
ich  nicht  nSher  einzugdttn  braudie.    Es  kommt  darauf  an,  auf 
jeder  Entwicklungsstufe  das  Verhältnis  zwischen  Arbeitsforderung 
und  Arbeitskraft  so  zu  regulieren,  dass  mit  den  geringsten  Mitteln 
die  wertvollsten  Leistungen  erzielt  werden.  —  Diese  Forderung  ist 
scibstverstandiich,  wie  nur  eine  —  um  so  verwunderlicher  ist,  dass 
^e  bis  heute  noch  nicht  in  wünschenswertem  Masse  erfüllt  worden 
sind,  ja,  dass  wir  eist  die  Erfolge  einer  ganz  jungen  Wissenschaft 
der  von  der  Entwicklung  des  kindlichen  Seelenlebens,  abwarten 
müssen,  um  ihr  ganz  Genüge  tun  zu  können. 

Der  physischen  Entwicklung  des  Kindes  hat  man  mehr 
Beachtung  geschenkt  Das  ist  durchaus , verstandlich.  Hier  haben 
die  Gegenstande  der  Beobachtung  greifbare  physische  Gestalt,  sie 
können  mancheriei  Massmetfaoden  unterworfen  werden.  Wertvolle 
I- -'^'ebnisse  Hegen  vor  aus  vwschiedenen  Ländern,  teils  anthro- 
pometrische,  teils  die  Pädagogik  noch  näher  angehende  physio* 
logische  Untersuchungen  und  Beobachtungen  über  Vitalität  (Lungen- 
ka|>azität),  Druckkraft,  Hörschärfe,  Sehschärfe  u.  a.  Man  hat  sie 
studiert  unter  dem  Einfluss  von  Alter,  Geschlecht,  Milieu, 
Nationalität,  Jahreszeit  u.  v.  a.  Man  hat  deutliche  Gesetzmässi^^keit 
nachgewiesen,  sie  mathematisch  klar  formuliert.  Allgemeinstes 
Resultat  aller  dieser  Untersuchungen  ist:  alle  physische  Entwicklung 
gebt  nicht  stetig,  sondern  periodisch,  in  WeÜenform,  vor  sich  und 
zwar  nicht  nur  in  grossen  Zügen,  sondern  innerhalb  dieser  wieder 
in  kleiiif^ren  .'\bschnitten.  Man  hat  Wellenbewegungen  nach- 
gewiesen, die  sirh  über  das  ganze  I  eben,  dessen  Hauptabschnitte, 


^eles  hier  auch  noch  zu  tun  bleibt  —  die  physische  Entwicklung 

des  Kindes  ist  uns  heute  durch  zahlreiche  wissenschaftlich  zu- 
verlässige Beobachtune^en  ungleich  näher  gebracht  worden  als  die 
kindliche  Psychogcnesis  —  hier  ist  heute  —  nach  Stern  — 
höchstens  von  bescheidener  Vorarbeit  zu  reden. 

Zwar  hat  man  psychische  Einzelfunletionen,  wie  emige  Seiten 


des  Jahres,  ja  der  Monate 


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des  Gcdäclunisscs  in  seiner  Kntwicklung,  über  einen  längeren  Zeitraum 
hin  und  genauer  verfolgt,  doch  handelte  es  sich  zumeist  um  Massen- 
beobachtungen, man  begnügte  sich  mit  der  Aneinanderordoung 
verschiedener  Jahrgänge  and  beschritt  nicht  den  unendlich  vid 
mühsameren  Weg,  dieselbe  Gruppe  der  Kinder  im  Laufe  der  Jahre 
immer  wieder  zu  beobachten,  geschweige  denn  eine  umfängliche 
Psychogenesis  auf  Grund  wissenschaftlicher  Studien  zu  gewinnen. 
Dazu  beschränkten  sich  diese  Untersuchungen  nur  auf  einen  Teil 
der  Sdiulzdt,  zumeist  blieben  die  jüngeren  schulpflichtigen  Kinder 
aus  verauchstechnischen  Gründen  ausser  Wertung.  —  Trotz  dieser 
und  anderer  Mängel  spiegelte  sich  in  den  Ergebnissen  der 
Beobachtungen  das  allgemeine  Resultat  wieder,  dass  die  phj^ischen 
Untersuchungen  zutage  gefördert  hatten :  die  Entwicklung  geht  nicht 
Stufenweise  oder  in  stetigem  Wachstum  vor  sich,  sondern  periodisch 
auf*  und  absteigend.  Die  Haupttendraz  der  Entwicklung  ist  natür- 
lich aufstrebend,  aber  auf  einzelne  bedeutendere  Vorwärtsbewegungen 
folgen  periodische  Retardierungen,  während  deren  zumeist  eine 
neue  Seite  psychischer  Entwicklung,  die  alte  verdrängt  und  für 
sich  vorübergehend  die  Hegemonie  beansprucht,  bis  sie  demselben 
Schicksale  erliegt  Neben  diesem  Wechsel,  der  zumeist  in  längeren 
Zettlauften  sich  abspidt,  beobachtet  man  stündliche,  monatliche  usw. 
Energieschwankungen.  —  Man  beobachtet  also  deutlich  in  diesem 
Hauptergebnis  Übereinstimmung  hüben  und  drüben,  ob  diese  aber 
derart  ist,  dass  auf  beiden,  dem  physischen  wie  dem  psychischen 
Gebiete  die  Wellenbewegungen  parallel  laufen  oder  einander  ent* 
gegengesetzt  sind,  das  lässt  sich  aus  dem  geringoi  wissenschaft- 
lichen Material,  das  heute  vorliegt,  keineswegs  auch  nur  mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  entnehmen. 

Und  nun  gar,  wo  es  sich  um  die  Entwicklung  der  kmdhchcn 
Sede  in  allen  ihren  Funktionen  handelt  Auch  wo  es  sich  lediglich 
um  die  quantitative  Seite  derselben  handdt,  sieht  man  sich  zur 
Hauptsache  a^f  dir  Vulgärbeobachtung  verwiesen  und  auf  einige 
wenige  Forschungsergebnisse  mit  den  Mitteln  moderner  psycho- 
logischer Beobachtung.  Hier  hegt  ein  gewaltig  grosses  .\rbeitsfeld 
vor,  allerdings  dn  solches  von  ganz  eminenter  praktischer  Be> 
deutung  Air  die  Pädagogik.  Ich  schätze  die  Arbelt  so  gross,  dass 
frühestens  eine  kommende  Generation  über  die  Grundlinien  der 
Psychogenesis  orientiert,  erst  eine  weitere  im  Sinne  derselben  ent- 
wicklungstreu erzogen  werden  wird.  —  Warum  ?  Nennt  man  unsere 
ZtÄt  zu  Unrecht  das  Jahrhundert  des  Kindes?  Kdneswegsl  Niemals 
früher  ist  so  viel  über  die  Psychologie  des  Kindes  gehandelt  und 
geschrieben  worden.^)  .^usserordcntüch  wertvolle  Snmmchrbcit 
und  Einzdbcobachtung,  teils  auch  experimenteller  Art,  ist  gdeistet 


*)  Be&ODdm  za  vcrglcichco:  Ament,  FortschriUc  der  KindcrsecicDkande  1895 
1903'  I^P»8i  EnfdinmoD.   1906.  (Dennicbtt  snch  die  Lit  ftm  1904/5.) 


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worden,  aber  wir  besitzen  in  ihnen  nur  Hindeutungen  auf  eine 
Psychogcnesis.  Es  fehlt  die  sorgsame  wissenschaftliche  Beobachtung^ 
der  Entwicklung  eines  und  desselben  Kindes  von  der  Geburt  bis 
zur  Reife  in  Hunderten  von  Einzelfallen,  unter  den  verschiedensten 
Umwdtseinwirkungen. 

Die  vorhandenen  autobiographischen  Aufzeichnungen 
sind  Rückkonstruktioncn  dirbtcnsrh<^r  Art  auf  versrh\^'undene 
Kindheitstage;  tatsächliche  Stutzen  hnden  sie  an  gelegentlichen 
Aufzeichnungen  und  an  den  trügerischen  Daten  des  (ledächt- 
nisseSy  die  för  einzelne  Momente  oft  weit  in  das  Jugendalter 
tuittcl^ehen.  Um  diese  tatsächlichen  Momente,  wenn  man  sie  so 
nennen  will,  waltet  und  schafft  die  dichterische  Phantasie,  deren 
Erzeugnisse  um  so  mehr  psycholot^ischc  Wahrscheinlichkeit  enthält, 
je  mehr  Uir  Träger  versteht,  mit  „Kindern  umzugehen",  sich  in  ihre 
Wdt  hineinzuversetzen  und  sich  zeitweilig  darinnen  wohl  zu  fulilen. 
Immer  bleiben  diese  Erzeugnisse  dichterische  Gebilde,  ein  Gewebe 
gegenwärtiger  Gedanken  um  einige  rudimentäre  Erinnenings- 
petrefakte.  Eine  zuverlässige,  glaubhafte  Psychogenesis  können  sie 
niemals  bieten. 

Aber  ntc^t  minder  sind  die  angedeuteten  Zusammen- 
Ordnungen  von  Massenbeobachtiuigen  lediglich  Konstruktionen 
einer  Psychogenesis  für  licsondere  Teilfunktionen.  Keinen  Augen- 
blick soll  der  Zweifel  aut kommen  daran,  dass  sie  erheblich  wert- 
volleres leisten  als  jene  autobiographischen  Darstellungen,  —  ein  mehr 
oder  minder  die  Tatsachen  wiUkÜrHch  korrigierendes  Moment  haftet 
ihnen  dennoch  an.  Sie  ordnen  tatsächliche  Einzelbeobachtungen 
zu  einem  Bilde  der  Psychogenesis  des  Kindes  in  grossem  Stile  zu- 
sammen ,  vertragen  aber  eine  Differenzierung  rückwärts  nur  in  be- 
scheidenem Umfange.  Auf  die  stete  „Konvergenz  des  Innen-  und 
Aussen&ktors"  können  sie  keine  Rücksicht  nehmen. 

Eine  wertvolle  Psychogenesis  kann  nur  gewonnen  werden  auf 
Grund  durchaus  zuverlässiger  allseitiger  Beobachtungen  desselben 
Individuums  in  allen  P2nt\vicklungsstadien,  Diese  erfordern  wieder 
einen  grossen  Stab  wissenschaftlich  geschulter  Beobachter,  der  zudem 
genügend  Zeit  hat,  das  IGnd  teilnehmend  und  sorgsam  in  hundert 
Ueinen  Dingen  zu  begleiten.  Hier  kann  die  psychologisch  gebildete 
Mutter  der  Wissenschaft  grosse  Dienste  leisten  (vgl.  die  einleitend 
erwähnten  Monographien  von  Qara  und  William  Stern!);  hernach 
müssen  Haus  und  Schule  miteinander  die  engste  Fühlung  behalten. 

„Die  Pädagogik  muss  entwicklungstreu  sein.  Die  Auswahl, 
Anordnung  und  Darbietung  des  Stoffes  wurde  bisher  meist  nach 
logischen  oder  sachlichen  Gesichtspunkten  getroffen."  Ich  fasse 
diese  Auslassung  Sterns  zunächst  nicht  auf  als  einen  Vorwurf 
gegenüber  der  Pädagogik,  wie  konnte  man  ihr  vorwerfen,  sie  sei 
nicht  entwicklungstreu  im  Sinne  einer  Psychogenesis  des  Kindes  — 
wenn   diese  heute  überhaupt  noch  nicht  vorhanden,  sondern 


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höchstens  in  einigen  allgemeinen  Prinzipieti  frissbar  ist.  Stern  macht 
nicht  einen  Vorwurf  rückwärts,  wohl  aber  eine  Projektion  voraus, 
da  entwickelte  psycliogcnetische  Gesetze  tief  mitbestimmend  ein- 
wirken werden  auf  die  Massnahmen  der  praktischen  Pädagogik. 
Er  spornt  an,  eine  neue,  tiefere,  naturgemässere  B^fründung  der 
Pädagogik  zu  erringen,  als  ihr  heute,  nach  Stern,  gegeben  ist.  eine 
Bekundung  —  so  zeigen  die  Prolegomena  genau  —  die,  unbeirrt 
durcii  einseitige,  extreme  Forderungen  der  Gegenwart  (die  doch 
zumei^  nur  ein  Aufdrängen  der  eigenen  subjektiven  geistigen  Ver^ 
anlagung  und  Entwicklung  sind  dem  Andersgearteten,  Andexs- 
denkenden  ge^i^enübcr'  (!er  kindlichen  Eigenart  in  höherem, 
schauenderem  Sinne  Rechnung  tragen  will. 

Einen  1  adel  konnte  man  für  den  praktischen  Unterricht  —  auf 
den  beschrankt  sidi  Stern  in  der  Auslassung  erblicken,  die 
Auswahl,  Anordnung  und  Darbietung  des  Stoffes  geschehe  bisher 
meist  nach  logi.schcn  oder  sachlichen  Gesichtspunkten,  wenn  sie  in 
dem  Sinne  gemeint  sei,  dass  bisher  die  Pädagogik  sich  meist  nicht 
in  entwicklungstreuem  Sinne  bemüht  habe.  Die  didaktische  Regel: 
Beachte  die  ländliche  Individualität  —  ist  ein  altes  Inventaiium  der 
Pädagogik  und  als  eines  ihrer  Hauptprobleme  —  natüfiich  auf 
Grund  besonderer  intuitiver  Gabe  der  Vulgärbeobachtung  oder 
je  nach  dem  Stande  der  Psychologie  —  immer  so  verstanden 
worden:  Vergiss  nicht,  dass  du  Kinder  vor  dir  hastl 

Doch  werfen  wir  einen  Blick  rückwärts  in  die  Geschichte  der 
Päda|rogik,  so  weit  sie  um  Auswahl,  Anordnung  und  Darbietung 
des  Stoffes  sich  bemüht  Natürlich  können  nur  die  höchsten  und 
bemerkenswertesten  Punkte  in  den  mancherlei  Wandlungen  kurz 
gestreift  werden,  auch  soll  die  Geschichte  des  Unterrichts  in  fremden 
Ländern  unbeachtet  bleiben. 

Die  Auswahl  der  Unterrichtsstoffe,  d.  h.  die  Unterrichtsfacher, 
die  man  der  unterrichtlichen  Behandlung  bot,  richtete  sich  nach 
den  Bedürfnissen  und  Forderungen  des  praktischen  Lebens.  Als 
es  galt,  unsere  Vorfahren  dem  Christentume  zu  gewinnen,  stand 
als  Alleinherrscherin  da  der  Religionsunterricht  (Kat  Gesang).  Die 
elementaren  Erfordernisse  des  praktischen  Lebens  erforderten  «>äter, 
sumal  in  den  Schulen  der  Städte,  Unterridit  im  Schreiben,  Lesen 
und  Rechnen.  Die  Fertigkeiten  wurden  nur  geübt,  wo  ein 
elementares  Lebenserfordernis  bestand.  Die  Erfindung  der  Bucii- 
druckerkunst  erweiterte  die  MögUchkeit,  erst  die  Reformation,  die 
jedem  Anhänger  Luthers  die  Bibel,  das  Gesangbuch,  Erbauungs- 
bücher in  die  Hand  gab,  mit  der  Verpflichtung,  zu  lesen  imd  zu 
pKifen ,  die  unbedingte  Notwendigkeit,  die  Kunst  des  Lesens  und 
mit  ihm  des  Schreibens  zu  einem  Volksbildungsmittel  zu  machen. 
Die  Kunst  des  Lesens  blieb  dann  die  Brücke,  welche  eine 
Verbindung  zwischen  den  £mebnissen  der  wissenschaftlichen 
Forschungen  und  den  LesekuncUgen  vermittelte,  in  erster  Linie 


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derjenigen  Forschungen,  die  ihr  Augenmerk  gerichtet  hatten  auf 
die  uns  umgebende  Welt  =  die  Menschen  und  ihre  Schicksale,  die 
Erde  und  ihre  ausser  menschlichen  Bewohner,  den  Himmel  und 
seine  Erscheinungen,  die  Naturkräfte  und  ihre  wunderbaren 
Wirkungen  u.  v.  a.  je  mehr  diese  Gebiete  eine  eingehende,  um- 
(angliche  Beschäftigung  verlangten,  desto  mehr  spezialisierten  sie 
sich  dem  wissenschaftlichen  Forscher.  Es  ist  ausserordentlich 
interessant,  zu  beobachten,  wie  aus  dem  Grossen  und  Ganzen  sich 
ein  Fach  nach  dem  andern  abhebt.  Zu  Anfang  haben  wir  neben 
den  Urdisziplinen  Religion »  Deutsch,  Rechnen  die  drei  grossen 
Gebiete:  Geschichte,  &o^phie,  Naturkunde.  Diese  spezialisieren 
sich  immer  weiter  zu  emem  komplizierten  Gebäude.  In  sehr 
weitem  Abstände  folgt  den  sich  ablösenden  wichtigsten  Wissens- 
zweigen die  Schule  nach,  in  der  Absicht,  das  WesentUche  iliren 
Zc^lingen  nutzbar  zu  machen  —  in  weiten  Abständen,  weil  sie 
gestdierte  Resultate  der  Forschung  abwarten  und  sorgsam  erwägen 
muss,  was  sie  den  Kräften  ihrer  Schüler  zumuten  darf.  Hie  hier 
zutage  tretende  historische  Folge  spiegelt  S!rh  im  grossen  und 
ganzen  wieder  in  der  Aufeinanderfolge  der  Schulfächer,  sofern  sie 
auf  die  Schuljahre  verteilt  werden.  Am  Anfang  aUein  finden  wir 
die  Trias:  Religion,  Deutsch  und  Rechnen,  die  auch  auf  den 
folgenden  Unterrichtsstufen  einen  bedeutenden  Raum  einnimmt. 
Dann  treten  dazu  nacheinander  die  Untc;  richtsföcher  im  grossen 
und  ganzen  in  der  historischen  Reihenfolge  auf  —  man  wolle  sich 
durch  den  Namen  nicht  tauschen  lassen  —  in  der  sie  als  besondere 
V^ssenschaften  her\'ortreten  und  für  das  praktische  Lebe;  Bedeutung 
gewannen.  —  So  finden  wir  hier  schon  ein  Moment  der  Fntwicklung, 
allerdings  oft  unbewusst ,  respektiert.  —  Doch  a'^-hten  wir  etwas 
genauer  darauf,  ob  man  bestrebt  war,  den  Lnternciitsstoff  der 
kindlichen  Entwicklung  anzupassen.  Dabei  sehe  ich  von  dem 
Elementarunterricht  ab.  Achten  wir  auf  das  Verhältnis  Kind  = 
Unterrichtsstoff.  In  fernen  Zeiten  ^chen  wir  den  UnterrichtsstofT 
schlechtweg  dominieren.  Er  forderte  die  tfnnze  Aufmerksamkeit, 
der  Schüler  muss  sehen,  wie  er  sich  seiner  bemächtigt.  Das  Unter- 
richten steht  unter  dem  Zeichen  der  Barbarei  Otr  schwächere 
Schuler  bleibt  am  Wegrande  liegen,  der  Mittclbegabte  erreicht 
sein  Ziel  nur  unter  arger  Quälerei.  Der  Unterrichtende  weiss 
nichts  von  den  Gesetzen  des  Seelenlebens,  er  baut  zur  Hauptsache 
auf  dem  Gedächtnis  auf,  er  doziert  dem  Erwachsenen,  den  er  im 
Kinde  erblickt  und  ist  nur  zu  schnell  bei  der  Hand,  die  Fo^n 
seines  pädagogischen  Unvermögens  als  bösen  Willen  seitens  des 
Schülers  zu  deuten  und  mit  den  barbarischen  Zuchtmitteln  seiner 
2^it  zu  ahnden.  Nur  allmählich  gewinnen  psychologische  Vulgär- 
beobachtungen auf  das  Unterrichlsgeschäft  Einfluss  —  welch 
weiter  bis  zu  der  Erkenntnis,  dass  Psychologie  eine  Haupt- 
stutze und  Voraussetzung  jedes  vernünftigen  Unterrichtens  sei  Wie 


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mühsam  sehen  wir  einen  Schritt  nach  dem  andern  gelingen. 
Psychologische  Beobachtungen  gewinnen  in  mancherlei  didaktischen 
Regeln  handliche  Gestalt,  immer  aber  handelt  es  sich  um  einzelne 
seettsche  Funktionen,  die  wohl  bie  und  da  Hinweise  auf  eine 
Psychogenesis  enthalten,  aber  niemals  die  geistige  Entwicklung  des 
Kindes  als  Ganzes  ins  Auge  fassen.  Als  sich  dann  die  Psycho- 
logie immer  mehr  aus  den  Banden  der  Philosophie  befreite  und 
als  Herbart  den  ersten  umfassenden  Versuch  machte,  Pädagogik 
auf  Psychologie  zu  stützen,  da  geschah  das  nicht  im  Sinne  einer 
Psychogenesis.  Vielmehr  wurde  die  reife,  hochentwickelte 
Menschenseele,  —  die  trotz  aller  genialen  Sonderbeobachtung  und 
auch  abgesehen  von  der  metaphysischen  Grundlegung,  doch  eine 
Konstruktion  war,  der  praktischen  Pädagogik  zu  Grunde  gelegt. 
Das  reichgestaltete,  feinste,  gesetzmässige  Spiel  dieser  Seele  diente 
letzten  Endes  zur  Begründung  pädagogischer  Massnahmen.  Sie 
Hess  keinen  Raum  für  die  umfassende  Begründung  des  psychischen 
Wachstums  des  werdenden  Menschen.  Wir  erfahren  in  der  Tat 
auch,  dass  diese  Psychologie  in  der  Hauptsache  dazu  diente,  die 
Darbietung  des  UnterrichtsstoiTes  psychologisch  zu  begründen. 
Die  Anordnung  der  Disziplin  vermag  sie  nur  so  weit  zu  begründen,^) 
als  auf  allen  Unterrichtsstufen  rine  Konzentration  aller  Fächer  um 
einen  wertvollen  Interessenkreis  gefordert  wird.  Damit  wird  wohl 
gründlich  aufgeräumt  mit  den  enzyklopädischen  Unterrichts- 
Forderungen  der  voraufgegangenen  Zeit,  die  grobe  Aussenseite  zu 
jener  tiefsinnigen  Forderung:  Herausbildung  aller  menschlichen 
Kräfte  zu  einem  harmonischen  Ganzen  —  aber  wo  es  darauf  an> 
kommt,  die  kindliche  Entwicklung  zu  zeigen  und  nun  anzugeben, 
welche  Interessenkreise  auf  deren  einzelnen  Phasen  die  vor- 
herrschenden sind,  welche  Unterrichtsgebiete  auszuwählen  sind,  da 
versagt  die  Herfoartsche  Psychologie  und  man  greift  nun  zu  einem 
ganz  anderen  Prinzip,  dem  bekannten  Grundgesetz,  dass  das 
Individuum  die  Entwicklungsstufen  seiner  Rasse  in  schnellerer  doch 
übereinstimmender  Folge  durchlaufe,  man  konstruiert  die  kultur- 
historischen Stufen.  Kein  Zweifel,  dass  hier  ein  sehr  starker  Hin- 
weis auf  eine  Psychogenesis  enthalten  ist,  kein  Zweifel,  dass  diese 
Theorie  geistvoll  durchgeführt  ist,  dass  sie  einen  Reichtum  psycho- 
logischer Beobachtungen  enthalt  —  sie  bleibt  aber  doch  eine 
Konstruktion,  ein  geistvoller  Vergleich,  dessen  beide  Stützen  nicht 
einmal  ganz  festliegen.  Sie  beruht  nicht  auf  der  sorgsamen 
Beobachtung  der  tatsächlichen  Entfaltung  des  kindlichen  freistes» 
sie  bleibt  eine  Pseudogenesis  ^)  und  als  solche  ein  Notbehelf. 

Lehrpläne,  die  sich  die  Kulturstufentheorie  nicht  zu  dgen 

>)  Hcrbait  gibt  atoch  sehr  beachtenswerte  psychogenetiMlie  Hinwdie  flir  ^ 

Stofbnordnung ;  es  wäre  vielleicht  nützlich,  sie  einmal  7n«!ammfn7iis;tellrn. 

•)  Ziller,  Grundlegung,  2.  Aufl.,  S.  l86:  „Die  Methodik  — ,    Dano:  Es  handelt  - 
tidi  bier  —  ia  Einem  Blick«  auammengclässt  wird.'* 


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—   333  — 


machen,  enthalten  für  einzelne  Forderungen  wohl  psychogenetische 
Begründungen  für  Auswahl  und  Anordnung  des  Stoik,  die  auf  Grund 
vielfacher  unmitteibarer  Erfahrungen;  zu  allermeist  entscheidet  aber 
letzten  Endes  über  die  Frage:  Welchen  Unterrichtsstoff  und  in 
welchem  Umfange  hat  man  für  diese  Altersstufe  oder  jene  aus- 
zuwählen, ein  logisch  -  sachliches  Kriterium  oder  die  eigenwillige 
Entscheidung:  das  halte  ich  itir  geeignet,  das  den  Kräften  des 
Kindes  für  nicht  angemessen.  Wie  gesagt,  diese  Entscheidung, 
sofern  sie  dem  Takte  eines  klaren  Beobachters  entfliesst,  trifft  oft 
das  Rirhti^;e  —  sehr  oft  aber  erwächst  sie  einer  nickläufigen 
KüusUukLiüii,  einer  \'cijuagung  des  reifen  erwachsenen  Geistes, 
also  wiederum  einer  Pseudogenesis,  die  notwendig  dazu  verföhrt, 
im  Kinde  den  kleinen  Erwachsenen  zu  erblicken. 

Ich  bescheide  mich  mit  diesen  Andeutungen,  die  beweisen 
sollen,  dass  es  in  der  praktischen  Pädagogik  keineswegs  an  V'er- 
suciien  fehlt,  die  Anordnung  der  Unterrichtsfacher  psychogenetisch 
zu  treffen,  sie  sind  aber  nur  Versuche.  Ihnen  scheint  mir  gemein« 
sam  zu  sein  eine  starke  Hervorkehrung  der  logisch-sachlichen  Zu* 
sammenhänge  des  Unterrichtsstoffes  gegenüber  der  Entwicklung  der 
kindlichen  Seele.  Die  letztere  kommt  dabei  zu  kurz.  Vielleicht 
habe  ich  mit  der  Vermutung  nicht  unrecht,  dass  ein  Teil  der 
Schuld  die  hohe  Zielbestimmung  trifft,  die  dem  Unterrichte  gesetzt 
wird,  mag  man  »e  nun  so  oder  so  fassen  —  immer  ist's  der  reife 
ideale  Kulturmensch,  der  vorschwebt  als  das  Bild  dessen,  was  der 
Schüler  werden  soll.  Das  aber  bedeutet  eine  Hinausprojizierung 
weit  über  die  Schuljahre,  weit  über  das  schulpflichtige  Alter  hinaus. 
Das  verfuhrt  von  vornherein  dazu,  auch  in  den  Teilzielen  zu  weit 
zu  greifen,  dadurch  wieder  entsteht  eine  Beschleunigung  des  Tempos, 
eine  nervöse  Unrast  bemächtigt  sich  dem  Unterrichtsbetriebe  zum 
Schaden  des  Kindes.  (Ich  will  zur  Illustrierung  nur  auf  einen  Punkt 
den  Finger  legen.  Nach  Ziller  umfasst  die  Märchenstufc  lediglich 
das  erste  Schuljahr.  Angehende  Beobaditungen  haben  aber  dar« 
getan,  dass  das  kindliche  Interesse  auf  4 — 5  Jahre  durch  das 
Märchen  beherrscht  wird.  Damit  soll  nun  nicht  ausgesprochen  sein, 
dass  für  diesen  ganzen  Zeitabschnitt  das  Märchen  allein  den  Unter- 
richt beherrschen  müsste,  sondern  nur,  dass  wir  nicht  berechtigt 
sind,  lediglich  das  erste  Schuljahr  als  Marchenstufe  zu  betrachten.)  — 
Man  könnte  aber  im  Hinblick  auf  jenes  hohe  Ziel  sagen,  dass  bei 
der  Schulentlassung  doch  die  Keime  gelegt,  die  Entwicklungs- 
möglichkeiten alle  gegeben  seien.  Ich  kann  dieser  resignierten 
Annahme  nicht  zustimmen.  Zunächst  will  mir  scheinen,  dass  das 
ein  recht  klägliches  Resultat  jahrelanger  Bildungsarbeit  ist,  wenn 
man  am  Schtuss  derselben  als  Fazit  nichts  als  Möglichkeiten  in  der 


Ziller  s.  a.  O.  S,  184:  „Vor  allem  kann  der  Gan^  der  Wissenschaft  —  erheben." 
—  S.  187:  „Alles,  was  der  Bildoof  des  GeUtes  dienen  aoU  —  bcrvorwachseo  soll." 


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—   334  - 


Hand  hat.  Ich  bin  weit  davon  entfernt,  zu  glauben,  dass  der 
Erzieher  aus  dem  Zöglinge  alles  machen  könne,  dass  er  ihn  gänzlich 
nach  seinem  Sinne  modeln  und  drehen  könne,  aber  andererseits 
vermag  die  Kunst  des  Unterrichts  sehr  wohl  greifbare  reelle 
Früchte  zu  zeitigen,  die  für  den  augenblicklichen  psychischen  Ent- 
wicklungsstand des  Zöglings  durchaus  vollwertig  sind,  die  nur  im 
Hinblick  auf  ein  imaginäres  Ziel  im  Kuis  fallen.  Dieser  Kursfall 
inuss  um  SO  lebhafter  werden,  je  mehr  das  Tempo  der  unter ri  l  t- 
lichen  Massnahmen  beschleunigt  wird.  Was  zu  früh  gesäet  wird, 
findet  keine  Kiitwicklungsmöglichkeiten  vor. 

Man  sieht,  überall  wird  man  auf  eine  eingehende  Psychogenesis 
verwiesen.  Der  (rrundgedanke,  der  durch  die  gelegentlichen  psycho- 
genetischen  Begründungen  hindurchzieht  und  der  sich  etwa  so 
formulieren  lässt:  das  (reschichtlich  Gewordene  ist  nach  Möglichkeit 
bei  der  Verteilung  des  Stoffes  bestimmend  —  "i^g  '"^  allgemeinen 
richtig  sein,  aber  er  wird  erst  dann  in  das  richtige  Licht  gerückt 
werden  können,  wenn  er  zur  Psychogenesis  des  werdenden  Menschen 
in  Beziehung  gesetzt  wird,  nicht  aber  zu  einer  Konstruktion  einer 
solchen  Entwicklung,  niö<^c  sie  noch  so  c^oistreich  sein.  Einer 
Konstruktion  fehlt  notwendig  Leben,')  unnmtelbare  zwingende  Be- 
weiskraft, Sie  hat  Wahrheit  nur  in  groben  Zügen  und  erweist  sich 
daher  nachgiebiger,  anschmiegsamer  als  jene  ethischen  Ziel- 
forderungen, als  Wühlgetan  ist.  Doch  bleibt  Hauptaufgabe  der 
Psychogenesis,  an  der  Hand  ihrer  Ergebnisse  nnrh/mveisen,  welcher 
Art  Zielforderimgen  überhaupt  möglich,  welche  annähernd  realisier- 
bar, und  welche  für  eine  ziel-  und  tatkräftige  praktische  Pädagogik 
von  Wert  sind. 

Auch  den  begründenden  Ausführungen  Wiltmanns  gegenüber 
zu  der  Anordnung  der  UnterriclitsstofTe  nacli  Klassen-  und  Jahres- 
pensen lassen  sich  ähnliche  Erwägungen  nicht  unterdrücken.  In  dem 
Abschnitt:  Bildungsarbeit  nach  den  Altersstufen*)  führt  er  ganz 
richtig  aus,  der  Verlauf  des  Bildungserwerbes  müsse  auch  vom 
Standpunkte  des  Subjekts  aus  verfolgt  und  seine  Abstufung  mit 
den  Abschnitten  nicht  bloss  des  intellektuellen,  sondern  des  (iesamt- 
wachstums  \n  X'erbindung  gebracht  werden.  Schon  die  weitere 
allgemeine  Bemerkung,  dass  das  Wachstum  der  menschlichen  Kräfte 
(bis  zu  bestimmten  (rrenzen)  ein  kontinuierliches  und  im  Ganzen 
angesehen,  einem  Wandeln  auf  allmählich  ansteigendem  Pfade  ahn« 
lieber  sei  als  einem  Ersteigen  von  Stufen  steht  im  Widerspruch  zu 
der  psychogenetisrhen  Wahrheit,  dass  das  Wachstum  keineswegs 
kontinuierüch ,  sondern  deutUch  periodisch  erfolge  und  beweist  — 

''i  Ist  nicLl  iiotw  riuiig  der  Fall.  Finc  ic«lc  Hypotlii  sc  ist  eine  Konstruktion,  und 
ducb  kaoo  von  ihr  Leben  ausgehen,  Entwiclüung  und  Foitscbritt  gefordert  werden. 
AUc  Ideale  sind  Komtniktioneo.   Auch  der  moderne  BegrilF  der  Psychogcneds  ist 

Ztinichst  rrnr  rinr  Konstniktion.     D.  K. 

*)  Wülmann,  Didaktik  als  Bildungsichre  II,  238.    Hraunschwcig  l<)03. 


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—   335  — 


Uass  wir  es  mit  der  Konstruktion  einer  Psychogenesis  zu  tun  iiabcn. 
WiHmann  unterscheidet,  sich  dem  Sprachgebrauch  anschliessend, 

drei  Hauptperioden:*)  Kind,  Knabe,  Jüngling,  von  denen  nur  die 
beiden  letzten  rJcntlich  durch  den  Eintritt  Her  Pubertät  «geschieden 
sind.  Sitte  und  Kerhtsanordnung  haben  dann  in  jede  dieser  Perioden, 
unbekümmert  um  natürliche  Voraussetzungen,  einen  Markstein  hinein- 
gesetzt:  Schulföhigkeit ,  Mündigkeit,  Waäfenfahigkeit  So  ergeben 
sich  für  den  sich  entwickelnden  Menschen  (Knaben)  6  Altersstufen: 
frühe  Kindheit,  schulfäfii^^e  Kindheit  (4  Jahre),  unmündiges  Knaben- 
alter, mündij^es  Knabenalter  (beide  je  3jährig),  frühes  Jünglingsalter, 
waneniiihiges  Jünglingsalter  (beide  4jährig).  VVillmann  charakterisiert 
dann  in  einigen  wenigen  Allgenwinbemerkungen  das  geistige  und 
leibliche  Wachstum  (merkwürdigerweise  beschränkt  sich  W.  bezüglich 
der  letzteren  auf  ein  Werk  Fuctclets  aus  dem  Jahre  1838,  ohne 
die  vorliegende  neuere  Literatur  zu  berücksichtigen)  des  Kindes  und 
streift  m  grossen  Zügen  die  Biidungsmittel,  die  den  Wachstums- 
stttfen  eotspredien.  —  Alles  sind  a]||refneinste  Räsonnements,  die 
iur  eine  pralctische  Stoffauswahl  nach  psychogenetischen  Gesidits* 
piuikten  sich  wenig  fruchtbar  erweisen. 

Mit  allem  Nachdruck  fordert  Rein,*)  man  müsse  der  jugcndliclicn 
Entwicklung  mit  Hilfe  psychologischer  Untersuchungen  nachgehen, 
und  einen  Durchschnitt  durch  die  aufsteigenden  Entwicklungs- 
prozesse aufdecken,  der  nach  der  formalen  Seite  hin  die  eine 
Grundlage  fiir  den  pädagogisch  begründeten  Lehrplan  zu  bilden 
hat.  Kr  bekennt,  diese  Arbeit  liege  noch  in  den  AnHingen  und 
femer,  der  grossen  Geschäftigkeit,  die  auf  dem  Gebiete  der  Kinder- 
forschung entspreche  freüich  jetzt  noch  nicht  der  Erfolg  auf  päda- 
gogischem Gebiete.  Wir  dürfen  daran  die  Bemerkung  knüpfen, 
dass  auch  nach  Ansicht  dieses  hervorragenden  Pädagogen  wir 
bisher  noch  nicht  über  eine  eingehende  Kenntnis  der  P-ntwicklung 
der  Kindesseclc  verfügten,  dass  also  die  Psychogenesis,  die  eine 
Grundlage  für  einen  pädagogisch  begründeten  Lehrplan,  bis  heute 
nur  sehr  lücken-  und  mangelhaft,  in  Wirksamkeit  getreten  ist  und 
auch  treten  konnte  —  eben  weü  sie  nicht  vorhanden  war.  Wir 
sehen  uns  auf  die  Zukunft  verwiesen,  die  Lehr|)lanfrage  wird  noch 
auf  lange  hinaus  Streiter  in  Atem  halten.  Ein  ferneres  grosses  Ver- 
dienst Reins  besieht  darin,  dass  er  fordert,  was  heute  an  wertvollen 
Ergebnissen  der  Kinderforschung  vorliege,  müsse  schon  jetzt  für 
eine  brauchbare  Lehrplantheorie  erwünschte  Fingerzeige  geben. 
Des  Brauchbaren  ist  zwar  heute  noch  nicht  viel  Der  wertvollen 
Zusammenstellung  Hartmanns  unter  dem  Stichwort  ,,AIterstypcn" 
in  der  Reinschen  Encyklopädie ,  die  sich  auf  eine  sehr  reiche 


')  W,  hat  nur  die  tnöiinlichc  Jugend  im  Auge  und  setzt  den  Vollbesitz  der 
BUdllcgsniittel  voraus. 

^  PSaagogik  U,  H^f. 


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—   336  — 


Literatur  gegenwärtiger  Kinderforscfaung  stützt»  wirft  Rein  mit 
Recht  vor,  dass  sie,  trotz  vieler  wertv  oller  Tatsachen,  doch  in  der 
Abgrenzung  der  Stufen  4  6  nach  Schuljahren  mehr  Nachdruck  nnf 
äussere  Einschnitte  lege  als  auf  die  Formen  typischer  Entwicklun^j. 
Vorsichtig  entnimmt  er  Urnen  (ur  die  Lehrplangestaltung  nur  zwei 
grundlegende  Tatsachen:  i.  die  Auswahl  der  geistigen  Nahrung  hat 
sich  geOAM  an  die  geistige  Entwicklung  des  Zöglings  zu  halten,  so 
gut  wie  f\'.r  physiche  Ernährung  an  das  körperliche  Wachstum. 
2.  Die  geistige  Entwicklung  schreitet  in  drei  grossen  Schritten 
vorwärts.  Zunächst  bemerkt  man  in  theoretischer  Hinsicht  die 
Vorherrschaft  der  Phantasie,  dann  die  des  Gedächtnisses,  dann  die 
des  Denkens;  in  praktischer  Beziehung  zuerst  die  Zeit  der  Ge- 
bundenheit des  Willens  an  eine  äussere  Autorität;  dann  die  Zeit 
der  Unterwerfunfr  unter  das  Gesetz  (die  Zeit  der  Legalität);  endlich 
die  Zeit  der  Herrschaft  des  Sittengesetzes  (Moralität).  3.  Diese 
Entwicklungsstufen,  wie  sie  jedes  normale  Kind  durchläuft,  treten 
uns  auch  in  der  Geschichte  der  Völker  entgegen.  Das  Sprechen- 
Icrnen  der  Kinder  geht  analog  der  Entwicklung  der  Sprache  im 
Gesclilecht;  Kind  und  Naturmensch  folgen  sinnlichen  Motiven  und 
fussen  auf  sinnlichen  .•\niciiauungen.  Die  abstrakten  Begriffe  stellen 
sich  erst  nach  und  nach  mit  grösserer  Deutlichkeit  ein.  Kind  und 
Naturmensch  sind  Egoisten,  von  den  Gefühlen  der  Lust  und  Unlust 
beherrscht,  erst  na'  h  tm  !  nach  geben  sie  in  der  Weiterentwicklung 
auch  altrui<^t!S'-hrii  i  T  lunlen  nach,  je  stärker  sich  die  sozialen  Triebe 
entwickeln  und  jc  weiteren  Umfang  sie  annehmen;  Kind  und  Natur- 
mensch sind  leicht  von  Furcht  und  Aberglauben  beherrscht  und 
haben  Gefallen  an  der  Grausamkeit.  Wie  der  Naturmensch  zeichnet, 
so  zeichnet  unser  Kind.  Wieviel  Imeres'^r  beide  für  das  Tier-  und 
Jagdleben  haben,  ist  bekannt.  Im  Knabenaltrr  spiegelt  sich  das 
Helden^eitalter  der  Völker  wieder  u.  a.  So  fallt  von  der  typischen 
Gesamtentwicklung  ein  klärendes  Ucht  auf  die  Durchschnitts* 
entwicklung  des  Einzelmenschen.  Urui  letzterer  wiederum  kann 
den  Gesamtgang  erhellen  und  psychologiscli  zu  deuten  versuchen." ') 
—  Man  wird  nicht  behaupten  wollen,  dass  die  Lrnte  reichlich  aus- 
gefallen ist,  vielmehr,  dass  nur  ganz  allgemeinste  Erlebnisse  vorliegen. 
Oder  woUte  man  die  Übereinstimmung  zwischen  Einzel-  und  Kultur« 
entwicklung  für  besonderen  Gewinn  ansehen?  Auch  diese  beruht 
nur  auf  allgemeinsten  Stützpunkten.  Man  darf  aber  nicht  vergessen, 
dass  der  sogenannte  Naturmensch  lediglich  eine  Konstruktion  der 
Forscher  ist;  es  ist  mögUch,  aus  einzelnen  Gebeinteilen  das  ^anze 
Skelett  zu  konstruieren,  nimmer  aber  das  Leben,  das  darin  pulsierte: 
das  ist  eine  Rekonstruktion  der  Gelehrten,  das  können  alle 
Petrcfakte  ahnen ,  aber  nicht  schauen  lassen.  .^bcr  auch  die 
Naturvölker,  die  unsere  Reisenden  uns  beschreiben,  erlauben  keinen 


»)  A.  a.  0.,  s.  256  C 


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—   337  — 


wertvollen  Vergleich  mit  einer  gewissen  Entwicklungsstufe  des 

Kindes  von  heute,  das  gleich  in  unsere  Ki!Uur\^'elt  hineingesetzt 
wird.  Jene  Wilden  sind  etwas  total  anderes  als  das  Kind  auf  der 
angeblich  korrespondierenden  psychogenetischen  Stufe.  Ähnliches 
gilt  lur  die  folgenden  Entwiddungsstufen,  obgleich  sich  hier  aus 
der  jemals  erreichten  Kulturhöhe  und  dem  Interessenkreise  der 
Kinder  zweifellos  ungleich  reichere  und  wertvollere  Vcrcyleichs- 
momente  anführen  lassen.  Nin^nit  r  aber  geht  das  moderne  Kind 
auf  korrespondierter  Kuiturliöhe  restlos  in  jenen  Vergleichs- 
momenten auf:  es  bldbt  zum  grösseren  und  wesentlicheren 
Teile  ein  Kind  seiner  Zeit  Dazu  kommt  femer  und  besonders: 
die  Dinge,  auf  die  es  einer  Psychogenesis  ankommt,  sofern 
sie  sich  nicht  bescheiden  will  —  und  sie  kann  das  ja  nicht  —  nur 
allgemeinste  Fingerzeige  für  die  praktische  Pädagogik  zu  liefern, 
und  Gegenstand  unmittelbaren  Erlebens  und  wissenschaft- 
lichen Brobachtens.  Dabei  handelt  es  sich  notwendig  um  Besonder- 
helten und  Werte,  die  den  überlieferten  Kulturentwicklungsphascn 
vollständig  gleichgültig  waren ,  auf  die  also  von  da  aus  keinerlei 
gesicherte  Rückschlüsse  möghch  sind ;  mit  Allgemeinheiten  ist  aber 
der  praktischen  Pädagogik  wenig  gedient  So  ist  dodi  das 
Hinüberhellen  aus  der  Menschheits-  in  die  Individualentwicklung  des 
Kindes  und  umgekehrt  von  recht  problematischem  Werte. 

Rückblickend  dürfen  wir  aussprechen,  dass  es  in  der  Pädagogik 
keineswegs  an  Versuchen,  emstüchen  Versuchen,  gefehlt  hat,  die 
kindliche  Besonderheit  auf  den  verschiedenen  Altersstufen  dem 
Lehrstoffe  gegenüber  zu  ihrem  Rechte  zu  verhelfen,  am  nach- 
drücklichsten ist  das  geschehen  in  unsern  Tagen  —  aber  es  fehlt 
heute  noch  an  einer  Psychogenesis  des  Kindes,  trotz  des  weit- 
verbreiteten Interesses  für  die  Psychologie,  trotz  der  Hunderte  von 
Händen  und  Köpfen,  die  an  der  Psychologie  des  Kindes  so  emsig 
schaffen,  trotz  der  "  im  Vergleich  zu  früheren  Zeiten  teilweise 
vortrefflich  ausgestalteten  Beobachtungsmethoden,  und  trotz  der 
weiter  und  intensiver  verbreiteten  BeOihij^ung  zu  objektiver  ein- 
facher Beobachtung,  die  ein  gesteigertes  Interesse  und  die  Übung 
der  erwähnten  Methoden  notwendig  im  Gefolge  haben:  Zu  einer 
Entwicklungspsychologie  des  Kindes  liegen  nur  Ansätze  vor. 

m. 

Gehen  wir  nun  zurück  zu  den  für  die  praktische  Pädagogik 
feststehenden  und  wahischeinlichett  Ergebnissen  der  Psychogenesis, 
die  wir  eingangs  bei  Stern  kennen  gelernt  haben.  Dabei  möge 
erlaubt  sein,  auch  diejenigen,  die  nach  dem  heutigen  Stande  der 
Wissenschaft  als  unumstössliche  Tatsachen  vielleicht  nicht  an- 
gesehen werden  dürfen,  die  weiterer  Nachprüfung  bedürfen,  mit  einem 
sehr  hohen  Wahrscheinlichkeits-Koeffizienten  zu  versehen.  Welche 


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-    338  - 


Bedeutung   haben   diese  psychogenetischen  Wahrheiten  ifir  das 

Formalprinzip  des  Lchrplans? 

„Alle  psychische  Entwicklung  ist  rhythmisiert." 

Der  Satz  ist  quantitativ  gemeint,  er  hat  geistige  Mnergie- 
schwankungen  im  Auge.  Ihm  entspricht  die  pädagogische  Forde- 
rung: die  Anforderungen  durch  den  Unterricht  müssen  dem 
jeweiligen  Kraftestande  so  angepasst  werden,  dass  das  Leistungs* 
Optimum  erzielt  werde,  sowohl  nach  sciten  der  Bedingungen  aJs 
des  Erfolges  der  Arbeit.  Diese  Forderung  aber  kompliziert  sich 
bei  näherem  Studium  sehr  stark.  Nicht  allein,  dass  die  ver- 
sdiiedenen  Individuen  einer  Klasse  in  Einzelheiten  der  quantitativen 
Entwicklung  bedeutend  variieren,  so  dass  sie  nur  unter  den  ver« 
grösserten  Gesichtspunkten  für  die  formale  Lehrplangestaltung  zu 
Klassentypen  vereinigt  werden  können/)  auch  innerhalb  dosseihen 
Individuums  ist  in  der  psychogenetischen  Entwicklung  die  W  cllen- 
bewegung  für  die  verschiedenen  Weisen  der  geistigen  Betätigung 
Iceineswegs  übereinstimmend.  Endlich  ist  die  Wellenbewegung 
auch  noch  Jahres-,  selbst  Tagesschwankungen  unterworfen.  Hier 
muss  die  Psychogenesis  noch  viel  Mnterinl  sammeln ,  es  durch- 
forschen und  die  Resultate  dieser  Forschungen  zu  bestimmten 
Typen  vereinigen.  Hierzu  genügt  nicht,  wie  wiederholt  betont 
werden  möge»  ein  Konglomerat  zeitlich,  örtlich  und  vor  allem 

ßersönlich  gelegentlich  durch  Massenbeobachtung  gewonnenen 
[aterials,  so  wertvolle  Arbeiten  heute  auch  schon  vorliegen;  die 
Aufgabe,  die  zu  lösen  ist,  heisst:  Psychogenesis  des  werdenden 
Menschen,  Eine  solche  kann  nur  gelöst  werden  durch  vielfache 
Beobachtungen,  die  an  denselben  Individuen  von  unten  bis  oben 
in  sorgsamster  Weise  durchgeführt  werden. 

„Die  relative  l'-ntwicklungslänge  und  -weite  stehen  cinigermassen 
in  Proportionalität.  —  Die  Entwicklungsgänge  stimmen  bei  Knaben 
und  Mädchen  nicht  übereiu." 

Beide  Satze  haben,  wenn  sie  sich  in  fernerer  Untersuchung 
bewähren,  grösste  praktische  Bedeutung.  Sie  werfen  ein  bedeut- 
sames klärendes  Licht  in  eine  Reihe  brennender  pädagogischer 
Zeit-  und  Streitfragen,  zunächst  bezüglich  des  Unterrichtszieles  der 
verschiedenen  lüldungsanstalten.  Diese  Ziele  sind  nach  sachlich- 
iogbchen  Gesichtspunkten  —  ich  sehe  von  ethischen  Ziel« 
bestimmungen  ab  vielfach  erwogen  und  die  verschiedenen 
Strömungen  als  pral;tis(  he  realistische,  humanistische  u.  a.  charak- 
terisiert worden.  Im  Sinne  der  l\yrho','enesis  ist  man  noch  nicht 
an  sie  herangetreten.  Trotz  der  gcvvakigen  Schwierigkeiten,  die 
sich  hier  aufttirmen,  muss  daran  festgehalten  werden,  dass  die 
Fsychogenesis  ein  entscheidendes  Wort  mitreden  muss  in  der  Bc- 

')  Selbstverständlich  wird  ein  taktvolles  Lehrvcrfakreji  tiefer  in  das  Individuelle 
dodHagcn  können  und  mltaen. 


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—   339  — 


antwortung  der  praktischen  Frage,  welcher  Bildungsanstalt,  welchem 
Unterrichtsziel   der  Zög;lin(^  /lu^cfiihrt   werden   könne  und  müsse. 
Diese  f\ir  den  Einzelnen  so  einuient  wichtige  Frage  greift  tief  in 
die  gau/ce  Schulorganisaüon  ein.    Man  konstruierte  die  Unlerrichts- 
aele  der  verschiedenen  Bildungsanstalten,  weil  man  aber  keine 
Rücksicht  nahm  auf  die  Entwicklung  der  kindlichen  Seele,  so  musste 
man  die  erste  Auslese  bei  der  Neueinschulung  vielfach  dem  Zufall, 
der  Eitelkeit  unverständiger  Eltern,  dem  zufalligen  sozialen  Milieu 
des  Hauses  überlassen.    Dann  greifen  die  Examina,  Noten  und 
Zensuren  ein,  sie  schaffen  eine  Auslese,  die  Beschrankteren  „bldben 
ätzen",  verschwinden  von  der  Anstalt,  um  einer  andern  Unterrichts- 
anstcilt  anheimzufallen,  tlie  sich  in  ihren  Unterrichtsfordeningen  nach 
einer  niedrigeren  Decke  streckt.    In  den  Volksschulen  wiederholt 
sich  ein  ähnlicher  Vorgang,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  für  die 
schwächer  und  schwach  Befähigten  der  Vorgang  viel  trauriger 
verlief,  weil  die  Volksschule  sie  behalten  und  als  überflüssiges 
Leergut  mitführen  musste,  bis  die  Konfirmation  sie  von  ihren  Leiden 
erlöste.    Das  waren  jammervolle  Zustände,^)  die  ernsten  Reformern 
ans  Herz  greifen  mussten.    Heute  sehen  wir  überall  in  grösseren 
Orten  Ifilfesdiulen  erstehen,  in  Bfannheim  hat  man  Förderklassen 
eingerichtet   und  wir  lesen  sehr  einleuchtende  theoretische  Er- 
örterungen über  die  Einrichtung  von  Sonderklassen   für  hervor- 
ragend Befähigte,  für  Talente  und  Genies.    Die  Fordenmg  einer 
allgemeinen  Volksschule  tritt  in  ihrem  berechtigten  i'cile  ein  dafür, 
dass  der  Begabung  die  Bahn  freigemacht,  dass  die  Wegsperren,  die 
heute  künstlich  aufgerichtet  stehen,  beseitigt  werden.   Alle  diese 
Bestrebungen  sind  in  ihrem  Kerne  psychogenetLsch  gedacht,  wenn 
das  auch  zumeist  nicht  ausgesprochen  worden  ist,  denn  genau  be- 
sehen fordern  sie  für  das  Individuum  Proportionalität  zwischen 
Entwicklungsweite  und  Entwicklungslänge.    Die  „ab- 
geschlossene Bildung"  ist  völlig  identisch  mit  dieser  Proportionalitat. 
Wo  man  sie  vernachlässigt,  verstösst  man  notwend^  gegen  elemen- 
tarste pädagogische  Forderungen:  Entweder  man  verkürzt  die  Ent- 
wicklungsiänge   —    und    damit   natürlich   auch   die  Fntwicklungs- 
höhe   —  bei  begabten  Schülern  der  niederen  Schule  oder  man 
sucht  auf  hergebrachten  Bahnen  mit  den  schwächer  Beanli^en  ein 
Ziel  zu  erreichen,  das  ihnen  zu  hoch  ist,  entweder  erreichen  sie  es 
UfitfT    nn verhältnismässig  ausc^cdchnier  Kntwicklungslänge   —  der 
seltenere  Fall  —  oder  sie  erreichen  die  Propf)rlionahtät  überhaupt 
nicht.  —  Dass  die  rroportionalität  auf  den  einzelnen  Stationen  bis 
zum  Endziele  hin  relativ  ebenfalls  gewahrt  bleiben  muss,  braucht 
nicht  naher  ausgeführt  zu  werden,  auch  soll  nicht  näher  gezeigt 


*)  Man  bedenke,  dass  laut  „Stalistischcm  Jahr!mch"  in  Mannheim  54,3  */o,  Lübeck 
55.6  «  Kiel  59.4  "iot  Darnwtadl  63,8"  ,,,  Karlsruhe  66,«  »Z^,  Bremen  66,6%,  Frei- 
burg i.  Br.  70,6  0  0  o.  9.  ty  Zwickau  So,6     der  ScbOlcr  die  OberldBsse  enrcicheii. 

82* 


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—  340  — 


werden ,  welche  ikdeutung  der  Satz  für  die  Gestaltung  dcs  Lehr- 
plans der  einzelnen  Bildungsanstaken  hat. 

Wenn  der  Satt,  dass  die  Entwicklungsgänge  der  Knaben  und 
Mädchen  nicht  übereinstinunen,  durch  fernere  Untersudiungen  sich 
bestätigen  sollte,  so  hatte  man  darin  allerdings,  wie  Stern  hcr\'or- 
hebt,  ein  sehr  wesentliches  Moment  im  Kampfe  gegen  die  Koedukation. 
Doch  will  mir  scheinen,  dass  die  iJnterschiede  in  den  Entwicklungs- 
gängen, wenn  sie  geringeren  Grades  sind,  nicht  so  schwerwiegende 
Mängel  sind  gegenüber  den  Vorteilen,  d^e  ein  gemeinsamer  Unter> 
rieht  bietet.  Man  darf  nicht  vergessen,  dass  doch  die  Entwicklungs- 
gänge individuell  verschieden  sind.  Bei  dem  Mrts^cnuntcrrichte,  der 
verschiedene  Entwicklungsgänge  vereinigt,  finden  wir  dort,  wo  die 
Geschlechter  getrennt  ^d,  zwischen  den  schwädieren  und 
tüchtigeren  Schülern  vielleicht  ähnliche  Divergenzen  wie  zwischen 
den  Knaben  und  Mädchen.  Bleiben  aber  die  Entwicklungsgänge 
des  einen  Geschlechts  erheblich  unter  dem  des  andern,  dann  muss 
eine  Koedukation  bedenklich  erscheinen. 

,,Die  Entwicklung  geschieht  in  einer  Kette  von  Metamorphosen, 
die  sich  auf  eine  Formel  nicht  reduzieren  lassen."  Sie  geschieht 
vom  Peripheren  zum  Zentralen  und  wird  ursächlich  bedingt  durch 
,    Konvergenz  des  Innen-  und  Aussenfaktors. 

Hier  handelt  es  sich  zunächst  um  qualitative  Grundtatsachen 
der  seelischen  Entwicklung.  Sie  sind  mindestens  ebenso  wichtig 
für  die  Psychogenesis  —  und  fugen  wir  hinzu  —  iur  die  Pädagogik, 
wie  die  besprochenen  quantitativ  en.  Sie  weisen  der  Psychogenesis 
die  grosse,  schwierige  Aufgabe  zu:  Typen  der  Entwicklungs- 
metamorphosen zu  zeichnen.  Nicht  kommt  es  darauf  an ,  mit 
minutiöser  Genauigkeit  den  Eintritt  der  einzelnen  Phasen  zu  ge- 
winnen, dieser  lässt  sich  überhaupt  nicht  genau  bestimmen,  vielmehr 
„besteht  in  den  Relationen  der  Entwicklungsphasen  die  Al^emetttr 
gültigkeit  der  qualitati\rn  Kntwicklung".  Gewisse  Hauptetappen, 
ob  schneller  oder  langsamer,  durchläuft  jedes  Kind,  auch  kehren 
sie  bei  gewissen  Funktionen  immer  wieder  (Beispiel  ,3ei  der 
Sprachentwicklung  des  Kindes  zeigt  der  Wortschatz  nicht  etwa 
proportionales  Wachstum  aller  Kategorien,  sondern  deren  additives 
Auftreten.  Zuerst  ist  das  Kind  mir  im  ,,Suhstanzstadium";  sein 
Wortschätz  enthält  (ausser  Interjektionen)  nur  Substantiva.  Dann 
tritt  es  in  das  Aktionsstadium  =  es  erwirbt,  während  natürlich 
die  Substantiva  ständig  zunehmen,  ziendidi  plötzlich  eine  grosse 
Zahl  von  Verben.  Zuletzt  erst  erreicht  es  das  Niveau  des 
„Relations-  und  Merkmalsstadinms",  in  welchen  .Adverbien,  Adjektiva, 
Präpositionen  usw.  erworben  werden.  Diese  Reihe  zeigt  sich  in 
gleicher  Folge  auch  z.  B.  bei  der  Entwicklung  der  spontanen 
ErinnerungsSUiigkeit,  bei  der  Anschauung  von  Bildern,  bei  Aussagen 
Über  ein  vorher  gesehenes  Bild").  Solche  und  ähnliche  Typen,  so 
erwarten  wir,  wird  die  zukünftige  Psychogenesis  der  Pädajg^ogik  zu 


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—   341  — 


Dienst  stellen  und  ihr  für  den  formalen  Aufbau  des  Lehrplans  und 
das  Lehrverfahren  ausserordentlich  wertvolle  Dienste  leisten. 

Die  voraufgegangenen  Darlegungen  beziehen  sich  lediglich  auf 
die  Auswahl  und  Anordnung  des  Lehrstoffs  unter  Berücksichtigung 
der  formalen  Grundlage  der  Lehrplantheoric  und  beschränken  sich 
dabei  auf  einige  allgemeinste  Grundtatsachen  der  Psychogenesis : 
Von  erheblich  tiefer-  und  weiterdringendem  Einfluss  wird  die 
Psychogenesis  werden,  wenn  sie  den  Ursachen  dieser  Tatsachen 
nadigeht.  Wenn  die  Psychogenesis  nach  dieser  Seite  einst  wird 
weiter  ausgebaut  sein,  wird  sie  für  die  andere,  die  materialc  Grund- 
lage des  Lehrplans  zweifelsohne  reiche  Schätze  liefern. 


n. 

Heimat  und  Unterricht 

Vor  J.  L  ietter  io  Kirchbeim. 

Immer  mehr  wird  die  „Bedeutung  der  Heimat  für  den  Unterricht"*) 
erkannt.  Der  Unterricht  soll  praktisch,  dem  Kinde  angemessen 
und  der  Erziehung  förderlich  gestaltet  werden.  Das  ist  nur  möglich, 
wenn  er  Greif-  und  Begreifbares,  wenn  er  konkrete  Wirklichkeit 
bearbeitet  und  die  im  Innern  des  Kindes  anzubauenden  WirkUchkeits- 
werte  aus  jener  Grundlage  ableitet.  Der  blosse  Wort-  und  Gc- 
därhtnisdrill  muss  dem  Sach-,  dem  Anschauungs-  und  TTeimat- 
unierricht  das  Feld  räumen.  Das  gegenständliche  Denken"  kommt 
dann  zu  seinem  Recht  und  Worte,  Gefühle,  Phantasien,  Bilder  er- 
langen realen  Gehalt.  Das  Urteil  und  das  Wollen  des  Zöglings 
gründet  sich  auf  wirklichen  Empfindungsgehalt  und  arbeitet  nicht 
mit  blossen  Gedankenschemen. 

Diese  Frrungenschaft  der  neueren  Pädagogik  machen  sich  die 
Lehrpläne  der  Volksschule  zu  eigen,')  indem  sie  in  den  ver- 
scJiiedensten  Fächern  die  Berücksichtigung  der  heimatlichen  Ver- 
haltnisse verlangen  und  die  „Heimatkunde"  anstelle  des  Anschauungs- 
unterricht'-:  aV.  Vnrh  aufnehmen.  Damit  kommt  zur  Ausführung, 
was  im  [  auf  der  Zeit  immer  dringender  als  Fordcnmg  aufgestellt 
und  durch  Versuche  im  praktischen  SchuUeben  immer  deutlicher 
und  gewinnbringender  fiir  den  Gesamtunterricht  vor  Augen  gestellt 

')  So  lautete  das  Thema  der  nachfolgenden  Vortrige,  geludlen  «nt  dem  praktUch- 
padagogischen  Ferienkars  in  Kirchheim-Tcck  1907. 

*)  So  der  neue  „Lchrplan  fUr  die  wUrttembergisdien  VolkMchnlcp"  I907  «od 
auch  der  „Untemchuplaa  der  Volksschulen"  in  Baden,  1906. 


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—   342  — 


wurde.  Wir  müssen  der  Entwicklung  der  Dingte  Rechnung^  tragen 
und  an  der  praktischen  Ausgestaltung  mithelfen,  wenn  wir  anders 

den  Gedanken  al^  gut  und  die  praktische  Ausnützunfr  desselben  als 
förderUch  erkannt  haben.  Damit  aus  der  Hinsicht  der  Wille  hervor- 
springe, soll  eine  eingehende  Darstellung  der  Sache  mit  ihrem 
ganzen  Schwergewicht  auf  uns  wirken.  Nicht  das  Vielerlei,  sondern 
die  Starke  der  Eindrücke  soll  uns  bestimmen,  unsere  Aufmericsamkeit 
darauf  zu  richten  und  unsem  praktischen  Unterricht  entsprechend 
umzugestalten. 

Wir  wollen  also  in  ausführlicher  Weise  von  der  Brdmttin;;'  der 
Heimat  für  den  Unterricht  reden  und  dabei  folgende  Fragen  zu 
beantworten  suchen: 

Was  bedeutet  uns  die  Heimat,  was  ist  sie  für  den  Schüler? 

Warum  hat  sicii  der  Unterricht  an  sie  zu  halten,  warum  ganz 
besonders  sie  zu  behandeln? 

Wie  lässt  sich  diesem  Verlangen  in  den  einzelnen  Fächern 
nachkommen,  wie  in  der  einzelnen  Lektion? 

Wie  muss  endlich  der  Lehrer  selbst  in  der  Heimat  zu  Hause 
sein,  sie  zum  Gegenstand  eifrigen  Forschens  und  Uebevollen  Um» 
gangs  machen,  wenn  er  ihren  didaktischen  Wert  erkennen  und  das 
darin  vorhandene  reiche  Arsenal  von  Anschauungsmitteln  voll  aus- 
nützen und  die  Schüler  nicht  nur  ^ur  Heimatkunde,  sondern  zur 
Heimatliebe  und  zum  Heimatwirken  führen  will? 

L 

Was  bedeutet  die  Heimat  was  ist  sie  für  den  Schüler? 

Einsam  durch  Veronas  Gassen  wandelt  einst  der  grosse  Dante, 
Jener  Florentiner  Dichter,  den  sein  Vaterland  verbannte. 
Da  vernahm  er,  wie  ein  Mädchen,  die  ihn  sah  vorüberschrciUSi 
Also  sprach  cor  jOogem  Schwester,  velchc  saa«  an  ihrer  Seiten: 

„Siehe,  das.  i>t  jener  D.mtc.  der  ,ur  II. »II"  hinabgestiegen, 
Merke  nur,  wie  Zorn  und  Schwermut  auf  der  ditstem  Stirn  ihm  liegen; 
Dena  in  kaer  Stadt  der  Qnalen  musst  er  solche  Dinge  schauen, 
Dus  SB  Uh^ln  nimmer  wieder  er  vetmag  vor  innerem  Gfanea/* 

Aber  Daatc,  der  e«  lioit«,  wandte  älch  und  brach  sein  Schweigen: 

,,Um  das  Ulchelo  tu  verlernen,  braucht's  nicht  dort  hinabrustfipcn. 

Aileo  Scbmecz,  den  ich  gesungen,  all  die  Qualen,  Urcui  und  Wunden 

Hab*  ich  schon  aaf  dieser  Erden,  hab*  ich  in  Florenz  gefhnden  !**  (Getbd.) 

Und  am  heimatkundlichen  Museum  in  Dresden  steht  als  Motto: 

„Des  Lebens  Tiefen,  die  Weiten  der  Welt 
Die  Heimat  in  sich  Terschlossen  hUt." 


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—    343  — 


Die  Heimat  ist  der  Nährboden  für  unser  Selbst.    Was  wir  an 

Vorstellungen,  an  Gedanken,  Empfindungen,  Gefühlen  und  Willens- 
rcf^ungen  tagtäglich  in  uns  bewegen,  hängt  irgendwie  mit  unserer 
Heimat  zusammen.  Die  Heimat  ist  freilich  zunächst  nichts  anderes, 
als  der  Ort,  an  dem  man  lebt  und  seine  Erfahrungen  macht.  Wo 
man  aber  bloss  körperlich  lebt,  atmet  und  sidi  bewegt,  da  ist  man 
noch  nicht  daheim.  Man  muss  erst  seine  Umgcbunr:^  L^cistii:;  In  sich 
aufgenommen  haben,  muss  in  seinen  Gefühlen  sicii  mit  ihr  ver- 
bunden finden  und  eine  andauernde  Arbeit  in  ihr  verrichtet  haben, 
um  sagen  zu  können,  hier  bin  ich  2U  Hause,  das  mcäne  Heinnt 
Deswegen  ist  der  Ort  der  Greburt  und  der  eisten  Entfaltung  unseres 
Sinnes-  und  Geisteslebens  unser  Heimatort. 

Aber  auch  später  können  wir  irgendwo  anders  unsere  Heimat 
finden.  Man  redet  dann  von  einer  zweiten  Heimat,  die  man 
gefunden,  und  denkt  sich  dieselbe  im  vergleichsweisen,  uneigent- 
üchen  Sinne.  So  kann  man  sich  an  einem  neuen  Wirkungsort 
daheim  finden,  wenn  man  Heimisches  erblickt,  wenn  sich  Heimat- 
gefiihle  entwickeln,  wenn  Liebe  zur  Natur,  zu  Menschen,  zu  geistif^er 
Arbeit,  wenn  diese  oder  jene  Interessen  einen  würdigen  Gegenstand 
finden,  dem  man  sich  hingibt,  an  dem  man  sich  erfreut  und  den 
man  im  Weiterleben  verwertet  Aber  dennoch  sieht  der  Pfalzer, 
der  Unterfranke  die  Schwabenalb  anders  als  der  im  Angesicht  der- 
selben geborene  und  aufgewachsene  Schwabe,  Man  kann  sich  von 
der  schwäbelnden  Mundart  anheimeln  lassen,  dieselbe  nachahmen, 
aber  zum  Schwäblein  bringt  man  es  damit  noch  nicht  Ebenso 
umgekehrt  Jedem  Menschen  bleibt  ein  Erdgeruch  anhaften,  er 
mag  geistig  noch  so  hoch  steigen  utid  körpeiiich  noch  so  weit 
reisen.  Das  Heimatkolorit  verliert  sich  nicht,  wenn  es  auch  mit 
andern  Farben  verdeckt  wird ;  es  schimmert  durch  und  ist  dem 
kundigen  Auge  erkennbar.  Die  Heimat  ist  die  Gebiutsstätte  des 
Geistes.  „Wo  dir  Grottes  Sonne  zuerst  schien,  wo  seine  Blitze  dir 
zuerst  seine  Allmacht  offenbarten  und  seine  Sturmwinde  dir  mit 
heiligem  Schrecken  durch  die  Seele  bmii'stcn  •  da  ist  deine  Liebe, 
da  ist  dein  Vatrrl md.  Wo  das  erste  Mensciienaugc  sich  Hebend 
über  deine  Wiege  neigte,  wo  deine  Mutler  dich  zuerst  mit  Freuden 
auf  dem  Schosse  trug  und  dein  Vater  dir  die  Lehren  der  Weisheit 
und  des  Christentums  ins  Herz  grub,  da  ist  deine  Liebe,  da  ist 
dein  Vaterland,"  so  sagt  Emst  Moritz  Arndt.  Reise  in  fremde 
Lünder,  du  wirst  nicht  fertig,  immer  wieder  die  Heimat  mit  der 
Fremde  zu  vergleichen,  Vorzüge  und  Nachteile  abzuwägen,  au  den 
fremden  Sprachton  didi  zu  gewöhnen  und  dabei  immer  ein  kleines 
Unbehagen  mitzuscMeppen.  Du  gibst  dir  Mühe,  fremde  Denk-  und 
Lebensart  zu  verstehen,  indem  du  sie  nn  drr  rr^wohnten  heimischen 
missest.  Durchquere  als  Älbler  den  Norden  1  Deutschlands  und  lass 
dir  nicht  zum  Bewusstsein  kommen,  dass  du  das  Land  der  Berge 
mit  der  Seele  suchst,  dass  dich  die  Ode  und  Langweiligkeit  der 


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Fläche  fast  zu  Boden  drückt,  dass  du  dich  schon  halb  zu  Hause 
findest,  wenn  du  dich  von  Leipzig  her  ins  Saalct.il  eingefiihrt 
von  Talhängen  umgeben  siehst  und  dann  gar  die  Thüringer  Wälder 
gemessen  darfst,  die  dich  vollends  in  die  Heimat  versetzen!  Die 
Entfernung  von  der  Heimat  bedeutet  Rur  jeden  eine  Entbehrung, 
sum  mindesten  einen  geistigen  oder  gemütlichen  Verlust  Daher 
das  Herbe  des  Abschieds,  das  sich  oft  nur  in  stille  gehegten  Ge- 
danken, oft  auch  in  körperlichem  Missbehagen,  ja  sogar  in  Krankheit 
einstellt  Und  dann  die  Rückkehr  zur  Heimat!  Wer  hat  es  noch 
nicht  empfunden,  wie  sich  in  seinem  Herzen  das  unterste  zu  oberst 
kehrt,  welches  eigentümliche  Gefühl  ihn  überrieselt,  wenn  er  die 
alte  Heimat,  die  Stätte  seiner  Jugend  nach  langer  Abwesenheit 
wieder  betritt.  Hier  die  alte  Brücke  noch,  an  der  er  bei  niederem 
Wasserstand  mit  den  Kameraden  sich  im  Tiefsprung  geübt;  dort 
das  Hag  mit  dem  ehemaligen  prächtigen  Durchschlupf,  jetzt  leider 
durch  einen  Drahtzaun  ersetzt,  daneben  der  alte  Holzbau  mit 
seinem  vorstehenden  Dach  und  einer  offenen  Einfahrt,  an  Regen- 
sonntagnachmittagen der  Versammlungsort  der  Jui^end  aus  der 
Nachbarschaft;  hier  neben  der  Strasse  einst  der  künstliche  Teich, 
im  Sommer  das  Musikzimmer  der  Frösche,  im  Winter  die 
prächtigste  Eisbahn.  Aber,  wo  ist  er^  Verschwunden,  eingeworfen 
und  ein  Häuslein  mit  der  Brückenwage  der  Gemeinde  darauf 
plaziert.  Überall  Änderungen,  Neues,  das  ersehnte  Alte,  das 
Heimische  verdrängt  1  Wie  weh  tut  das  dem  zurückkehrenden  Ein- 
heimischen. Wenn  er  es  gewusst  hätte,  dass  man  so  rücksichtslos 
das  Alte  durch  Neues  ersetzte,  hätte  er  längst  keine  Burgersteuer 
mehr  entrichtet.  Zu  manchem  seiner  alten  Bekannten  spricht  er 
das  bittere  Wort :  Es  gefallt  mir  nicht  mehr  bei  euch ;  ich  komme 
mir  hier  {»anz  fremd  vor  und  so  wie  bei  euch  kann  ich  es  überall 
haben  1  Nur  die  Berge  drüben,  die  Burg  daran,  der  Bach  unten, 
der  Kirchturm  draussen  und  die  Gestirne  droben  blieben  die  gleichen 
und  wie  in  der  Heimat  erfreuen  sie  nirgends.') 

Die  Heimat  ist  für  jeden  etwas  Besonderes.  Sie  lieferte  das 
erste  Material  für  die  Vorstellungen,  und  alle  folgenden  im  späteren 
Leben  sogen  neue  iCraft  aus  jener  ursprünglichen  Grundlage. 
Deshalb  ist  das  gesamte  Geistesleben  von  den  sinnlichen  und  räum- 
lichen Grundformen  der  Heimat  gebildet  und  formiert*)  Die  Denk- 

S.  smch:  Die  IleimaUdee  im  Unterricht  der  Volksschule  von  Karl  Hossao. 
Sttanborg  1905.    i.  Kapitel:  Kkee  emcs  grouen  Kindet  tfber  die  Fovliehritt»' 

beitrebungcn  scims  Ilcimit'irt-     S.  i — 4. 

')  Etogumil  Goltz  saj;!  in  scimiu  ,,lUich  der  Kindheil":  Wer  das  Lkhl  der 
Welt  m  eisem  Torfmoor  odi  r  m  Wüstensandc  erblickte,  der  ist  Ar  Zeit  und  Ewigkeit 
an  Heiden  und  Wüatenprund  gelninnt  und  kein  Paradieseszauber  gewinnt  und  füllt  seta 
Herz  ganz  und  gar,  wenn  er  ihn  später  unibuhlt.  —  Ein  wahrhaft  kindlicher  Mensch 
sieht  zeitlebens  die  meisten  Dinge  unfreiwillig  in  den  Geschichten  und  Bildern,  in  der 
Firbung,  Belenchtong  und  LebcnifUüiiiig,  in  den  HertenMchaacrn,  der  Scelenstimmong 
«ad  Symbolik,  wie  to  der  Jogeod  luad  Xiodcneit. 


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bewegung  selbst,  die  Höhe  und  Weite,  gleichsam  die  Amplitude 

der  geistigen  rV(  illation,  ist  vom  Wechsel  zwischen  Berg  und  Tal, 
von  der  Mannigfaltigkeit  des  Gesichtskreises  becinflusst,  und  die 
Stärke  der  sinnlichen  Wahrnehmungen,  die  Lust  zu  Beobachtungen, 
die  Bevorzugung  besonderer  GeistesLatigkeit ,  aus  der  sich  die 
Talente  entwickeln,  der  GeiQhbausdruck  in  Sprache  und  Gesang; 
die  Art  des  Verkehrs  mit  dem  Nachbar,  das  Verwinden  von 
Unglücksfallen,  die  Trauer  um  den  Verlust  von  Angehörif^en,  die 
Freude  an  neuem  Leben,  das  sich  in  der  Kninnicr.  im  Stall,  in  der 
Hecke  zuerst  zeigte,  und  noch  so  vieles  andere  gibt  der  Seele  den 
konkreten  VorsteQungstnhalt,  mit  dem  sie  weiterhin  wulschaftet, 
gibt  dem  GefUhl  seine  eigene  Färbung  und  dem  Willen  beharrliche 
Antriebe. 

Aus  der  Heimat  erwächst  die  Individualität  und  diese  ist  die 
Unterlage  der  Person.  Aus  der  Heimat  gewinnt  sie  die  ersten  und 
tiefgehendsten  Anschauungen.  Die  unvet&schte  und  unmittelbarste 
Natur  wirkt  auf  den  Geist.  Ihre  mannigfaltigen  Wesen  in  Hof  und 
Garten,  Feld  und  Wald  unterstehen  der  selbständi^^cn  Betrachtung 
und  F-rforschung.  Die  Naturvorgänge  in  ihrer  beständigen  Wieder- 
kehr prägen  sich  unwillkürlich  ein  und  es  entsteht  eine  Vorahnung 
naturges^zlicher  Ordnung.  Auch  der  erste  Gedanke  und  das 
elementare  Empfinden  der  Schönheit  der  Natur,  eines  Sonnen- 
untergangs, einer  Waldvcrfärbiing  im  Herbst,  eines  glitzernden 
Schneefelds  mit  dem  Rauhreif  an  den  Bäumen,  eines  sternhellen 
Abends  u.  dgl.  stellt  sich  ein  und  die  wandernden  Wolken  geben 
der  Phantasie  die  erste  Nsüming.  Noch  mehr  Anregung  bieten  die 
Gemeinschaftskreise  der  Heimat,  wie  sie  das  Elternhaus,  die 
Nachbarschaft  und  der  Heimatsort  selbst  darstellen.  Wie  man  zu 
Hause  denkt  und  urteilt ,  ob  daselbst  ein  geistiges  Leben  herrscht, 
ob  im  Ort  über  Altes  und  Neues  geredet  wird,  welche  Bücher  und 
Zeitschriften  gelesen  werden,  was  im  Kreise  der  Kameraden  ver- 
handelt und  an^restrebt  wird,  —  das  alles  verleiht  der  Heimat  zu 
jeder  Zeit  ein  eigentümliches  Gepräge  und  ist  von  grossem  Einfluss 
auf  den  werdenden  Menschen.  Er  urteilt  wie  seine  Umgebung, 
wird  von  ihren  Interessen  angezogen,  von  widerstreitenden  Gedanken- 
richtungen abgestossen,  lernt  tadeln,  streiten,  kritisieren  u.  s.  f.  Er 
nimmt  aus  dem  Munde  nicht  besteUter  Ldirer,  sondern  vielleicht 
alter  Männer,  Mütter,  älterer  Genossen  oder  Kameraden  geschicht- 
liche Nachrichten,  frühere  und  jetzige  Ansichten  über  Zeit  und  Welt, 
Gott  und  Mcnschlieit,  über  Tiere,  Pflanzen,  Sonne,  Mond  und  Sterne, 
erfährt  Sagen,  Märchen,  Gcistergcschichten ,  lernt  Bräuche,  Sitten 
und  £igenMiten  kennen  und  fiigt  sich  denselben  unbewusst  Es  wird 
aber  auch  im  Angesicht  konkreter  Fälle  das  sittliche  Urteil  in  ihm 
geweckt,  er  lernt  die  Beziehungen  unter  den  Menschen  nach  ihrem 
moralischen  Wert  einschätzen  und  erhält  die  nachhaltigsten  religiösen 
Anregungen.    Zugleich  übermittelt  die  Heimat  mit  der  Spraciie 


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bestimmte  Ausdr  i^ke,  Anschauungsweisen,  Begriffe,  Volks-vcishcit 
in  Sprichwörtern  und  Aussprüchen.  Das  Arsenal  der  Kinder-  und 
Volkspoesie  schliesst  sich  ihm  auf  und  der  junge  Mensch  bemächtigt 
sich  des  Grebotenen,  ohne  sich  nur  des  Lernens  bewusst  zu  werden.^} 
In  der  Heimat  erwirbt  sich  der  Mensch  ein  geistiges  F'amilienerbe, 
ein  Stammes-  und  Volksf:^ut,  ein  Anschauungsmaterial  aus  dem 
Reich  der  Natur  und  Sittlichkeit,  das  seine  Ausstattung  fürs  ganze 
Leben  bildet  und  die  erworbene  Seite  der  Individualität  ausmacht.*) 

Welche  Bedeutung  kommt  nach  all  demderHeimat 
für  den  Schulunterricht  zu? 

£r  soll  im  Kinde  ein  kräftiges  und  vielseitiges  Interesse  wecken. 
Ein  solches  erhebt  sich  nur  auf  starken,  klaren  und  deutlichen  An- 
schauungen. Mit  der  Leichtigkeit  ihrer  Erwerbung  erwacht  auch 
die  Lust  und  das  Bedürfnis  darnach.  Welcher  Mensch  will  nicht 
sehen ,  hören ,  sinnlich  wahrnehmen  ?  Die  im  Bewusstsein  er- 
stehenden Bilder  erfreuen,  ihre  Verknüpfung,  Abänderung,  weitere 
Verwertung  gehikt  Mim  Vergnügen  des  Lernens.  Wie  angenehm 
ist  es,  wenn  zu  einem  Wort,  zu  einem  Begriff  sich  leicht  und  schnell 
das  korrespondierende  Bild  oder  Beispiel  hinzufindet.  Daher  kein 
Interesse  ohne  Anschauung.  Die  unmittelbare  Anschauung  bietet 
allein  die  Heimat,  denn  sie  befindet  sich,  in  sinnlicher  Nähe.  Was 
dann  der  Schüler  noch  weiteres  lernt,  obwohl  es  seinem  wirklichen 
Anschauungskreis  fernliegt,  das  lässt  sich  nur  durch  Vefgleichung 
mit  diesem  deutlich  m^hen  und  nur  durch  Vermittlung  der  schon 
bekannten  Vorstellungen  aufnehmen  oder  apperzipieren  bezw. 
assimilieren.  Dadurch  wird  das  Lernen  zur  Selbsttätigkeit  und  die 
Lernfreude  ist  sein  Begleiter.*) 

Der  Schüler  lernt  nur  richtig,  wenn  er  durch  selbsterworbenc^ 
klare  und  deutUche  heimatliche  Anschauungen  die  im  Unterricht 
notwendifi^en  fernerliej^enden  Vorstellungen  und  Begriffe  gewinnt. 
Dieselben  sind  dann  nicht  blosse  Wortvorsteliungen,  sondern  haben 
einen  konkreten  Gehalt  und  sind  hernach  nicht  bloss  ins  Gedächtnis, 
sondern  ins  Oemüt  aufgenommen.  Dann  wird  das  Interesse  bleibend. 
Die  Heimat  ist  auch  Unterlage  eines  vielseitigen  Interesse,  weil 
darin  nicht  nur  ein  reirhes  Vorstellungsmaterial  einer  Richtunt^  und 
Art,  sondern  ein  vieifälfit^es  Material  für  die  verschiedensten 
RicliLungen  der  Geistestätigkcit,  iur  Natur-,  Erd-  und  Himmelskunde, 
für  Geschichte,  Sprache,  Rechnen,  Geometrie,  Zddmen,  Gesangs 
Sitte  und  Religion  sich  findet  Der  Schüler  kann  mithin  für  alle 
Fächer,  für  den  gesamten  Unterricht  ans  dem  Kapita!  seiner  heimat- 
lichen Vorstellungen  reiche  Zinsen  üehen.    Aber  der  Unterricht 

>)  Das  geistige  IlinciDwachscn  des  Kinde*  in  <fie  Heimftt  sctiUderl  Kerp,  Flthrcr 

bei  dem  Unterricht  in  der  Heimatkuiulf,  S.  13 — 17. 

*)  S.  K.  Lange,  Über  Apperzeption,  S.  53 — 56  und  59,2 ff. 

•)  S.  Dr.  M.  SehiUing,  Untenicht  «ad  latcfCMe,  Püd.  Stadien  1907,  Heft  I. 


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muss  damit  wuchern»  er  muss  das  Kapital  fruchtbringend  anlegen. 
Dann  wird  das  Unterrichtsziel  „Interesse"  erreicht  und  damit  zugleich 
die  Voraussetzung  einer  persönlichen  Bildung  des  Schülers  gewähr- 
leistet. 

Heimatkunde  ist  somit  ein  notwendiges  Erfordernis  für  einen 
fruchtbringenden  Unterricht  in  allen  Fächern,  d.h.  sie  ist  Prinzip 
des  Schulunterrichts.  Sie  ist  es  nicht  bloss  in  dem  Sinne,  dass  sie 
Beispiele  und  konkrete  Anschauungen  7Air  beliebigen  Auswahl  am 
gewiesenen  Orte  darbietet,  sondern  sie  bietet  solclie  in  grund* 
legender  Weise  und  in  Verbindung  mit  der  inneren  Teilnahme,  mit 
dem  Gefühl  und  Willen  des  Schülers  verbunden  dar.  Das  Dar- 
gebotene ist  dann  nicht  ein  blosses  Wortwissen,  sondern  ein 
lebendiger  Besitz ,  geistige  Regsamkeit  und  Strebsamkeit  des 
Schülers  in  sich  schliessend.  Ohne  Ordnung,  innere  Verbundenheit 
und  Beweglichkeit  der  Vorstellungen  kommt  es  zu  keiner  Apper- 
zeption, zu  keinem  richtigen  Lernen.  Daraus  folgt  nun  weiter,  dass 
die  ursprünglichen  heimatlichen  Vorstellungen  einer  Bereicherung, 
Verbesserung,  Ordnunnr  und  steten  Verwertung  im  Unterricht  der 
verschiedenen  Fächer  bedürfen.  Dies  ist  um  so  mehr  nötig,  je 
näher  sich  der  Schulunterricht  seinem  Ausgangs-  und  Anfangspunkt 
befindet,  also  in  der  Unterklasse  mehr  als  in  der  Oberklasse.  So 
kam  man  denn  zu  der  Forderung,  die  Heimaticunde  als  besonderes 
Fach  für  die  Unterklasse  zu  verlangen. 

Wir  befinden  uns  hier  in  derselben  Lage  wie  früher  mit  dem 
Anschauungsunterricht  Von  Pestalozzi  nahm  man  den  Grundsatz 
an,  dass  die  Anschauung  das  absolute  Fundament  aller  Erkenntnis 
sein  müsse.  Also  mussten  zuerst  und  vor  attem  in  der  Schule  An« 
schauungen  gegeben  oder  erarbeitet  werden.  Solche  hatte  jeder 
Unterricht  und  jedes  Fach  nötig.  Ja,  man  dachte  daran,  dns  An- 
schauungsvermögen auszubilden  und  suchte  hierfür  besondere 
Stoffe.  Pestalozu  stellte  ein  A  B  C  der  Anschauung  auf,  das  sich 
das  Quadrat  zum  Ausgangraunkt  nahm.  Herbart  führte  die  Sache 
nach  der  mathematischen  Seite  weiter  und  legte  das  Dreieck  zu 
Grunde.  Nachfolger  Pestalozzis  wie  z.  B.  Denzel  bearbeiteten  die 
nächste  Umgebung  des  Kindes:  Haus  und  Hof,  Garten,  Wohnort, 
Feld  und  Wald,  Jahreszeiten  u.  s.  f.  und  bemühten  sich  namentlich 
um  die  sprachliche  Wiedergabe  des  Vorgestellten.  Der  Anschauungs- 
unterricht schloss  sich  zusammen  mit  dem  Spradiunterricht.  Beide 
hatten  den  Zweck,  das  Kind  lernfähi^^  zu  machen.  Aber  mit  dem 
Uberwiegen  der  feststehenden  Spraclilorm  in  ihrer  Übermittlung  an 
das  Kind  gelangte  man  gerade  zu  dem,  was  man  vermeiden  wollte, 
zum  blossen  Wortwissen  und  abstrakten  Vorstelten.  Deshalb  hat 
auch  der  Anschauungsunterricht  sich  einer  fortgesetzten  Verbesserung 
unterziehen  müssen,  ohne  dass  man  damit  zu  Knde  gekommen  wäre. 
Man  verbesserte  stets  am  l.ehrgan;^^  an  den  zu  behandelnden  Störten, 
wie  am  UnterncliLsvcriahren.    Mau  sah  ein,  dass  jeder  Unterricht 


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ein  Anschauungsunterricht  sein  müsse  und  die  ganze  Schulzeit  hin- 
durch  fortzugehen  habe.  ^Tnn  fand,  dass  anschaulicher  Unterricht 
ein  Prinzip  des  Volksschulunterrichts  sei  und  Anschauungsunterricht 
nur  ein  Fach  für  die  Unterklasse.  Man  fand  bald  auch,  dass  es 
eine  Anschauung  ohne  ein  Was  des  Angeschauten  nicht  gibt,  dass 
also  dieser  Unterricht  die  dem  Kinde  naheliegenden  Objekte  seiner 
UmgcbunjT  zu  Unterrichtsgegenständen  erheben  müsse.  Damit  v/nr 
man  an  die  Heimat  gewiesen.  Um  dieser  Hinsicht  im  Schul 
Unterricht  Ausdruck  zu  geben,  taufte  man  das  seitherige  Fach  An- 
schauungsunterricht in  Heimatkunde  um.  Damit  war  der  Zirkel 
durch  eine  Wortvertauschu ng  geschlossen  und  man  stand  wieder 
vor  derselben  P'rage:  Ist  Heimatkunde  ein  Prinzip  oder  ein  P'ach? 

Noch  auf  einem  andern  Wege  kam  man  zu  demselben  Resultat. 
Von  der  Ansicht  ausgehend,  dass  durch  die  Sinne  schon  in  den 
Kinderjahren  die  umgebende  Welt  unwillkürlich  aufgenommen 
werde  und  so  der  Schüler  schon  von  selbst  in  den  Besitz  der  ihm 
zugänglichen  Anschauungen  gelange,  war  man  angewiesen,  die  rohen 
Massen  solcher  Anschauungen,  die  sich  in  verworrenem,  oft  auch 
unbenannten  Zustand  im  Kindesgeist  einnisten,  zu  klären,  zu  ordnen, 
in  richtigen  Zusammenhang  zu  bringen  und  unter  Begriffe  zu  stellen, 
damit  hiervon  eine  formsue  Kraft  zu  weiteren  Erwerbungen  aus» 
gehen  könne.  So  musste  also  die  Vorstellungsmasse  zuerst  zerlegt, 
im  einzelnen  klar  vorgestellt,  in  Zusammenhang  und  in  Reihenform 
gebracht  werden;  denn  die  Erfahrung  „wirft  Dinge  und  Begeben- 
heiten massenweise  hin,  zu  einer  oft  verworrenen  Auffassung".  Aus 
diesem  Grunde  verlangte  Herbart  einen  „anal3rtischen  Unterricht" 
für  das  frühe  Knabenalter  und  beruft  sich  dabei  auf  N  i  c  m  c  y  e  r , 
der  in  „dem  Kapitel  von  der  ersten  Erweckung  der  Aufmerksamkeit 
und  des  Nachdenkens  durch  Unterricht,  oder  den  Verstandsübungen" 
nichts  anderes  als  analytischen  Unterricht  gefordert  habe.  Schon 
der  Domherr  von  Rochow  hat  für  die  Volksschulen  einen  solchen 
Unterricht  angeordnet  Freilich  sollte  derselbe  nicht  gerade  an 
bestimmte  Lehrstunden,  einen  bestimmten  Nnmen  und  bestimmte 
Schuljahre  geknüpft  sein  und  .Anknüpfungsj)unkte  für  die  Natur- 
geschichte, Geograpliie  und  Geschichte  bieten.')  Das  führte  auf 
einen  Stammunterricht,  der  die  Aufmerksamkeit  des  Kindes,  seine 
Phantasie,  sein  Denken  und  Sprechen  formal  bilden  sollte. 

Als  Finder  im  Jahr  1844  die  erste  und  j^tmdlegende  An- 
weisung zur  Heimatkunde  vcröfientlichte ,  wählte  er  den  Stoff  so, 
dass  die  drei  Führer:  geometrische  Formenlehre,  Naturgeschichte 
und  Heimatkunde  (Geographie)  vorbereitet  werden  sollten.  Aus* 
führlich  bearbeiten  wollte  er  bloss  das  letztere  Fach.  Der  spätere 
Herausgeber  des  Werkrhens,  Mat/.at,  bemerkte  dazu,  es  folge  aus 
diesem  Vorgehen  nicht,  dass  man  die  Fächer  trenne;  besser  sei  es, 


S.  Herbirt,  Vmriii  der  allg.  Pädagogik  §  115. 


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sie  ungeteilt  zu  lassen  und  als  Heimatkunde  im  weiteren  Sinne  zu 
behandeln  (gegenüber  der  sj>äter  auftretenden  Heimatkunde  im 
engeren  Sinne  oder  gcograph  chen  Heimatkunde).  Finger  habe 
diesen  Unterschied  nicht  genüge  ad  beachtet  und  eben  eine  aU« 
gemeine  Heimatkiinde  mit  &tonung  des  Geographischen  ge- 
schrieben.  „In  der  Volksschule  könnte  sie  vielleicht  ganz  oder  bis 
in  das  vorletzte  Jahr  den  geographischen  Unterricht  ersetzen,"  sagt 
Finger  2).  In  der  Benderschen  Anstalt  wurden  von  ihm  anstatt 
Anschauungsunterricht  die  Raumlehre,  Naturgeschichte  und  Heimat- 
kunde behanddt  und  zwar  im  ganzen  in  6  Stunden.  Stoy  wirkte 
neben  Finger  in  derselben  Anstalt  und  führte  später  die  Heimat« 
künde  in  eigener  Anstalt  weiter  im  Sinne  eines  Faches,  der  elemen- 
taren Geographie. 

Im  Gegensatz  zu  Stoy  hielt  Zill  er  daran  fest/)  dass  Heimat- 
kunde nur  ein  Unterrichtsprinzip  sein  könne  und  in  der  Analyse 
jeder  methodischen  Einheit  besondere  Beachtung  finden  müsse. 
Auch  Kehr  liess  die  Heimatkunde  nur  als  PrinTiip  gelten.  In  der 
von  Kehr  und  Schiimbach  verfassten  Methodik  des  sprachlichen 
Elementarunterricht  (1866)  heisst  es  (S.  43):  „Uns  ist  der  An- 
schauungsunterricht keine  Disziplin,  sondern  ein  Prinzip."  Muthesius 
trat  gegen  diese  Auffassung  kritisch  auf  in  seiner  Schrift  „Über  die 
Stellung  der  Heimatkunde  im  I^hrplan"  und  verlangte  eine  selb- 
ständige Heimatkunde  als  Fach  in  den  unteren  Schuljahren,  weil  da 
ein  bild  von  der  Heimat  im  Schüler  geschafte-i  erden  solle,  durch 
weiches  der  weitere  Inhalt  des  Unterrichts  angccj^r^et  werden  könne. 

In  neuerer  Zeit  hat  eine  reiche  Literatur  fachliche  Heimat- 
knindcn  in  Menge  hervorgebracht.  Ks  hat  z.  }'.  J  ri  r  h  c  n  ,  .Theorie 
und  Praxis  der  Heimatkunde"  zwischen  AnsrhauunLrm^intcn icht  im 
I.  und  2.  Schuljahr,  welcher  einzelne,  sinnhch  waiirnehmbare  Gegen- 
stände für  ach  behandelt,  und  Heimatkunde  als  Brücke  zwischen 
Anschauungsunterricht  und  Realunterricht  oder  geschlossener  Heimat- 
kunde unterschieden.  Die  letztere  soll  P!)inzelvorstellungen  in  Be- 
ziehung zueinander  und  zu  der  einen  grossen  Gesaiutvorstellung 
Hehnat  bringen  und  damit  die  Grundlage  für  den  darauf  zu 
bauenden  Reuimteiridit  schaffen  (3.  und  4.  Schuljahr).  Endlich  soll 
eine  eingegliederte  Heimatkunde  auf  der  Oberstufe  dasjenige  Material 
der  Heimat  behandeln,  welches  zu  den  Stoffen  der  übrigen  Fächer 
in  irgend  welcher  Beziehung  steht.  Eine  ähnliche  Unterscheidung 
trifft  man  in  Steckeis  Aligemeiner  Heimatkunde.  Der  Artikel  in 
Reins  Encyklopadischen  Handbuch  von  E.  Scholz  kommt  zu  dem 
Resultat,  diass  die  Heimaticunde  in  ihrer  Totalität  als  Prinzip  zu 
denken  sei,  wenn  gleichwohl  die  geographische  Heimatkunde  als 
Fach  auftreten  könne.  Ausser  der  geographischen  wird  auch  die 
geschichtliche  Heimatkunde  für  sich  angebaut  in  der  „Heimatkunde 


S.  Zillcr,  MateriaNen  tnr  tpcddleD  nufaflogik,  ^  139  nad  Allg.  FId.  S.  264. 


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von  Basel",  weil  es  keine  allgemein  anerkannte  Verbindung  von 
geographischer  und  historischer  Heimatkunde  >^äbt.  Günther 
und  Schneider  sagen  in  „Beiträi^c  zur  Metliodik  des  Unterrichts 
in  der  Heimatkunde",  die  Hein^atkunde  der  unteren  Schuljahre  bilde 
den  gemeinsamen  Stamm  flir  die  drei  später  selbständig  auftretenden 
Unterrichtszweige  der  Erdkunde,  Naturkunde  und  Geschichte.  „Sie 
ist  eine  propädcuti^rl  c  Disziplin,  aber  nicht  eine  einseitig  -  ^geo- 
graphische, einseitig  -  naturkundliche  oder  einseitig -geschichtliche", 
sondern  eine  „allgemeine  Heimatkunde,  welche  die  einheitliche 
Lebensgemeinschaft  der  Heimat  f^eichmässig  nach  allen  drei  ge- 
nannten Seiten  zu  betrachten  sich  vornimmt".  Ebenso  drückt  sich 
H.  Bande  mcr  in  Königsberg  in  seiner  „Heimatkunde  als  Grund- 
lage für  den  Unterricht  in  den  Realien"  (1905)  aus.  Auch  Prüll  be- 
rücksichtigt in  seiner  Heimatkunde  von  Chemnitz  nur  Geographie 
und  Natmfkunde,  dte  Geschichte  weist  er  der  Oberstufe  zu.  — 

Darüber  kann  kein  Streit  sein,  dass  die  heimatliche  Umgebung 
des  Schülers  einer  unterrichtlichen  Bearbeitung  bedarf.  Es  fragt 
sich  aber:  Soll  diese  heimatliche  Umgebung  als  Ganzes  im  Unter- 
richt vorgeführt  werden  und  sollen  die  verschiedenen  Bestandteile 
(Stoffe  und  Betrachtungsweisen)  nur  als  einzelne  Seiten  dieses 
Ganzen  zur  Geltung  kommen;  oder  sollen  die  in  der  Heimat  auf- 
zufindenden Stofiarten  in  Tvif  her  eingereiht  und  dann  je  für  sich 
einer  fortlaufenden  Betrachtung  unterzogen  werden^  Im  ersteren 
Fall  würde  alles,  auch  das  Geschichtliche,  Naturkundliche  und 
Sprachliche  in  Raumvorstellungen  eingeordnet  und  die  Heimatkunde 
in  vorbereitende  Erdkunde  auslaufen.  Das  wäre  Heimatkunde  als 
Fach  im  Sinn  neuerer  Lehrpläne.  Es  wäre  dies  ein  Sammelfach, 
so  wie  der  frühere  Anschauungsunterricht  ein  „Stammunterricht" 
war.  Es  ergäbe  sich  als  Konsequenz,  dass  die  übrigen  Fächer: 
Rechnen,  Religion  usw.  nicht  heimatlich  anzubauen  wären,  da  sie 
nicht  zur  Heimatkunde  gehörten.  Wollte  man  sie  zuch.  vollends 
hereinnehmen,  so  wäre  aller  Unterricht  „Heimatkunde"  und  eine 
Teilung  desselben  nach  Fächern  avifgehoben.  Wir  kämen  zu  dem 
Jarototschen  Grundsat/:  Alles  in  allem."  Die  Fächer  wurden  nach 
psychologischen,  anstatt  nach  logischen  Gesichtspunkten  festgesetzt. 
Nun  liegt  es  aber  im  Wesen  eines  Faches,  dass  es  als  Disziplin 
nur  Vorstellungen  oder  Erkenntnisse  einer  Art  und  Richtung  in 
sich  vereinigt  und  diese  nach  objektiven  Gesichtspunkten  entwickelt. 
Die  Stoffe  sind  von  df^r  Aussen-  oder  Innenwelt  als  Gegenstr'mde, 
objektive  Tatsachen  und  deren  Beziehungen  gegeben.  Die  iicimat 
enthält  eine  subjektive  Beziehung  des  Kindes  zur  Aussenwelt,  die 
psychologisch  sehr  wertvoll  ist  und  daher  bei  der  Stoffbearbeitung 
beachtet  werden  muss,  die  aber  für  die  Stoffauswahl  keine  Weisung 
gibt.  Mit  Heimat"  ist  eine  ähnliche  Beziehung  angedeutet  wie  mit 
dem  Grundsatz:  Anschluss  des  Unbekannten  (des  Fernen}  an  das 
Bekannte  (das  Nahe).    Nach  diesem  könnte  man  ebenso  wie 


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Heünatkunde  einen  Nahunterricht  oder  einen  Wirklichkeitsunterricht 
verlangen.  Es  kann  daher  bei  der  psychologischen  Begründung 
eines  Faches  nicht  sein  Bewenden  haben ,  vielmehr  müssen  bei 
Festlegung  der  Fächer  sachliche  und  logische  Unterscheidungen 
den  Ausschlag  geben. 

Es  ist  auch  eine  Forderung  der  persönlichen  Bildung  des 
Zöglings,  dass  in  ihm  ein  vielseitiges  Interesse  angebaut  werde. 
Diese  Interessen  erwachsen  aus  verschiedenen,  je  für  sich  stark 
betonten  Gemütszuständen,  die  sich  dann  eben  in  ihrem  ge- 
schiedenen Zusammenwirken  nachhaltig  für  Willensentschliessungen 
erweisen.  Deshalb  ist  auch  notwendig/  dass  die  verschiedenen 
Stoffe  in  der  unterrichtlichen  Bearbeitung  auseinandergehalten 
werden.  Das  ist  zum  wenigsten  auf  der  „Stufe  der  Klarheit" 
(Herbart)  zu  verlangen,  wenn  sie  dann  auch  im  weiteren  Gebrauch 
verbunden  werden. 

Sidit  man  die  (lir  die  „Heimatkunde**  vorgeschriebenen  Stoffe 
naher  an,  so  findet  man  deutlich  Geschichte,  Erdkunde  und  Natur- 
geschichte cinrin  untergebracht,  Zeichnen  noch  beigezogen.  Es  ist 
nicht  einzusehen,  warum  diesen  Fächern  in  der  Unterklasse  nicht 
der  ihnen  von  Rechts  wegen  zukommende  Name  verbleiben  soll? 
Vidleicht  weil  sie  sich  hier  als  Fächer  zu  bescheiden,  zu  elementar 
ausnehmen?  Aber  sollen  denn  die  Fächer  nur  immer  so  im  Lehr- 
plan stehen,  wie  sie  in  den  Lehrbüchern  sich  ausnehmen?  Will 
man  überhaupt  einen  fachwisscnschaftlichen  Unterricht  und  nicht 
vielmehr  einen  schulwissenschaftlichen;*)  Datm  gebe  man  doch 
vom  ersten  Schuljahr  an  einen  heimatkundlichen  Unterricht  in 
Gesdiichte,  Erdkunde  und  Naturgeschichte,  aber  in  so  einfacher, 
elementarer  Form,  wie  es  die  psychische  Natur  des  Schülers 
erfordert.  Der  Lehrer  hat  dann  drei  Fächer  vor  Augen,  die  er  in 
elementarer  Gestalt  eben  im  Ausgehen  von  heimatlichen  Vorstellungen 
beginnt  Es  bleibt  ihm  überlassen,  ob  er  jedes  Fach  in  den  auf 
dem  Stundenplan  angesetzten  Stunden  fortführen,  oder  aber,  was 
praktischer  ist,  einen  synoptis*  hcn  Lehrgang  anlegen  und  f\\r  auf 
dem  Stundenplan  angcsctztt  Zeit  für  Heimatkunde"  nur  eben  für 
die  an  die  Reihe  kommenden  Gegenstände  dieses  oder  jenes  der 
Fächer  verwenden  will  — 

Man  mag  die  Sache  betrachten  wie  man  will,  es  ist  eben 
„Heimatkunde"  kein  Fach,  denn  sie  hat  wcnif;  wie  der  An- 
schauungsunterricht einen  bestimmten,  ^gleichartigen  Stoff.*)  Sic  ist 
ein  Mischfach  und  mindestens  aus  3  Fächern  zusammengesetzt,  bei 
denen  die  Erdkunde  wegen  ihres  assoziativen  Charakters  zum 

S.  Zillcr,  (Irundkffnnp  nir  7   hr  -  vom  erziehenden  Unterriehl,  S.  343  fr.,  440 
u.  a.  O.    Matrrinlien  zur  speziellen  l  auagogik,  S.  18  {§  56).    Allgcuiciuc  l'ädagogik, 

S.  31,  48-  244 1{. 

')  S,  auch  E.  Fuss,  Der  Unterricht  jm  ersten  Schuljahr  (Dresden,  Bleyl  und 
Kaemmercr),  S.  55  und  Dr.  >!,  ScbillinCi  Päd.  Studien  1906,  tieft  I,  S.  10  u.  ff. 


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Hauptfach  wird.  Unangebracht  erscheint  uns  auch  die  Bezeichnung 
eines  Faches  mit  „Kunde".  Kine  solche  begnügt  sich  mit  dem 
eintaciien  Kennenlernen,  Erfahren  und  Mitteilen.  In  der  Geographie 
wurde  diese  Aul&ssung  des  Faches  erst  in  neuerer  Zeit  Ober- 
schritten  und  dieselben  dadurch  erst  zum  eigentlichen  Lehrfach 
umgebildet.  Da  man  nun  in  der  Unterklasse  noch  nicht  auf 
physikalische,  ethnographische  und  politische  Erkenntnisse,  auf 
Kulturgeographie  abheben  konnte,  glaubte  man  wohl,  sich  mit 
blosser  heimatlicher  £rd,,kunde"  begnügen  zu  müssen.  AUein  em 
rechter  Unterricht  muss  stets  zu  Erkenntnissen,  zu  vertieften  Ein- 
sichten, zu  logischer  und  ethischer  Verarbeitung  des  TatsächUchen 
fortschreiten,  wenn  auch  in  der  Volksschule  und  vollends  in  der 
Unterklasse  in  elementarer  und  elementarster  Form.  Deshalb  rede 
man  nicht  von  Hetmat„kunde",  sondern  von  Heimatgeschichte  als 
Menschen-,  Erd-  und  Naturgeschichte. 

Auch  die  Verschmelzung  des  heimatkundlichen  Stoffes  in  einer 
elementaren  Geographie  ist  unhaltbar.  Ks  sollen  wohl  Raum- 
anschauungen gebildet  werden;  aber  ebenso  notwendig  ist  die 
Bildung  der  Zeitanschauung.  Wenn  man  genauer  zusieht,  so  beruht 
jene  auf  dieser;  denn  diese  ist  die  einfache  Beziehung  des  Vorher 
und  Nachher,  jene  ist  solches  mehrfach.  Die  Vorstellung  des  zeit- 
lichen oder  des  geschichtlichen  Vorgangs  ist  daher  das  Element  der 
Raumanschauung.  Deswegen  lässt  sich  auch  die  Raumerfullung  in 
erzahlender  Weise  geben,  wie  sich  z.  B.  eine  Landscluklts* 
beschreibung  am  beäen  in  Fonn  einer  ReiseschUderung  vorführen 
lässt.  Der  geschichüiche  oder  erzählende  Unterricht  kann  somit 
viel  eher  als  die  geographische  Raumdarstellung  das  Hauptfach  der 
Heimat  werden.  Der  Geschichtsunterricht  ist  zugleich  geeignet, 
die  Konzentrationslinie  für  die  ganze  Schulzeit  bezw.  für  den 
ganzen  Lehrolan  abzugeben,  denn  er  schliesst  sich  mit  der 
psychischen  Entwicklung  des  Kindesgeistes  am  ehesten  zusammen, 
ist  derselben  am  meisten  konform  und  stellt  am  besten  den  not- 
wendigen Zusammenhan[T  der  Bildung  her.  Daraus  ergibt  sich, 
dass  durch  den  geschicialichcn  Unterricht  zusammen  mit  Reli^on 
die  geistige  Hdherbildung  des  Schillers  im  ganzen  gewährleistet 
wird ,  indem  dieser  Unterricht  in  seinen  Hauptpunkten  die  Kon- 
zentrationsmittelpunkte  für  allen  übrigen  Unterricht  nb<T:eben  würde. 
Es  wäre  dann  dadurch  das  Unterrichtsziel:  vielseitii^^js  Interesse 
und  persönliche  Bildung  gewaiirieistet,  wiederum  nur,  wenn  sich  der 
Unterricht  von  der  Heimat  erhöbe  und  stets  auf  dieselbe  Bezug 
nähme.  Also  sollte  nicht  Erdkunde,  sondern  Geschichte  die  Grund- 
lapfe  des  lipinintü'^lien  Unterrichts  abgeben  und  dies  nicht  bloss  in 
den  ersten  Schuljahren,  sondei  n  durch  die  ganze  Schulzeit  hindurch. 
Das  heisst  aber  nichts  anderes,  als  Heimatkunde  ist  ein  Prinzip 
des  Volksschulunterrichts. 

Wenn  endlich  die  Heimatkunde  als  Fach  darin  ihre  Begründung 


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'  linden  soll,  dass  es  in  der  Unterklasse  eine  Notwendigkeit  sei,  die 
Vorstellungea  des  Schülers,  welche  er  mit  zur  Schule  bringt,  erst 

analytisch  zti  zerlegen,  dann  im  einzelnen  zu  Idaren,  zu  ordnen,  zu 
vergleichen  und  schliesslich  die  Bcgriffsbildung  in  elementarster 
Weise  durch  Reihenblldung  zu  beginnen,  damit  der  Schüler  in  der 
Ausbildung  von  zuLreüenden  Anschauungen  und  in  der  Ableitung 
deutlicher  Begriffe  eine  Fertigkeit  gewinne;  so  ist  dagegen  geltend 
zu  machen,  dass  Sich  eine  solche  formale  Fertigkeit  nur  in  und  mit 
dem  Stoff  bildet,  an  dem  sie  gewonnen  wird  und  dn-^s  jede  Stoffart 
und  jedes  Fach  seine  ckynr  Logik  wie  seine  eigene  Anschauungs- 
weise mit  sich  führt  und  es  nicht  eine  allgemeine  Fertigkeit  gibt, 
die  in  dem  einen  Fach  ausgebildet,  sich  audi  auf  die  übrigen  über- 
tragen würde.  Es  muss  deshalb  jeder  Stoff  in  seinem  Fach  erst 
analytisch  zerlegt  und  nach  seinen  l)pk.inntcn  Teilen  ins  Bewusstsein 
gestellt  werden,  worauf  sich  die  i^iehandlung  des  Neuen  anschliesst, 
die  zuletzt  durch  Vergleichung  mit  anderem  Bekannten  zur  begriff- 
lichen Abstraktion  ftihrt  Die  analytische  Behandlung  ist  nicht  ein 
besonderes  Fach,  sondern  eine  erste  Stufe  des  Lehrverfahrens  in 
allen  Fächern  und  bei  jedem  neuen  Kapitel.  Analyse  und  Synthese 
sind  überhaupt  die  einzig  möglichen  Wege,  um  zu  einer  Erkenntnis 
zu  kommen.  Sie  sind  auch  die  elementaren  Bestandteile  jeder 
psychologischen  Methode,  und  wenn  sie  auch  l<^risch  streng  zu 
scheiden  sind,  so  kann  doch  der  Denkvorgang  nicht  ausschlie^tdi 
auch  nur  bei  einem  einzigen  Fach  den  einen  oder  den  andern  Weg 
gehen.  Wenn  ich  einen  Gedanken,  einen  Begriff,  eine  Vorstellung 
in  die  Bestandteile  zerlege  und  dann  jeden  Teil  wieder  für  sich 
betrachte  d.  h.  weiter  zerlege,  so  drängt  sich  stets  die  Not* 
wendigkeit  auf,  die  erhaltenen  TeUe  wieder  zusammenzuschauen, 
zu  vereinigen,  um  das  Ganze  wieder  in  der  Hand  zu  haben.  Nur 
das  trifft  zu,  dass  das  Analysieren  der  Vorstellungen  zu  Anfang  der 
Schulzeit  mehr  Zeit  und  Gelegenheit  wahrzunehmen  habe,  als  in 
den  oberen  Schuljahren.  Hier  soll  diese  Arbeit  von  den  Schülern 
selbst  vollzogen  werden  und  die  Neuaufnahme  von  Stoff  ist  dann 
das  Hauptgeschäft.  Aber  naturnotwendig  reicht  der  analytische 
Unterricht  immer  Schritt  für  Schritt  dem  synthetischen  die  Hand 
und  wird  so  zu  einem  unerlässlichen  Teil  des  Lehrverfahrens,  nicht 
aber  zu  einem  Glied  des  Lehrplans,  zu  einem  Fach,  wie  es  die 
Heimatkunde  zu  sein  scheint*) 


')  Üb«r  analytischen  und  syntheliscbcn  Unterricht  siehe  Ilcrbarts  „Allgemeine 
I^ulagogik"  und  Zillen  allgemeine  Unterrichtsmethodik  ia  „Allgemeine  PSdagogik**, 
liennsgegcben  T<m  Just  g  23  und  „M«teiwtiea**  ww.  —  Prof.  ]>r.  Tli.  Vogt, 
Der  analjrtiidie  nnd  symOietiidic  Unterticht,  Jnhrbndi  des  Vciriu  C  wte,  Kd.  189$, 
S.  211. 


Pftdagogische  Stadiea.  XXIX.  S. 


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—   354  — 


WaniM  hH  floh  dir  Uitirrloht  in  die  Heimat  za  laitoa,  wann  tie  fcnoadwt 

n  iMhiiNtoli? 

Wir  müssen  uns  noch  ganz  besonders  klar  machen,  warum  der 
I  Icimatkimclc  die  grosse  Bedeutung  für  den  Schüler  und  sein  Lernen 
zukomni'L,  die  ihr  in  der  pädagogischen  Literatur  beigelegt  wird. 

Sie    ist   in  erster  Linie  Anschauungsunterricht.  Wir 
wissen,  dass  von  der  ännlicben  Ansebauun^  die  Gedankenbildung 
am  ehesten  ihren  Ausgang  nimmt    Nichts  ist  im  Verstand,  das 
nicht  vorher  in  den  Sinnen  war,  ist  ein  längst  bekanntes  Wort, 
Damit   die  Sinne    die  davorstellenden  und  av:f  sie  einwirkenden 
Objekte  nach  ihren  Merkmalen  und  Formen  erfassen,  müssen  ihnen 
dieselben  nahegdsracht  werden.   Es  ist  also  sinnliche  Nähe  der 
Unterrtchtsgegenstände  erforderlich.    Die  Kinder  müssen  zu  den 
Gegenständen  hingeführt  oder  die  Gegenstände  müssen  in  die  Schule 
gebracht  werden.    Letzteres  ist  nicht  immer  möglich,  obwohl  man 
allerlei  Ersatzmittel  dafür  gefunden  hat,  z.  B.  Bilder  von  den  Dingen, 
Modelle  und  Sammlungen  mit  je  einem  Vertreter  oder  Teilchen  des 
Dings  selbst   Die  Anschauungsbilder  und  Anschauungsmittel  werden 
von   einer  betriebsamen  Industrie  so  reichlich  und  mannigfaltig 
angeboten,  dass  man  sozusagen  die  ganze  Welt  im  Schulkasten 
finden  kann.    Das  ist  aber  immerhin  nicht  die  wirkliche  Welt.  Ein 
Stein  vom  weissen  Jura  ist  noch  nicht  der  Jura  selbst.  Die 
repräsentative  Anschauung  ist  noch  nicht  die  Anschauung  der 
Wirklichkeit;  noch  weniger  ist  es  die  Bildanschauung.   Man  wird 
zwar  im  Unterricht  immer  auf  diese  Hilfsmittel  angewiesen  sein, 
wie  auch  auf  die  blosse  VV'ortdarstclluiig,  denn  tiie  üljer  die  I  Icimat 
hinausliegendcn  und  durch  Schulreisen  nicht  zu  erreichenden  Gegen- 
stände der  Geographie  und  Naturkunde  lassen  sich  nicht  in  die 
Schule  verbringen.    Deshalb  muss  man  um  so  mehr  darauf  aus 
sein,   alles  das,   was  die  Heimat  der  Anschauung  bietet,  auch 
wirklich  zum  Gegenstand  der  Untersuchung.  Betrachtung  und  Be- 
obachtung zu   nciuncn.     Ein   Wahrnehmungs-   und  Wirklichkeits- 
unterricht ist  also  durchaus  notwendig,  wenn  von  reellen  Vor* 
Stellungen,  die  auf  sinnUchen  Empfindungen  beruhen,  ausgegangen 
werden  soll.    Ohne  diese  bekommt  der  Unterricht  in  schwanke  n  Jen 
und  wankenden,  ungenauen  und  ungefähren  KinbildungsvorstelKmgcn 
ein  unsichtbares  und  schwankendes  Fundament.    Der  Wirklichkeits- 
und  Wahrhdtssinn  wird  begründet,  der  fär  eigenes  Nachforschen 
die  Grundlage  bildet.^) 

Ausser  dem  Gewinn  an  Wirklichkeitsgehalt  und  Wahrheitssinn 
bringt  ein  richtiger  Anschauungsunterricht  an  sinnlich  nahen  Gegen- 

*)  Vgl  Töcel.  Didaktik  und  Wirklielikeit.  Draden.  Rle^l  &  KaenuncRr,  1906. 


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—   355  — 


ständen  in  die  geistige  Arbeit  eine  bestimmte»  sachgemässe  Form. 

Stützt  er  sich  auf  die  Wirklichkeit,  so  stehen  die  Dinge  in  natür- 
licher Grösse  vor  Augen.  Die  dreidimensionale  Räumlichkeit  kann 
wahrgenommen  werden,  die  Raumverhältnisse  sind  richtig  gegliedert, 
das  Vorher  und  Nachher,  Ursache  und  Wirkung  lassen  sich  erkennen. 
Den  Wortbezeichnungen  und  Gedankenbewegungen  für  diese  Ver- 
hältnisse entspricht  stets  eine  wirkliche  Vorstellung,  ein  konkretes 
Bild,  an  dem  sich  der  Gedanke  emporrankt.  Das  verleiht  dem 
Denken  Klarheit  und  der  Aussage  über  Gesehenes  und  Beobachtetes 
die  wünschenswerte  DeutiiciikeiL 

Durch  die  Sdiulung  der  Sinne  an  sinnlich  wahrnehmbaren 
Gegenständen  der  Heimat  gewinnt  der  Schüler  nicht  bloss  den 
Empfindungsgehalt  für  seine  Gedanken,  für  sein  Fiihlen  und 
Wollen ,  sondern  er  gewinnt  auch  die  richtige  und  bestimmte ,  an- 
geniessene  Form  Vorstellung  und  den  angcpassten  sprachUchen  Aus- 
druck. Bei  der  Übung  der  Sinne  im  Sehen  und  Beobachten  wirk- 
licher Gegenstande,  ihrer  Anordnung  und  ihrer  Zusammenhange,  wird 
das  Auge  geschärft,  der  Schüler  lernt  sehen,  mehr  sehen  und 
genauer  sehen,  fortt{esetzt  sehen  und  prüfend,  vergleichend  be- 
obachten. Man  meint,  sein  Auge  habe  an  Sehkraft  gewonnen, 
obwohl  das  nicht  der  Fall  ist  und  hier  ein  Wort  Herbarts  gilt: 
Man  sieht  nicht  mehr,  als  man  weiss.  Das  Sehen  ist  eben  vom 
SehenwoUen  oder  vom  jeweiligen  Zustand  des  Bewusstseins  ab- 
hängig. 

Das  Sehen  richtet  sich  auf  die  Form,  Bewegung,  Farbe  und 
den  StofT  der  Gegenstände.    Der  Zweck  soll  immer  auch  mit 

erwogen  werden.  Das  Abschätzen,  das  Messen,  das  Beurteilen  und 
Vergleichen  schliesst  sich  als  geistige  Operation  der  sinnlichen 
Tätigkeit  an  und  ein.  Die  Kinder  lernen  dann  sogar  an  längst 
bekarmtcn  Gegenständen  Neues  und  das  Bild  des  Gegenstandes 
prägt  sich  ihrem  Geiste  ein,  hat  an  Klarheit  gewonnen  und  dadurch 
das  Interesse  erweckt.  Mit  alledem  beginnt  ein  geistiges  Leben  in 
elementarster,  anschaulichster  Weise,  das  für  die  Folgezeit  und  nach 
den  v(^rs(  ]iiedcnsten  Richtungen  sich  zu  einer  wahren  Bildung  aus- 
wachsen  kann.^j 

Die  Heimatkunde  ist  aber  nicht  bloss  richtiger  Gegenstands- 
Unterricht,  sondern  auch  der  beste  Denkunterricht.  Was  durch 
die  Sinne  an  rohen  Empfindungen,  Eindrücken  und  Vorstellungen 
in  den  kindlichen  Geist  aufgenommen  ist,  das  wird  schon  bei  seiner 
Vereinigung  im  Bewusstsein  geglättet,  aufeinander  bezogen  und  nach 
Grund  und  Folge,  Ding  und  Merkmal  usw.  verknüpft.  Die  Vor- 
stelluneen  werden  dann  weiterhin  in  die  Sprache,  in  Zeichen, 
Symbde  und  Begriffe  umgesetzt  Dieser  fortgesetzte  Umsatz  der 

'1  S.  Ijei  ScIu  IIt,  Xaturgeschichtlii  In-  Li  lir.iu>t1il^c,  eine  kur/c  ZoSMttRMnhmiDg 
der  GrundsiiUe  für  anschauliche  Gestaltung  des  L  ntcrrichlis.    S.  4 — 5. 

23* 


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Empfindungen  und  Gedanken  ist  unser  geistiges  Leben,  ist  geistige 
Kräfteübung.  Werden  diese  Kräfteübungen  recht  g^^enstandlidi, 
so  dass  das  Kind  gleichsam  der  Zuschauer  ihres  eit^cncn  Spieles 
wird,  dass  es  sieht,  wie  sich  die  X'orstellungen  aus  Erfahrungen  ab- 
nehmen und  sammeln  lassen,  wie  sie  gegenseitig  sich  verknüpfen, 
einander  entgegenstellen  lassen,  wie  sie  unter  höherem  Gresichts- 
punkt  sich  wieder  einigen,  wie  sie  auf  andere  Gesichtspunkte: 
Nutzen,  Schaden,  Brauchbarkeit,  Unbrauchbarkeit,  Schönheit,  Häss- 
lichkeit,  Zweck,  Ursache,  Beständigkeit,  Vergänglichkeit  u.  a.  m. 
bezogen  werden  können,  wie  dabei  Urteile  sich  ergeben  und  eine 
in  den  Dingen  selbst  liegende  oder  b^[ründete  Wertschätzung  er- 
wachst, so  macht  es  eine  Erfahrung  von  den  Vergnügungen  des 
Verstandes,  des  Urtcilens,  Schliessens  und  Begriffcbildciis,  das  die 
Quellen  der  Erkenntnis  öftnct.^)  Auf  diesem  Schaffen  und  Mit- 
schaffen  des  Kindesgeistes  beruht  der  wahre  Unterricht,  und  der 
Anschluss  an  sinnlich  erworbene  Vorstellungen  gibt  unmittelbare 
Gelegenheit  und  Veranlassung  zu  denkendem  Tun.  Auf  demselben 
beruht  die  Einführung,  das  Verständnis  und  die  spätere  Teilnahme 
des  Menschen  an  der  Kulturarbeit.  Der  seitherige  Unterricht  war 
in  der  Hauptsache  Tradition  von  Wissensstoffen,  er  muss  zum 
Selbsterwerben  (zur  Okkupation)  vom  Beginn  der  Schulzeit  ab  an- 
leiten und  sich  deshalb  unausgesetzt  auf  dem  Boden  der  Heimat 
anbauen. 

Die  Heimatkunde  ergibt  weiter  auch  den  richtigen  Be- 
schäftigungsunterricht. Hier  kann  bei  allem  Lernen  immer 
gleich  zur  Anwendung  übergegangen  werden.  Ks  können  Be« 
Obachtungsaufgaben  gelöst  werden,  die  die  Kinder  ausserhalb  der 
Schulzdt  in  Anspruch  nehmen.  Sie  müssen  beaditen,  was  die 
Leute  sagen  und  erzählen,  welche  naive  Ansichten  von  den  Dingen 
und  Vorgängen  in  der  Natur  gehegt  werden,  welche  Sitten  und 
volkstümliche  Reden,  Ansichten,  Gebräuche  und  Arbeiten  in  ihrem 
Umkreis  sich  finden.  Sie  sollen  mit  offenen  Augen  und  denkendem 
Geiste  die  Vorgänge  im  Natur-,  Volks-,  Familien-,  Gemeinde-  und 
kirchlichen  Leben  verfolgen  und  so  selbst  das  Material  zu  den 
unterrichtlichen  Besprechungen  beibringen.  Dadurch  geht  der 
Unterricht  ins  Leben  ein  und  gewinnt  bei  den  Schülern  konkreten 
Gehalt  Andererseits  müssen  die  Schüler  auch  wieder  das  im 
Unterricht  Gelernte  am  Leben  prüfen,  müssen  es  anwenden  und 
sich  darin  üben.  Sie  müssen  hinterher  an  der  Wirklichkeit  aus- 
machen, ob  es  sich  so  verhält,  wie  iti  der  Schule  gelehrt  wurde. 
Sie  müssen  im  täglichen  Handel  und  Wandel  beobachten,  was  ein 
reUgiös-sittlicher  Unterricht  ab  richtig  und  nachahmenswürdig  auf- 
ge^idlt  hat.    Sie  müssen  also  ihre  Erkenntnis  im  Wollen  und 


>)  Vgl  des  Verfassers  Neue  Schatkoost,  Bd.  I;  SpccicUe  Didaktik  (Die  Uhffcanit). 
Dresden,  Bleyl  &  Kacmmerer,  1906. 


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Handeln  hcn  orlcuchtcn  lassen ,  wenn  anders  Früchte  zur  Reife 
kommen  sollen.  Dabei  miiss  mit  Kleinem,  Unscheinbarem, 
Einzelnem  begonnen  werden,  wenn  etwas  ürosses,  eine  Person  er- 
wachsen soll  Und  dieses  Kleine  und  Unscheinbare,  aber  konlcret 
Wirkliche,  lässt  sich  nur  im  Umgangs-  und  Erfahrungskreis  der 
Kinder,  im  heimatlichen  Leben  ins  Werk  setzen.  Die  Heimat 
bildet  somit  das  Ubun^sfeld  des  werdenden  Charakters,  des 
denkenden  und  probierenden  Schülers;  sie  ist  die  notwendige  Er- 
gänzung zur  Sehlde.') 

In  der  Heimat  findet  sich  auch  die  beste  Gelegenheit  zu  einem 
beglückenden  und  veredelnden  Kunstunterricht. 

Die  von  der  i  [cunat  dargebotenen  Naturbilder:  die  Ber^e,  die 
Täler,  die  weidenden  Herden,  der  Wald  mit  seinem  jungen  Grün 
oder  in  seiner  Herbstfarbe,  der  Bach  oder  Fluss,  die  Baume  des 
Gebirges,  das  glühende  Abendrot  und  noch  so  hundert  andere 
prä<,^en  sich  dem  GeTvihl  und  Gemüt  unauslöschlich  ein  und  sie 
sind  es  dann,  durch  die  jedes  neue  Bild  erfa-^st ,  durch  die  jede 
Illusion,  sei  sie  durch  Malerei  oder  Poesie  bewirkt,  hervorgerufen 
wird.  Deshalb  müssen  hier  die  Eilemente  des  künstlerischen 
Empfindens  gewonnen  werden.  Was  ein  plätschernder  Badi,  ein 
ruhig  -  still  -  bewegter  See,  ein  tiefblauer  Himmel,  ein  wogendes 
Ahrenfeld  ist,  das  lässt  sich  schlechterdings  nicht  mit  Worten  sagen, 
sondern  nur  in  deutlichen  Erinnerungen  vorsteilen.  Mit  Kindern, 
die  aus  ihrem  Heimatleben  im  Umgang  mit  der  Natur  einen  reichen 
Schatz  solcher  Vorstellungen  aus  Haus  und  Feld,  Wiese  und  Wald 
mitbringen,  lässt  sich  über  Naturschönheit  reden.  Sie  verstehen, 
was  es  heisst:  „Morgen  ist  Feiertag!  Wie  will  ich  spielen  im 
grünen  Hag,  wie  will  ich  springen  durch  Tal  und  Hohn,  wie  will 
ich  pflücken  viel  Blumen  schön!  Dem  Anger,  dem  bin  ich  holdl" 
Sie  kennen  die  Vögel,  die  Blumen  nicht  nur  dem  Namen  nach  und 
im  allgemeinen,  sondern  sie  unterscheiden  sie  am  Ruf,  am  Stand- 
ort u.  dgl.  Sie  wissen,  „wo  die  Mandeln  rötUch  blühen,  wo  die 
heisse  Traube  winkt,  und  die  Rosen  schöner  glühen,  und  das 
Mondlicht  goldner  bhnkt". 

Die  Heimat  bietet  den  rechten  Kunstanschauungsunterricht 
Wer  hier  nicht  zum  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen  gelangt, 
der  wird  es  in  der  Fremde  nicht  erhaschen;  wer  hier  nicht  ein 
reiches  Arsenal  von  (Tcfühlstönen  einsammelt,  der  wird  später  nie 
die  Harmonie  des  Schöfien  erlauschen.  Freilich  ist  hier  das  Schöne 
noch  eingewickelt  in  die  mitschwingenden  Herzenstcme  der 
Sympathie,  der  Heimatliebe,  der  Jugendlust,  der  Sinnesfreude;,  der 
religiösen  Schauer  und  des  Ahsrhicdwehs.  Aber  gerade  diese 
bodenständige  Ursprünglichkeit  sichert  ihm  einen  starken  Wuchs, 


Herbarl  hat  daher  mtl  allem  Recht  tiem  Unterricht  üic  Aui'^abc  gestellt,  Et- 

Uuoof  nad  Uwguig  de»  Scholen  n  ttgtaua.  S,  denen  „AUg.  Pid.". 


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wenn  nur  vom  Hause  und  von  der  Schule  das  Schönhcitsgcfühl  ein 
wenig  genährt  und  (geleitet  wird.  Ausser  dem  Naturschönen  stellt 
sich  auch  manches  Schöne  in  der  Baukunst  an  Kirchen  und  altertüm- 
lichen Gebäuden,  an  Gemälden  und  Denkmälern  vor  Augen,  das  mit 
Nutzen  für  die  Bildung  des  Kindes  verwertet  werden  kann.  Jeden- 
falls aber  drückt  sich  beim  tät^liclien  Sehen  in  der  Jugend  die 
Erinnerung  daran  so  unverwischlich  dem  Gedächtnis  ein,  dass  sie 
bei  späterer  Gelegenheit  mit  elementarer  Gewalt  erwacht  und  dann 
ihre  bildende  Kraft  entfaltet.  Deshalb  muss  der  Unterricht  beim 
Betrachten  des  Schönen  seine  Anleihe  bei  der  Heimat  des  Kindes 
machen  tind  Kräfte  für  die  Erstehung  und  Entwicklung  der  künst- 
lerischen Arh'^e  im  Kinde  aus  der  Heimatkunde  ge\\'innen.*) 

Anschluss  an  Heimat  und  Wirklichkeit  ist  aber  auch  Bedingung 
für  Entstehung  eines  richtigen  Interesses  im  Kinde.  Aus  blossem 
Wortwissen  und  blassen,  undeutlichen  Anschauungen  entsteht  kein 
weiterstrebendes  Interesse.  Dazu  müssen  konkrete  Vorstellung^- 
jijcbilde  antreiben.  Was  die  Kinder  mit  eigenen  Augen  sehen,  das 
ist  ihnen  fas>.bar  und  verbindet  sich  mit  Gefiihls-  und  Lebens- 
werten, die  zum  Wollen  und  Handeln  veranlassen.  Solche  Aufgaben, 
die  das  Kind  durch  Selbsttätigkeit  löst,  lassen  sich  an  und  in  der 
Heimat  leicht  stellen.  Das  Kind  erlebt  dann  die  Freude  des  Selbst- 
findcns  und  bekommt  so  einen  Forschertrieb,  tlor  seinem  Lernen 
die  nötige  Wür/c  und  Beweglichkeit  verleilit.  l.s  ermüdet  viel 
weniger  als  an  den  blossen  Einbildungsvorsteilungen.  Es  denkt  in 
und  mit  den  Dingen.  £s  beschäftigt  sich  mit  ihnen  auch  ausser 
der  Schulzeit.   Es  wird  gelernt,  ohne  dass  man  vom  Lernen  weiss. 

An  der  Heimat  lasf;pn  sich  aitrh  die  verschiedenen  Interessen 
gleicherweise  ausbilden:  das  empirische,  da^  spekulative,  das 
ästhetische,  das  sympathetische,  soziale,  religiöse  und  praktische. 
Durch  Anschhiss  an  die  Heimat  erhält  somit  der  Unterricht  Viel- 
scitigkcit  ( iriindlichkeit  und  Beweglichkeit.  Da  sich  aller  übrige 
l^ntcrricht  damit  \erbinden  lasst,  so  ist  die  Heimatkunde  imstande, 
das  Interesse  des  Schülers  /.u  schaffen.  Damit  wird  der  Unterrichts- 
zweck erreicht,  der  durch  die  Anlegung  des  Unterrichts  aufs  Wort- 
wissen, Hersagen,  Üben  u.  dgl.  gewöhifich  verfehlt  wird. 

Ein  Unterricht,  der  heimatkundlich  gestaltet  wird,  hat  auch 
nicht  weit  zur  Einheitlichkeit,  zur  Konzentration.  Für  die 
Formfacher  bieten  die  Sachgegenstände  dm  Inhalt.  Man  rechnet 
dann  mit  wohlbekannten  oder  leicht  mcss-,  wäg-  und  zählbaren 
Dingen  aus  dem  heimatlichen  Anschauungskrets.  Damit  wird  die 
Sachkenntnis  nach  der  Seite  der  Quantität  erweitert.  Man  schreibt 
und  liest  von  leicht  vorstellbaren  Dingen  der  Heimat;  damit  kommt 
Inhalt  in  die  Schreib-  und  Leseübungen  und  man  hält  i»ich  fem  von 


>)  Ausführliche  Darstellung  dieses  Punkten  fmdct  man  bei  b.  Sc  bei  1er,  N'alur- 
getchtchtlicbe  I^hrausüdge,  $.  16—32. 


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unverstandenem  Zeu«:^.  Man  zeichnet,  was  man  mit  den  Auc^en 
wahrnehmen  kann ;  damit  erhält  die  Form  ihre  Ausfüllung.  Die 
Sprache  wird  gegenständlich  und  wahr.  Andere,  geschichtliche 
Vorgänge  werden  in  der  Heimat  lokalisiert  und  kommen  dadurch 
wohl  in  eine  eigentümliche  Beleuchtung,  aber  auch  zugleich  in 
greifbare  Nähe.  Steht  man  so  auf  festem  Grund  und  Boden ,  so 
kann  die  Phantasie  hin  und  wieder  weit  ins  Unbekannte  und  Nebel- 
graue hinausschweifen,  der  Mensch  bleibt  doch  stets  zu  Hause  und 
behält  sein  geistiges  Gleichgewicht  Die  Raumform,  auf  die  hier 
alles  übertragen  und  konzentriert  wird ,  ist  aber  zuch  si^leich  die 
beste  Reihenform.  Und  so  könnrn  ^ich  die  Vorstcllungsreihen,  aus 
deren  Bildung  das  Lernen  besteht ,  mit  Leichti^^keit  an  iene  an- 
knüpfen und  sich  ihr  einfügen.  Dann  bleibt  der  Schüler  vor  Zer- 
streuung bewahrt  und  weiss  bei  Befragung,  dass  er  aus  seinem  be- 
kannten heimischen  Vorstellungskreis  die  Hilfen  zum  weiteren  Denken 
7.U  holen  hat.  Dann  werden  (lefühlsleben,  Erkenntnisse  und  praktisches 
Streben  des  Kindes  zusammengehalten,  unterstützen  und  fördern 
einander  und  es  erwächst  ein  einheithcher  Mensch,  es  wird  in 
richtigem  Sinn  flirs  Leben  erzogen. 

Endlich  liegt  ein  Vorzug  des  heimatlichen  Unterrichts  in  seiner 
Förderung  der  P  er  s  o  n  b  i  I  d  u  n  g.  Schon  die  ITervorrufung  des 
vielseitigen  Interesse  bereitet  den  Schüler  innerlich  vor,  zum  VVoUen 
und  Handeln  im  gewiesenen  Gebiet  fortzuschreiten.  Bei  solchem 
Unterricht  wird  dem  Kind  nicht  leicht  etwas  zugemutet,  was  es 
nicht  leisten  könnte.  Die  Natur  und  Fähigkeit  des  Schülers  wird 
berücksichtigt  Solches  verlangte  schon  Rousseau,  und  Pestalozzi 
forderte  vom  Unterricht  die  Naturgemässheit.  Dieselbe  wurde 
jedoch  bei  den  geltenden  Lehrplänen  wenig  in  Rechnung  genommen. 
Anstatt  mit  Sachen  wurde  mit  Worten  und  Zeichen  gewirtschaftet 
Anstatt  dem  Kinde  zu  gewähren,  so  zu  denken  und  zu  reden,  wie 
es  versteht  und  empfindet,  mutete  man  ihm  mi^icfast  bald  ZU,  in 
fremder,  hochdeutscher  d.  h.  Lehrersprache  zu  reden,  ungreifbare, 
abstrakte  Dinge  zu  denken  und  sein  Sinnen  und  Fühlen  welt- 
abgeschieden in  der  Schule  anzubauen.  In  der  Heimatkunde  soll 
das  Kind  Gelegenheit  erhalten,  aus  dem  eigenen  Ich  zu  wachsen 
und  sich  zu  entfalten.  Aufrichtigkeit,  Sachgemässheit  ist  erste 
Forderung,  und  der  Lehrer  kann  sich  ganz  der  kindlichen  Auf- 
fassung anschliessen.  Kr  kann  sicli  zum  Kinde  herunterlassen ,  mit 
ihm  weitergehen  und  erfährt  es  so,  was  sich  dem  Kinde  lehren 
laast»  wie  weit  sich  die  Aufnahmefähigkeit  und  der  Verstand  des- 
selben erstrecken.  Man  muss  doch  immer  in  erster  Linie  fragen: 
Was  bringt  das  Kind  zum  Unterricht  mit?  Reicht  sein  bereits 
erworbener  Besitz  aus,  das  Neue  zu  erfassen  oder  nicht?  —  Der 
heimatkundliche  Unterricht  kann  am  besten  hierzu  Veranlassung 
und  den  nötigen  Auischluss  geben.  Wie  manches,  das  im  späteren 
Schulunterricht  dem  Kinde  auf  guten  Glauben  hin  mitgeteilt  wird 


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und  das  es  sich  einprägen  soll,  würde  beiseite  gelassen  oder 
durch  eine  ausreichende  Heimatkunde  unterbaut,  wenn  man  sidi 
über  die  Entstehung  der  Vorstellungen  erst  richtige  Klarheit  ver- 
schaffen würde!  Die  Lcistunge^fahigkeit  des  Kindes  beachten,  heisst 
nichts  anderes,  als  seine  Personbildung  fördern.  Man  meint  wohl, 
die  Auffassungsfahigkeit  des  Kindes  lasse  sich  auf  künstlichem  Wege 
etwa  durch  Bilder,  häufigen  Gebrauch  der  Kreide  und  einer  ein- 
fachen, klaren,  deutlichen  Rede  erhöhen.  Allein  kein  Bild  und  kein 
Wort  können  eigene  Erfahrungen  ersetzen.  Sic  können  dic^cüicn 
nur,  wo  sie  bereits  vorhanden  ist.  wachmfen.  Iis  müssen  deswegen 
in  der  Heimatkunde  alle  Anschauungsmöghchkeiten  dem  Kinde 
eröffnet  werden,  in  Geschichte,  Naturkunde,  Geographie,  2<eichnen 
und  Rechnen.  Namentlich  muss  das  Kind  in  der  Vorbereitung  der 
Geschichte  eigene  geschichtliche  Erlebnisse  gemacht  haben,  sonst 
kann  es  Geschichte  niemals  verstehen.  Es  muss  auch  von  dem, 
was  das  V^olk  an  selbstgemachten  naiven  Vorstellungen  über  das 
Natur«  und  Geistesleben  besitzt,  etwas  —  und  nicht  nur  zerstreutes 
Einzelne  —  in  sich  aufgenommen  haben ,  wenn  es  aus  sich  selbst 
wachsen  soll.  Denn  das  bcwusst  logische  Denken  geht  aus  dem 
träumerischen,  ahnungsvollen  und  oft  phantastischen  Denken  her\'or, 
und  wie  im  Volk  und  in  der  Wissenschaft  diese  Voraussetzung  eine 
natürliche  ist,  so  ist  sie  es  auch  bd  jedem  Kinde.  Jene  naiven 
Vorstellungen  klingen  im  Gemüte  auch  noch  auf  spateren  Alters- 
stufen nach  und  geben  der  Sache  jenen  unvergleichlichen  poetischen 
Reiz,  der  unmittelbar  ins  Reich  des  Idealen  übergeht,  in  welchem 
der  Mensch  erst  seine  eigentliche  Heimat  findet.  (Man  vergleiche 
die  Vorstellungen  vom  Christkind,  von  den  Zweimen,  vom  Storch, 
der  die  Kinder  bringt!)  In  jedem  Ort  lassen  sich  eine  Menge 
solcher  naiven  Vorstellungen  in  den  Volksttberlieferungen  aulHnden, 
in  Märchen,  Geschichtchen,  Kindcrliedchen  ii.  dgl.  auffassen  und  in 
der  Heimatkunde  verwerten,  so  dass  das  Kind  sich  darin  daheim 
findet  und  sich  durch  dieselben  in  seinem  Geistesleben  weiter 
entvrickelt.  Der  Unterricht  wird  dadurch  populär,  dass  er  von 
dem  ausgeht,  was  das  Kind  vom  Vater,  von  den  Leuten  gehört 
hat,  auch  /.  R.  in  der  Naturlehre  die  darin  liegenden  richtigen  Ge- 
danken von  unzutreffenden  Meinungen  absondert  und  so  die  Brücke 
zur  wissenschaftlichen  Auffassung  findet  [z.  B.  „Ein  böser  Tau  hat 
die  Blüten  verdorben."  Manche  Wetterregeln  u.  dgl.).  Peter  Hebet 
ist  ein  Meister  in  solchen  Darstellungen.  Das  Wissen  des  Kindes 
mn'^s  ein  sclbstc^ewachsenes  sein,  es  muss  nach  und  nach  aus 
individuellen  und  volkstümlichen  Vorstellungen  herauswachsen,  wenn 
es  personlicher  Besitz  werden  soll  und  nicht  bloss  angelerntes  Zeug. 
Dadurch  wird  das  Kind  wahrhaftig  und  aufrichtig.*}   Das  gehört 


>)  Die  erziehliche  Wirkung  des  naturknndlielwii  UaterridiU  t.  E.  Scbellert 
Naturgeschichtlidie  Lehnnsflilge,  S.  ii — 16. 


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—    $61  — 


zur  Personbildung  und  ist  durch  die  Heimatkunde  bedingt.  Dadurch 
kommt  auch  Zusammcnhanfj  und  Stetigkeit  in  die  Bildung  des 
Kindes.  Solche  verlangte  schon  Pestalozzi  in  der  „Lückenlosigkeit" 
des  Unterrichtsganges.  Die  Sache  ist  aber,  da  sie  in  den  Gegen- 
standen  des  Unterrichts  anstatt  im  Sdiiiler  gesucht  wurde,  sehr  ins 
Gegenteil  der  ursprünglichen  >Teinung  umgeschlagen.  Der  innere 
Zusammenhang  der  Vorstellungen  und  (redanken,  die  geistige  Ent- 
wicklung des  Kindes  verlangt  Linstirnmigkeit  Ohne  solche  ist 
keine  Personbüdung.  Die  Heimatkunde  gibt  dann  dem  Kinde  die 
Gelegenheit,  seine  Gedanken  ins  Leben  zu  übertragen,  sein  Wissen 
anzuwenden  und  zu  betätigen.  Sein  Wissen  wird  dann  nicht  zum 
toten  Besitz,  sondern  ein  lebendiges  Können.  Pestalozzi  warnte 
eindringlich  vor  Kenntnissen  ohne  Fertigkeiten.  Der  Mensch  soll 
iiirs  Leben,  für  seine  individuelle  Einstellung  ins  Leben,  seine 
^Jndividuallage"  vorbereitet  werden.  Das  ist  dann  der  Fall,  wenn 
er  sein  Wissen  persönlich  anwendet.  WTnn  er  darin  aufgeht  und 
das  Gelernte  nicht  als  eine  Last,  einen  unnötigen  Kram  mit  sich 
schleppt.  Das  Lernen  muss  also  tiefer  gehen  als  bloss  ins  Ge- 
dächtnis; es  muss  das  Gefiih!  des  Konnens,  der  eigenen  Kraft 
hinterlassen,  sonst  erwächst  nie  eine  gebildete  Persönlichkeit,  ein 
tatkräftiger,  praktischer  Mensch.  Wo  anders  aber  ist  ein  solch 
tiefgehender,  naturgemässer,  angepasster  und  stetiger,  zur  unmittel- 
baren Anwendung  fortschreitender  Unterricht  möglich,  als  eben  in 
demjenigen  elementaren  Teil  der  Unterrichtslacher,  die  aus  der 
Heimat  ihre  Nahrung  ziehen. 

Wir  wissen  nun,  warum  sich  der  Unterricht  an  die  Heimat  zu 
halten,  diese  ganz  besonders  zu  behandeln  hat. 

Im  Anschluss  an  die  Heimat  gewinnt  das  Kind  richtige  An- 
schauungen, die  auf  Wirklichkeit,  Klarheit  und  Deutlichkeit  beruhen, 
es  wird  veranlasst,  zutreffende  Denkoperationen  zu  vollziehen  und 
erhält  Gelegenheit  zur  Beschäftigung  im  behandelten  Unterrichts^ 
gebiet,  es  gewinnt  die  Grundlage  zur  ästhetischen  Auffassung  der 
Natur-  und  der  Kunstdinge,  es  erwacht  und  entfaltet  sich  ein  viel- 
seitiges Interesse,  eine  natürliche  Kinheithchkeit  seines  Gedanken- 
kreis (Konzentratton)  und  wertvolle  Förderung  in  der  Person- 
büdung. Ein  gediegener,  pädagogisch  richtiger  Unterricht  ist  ohne 
Heimatkunde  gar  nicht  denkbar  und  somit  die  Heimatkunde 
psychologisch  und  ethisch  betrachtet  ein  notwendiges  Glied  des 
gesamten  Lehrplans. 

.•^chluss  folgt. 


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B.  Kleinere  Beitrl^re  und  HitteUmigeii* 


I. 

Bericht  über  die  40.  Jahresversammlung  des  Vereins  für 
wissenschaftliche  Pädagogik  in  Magdeburg. 

Von  Fr.  Frauke. 

Die  Vorversammlnng'  am  zweiten  Feicrtasre  abeiuls  s^tellte  znniichst  die 
unten  befolgte  üeibe  der  Arbeiten  des  Jahrbuches  ak  Tagesordnung  feat.  Als- 
dann folgte  eine  ziemliche  Reihe  der  Üblichen  Mitteilmigen  aus  den  Orte-  and 
LandaehnftBTereinen.  Ans  dem  Bheinlande,  und  nwsr  liemlidi  von  der  holtta- 
dischen  Grenze  her  war  ein  Mitgrlied  erschienen  und  konnte  mancherlei  ani 
Rheinland,  Westfalen  und  Hollantl  erzählen.  Aua  Oflttincren  berichtete  ein 
Mitglied,  dass  auch  dort  ein  Herbartkräuzchen  entstamleu  ist  und,  wie  schon  so 
oft  geschehen  ist,  seine  Arbeit  mit  der  Lektüre  der  Ethik  von  Nahlowskj  be- 
gonnen hftt  Die  MitteUnngen  gingtti  mehxEach  Uber  in  eine  Attaqnnebe  Uber 
die  Zeitlai^e  ttberbanpt,  wosh  der  neue  erste  Vonitiende,  Prof.  fieiUt  ein  anaebn- 
liebes  Teil  beitnicr. 

Am  Dieiistatr  früh  begann  »lerselbe,  nachdem  Rektor  Sachse  die  Erschienenen 
begrÜMüt  hatte,  die  erst«  HauptversamnUang  mit  einer  kurzeu  Ansprache,  worin 
er  die  Frage  erörterte,  ob  nnaer  Yerdn  noch  eine  notwendige  Avigtbe  erfUle. 
Herbartische  Gedanken  dnrchdringeii  die  pädagogiadie  Literatur  und  neigen  sieh 
auch  immer  dentlidier  in  Schiili^esetzcn.  YercrdnnnK-cn  nnd  Einrichfnngen.  Aber 
gleichzeitig  erleben  wir  es.  dass  man  von  verschiedenen  Seiten  geeren  unsere 
Bichtung  Stnrm  läuft  und  trotz  der  sehr  Tersduedenen  Motive  in  dem  Bufe 
einig  ist,  Herbart  aei  Teraltet.  Und  wie  die  Aneifcenniing  nnaerer  GedankMi 
noch  keineswegs  gerichttt  ist,  so  sind  wir  anch  nieht  der  Ansicht,  daas  wir  die 
Triebkraft  unserer  Gedanken  bereits  erschöpft  hätten.  Unsere  Stelle  kann  anch 
keine  der  Bichtunüren,  die  sich  gegenwärtig  geltend  2U  machen  snchen,  ausfüllen. 
Wir  dürfen  und  wollen  also  die  Arbeit  nicht  niederlegen.  Nach  gewissen  Wahr- 
nehmungen (Bednar  verwies  unter  aadwem  anf  Dr.  Zimmen  Überneht  Uber  die 
Herbartforsehnng,  ?gL  daa  2.  Heft  dieaea  Jabrgangea  der  PId.  Stnd.)  ist  aveh 
die  literarische  Beschäftigung  mit  Herbart  wieder  im  Zunehmen  begriffen;  ins- 
besondere mmn  es  unser  Bestreben  sein,  noch  mehr  Vertreter  der  höheren  Schulen 
und  der  Lehrerseminare  au  gewinnen,  damit  unser  Verein,  der  von  Anfang  an 
Vertreter  aller  Sohulartcn  in  aidi  vereinigt  hat,  immer  mehr  die  Einheit  aller 
eniehenden  Titigkeit  anm  Anadmck  bringa.  — 

Alsdann  begann  die  Diskussion  der  Arbeiten  des  40.  Jalirbnches,  die  auch 
in  den  zwei  Ta^en  zu  Ende  geführt  wurde ;  allenliners  wurde  wohl  angesichts 
der  reichen  Tagesordnung  manches  AuUcgeu  zurückgehalten. 

1.  Zill  ig  benrteilt  in  dem  Schlüsse  seiner  Arbdt  den  AUrnismns  von 
den  Standpunkte  dea  Chriatentnma  ans.  Man  nnteriieas  es,  n  seinen  Aus* 
fAhmngen  Uber  das  Wesen  des  Chfistmitums  Stellung  an  ndunen,  weil  darllbtf 


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—  363  — 

oliiii'  Not  lange  Erfirtemncren  entstrlv  n  könnten:  das  Allgemeiii^ltig<>  sei  für 
uns  ^eu'eben  iu  der  vorjiiliriijen  Verhandlung  über  den  Altniismns  vom  Stand- 
puukie  der  Etiiik.  Trotzdem  betrachtete  mau  die  diesjährige  Fortsetzung  als 
dtttkeuwert,  da  die  philoaoplüiehe  Bfhik  nicht  jedenntiiii  bekuut  ist  oder  fftr 
andere  mit  der  philosophischen  Formulierang  die  Spaltangen  beginnen.  An»* 
Btellnnc^fn  knöpften  sich  aber  daran,  dass  Zillitr  den  Altrnismns  blosf?  nls 
Sammelnamen  für  fulsohe  ethische  Anschauungen  benutzt.  Im  Gruntle  will  er 
den  sozialen  £udamouii4mu»  treffen  und  zeigt,  dass  er  aas  dem  indiTidueilen 
Endimo&ienrae,  d.  b.  nna  dem  Egoisnms  hervorgegangen  iat.  Vim  Ihering  wurde 
ein  Ana^meh  ngeführt,  nach  welchem  man  t^x  lieh  eelbit  sorgt  f  indem  man 
für  andere  sorgt;  desLrleiclien  zeigte  man,  dass  die  konsequente  Form  dessen,  was 
Zillig  bekämpft,  bei  Mill  vorhanden  ist.  Daneben  gibt  es  aber  auch  Lente, 
welche,  mehr  an  den  Wortsinn  als  an  die  historische  Bedeutung  sich  aniebend, 
unter  Altmlmnis  das  wirklieh  selbstlose  Wirken  fOr  andere  verstehen,  das  aller- 
dinge  ehnstlieh  erst  wird  dorch  Besiehnng  anf  den  göttlichen  Willen. 

Gegen  ZilUgs  Charakteristik  der  natarwissenschaftllchen  Denkweise 

wird  dann  bemerkt,  dass  der  Darwin -Haeckelsche  Monismus  doch  nnr  eine 
Sichtung  der  Natnn^'issen-ärhaft  »ei,  Dass  die  Naturwissenschaft  an  strenger 
Kausalität  festhält,  gehört  zu  ihrem  Wesen ;  das  ist  auch  in  Herbarts  Philosophie 
begrSndet^  nnd  Zillig  selbst  sagt  aosdrllcklich,  „dass  die  Religion  nach  Wesen, 
Organ  ihrer  Gedanken  nnd  Oiond  ihfer  Zuversicht  etwas  anderes  als  die  Wissen- 
schaft ist"  (Jahrb.  S.  325).  Der  Anhinger  der  Naturwissenschaft  brauche  nicht 
die  sittlichen  Tatnacheu  zu  leugnen. 

Eine  Uber  das  richtige  Mass  hinausgehende  Schärfe  findet  man  auch  in 
Zilligs  Amfllhrungen  gegen  den  Staat  als  Sehulhem.  "Ex  folgt  dabei  dem  alten 
Begriff  TOm  Staate,  nach  welchem  sich  die  Tfttigkeit  desselben  auf  Polisei,.  Justia, 
Steuerw.  sen,  Militär  und  Änsseres  beschränkte.  Aber  auch  Herbart  dehnte  aus- 
drücklieh diesen  eniren  Reifnff  auf  das  Bildiin^^swesen  an"  ^'man  tstI-  das  II.  Buch 
seiner  Allg.  prakt.  i'hilas.),  und  das  stimmt  wiederum  zu  Zilligs  AuffaitsuDg,  dass 
der  Staat  eine  „gottgewollte",  d.  b.  doch  eine  sittliche  Einrichtung,  nicht  ein 
blosses  Naturprodukt  sei.  Was  er  mit  Recht  bekKmpft,  ist  nnr  die  bnrean- 
kratische  Art  und  Neigung  vieler  Vertreter  des  Staates.  Im  wahren  Interesse 
dt";  "^raHt'-<  liegt  es  aber  gerade,  mtiglichst  weit  zu  dezentralisier'-n  und  die 
kleinereu  Gemeinschaften  und  die  einzelnen  Arbeiter  möglichst  frti  arbeiten  zu 
lassen,  während  unter  jener  Verwaltungsform,  wie  ZUlig  angibt,  die  Wirksamkeit 
der  „freistrebenden  geistigen  Krifte**  erlischt 

Im  ganzen  hält  roan  dann  auch  Zilligs  Kampf  in  Hinsicht  auf  Erziehung 
und  Unterricht  für  berechtigt;  der  Lehrplan  würde  nach  den  (Jrundsützen  des 
Altruismus  und  derjenigen  Gedankenrichtnnsren,  die  sich  damit  verbunden  zeii!:en. 
eine  sehr  unpädagogische  Gestalt  annehmen.  Zillig  hat  dem  Umstände,  dass 
KersdMnsteiner  so  heftig  gegen  unsere  Lehren  Tom  Interesse,  von  der  Bedeutung 
des  Gedankenkreises  kämpft,  bis  auf  die  Wurzeln  nachzugehen  versncht.  Es 
werden  aber  wie  im  voriijen  Jahre  Zweifel  n-etln^^t  rr  oh  er  dem  Gegner,  der  ihm 
als  Reprä-sentant  des  Altniisiuus  gilt,  allenthalben  ^ereeht  geworden  sei  nnd  ob 
er  gemäss  der  Dörpfeidttchen  Regel  seine  Polemik  «lurcbgängig  daraui  ein> 
gerichtet  habe,  den  Gegner  nicht  aurttcksustossen,  sondern  au  Ubers  engen. 


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■ 


—   364  — 

(Was  Uber  die  L'ateracheidiiug  Ues  Eiziebnugs-  und  de^  Bilduugsideala ,  gegeu 
die  Veifrflbniig  der  BerafsbUdmigr  o.  a.  TorgelwMiht  wurde,  deckt  rieb  notwendiger- 
weue  z.  T.  mit  den  vorj  ährigen  ErOrtemogeii;  mm  veryleiebe  die  „Erlftatemagen*' 

nun  39.  Jahrb.  des  Vereins.) 

2.  Hahns  Arbeit  Wh-r  An« wähl  und  Anordming'  des  Stoffes  im 
Berliner  Lebrplan  hätte,  wuau  die  Zeit  dazu  vorhanden  gewesen  wäre,  eine 
nocb  weit  Aiiegedebiiteie  DbikonioB  TeruüaMen  kdimeii,  al«  sie  obnehis  MsboB 
lud.  Der  Verf.  tnebt  in  mancben  Punkten  die  nftchsten  Sebritte,  die  bei 
einigem  guten  Willen  getan  werden  konnten ,  an  erleichtem  und  begibt  ndi 
damit  auf  eine  gewisse  Mitte  zwischen  dem,  was  in  den  noch  f^eltenrlpn  Ein- 
richtungen verbesserungsbedürftig  erscheint,  und  dem,  was  im  Verein  unabhängig 
von  soleben  Bttcksichten  bisher  vertreten  werden  ist.  So  fftllt  das,  was  Hahn 
will,  genau  besdien  nidit  nnter  die  eigentlicben  Anfgaben  des  Vereins,  sondem 
in  das  Arbeitgebiet  landschaftlicher  Vereine.  Immerhin  setat  aber  diese  spesiellers 
Tätigkeit  woüu  sie  in  rcchtor  Weise  wirken  soll,  all^eineincrc  Vertiefuntren  und 
Besinnungen  voraus,  und  so  hat  die  Verhaudlung,  indem  sie  nicht  den  Fächern 
einzeln  nachging,  sondern  bei  einigen  Hauptfragen  verweilte,  einer  künftigen 
Revision  des  fttr  gans  Dentscbland  bedeatnngsvollen  Berliner  Planes  durcb 
Loekonng  und  ffinteilnng  <!es  Bodens  vorgearbeitet.  Die  Erörterungen  gingen 
aus  von  der  frrnppierunq;  der  Lehrfächer,  weil  man  bei  Unhn  die  Auseinander- 
setzun^L,'  mit  Zillcr,  Durpfeld  unil  Willnu\nn  vermisste.  Er  gliuibt  nun,  das»  seine 
Gruppierung  in  der  Hauptttache  „ üörpfeldihch"  üei.  Reiu  »teilt  daneben  die  fort- 
gebUdete  Form,  welche  ans  seiner  „PUagogik  in  s!rsteniatisdier  Derstdlnng" 
(SL  Band  S.  291  ff.),  aus  dem  ..Eue.  Handlmch^  ("Art.  Lehrplani  und  z.  T.  ssohon 
aus  den  „Schuljahren"  bekannt  i^t,  Sie  nntersf  in  i  n  t  /imächst  mit  H«n-bart  die 
beiden  grossen  (tebicte  Men«ehenleben  und  Natur  und  fiilirt  in  jedem  Herbarts 
Einteilung  in  Sachen,  Formen  und  Zeichen  durch.  Das  ist  jedem,  der  Oürpfelds 
Tlieorie  des  Ldurplans  kennt,  gdänflg.  Hahn  gegenüber  aber  werden  dadnreb 
Turnen  und  Handarbeiten,  die  znr  Zeit  „au.sscrhalb  dtt  Lebrplans  Stehen",  auf 
eine  biihere  Stelle  gelirdien.  Ebenso  wird  dem  Zeicliennnterricht,  der  im  Berliner 
Plane  nur  der  Übung  der  Darstellung  «lienen  soll,  in  iSatur  und  Kunst  auch 
eine  sachliche  Seite  gegeben.  Damit  wird  aber  der  besondere  Xunstaufichanungs- 
uttenidit,  den  Hahn  neben  das  bloss  teebnisdie  Zeichen  stellt,  ftbeHlftssig:. 

Bin  anderer  Hauptpunkt  war,  dass  Hahn  bei  ndirerea  Fldiem  ein  Bwei'> 
maliges  Durchlaufen  des  konkreten  Stolfes  vorschlägt,  nämlich  ein  stolflich  be- 
grenztes mit  vorwiegend  empirischer  und  ein  stofflich  erweitertes  mit  vorwiegend 
spekulativer  Behandlung.  Darüber  kann  man  die  ansiUhriichen  Verhandlungen 
des  Yerdnt  toh  1901  (Erllntenutgen  aum  83.  Jabrbnch)  vergleidien.  IHe  dies- 
jlbrige  Bespredinng  Tcxfloebt  sieb  mit  dem  folgenden  Gegenstand: 

3.  Hahn,  Besprechung  des  im  Berliner  Lehrp lau  empfuhle neu 
Lehrverfahrens.  Ein  Hetlner  wenifrstens  fand,  dass  er  hier  die  Theorie  des 
Lehrverfahrens  zu  sehr  nach  seiner  1  niformung  diese,-;  Planes  gestalte-  dem  An- 
ächauuugbuutcrriüht  der  Unterstufe  weise  er  das  analytische  üntemciitürerfahrcu, 
der  aweiten,  empiriseben  Stufe  den  darstellenden  Unterricht,  der  mehr  spekn* 
lativeu  Stufe  das  synthetische  Unterrichtsverfahren  zu.  Dieses  Bestreben  geiiabt 
an  haben,  wies  Verf.  ab.  Die  Tbeoiie  des  Lehnrerfabreas  braneht  aber  tioti 


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—  36s  — 


•Uea  damnf  «wwendaten  Sdurfrinnei  inmier  Doch  w«itere  Klftrimg;  üwbeiondflf« 
«der  wenigsttit»  foniehst  tehänt  es  daratf  MunkoiniiMii,  sn  «eigen,  wum  man 

Herbarts  Fordernngen  an  das  Unterrichtsverfahren  erfüllt  za  haben  glauben 
dflrfe.  Eine  besondere  Bedeutung  gewinnt  dies  alles  noch  dadurch,  das«  Hahn 
auch  die  Ansicht  rertritt,  das  entscheidende  Wort  Uber  die  Konsentration  des 
ünterriohta  kSnne  iii<^t  im  Stol^pko,  eondetn  mr  in  methoditehett  Fordenuigeii 
m^Ewprodieii  werden.  Das  wur,  wird  bemerkt,  Stoji  Standpunkt,  der  damit 
!' rbarts  Ansicht  zu  treffen  meinte,  aber  doch  auch  Aber  die  Anarchie  im  Lehr> 
plane  klaj^u  musste.  Was  das  Lehrverfahren  für  wertvolle  Assoziationen  tun 
kauu,  wird  immer  das  Erste  bleiben,  weil  es  sich  versucbeu  lässt,  ohne  dass  man 
anf  die  Einsicht  und  Nachgiebigkeit  der  Behörden  zu  warten  braucht.  Daas 
diese  Manregeln  aber  nicht  anareicfaen,  hat  Ziller  in  seiner  Omndlegiing  geseigt 
and  sieh  dabei  auf  dem  Grnnde  Herbartischer  Gedanken  bewegt.  Ks  mm  Er- 
scheinen des  voUstftndigen  Berichtes  sei  nochmals  auf  die  Eri&uteningeii  von  19Ü1 
verwiesen. 

4.  Am  Mittwoch  früh  wandte  mau  sich  zu  0.  Conrads  übersichtlichen 
IDtteilnngen:  Erxiehnng  und  Schale  in  Wandt»  Ethik.  Die  Äusserungen 
der  Redner  waren  aUMdings  mit  Ansnahme  des  letasten  Punktes  (die  Arten  der 

Schnlen)  fast  nur  kritischer  Art,  während  Conrad  im  ganzen  seine  Kritik  zurück- 
hält. I>amuf,  dass  Wundt  die  Ethik  au.s  der  Psychologie  ableitet,  führt  das 
Folgende  wieder.  Dass  sich  das  richfii'e  sittliche  ürtcil  auch  in  einem  System 
geltend  macht,  in  dem  es  in  einer  uuun^<  taessenen  Abhängigkeit  gehalten  wird, 
ist  gleidifalls  in  der  Gesdiiehte  der  Philosophie  sehen  oft  geneigt  worden.  Es 
wnrde  hier  auf  ein  Wort  von  Stuart  Will  hingewiesen,  der  trotz  seines  ütilita- 
riamn«  ^n<jcn  konnte,  er  hätte  lieber  ein  unbefrieiligter  Sokrates  .sein  niügeu  als 
ein  beinedigtes  Schwein.  In  Wundts  Ethik  zeigt  sich  das  richtige  .sittliche 
Eniptiudeu  aber  zu  einseitig  darin,  dass  vor  allem  die  Kraft  und  Umsicht,  mit 
wehsher  man  an  der  Knltnraxbeit  teilnimmt,  betont  wird.  So  wird  die  Frage, 
was  Wnndts  Idealismus  genau  besehen  ist,  die  Hauptfrage.  Er  glaubt  an  einen 
Fnrt.schritt  wie  wir;  aber  für  da?,  was  Fortschritt  ist,  fehlt  der  Massstab:  dem 
ideal ismu.s  fehlen  die  Ideen!  Kant  und  die  Kationaliften  hielten  als  das 
zur  Religion  unbedingt  Erforderliche  fest:  Gott,  Freiheit  und  Lusterblichkeit ; 
davon  knnn  Wandt  eigentlich  nichts  annehmen,  schon  infolge  seines  nktadlen 
Seelenbegiiffii.  Er  fasst  wohl  ftberhaupt  „Religion"  in  einem  ans  Dentschen 
fremden  Sinne  anf  al.n  Begeisterung  für  ein  Unerreichbare.«!,  wonach  auch  die 
russischen  Nihili.sten  als  besonders  religiö.s  gelten  müssen  und  bezeichnet  worden 
sind.  Wu  bei  den  Unterrichtsf^em  Naturkunde,  Staatslehre  und  Geschichte  als 
das  niedere  Trivlnm  beseiehnet  werden,  dem  die  drei  konzentrischen  Kreise 
PersBnlichkeit,  Staat  and  Mensehheit  entsprechen,  da  wird  seihst  Conrad  ans  der 
Reserve  des  blossen  Darstellers  heraus  zu  der  Bemerkung  getrieben,  es  handle 
sich  dabei  „mehr  um  theoretische  Konstruktion,  nicht  um  f^mpirische  Pädagogik". 
Bei  der  Frage,  wer  erziehen  solle,  geht  Wundt  zwar  von  der  Familie  aus,  bei 
der  staatiiehen  Sehnlexniehnn;  aber  bt  Ton  eber  Beteiligung  der  Annilien- 
mtreler  usw.  keine  Bede  mehr.  Im  gansen  bietet  das,  was  in  lehrreieber  Kttne 
aus  Wondts  Philosophie  mitgeteilt  ist,  ein  Spiegelbild  der  gegenwärtigen 
Strömungen.  Der  Fortschritt,  der  wirklich  da  ist,  wird  anerkannt  als  das  Rechte, 


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—    3Ö6  — 


aber  indem  man  sich  das  fortgesetzt  denkt,  emdieuit  dtr  EiluAllie  MUigeliefort 

an  die  jeweilig  vorhandene  Strümntiff,  man  kommt  ab  von  dem  sittlichen 
Per8önlichkeitf?ideaL  Die  ganze  „Entwicklung",  auf  die  uian  so  viel  Gewicht 
legt,  wird  zu  sehr  an  die  Wirklichkeit  gebunden,  während  wir  nns  der  Wirklich- 
keit immer  mit  dem  Be^ta  dar  Kritik  gegenabntstdleii. 

Schluss  folgt 


II. 

Das  Schulwesen  in  Württemberg  t905  6. 

Die  amtiicbe  Statistik  über  die  pädagogischen  Verhaltnisse  Württembergs 
ist  zum  Abschluss  gelaugt.  Nach  den  statistischen  Erhebungen  am  1.  Januar  liKM) 
waren  in  Württemberg  2317  gewöhnliche  Volkiiehiilen  vorhanden,  die  eiek  anf 
20B7  Orteduften  verteilten.  Yen  dieeeii  VoUaeckideii  untfaeiten  1116  nur  eiBe 
Klasse,  während  661  zwei  Schnlklassen  besassen.  Den  ausschliesslichen  Charakter 
von  Knabenschulen  hatten  69  mit  insgesamt  456  Schulklassen  ;  auf  der  gleichen 
Basis  war  dieselbe  Anzahl  Mädchenschulen  vorhanden,  die  einige  Klassen  mehr, 
nimlich  478  ScbalklasBen,  führten.  Der  Best  von  2179  entfUit  anf  die  gemischten 
Sehvlen,  die  tther  4141  Sehnlklessen  verfügten.  Unter  diesen  leisten  Sdinl- 
klassen  befanden  sich  693  Oberklassen  fünf-  und  mehrklassiger  Schulen,  in  denen 
die  Erteilung  des  Unterrichts  ff^r  Knaben  und  AFädt  hen  gesondert  crfoltjte.  Neben 
diesen  allgemeinen  Volksschulen  bestanden  41  Mittelschulen  und  sehr  beachtens- 
werter 94  iaraelitisehe  Yolksschiüen.  Die  Gesamtheit  dieser  Schalen 
keUUift  sieh  auf  8882,  die  einsehliesslieh  iweier  Hilfsklassen  fttr  Sehwachbegakte 
5308  Schnlklassen  ilklten.  In  annähernd  einem  Viertel  der  Gesamtzahl,  nämlich 
1383  Schnlkliissen.  mu«>st(^  die  Erteilung  von  Abteiinngsnntenickt  wegen  Üher- 
fUllung,  Eaum-  uud  Lehrermangels  vor  sich  gehen. 

Die  Zahl  der  vorhandenen  „Lehrstellen bezifferte  sich  auf  6318,  hiervon 
waren  888B  stindigef  einsehlieesliek  75  Lehrerinnen,  und  1366  Steilen  fBr  nn- 
stttttdige  Lehrer  und  Lehrerinnen.  Ausserdem  waren  74  sogenannte  Schulamts- 
verwesereien  vorhanden.  Die  Zahl  der  Schulkinder  belief  sich  mit  Einschluss 
von  1748  Ziiiilinj^^t'n  der  Retlung^anstalten  und  von  1119  Ziig^linc;^en  der  ^weiteren 
Privatächuleu  "  auf  insgesamt  31^015.  Hiervou  eniüeleu  auf  die  Knaben  151  47U 
md  snf  die  Mftdehen  168096  Sehnlplliditige.  Den  evangelisehen  Sehiüen  gskOrtea 
221805,  den  katholisohen  94  083  uud  den  israelitischen  390  Kinder  an.  Die  Z6g- 
linge  der  Rettnnr^-^anstalten,  der  „weiteren  Privatbchulen"  und  der  Seminarübungs* 
flchulen,  b  tztere  mit  872  Zöglingen,  sind  jedoch  in  vorgenannten  Ziffern  nicht 
berücksichtigt. 

Was  die  OehaltiverkUtidsse  der  Sdmlstellen  nnd  VaUcsseknllelirer  in 

Württemberg  betrifft,  so  war  die  Sachlage  fttr  das  Berichtsjahr  folgende.  Die 

Gehalt.sverhältni?se  werden  nach  den  Best imnmn gen  des  Gesetzes  vom  17.  Juli  1905 
geregelt,  hiernach  erhaltea  die  württenibery^ischen  stiindigeu  Lehrer  uebeTi  ^miut 
angemessenen  Wohnaug  oder  Mietsentschädigung  ein  pensionsfähiges  Gehalt  vun 


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mindetteiw  1900—2400  K.;  die  «tiadigen  Lelireriiui«ii  unter  deaeelbeii  Vonii»- 
aetitmgeii  1100^1700  M.  Die  Geh&Ite  selbst  bestehen  ihrer  Zasammensetning 
nach  an«  »Ipd  taji  i\en  Geuieintleu  aufzubringenden  Gmn<ltreli alten  und  den  vom 
Staate  zu  leiaienden  Dieiistalterszulagen.  Weiter  ist  zn  bemerken,  dass  die  Ge- 
Dieinden  eine  peosionsberecbti^  Ortszulage  Ton  wenigdteus  öü  M.  gewahren 
kSnnen,  wie  Mush  doi  gitaeren  Gemeiiiden  die  BiiiflUunnigr  ^nes  besonderen 
DienstaltersTorrttcknngMystems  gestattet  ist  und  zwar  mit  Gehalten  von  mindestene 
1400—2800  M.  fär  Lehrer  nnd  1200—1900  M.  für  Uhrerinnen.  Der  Staat  gew&hrt 
in  diesem  Fall  eine  Beihilfe  von  450  bezw.  350  M. 

Sehr  iutereäsant  ist  nach:itehende  Tabelle,  welche  Anfschluss  Uber  daä  am 
1.  JaanaT  1906  tob  8679  etladigen  Ldirem  bezogene  peneioiMfiUiige  Qehelt  gibt, 
welches  sich,  wie  erwfthnt,  tm  dem  Qnisdgehalt  mit  Dienstalten-  nnd  Ortszulage 
nach  besonderem  System  znsaioinensetst.  Die  Sachlage  war  hiernach  folgende; 
ee  besogen  ein  Gehalt  von: 


Wir  lassen  nunmehr  auf  derselben  Grundlage  eine  Gebaltstabelle  von  dl 
atiadigeu  Lehrerinnen  foli^ren.  Es  bezogen  ein  Gehalt  von: 


Die  Gehaltslnj^  der  unstÄndigeu  Lehrer  und  Lehrerinneu  zei^'t  folgendes 
Bild:  In  Orten  vou  weuigcr  ah  (iOO()  Einwohnern  wird  ein  Gehalt  von  mindestens 
900  M.  gewährt;  in  Orten  mit  einer  grOiseren  Einwohnemdiaft  tritt  ein  Hindei^ 
gehalt  Ton  1000  M .  in  Kraft  Daneben  hat  die  Gemeinde  ein  Zimmer  mit  Mobiliar 
ea  stellen  nebst  freier  Fenemnß:;  anderseits  ist  bei  Fortfall  natnrffemäss  die  ent- 
sprechende Geldentschädii^'ung  zu  leisten.  Ist  die  Ablegung'  der  zweiten  Dienst- 
präfnng  erfolgt,  so  tritt  eine  staatliche  Gebaltszulage  von  100  M.  für  Lehrer  und 
fiO  H.  für  Lehrerinnen  liiniiL  Die  DienstaltezBEulage  rechnet  ?om  8&.  Lebougahre 
ab  nnd  nwmr  1>eträgt  diese  100  M.  nach  vollendetem  3.  Dienstjahre.  Die  Dieast- 
altarsznlage  steigt  dann  bis  zu  öOO  M.  nach  27  Dlenstjahren  auf. 

Nach  dieser  Erf5rtemng  der  Volksschul Verhältnisse  sei  noch  eine  Betrachtung 
des  höheren  Knaben-  und  Vorschnlwesens  in  Württemberg  gestattet.  Im  Berichts- 
jahr beetandea  am  1.  Jannar  1906  in  Württemberg  91  »gymnetdale  nnd  real- 


1200—1299  M.  82 

1300—1399  „  266 

1400-1499  „  966 

1500—1599  „  278 

1600—1699  „  219 

1700-1799  „  96 

1800-1899  „  307 

1900-1999  ,  418 

2000-aoeo  „  asö 

2100'  ?! 9**  „  160 

2200-2299  „  226 


2400—241*9  „ 

2500—2599  „ 

2600—2699  „ 

27(>  1-2799  „ 
2K«i— 2H99 

2900—2999  „ 

aOOO-3099  „ 

8100-9199  , 

3200  -3299  „ 

SHO<)  u.  m.  ,. 


131 
342 
162 
116 
49 
87 
33 
49 
18 
66 
15. 


1200-1299  M.  1 
1800-1899  n  7 

1400-1499  „  11 

15(H)-1Ö09  „  20 
ICOÜ— 1699  „  16 


1700—1799  M,  16 
1800-1899  „  11 
1900—1999  „  6 
20(T0— 2099  »  5 

210(J  6. 


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—   368  — 


gymaasiale''  Schulen,  deren  einzelne  ZergUedeiniig  sich  wie  klgt  gestaltet:  Es 
waren  vorhanden  14  Gymnasien,  1  Pros^ymnasinm ,  4  Realcrrmnasieu ,  5  Real- 
progymnasien und  63  Lateinschulen  bezvv.  Lateiuabteiiungen  an  Healscbolen. 
Ausserdem  sind  hier  noch  4  niedere  evangelisch  •  theologische  Seminare  su  er- 
wihnen,  die  den  obeien  KImmii  eine«  Gymnaainnie  eutqiredMii.  Di»  Q^fmauäm 
wmdMi  «n^UeHlieh  der  eTengelisdieii  Seniinue  jvn.  4491»  die  BcalgyiiiBMiei 
von  1932,  das  Prog^  mnasinm  von  123  und  die  Realprogymnasien  Ton  783  Schttlern 
besiirbt.  Das  niftrbt  mitbin  7329  Schüler,  die  infolge  der  in  diesen  Sobulen  vor- 
hauileuen  Oberkiaäüeu  allein  den  preussischeu  höheren  Schalen  Tergleiehbar  sind. 
Ei  Totieibeik  toaAt  inmu  noch  8883  Scblllar,  die  in  fldiiileii  alt  iMiil  im  1 
«der  8  UnterriehtaUaaeeii  nntcrgebredit  aind.  Die  OesemtnU  der  Schiller  dieeer 
91  Sebulen  betrug  9ö62,  darunter  befeinden  sich  6317  ETangdisehe,  2945  Katholikes, 
278  Juden  und  22  Schüler  sonstiger  Konfession.  Im  franzen  wnreii  nn  dipHen 
Schulen  490  Lehrer,  nnd  zwar  4ö3  Haupt-  und  37  Uilialehrer  UUg.  Au&äerdem 
flind  hier  noch  24  Vikare-  und  BepetentenateUen  an  nennen. 

An  reelistiacken  Sdnden  worden  in  Wflrttemberg  am  1.  Jeanar  1906  imi- 
gesaint  92  g^eziiblt.  Den  einzelnen  Kategorien  nach  serfällt  diese  Anzahl  in 
in  f^lM-rrealschulen,  6  Realschulen  mit  2  Obf^rkln^^pn.  12  Realscbulen  mir  1  Oher- 
kliis<ie,  68  Realschulen  ohne  Oberklaäse  —  meiäl  nur  ein*  oder  zweikla^sig  — 
nnd  1  BOrgerschnle.  Die  Oherrealscholen  und  Realschulen  mit  Oherklassen 
worden  rasamnien  von  9861  SdiUem  besucht^  wttbrend  nnf  die  ttbrigen  Sdudeii 
4500  Schüler  entfielen.  Den  Konfessionen  nach  ergab  sich  folgende  Verteilnng: 
17  780  Evangelische,  2702  K;itbnlikf>n ,  349  Juden  und  25  Schüler  sonstiger 
Konfession.  Die  Anzabl  der  Lebrkratte  an  sftmtHchen  realistiscben  Sebulen  belief 
sich  auf  460,  auädchliesälich  16  beiiuuderer  Vikarsstellen.  V  on  den  4^  Lehr- 
krif  ten  wuen  407  Bjmpt-  und  79  Hilblehrer. 

Zan  SehloM  seien  noch  die  sogenannten  ElementarBt^ideii  erwibnt,  von 
denen  am  1.  Janaar  l^Oß  in  Württemberg  18  voi banden  waren,  die  von  3fi09 
Schülern  besttcht  wurden.  Lehrkräfte  wurden  91  gezäblt,  darunter  23  provisorische 
Lebrerstelleu.  Von  den  Schülern  gehörten  2972  dem  evangelischen,  543  dem 
katheliechen  und  88  dem  jttdiaeben  Olanbeiubekeantnisse  an. 

Paul  Harten,  Cbartottenbnig. 


HL 

Das  Volksschulwesen  in  Budapest. 

Die  ungarische  ünterricbtsverwaltnng  hat  eine  Denkschrift  herau.'tg^egeben, 
die  sich  mit  der  g^chichtlichen  Entwicklung  des  Budapester  Yolksschulwesens 
blaset,  dantdlend  den  Zeitramn  Tom  Jahre  1871—1900.  Dieae  Schrift,  von  dem 
berühmte,  nnnmehr  verstorbenen  nngarischen  Sohnlmann  Jeeef  Ton  KBrtBis  be- 
arbeitet, enthalt  manches,  das  auch  über  die  Grenzen  des  Hagyarenlandes  Interesse 
beanspruchen  dürfte.  T!»it«prechend  der  in  den  letzten  drei  Jahrzehnten  ausser- 
ordentlich günstigen  volkswirtschaftlichen  Entwicklung  der  nngarischen  Uanpt- 


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—    3^9  — 


Stadt  zeigt  anch  das  ungarische  Volksschulwesen  ein  gleiche«  Bild.  Noch  im 
Jahre  1871  waren  die  Zustände  auf  dem  Schulgebiet  der  ungarischen  Hauptstadt 
recht  ttnetfrenliche;  es  waren  für  oahesu  10000  Schiüer  ntur  32  Voltsschnlen 
vmliaiidea  mit  146  Klassen  nnd  189  Lehnälen.  Lediglielt  in  4  Scholen  kennfeen 

die  entsprechenden  Ranmverhältnisse  als  genügend  bezeichnet  werden.  In  sämt- 
lichen  übrit^-en  Schulen  la^r  eine  bedenkliche  Überfülluujc  der  Klasseniiimnpr  vor. 
Sit  wurden  äü  ^Schulzimmer  mit  mehr  als  80  Schülern  gezählt;  in  4  Lehrsälen 
gar  betrug  die  Anzahl  der  Schulkinder  mehr  als  100.  Auch  die  sanitären  £in- 
riditongen  der  Bndapeeter  Sdinlen  waren  hOehst  uangdhafte,  insbesondere  die 
Sehalbinke  blieben  hinter  den  an  stellenden  gesundheitlichen  Anforderungen  meist 
weit  znrftck.  Wiihrend  beigpielf?wei9e  der  Abstand  zwischen  Bank  nnd  Tisch, 
nach  Massg-ahe  <ler  üsterreichif^cheu  NonnatiTbef?timmungen,  der  Breite  nach  in 
den  oberätea  Klauben  hüchäteut»  4,  in  der  ersten  Klasse  aber  h<k;hstens  3  Zoll 
betragen  sollte,  war  in  keiner  der  etidtisehen  Selralen  «Ine  geringere  üntCemiD^ 
als  4  Zoll  zu  beobachten.  Besonders  arg  lagen  vereinzelt  die  Verhältausee  in  der 
Klasse  der  sechsjährigen  Kinder,  wo  die  Bänke  durchschnittiicb  einen  Abstand 
von  5 — 7.  gelegentlich  sogar  H  und  U  Zoll  Entferniini:  zeigten.  Hinzu  kam 
noch,  dass  auch  die  Uübenabstäude  zwischen  Bank  und  Tisch  ongemeiu  gross 
waren,  so  dass  die  seehsjilujgen  Kinder  nnter  dieeen  Übelstanden  eehwer  sn 
leiden  hatten.  Die  Kinder  hatten  meist  in  einer  Höhe  von  mehr  als  10  Zoll,  ge- 
legentlich allerdings  auch  9  Zoll  zu  schreiben,  während  das  höchste,  zulässige, 
empfohlene  Mass  7\ä  Zoll  beträgt.  Es  wird  unter  Bedauern  zugegeben,  dass 
diese  Übelstände  bei  einer  grossen  Anzahl  von  Kindern  Kurzsichtigkeit,  ja  vex^ 
einselt  auch  scUetai  Wnehs  svr  Folge  hatten. 

Aber  aneh  die  LehrrerlriUtnisse  Budapests  lagen  nngünstig;  im  Jahre  1871 

standen  nur  131  Lehrer  zur  Verfügung.  Desgleichen  waren  die  Lehrmittel  vtH^ 
ungenügend  ,  eine  erhebliche  Anzahl  erster  und  zweiter  Kla.s8en,  oftmals  ganze 
Üchttien    arbciTf'fpu   ohne  Recheukugelvorrichtung.     Schtilerbibliotheken  waren 
gänzlich  uubekanut,  naturwissenschaftliche  Kabinette  besassen  nur  2  Schulen. 
Doch  Tor  allen  Dingen  fiel  die  Begellosigkeit  des  Lehrplans  eehwer  ins  Oewielit; 
4ie  Ansarbeitnng  der  Stundeneinteünng  blieb  den  Lehrern  in  der  Begel  selbst 
vorbehalten.    Die  Folge  dieser  Möglichkeit  einer  freiheitlichen  EntSchliessung 
war  denn  auch  die,  flass  die  Lehrer  je  nach  Talent  und  Lmt  den  einen  Gegen- 
stand in  den  Vordergrund  zogen,  oder  den  anderen  zurückdrängten.  £s  konnte 
Ueraadi  nieht  ausbleiben,  dass  die  Binheitliehkeit  in  der  AoibÜdong  derSehUer- 
gcaamtboit  staric  dnrchbiodken  wnrde.  Eine  Bessenuuf  in  diesem  Pmikte  bitte 
sich  wohl  erzielen  lassen,  wenn  die  sogenannten  „Schulstühle''  gewissenhafter 
ihres  Amtes  gewaltet  hätten.   Diese  „Schulstflhle'*  sind  pädagogische  Aufsichts- 
behörden, deren  Mitglieder  jedoch  vielfach  während  des  ganzen  Jahres  keine 
einzige  Sitzung  abhielten.    Se  kann  es  wdter  nicdit  tberrasckea,  dass  die 
ünteniehtseriblge  oft  weniip  befitiedigend  waren.  Am  besten  wird  dies  durch  die 
Tatsache  illustriert,  dass  durchschnittlich  jeder  fünfte  Schiller  sich  zu  einer  Wieder- 
holung der  Klasse  ent<?<  hlif^-sspu  mu.sste.    Zu  berücksichtigen  bleibt  hier  allerdings, 
dass  die  Zahl  der  Scüulversäuomisäe  ganz  besonders  gross  war.   Fast  die  Hälfte 
der  Kinder  fersftnmten  l-~6%,  aunihemd  ein  Fünftel  6 — 10  "/^ ,  ein  Siebentel 
10— 90«/,  der  Sohnbtiuiden.  Welter  verslumten  dS&  Kinder  90— 80*/«,  96  Kinder 
IMfOitiwIw  amdkB.  ZZXZ.  5w  84 


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—  370  — 


36—40"  nnd  32  Schüler  40— 50»/„  iler  Stunclen.  Pi^«?  Iptztere  Frscheinnng 
findet  jedoch  auch  einige  Erklärung  aus  politischen  Gt  uuden.  Bekauuüich  Iftsst 
die  nngariache  Begienmg  suidersspr&cbige  Schulen  nicht  zu,  wodurch  deutsche 
und  dAwiBdie  Kinder  nr  TeUnahine  aa  dem  «ngariadMn  üntenieht  geswnngeii 
sind.  Derartige  Kinder  sind  oft  nicht  imstande,  dem  magyarischen  Unterricht 
gen!l£jend  zu  folgen,  worauf  dann  vielfach  das  AusbUnhen  aus  der  Schule  folgt. 
Koch  ühcrras{!hen(kr  werden  diese  sprachen -politischen  Verhältnisse  dnreh  den 
Umstand  charakterisiert,  dass  364ö  Kinder  überhaupt  keine  Schule  besuchten. 
Diese  nolKwttrdige  Sncheimmgr  wird  man  kritisch  jedoch  nur  dann  richtig  er> 
fassen,  wenn  man  auch  die  p.sycholegisohe  Seite  dieser  Tatsache  berilckaichtigt. 
Es  ist  nämlich  «weifellos,  dass  das  ungarische  Volk  in  seiner  Gesamtheit  kein 
grosses  Bildung-sbedürfnis  bekundet  und  dieser  Tatsache  dürfte  der  erwähnten 
Erscheinung  eioige  Schuld  beixuniessen  sein.  Als  ein  weiterer  Beweis  hierfür 
mag  gelten,  daas  eine  grosse  Annahl  Kinder  eist  im  verhlltoisniSssig  hohen 
jUter  zur  Schale  gebracht  werden.  Von  3404  Sehttleni  der  ersten  Klas^ie  waren 
nur  1203  (wenit^r  mehr  als  ein  Prittel)  im  Alter  unter  7  Jahren;  alle  übri^'en 
standen  in  einem  höheren  Alter.  Ja,  bei  24  lag  bereits  eine  t ■ber*<rhreitnntr  des 
15.  Lebensjahres  vor.  Koch  trüber  gestaltet  sich  das  Bild,  wenn  man  criahrt, 
daas  von  9816  eingeadirieheneii  Kindmi  am  Jabiesscblnsse  nnr  noch  7720  die 
Schnle  Itesachten.  Also  mehr  als  ein  FUnftel  der  schnlpflichtigen  Kinder  bli^ 
gSnzlich  ans.  Obtrleich  natflrlicb  in  diesem  Verfahren  der  Eltern  ein  strafbares 
Verhalten  gegenüber  dem  Schul tresetz  lag,  war  man  jedoch  seitens  der  Schul- 
behörden damals  nachsichtig  genug,  nicht  auf  Erfüllung  der  vom  Staate  be- 
itjmmtem  Yerpfliehtangen  ni  dringm.  Hente  haben  ridi  die  TeririUtaiase  aller- 
dings weaenclleh  geliidext  Wir  geben  nachstehend  eine  kleine  stotistiadie 
Tabelle,  ana  der  die  EntirieUnng  dea  Bndapester  Sohnlweaens  gat  etriehtlidi  ist: 


Ks  entfiden  anf 

Jahres- 

Zahl  der 

einen 

1()(.K>T 

einen 

lieriede 

Lehrsaal 

£iuw. 

Lehrer 

Schalen 

Lehrsäle 

Klassen 

Lehrer 

Schüler 

Schüler 

Klassen 

Schüler 

1871/8 

38 

189 

146 

181 

9848 

68J 

6.0 

67.8 

1880  1 

77 

379 

414 

384 

24  17i 

59.6 

11.2 

Ö8.8 

imii 

»4 

680 

Ö87 

657 

36303 

Ö&4 

108 

64.6 

1900il 

138 

9«6 

1072 

1196 

60938 

6&7 

18.9 

46.6 

Nn  h  (liesem  statistischen  .Ausweis  iinterli'^gt  es  keinem  Zweifei,  dass  die 
üneutiuhen  Sohulverhältnisse  der  ungan.schen  Hauptstadt  seit  dem  Jahre  1871 
wesentlich  bessere  geworden  sind.  Sowohl  die  Zahl  der  Schulen,  Lehrsäle, 
Klassen  nnd  Lehier  hat  nicht  nur  abeolnt,  aondem  aneh  im  Yerhlltnia  nr  Zahl 
der  SchtUer  nnd  der  BerOlliening  bedeutend  ngenommen.  So  waren  im  Sehvl- 


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—   371  — 

Jalire  18B9/1900  nur  9  Ldmll«  mit  iii«hr  als  80  SehUera  voriiMideii,  wUtrend 

die  Anzahl  dieser  Lehrsälf«  im  Jahre  1871  1872  an!  88  laatete.  Noch  im 
Jahre  1876'1877  wnrden  hier  32  und  im  Jahre  1904'5  immer  noch  15  solcher 
Lehrsäle  gezählt.  Prozentaal  genommen  betrug  diese  ÜberfttUang  im  Schnl- 
ißhn  1879/1680  noch  16,5  «>io>  im  Jahn  1889/1890  6,2%;  1904/5  war  diese  Zifer 
badts  wat  8,9%  gemudcMi,  wttrend  deh  der  Profenlsati  der  in  fibeittUten 
LehnUeil  untergebrachten  Schüler  für  das  Jahr  1889/1900  noch  gttnstiiror  stellte 
nnd  zwar  anf  1,3  "  o-  Dest^k-ichen  ist  die  absolut*^  Zahl  der  Lehr  r  im  Verhältnis 
zm  Zahl  der  Schüler  grüstier  geworden.  Ebenso  bat  der  Lehrplau  eme  einheitliche 
Gettaltnng  er&hren.  Die  LehrmittelaiiBstattnng  der  Schalen  ist  eine  vollständige 
geworden,  eneh  natnrgeoeluditliehe  Samnünagen  sind  in  fast  anen  Sehnloi  an- 
zutreffen. Die  Anzahl  der  mit  Turngeräten  ansgerüsteten  S.  hulen  helättft  lieh 
anf  57,  eigene  Tnrn><Iile  besitzen  46  Schulen.  Von  den  V(dksschnlen  sind  In  in 
dem  glücklichen  Besitz  eines  Gartens,  während  1  Snhnl«?  so^^ar  eine  Banmschule 
für  Lehrzwecke  zur  Verfügung  hat.  Audi  das  Bibliothek» we^en  hat  eine  er- 
frenllebe  Anogestaltang  erfahren;  an  Fachbfldiotheken  flr  Ldner  worden  64 
angeidiafft;  die  Anzahl  der  heicrfmdeten  jQg«idbibUothAen  bedlEttt  tich  anf  17, 
denen  sich  noch  4  Volksbiblinth  lvf!)  anschliessen.  Es  war  naturgemftss,  dass 
bei  diesen  verwaltnnj!fstechiii^;chen  Fortschritten  anch  die  ünterrichtserfolsfe 
heuere  werden  musäteu.  luHbesoudere  die  Zahl  der  Repetenten  sinkt  stetig. 
Noch  im  Jahre  1871/8  mnnten  von  1000  Sehftlern  906  die  Klasse  wiederholen, 
im  Jahre  1881/2  betrog  diese  Zahl  162,  im  Jahre  1894/5  fiel  sie  anf  157  nnd  im 
Jahre  18*>9'iy00  wurden  mir  noch  148  Schüler  gezählt.  Anch  die  Schulversilumni^se 
haben  ein*"  erh^'hliche  Herabminderunü:  erfahren,  sie  sind  von  6,7o/„  des  Jahres 
1871/1872  aut  4 des  Jahres  gesunken.   Zu  würdigen  bleibt  hier 

allerdings,  dais  die  Kagyarinemngspolitik  der  JSegiemng  im  wesentUehen  ihrea 
Terderhiichen  Einflusses  entkleidet  worden  ist,  dam  sowohl  die  relative  wie  anch 
die  absolate  Zahl  der  nicht  magyarischen  Schüler  ist  gesunken.  Noch  im  Jahre 
1873/1874  waren  öü94  oder  37,3 '♦'^  der  Schiller  deutsch,  während  im  Jahre 
1889/1900  nur  4215  oder  8,6®/o  solcher  Schüler  t^ezählt  wurden.  Hier  spielt 
aOerdings  eine  eigentftmliehe  EonateUntion  ethnographischer  Art  dar  BerDlkening 
Budapests  hinein,  die  am  besten  dnrch  die  letsfe»  VdloMihlnng  des  Jahree  1901 
illustriert  wird.  Hiemach  waren  nämlich  von  den  703 448  Einwohnern  Budapests 
nicht  weniger  als  387  276  F'ersonen,  welche  die  deutsche  Sprache  redeten.  Übrigens 
eine  recht  beachtenswerte  Sachlage  für  das  Deutschtum  Ungarns.  Die  Zahl  der 
Uber  7  Jahre  alten  Schiller  der  enten  Xlaate  ist  immtt  noeh  recht  gross.  Ik 
waren  hier  42fi*l^  aba  nahemi  dieHillte  dieatt  KlaasmisehtUer  vorhanden,  Anbh 
das  Ausbleiben  vom  Unterricht  ist  noch  im  starken  Grade  vorhanden;  für  1899/1900 
betrug:  diese  Ziffer  8497  von  57  3RR  eing-eschriebenen  Schttleri!  was  annähernd 
ein  Siebentel  der  Gesamtheit  ausmacht.  Immer  noch  eine  bedenklich  und  auf- 
fidlepd  hohe  2iiliar.  Anderamta  erscheinen  die  ungarischen  Untenichtserfolge 
wiedemm  in  einem  gttnatfgefen  Licht,  wenn  man  bertoksielttigt»  daaa  nadi  der 
letzten  VoUcBsfthlnng  anter  den  dreizehn-  bis  vierzehnjährigen  Kindeni  nur  2,2*/^ 
.Analphabeten  gezählt  wurden.  Audi  di»^-«^  Tatsache  darf  wohl  ihre  Deutung 
dahin  erfahren,  dass  die  ungarischen  Unterrichtserfolge  zweifellos  wesentlich 
bessere  geworden  sind.  Dass  insbesondere  das  Budapester  öffentliche  Schulwesen 

94« 


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—  372 

Kolr-InMi  erfriiulichoii  AuLsohwnno"  g^enomTnen  hat,  wohel  sehr  iler  sanitiiren  Seite 
zu  gedenken  int,  erücheiot  uicht  zum  mindesten  als  ein  Vei^ieust  Josefs  von 
KOrOffls,  dessen  unermüdliche  und  aufopferungsvolle  Tätigkeit  dem  ungarischea 
ünterricbtnresen  xam  nictuten  Segen  gereichte. 

Paul  Marten«  Chariottcn1nu!g. 


IV. 

D0r  erst»  intornalionale  Kongrew  für  Umlpiilagogilc 

wM  in  der  UiiiTenItIt  m  Londcn  vom  S6.— S9.  September  d.  J.  abgehalten 
werden.   Den  ElirenTocmti  im  Koogreeekomitee  liAben  die  ünterrichtimiiiiiter 

einer  ganzen  Reihe  von  Ländern,  darunter  die  von  England,  Frankreich,  Italien 
und  Spanien,  Hbemommen.  Vorsitzende  des  deutschen  Konnte»'s  sind  Panlsen, 
Stumpf  (Berlin),  ßeiu  (Jenaj  and  Eerschensteiuer  (Mttncbeu).  Das  Programm 
Teispnoht  allen,  denen  die  ethische  Seite  der  JugendbUdung  am  Herzen  liegt, 
gana  beeondei«  aber  den  bembmSeaigen  Joguidenieheni  reiehe  nnd  fraditbare 
Änregnng  nnd  die  Kongressleitung  wird  bemttht  sein,  in  strenger  ÜB]iarteiliebkeit 
die  verscbit^i  1*^11  «Ml  j'iidnLT'^ün^clien  Richtungen  zu  Worte  kommen  zn  lassen.  Die 
Dmcksaciieu  des  Kou^re^äcs  sowie  Teiluelimerkarteu  (zu  lU  M.jt  sind  durch  den 
Oeneralsekretär  Gustav  Spiller  (13  Buckingham  Street,  Straud,  London)  sowie 
dnreb  den  Sekretlr  für  DenteeUand  Bealscboldirektor  Dr.  Johanneitott  (fierlin  N.  66» 
SeeetHMee  61)  an  beiidien. 


C.  Beurteilungen. 


Vr.  Richard  Wickert,  Die  Päda- 

p;ogik  Schleiermachers  in 
ihrem  Verhältnis  zu  seiner 
Ethik.  Leipzig  1907»  Th.  Thomaa. 

Vm  und  155  S.  8«. 

Nicht  ohne  Berechtigung  hat  man 
behanptet,  in  Dentnhland  gehöre  etwa 

I  in  J  ahrhundert  dazu,  ehe  ein  be- 
deutender Mann  Gnade  vor  den  Angen 
s^er  Nation  fKnde.  Wenn  dies  nnn 

auch  auf  Schleiermacher  nicht  völlig 
zutrifft,  wenn  er  im  Staat  nnd  in  der 
Wissenschaft  und  in  der  Kirche  seiner 
Zeit  auch  eine  der  einflussreichsten 
Fersüjoiichkeiten  war,  so  erlebt  er  doch 
in  unseren  Tagen  eine  Auferstehung. 
Manches,  wns  Innir^t  überwunden 
schien,  taucht  lu  ueuem  Lichte  wieder 
Mf ,  maneheft  wird  gleiehaan  ent  neu 


entdeckt,  vieles  scheint  in  ganz  be* 
soliderer  Rücksicht  auf  unsere  Zeit  ge- 
flohriebcn  zn  sein.  Kein  Wandw,  das« 
ein  Teil  »einer  Werke  in  npuer  utkI 
verjüngter  Gestalt  wieder  iu  die  Wt-li 
geht,  kein  Wunder,  dass  die  Be- 
schäftigung mit  diesem  univeraellen 
Geiste  fortwährend  zunimmt.  Da  ist  es 
denn  erfreulich,  dass  man  auch  der 
Pädagogik  Schleiemiachers  erneute  Auf- 
merkmmkeit  anwendet  nnd  mit  Secfat; 
denn  hier  findet  sich,  freilich  in  der 
etwas  unvollkommenen  Form  von  Vor- 
lesungen und  Nachschriften,  eine  Fülle 
päda^jo  gl  scher  AnregTtn^.  Schleier- 
macher hat  ja  selbst  unterrichtet  nnd 
eine  Fülle  praktisch«  Srfehrung  nnd 
praktischer  Belehrung  steckt  in  dem 
Buche;  aber  das  £mpLrische  ist  doch 
nur  dar  gesftttigte  Mtnteigrand  eiMS 


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—   373  — 


geittTolIeii  8p«knlativeu  Systems,  wie 

ea  reicher  nnd  frnchtbarpr  nicht  tje- 
dacht  werden  kann.    Da  kommt  das 
Individmmi  mit  seiner  eigentümlichen 
Bedingtheit  durch  Anlage  nnd  Talent, 
dnrch  Temperament.  Rasse  nnd  Volks- 
tttmlichkeit  zu  seinem  Kechte;  aber 
wir  leheu  anch,  wie  daneloe  ans 
•dner  Isoliertlieit  bmnttritt  nnd  in 
lebendiger  Wechsehvirkuiiir  mit  dem 
Staate,  der  nationalen  Gemeinschaft 
des  WineiiB,  der  frefen  QeRelligkeit, 
der  Kirche  tind  der  Xniist  am  treniein- 
samen  Kulturfortschntt  teilniuimt.  Öo 
ist  Scbleiermacbers  Pädagofirik  sowohl 
nach    der   Seite   der  Individnalitäts- 
bildnng  als  ancb  nach  der  Seite  einer 
sozialen  Erziehung  änssent  bedentsam. 
Schade  nur.  ilass  .sf»in  System    d  nns 
in  seiner  philosopLischen   hünk  khir 
nnd  folgerichtig  vor  Augen  steht,  in 
der  Pädag:ogik  teils  infolge  der  bereits 
erwähnten  mangelhaften  Form,  teils 
infoltre  einer  et\va.s  unklaren  Auffa.ssuiiij 
Schleiennacbers  über  daj«  Verhältnis 
swiaelieB  Etliüt  und  PSdagogik  stark 
verwischt  und  verschleiert  ist.  Eine 
volle  Würdigung  der  Schleiermacher- 
•eben  Pädagogik  ist  deshalb  nur  mit 
Hilfe  der  Ethik  moj^lieh,  ja  inan  wird 
noch  weiter  geben  müssen,    und  da 
hf-imt  Kthik  Güterlehre   und  Kultur- 
philosophie  ist,   auch    seine  Politik, 
seine  Ästhetik ,  seine  christliche  Sitte 
nnd  seine  religiösen  Schriften  heran- 
ziehen müssen,  man  wird  auch,  da 
Schleiermacher  einer  der  persönlichsten 
Denker,  ein  Philosoph,  dessen  System 
die  Projektion  seines  persönlichsten  Ich 
ist,  genannt  w«rden  mns»,  diese  Pei^ 
sönlidikeir  in  i:ennL,'»  nder  Weise  und 
als  iudiTidnelle  Ps^'cbe  nnd  als  Produkt 
ihrer  Zeit,  herfleksiebtigen  mttasen.  Erst 
dann  wird  man  den  richtigen  Stand- 
pnukt  für  die  }>>'urt>  ilung  seiner  Päda- 
gogik gewinnen  können .   dann  wird 
man    aber  auch   die  Fülle  nnd  den 
Beichtum,  die  Tiefe  und  die  Breite 
dieser  PIdagiogik    aufn    höchste  be- 
wundern müssen.    l>ie.H<.n  Standpunkt 
zu  gewiuueu,  scheint  die  vorliegende 
Arbeit  vorzüglich  geeignet.   Der  Stoflf 
ist  äusserst  i^lücklich  gruppiert,  der 
Stil  dorchsichtig,  so  dass  sie  sich  trotz 
d«s   sj^rüden  jfaterials  liest,  der 

AofCassongikhleiennacbers  gerecht.  So 
wird  dM  Buch  in  «naerer  Zieit,  in  der 


die  Romantik  wit^ler  im  Vordergrund 
des  wis.^cnschaftlichen  Interesses  steht, 
vielen  willkommen  sein  als  wichtiger 
Beitrag'  zur  Erkenntnis  jener  grossen 
Epoche  deutscheu  Geisteslebens.  Aber 
auch  der  l'ädagog,  der  inmitten  der 
.^cliularbeit  steht,  wird  es  nicht  ohne 
Nutaen  lesen. 

Thalhofer,  Franz  Xaver,  Doktor  der 
Philosophie  nnd  Theologie.  Die 
sexuelle  Pädagogik  hei  den 
Philanthropen.  Jo.^.  Kösel, 
Kempten  1907.  VI  nnd  124  S.  8°. 
1,80  M. 

Eine  fast  unübersehbare  Literatur 
ist  in  den  letiten  Jahren  Uber  die 
sexuelle  Belehmng  entstanden.  .Vnr 
wenig  ist  dabei  geschehen  zur  histori- 
schen Beleuchtung  der  Frage.  Manches 
Buch  wäre  vielleicht  ungeschrieben 
geblieben,  wenn  man  im  ganzen  Um- 
fange gekannt  hatte.  \va.s  bereit.s  die  Päda- 
gogik der  Philauthroidfeteu  auf  diesem 
Gebiete  geleistet  hat  „Li  seharfsinnig 
prinzipiellen  Erörtemngen  und  unter 
Verwertung  eines  reichen  Tatsachen- 
materials haben  sie  die  Fragen  teils 
geklärt,  teils  der  liu.^nnir  nahegebracht, 
teils  endgültig  beantwortet.  Wären 
die  damut  gewonnene  Erkenntnisse 
nicht  vercTP^fsen  worden,  so  stünde 
man  heute  nicht  wieder  aui  Anfang 
der  ganaen  Erörterung  mit  all  den 
Mängeln,  Übertreibungen  nnd  Schief- 
heiten, die  schon  damals  allmählich  ab- 
^strcift  nnd  Oberwunden  wnrdcn.  Es 
ist  seltsam,  dass  gerade  in  £rziehu&gs- 
saebcR  so  viele  tüchtige  Wahrheiten 
und  ErkeniitMi  — '  immer  wieder  unter- 
sinken und  neu  gehoben  werden  müssen," 
Thalbofer  hat  es  unternommen,  die  Ge- 
danken der  Philanthropi.'^ten  Ober  Er- 
ziehung zn  physischer  nnd  psychischer 
Geschlechtsreife  aussngraben.  In  einem 
ersten  Teile  cribt  er  zunächst  eine 
historisch-entwickelude  Darstellung  des 
Ganzen,  wfthrend  er  im  zweiten  Teile 
die  Leser  zu  den  wichtigsten  Einzel- 
problemen hinführt,  diese  kritisch 
prüft  und  zeigt,  wo  die  heutige  Arbeit 
einzusetsen  hat.  Da  Eezensent  sich 
seit  Jahren  mit  demeelhen  Gebiet  be-> 
schüft  ifjrt  hat,  kann  er  dem  Herrn  Ver- 
fasser das  Zeugnis  ausstellen,  dass  er 
▼on  dem  grossen  a.  T.  sehr  schwer 


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—   374  — 


zujg:äD^lichen  Material  nur  wetiitr  über- 
aßen bat.  En  betrifft  £.  Chr.  Trapp, 
da:  rieb  nicht  nnr,  wie  8.  19  m  iMen 

ist,  in  einer  Anmerkunj^  zu  Rou.sseiius 
Emil  zur  sexuellen  Erziebang  äussert, 
und  das  BraunschweigiHche  Journal 
(vgl.  Th.  Fritzsch,  E.  Chr.  Trapp. 
Dresden  l'JÜO.  Dort  auch  Bemerkungeu 
über  Basedows  AhliängigkeitsverhältniB, 
die  Tlmlhdfer  ergänzen  I).  Wag  nun 
die  positireu  Vorschläge  aulaugt,  so  ist 
es  ^wias  richtig,  dass  die  ethischen 
Motive  in  der  religiösen  Fassung  für 
das  Kind  am  besten  wirksam  gemacht 
wertleii  kr»nnen,  alipr  dagegen,  wie  das 
nach  Thalhofer  geschehen  hat,  lässt 
rieh  doch  nuuiebes  einwenden.  („Es 
müssen  dem  Kinde  bestimmte  Zeiten 
angegeben  werden,  z.  B.  die  Minuten 
der  tä^riiehen  Gebete,  StnndenseUai:, 
Avelänten,  Versuchnngszeiten  — ,  und 
es  muss  oft  gefragt  werden,  wie  es  mit 
diesen  Übungen  geht.  —  Daheim  und 
auf  den  Wegen  können  dann  die  Bilder 
Gottes  mitl  Jesn  die  Gedanken  des 
Kindes  immer  wieder  zum  Reinsten 
hinlenken."  —  Die  Ohrenbeichte  u.  a.) 
Danach  mü.ssten  doch  die  Verhältnisse 
inbezui:  auf  das  in  Frage  kommende 
Gebiet  in  katholischen  Familien,  Schulen 
und  Gegenden  erheblich  günstiger  sein 
als  in  evanirelischen !  -  Da.s  Buch 
bietet  eine  Fülle  von  Oedanken  and 
Anregungen  imd  wird  in  der  Idteratnr 
zur  .sexuellen  Psdaa:<i^ik  einen  herror^ 
ragenden  Platz  einnehmen. 
Leipsig. 

Dr.  Theodor  Fritsseh. 

Dr.    Heinrich    BimiiUMlt.  Kants 

Kritik  der  reinen  Vernunft 
abgekürzt  auf  Grund  ihrer 
Bntstehnngsgeschiohte.  Gotha, 

Thienemann.   M.  2. 

Die  Vernunft  kritik  in  guter  Dar- 
stellung zu  geben,   Kant  in  bell«r, 

frisoher  Sprache  reden  zu  la<srn,  ist  ein 
sehr  ICblivher  Vorsatz.  Liegt  es  auch 
ntm  Teil  an  der  Sohwiencrkrit  der 

Materie  und  am  ziiiien  Festhalten  einer 
erfülgreictien  Methode,  wenn  Kaut  ge- 
rade in  den  Hauptwerken  weniger  ver- 
ständlich ist  al.s  in  früheren  PLriaden, 
so  sind  manche  Dunkelheiten  üueh  un- 
oStig  und  darum  abstellbar.  Nur  muss 
der,  welcher  sol«  hemiassen  richtet  und 
beschneidet,  entsagtuigsvoU  die  eigene 


Person  zurücktreten  lassen.  Was  Kant 
sagen  wollte,  was  ihm  den  Geist  «r- 
nnte,  muss  der  Interpret  geben.  Das 

kann  sehr  wohl  gcscheijeu,  iudeni  K:^rirs 
Lehren  auf  Grund  ihrer  Vorgeschichte 
dargelegt  werden.  Das  Wachstum  der 
Philosophie  und  der  Ternunftkritiken 
würde  dann  eine  genetische  Darbt^Uting 
von  dankenswerter  Art  Anden.  Bomnndt 
hat  nicht  erreicht,  wa*  er  pr^tr'-ht  hit. 
Trotz  ehrlicher  Einarbeiiuiiy^  m  Kuuts 
Werk  hat  er  die  eigenen  Itfeinungen 
und  Abneigungen  nicht  verschweip;en 
mögen,  auch  wo  diese  herzlich  gleich- 
gültig für  die  Vernunftkritik  sind. 
Oder  war  es  t^üg,  Hegel  mit  einem 
Bildsritongaredaktenr  m  vergleichen 
oder  mussten  Romnndts  frühere  Ver- 
öffeutlichougen  zitiert  und  eizerpiert 
werdm,  um  fttr  Kant  eine  Gasse  an 
hauen?  Auch  stilistisch  ^bt's  ver- 
kehrie»  Zeug.  Gehäufte  Infimtive  (S.  54), 
vier  Konjunktionen  hintereinander  (S.  74) 
wirken  seltsam  in  einem  Buclie.  das 
eine  Nachhilfe  und  ein  Beistand  in  der 
Darstellung  sein  will.  Wer  zn  Kant 
kommen  will,  dem  .seien  als  histori.-iche 
Grundlage  die  Biographien  au.>  tiem 
Todesjahre  empfohlen,  die  Uoffmauu 
nen  herausgegeDen  hat.  Dann  lese  der 
Gebildete  mhig  die  „Prolegomena"  nnd 
die  beiden  ersten  Kritiken,  wobei  Cohens 
.Commeutar  zur  Vemunnkritik"  recht 
bilfreiehist  Strritsehriften  Uber  Kant 

{'edoch  fähren  nicht  in  -  in  Wf  r!-  Das 
tat  R.  nicht  genügend  beachtet 

Dr.  Heinrich  Komundt,  Der  Pro- 
f cäiiu renkant.  Ein  Ende  und  ein 
Anfang.  E.  F.  Thientmamk  in  Gotha. 

M.  2,40. 

Es  gibt  eine  Anzahl  Kantianer 
striktester  Observanz,  die  in  des  Köni^- 
berj^er  Pinlosophen  Lehre  'iie  einzige 
zuverlässige  Ftthmng  au  Wissenschaft 
nnd  WelterUSnmg  erbücken.  Bomnndt 
t^'elu'Jrt  zu  diesen.  Nicht  dass  er  die 
von  Kant  selbst  beklagte  DarsteUnngs- 
tom  der  Hauptwerke  Tertridigte.  Aber 
er  kilrapft  für  die  Grundztige  des 
Kritizismus,  wie  sie  Kant  gezogen, 
nnd  weist  mit  Schftrfe  all  penc  Nach* 
folg-er  Kants  znrttek,  die  mit  dem  An- 
spruch aufgetreten  sind,  Kants  Werk 
erst  recht  darzustellen  oder  gar  so 
vollenden.  Fichte,  .^f  helling  und  Henrel, 
aber  auch  Schopeuhauer  werden  als 


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—   375  — 


untüchtige  Verwalter  des  reiehen  Kan- 
tischen Erbes  anfgewiesen;  der  Pro- 
fessor Kant  wird  in  Schutz  genonunen 
(sregen  die  Kantprofessoren  von  Jena 
und  Berlin.  In  dem  Abechlusa  der 
RonnindtKhen  Kantieliitften,  der  im 
vorliegenden  Werke  gegeben  wird, 
greift  Komundt  besonders  auf  die 
philoeophiscbe  Relii^omlelire  und  den 
„Streit  der  Fnknltiiten"  znrück.  Wie 
Kants  l'nter)>nclniiigen  und  Vordchläge 
noch  keineswegs  veraltet,  vielmehr  zum 
gnten  Teil  noch  immer  nicht  begriffen 
und  befolgt  sind:  das  wird  mit  kräftigen 
Worten  und  eindringendem  Verständ- 
nis aufgewiesen.  Dass  dabei  Harten 
und  Übertreibungen  vorkommen,  liegt 
leider  in  R.s  Art,  ebenso  wie  die  vielen 
Verweiaangen  im  Text,  die  gelegentlich 
d«B  Tortn^  unnötig  unterbrechen. 

Lndwigfioldschttiidt,  K  an  ts.F  r  i  vat- 
meiniiBgen'*  Uber  das  Jenseits 

und  Die  Kant-Ansgabe  der 
kün  ig  l.preuss  lachen  Aka  demie 
der  Wissensebaften.  Ein  Protest 

Gotha  Thienemann.   M.  2,40. 

Das  Knrh  vereinijrt  zwei  Abhand- 
lungen eines  gründlichen  und  eifrigen 
Forsebers.  Beide  dienen  dem  Zwedce, 
▼or  jenem  Doj^atismus  zn  warnen, 
der  sich  aus  blinder  Ehrerbietung  vor 
einer  Akademie  -  Ausgabe  entwickeln 
könnte.  Indessen  —  es  sind  nicht  alle 
frei,  die  ihrer  Ketten  spotten!  Gold- 
Schmidt  selber  nennt  die  Berliner 
Akademie  „unsere  erste  wisieoschaft- 
licfae  KSrpersebaft"  (S.  67).  Solcber 
Ansdmck  leistet  aber  dem  Stumpfsinn 
Folge,  der  iu  der  politischen  Vormacht 
auch  die  wissenschaftliche,  wohl  gar 
kulturelle  Führerin  schlechthin  erblickt. 
Gegen  solche  Auffassung  hat  Kein  in 
Jena  mdirere  sebr  httSsebe  Abband- 
lungen  geschrieben,  die  recht  emp- 
fehlenswert sind.  In  geistigen  l>ingen 
gibt's  keine  Örtlich  oder  dorch  be- 
stimmte Rangverhältnisse  festgelegte 
Auturitäten:  heute  vielleicht  so  wenig 
wie  in  den  Tagen,  da  Dt'Ut.sclilamls 

S ästiges  Zentrum  iu  WoUenbOttei, 
önigaberg,  Weimar  leg.  Für  einige 
Fragen  der  Kantforschung  beansprucht 
Goldscbmidt  das  Becht,  mitsnredeu. 
ja  an  «ntsobeidea.  Wenn  ans  (feinen** 
Privatni  einungen  „reine"  FtirtA- 
meinungen  werden,   wenn  in  einer 


ganzen  Beihe  weiterer  Fälle  bedenk- 
liche, ja  offenbar  falsche  Lesarten  Be- 
achtung, ja  Aufnahme  fanden,  so  zeigt 
da.s  freilich,  wie  l'rofessoren  und  Aka- 
demien so  wenig  unfehlbar  wie  Päpste 
und  Kouilien  suid.  Goldsdunidt  nbrt 
neben  solchen  Feststi  l'ui.iren  aber  auch 
ttoeb  poaönliche  Fehden  und  Prioritäts- 
ktmpfe.  Das  bat  geringeres  Allgemdn- 
intt^resse.  Wer  da  »'.t  Schiedsrichter 
machen  wollte,  müsste  die  Kantbiblio- 
granbie  —  also  nicht  bloss  das  Xaat- 
stndinm  —  als  Lebenszweck  ansehen. 
Das  können  nur  eigenartig  begabte  und 
wirt.schaftlich  unabbingige  Menschen. 
Will  Goldschmidt  nicht  bloss  fUr  solche 
schreiben,  so  mnss  er  mehr  bei  den 
grossen  Zögen  der  Kant.schtni  Lehre 
bleiben.  Und  dazu  sollte  und  könnte 
er  all  das  Tüchtige,  was  die  Akademie« 
Au.sgabe  doch  auch  gefordert  hat  und 
noch  bhuRen  wird,  benutaen.  Bei 
seinen  sincbingeiiden  Stadien,  seinem 
ebriicben  Eifer  ivln  das  bocbenreolicb. 

Ludwig  Ooldschmidt,  Baumanns 

.\nti-Kaiit.  Eine  Widerlegung, 
üotha,  Thieuemaun.    M.  2,80. 

Der  Göttinger  Philopophie-Profesäwr 
JnÜQS  Banmann  bat  iii  ^  inem  1905 
erschienenen  Werke  jedem  üebildeten 
eiu  selbständiges  Urteil  darüber,  ob  die 
Kantische  Philosophie  heute  noch  halt- 
bar sei,  ermöglichen  wollen.  Am  den 
Schriften  Tiedemanns,  einra  Zeitgenosse! 
Kant^,  hat  ß.  dargelegt,  wie  alt  ge- 
wisse Einwürfe  gegen  die  Vemiuät- 
kritik  sind.  SelbstBndig  bat  der 
Oöttinger  Philosoph  dann  nachzuweisen 
gesucht,  wie  sich  Mathematik  und 
Naturwissenschaften  nicht  im  Sinne 
Kants,  sondern  im  Sinne  jenr^  I  nkm 
den  Empirismus,  der  auch  Baumanns 
Standpunkt  ist,  fortentwickelt  haben. 
Es  ist  also  eine  ziemlich  komplizierte 
Sachlage,  in  die  (iuldschmidts  Buch 
führt.  G.  lä.^Ht  Banmann  als  Denk^ 
und  Menschen  alle  Anerkennung  wider- 
fahren, hält  aber  den  „Anti-Kant"  fttr 
einen  Mi.^sgrifl".  Aus  »einer  unifas^rn- 
den  Keiiatnia  der  Kant-Literatur  führt 
Ö.  tniÄelist  die  Argumente  an ,  dnrdi 
die  der  Königsberger  Philosopli ,  ili^en 
Schüler  und  Beurteiler  —  Tiedemanns 
Einwürfe  zurückgewiesen  balkcn.  Dann 
geht  er  da/u  i^hi-r  iinchzuweisen.  wie 
die  modernen  Wiä^uschaften  niemals 


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—  3;6  — 


„ilio  Lehren  ilcr  Kritik  in  einem  eiiizic:en 
Punkte,  geschweige  überhaupt  zu  wider- 
legen" TennOgreii.    Ks  ist  eine  Frage 

der  Methode,  auf  die  endlich  der  ijanzc 
hochinteressante  Streit  hinausläuft. 
.Empirische  Bikenntnialehre,  empirische 
Morallehre.  empirische  Reehtslehre 
würden  nichts  leiteten,  als  alte  Irrtümer, 
nlte  Verfehlungen,  alte  Misiibränche  zu 
konservieren*'  i'S.  114).  Kant  hat  die 
Grenze  featgestelll,  bis  zu  welcher  die 
Vernunft  auf  Erfahrung  angewendet 
werden  kann.  Der  üeist  dieser  Grenz- 
scheidnng  ist  eben  der  Kritizismus,  der 
als  Prinzip  unanfechthar  int,  wenn  er 
«ach  iu  seinen  Äus^^eningen  einmal  anf 
irrtflmHche  Bahnen  gelangt. 

Ludwig  tioldsehmidt)  Jvant  und 
Haeckel.  Freiheit  und  Not- 
wendige k  ei  t.  Nebst  einer  Replik 
an  Julius  Baumann.  OoUia,  Thiene- 
mtnn.  M.  8. 

Natarwiaienichaft  und  Metaphysik 
wirken  um  so  kräftiger,  je  mehr 
Feindschaft  zwischen  ihnen  besteht. 
Keine  soll  aber  das  fremde  Gebiet  be- 
setzen wollen,  da  sie  es  doch  nicht  zu 
halten  und  zu  knltiTieren  vermag.  Der 
Fall  Haeckel  zeigt,  weleh  unhaltbare 
Folgerungen  herauskommen,  wenn  mau 
ans  natnrwiMenschaftliehen  Primissen, 
dir  Ti  irli  -l  i7U  ihrerseits  nicht  gesichert 
sind,  philoiiopbische  £rkeimtnis8e  von 
abschliessender  Bedentnng  berieten 
will.  Goldschmidt  prüft  Haeckels 
Lehre  an  Kant,  wie  etwa  Lanj?e  in 
seiner  ,.Geschichte  des  Materialisnins" 
Büchners,  Vogt«,  Moleschotts  Leliren 
an  der  Vemunftkritik  priitt.  Gold- 
BChmidt  zeichnet  sich  vor  vielen  andern 
vorteilhaft  durch  die  Sachlichkeit 
und  Rnhe  seiner  Gegnerschaft  wider 
Haeckel  aus.  Aber  er  kommt  trotzdem 
zu  dem  Besultate:  »Wer  m  wissen  vor* 
gibt,  dass  Freiheit  nnmOgKch  ist ,  der 
täuscht  sich  und  andere.  Die  Lehre 
der  Freiheit  ist  von  Kant  gelöst  In 
•ehr  heeeheidener.  aber  in  ahsehUessen- 
der  Weise"  (S  77 

Die  angesciilüsstae  Erwiderung  anf 
Bnumanns  Kantbekftmpfung  in  dem 
Buche  „Welt-  nn«l  Lebensansicht  in 
ihren  realwissenscbaftlichen  Grund- 
sngen"  steht  nicht  völlig  ausser  Zu- 
sammenhang mit  der  Stellnngnahme  zu 
Haeckel.  So  wahr  es  ist,  dass  keine 


einpirische  Erörtenmg  jemals  den 
Kritizismus  treffen  kann,  so  sicher  er- 
seheint es,  dass  die  Resnltate  natnr- 

wissen.schaftlicher  For-rlunii,'  auf  die 
Fragen  nach  Freiheit  des  Willens, 
Formung  der  psychischen  Tttigkeit, 
nach  Gott  und  Unsterblichkeit  —  keinen 
Einfluss  von  beweisender  Art  gewinnen 
können.  Getrennte  Gebiete  sind  und 
hleil>en  die  reichen  Felder  der  Natur- 
wiüsenächaft  und  die  hohen  und  kühlen 
Provinzen  der  Metaphysik  und  Erkennt- 
nistheorie. In  ihrer  Trennung  erhalten 
sie  am  besten  ihre  Reinheit  und  frncht- 
brin<'ende  Kraft. 

Elsterberg.  Dr.  Qrimm. 

Die  Schriften  des  Neuen  Testa- 
ments neu  übersetat  und  für  die 
Gegenwart  erklärt  von  Baniiigarlen, 

Bonsset,  fiunkel,  Heltmtlller,  Holl- 
mann,  JiUicher,  Knopf,  Frans 
KShler,  Lücken^  Johannes  WelM» 

herausgegeben  von  Prof*  D*  Johannes 
Weiss  in  Marburg.  2.  verbesserte 
und  vermehrte  Auflage.  8. '20.  Taus. 
Gi-ttingen,  Vandenhoerk  Ä:  Kuprecht 
lbU7.  c.  1600  S.  14  M.,  in  zwei 
Leinenbänden  17  M.,  in  awei  Halb- 
lederhäuden  19,00  M. 

Das  Sammelwerk  beruht  auf  dem 
Oedanken  der  Verfasser,  dass  das  Bibd« 

wort,  traditionell  als  Gotteswort  ver- 
mittelt, keinen  Widerklang  erweckt, 
wftU  mt  keine  Fühlung  dazu  haben. 
Per  moderne  Mensch  sträubt  sldh  9tg|^ 
die  n>  utestamentliche  Lehre.  Die 
Wunder  sind  nnsrer  naturwissenschaft- 
lich und  technisch  denkenden  Zeit 
unbegreiflich,  die  theologischen  Ge- 
dankengänge Pauli  und  die  Zukunfts- 
phantasien der  OfTenbamng  nnverstHnd- 
lich.  Das  Neue  Testament  hat  eben 
einen  uunschlich  creHchichtliohen 
Charakter  neben  dem  giittUchen  Wort. 
Zwar  genügt  die  chrbtliehe  Religion 
ihrem  Wesen  nach  dem  r  lid"-  n  und 
sittlichen  Bedürfnis  vieler  Generationen, 
lUwr  die  histoilsdie  Form  ist  vergäng- 
lich.  Die  Bearbeiter  wollen  nun  eine 
geschichtliche  Erklärung  der 
ältesten  Denkmäler  des  Christentums 
geben.  Das  Christentum  hat  sich  mit 
Denken  und  Kultur  seiner  Zeit  ver- 
handen.  Man  nuss  Schale  and  Kern 
nnterscheiden.  Läset  man  das  Beiwerk 
fort,  80  hebt  sich  die  Grundrichtung 


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—   377  — 


anf  Wnhrhaftigkf  if  Tiiul  Reinheit  (1er 
Gt%iuuuug,  anl  Selbstzucht  und  Hin- 
gabe an  Gott.  —  Das  Bndi  bietet 
nicht  nur  Resultate,  sondern  auch  die 
Gründe  der  Kritik.  Es  erstrebt  ein 
fundamentales  Geschichtsbild.  Es  ist 
ffir  snchentle  Menschen,  die  zur  Klar- 
heil  übur  iiiru  religiöse  Grundlage 
kommen  wollen.  Altüberliefertes 
Glaubensgut  will  e»  halten»  wo  es  an- 

S'ht.  Der  Vergleich  mit  Luthen 
ebterwerk  ist  r.nsr,ii tlMft,  weil  nicht 
pdiiliche  Wörtlicbkeit,  lirische  lesbare 
Wiedergabe  das  Zid  iet,  sondern  die 
Verfit>ser  sich  bemühen,  den  griechischen 
Text  ins  Deutsche  umzudenken.  Ein- 
bdtliohkeit  der  Erkllnug  ist  nicht 
mechanisch  erzwungen,  die  individuelle 
Empfindung  «kr  Hrarbeiter  ist  überall 
ersichtlich.  Jedor  neutestanentUchen 
Schrift  geht  eine  Einleitung  vornns, 
den  Evangelien  di«?  Ge«ichicbte  des  N.  Ts. 
Dichterische  Gesralttiiig  des  Textes  ist 
im  Dmck  der  Übersetzunir  festgehalten. 
In  der  Erklärung  sind  biblisch  -  theo- 
logische Themata  durch  starken  Druck 
hwToi^boben,  was  schnelleOhentiening 
hinsichtlich  der  vemchiedenen  PrSgung 
der  \vi(.htiir!*tf*ii  Bi-i^'^riffe  erTii«"s^licht.  Die 
Lektüre  des  Baches  wird  den  denkenden, 
Torarteilsfrelen  Leser  in  stetem  Werde- 
prozcss  übt'rzeu^t'ii ,  ila^ts  iui<h  die 
moderne  Theologie  die  Fräse:  „Was 
baltet  ihr  von  CbrittQS?<*  nieht  rasch 
neiriprt.  sondern  pietfitvoll  erwägt  und 
Christum  zu  treiben  ab  ihre  vor- 
nehmste Aufgabe  betnehtet. 

,^eligion  und  Schule"  hat 
Fr.  SelÜde  eine  Sammlnn^'  von 
Anfj'ätzen  und  Reden  betitelt. 
Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr  (Paul 
Siebeck),   1906.    21d  S.  Geheftet 

^.m  M. 

£s  siad  aus  mannigfaltiger  Stimmung 
henras  geschriebene«  s.  T.  dn  imd  dort 

schon  vcrüffpntlichle  Aufsätze,  l.ttber  die 
Bibel  und  ihre  Surrogate  (Katechismus, 
Spruchbucb  und  Historienbuch)  in  der 
Volksschule,  2.  ühf-r  die  Religion  in 
der  Schule,  wozu  bt  itret'eben  die  Thesen 
von  Baumgarten,  Vollmer,  Sthwartz- 
kopf,  Schiele,  Beyhl.  Battenberg  und 
Bonus  gel.  der  Verbaudlungen  der 
Freunde  der  „Chr.  Welt''  in  Eisenach 
am  2  Oktober  1900.  3.  Gedanken  über 
die  Lehrbarkeit  der  christlichen  Religion. 


4.  Bremer  Phantasien  (f.  n).  Karl 
Schneiders  liebenserinneruugen.  b.  zum 
Religionsunterricht  im  Volksschnllehrer- 
seminar,  7.  über  die  Bilduiiir  <Ier  Volks- 
schullehrer nach  den  rreiu^sischen  Be- 
stimmungen  vom  1.  Juli  1901, 
8.  inwieweit  die  Zßglingp  der  evan- 
gelischen Lehrerseminare  uüt  den  ge- 
sicherten Ergebnissen  der  wissenschaft- 
lichen Forschungen  über  die  Entstehung 
des  A.  Ts.  bekannt  zu  machen.  9.  wider 
die  ireistlirhe  Schulherrschaft.  — 
Schwerlich  kann  man  schlagender  be- 
weisen, weleh  ein  Nonsens  der  Drill 
des  Kateeliisnins  und  des  Historit-n- 
buchs  ist,  als  es  Sch.  tut,  wenn  er  z.  B. 
sagt,  dass  man  tarn  Monnroentalbau 
des  Katechismus  den  Tempel  der  Schrift 
als  Steinbruch  benutze,  da.os  man  im 
Bistorienhneh  ein  entstelltes,  ver- 
wässertes, nivelliertes  nnd  wohl  gar 
gefälschtes  Bibelwort  als  Fetisch  an- 
preist, den  später  die  Jugend  weg^verfe, 
und  60  in  dem  wirklich  wertlosen 
Srirrogat  das  Wort  Gottes!  Ergötzlich 
lesen  sich  die  Bremer  Phantasien .  in 
denen  er  den  Antrag  der  Bremer  Lehrer- 
schaft auf  Abscbaffnng  des  Religions« 
unterri'lits  zu  trnusteii  einer  iillyonn'inen 
Sittenlehre  an  literarischen  Vorbildern 
dnrdi  Darstetlnng  der  Weitermtwick- 
liin£r  der  .\ngelegenheit  bis  ztir  Wietler- 
einfülimng  ao  200Ö  ad  absurdum  führt. 
Die  Aufsätze  über  das  Lehrerseminar 
atmen  Sch.s  Liebe  zu  dieser  Anstalt, 
die  er  mit  Schneider  teilt.  iin<l  seine 
Hofihmng,  dans  es  doeh  möglieh 
soin  werde,  diese  Schule  aus 
orthodoxem  Zwange  in  die  Freiheit 
relig^ionsgeschicbtlicher  Auffassung  ZQ 
führen  und  somit  die  jungen  Lehrer 
8'leich  den  jungen  Theologen  zu  be- 
fiihiureii.  im  Kampfe  mit  der  Wiffclieh- 
keit  ihreu  Mann  zu  stehen. 

Von  der  Sammlung:  ..Gesehi(ht- 
licher&eligionsunt  er  rieht"  ist 
das  8.  Heft:  Jesus  (2.  Teil)  und 
dieUrgemeiiule  vnn  Dr.  H.  Meitzer 
erschienen.  Leipzig,  Verlag  von 
Heinrich  Bredt,  IwH.  Sonderausgabe 
des  RelifrinnHiinterriebts  im  7.  Scnol- 
jähr  in  ileius  „Schuljahren". 

Dem  Verf.  erscheint  ebenfalls  die 
Geschichte,  Heraushebnng  der  grossen 
Persünlichkeiten  und  leitenden  Ideen 
als  wirksamstes  Mittel  zur  religiös- 


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—   378  — 


sittlichen  Enuehuiiff.  Systeumtiscbe 
ErOrtemna«»  sollen  m  Zasammenhang- 

mit  der  lebensvollen  Geschichte  kon- 
kreter, wirksamer  werden.  Die  Ver- 
gangenheit zeigt  die  Probleme,  die 
anch  ans  hente  besrhäftitren ,  in  ein- 
facherer Fassung  und  biltt  m  znm 
yenttndnis  der  verwickelten  Gegen- 
^^•!l^tsfraf^en.  Die  Präparationen  be- 
Kitineu  mit  dem  Petmsbekenntnis. 
Psychologische  und  theologisch-kritisehe 
Gründe,  nicht  die  zweifelhafte  Chrono- 
logie bestimmen  die  Ordnung.  Der 
Standpunkt  des  Verf.  ist  der  der  neuen 
hifitoriftch-khtischen  Tbeolcttie,  die  tich 
Tom  Dogma  in  keiner  WeSe  mbinden 
weiss,  vermittlungstheoloK'isnie  Ver- 
tOAcbangen  verschuiäht,  nach  bestem 
Wissen  und  Gewissen  die  Wahrheit  an 
erforfsrhen  und  niojerne  Mensrhen  für 
üott  und  seine  grössteu  Roten  zu  g:e- 
winnen  sucht.  Auf  Dvrchfiilinini^  von 
Frage  und  Antwort  ist  verzichtet.  Oe- 
danken sind  reichlich  augegeben.  Die 
Kichtungsf ragen  solloi  am  S  hl  i  s 
rel<a|dtulier('nd  verwandt  werden.  Für 
die  Zui^iivnmeufasöuugeu  sind  nur  einige 
Proben  (gegeben.  Auf  Natur-  und 
Kultnrschilderungeu  ist  absichtlich  ver- 
sichtet, weil  gründliche  Schilderung 
vom  Wesentlicheu  abEitli- n  würde. 
Um  so  mehr  sollen  BrUckec  zum  Uegen- 
wartsleben  geschlagen  werden.  Dn 
auf  der  4.  Stufe  zusammengestellte 
religiös-sittliche  Mnterial  soll  memoriert 
und  bei  Luthers  Leben  im  8.  Schuljahr, 
wohin  allein  ihr  Katechismus  gehöre, 
Verwendung  Üudeu.  Ein  Stellen- 
ferzeichnis  und  ein  sehr  beachtenswerter 
Abschnitt  über  Verwendung  relieri<iser 
Dichtnngen  und  Bilder  sind  beigetilgt. 
—  Das  Buch  bietet  in  gedrängtester 
Kürze  die  exegetischen  Resnltate  der 
nenen  Theologie  und  stellt  mit  grossem 
Scharfsinn  die  Werte  heraus,  die  die 
Textworte  an  sich  und  fUr  unser  Urteil 
hahtt  (vgl.  Pietrasviston ,  Parabeln, 
Kreuzestod,  Stelluni;  der  Besitzlosen 
zu.  Jesu  Wort  an  den  reichen  Jungling, 
Bedentvngr  des  wiwiedtrbringricben 
Moments  bei  der  Salbung*  usw.i.  Ob 
freilich  jede  Erörterung,  die  diese 
Prlparationeii  fOr  diskutabel  erachten, 
vom» !  Tiilif^h  was  die  Vorgänge  nach 
Jesu  l  ocie  und  die  Berichte  darüber 
betrifft,  in  die  Tolksschttle  gehört,  das 
mochte  selbst  ein  moderner  Theologe 


bexweifeltt.  Mit  Sekundanern  and 
Primanern  mag  man  so  reden,  und  der 

Volksschulich ri  i-  m:^'^  die.se  Gedankiii 
nachdenken,  es  wird  ihm  für  «eine 
personliche  ubenengnnir  lohnen. 

In  lö.il7.  Auflage  (umgearbeitet  und 
Terbessert)  sind  auch  llr.  TL  Stendea 

P r ä p a r a t i 0 n e n  z u  d e n  b i b  1.  Ge- 
schichten des  Neuen  Testa- 
ments, betitelt  „Das  Leben  Jesu" 
en«'^r>Tii^ii  Presden.  Bleyl  tind 
Kaemmerer,  1B06.  260  S.  M.  3,  in 
Leinwand  gebonden  IL  SgOO. 

Verf.  will  die  biblische  Oesehiebts 

{5s\'r!inliiLM-.rli  wirken  lass<^n  nnd  so 
reiigiüs-Bittliche  Charaktere  anbahnen. 
Die  neue  Auflage  zeigt  in  methodisdier 
Hinsicht  Kürzung  der  Vorbereittingen, 
vor  allem  der  Associationen,  die  im 
Gesinnungsunterrieht  möglichst  be- 
scheiden sein  müssen.  Die  Einzel- 
systeme äiud  im  wesentlichen  bei- 
behalten; öfter  werden  mittels  mehieier 
Assoziationen  mehrere  Systeme  ge- 
wouueu.  Sachlich  sind'  zugefügt: 
Versuchung,  Gleichnisse  vom  Fischfang, 
Senfkorn,  Sau^teig.  Jesus  und  die 
Stinderin,  die  nahen  verwandten,  Jesu 
Leidensverkünditrung'.  Völlig  neu  sind 
18  Gleichnisse  nach  Jttlicher  bearbeitet, 
die  Bergpredigt,  der  Kampf  Jesu  mit 
den  Phansäem  und  das  Petni«bekennt- 
nis.  Dazu  kommen  starke  Um- 
arbeitungen unter  Verwertung  neuester 
wissenschaftlicher  Literatur.  Johannes- 
Stücke  sind  aus  Kückäicht  auf  die 
Lehrpläne  beibehalten.  Die  Stoffauswahl 
ist  dadurtb  bedingt,  da.ss  Verf.  nicht 
mehr  für  die  kulturhistorischen  Stufen, 
sondern  für  ein  zweimaliges  Durob- 
laufen  der  alt-  und  neutestamentlichen 
Stoffe  ist.  Die  Anordnung  des  die 
öffentliche  Wirksamkeit  .Tesn  betreffen- 
den Stoffs  sucht  aufsteigend  vom 
Ldchten  mm  Schweren  m  gewismr 
Abwechslang  von  Taten  und  R^deu  mit 
HUcksicht  avf  die  Verwandtschaft  der 
Stücke  ein  Bild  dee  Wirkens  Jean  an 
geben.  Denn  ein»'  nnnifeehtbare  chrono- 
logische Anordnung  aller  Stoffstücke 
erscheint  nach  den  Quellen  unmöglich. 
Sie  ist  Willkür  (Ii.  Der  pädagogische 
Zweck  drängt  zu  sachlicherGruppierung. 
Innere  Chronologie  wie  Wlderstana, 
Kampf,  Katastro^  sind  berilcksiohtigt 


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—   379  — 


—  Es  ist  inter»^««^)it.  St.M  Buch  nehen 
da»  Mcllzcrzi  zu  haltt^u ;  beide  Bücher 
wohl  die  emsthaftesten  päda^gischen 
Vertreter  zweier  verschiedener  An- 
schaunn^n:  bei  St.  Einwirkung  auf 
die  Stiiiiimiiii::.  l>€i  M.  auf  das  Urteil; 
beider  Zweck  derselbe:  religiös -aitt- 
Hebe  Charaktere  m  Inlden.  werichOne 
Ptri'iiicii  i^enie3?en  will,  mnss  zu  St. 
^reiieu,  wer  Klarheit  sucht,  mit  M. 
irbeiten,  ich  mdne,  gegen  Stimmangen 
geradezu  k?inipfen.  Es  scheint  mir  so 
mehr  sittliche  fiatschlosaeobeii  erreicht 
wa  werden,  doch  man  wird  reehten. 

Übers  Alte  Testaiiieiu  liegt  vor:  Der 
Prophetisrous  und  das  nach- 
exilische  Judentnnt  ^Hiob, 
Messianische  Hoffnung,  Jona,  ^lakka- 
bäerzfit.  IS.ilmen).  Präiianitidueu 
Ton  Prof.  Dr.  E.  Thriadorf  and 
Olierl.  1>r.  E.  Meltser.  2.  rmiff 
niiiiTfai  leitete  Auflagt'.  Drcsilen- 
Blasewitz,  Blejl  &  Kaemmerer,  1907. 
179  S.  mit  Stauen-  md  SaehregUter. 
Preis  geheftet  2,80  U.,  in  Leinwand 
gebunden  3,40  M. 

Der  Charakter  der  Umarbeitung 
äussert  sich  stmächst  in  Weglassnng 
der  Le.-etexte  welche  ja  besonders  er- 
schienen sina  fals  LesestQcke  zu 
den  orophetis«  heil  .Schriften  des  Ä.  T.s. 
Dresoen,  Bleyl  ä  Kaemmerer.  1904. 
Ausgabe  A  83  S.  0,.S5  M.,  geb.  0,50  M., 
ÄU8ic;ibe  H  02  S  0,20  M.).  Statt  deren 
sind  jetst  reiche  Sacherkl&nuigeu  im 
WortiAQt  beeter  KomneRtare  zugefügt 

—  wohl  der  t»<i(lent»'ii'lst«'  nt'wiim  der 
Kenbearbeitting.  Endlich  ist  die  Stufe 
der  Vertt^mg  als  des  Kernes  der 
methodi.«chen  Einheit  heraus^  utitr. 
Behandelt  ist  der  ProphetLiinii^  im 
engeren  Sinne  ausser  Hosea  und  Ezechiel ; 
nicht    zu   viele  Propheten,   ab«^i  die 

grüssten  anschaulich,  in  edlen  Bildern, 
ie  Historie  ist  nur  Mittel  mun  Zweck, 
religiiJs-.sitiliohL'  Charaktpro  zu  bilden. 
Übers  uachexilischy  Judeutum  sind  aus 
den  im  Titel  genannten  Schriften  und 
ans  Daniel  Stücke  bebandelt.  IHe 
traktierten  wenigen  Psalmen  sollen 
die  Stimmung  veranschaulichen,  nicht 
disponiert  werden.  Im  Ausdüoss  an 
die  Psalmen  bietet  M.  die  ürgeschidite 
gen.  1  ff   —  In  Wrrkr  kommen 

der  Lehrer  wie  Theoiug  eiueu  lun  so 
wertToUMOi  Ftthier  in  die  Handt  als 


die  Anlt^itini!?  7m  ziV]l»pwus8tein  Untcr- 
richtäveriahieii  md  ueiiiirh  wissenschaft- 
lich fundiert  wird.  Die  Auszüge  ans 
modernen  Kommentaren  werden  streb- 
same tieate  —  und  für  diese  nur  ist 
da.«?  Bach!  —  «•enidczn  zu  diesen  hin- 
führen. Sie  traA[en  dann  nicht  nur  die 
Frttchte  der  Wtssensehaft  in  breitere 
Schiclitrii.  .ii;i"iTn  aucli  den  Re.spekt 
vor  dereu  ra^tlo^em  Fluss.  Allerdings 
wM.  es  dem  Nicfatfachmann  Hirne 
machen,  mancherlei  Fachaiisdrüclce  zu 
verstehen,  aber  er  wird  sich  andrerseits 
bei  der  Lektüre  z.  B.  Jeremias,  des 
babylunischen  Propheten,  Daniels,  Hiobs 
und  der  Urgeschichte  reich  belohnt 
sehen.  Die  methodische  Ausgestaltan^ 
jedes  Themas  nach  den  Forderungen 
eines  psychologischen  l'uterrichta- 
verfahrens  erscheint  mir  nach  mehr- 
jähriger Prüfnng  bewanderongswttrdig. 
Das  Saehre^ister  ermOglieht  anch  un- 
schwer die  neuere  relitifious-wiäsenschaft- 
liche  Arbeit  im  Quer^hnitt  zn  schanen 
und  SB  eiimr  auideiiMii  Umwertung  der 
Begriffe  an  kommen. 

Die   Propheten.     Erlesene  Worte 

nii-'  ihren  Werken  von  Dr.  Friti 
Kosh,  Tübingen,  Verlag  von  J.  C. 
B.  Mohr  (Paul  Siebeck),  im\.  120  S. 
Geheftet  1,20  M.,  kartoniert  1,50  M. 

Verf.  geht  aus  von  dem  Gedanken, 
dass  wir  bez.  des  Wortes  Gottes  viel- 
fach Literaturgeschichte  ohne  I.itenitur 
treiben,  dass  der  edle  Schate  wohl- 
geborgen., im  kostbaren  Sehrein  vmt 
Luthers  i'herHetzuntr  mht  oder  kllust- 
lich  gefasst  in  gelehrten  Schriften 
glänst.  Das  Bneh  Termittelt  eine  Ans- 
wah!  der  poetischen  biblischen  Literatur 
nach  modernua  ,.  wiüscnächaftÜchen 
Kommentaren  und  Übersetzungen  (Ber- 
tholet. Duhm,  Kautzsch.  Marti,  Nowack, 
Reusa;  neben  Eigenem  für  religiös  inter- 
essierte Kreise.  M.  £.  hält  sich  Verf. 
zu  eng  an  die  äusserliche  Folj^e  der 
Bibel  und  versagt  sich  so  die  Wirkung 
des  inneren  historischen  Zusammenhangs. 
Diesen  festgestellt  sn  haben,  ist  a^r 
der  Vorzug  der  Moderne.  Man  wird 
Meitzers  und  Spanuth.s  ähnliche  Ver- 
suche gegen  das  Buch  halten  müssen, 
um  mieh  sn  Terstehen. 

Die    Geschichte    Israels  von 
Moses  bis  Bliat  (1.  Heft  au 


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—   $9o  — 


Religionsunterricht  auf  der  Mittel- 
stufe der  Vnlksscbnle  und  in  den 
rnt<!rkliissen  ln'-luTtT  S  lin.  ii  von 
Prof.  Thründorf  und  Dr.  Melticer.) 
2.  verl  eeserte  und  vermehrte  Anflag-e, 
liearbeit't  von  K.  Beyer.  I'rHsdon. 
Verlag  von  Bhyl  &.  Kaemmerc-r,  1906. 
141  S.  Gtbeftet  8/5  M.,  in  Lein- 
wand gebunden  8,75  H. 

Die  neue  Auflage  zei^^t  die  Ver- 
tiefung in  neuer  FaMung.  Die  Ant- 
worten auf  die  Fragen  sind  als  Zu- 
sannnentas.sun^  im  Znsainiiit'nhaiijLr 
geben.  Auf  die  Einxelfra^en  ist  nicht 
▼erslelitet,  weil  ibre  Formnliening 
Mt  ri  1  lieii  Anfaiiß-ern  i)ii  Lehramt 
üitneu  soll,  um  das  alte  Dozier-  und 
Einpenkvermhren  tn  beeeitigfen.  Anfe 
Kulturgeflcbichtlicbe  ist  absif  htHch  ver- 
siebtet. Umfassender  hkiz^iert  ist  die 
Josua-  und  Richterzeit.  Neu  hinzu- 
gefügt ist  der  Sieg  Uber  Amalek ,  die 
Siedelung  im  Ostjurdanlande,  .lu^ua  als 
Volksffibrer.  Eroberung  von  Jericho, 
Ai,  Erei^isse  um  Gibeon.  Debora  und 
Jephta  sind  auch  methodisch  bearbeitet. 
Die  historisch- kritischen  Anmerkungen 
über  den  Quellenwert  sind  für  den 
Lehrer.  Du  Bncb  ist  fem  davon,  am 
alt  testamentlichen  Geschichten  Wichtig- 
keiten des  (ilanbens  zu  machen,  betont 
die  historische  WahrscheinHelikrit  nnd 
hebt  vor  a!lcm  die  sittlichen  H  rossen 
hervor,  besunden«  Moses  und  die  Kichter, 
Ton  denen  gewötinlich  der  wertloseste, 
Simson,  in  den  HistoriciibtUliem  die 
gröbste  Rolle  spielt.  Die  neue  Auflage 
scheint  mir  allerdings  in  der  Aosfflbrung 
dieser  Zeit  zu  weit  zu  gehen.  Sonst 
ist  der  Geist  des  Buches  der  alte. 

Biblische  Geschichten  für  die 
Mittel-  and  Oberstufe,  b«- 
arbeitet  Ton  Prof«  Klein.  .Mit 
Bildern  von  Schnorr  v.  Carolsfeld, 
Gebetsammlung,  Bibelkunde,  Kirchen- 
jniir,  Geographie  Palästinas  usw. 
5.  verb.  Aufl.  bei  Emil  Roth  in 
Glessen,  1ÜÜ6.  300  S.  Bro.whiert 
1,60  H.,  geb.  2,60  M. 

Das  Biii'li  ist  auch  für  ilie  rntcr- 
klassen  höherer  Lehranstalten  bestimmt. 
Der  Text  soll  der  Passmigsltraft  der 
Schüler  ent.iprf<  lu  n.  daher  ist  das  Bibel- 
wort da  geändert,  wo  schwierige 
Konstraktion  oder  vendteter  Art  Die 


Überschriften  deuten  klar  den  Gesamt- 
inhalt an.  Einzeluberschriften  sind 
fortgelassen.  Vermittelnde  Übergänge 
sollen  eine  zusammenhängende  Ge- 
schichte des  Reiche«  Gottes  herstellen. 
Wfirt-  und  Sacherk'.annig^en  in  Fiiss- 
noteu.  —  Das  Buch  bewegt  sich  vjUlig 
In  den  Babnen  de«  HerkAnmliehen. 
Die  in^ >ere  .\uordntiiic:  der  Bibel  und 
der  Lehrplan  bestimmen  die  Geschichte 
des  Bdehes  Gottes.  Immerhin  haben 
die  Erzählungen  kindliche  .\rt  nnd 
geben  im  beigefügten  Sjinieiuaaterial 
eine  ernste  Ans  wähl.  —  Vom  Verf.  liegt 
auch  ein  Bändchen :  Biblische  ft  e  - 
schichten  für  die  ersten  Schul- 
jahre (mit  48  Bildern  von  Schnorr) 
nnd  einem  Anhang.  4.  Anfl.  1904, 
Giessen,  liruüchiert  ÖO  l'i..  in  Schul- 
Itand  60  Pf.  vor.  Eigenartig  berührt 
nach  der  Lektion  Stmieles  des  Vexf. 
Aussprach:  Der  Lehrstoff  Ist  nicht  aaf 
die  einzelnen  Schnljalire  verteilt:  dies 
ist  das  Recht  der  KirchenbebÜrde  (I).  — 
Bein  eck  e  s  biblisdie  Geschiditen  nr  die 
Unterstufe,  neubearbeitet  von  Gaden. 
7.  Aufl.,  brosch.  mit  Bildern  36  Pf. 
Hannover- List ,  1906.  Verlag  von 
C.  Meyer  (Prior)  sind  knapp  graiegen, 
sparsam  in  Spruch  nnd  Lied. 

0.  Krapf,  Materialien  für  den 
genetischen  Religiuub  Unter- 
richt ist  ein  „Beitrag  zum  Aufbau 
des  Religionsunterrichts  nach  den 
Anfordeningen  der  modernen  Pftda- 
gocrik",  Dresden,  Bleyl  &  Koemraerer, 
1U06.  Bd.  1  IBö  S.,  Bd.  2  löl  S. 
Preis  jeden  Bandes  8,85  M.,  geh. 
2,75  JL 

PI.  1  bandelt  vorn  Ursprnnc:  der 
( hristliclien  Religion  und  deren  ^uelle, 
von  roateriaiistiscber  und  pantheistischer 
Weltanschauung.  V-ii.  2  «ribt  die  Entr 
wickiung  der  Glaubenslehren  der  christ- 
lichen Kirche.  Verf.  geht  vom  Natur- 
erlebni«?  auf.  Die«  erzeugt  das  Gefühl, 
vom  Fühlen  ,  strebt  der  Mensch  znm 
Erkennen.  Über  die  Quelle  der  christ- 
lichen Religion,  die  Bibel,  iribt  Verf. 
keine  ennfloende  TnhBlt8ani.'abe,  «ondern 
führt  in  dii.s  Vcr.-^tändnis  der  bibli'^chen 
Bücher  aus  den  zur  Zeit  der  Abfassung 
herrsehenden  Oedanken  ein.  Die  knrse 
Geschichte  des  Pantheismus  nnd 
Materialismus  soll  befähigen  die 
Dognenentwiddang  m  Torstentn.  Jeder 


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-    38i  - 


Glaubenssatz  wird  biblisch  nliiri  l^irpt 
und  miue  Entwicklung  nicht  uur  bit» 
zar  Conciliarfixierung  verfolgt,  tondeni 
auch  sein  Spiegelbild  im  Geiste  sp&terer 
Wissenschaftler  nnd  Denker  entworfen. 
Die  geaelnchtlicbe  Betrachtung  soll  zn 
einer  frerephti  ii  iienrteilung  der  Bibel 
und   (ilauben;<t^iit2e    fübren    und  die 
Toleranz   fbrdem,    Katechismus  und 
Kirchenipeachichte  verbinden.  Kritische 
Resultate    sollen   mit  pädagogischem 
Takt  Verwenduni;  finden.  —  Das  Buch 
ist  eine  organische  VerarbeitiuijK  tod 
LeMfrttchteo    «xegetnober,  lareheii- 
li:  toriscber,  doirmatiscber ,  philosophi- 
scher Literatur,  darum  an  und  fär  sich 
anregend.    Seine  prakttache  Verwend- 
barkeit im  Unterricht  diiireg^en  erscheint 
mir  i^oblem.  £a  wird  schwer  halten, 
diMe  Qedankeii  jiigeiidlieheii  Geistern 
so  nahe  zn  bringen,  dass  der  grcnet  Ische 
Prozess  erfasst  wird.    Wenn  Verf.  sagt: 
Bei    biographischer  Behandlung  der 
Kirchengeachichte  erscheinen  die  Tat- 
sachen sporadisch,  hier  im  Zusammen- 
hang,   so   unttrschätzt   er  stark  den 
Wert  der  Biographie  ittr  jugendliche 
Geister  und  «Tie  Kaii«aHtftt  der  Oe« 
schichte.    Das  systeniati-  Ije  Interesse 
des  Verf.  teilt  die  Jugend  nicht  Ein 
Svstem  flberschant  sie  nicht.  Von  der 
^irchengesohiehte  ab«;r  erhSlt  sie  so 
nur  verworrene  .\u8schuitte.    Also  er- 
scheint mir  der  Verlust  gfOner  als  der 
Gewinn.    Des  Verf.  Überzeugung,  daas 
viele  Elemente  der  christlichen  Keiigiou 
zu    den  unvergänglichen  Idealen  der 
Blensehheit  gehören,  und  die  Einsicht 
iu     die    letzten    Konsequenzen  des 
Materialismus  dem  Christentum  nicht 
gefttlirlich  ist,  teilen  wir,  aber  nicht, 
dam    die  Historie   den  Erweis  der 
Katechismuswahrheiten  bringen  müsse. 
Der    Kateehismns    ist    selbet  eine 
Ustorisclie  Einieihdt.    Lnthera  Er' 
.Uftnmgf'n,    wie   sein  Name  venleut- 
Uefaea,  dass  üein  Wert  praktisch-religiös 
ist.   Br  gehört  in  die  Konlirmanden- 
stunde;    wir    in    der    Sehule  wollen 
Historie  treiben;  die  Systematinierun^ 
religiöser    Vorstellungen    in  i^rossen 
Personlichkeit<»n  zeigen.    Hei  <1p>*  Verf. 
Arbeiten      werden     diese  Einheiten 
gerade    aufgelöst.    —  Trotz  dieses 
prinzipieUen  Gegensatzes  empfehle  ich 
dfts  Bach  dem  Lehrer  zur  Vorarbeit. 
Br   wird   dftnuii   auf  jeden  IUI 


lernen,  und  i'^b  fnrchte  ntcbtt  daSS  er 
danach  nnterrichteu  wird. 

Bfchard  Kablseii,  Relii^ionsbueh 
fttr  evangelisclie  Lehrer-  and 
LebrerinnenseminareiindPrft- 

pnrandenanstal  tcn.  I.  Teil: 
Lehrbuch  des  Unterrichts  im  A.  T. 
4.  verb.  Anfl.  1906.  1.  Abt.  Bibl. 
Geschichte  If^s  A.  T.,  geb.  l.GO  M. 
2.  Abt.  Bibel knnde  de«  A.  T.,  geb. 
1,40  M.  II.  Teil:  Neues  Testament. 
4.  verb.  Aufl.,  1907,  geb.  3  M. 
III.  Teil:  Christliche  Glaubens-  und 
Sittenlehre.  8.  Aull  1906.  Geb. 
2;ä)  M. 

Schieies  Forderung,  dass  der  künftige 
Lehrer  mit  den  Ergebnissen  der  ueneren 
theologischen  Wissenschaft  bekannt  ^^e- 
macht   werde,    wir!  vou  K.  erfüllt. 
Schon  die  Stoffanswahi  und  Anordnung 
der  Bibl.  Geschichte  A.  T.s  und  der 
Bibelkunde  zeigen  durchweg  moderne 
Gesichtspunkte.  Die  biblische  Geschichte 
entwirft    zuniit'hst    ein  (iesL'hicbt.sbild 
ohne  fiücksicht  auf  die  Einleitungs- 
wissensdmft  nnA  Überwiegend  religiSe- 
sittlichen  Gesichtspunkten.    Es  soll  das 
religiös-sittliche  Wachstum,  das  nach 
VolUtomnienheit  verlangt,  veransehan- 
liehen.    Die  Ribelkunde  bringt  über  die 
Entwicklung  der  ii>nielitischen  Literatur 
und  Religion  Klarheit.   Die  Beligions- 
wis.senschaft   ist   hier   in   einer  dem 
Seminar  angemessenen  Form  geboten. 
Kritik  ist  zu  vermeiden.  Nicht  wissen» 
schaftlich  Interessantes,  sondern  religiös 
Fruchtbares  muss  entscheitleu.  Doch 
soll  der  Schüler  alles  nachprüfen  können, 
nichts  mechanisch  lernen  (rgL  hierxa 
s.  B.  die  Einftihmng  in  den  Pentateneb. 
Resonderen  Wert  le^t  V.-rf.  auf  die 
Bichterzeit  als  verbindendes  Glied  in 
der  SellMtoffeiibarang  Gottes.  Die  sitt- 
lichen Schwächen   einzelner  Personen 
sind  nicht  vertuscht.   Die  Urgeschichte 
der  Genesis  soll  möglichst  spät  traktiert 
werden,  wenn  der  junjje  Mann  Einblicke 
in  äicb  selbst  tut.   Beide  Abteilungen 
des  1.  Teils  bilden  eine  Einheit,  sind 
nebeneinander  zn  benutzen.  —  .\nch 
im  II.  Teil,  N.  T.,  spürt  man  Uberall 
moderne  Luft,  z.  B.  wenn  der  Kanon 
als  Ergebnis  kirchlicher  Kämpfe,  die 
synoptische  und  johanneische  Frage, 
die  politische  imd  gdstife  Lage  Israils 


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—   382  — 


ZOT  Zeit  Jesn  l<oliaii«lelt  worden;  dcserl. 
im  Anfbau  des  Wirkens  Jena,  das  nach 
Müglicbkeit  pra^ariscb  geordnet  ist, 
in  der  Beurteihiiij-  vnn  Wundern  nna 
Gleichnissen.  Taktvullu  Zurückhaltung 
wahrt  K.  dagegen  gegwllber  modern 
mssenscbaftlicben  Auffassun^n  in  den 
Abschnitten  ttber  Tod  und  Auferstehnng, 
Die  Brieflitaratnr  ist  mit  den  Reisen 
Pauli  organisch  verwoben.  —  Über  die 
Glaubendehre,  die  die  gemttt-  und 
wUlenbildende  Kraft  iler  christlichen 
GlaubensTonteUungeu  lebendig  za 
machen  sneht,  häbe  ieh  mieh  «elion 
frtlher  zustimmend  gcänssert.  In  der 
2.  Auflage  sind  wesentliche  Wrände- 
rangea  ▼orKvnommen  in  den  Kn}jiteln 
von  Erhsttnde,  GotthHt  Christi  und 
Versöhnung.  Geändert  bat  Verf.  seine 
Ansicht  von  der  Erbettnde,  ausserdem 
befleissigt  er  «sich  noch  objektiverer 
Haltung  a's  sclion  hisher. 

In  einer  kleinen  Schrift  bebandelt  der- 
selbe Verfasser  Das  Gewissen, 

«■■■inf'n  T'rspmnCT  nn<\  .-■•"im'  Pfl.ege. 
Güttingen,  Vandenüoeck  &  Kupre(£t, 
1906.  66  S.  1  M. 

Hier  beschäftigt  ihn  di«  Frage,  ob 

«in-^  (iewissen  uucn  lUitresicht.s  neuerer 
Niiturwisseu-schaft  und  Seelenknnde  als 
Gottesstinnne  festgehalten  werden  könne. 
Er  kommt  durch  psrcbologische,  histo- 
rische und  andere  Üntersnchungcn  zn 
positivem  Besidtat« 

Gemeinsame  Schule  für  beide 

(4 c  f  h  !  e  <- h  1 r  wünscht  Schulrat 
K.  iiützHcta.  DreHÜfu,  .\lwin  Hnhle. 
180B.  ms.  60  Pf. 

Er  scbliesst  aus  der  Kulturgeschichte 
auf  eine  merkliche  Hebunpr  der  Stellung 
der  Frau,  deren  ersiehlicher  Einflnas 
wachsen  mUsse.  nenieinsanie  Er/it^hung 
beider  Geschlechter  wirke  Charakter» 
festiocnd  auf  die  Ämben,  sittigend  auf 
die  Mädchen.  Praktische  Erfahrungen 
in  Amerika,  SchwedtiQ,  Mannheim, 
Winterthur  bestätigen  diese  Annahme. 
Auf  Grund  reicher  literarischer  Vor- 
arbeit stellt  Verf.  Stimmen  zusammen, 
welche  den  heilsiimen  Einfluss  solcher 
»Ziehung  auf  die  ijnnze  Nation  be- 
kraüigen.  Einzelne  Mädchen  zu 
höheren  Schulen  zuzulassen,  erldirt 
Verf.  nor  für  einen  Notbehelf. 

Zwickau  i.S.      Job.  Lfitzsch. 


H.  Spanuth,  Präparationen  für 
den  evangelischen  Religions- 
unter  riebt.  1.  Teil:  Unterstufe. 
Osterwieck/Har«,  A.  W.  Ziokfeldt» 

1907.    190  S. 

Diese  Prftparationen  bilden  den 
12.  Band  des  von  K.  0.  Beets  imd 

Ad.  Rüde  heransi,'egehenen  „Bücher- 
schätz  des  Lehrer»"  und  stehen  im 
engen  Anaetduss  an  die  nun  schon  in 
"i    Aiiflage  erschienene  Methodik  de«? 

geiiamten  Vulkä^chulunterricbt«  von  Ad. 
»de.  Durch  diese  neue  Arbeit,  weloher 
noch  3  weitere  Bände  mit  Präparationen 
für  die  Mittel-  und  Oberstufe  folgen 
werden,  sollen  die  in  der  genannten 
Methodik  niedergelegten  Grundsätze 
unterrichtlich  verwirklicht  und  in  die 
Praxis  uinge.setzt  werden,    l'er  Verf. 

Steht  auf  demselben  Standpunkt«,  wie 
die  rnhmlieh  bcdtanntett  Auto  ren  Tnrto- 

ilorf  und  Meitzer,  Renkauf  und  Heyn. 
Diese  Präparationen  weichen  also  von 
dem  noeh  weite  pädagogisebe  Kreise 

>i  > '  h  I  T'-s  c  h  en  d  en  1 '  n  t  e  rri  c  h  t  .s  verfahren 
wesentlich  und  iranz  hedeutend  ab. 

Gemeiuiiin  hält  mau  die  Über- 
eignung der  geforderten  religionskund- 
licben  Kenntnisse  und  die  Ausbildung 
der  Fertijrkeit,  über  dieselben  in 
Hiessender  Eedt-  Rechenschaft  j^-eben  zu 
können,  für  die  Uauptanfgabe  des 
Religionsontenicbts.  Ein  derartig 
Denkender  dürfte  in  der  Spanuthschen 
Arbeit  nicht  finden,  was  er  sucht.  Wer 
dagegfen  mit  seinem  Unterricht  tiefer 
crraben .  sich  mit  dem  Verständnis  d^ 
äusseren  Heriranires  nicht  begnügen, 
sondern  auch  die  im  Untergründe 
liegenden  sittlichen  Verhältnisse  auf- 
decken wiW,  wer  bestrebt  ist,  lebhafte 
ethische  Gefühle  und  intensive  Wert- 
schätzuns^n  damit  hervorzurufen,  das 
Mitgefühl  im  Schlllerherzen  mächtig 
anzuregen  und  das  sittliche  Interesse 
zu  verstftrken,  der  wird  diese  Arbeit 
bald  liebgewiimen. 

Es  trifft  sieh  gflnsti^,  daas  ieb  seit 

3  Monaten  den  P"lii.'innsnnterrirht 
auch  für  die  Unterstufe  wieder  erteile. 
Die  für  das  2.  Schuljahr  von  mir  ge- 
troffene Answald  der  ErzShlnnjren 
stimmt  mit  der  vorliegenden  fa.«t  genau 
überein.  Ebenso  wende  auch  it  h  ,  wie 
Spanutb  durchweg  daa  darstellende 
Verfahren  an. 


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—   3S3  - 


Btim  genauen  Dnrcbgrehen  der 
ehiKlnen  Präparationen,  die  in  konse- 
quenter Gliedemng  anfgebant  sind, 
erkennt  man  sofort  die  Umsicht  des 
Jnuidiffen  Pädagogen,  sowie  den  Fleisa 
vaA  aie  Sorgfalt  des  Seliriftstdlen. 
Offen  bekenne  ich,  dass  selbst  ein  alter 
Tielerfahrener  Lehrer  aus  ihnen  noch 
leneD  kann.  Beaonden  erwlhnt  m 
werden  Terdient,  wie  sich  Verfasser, 
naraeutlioh  in  der  Vertiefung,  grosse 
Müll  -ibt,  das  eigene  ethische  Urteil, 
das  in  kleinen  Schfilpm  hiUifiü'  ?anz 
aasbleibt,  bestimmt  unci  wirkungsvoll 
henrorzumfen.  Wo  dieses  Urteil  aus 
der  Seele  des  Kleinen  nicht  selbsttätig 
hervorspringt,  wo  es  nnr  nachgesprochen 
wird,  übt  es  gar  keinen  Einflnss  auf 
das  Kind  ans,  bleibt  es  etwas  Fremdes. 
Angeklebte«  unä  wird  nie  ein  Teil 
seines  eigenen  Empfindens  nnd  Denkens. 

Solche  Urteile  kOnnen  aber  nur  ge- 
fiQlt  werden,  wenn  die  Terg^brten 
Handlungen  und  Willensverliältniüse 
einfach  genug  sind,  um  dem  kindlichen 
Verstän&u  den  sittlichen  Gehalt  nahe 
zu  bringen,  wenn  die  Personen  ausser- 
dem das  kindliche  Interesse  ganz  in 
Amproeh  nehneo,  weil  nur  unter  dieser 
Voranssetznng  dem  Urteile  die  nn- 
enibebxlichü  Wärme  und  Kraft  zuströmt. 

Aus  diesem  Grunde  halte  ich  die 
biblischen  Erzählungen  fQrs  1.  Schul- 
jahr selbst  in  der  Spanuthschen  Be- 
arbeitung noch  beute  wie  vur  25  Jahren 
sur  Bejg^ündung  des  sittlichen  Urteils 
für  ffo  sdiww,  ei  wftre  denn,  daas  den- 
i«  IV  n  ein  propädeutischer  Kursus,  dem 
etbistbe  M&rcnen  zu  Grande  liegen, 
leraniMadiickt  wi\rde.  Die  nenerdings 
gemachten  Beobachtungen  haben  mich 
m  dieaer  Anschauung  aufs  neue  be- 
stärkt 

Meistens  hat  man  keine  Ahnung 
davon,  wie  unklar,  mangelhaft  und  zu- 
sammenhangslos der  VorstellungskreiB 
der  Sechsjährigen  ist:  in  ihm  fehlt  — 
abgesehen  von  den  Yorstellangen ,  die 


das  körperliche  Wohl  snm  Gegenstande 
haben  —  jede  Ordnung  und  Zusammen- 
halt. Das  hat  zur  Folge,  dass  dieses 
Material  zu  neuen  A|iperzeptionen  wenig 
ffeeignet  iat,  und  die  andere  Wirkung, 
daas  die  Kleinen  idnen  rasatttten^ 
hiinc;:enden  Erzählen  nur  schwer,  oft 

Sir  nicht  folgen  können.  Greift  die 
raShlnng  dagegen  mitten  hindn  ins 
Kindeslel^n  und  seinen  Ideenkreis,  wie 
dies  in  dem  Märchen  „Frau  Holle"  mit 
der  Schilderung  des  fleissigen  nnd  des 
faulen  Mädtb'^Tis  q^esi  hiebt,  so  ist  sofort 
das  Interesi^f  wach,  sittliche  GcfUhle 
nnd  Beurteilung  entstehen  und  die  .Auf- 
merksamkeit hält  eine  ganze  "Weile  an. 
So  gün.**tig  lieiTcn  die  Verbältni.sse  bei 
den  oibli.schen  Erziihluni?en  nicht,  selbst 
solche  wie:  Joseph  und  seine  Brüder, 
Joseph  wird  verkanft  usw.  nicht  aus- 
genommen. Er.stens  haben  die  mei.sten 
kleinen  SchtUer  keine  lebendige  Vor> 
•teUnngr  ▼om  Httra  nnd  Weiden  der 
Schafe  und  vom  Hirtenleben;  anderseits 
liegten  ihnen  auch  die  Empfindungen 
und  Willensverhältnisse  der  17-  und 
mehrjährigen  Brüder  noch  zu  fem,  als 
dass  8ie  sich  mit  der  wiinüchenswerten 
Dentliehkeit  in  deren  Seelenvorgänge 
versetzen  nnd  sie  hinreichend  verstehen 
könnten.  Ans  die..sum  üninde  bleibt 
die  lebhafte  .\nteilnahme  und  die  er- 
forderte sittliche  Vertiefung  und  Er- 
regung bei  den  meisten  aus  und  die 
Erzählung  erweist  dem  Seelenleben, 
namentlich  der  Begründongdes  sitt- 
lichen Urteils  nnd  aneh  des  rnftgefühls, 
bei  weitem  nicht  die  Dif  r.str  v-ir-  .-im 
der  von  Ziller  verwenUeteu  Märchen. 

Zum  Sehlnss  noch  eine  Bemerkung:. 
Nicht  alles,  wa.s  Spanuth  in  geinen 
trefflichen  Präparatiunen  bietet,  kann 
unterrichllieb  verwertet  werden.  Auch 
auf  der  Stufe  der  Vertiefung  mnss  mit 
BUcksicht  auf  den  winzigen  Bewnsst- 
aeinsraum  der  Kleinen  ntanchea  weg* 
gelassen  werden. 

Ologau.  H.  Grabs. 


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—   384  - 


Eingegangene  Bfteher* 

(Beqnedunc  voAebalten.) 

Selmldkmz,  Or.  N.,  ßtUeitwiir  i»  dk  alcademttche  PSdafogik.   IfaUe  «.S.  1907. 

Waisenhaus.    IV.  3  M. 
Scholz,  E.,  Professur  Dr.  \V.  Kein.    Eine  kurz^classtc  Darstellung  UDtl  Würdigung  seines 

Lebens  und  Strebens.    Berlin  1907,  Gerdes  &  Hödel.    Pr.  geb.  1,50  M. 
LitlOliay,   Mich.,   Lehr-   unil  Stundenplan   für   l.Ändlichc  FortbUdungsscholeo.  StiaS»> 

Durg  1907,  Strassburgcr  Druckerei  und  VcrlaysaiVitall.    Pr.  50  PC 
NritlNUl,  RiiOlf»   Lchrplaa  «od  Pensenverteilung   für  eine  einklasrige  Vollcnchnle. 

2.  verm.  Aufl.    Hannover  1907,  C.  Meyer.    Pr.  geh.  3  M. 
Gehrig,  A.,  Block  zu  Entwürfen  und  Beurteilungen  von  Lehrproben.    5.  und  6.  Aufl. 

Ebenda,     l'r.  70  Pf. 

ÜRtlaollke,  W.,  Die  B«deutttiig,  Einrichtung  und  FUhrang  von  bchttlerehanUrtcristikcn 

(Personalbogen).    Brcsbtt  I907,  Priebat.   Fr.  40  Pf. 
8inidt  Prof.  Mm  Technik  und  Scbnie.    i.  Bd.   3.  Heft.   Leipng  1907»     G.  Tcobncr. 

?r.  geh.  1,60  äl. 

Butler,  Dr.  N.  M.,  Scbolbildiiiig  in  den  Veidnigten  Staaten.   Minden  i.  W.,  Mannrdcjr. 

Pr.  0,60  M. 

TsmininQ,  Dr.  E.,  Wie  erzieht  und  bildet  die  höhere  Mädchenschule  unsere  Töchter? 
Ebenda.    Pr.  0.80  M. 

PiidlfOgiSOhe  Abhandlungen.  Herausgegeben  von  r.  R.id<-m.ichcr.  Ncur:  Fol;;«*. 
II.  Bd.,  Heft  z  und  6;  12.  Bd.,  Heft  3—5  und  10 ;  13.  Bd.,  II.  Ii  i.  liielcfeld, 
A.  Ilclmich.  Pr.  40 — 60  Pf.:  Schult/,  A..  Der  deutsche  Schulmann  in 
Spiegel  der  vatcrländisclu-n  Literatur  des  \VI.  und  XVII.  Jahrhunderts.  — 
Leipacher.  K.  O..  Die  Lehrfreiheit  der  Volkischulklircj.  —  Kiel,  A.,  Wdche 
Aufgaben  stellt  die  Einheitlichkeit  des  Unterrichtsverfahrens  dem  Leiter  diicr  Ldv^ 
anstait  etc.  —  Schultz»  A.,  Die  fianxösiicbe  Volksschule.  —  Schwarz.  C« 
Inwiefern  ist  Eberhardt  v.  Rochow  von  den  Phtlantropcn  abhängig.  —  Ban* 
bi-rj;.  Fr.,  Die  Gefahren  der  Verausserlichunfj  der  Schularbeit  etc.  —  Weit, 
Anton,  Uno  Cygnaens,  der  Vater  der  ünoläadiscbcn  Volksschuie. 

Heft  91,  94—96  und  99.  Ö>cnda.  Pr.  40  Pf.:  Heitinann,  A.,  Mimtinimungen  im 
Lchrerv-en  inslrben.  —  Schen!^,  A.,  Die  Fürsorge  für  die  aus  der  Hilfsschale 
entlassenen  Kinder  etc.  —  Drcwke,  U.,  Die  Lehrerinnenfrage.  —  Bach,  W,  K., 
Über  die  Bdiaadlung  des  Sexuellen  in  der  Schule.  —  Derselbe,  Unsere  Kolonien 

im  Schulunterricht. 

DiO  hShsrfi  MädchenbiidUflg.    Vortrage  ^'ehulten  .luf  dem  Kongress  7U  K^m:!  am  II. 

und   12.  Oktober   1907  von  Helene  L  uijje .   I'.uila  Schicidimann ,  Lina  Hilgcr, 

Lydia  Stöcker,  Julie  v.  Kästner,  Marianne  Welver.  Dr.  Gertrud  Bftnmer,  Marie 

Äuurtin.    Leipzig  1907.  D.  G.  Teubocr.    Pr.  geh.  1,80  .M. 
üetaf  Cirl,  Methodik  des  Gescbiebtsnnleincfats.   Halle  a.  d.  S.,  H.  Sdiracdd.  Pkcb 

peh.  2,50  M. 

Niemann,  G.,  U.  Wurthe,  W.,  l'räparationen  dir  den  naturgeschiehtlichen  Unterricht. 

l    I    I     Osterwieck  1907,  A.  W.  Zickfeldt.    Pr.  geb.  5,40  M. 
Soherer,  H.,  Fuhrer  durch  die  Strömungen  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  und  ihrer 

HiHswissensehaften.   4.  Heft :  Geschichtsunterricht  Leipzig  190$,  E.  Wunderlich. 

Pr.  ii'-h.  2,40  M. 

Seyfert,   Dr.  R.t  ^i*:  Ausbildung  für  den  ForlbUduags-  und  GcwcrbeschuldiensU 

Leipzig  1908,  E.  Wunderlich.  Pr.  80  Pf. 
Denwlbe,  Der  gesamte  Lehrstoff  des  natttifcundBchen  UnterrichU.    4.  Term.  Adl. 

Ebenda.    Pr.  geb.  3,60  M. 
Metobeta,  R.,  Morphologie,  Biolocie,  Systematik.   Leipcig.  Siegisnnnd  VoUBesmg. 

Pr.  60  !"f 

UtOhnewska,  Marie,  Die  geschlechtliche  Belehrung  der  Kinder.  Zur  Geschichte  und 
Methodik  des  Gedankens.  4,  Aull.  Frankfurt  a.M.,  SauerlSnder.  Pr.  70  Pt 


Dniek  von  A.  Biets  A  Mm  In  Vaumbuif  a.  8. 


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A*  Aliluuiilliiiig0iu 
1. 

Korpsgeist 

Zur  BÜuk  in  der  Sdraktube. 
Vtjn  Dr.  L  Grimm  in  ELterbcrg. 

Zwei  Strömunj^en  sind  es.  dir  immer  neue  Gestaltungen  hrr\-or- 
rufen  auf  dem  ürcbiet  der  Sittlichkeit.  Aus  der  kräftigen  W  urzel 
des  Ich  treiben  ^oistische  Forderungen;  die  organische  Ver- 
bindung mit  Stamm  und  verwandtschaftlichen  Verzweigungen  lässt 
Gemeinschaftsinteressen  von  nicht  geringerer  Stärke  entstehen. 
Naturvölker  zeif^en  allenthalben  besonders  starkes  Familien-,  Blut- 
brüderschafts-, Stammesgefühl.  Und  wenn  wir  vom  Überhand- 
nehmen egoistischer  Triebe  in  der  kultivierten  Gesellschaft  reden, 
so  deutet  das  bloss  auf  einen  unnatürlichen  Zustand  hin,  wie  er 
auch  in  anderer  Hinsicht  eintritt  im  Gefolge  einer  überschraubten, 
einseitigen  Kulturentwickiung.  Bei  der  weit  vorcj^eschrittenen 
Arbeitsteilung,  der  räumlichen  Entferniini^  der  Tätif^keitsstätten  von 
Vater,  Mutter  und  Kindern,  wird  die  Interessengemeinschaft 
zwischen  Mann  und  Weib,  Eltern  und  Kindern  immer  mehr  ge* 
lockert  oder  beschränkt  Beim  Fortschritt  wirtschaftlicher  Ent- 
wicklung, der  Verbreiterung  einer  gewissen  Wohlstandsslufe  leidet 
doch  nicht  selten  die  Familienkultur.  Dann  finden  die  sympathe- 
tisclien  Gefühle  nicht  mehr  zureichende  Pflege. 

Wo  die  günstigen  Einflüsse  des  Elternhauses  schwächer  werden, 
pflegt  die  Schule  an  der  Ausfüllung  entstehender  Lücken  zu  arbeiten* 
Ninunt  Familiensinn  und  Gemeingeist  in  den  Kreisen  ab,  daraus  die 
Schüler  kommen ,  so  dürfte  die  Schule  Ursache  haben ,  auf  Pflege 
der  Gemeinschattügefuhle  verstärkten  Nachdruck  zu  legen.  Es  wird 
das  —  mit  dem  Wachsen  der  zu  Gemeinsinn  planmässig  erzogenen 
Jugend  —  von  Segen  sein  auch  für  die  öffentliche  Morsd. 

Haben  die  Schulkinder  noch  nicht  das  Gefühl,  von  einem  festen 
^  ijande  mit  anderen  umschlungen  zu  sein,    so   muss  ihnen  klar 

PUIa«(^iache  Stodieo.  XXUL  6.  25 


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—   386  — 


gemacht  werden,  dass  sie  als  Angehörige  einer  Klasse  zusammen- 
gehören, dass  eine  vielfaltige  Interessengemeinschaft  sie  verbindet 

Dieser  Erkenntnis  and  schon  die  Kleinen  zugänglich.  Als  Schul- 
kinder besitzen  sie  einen  Vorzug  vor  jünf^ercn  Geschwistern.  Etwas 
vom  Krnst  des  Lebens  liegt  über  dein  Schulhaus  und  dem  Schul- 
gerät. Soll  die  Unterweisung  des  Lehrers  luei  einsetzen,  vielleicht 
auf  die  Gefahr,  dass  Hochmut  und  Dfinkel  grossgezogen  wird,  wie 
er  nicht  selten  namentlich  bei  Zöglingen  höherer  Schulen,  Trägem 
„bunter  Mützen"  überschäumt? 

Begriff  und  Name  „Korpsgeist"  sind  besonders  Offiziers-  und 
Studentenkreisen  geläutig.  Die  Uniform,  die  V'erbiadungsfahne  deckt 
den  Träger  gegen  jeden  Angriff  von  aussen,  so  lange  er  nicht  selbst 
den  bunten  Rock  oder  das  farbige  Band  verwirkt  hat  durch  Hand- 
lungen, die  innerhalb  des  Korps  für  unehrenhaft  gelten.  Dass  der 
Korpsgeist  oft  unerfreuHrhe  Blüten,  wunderliche  Nebenersriieinungen 
.  zeigt,  ist  leicht  erkennbare  und  darum  vielbespöttcltc  Tatsache. 
Aber  dass  sich  eine  besondere  Moral  in  der  militärischen  und 
studentischen  Gesellschaft  gebildet  hat  und  in  ihren  Ausläufern 
gcIegentUch  in  bcwusstcn  Gegensatz  zur  bürgerlichen  Moral  tritt, 
lässt  sich  nicht  schlechthin  verdammen,  sobald  man  alle  Moral  für 
entwicklungsfähig  und  also  auch  ungleichmässig  fortschreitend  hält. 
Es  fragt  sich  manchmal,  ob  nicht  hbtorische  Gründe  für  Bei> 
behaltung  alter  Bräuche  sprechen,  ob  die  schärfere  Urteilskraft,  der 
hochgezüchtete  Ehrbegriff  vielleicht  eine  gewisse  Berechtigung  zum 
Überspringen  spiessbürgerlicher  Beschränkung  verleihen,  ob  die 
Erfüllung  ausserordentlicher  Pflichten  nicht  vor  dem  Ricluerstuhl 
gerade  des  feineren  Rechtsempfindens  auch  ungewöhnliche  Be- 
wertung seltsamer  Handlungen  rechtfertigt 

Wenn  der  hohen  und  höchsten  Aristolcratie  gewisse  Rücksichten 
zugebilligt  werden ,  so  dürfen  auch  andere  Kreise  verlangen ,  dass 
sie  mit  dem  Massstabc  gemessen  werden,  der  sich  bei  ihnen  unter 
einstiger  Zustimmung  der  öffentlichen  Meinung  gebildet  hat.  Das 
logis<3i  Evidente  ist  nicht  immer  das  historisch  Berechtigte.  In  dem 
Masse  freilich,  wie  innerhalb  eines  Gesellschaftskörpers  die  Vernunft 
zur  Herrschaft  gelangt,  vollzieht  sich  die  Anpassung  der  ethischen 
Normen  an  die  vernunftgemässe  Allgemeingepflogenheit.  So  wird 
das  Bedenkliche  an  elhisclien  Schöpfungen  des  Korpsgeistes 
eliminiert,  während  die  starken  Motive,  die  sich  innerhalb  kräftiger 
Gemeinschaften  finden,  zu  tüchtigem  Wirken  emporgrc^fldet  werden. 

Denn  das  Berechtigte  und  Schätzbare  am  Korpsgeist  ist  nicht 
seine  Exklusivität,  sondern  seine  (xcschlossenheit.  Nicht  bloss  die 
Art,  sich  zu  kleiden  oder  zu  grüssen,  nicht  der  Gang  nur  und  die 
Redeweise  nimmt  bei  den  Angehörigen  eines  festgefügten  Ge> 
sellschaftskorpers  gleiche  Form  an,  es  wächst  auch  beim  Vorhanden« 
sein  höherer  Interessen  eine  gehobene  Gleichartigkeit  des  Denkens 
und  WoUens  empor.   Einer  kann  mit  annähernder  Gewissheit  die 


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Handlungsweise  des  Anderen  vorausbestimmen,  er  fühlt  sich  gestützt 
und  gehoben  durch  die  Grenossen,  gezügelt  und  gespornt  in  seiner 
Laufbahn.  Das  macht  ein  Offizierkorps  unerschütterlich,  nötigt 
sogar  Behörden  Rücksicht  ab,  ersieht  vor  allem  jeden  Ein/.elnen, 
der  einmal  zur  Fahne  i:^'csch\voren,  sich  z.u  einer  bestimmten  l''arbc 
bekannt  hat.  „Das  tut  ein  deutscher  Oltizier  niel"  ,J)as  ist  nicht 
Burschenartl"  „Unsere  Familie  hat  hier  andere  Ansiditenl"  —  das 
sind  sittliche  Urteile,  die  aus  dem  Korpsgeist  heraus  gebildet  wurden, 
und  denen  ein  hoher  Grad  von  Festigkeit  innewohnt. 

Welcher  Lehrer  wollte  nicht  ein  so  wuchtiges  Motiv,  wie  es 
der  Korpsgeist  oü'cnbar  sein  kann,  in  seinen  Schülern  pflanzen  und 
pflegen?  &ie  Neigung  der  Kinder,  be^mders  der  Knaben,  zum  Zu- 
sammenschliessen  kommt  ihm  dabei  zu  Hilfe.  Hier  lasst  sich  ein- 
setzen schon  in  der  Elementarklasse.  Es  ist  leicht  genug,  die 
Kinder,  welche  den  gleichen  Stoff  bewältigen,  Leib  und  Geist  durch 
die  gleichen  Übungen  kräftij^^en  sollen,  zum  Bewusstsein  ihrer  Zu- 
sammengehörigkeit zu  bringen.  Auch  der  Minderbegabte  sieht  da 
ein,  wie  seine  Geschäfte  und  Sorgen  zum  Ganzen  gehören,  legt 
seine  volle  Kraft,  sein  bestes  Aufmerken  an  den  Tag,  wenn  es  gut, 
nichts  zu  verderben  beim  Chorsprechen ,  beim  gemeinsamen  Er- 
streben eines  der  ganzen  Klasse  gesteckten  Zieles,  bei  den  Ver- 
richtungen der  Selbstverwaltung,  die  sich  sehr  wohl  ins  SchuUcbcn 
einfügen  lassen.  Wie  bei  einem  Schulausflug  keine  Nachzügler  vor- 
kommen  sollten,  müsste  man  allmählich  auch  gleichen  Schritt  und 
Tritt  im  moralischen  \'orrückcn  erzielen.  Der  ^vic  Ruf  der  Srhulc, 
der  Klasse,  muss  dem  Kinde  etwas  gelten,  die  einzelnen  Kinder 
sollen  einen  iiegrifl  von  Kollektivehre  gewinnen.  Nichts  tun,  was 
den  Klassenverband  in  den  Augen  anderer  herabsetzen  könnte! 
muss  zum  kategorischen  Imperativ  jedes  Einzelnen  werden. 

Zu  solcher  Entwicklung  i^enügen  freilich  nicht  immer  die 
Stunden  des  Unterrichts  mit  ihrem  vorwiegend  stofflichen  Interesse. 
Schulleben  ist  melir  als  Uuterrichtetwcrden,  der  Lehrer  mehr  als 
Stundengeber.  Wir  müssen  das  Schulleben  erweitem:  nicht  gerade 
durch  sportmassige  Ausföllung  der  freien  Nachmittage,  auch  nicht 
durch  militärische  Körperübungen,  die  7.u  viel  Gezwungenes 
haben  —  wohl  aber  durch  Zusammensein  im  Wald  und  Garten, 
durch  gemeinsames  Wandern  ohne  grosse  Zurüstung,  durch  nütz- 
liche Tätigkeit  in  Haus-  und  Feldwirtschaft.  Aller  Sport  schlägt 
gern  in  Hetzerei  um.  Er  hat  auch  nicht  genug  sichtbaren  Zweck, 
Den  Leib  stählt  Arbeit  mit  dem  Spaten  weit  besser  als  die  Aus- 
führung von  Stabübun;^cn;  dem  Rudern  ist  die  lätigkeit  am  Schub- 
karren vorzuziehen.  Und  es  ist  gut,  wenn  nicht  nur  ein  „Sieg*', 
sondern  wenn  ein  dauerndes  Werk  zustande  kommt 

Die  gemeinsame  Wanderung  und  das  Anleiten  zu  einem  allen 
bewussten  Zweck  stellt  mehr  Fragen  und  beschäftigt  Geist  und 
Leib  vielseitiger,  als  die  Tätigkeit  in  der  Schulbank  oder  in  Reih 

86* 


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—   388  — 


und  Glied.  Hauptsache,  dass  der  Bewegungs-  und  Arbeitsdrang 
geleitet  wird,  dass  der  Erzieher  die  Direktion  behält  Dann  lassen 
sich  auch  die  sittlichen  Richtlinien  y^eben  und  weiteHtihren.  Ist 
nicht  alle  Kultur  auf  Grrund  des  Zusammenschlusses  zur  Arbeit 

erwachsen  ? 

Nun  wird  es  sich  freilich  besonders  günstig  treffen,  wenn  der 
Sachunterricht  anregend  für  das  gemeinsame  Handeln  wirkt.  Hier 
liegt  das  gute  Korn  in  dem  Streben  der  Philanthropen,  auch  bei 

den  entsetzlichen  Zwischenreden  in  Campes  „Robinson"  und  ähn- 
lichen literarischen  Er/.eutrnisscn.  Aber  auch  die  umgekehrte 
Folge;  das  Kruchtbarmachen  des  Gemeinschaftslebens  für  den 
Unterricht  ist  mö^ch  und  nützlich.  Sittliche  Imperative  bedürfen 
beim  Werdenden  in  allen  Fällen  der  Verstärkung  von  autoritativer 
Seite.  Gibt  das  Schulleben  die  Anregung,  das  Lehrerwort  bloss 
die  Bestätigung  für  eine  BiUigung^  oder  Missbilli'crunf!^,  einen  Vorsatz 
oder  einen  völligen  Plan,  so  pflegt  der  Schüler  nichts  von  jener 
verstimmenden  Absteht  zu  merken,  die  so  viele  gutgemeinte  und 
an  sich  richtige  Ermahnungen  und  Befehle  beeinträchtigt  Hat  eine 
Klasse  einmal  ,4hren  Helden"  erkoren,  einmütige  Wertung  be- 
stimmter Handlungen  gefunden,  so  ist  die  kräftia;c  Unterlage 
gegeben,  auf  der  sich  dann  auch  die  Edelreiser  sittlicher  Selbst- 
bestimmung entwickeln  können.  „Das  wird  niemand  in  dieser 
Klasse  gutiieissen",  ist  in  Knabenschätzung  gewichtiger,  als  das 
farblose:  „Das  schickt  sich  nicht"  oder  gar  „das  ist  unmoralisch". 
Gibt  es  Klassenideale,  und  sind  sie  recht  f^ezeichnet,  so  messe  man 
ruhig  an  ihnen  die  Handlungen  der  Klassenangehöri^en ! 

Dadurch  wird  der  Lehrer  der  unangenelmien  Notwendigkeit 
enthoben,  der  Klasse  gegenüber  seinen  Tadel,  seine  Strafen  zu 
rechtfertigen.  Der  Übertreter  hört  auf,  ein  Held,  ein  „ganzer  Kerl" 
zu  sein;  die  Klasse  wird  nicht  mehr  in  jenen  stummen  Widerstand 
treten,  der  dort  vorkommt,  wo  die  Massnahmen  der  Zucht  un- 
begriffen bleiben.  Dafür  werden  auch  die  Musterknaben,  die  vor- 
bildlichen Kameraden  weniger  hervortreten.  Es  konunt  ein 
„besserer  Durchschnitt"  obenauf,  mit  dem  der  Lehrer  wohl  einmal 
einen  burschikosen  Ton  anstimmen  ma^.  Nicht  aber  muss  mehr 
jenes  fatale  Zusammenhalten  gebrochen  werden,  bei  dem  die  un- 
verstandenen Jungen  im  Lehrer  den  Feind,  in  seinen  Vorschriften 
Nörgeleien  sehen. 

Eine  sehr  wichtige  Lebensbetätigung  lässt  sich  nur  innerhalb 
grösserer  Verbände  lernen:  die  Verwaltung  von  Eigentum.  Im 
Rürg^ertum  ist  CS  kluge  Gepflogenheit,  heranwachsenden  Kindern 
das  hinkassieren  kleiner  Geldbeträge  zu  überlassen.  Dabei  wird 
rechnerische  Grewandtheit,  Fertigkeit  im  Abrechnen  vor  einer 
höheren  Instanz,  vor  allem  Schätzung  des  Geldes  gelernt  Doch 
bleibt  die  Verwendung  der  Beträge  anderen  Personen  vorbehalten. 
Das  ist  anders,  wo  die  Klasse,  die  Schule  Hinkommen  besitzt» 


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-  389  - 


verrechnet  und  verwendet.  Schon  mit  jenen  Straf kassen"  lässt 
sich  allerlei  tun,  die  in  manchen  Schulen  für  Auslösung  liegen- 
gebliebener Bücher  und  Hefte  bestehen.  Weit  besser  wirken 
Kassen,  die  sich  vom  Erlös  eigener  Arbeit  füllen.  Wo  Handarbeit 
oder  gemeinsamer  Gartenbau  besteht,  da  sollten  die  Arbeits- 
erträgnissc  immer  in  gemeinsame  Kassen  flic<;sen.  Wie  das  spornt, 
zum  Schatten  treibt,  für  die  endliche  Verwendung  der  ersparten 
Gelder  interessiert  1  Wir  haben  Bilderschmuck  für  das  Schulzimmer 
erworben,  Lieblingsblumen  und  -Bäume  gesetzt,  haben  auch  schon  — 
in  der  Weihnachtszeil  —  vorsichtig  (!)  Arme  unterstützt.  Wie 
schonend  wird  der  selbstgeschalTene  liesitz  behandelt,  wie  liebevoll 
ein  allen  gehörender  Baum  gepflegt,  wie  innig  die  Freude  gemein- 
samen Wohltuns  empfunden!  Kaum  braucht  darauf  im^j^ewicsen 
zu  werden,  dass  Schüler,  die  so  zur  Achtung  von  Gemeinschafts- 
besitz gewöhnt  worden  sind,  schwerlich  in  den  gedankenlosen  Aus- 
spruch einstimmen  werden:  „Der  Staat  kann's  bezahlen,"  „die  Stadt 
merkt's  nicht,  wenn  was  beschädigt  wird."  Aus  dem  Korpsgeist 
heraus  bildet  sich  Achtung  vor  Gemeinde-,  Vereins-,  Staatsbesitz, 
bildet  sich  auch  ein  Verständnis  für  prodtiktives  GenossenschaftS' 
wesen.  Die  Sittlichkeit  hat  bekanntlich  noch  andere  Normen  als 
diejenigen ,  welche  die  Ikv.ichung  von  Mensch  zu  Mensch  regeln. 
Sie  hat  eminent  moderne  Aufgaben,  die  gerade  dem  vielgestaltigen 
Erwerbsleben  der  Gegenwart  entsprechen.  Auch  diese  müssen 
schon  in  einem  Vorkursus  gelöst  werden.  Die  Pflege  des 
Korporationswesens  innerhalb  der  Schule  gibt  Gelegenheit  dazu. 

Keineswegs  ist  mit  den  angedeuteten  Betätigungen  die 
Lci'^timgsfähigkeit  eines  frühe  gepflegten  Korpsgeistes  erschöpft. 
Ein  paar  Hinweise  seien  darum  noch  gestattet. 

In  Kadettenhäusem  wird  die  Wärheitsliebe  gezüchtet  durch 
den  beständigen  Appell  an  die  ehrenhafte  Gesamtheit  der  Zöglinge. 
Ganz  nebenher  weist  man  die  jungen  Leute  darauf  hin,  <his>^  es 
Feigheit  ist,  einen  'i"ati:)estand  zu  verhüllen.  Bei  jeder  (lelcgcnheit, 
wo  ein  kleines  Vergehen  begangen,  eine  Abweichung  von  der  Haus- 
ordnung geschehen  ist,  wird  der  Täter  ersucht,  sich  selbst  za  melden. 
Dass  jede  Angeberei  durch  die  Kameraden  ausgeschlossen  erscheint, 
ist  selbstverständlich.  Aber  der  Kadett  meldet  sich:  entweder  weil 
er  wirklich  schon  männlich  genug  denkt,  dass  er  seine  Taten  auch 
offen  vertreten  muss,  keinen  andern  ni  Verdacht  kommen  lassen 
darf  —  oder  weil  ihn  die  Gesamtheit  seiner  Klassengenossen  zum 
ehrlichen  Bekennen  drängt.  Wenn  irgend  möglich,  wird  das  Ein- 
geständnis mit  Straffreiheit  oder  doch  durch  besondere  Milde  der 
Ahndung  belohnt.  Und  auch  das  ist  nachahmenswert  Denn  wo 
der  Schüler  zum  Bcwusstsein  des  Fehltritts  gekommen  ist  und  wo 
kein  ausgebildeter  Hang  vorliegt,  hat  die  Strafe  wenig  Sinn  mehr, 
wenn  anders  nicht  der  Lehrer  zu  den  Anhängern  der  bloss  noch 
im  Strafgesetz  spukenden  Vergeltungstheorie  gehört 


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—   390  — 


Wichtiger  als  selbst  bei  der  Bekämpfung  schwerer  Verstösse 
ist  ein  gesunder  Korpsgeist  —  zur  Verhütung  übler  Gedanken 
und  GepHogenhdten  bei  den  heranwadisenden  Jungen  und  Mädchea 
Manches  berühmte  Institut  hat  hier  die  Wurzeln  seiner  Blüte.  Noch 
immer  sind  Präservative  die  besten  Arzneien.  Eine  lockere  Auf- 
fassung gegenüber  dem  Glücksspiel,  dem  Alkoholp^cnuss,  dem  (xe- 
klatsch  und  Getratsch  oder  auch  in  sexuellen  Fragen  ist  kaum 
wieder  wegzubringen,  wenn  sie  einmal  Platz  gcgrifKfi  hat  Bei 
jungen  Leuten,  die  sich  als  Glieder  einer  wichtigen  Lebensgemein- 
schaft zu  földen  gelernt  haben,  im  Lehrer  oder  \''orf^esetzten  den 
Berater,  den  wohlwollenden  Genossen  der  Arbeit  und  der  Freude 
sehen,  wird  wirkliche  Einsicht  in  das  Verderbliche  übler  Gewohn- 
heiten erzielt,  wenn  man  es  dahin  bringt,  dass  die  jungen  Leute 
untereinander  mit  Emst  und  Ruhe  die  Beobachtungen  austauschen, 
die  sich  auf  den  angedeuteten  Gebieten  leider  so  reichlich  anstellen 
lassen.  Übcnreuj^ungen  muss  nun  einmal  jeder  selbst  erarbeiten. 
Sie  waciisen  aber  am  schnellsten  und  tiefsten,  wenn  sie  im  wechsel- 
seitigen Austausch  zwischen  Gleichstrebenden  gewonnen  werden. 
Wo  Korpsgeist  ist,  kann  keiner  sich  so  leicht  ausschliessen  von 
Betrachtungen,  die  das  allgemeine  Interesse  des  Kreises,  dem  er 
angehört,  erregen.  Parteinahme  ist  fast  unvermeidli  b .  und  selbst 
der  Flatterhafte  oder  der  \' erschlossene  kommt  zu  Resultaten,  die 
von  der  Allgemeinheit  kontrolliert  werden. 

In  unserer  Zeit,  wo  Individualitat  Schlagwort  ist,  dürfte  es  be- 
denklich erscheinen ,  wenn  dem  Korpsgeist  eine  hohe  Bedeutung 
fiir  die  Hilduni;  der  Sittlichkeit  zugemessen  wird.  Korp'^-.ycfühl  ist 
aber  sehr  wohl  mit  individueller  I  lochentwicklunf^  zu  vercuii  n  Die 
Grundschranken  für  das,  was  verwerflich,  die  Richtlinien  tur  das, 
was  ehrenhaft  ist,  sind  durch  die  Anschauungen  der  Körperschaft 
gegeben:  wie  weit  und  stark  der  Einzelne  innerhalb  der  zur  Ge- 
wohnheit werdenden  Schranken  läuft,  ist  von  seiner  Kraft  und  Aus- 
dauer abhän^;i^.  Ja,  Ljerade  der,  dem  für  eine  Menge  von  Einzel- 
fragen die  Entscheidung  durch  Gemeinschaftsurteile  und  auf  diesen 
beruhendes  Herkommen  at^nommen  wird,  kann  mit  grösserer 
Frische  an  ausserordentliche  Aufgaben  herantreten  und  zu  eigen- 
artiger Lösung  derselben  schreiten.  Kann  er  bei  solchem  Beginnen 
so  wrken,  dass  er  zugleich  den  Nutzen  einer  cn-össcren  Gemein- 
schaft erwirkt,  wenn  er  seine  individuellen  Kräfte  einsetzt,  so  ist 
eben  die  Erziehung  zum  Korpsgeist  durch  Korpsgeist  erfolgreich 
gewesen. 

Das  lässt  sich  bei  dem,  der  frühzeitig  unter  den  Wirkungen 
kräftigen  Korpsgeistes  gestanden  hat,  mit  viel  Wahrscheinlichkeit 
vermuten.  Innerhalb  einer  gutgefügten,  strebcnskräftigen  Gemein- 
schaft wird  Anerkennung  und  Kritik  frühe  wirksam  gewesen  sein. 
Sehr  oft  urteilen  Kinder  schärfer  und  richtiger  über  ihresgleichen, 
als  der  Lehrer  es  tun  könnte.    Es  gilt,  dieser  bildenden  und 


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—  391  — 


re^lierenden  Beurteilung  Cjclet^enheit  zu  geben.  Innerhalb  einer 
Schulklasse,  einer  iurnerriege,  eines  Schülervcreias  lässt  bicii  lie- 
fehlea  wie  Gehorchen  üben;  formiefen  sich  Verhaltnisse,  wie  sie 
das  Leben  der  Erwachsenen  kaum  komplizierter,  wenn  auch  viel- 
fach  \'erantwortungsreirher ,  bietet  Dass  neben  den  persönlichen 
Zielen  und  Wünschen  die  Gemeinschaft  zu  ihrem  Rechte  kommen 
muss,  das  lässt  sich  nicht  bloss  lehren,  sondern  auch  erproben  in 
jeder  Schule,  die  Freiheit  genug  gibt  för  das  Erwachsen  eines  ehren- 
haften Gemeingefiihls  innerhab  jener  Schulwände,  die  sonst  so  leicht 
selbständige  Regungen  junger  tatenireudiger  Menschen  erdrücken. 


Heimat  und  Unterricht 

Von  J.  L  Islltr  in  Kircfahdin. 

Schluss. 

m. 

itariflktlaliti|Mi|  iar  Heteat  la  daa  eiaaelaia  UatarrioMsiiahn 

Wenn  wir  die  Heimatkunde  den  dnzelnen  Fächern  zuweisen, 

so  möchten  wir  verhüten,  dass  nur  die  ^geographischen  Vorstellungen 
des  Kindes  nn  der  Heimat  ^^ewonncii  und,  alle  übric^en  eben  bei- 
laulig  oder  /ulailig  in  den  Unterricht  eingreifen.  Jede  Art  der 
Vorstellungsentwicklung  des  Kindes,  also  jedes  Fach,  muss  mit 
voller  Absicht  und  möglichster  Sorgfalt  aus  den  heimatlichen  Vor« 
Stellungen  hervor\vachsen  und  sich  fortwährend  aus  denselben  er- 
nähren und  mit  denselben  verbinden.  Dadurch  werden  die 
einzelnen  Fächer  zu  Schulwissenschaften  und  die  Stoffpläne  er- 
weisen sich  als  Lehrpläne.  Das  Geforderte  wird  wirklich  lehrbar 
und  führt  dazu,  dass  der  Schüler  ein  unmittelbares  Interesse  am 
betreffenden  Unterricht  gewinnt  und  in  seiner  Pcrsonbildung  ge- 
hoben wird.  Ks  muss  also  Naturkundliches,  Ethnologisches,  f^pschicht- 
Uches  und  Geograplüsches  der  Heimat  in  Betracht  gezogen  werden. 

a)  Naturgeschichte. 

In  dieser  handelt  es  sich  nicht  bloss  um  ein  Kennenlernen 
(eine  „Kunde")  von  den  äusseren  Merkmalen  der  Naturgegenstande, 


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Steine,  Pflanzen  und  Tiere,  sondern  um  die  Lebensgeschichte  dieser 
Dinge.  Sie  müssen  deshalb  in  ihrem  Lebenskreis,  in  ihrer  lebendigen 
£rsdieinung  und  ihrem  Lebenszusammenhang  erkannt  und  erforscht 

werden.  Eine  RctrnrhtMn-,^  dirscr  Dinge  im  toten,  vereinzelten 
Zustand  hat  keinen  Wert,  denn  in  ihrem  toten  Zustand  gehören 
sie  überhaupt  nicht  meiir  der  Naturgeschichte,  sondern  der  Techno- 
logie, Industrie  oder  auch  der  Natuilehre  an.  Will  man  sie  aber 
in  ihren  Lebensbeziehungen  erkennen,  so  muss  man  sie  in  der 
Heimat  aufsuchen.  ¥Än  Verbringen  einzelner  Exemplare  in  die 
Schule  hat  lange  nicht  den  Wert,  wie  eine  Betrachtung  in  der 
Natur.  Angenommen,  man  wolle  den  Kindern  die  unterscheidenden 
Merkmale  der  Nadelholzer:  Weisstanne,  Fichte,  Kiefer  und  Lärche 
an  mitgebrachten  Zweigen  in  der  Schule  klarmachen,  so  wird  man 
sie  damit  nicht  so  weil  bringen,  dass  sie  schon  von  weitem  einen 
derartigen  Baum  erkennen,  denn  es  hat  sich  kein  Gesamtbild  davon 
eingeprägt.  Anders  wenn  man  auf  einem  Lerngang  durch  den 
Wäd  die  ^ume  mehrmals  betrachten  lässt  und  dann  bei  einem 
etwaigen  Streitfall  die  Einzelmerkmale  aufzeigt.  Doch  mit  der 
Formenkenntnis  Hesse  es  sich  schließlich  noch  machen.  Wenn  man 
aber  erst  die  ursächlichen  Beziehungen,  die  Eebensbf  din'^ungen 
nachweisen  will,  so  muss  man  doch  notwendig  die  Lebensgemein- 
schaft besichtigen.  Ein  Wiesensalbei  hat  am  sonnigen  Rain  andere 
Blätter  und  ein  anderes  Ausseben  als  inmitten  der  Wiese;  ebenso 
erhält  eine  Buche  auf  freier  üeide  eine  andere  Gestalt  als  im  ge* 
schlossenen  Wald.  Der  Boden,  das  Wasser,  die  überhängenden 
und  schattenspendenden  Pflanzen  u.  s.  f  sind  nicht  ohne  Einfluss 
auf  die  Geschöpfe  derselben  Art.  Ks  ist  auch  etwas  anderes,  wenn 
ich  eine  Pflanze  im  Blumentopf,  als  wenn  ich  sie  im  Freistand 
pflanze,  wenn  ich  den  Fisch,  den  Frosch  im  Aquarium  und  wenn 
ich  ihn  im  See  oder  Sumpf  betrachte.  Ebenso  nimmt  sich  ein 
Pferd,  ein  Hase,  ein  Fuchs  anders  aus,  wenn  sie  sich  im  I-Veien 


abgebildet  sind.    Jedes  Einzelobjekt  muss  deshalb  in  lebendem 

Zustand  und  in  seiner  Beziehung  zur  natürlichen  Umgebung  be- 
trachtet werden.  Der  Unterricht  darf  sich  deshalb  nicht  nach  dem 
Buch  für  Naturgeschichte,  sondern  nur  nach  dem  Buch  der  Natur 
selbst  richten.  Hier  stehen  dann  die  Dinge  in  anderer  Ordnung 
als  dort.  Da  merkt  man  nichts  vom  System.  Früher  ging  man 
durch  die  Felder,  um  die  Pflanzen  auszuraufen,  die  in  diese  oder 
jene  Klasse  gehörten.  Nichts  daran  war  wichtig  als  die  Staub- 
gefässe  und  Griffel.  Man  suchte  nach  Raritäten  und  war  blind 
gegen  das  überall  begegnende  Leben.  Das  Buch  führte  die 
Herrschaft  und  die  Natur  lieferte  die  Beispide.  Wenn  man  dam 
eine  möglichst  grosse  Anzahl  von  Systemvertretem  gesammelt  und 
in  der  Botanisierkapsel  nach  Hause  geschleppt  hatte,  um  sie  dort 
zu  zerzausen,  dann  hatte  man  „Naturgeschichte  getrieben".  Wie 


bewegen,  als  wenn 


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—   393  — 


schwer  ^lug;  es  da  dem  Anfänger,  das  Buch  mit  seiner  Unmasse 
von  Kenntnissen,  die  von  gelehrten  Männern  im  Lauf  der  Jahr- 
hunderte aufgestapdt  worden  waren,  nachscbafiend  am  der  Natur 
selbst  wieder  zu  gewinnen.  Wie  mancher  gab  dieses  Unternehmen 
auf,  ehe  er  zu  einem  wirklichen  Resultat  gekommen  war.  Ein 
Wortwissen  aus  Büchern  oder  aus  dem  Mund  des  Lehrers,  der  oft 
auch  wie  ein  Buch  redet,  hat  wenig  oder  keinen  Wert.  Es  muss 
KU  Wahrnehmungen  an  den  Dingen  kommen,  die  nicht  bloss  auf 
die  äussere  Gestalt,  sondern  ebensosehr  auf  das  innere  Leben 
gerichtet  sind.  Wir  müssen  die  Dinge  erst  in  unser  geistiges  Leben, 
unsere  innere  Wirklichkeit,  umsetzen,  wenn  sie  als  eine  wert\olle 
Bereicherung  desselben  dauernden  Wert  erhalten  sollen.  Das  ist 
dann  wirkliche  Anschauung  durch  Sehen  und  Beobachtung,  durch 
Denken  und  Beschäftigung  gewonnen.  Deswegen  hat  ein  Bauer 
oder  ^n  Arbeiter,  der  täglich  mit  Naturdinij^en  umgeht,  oft  mehr 
Kenntnis  vom  Wesen  derselben  als  ein  Buch^^reichrler.  Er  sieht  die 
Wandlungen,  die  Entwicklun;^  der  Dinge  mit  an.  Der  Schul- 
unterricht wiU  durch  plaiunässige  Beobachtung  und  durch 
fixperinkente  auch  dahin  gelangen.  Er  wird  nur  dann  einen  wahren 
ExtcHg  erzielen,  wenn  er  die  Schüler  so  weit  bringt,  dass  sie  von 
selber  weiterforschen  und  beobachten.  Denn  hier  ist  Interesse, 
nicht  wissenschaftliche  Erkenntnis  das  Ziel.  De  'ii alh  ist  der 
biologische  Unterricht  der  beste.  Jeder  Gegenstand  wird  in  seiner 
Umgebung  betrachtet  und  beobaditeL  Dadurch  ergeben  sich  die 
Lebensbedingungen  und  Lebensbeziehungen  för  das  Vorstellen  und 
Denken  von  selbst.  Der  Schüler  ist  p^enöti^,  seine  Gedanken  mit 
der  Natur  zu  beschäftigten  und  sie  nicht  an  ir^^end  eine  Seite  des 
Buches  anzuketten.  Von  dorther  kann  er  sich  auch  stets  durch 
erneute  Untersuchung  Rat  und  Hilfe  holen.  Dabei  lassen  sich 
Pflanzen,  Tiere,  Erden  oder  Mineralien  nicht  auseinanderhalten,  wie 
es  beim  Buchunterricht  der  Fall  ist,  denn  alles  zusammen  bildet 
die  Lebensgemeinschaft.  Dieselbe  knüpft  sich  noch  an  eine 
besondere  Ortlichkeit,  die  wiederholt  aufgesucht  wird.  Solche  Ört- 
lichkeiten bilden  Haus,  Hof,  Grarten,  Wiese,  Feld,  Heide,  Sumpf, 
Bach,  Wald  u.  dgl.  Für  die  Naturkunde  bilden  diese  Örtlichkeiten 
den  Ort  der  Beobachtungen,  die  sich  auf  Pflanzen ,  I'iere  und 
Gesteine  erstrecken.  Dabei  ist  nicht  rävmiliches  Nebeneinander  der 
Erscheinungen,  sondern  das  zeitliche  Nacheinander  der  verschiedenen 
Lebewesen  Gegenstand  der  Betrachtung.  Die  Entwicklung  der 
Pflanze  vom  Samen  bis  zur  Frucht,  des  Hers  vom  Ei  bis  zur  nächsten 
Generation,  das  Erwachen  des  Naturlebens  im  Frühling  bis  zum 
Schlaf  im  Winter,  die  Entwicklung  der  Tier-  und  Pflanzengeschlechter 
im  Laufe  der  Zeiten  ergeben  die  Naturgeschichte,  wie  sie  allein 
an  der  Heimat  studiert  werden  kann,  wenn  man  nicht  fertige 
Resultate  überiiefem  will.  Der  Weg  der  Forschung  muss  ödbei 
im  kleinen  und  in  abgekürzter  Weise  vom  Kinde  eingeschlagen 


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werden ,  wenn  ein  selbsterworbenes  Wissen  und  ein  bleibendes 
Interesse  erreicht  werden  soil. 

Der  Schüler  bringt  bereits  eine  Summe  selbstgemachter 
Wahrnehmungen  zur  Schule  mit.  Er  hat  schon  manches  gesehen, 
beobachtet,  hat  sich  schon  mit  den  Dingen  beschäftigt.  Er  hat 
schon  von  andern  Leuten  dieses  und  jenes  gehört,  hat  Belehrun^Ten 
vom  Vater,  von  den  älteren  Geschwistern  und  den  Kameraden 
erhalten.  Er  hat  auch  Meinungen  aufgefangen,  wie  sie  eine  un- 
zureichende Beobachtung  entwickelt,  hat  selbst  sich  Einbildunga» 
Vorstellungen  zurcchtf^emacht.  Diese  seine  volkstümliche  und  naive 
Anschauung  von  den  Dingen  muss  vom  Unterricht  aufgenommen, 
geklärt,  vermehrt,  berichtigt  und  geordnet  werden.  Dadurch  eriiält 
der  Naturkundeunterricht  den  richtigen  Ausgangspunkt  Es  treten 
die  in  der  Schule  und  ausser  derselben  zu  machenden  Beob- 
achtunj^en  hinzu,  um  die  Wahrnehmungen  zu  vermehren,  zu  ver- 
bessern und  den  Schüler  dem  Ziel  ent^cgenzuführcn.  Im  Unterricht 
ist  es  namentlich  die  denkende  Betrachtung,  ausser  demselben  der 
Lemgang  (Schulspaziergang),  welche  zu  weiterer  Erkenntnis  iuhrea 
Es  genügt  also  nicht,  die  Wahrnehmungen  und  Beobachtungen  an 
der  Natur  auf  den  verschiedenen  Wegen  einzuheimsen,  es  müssen 
auch  die  Gedanken  über  die  Din^e  berichtigt,  p^eordnet  und  an- 
gewendet werden.  Da  gilt  es  zunächst,  falsche  und  abergläubische 
Ansichten  mit  der  Wurzel  auszurotten,  da  dieselben  ein  Hindernis 
und  Irrweg  (tir  weiteres  Nachdenken  sind.  Es  müssen  auch  die 
Ansichten  verschiedener  Zeiten,  sowie  die  poetische  Auffassung  der 
Naturdinge  sich  sehen  lassen,  eine  blosse  Beschreibun«^  und  Kenntnis 
der  Dinge  kann  nicht  genügen.  Da  sich  mit  der  Zeit  die  natur- 
kundlichen Objekte  allzu  sehr  ansammeln,  müssen  sie  in  übersicht- 
liche Ordnung  gebracht  und  einem  Hauptgedanken  unterstellt 
werden.  Dadurch  lernt  der  Schüler  sein  Wissen  beherrsdien.  Die 
innere  Beschaflfenheit  der  Naturdin<:^e  ist  gleichfalls  zu  erechliessen 
und  da  davon  ihre  Verwertung  abhängt ,  muss  diese  noch  be- 
sonders ins  Auge  gefasst  werden.  Hier  geht  die  Naturgeschichte 
in  Kulturgeschichte  über  und  beide  wirken  zusammen  in  der  Auf* 
richtung  eines  tiefgehenden  Interesses  im  Schüler,  das  seinen 
Urquell  in  der  Heimat  hat. 

Zur  naturkundlichen  Betrachtung  l:r  (icgenstände  gehört  also 
auch  die  Herausstellung  ihrer  wirtschaltUciien  Bedeutung  und  ihres 
Werts  für  das  Leben  der  Menschen.  Die  Natur  gibt  die  Mittel 
an  die  Hand,  um  sittliche  und  technische  Zwecke  zu  erreichen. 
Dabei  f^ir  Naturgesetze  in  Berechnung  gezogen  werden. 

Mit  der  Erreichung  solcher  Zwecke  wird  das  Menschenwohl  ge- 
fördert. Somit  tritt  die  Naturerkenntnis  in  den  Dienst  der  Arbeit. 
Die  Naturkunde  wird  dann  in  der  Schule  zur  Arbeitskunde.  Bei 
alledem  bleibt  sie  auf  die  Heimat  beschränkt  und  wir  können  daher 
sagen,  Naturkunde  oder  Naturgescliichte  ist  durchw^  auf  aUen 


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Stufen  ,  eben  Heimatkunde.  Deswegen  ist  ein  guter  naturgeschicht- 
Ucher  Unterricht  ein  heimatkundlicher  Unterricht. 

Es  bleibt  noch  der  Einwurf  zu  erledigen,  dass  bei  einem 
solchen  Unterricht  ausländische  Naturgegenstände  nicht  zur  Be< 
handlung  kommen.  Es  sollten  aber  doch  auch  Tiere,  Pflanzen  und 
Gesteine  behandelt  werden,  die  in  der  Heimat  nicht  /.u  sehen  sind, 
z.  B.  Löwen,  Tiger,  BaumwoUpflänzen,  Kaffeestauden,  Kdelsteine  u.dgl. 
In  cmcm  .Artikel  des  VVürtt.  „Schulwochenblatts"  (1907,  No.  19)  ist 
die  These  aufgestellt:  „Es  ist  zu  erwägen,  ob  es  nicht  geboten  er- 
scheint, im  Unterricht  in  der  Naturkunde  wie  bisher  auch  fernerhin 
einige  ausländische  Pflanzen  zur  Behandlung  zu  stellen,  da  hierdurch 
in  die  Monotonie  des  ausgewählten  heimatlichen  Lehrstoffs  einige 
Abwechslung  gebracht  würde."  Dagegen  ist  zu  sagen,  dass  wer 
den  heimatlichen  Unterricht  in  der  Natur  monoton  findet,  dem  ist 
mit  ausländischen  Naturgegenstanden  nicht  zu  helfen.  Dieselben 
können  dann  nicht  um(:,Mngen  werden,  wenn  sie  durch  den  übrigen 
Unterricht  ins  Gesichtsfeld  der  Schüler  treten,  oder  wenn  sie  in  die 
wirtschaftliche  und  kulturelle  Arbeit  eingreifen,  die  gleichfalls 
Gegenstand  des  Unterrichts  ist  Aber  das  wird  dann  zumeist  in 
der  Erdkunde  zu  behandeln  sein.  Treten  uns  durch  die  Lesestoffe 
Löwen,  Affen  u.  s.  f.  vor  Augen,  so  lassen  sie  sich  heimatkundlich 
behandeln  im  Anschlu.ss  an  den  Besuch  einer  Menagerie  oder  eines 
Tiergartens,  ausserdem  noch  durch  darstellende  Behandlung  unter 
Herbeizichung  ähnlicher  Tiere  unserer  Zone,  z.  B.  der  Löwe  als 
grosse  Katze.  Jedoch  das  naturkundliche  Interesse,  und  dieses  ist 
Ziel  des  Unterrichts,  ist  vollständig  auf  dem  Boden  der  Heimat  zu 
erreichen.^) 

b)  Erdgeschichte. 

Der  erdgeschichtliche  Unterricht  lässt  sich  nicht  seiner  ganzen 
Ausdehnung  nach  wie  die  Naturgeschichte  in  der  Heimat  ab- 
wickeln. Deshalb  ist  um  so  mehr  darauf  zu  sehen,  dass  wenit^stens 
der  vom  Kindesauge  zu  überblickende  und  durch  Unterrichts-  oder 
Lerngänge  noch  etwas  zu  erweiternde  Kreis  eingehend  und  gründlich 
zur  Behandlung  kommt  Das  Fremde  kann  nur  dann  und  insowdt 
dem  Geiste  nahegebracht  werden,  als  es  in  Vergleich  zur  Heimat 
gebracht  und  dann  mit  llilfc  der  Phantasie  erobert  werden  kann. 
Die  Heimat  selbst  erfordert  genaues  und  verständiges  .Sehen. 
Die  Formen  der  Erdoberfläche:  Berge,  Ebenen,  Täler,  Seen, 
Flusse,  Bache;  die  Art  der  Bebauung,  Bepflanzung  und  Benfitzung; 
die  Strassen  und  Verkehrswege;  die  im  Innern  der  Erde  liegenden 

L'ber  lia-.  M,ii<  ri.»l  ilt-r  hi-iraallichen  N'.iturki^ndc  Dr.  K.  Lanpr.  Vhir  Apper- 
zeption, und  in  ausgeführter  Weise  bei  Kr.  Kronici»,  licimatkunde  (Hühl  in  baden, 
KoDkordiabodihaiMUans.  a  M). 


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-   396  - 


und  den  äusseren  Kindruck  verursachenden  Gesteine;  die  Kultur- 
arbeit der  Menschen,  eiie  vergangene  Arbeit  der  Naturkräfte  und 
die  daraus  resultierende  Erdgeschichte;  die  Dorfer  und  Städte  und 
deren  Kultureinrichtungen;  der  gestirnte  Himmel  mit  seinen  Tages- 
und Jahrcscrscheinungen :  diesem  nlles  gibt  vielfachen  Anlass  zu 
intcressanlen  Untersuchungen.  Der  Formenreichtum  ist  ein  viel 
grösserer  als  im  Naturkundegebiet.  Jeder  Berg,  jede  Landschaft 
&t  ein  Individuum  und  gleicht  nie  auch  nur  annähernd  einer  andern, 
wie  z.  R.  eine  Pflanze  oder  ein  Tier  derselben  Art  dem  andern 
gleicht.  Deshalb  sind  gerade  die  individuellen  DitTerenzpunkte  der 
Gegenstand  unterrichtlicher  Darlegung.  Daher  kommt  es  auch, 
dass  sich  der  Stoff  in  diesem  Unterricht  nicht  erschöpfen  lässt. 
Deshalb  sind  auch  dne  Menge  von  I^lismitteln  im  Gebrauch,  um 
diesen  Unterricht  zu  unterstützen.  Es  gibt  Landkarten,  geographische 
Bilder,  Ansichten,  Panoramen,  graphische  Darstellungen  und  Samm- 
lungen. Dieselben  sollen  den  Unterricht  fördern,  bedürfen  nber  wie 
z.  B.  die  Karten,  erst  noch  eines  besonderen  Unterrichts,  damit  sie 
verstanden  und  richtig  verwendet  werden  können.  Das  natürliche 
Sehen  muss  zum  geistigen  werden,  vermittelt  durch  den  geo* 
graphischen  Anschauungsapparat. 

Hin  heimatlicher  erdgeschichtlicher  Unterricht  kann  nur  den 
synthetisclien  Weg  einschlagen.  Der  analytische  Gang  würde  von 
der  Gesamtgestalt  der  Erde  ausgehen,  diese  in  ihre  Teile  zerlegen 
und  schliesslich  bei  der  Heimat  anlangen.  Die  Heimat  selbst  aber 
ist  dem  Schüler  ein  wahrnehmbarer  Gegenstand  und  bietet  überall 
so  viel,  dass  die  nötigen  .Anknüpfungspunkte  für  die  geogrnpl^! -rhe 
Anschauung  zu  gewinnen  sind.  Hier  lässt  sich  vulkanisrlu  r  Ki  ;j;rl, 
Gebirge,  Berg,  Pass,  Muss,  Mündung,  liügelzug,  Becken  oder  iiuciil, 
Ebene,  See,  Teich,  Moor,  Torfstich,  angeschwemmtes  Land 
(Kies)  u.  s.  f.  leicht  veranschaulichen.  Das  erste  ist  freilich,  dass 
der  Lehrer  selbst  diese  geographischen  Formen  aufzufinden  und 
bei  einiger  phantasiemässigcn  Vergrösserung  und  l^mformung  zu 
den  vollkommenen  Formen  hinzuieiten  vermag.  Dazu  sind  Lern- 
gänge unbedingt  nötig.  Die  Belehrungen  werden  im  Freien 
gegeben.  \*on  einem  Berge  aus  lässt  sich  die  zu  den  Füssen 
liegende  Gegend  wie  aus  der  Vogelperspektive  betrachten  und 
dadurch  zur  Darstellung  auf  der  Karte  überleiten.  Die  Kinder 
müssen  dabei  eine  Freude  an  der  Naturforschung  und  Erd- 
besichtigung ,  dem  Wandern  und  Reisen  im  Hinblick  auf  Er- 
weiterung des  Horizonts,  auf  Vermehrung  der  Kenntnisse  gewinnen. 
Dann  werden  sie  von  selbst  bei  ihren  Ausflügen  mit  Kameraden 
oder  mit  den  Eltern  diesen  Dingen  ihre  Aufmerksamkeit  zuwenden. 
Einen  kräftigen  Anstoss  zur  Selbsttätigkeit  in  dieser  Hinsicht  geben 
die  den  Schülern  zu  stellenden  Beobachtungsaufgaben,  die  sehr 
mannigfaltiger  Art  sein  können.  Man  lässt  die  Windrichtung,  das 
Wetter,  den  Barometer-  und  Thermometerstand  beobachten  und 


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aufzeichnen,  weiter  sind  Sonncnaiif-  und  Sonnenunterganj^,  Schatten- 
länge, Mond  und  Sterne  forti^csetzt  Gcjjenstand  der  Beobachtung, 
ebenso  die  Ankunft  der  h  ruhiingsboten  usw.  Die  Autgaben  werden 
zur  Übung  als  Hausaufgaben  in  der  einen  Stunde  gestellt  und  in 
der  nächsten  erörtert^) 

Zur  Anschauung  von  Kulturpflanzen  und  ausländischen  Pflanzen 

und  zur  Nachbilduni^  von  ts  pischen  Formationen  lässt  sich  der 
Schulgarten  benützen.  Die  Anlegung  von  rohen  Reliefkarten  in 
Sand  gewährt  den  Kindern  viel  Vergnügen.  In  der  Schule  können 
solche  ebenfalls  in  Sand,  in  Sägmehl  oder  Lehm  angelegt  werden. 
Daran  schliesst  sich  die  Nachzeichnung  oder  Skizze  ins  Heft  der 
Schüler.  Schliesslich  ist  die  \\^mi<^knrte  und  der  Atlas  das  beste  , 
Mittel  geographischer  Veranschaulichung ,  da  hierdurch  die  Raum- 
verhältnisse in  zutreffender  Weise  wiedergegeben  werden.  Um  in 
die  festliegenden  toten  Verhältnisse  Leben  und  Bewegung  zu 
bringen,  müssen  Reiseschilderungen  und  Kartenwanderungen  dem 
Unterricht  eingefügt  werden.  Dabei  waltet  die  Phantasie  ihres 
Amtes  und  bringt  das  Ferne  in  innere  Jk-ziehung  zur  Heimat. 
Dadurch,  dass  neben  den  heimischen  Krdenraum  ein  zweiter  und 
dritter  entfernter  und  daher  fremder  tritt,  wird  der  Schüler  zum 
Vergleichen  veranlasst  und  das  geographische  Denken  erhält  reiche 
Nahrung.  Es  handelt  sich  bald  nicht  mehr  bloss  um  das  Wie  der 
Erdgestaltung,  sondern  auch  um  das  Warum.  Man  sucht  nach 
Grund  und  Ursache.  Aus  dem  Vergleich  mit  der  Fremde  entsteht 
auch  der  richtige  Massstab  för  Grösse  und  Bedeutung  der  Heimat 
und  des  Vaterlandes,  seine  kulturelle  Wertung  und  nationale  Be- 
deutung. In  letzter  Linie  handelt  es  sich  um  die  der  Wirklichkeit 
entsprechende  Gliederung  der  Raumverhältnisse.  Darin  wird  alles 
andere  Wissen  über  reale  Dinge  eingeordnet  und  mit  dem  räum- 
lichen Horizont  des  Menschen  erweitert  sich  auch  der  geistige, 
d.  h.  er  wird  immer  mannigfaltiger,  gegliederter,  reicher  an  Be* 
Ziehungen.  Der  Mensch  wird  menschlicher,  er  lernt  das  Fremde 
verstehen  und  schätzen,  legt  die  Vorurteile  dagegen  ab  und  sucht 
sich  das  Gute  zu  nutze  zu  machen.  Die  ganze  Erdoberfläche  wird 
nach  Karl  Ritters  Wort  zum  Vaterland  der  Menschheit,  zur  Heimat, 
in  die  »ch  Brüder  geteilt  haben.  Die  Tätigkeit  des  Menschen  auf 
der  Erde,  die  Begünstigung  dieser  Tätigkeit  kommt  zum  Ausdruck 
im  Kulturfort^rhritt.  Die  Kulturgeographie  sucht  die  Einsicht  in 
diese  Zusarnnirnhän'Te  klarzustellen  und  verbindet  die  (ieschichte 
mit  der  Erd-  und  Naturgeschichte.  Die  Landschaft,  die  zur  Be- 
sprechung steht,  urird  &  eine  grossere  Lebensgemeinschaft  be- 
trachtet  und  aus  deren  wirklichen  Verhältnissen  werden  die  Lebens- 
^setze  für  die  Vor-  und  Jetztwelt,  für  die  darauf  lebenden  Pflanzen, 
ilere  und  Menschen  und  für  die  physikalischen  Vorgänge  abgezogen, 

>)  S.  Kerp,  Führer  dwdi  die  HdnMtkimde. 


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—  398  — 


nach  Ursache  und  Wirkung,  Grund  und  holije  erörtert.  Alles  lenkt 
den  Blick  zurucK  auf  das  in  der  Hcuiiat  Gesehene  und  Erlebte  und 
dehnt  so  das  eigene  Erlebeiii  das  Menschsein  ungemein  aus. 

Indem  der  heimatkundliche  Unterricht  das  Denken  und  Emp- 
finden des  Schülrrs  erweitert  und  vertieft,  indem  er  zei^,  woraus 
das  \'olk  seine  Kraft,  seine  Arbeit,  seine  staatliche  Organisation 
schöpfte,  wachsen  die  Keime  zur  Heimat-  und  Vaterlandsliebe, 
zur  eigenen  Tatkraft  und  zum  nationalen  Wirken.  Es  wird  daher 
gut  sein,  zum  Schluss  des  erdgeschichdichen  Unterrichts  wieder  zur 
Heimat  zurückzulcnkcn  und  von  höherer  Warte  aus  die  Einordnung 
derselben  ins  «;anze  \'olkerlcben  und  die  kulturelle  Verknüpfung 
klar  und  deutlich  aufzuzeigen.^) 

c)  \' o  1  k  s  g  e  s  c  h  i  c  h  t  e. 

Am  schwierigsten  sind  den  Kindern  die  Ouellpunkte  des  ge- 
schichtlichen Lebens  aufzuzeigen.  Sie  finden  sich  aber  mitten  drin 
im  geschichtlicben  Leben  unserer  Zeit,  ohne  dass  jedoch  dasselbe 
gefasst  und  begrÜTen  werden  könnte.  Verständlicher  und  deshalb 
naheliegender  ist  das  geschichtliche  Leben  der  Vorzeit,  das  Kinder- 
und  Jugcndlcbcn  unseres  Volkes.  Nur  weni^je  Reste  der  Erinnerung 
weisen  darauf  iiin  und  zudem  müssen  diese  noch  mit  bereits  ge- 
bildetem geschichtlichen  Sinn  und  einer  bewegten  geschichtlichen 
Phantasie  erschlossen  und  aufgenommen  werden. 

Es  muss  daher  in  erster  Linie  der  geschichtliche  Sinn,  das 
geschichtliche  Denken  und  Empfinden  beim  Kinde  geweckt 
werden.  Äussere  Veranlassung  geben  die  sich  im  Orte  findenden 
geschichtlichen  Denkmäler,  die  Erinnerung  an  geschichtliche  Personen 
im  Orte.  Innere  Veranlassung  sind  EraShlungen,  Geschichten  aus 
früherer  Zeit,  Märchen,  Sagen,  Anekdoten.  Das  Kind  muss  beim 
Anhören  solcher  Dinge  die  Fähigkeit  entfalten,  sich  in  andere 
Menschen,  in  Situationen  und  Gemütslaj^en ,  die  das  alltä^^liche 
Leben  nicht  bietet,  zu  versetzen.-)  Es  muss  in  (jcdankca  mit  dem 
WUden  ein  Wilder,  mit  dem  Helden  ein  Held  werden.  So  weit  es 
diese  Bewusstseinssynthesen  zu  vollziehen  vermag,  so  weit  erstreckt 
sich  sein  geschichtliches  Interesse  und  Vcrständni*?  Also  nur  in  der 
inneren  Nachbildung  baut  der  Schüler  frühere  Zeiten,  Vorgänge, 
Zustände  in  seinem  Geiste  an,  nicht  aber  im  Lernen  von  Namen, 
Zahlen,  im  Anhören  von  kulturgeschichtlichen  Beschreibungen  und 
Schilderungen  hei^brachter  Art.  Es  muss  etwas  dem  Kindesgeiste 
Angemessenes»  I&ngeniales,  Heldenhaftes,  irgendwie  Besonderes 

^)  Welches  Matoriat  der  heimatliche  geographische  Unterrieht  za  erarbeiten  bat, 

crsielif  m;in  aus  Julius  John,  r)<T  L'ntrrricht  in  der  N.itur  als  Mittel  ftlf  gnmdlegende 
Aa&cb»uuog,  S.  49,  und  der  Heimatkunde  von  Friedrich  Krönlein. 

«)  Vgl.  ScbiUing,  Die  Pflege  des  geacbtehtUcheii  lateieMcs.  Fid.  Studien  XDC. 
Heft  5  (I^piesden,  Bleyl  &  Kaenimerer). 


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—   399  — 


und  Hervorragendes  sein,  nicht  bloss  etwas  Nützliches,  wie  z.  B.  die 
Buchdruckerkunst,  wenn  es  setner  Natur  zusagen  soll.  Das  Kind 
ist  dem  Geiste  nach  noch  eui  durchaus  Individuelles,  sich  Ent- 
wickelndes, durch  Bewusstseinsprotuberanzen  sich  Ausbreitendes. 
Was  dann  in  diese  Beleuchtung  zu  stehen  kommt  und  den  Blick 
fesselt,  das  ist  Leben.  Dasselbe  erwacht  auch  oft  ohne  die  Schule, 
wird  genährt  durch  Erzählungen  der  Kameraden,  der  Geschichtcn- 
bücher,  der  Bilder.  Die  Schule  muss  diesen  Zug,  Geschichten  zu 
hören  und  darin  su  leben,  sich  zu  nutze  machen.  Auch  wenn  der 
Geschichtsstoif  selbst  zu  Anfang  noch  ohne  objektiven  Gehalt  ist, 
so  muss  er  als  ein  ABC  der  Phantasie  in  ähnlicher  Weise  vor- 
bereitend wirken,  wie  der  Schreib-  und  Leseunterricht  für  die 
Lektüre,  der  frühere  Anschauungsunterricht  für  den  eigentlichen 
Real*  und  Formenunterricht 

Bei  der  geschichtlichen  Vorstellungsentwicklung  handelt  es  sich 
um  Entwicklung  von  Zcitrcihcn  im  sukzessiven  Wandel  der  Vor- 
stellungsinhalte. Beim  Austausch  der  Reihen  gejj^encinander  ent- 
stehen die  Zeiträume  und  Handiungen  darin.  Dazu  lässt  sich  noch 
eine  dritte  Reihe,  die  Kausalitätsreihe  hinzunehmen,  wobei  die 
eigentliche,  objektive  Geschichte  vor  Augen  steht.  Die  ersten  Ge- 
schichten bedürfen  des  letzteren  Gesichtspunktes  nicht.  Das  Kind 
frag^t  noch  nicht  nach  den  Gründen,  nach  Ursachen  und  Be- 
dingungen. Es  begnügt  sich  mit  dem  psychischen  Ereignis  des 
zeitBchen  Fortschritts  zur  raumlidien  Gestaltung.  Daher  genügen 
für  die  erste  Zeit  die  Märchen,  Legenden  und  Sagen,  um  den  ge- 
schichtlichen Sinn  zu  entwickeln  Ausserdem  wird  das  Kind  im 
Märchen  und  der  Sap^c  mit  den  mythischen  Klcmenten  des  Volks- 
bewusstseins  erfüllt  und  vermag  sich  dadurch  dem  Empfinden  und 
Fühlen,  dem  geschichtlichen  Leben  in  seiner  ursprünglichen  Kraft 
und  Gestalt  anzuschmiegen.  Fls  j^ewinnt  geschichtliche  Lebenswertc 
durch  den  Genuss  dieser  Stoffe,  die  durch  keine  Beschreibung  und 
Deduktion  in  späterer  Zeit  mehr  zu  gewinnen  sind. 

Die  in  Betracht  kommenden  überlieferten  Stoffe  lassen  sich 
verminen  durch  kulturiiistorische  Darstdlungen ,  die  ein  Stficlc 
Leben  aus  vergangener  Zeit  in  konkreter,  dem  Kinde  zugänglicher 
und  angemessener  Weise  vorführen.  Es  handelt  sich  dabei  nicht 
um  objektive  Richtigkeit,  wenn  nur  geschichtliche  Tatsachen  nicht 
geradezu  umgestossea  werden.  Der  Nachdruck  liegt  auf  psycho- 
logischer Wahrheit  und  Sachdienlichkeit  So  haben  wir  einen 
kindertümlichcn  Roman  der  kulturellen  £ntwicklui^  des  Menschen- 
geschlechts im  Robaison,  einen  Roman  der  Zustände  am  Schluss 
der  Höhlenmenschenzeit  (Eiszeit)  in  Rulaman ,  einen  Roman  der 
Kcltcnherrschaft  in  Kuning  Hartfest,  einen  Roman  der  Entwicklung 
des  Selbstbewusstseins  im  Faustbuch.  Es  wird  sich  darum  handeln, 
diese  Erzeugnisse  volkstümlicher  Dichter  auf  ihre  Verwertung  im 
Schulunterricht  noch  naher  zu  untersuchen  und  neben  den  epi^en 


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Sagen,  die  eine  solche  Untersuchung  und  Kinordnunjüf  in  das  Lehr- 
plansystcin  bei  der  Herbart  -  Zillerschen  Schule  gefunden  haben, 
richtig  zu  verwenden. 

Neben  dem  geographischen  und  naturkundlichen  ist  ein  ge- 
srhirhtliclier  Anschauungsunterricht  notwendig  und  für  die  Person- 
bildung äusserst  fruchtbar.  Es  müsste  dieser  elementare  Geschichts- 
unterricht auch  in  fortgesetzter  Folge  auftreten  und  die  beiden 
anderen  Interessenrichtungen  verbinden  und  erganzen.  Der  Zu- 
sammenschluss  bestände  am  besten  darin,  dass  die  (3rtlichkeiten 
der  Heimat  sowohl  bei  der  Auswahl  der  Stoffe  als  der  Behandlung 
massgebend  würden.  Unsere  Märchen  spielten  draussen  im 
^errenwaidchen"  am  Bürgersee  und  um  das  dortige  „Hexen- 
häuschen", wohin  zuvor  ein  Spaziergang  mit  den  Kleinen  gemacht 
würde.  Unser  Robinson  müsste  mit  einem  südwestafrikanischen 
Vaterlandsverteidiger  nach  Bremen  und  schiffte  sich  dort  ein.^) 
Rulaman  spielte  ohnehin  in  hiesiger  (iegend  und  Kuning  Hartfest 
hatte  seinen  Sitz  auf  dem  nahen  Neuffen. 

Für  die  eigentliche  Volksgeschichte  müssten  die  Funde  der 
Altertumssammlung,  die  geschichtlichen  Berge  Aichelberg,  Limburg; 
Teck,  Neuffen,  die  einstigen  Römerstrassen,  das  Kastell  in  Köngen, 
das  Kloster  in  Denkendorf  und  eine  Menge  von  Tatsachen  aus  der 
hiesigen  Ortschronik  die  Anknüpfungspunkte  geben.  Endlich  würde 
es  auch  kein  Fehler  sein,  geschichtliche  Daxstelluagcn  ohne  weiteres 
in  die  Nähe  unseres  Wohnorts  zu  verlegen  und  zwar  in  der  Form 
eines  Vergleichs.  Die  Kinder  lokalisieren  ohnedem  jede  Geschichte 
und  der  Lehrer  würde  gut  tun,  hin  und  wieder  sich  sagen  zu  lassen, 
wo  sie  sich  die  Sache  hingedacht  haben,  um  so  für  seinen  Unter- 
richt nützliche  Fingerzeige  zu  gewinnen.  Wenn  jedoch  durch  die 
Geograptüe  die  fernliegenden  Landschaften  dem  Blick  des  Schülers 
erschlossen  sind,  so  kann  leicht  unter  Beihilfe  der  Karte  die  ge- 
schichtliche Begebenheit  an  die  richtige  Stelle  hingedacht  werden. 

Die  geschichtliche  Heimatkunde  ist  noch  am  wenigsten  an- 
gebaut. Alan  wollte  sie  seither  durch  das  Lesebuch  ersetzen.  .Allein 
dadurch  verlor  man  die  Verbindung  mit  der  Heimat  und  schob  sie 
einer  andern  Disziplin  zu.  Zudem  müsste  dann  jeder  Schulort  sein 
eigenes  Lesebuch  haben.  Manche  leimatkunden"  lassen  das  Ge- 
schichtliche ganz  beiseite  und  enthalten  nur  (ieographischcs. 
Krön  lein  schliesst  hin  und  wieder  im  ersten  Schuljahr  an  ein 
Märchen  an  und  geht  im  dritten  Schuljahr  zum  Schluss  zu  einer 
völkergeschichtlichen  Betrachtung  über,  aber  auch  in  Form  eines 
Lesestücks  („Die  Markomannen").  Die  „Heimatkunde  von  Basel" 
gibt  eine  schöne  Zusammenstellung  und  Darstellung  des  geschicht- 
lichen Materials,  überlässt  es  aber  dem  Lehrer,  das  Geeignete  am 
gewiesenen  Orte  in  seinen  Unterricht  aufzunehmen.  Es  fehlt  also 


VgL  Fieniiea,  Peter  Mogn  Fdut  naeh  SOdwcsU 


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—  4^1  — 


die  Einordnung  des  heimatlichen  Geschichtsstoffes  in  den  Unterrichts- 
plan. „Ortschronikographische  Belehrungen"  wurden  von  A.  Holder 
in  einer  eigens  hierüber  verfassten  Schrift  längst  verlangt,  aber  die 
Ausführung  wurde  nicht  gezeigt.  Allzuleicht  überschreitet  man  das 
Bedürfnis  der  Kinder  und  bewirkt  anstatt  Interesse  das  Gegenteil 
davon.  Es  gibt  eben  (ur  die  geschichtliche  Heimatkunde  nodi  viel 
weniger  eine  alU^emoinr  Norm  der  Anordnung  als  für  die  geo- 
graphische. Daher  muss  für  jeden  Schulort  das  Material  besondere 
festgestellt  und  dann  dem  gesamten  Geschichtsunterrichtsplan  ein- 
geordnet weiden.  Ausser  diesem  besonderen  Material  zur  heimat- 
Heben  Geschichte  muss  das  allgemdne,  wie  es  in  Märchen, 
Sagen,  Legenden,  kulturhistorischen  Romanen  vorliegt,  noch  für 
den  Sc!iul;^ebrauch  zubereitet  und  in  den  Lehrplan  aufgenommen 
werden.    Anlange  hierzu  sind  gemacht.^) 

Im  neuen  württembergischen  Lehrplan  (1907)  sind  für  die  ersten 
drei  Schuljahre  im  heimatkundlichen  Unterricht  genannt:  Geschicht- 
liches und  Sagenhaftes  aus  der  Heimat.  Unter  der  Überschrift 
„Behandlung"  findet  sich  die  Anweisung:  „Durch  Einflechten  von 
Geschichten  und  Märchen  soll  der  Unterricht  belebt  und  für 
Phantasie  und  Gemfit  fruchtbar  gemacht  werden."  „Den  geo- 
graphischen Stoffen  sind  Mitteilungen  aus  Geschichte  und  Sage 
einzuflechten."  Man  denkt  sich  wohl  diese  Stoffe  als  blosse  Bei- 
gaben zum  übrigen  heimatkundlichen  Unterricht. 

Der  BerUner  „Grundlehrplan  '  von  1902  führt  keine  „Heimat- 
kunde" unter  den  Fächern  auf.  Neben  dem  Anschauungsunterricht 
gibt  die  Erdkunde  der  V.  Klasse  eine  Gelegenheit  zur  Heimat- 
kunde. Tn  der  sächsischen  X'-^lksschule  treten  schon  in  der 
VI.  Klasse  statt  der  zwei  Stunden  Anschauungsunterricht  drei 
Stunden  Heimatkunde  auf  und  in  der  V.  Klasse  tritt  Vaterlands- 
kunde an  die  Stdie  der  Erdkunde.  Man  verateht  dort  unter 
Heimatkunde  hauptsachlich  die  Kenntnis  der  Stadt  und  der  um- 
gebenden Natur  und  unter  Vaterlandskunde  die  Kenntnis  Sachsens, 
Es  werden  die  Gestalt  der  Bodenoberfläche,  die  wichtigsten  Boden- 
arten, die  heimatlichen  Gewässer  mit  einigen  Tieren,  die  heimat- 
Kchen  Wald-  und  Parkanlagen  und  charakteristische  Landschaften 
behandelt*) 

Wenn  der  gesamte  Unterricht  ein  heimatliches  Gepräge  trage, 
meint  Conventz,  so  würden  sich  besondere  Unterrichtsstunden  in 
der  Heimatkunde  erübrigen.  Beim  derzeitigen  Stand  der  Sache 
empfehle  es  sich  aber  zunächst,  dass  dem  offiziellen  Lehrplan  in 
jeder  Klasse  eine  bestimmte  Anzahl  von  Stunden  für  die  Heimat- 

Vgl.  Baxtbolomäi,  Ueimatkunde  der  Märcheostaie.  —  Ziller,  Meimatkande 
d«  MSrch«!».  (Jahrbuch  des  Vcrdna  fttr  wineoschaftliclie  PXdagogik  III.)  —  ZUIer- 
Bcrgncr,  M.u<  riali  ;n  /ur  spczicUcD  PSdagogik.  —  Rein,  Theorie  und  Praxis  des  VoNcs- 
xhuiuDterrichts,  Scbuljabr  I — m. 

*)  S.  JXc  Heimatkunde  ia  der  Schule  von  Prof.  Dr.  Conventz,  Berlin  1904. 

FldaaoglMh«  atadln.  ZZIZ.  6.  96 


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—    402  — 


künde  anf^efügt  werden.  Der  gegenwärtige  unhaltbare  Zustand 
wird  sich  dann  leicht  aufheben  lassen ,  wenn  die  geschichtliche 
Heimatkunde  mit  derselben  Sorgfalt  und  Konsequenz  ausgebaut  ist 
wie  die  geographische 

Zum  Schluss  sollen  noch  die  Hilfsmittel,  die  dem  gesamtea 
Heiinatkundeunterricht  zur  Verfügung  Stehen,  vor  Augen  gestellt 
werden.    Es  sind: 

I.  Die  Lehrausflüge  oder  Lerngänge.  Dieselben  sind  längst 
unter  den  verschiedensten  Titeln  verlangt  (Schulreisen,  Exkursionen, 
Schul*,  Lehr-,  Lernausflüge,  Spaziergange,  Schulwanderungen, 
Unterrichtsgänge  im  Freien,  Lernspaziergän5:^e  u.  s.  f.)  und  finden 
immer  mehr  Anerkennung.  Zum  mindesten  werden  sie  nicht 
als  blosser  Zeitverlust  oder  Missbrauch  der  Lehrfreiheit  betrachtet. 
Manche  Städte  gewähren  Unterstützungen  fiir  die  Schüler,  z.  R 
Beilin,  Breslau,  Karlsruhe,  München.  Die  Wander-,  Gebtrgs-  und 
ähnliche  Vereine  unterstützen  die  Einrichtung.  Die  Lehrervereine 
könnten  noch  mehr  dafür  tätig  sein.  In  Leipzig  besteht  ein 
„Verein  für  Volkshygicne",  der  die  Ferienwanderungen  der  Schüler 
in  die  Hand  genommen  hat  und  eine  eigene  Bibliothek  sowie 
Lehrer  als  Führer  auf  den  Wanderungen  zur  Verfügung  stellL 

Ihre  Aufgabe  ist,^)  eine  Verbindung  zwischen  Schule  und  Leben, 
Schulzimmerunterricht  und  Wirklichkeit  herzustellen;  dabei  kräftige 
Anschauungen  und  klare  Vorstellungen  erwerben,  Probleme  suchen 
und  finden,  nachprüfen,  wiederholen  und  erweitern,  selbständige 
Beobaditungen  machen  zu  lassen,  Liebe  zu  Heimat  und  Vaterland 
zu  wecken  und  zu  pflegen.  Nebenbei  fördern  sie  die  Gesundheit  » 
bei  Lrhrrrn  und  Schülern.  Sie  sind  auch  ein  vorzügliches 
KonzciUr  itlonsmittel.  Die  heimatliche  Natur  wird  zur  Unterlage, 
zum  Aubgangs-  und  Beziehungspunki  aller  Lehr-  und  Lerntätigkeit. 

Die  Aufnahme  der  Lerngänge  in  den  Unterrichtsplan  ist  eine 
Verwirklichung  des  Anschauun^sj)rinzij)s  im  speziellen  Fall.  Es 
treten  dabei  mancherlei  Hindernisse  in  den  Weg  (Unruhe  der 
Schüler,  unerwünschte  Zuhörer,  Widerstand  der  Eltern,  Grossstadl- 
verkehr, Auslagen,  Zeitverlust,  überfüllte  Klassen,  intensive  Vor- 
bereitung), aber  sie  lassen  sich  bei  gutem  Willen  überwinden.  Ibah 
Stoff-  oder  Arbeitsplan  für  das  j^^anze  Jahr  ist  durchaus  notwendig. 
In  demselben  muss  bei  den  einzelnen  Fächern  bemerkt  werden, 
welche  Lcrnpjänge  in  der  ersten  und  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Monats  zu  machen  sind.  Als  kleine  Hilfsmittel  sind  notwendig: 
Bandmeter,  Bandmass  {lO  oder  20  m  lang),  Notizbuch,  Pflanzen- 
schaufel, Botanisterkapsdi,  etwas  Verbandzeug  u.  dgl.  Die  Lern- 
gänge  werden  erst  dann  regelmässipje  praktische  Einrichtung^  einer 
Schule  werden,  wenn  auf  dem  Stundenplan  eine  Stunde  dafür  an- 


S.  ii«hcbt  über  die  Vorträge  von  Lehrer  Pfalzgraf  auf  dem  Kirchheimer 
Fcricnknn.  SclnUTeiiod  No.  9,  1907. 


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gesetzt  wird.  Am  besten  ist  es,  eine  Endstunde  des  vor-  oder  nach- 
mittäglichen Unterrichts  zu  wählen,  damit  dann  der  Lcrnj^ang  auf 
der  Unterstufe  auf  2,  auf  der  Oberstufe  auf  3  Stunden  ausgedehnt 
werden  kann,  wenn  sich  solches  notwendig  macht  Bei  AbteUungs> 
Unterricht,  in  einklassigen  Schulen  u.  dgl.  ist  ein  Wechsel  der  Ab- 
teilungen nötig.  Auch  muss  ein  Austausch  der  Lerngangstunde 
mit  einer  andern  Stunde  zulassig  sein,  da  immer  die  Witterung 
mitspricht. 

Lerngänge  sind  dann  keine  Spaziergänge,  sondern  Unterrichts- 
stunden.  Sie  bedürfen  deshalb  eines  Ziels  und  einer  Vorbereitung. 

Neben  der  Hauptaufgabe  können  noch  Nebenaufgaben  gestellt 
werden,  die  im  Vorbeiziehen  7.u  erledigen  sind.  Hin-  oder  zweimal 
im  Jahre  erweitern  sich  die  Lerngänge  zu  Leraausflügen,  die  einen 
ganzen  Schultag  in  Anspruch  nehmen. 

Die  Ausföhrung  der  Lemgänge  und  Lemausflüge  wird  so  ge- 
handhabt, dass  die  Schüler  in  Marschkolonne  (Viererreihe)  antreten, 
geschlossen  marschieren,  vielleicht  auch  ein  Marschlicd  singen.  Am 
Ziel  stellen  sie  sich  um  den  Lehrer  auf.  Die  Heiehrung  f^ibt  kurze 
Andeutungen,  die  Schüler  erinnern  sich  stets  der  aufgestellten  Ziele, 
Stellen  selbst  Fragen,  messen,  vergleichen  usw.  Humor  und  Spiel 
kommen  zu  ihrem  Recht,  wenn  die  Schüler  sich  lagern.  Wirt- 
schaften werden  gemieden.  Man  lässt  die  Schüler  die  Natur  be- 
lauschen (z.  B.  das  Rauschen  des  Waldes)  und  nimmt  stets  wieder 
Orientierungsübungen  (Raum,  Himmelsgegend,  Zeit)  vor.  In  der 
Schule  müssen  die  Kinder  über  den  Lerngang  berichten.  Zum 
Schluss  wird  noch  die  Frage  aufgeworfen:  Was  wurde  nicht,  was 
wurde  mehr  gefunden,  als  beabsichtigt  war:  .Xuch  der  Lehrer  muss 
sich  nach  dem  Lerngang  darüber  Rechenschaft  geben,  was  sich 
erreichen  und  wie  sich  das  Erreichte  verwerten  lässt.  (Einträge  in 
den  StolT-  und  Arbeitsplan.) 

Die  Lerngänge  stellen  sich  in  den  Dienst  der  gesamten  Heimat- 
kunde, d.  h.  sie  dienen  allen  Fächern.  .Auf  einem  Lerngang  lassen 
sich  oft  die  Auf^al)en  für  zwei  oder  mehr  Fächer  löseii.  Für  die 
Geographie  wird  der  Gesichtskreis  erweitert,  der  Sternenhimmel 
bcÄrachte^  die  Karte  zur  Anwendung  gebracht;  für  die  Geschichte 
werden  historisch  wichtige  Punkte  besichtigt  und  der  Zusammen- 
hang der  Orts-  und  Stammesgeschichte  mit  der  Vülksi;eschichte  an 
Ort  und  Stelle  aufgezeigt;  für  die  Naturgeschichte  werden  Ik*ob- 
achtungen  gemacht,  Gegenstände  gesammelt,  die  Schonung  der 
Naturdinge  geübt,  das  religiöse  Gefühl  erweckt;  für  den  Spradi- 
unterricht  werden  Namen  am  Gegenstande  erklärt,  Poesiebüder  und 
Gemütsverfassungen  begründet,  Gedichte  erlebt;  für  den  .'\ufsatz 
werden  Themen  ans  dem  Erleben  gewonnen  und  das  Bedürfnis  des 
schriftlichen  Ausdrucks  wird  unmittelbar  empfunden  (Tagebücher); 
für  das  Rechnen  werden  Sachen  zur  Verfügung  gestellt,  selbst- 
gefundene Aufgaben  gewonnen  und  die  verschiedenen  Rechnungs* 

36* 


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—    404  — 


arten  miteinander  verbunden;  für  das  Zeichnen  ergibt  sich  der 
Anschluss  an  Natur-  und  Kunstwerke  von  selbst;  das  Singen  findet 
für  die  Naturlieder  eine  gute  Anwendung  und  das  Turnen  wird  zur 
Spiel-,  Wald-  und  Freiluftschule.  Somit  haben  alle  Fächer  von  den 
Lerngäogen  einen  reichen  Gewinn  zu  erhoffen. 

2.  hi  den  Dienst  des  heimatiichen  Katuruntetrichts  treten  auch 
die  Schulgärten.  Was  sich  in  der  Natur  oft  sehr  zerstreut  vor- 
findet, das  lässt  sich  hier  en^  vereinigt  und  gesichtet,  planmässig 
und  systematisch  geordnet  vor  Augen  stellen.  Die  Natur  ist  ji^leich- 
sam  vergeistigt.  Es  ist  darin  schon  ein  l'eil  der  Schularbeit  ge- 
leistet und  somit  der  Weg  zur  Erkenntnis  geebnet.  Deshalb  bildet 
der  Schulgarten  eine  willkommene  Ergänzung  der  Naturbeobachtung. 
Man  braucht,  um  zum  Ziele  zu  kommen,  nicht  weit  zu  gehen,  ist 
nicht  vom  Zufall  abhängig,  hat  das  Beobachtungsobjekt  nach  Wunsch 
in  beliebiger  Anzahl  vor  sich  und  was  dergleichen  Bequemlichkeiten 
noch  mehr  sind.  Aber  man  darf  nicht  vergessen,  dass  der  Schxü- 
garten  nur  ein  Nachbild  der  Natur  in  verjüngtem  Massstab  bietet» 
dass  er  daher  die  Lemgänge  und  direkte  Naturbeobachtung  in  vielen 
Fällen  nicht  zu  erset^^en  vermag.  Wo  er  vorhanden  ist  —  und  das 
ist  noch  an  wenigen  Orlen  der  Fall  —  und  wo  er  richtig  angelegt 
ist  —  und  das  ist  noch  seltener  zu  finden  —  leistet  er  dem  Fort- 
schreiten im  naturwissenscfaafllichen  Denken,  dem  weiterstrebenden 
Interesse  eine  willkommene  Beihilfe. 

3.  Ein  ähnliches  Hilfsmittel  sind  die  Sammlungen.  So 
vorteilhaft  es  ist,  wenn  man  Sammlungen  von  Steinen,  '^epre-^sten 
Pflanzen  und  ausgebälgten  l'ieren  zur  Hand  hat,  um  die  liriunerung 
damit  aufzufrischen,  so  nachteilig  ist  es,  wenn  man  die  erstmalige 
Behandlung  und  den  gesamten  naturgeschicbtUchen  Unterricht  daran 
anschliesst.  Ihren  vollen  Wert  haben  sie  dann,  wenn  sie  eben  bei 
dem  an  die  Natur  unmittelbar  ane^eschlossenen  Unterricht  immer 
wieder  von  neuem  entstehen,  wenn  die  Schüler  bei  der  Kntstcbung 
persönlich  mitschatfend  beteiligt  sind  und  sich  ein  Stück  SchuUeben 
damit  verbindet  Wenn  Sammlungen  gekauft  werden,  so  sollte 
dabei  mcht  auf  systematische  Vollständigkeit,  sondern  auf  das 
Vorkommen  der  Stücke  in  der  I  leimat  und  im  Vaterland  besonders 
gesehen  werden.  Sie  gehören  dann  in  einen  Glaskasten,  in  welchem 
sie  den  Kindern  stets  vor  Augen  treten  und  so  in  seinen  Umgang 
einmünden. 

4.  Ebenso  ist  es  mit  Pflanzenkästen,  Aquarien  und 
Terrarien.  Sie  bieten  auch  ein  Naturleben  sozusagen  im  Auszug. 
Es  sollte  aber  der  Zusammenhang  mit  der  Natur  im  Grossen  auf- 
recht erhalten  werden.  Wenn  der  Schüler  selbst  an  ihrer  Auf- 
richtung, Einrichtung  und  Unterhaltung  beteiligt  ist,  so  behalten 
sie  für  ihn  diesen  Zusammenhang  und  erscheinen  als  Episoden  der 
Naturgeschichte. 


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—   405  — 


5-  An  grosseren  Orten  stehen  auch  zoologische  Gärten, 

Aquarien,  Museen  u.  dgl.  dem  naturkundlichen  Unterricht  zur  Ver- 
fügung. Darin  sollte  aber  eine  heimatliche  Abtcilunp:  vorpfesehen 
sein.  Manche  Tiere  der  Heimat,  wie  Uhu,  Marder,  Haselmaus, 
WUdkatze  bekommt  man  im  Freien  zeitlebens  mcht  zu  sehen,  deshalb 
kann  oft  ein  Ersatz  der  Anschauung  durch  solche  Nachahmung  der 
Natur  erwünscht  sein.  Sind  auch  die  Tiere  in  der  Gefangenschaft 
wie  besonders  in  den  fahrenden  Menagerien,  nie  ganz  mehr  das, 
was  sie  im  Freien  vorstellen,  so  erhält  man  doch  noch  ein 
besseres  Bild  von  ihnen,  als  wenn  man  sie  bloss  im  Bilde  sieht. 

6.  Bereits  hat  man  auch  die  Menagerie  in  die  bciiule  auf- 
genommen als  Hegung  und  Pflege  lebender  Tiere.  Die  Vogel- 

arten  konnten  auf  den  Bäumen  des  Schulhofs  oder  im  Schulgarten 
beobachtet  werden.  Statt  dessen  werden  in  Posen  verschiedene 
Vogelarten  in  Käfii^^cn  in  der  Schule  gehalten.  In  München  ist  in 
21  Schulen  ein  besonderer  Raum  für  Spongien,  Schnecken,  Muscheln, 
Insekten,  Amphibien,  Reptilien,  Vögel  und  Ideine  Säuger  eingerichtet 
worden.  Auslagen  für  jede  Schule  betragen  jährlich  58  M. 
Dem  l'flcger  werden  i  '/j  Überstunden  angerechnet.  Derselbe  hat 
auch  in  den  Ferien  seinen  Dienst  zu  versehen:  jedoch  die  Mehrzahl 
der  kleinen  Tiere  wird  vorher  in  TVeiheit  f^^^csctzt, 

7.  Viel  weiter  ab  von  der  wirklichen  Natur  liegen  die  Bilder. 
An  Anschauungsbildern,  geographischen  Charakterbildern  und 
sonstigen  Wandbildern  ist  kein  Mangel  In  neuerer  Zeit  konrnien 
dazu  die  I.ichthildcrvorführungen.  Sie  treten  zwischen  Wort  und 
Sache  und  bilden  fijr  letztere  einen  Ersatz,  wenn  sie  dem  wirklichen 
Auge  nicht  erreichbar  oder  wenn  die  Reproduktion  des  Vorstellungs- 
bUdes  einer  Unterstützung  bedarf.  Als  Erinnerungs-  und  Ver- 
deutlichungsmittel  dienen  sie  dem  Unterricht,  wenn  Anschauung 
der  Sache  vorausgegangen  ist. 

8.  Weiter  unterstützen  die  K  a  r  t  e  n  den  heimatkundlichen  Unter- 
richt, besonders  dann,  wenn  sie  demselben  ihre  Entstehung  verdanken. 
In  Betracht  kommen  die  Wandkarte  des  Oberamtsbezirks,  die 
Markungs-  oder  Ortskarte,  die  Karte  des  engeren  Vaterlands,  eine 
Handkarte  für  die  Schuler  u.  s.  f.  Als  solche  kann  die  General» 
Stabskarte  verwendet  werden,  die  vervielfältigt  für  5  oder  lo  Pf.  an 
jeden  Schüler  abgegeben  werden  sollte. 

9.  Die  Lesebücher.  Sie  sollten  die  Natur  der  Heimat 
mit  ihren  Eigentümlichkeiten,  sowie  die  Heimatgeschichte  mehr 
berücksichtigen.  Freilich  müsste  dann  jeder  Be:drk  sein  eigenes 
Lesebuch  haben.  Namentlich  mässte  das  Unterklassenlesebuch  die 
örtlichen  Verhältnisse  zur  schönen  Darstellung  bringen.  Auf  der 
Mittelstufe  käme  das  engere  Vaterland,  auf  der  Oberstufe  Deutsch- 
land und  seine  auswärtigen  Beziehungen  in  Betracht.  In  allen 
Fällen  müssten  bei  Beschreibung  von  Naturgegenständen  oder  von 


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Kunstschätzen  immer  konkrete  Dinge  vor  Augen  stehen.  Das 
Lesebuch  sollte  in  jeder  Hinsicht  eine  Heimatkunde  sein,  indem 
für  jeden  Landesteil  solche  Stücke  ausi;;ewählt  würden,  die  einer 
genauen  Kenntnis  derselben  Rechnung  tragen.  Die  Abbildungen 
dürften  nicht  fehlen.  Geschichte,  Erdkunde  und  Naturgeschichte 
sollten  gleichmässig  darin  vertreten  sein,  teils  in  realer,  teils  in 
poetischer  Darstellung. 

TO.  Die  S  c  h  u  1  c  h  r  o  n  i  k.  Eine  solche  ist  in  Prcussen  von  den 
Allgemeinen  Bestimmungen  gefordert  und  cig^net  sich  ohne  Zweifel 
dazu,  das  Interesse  des  Lehrers  für  die  Heimat  beständig  wach- 
zuhalten und  neuangekommene  Ldirer  in  ihrem  Wirkungskreis  zu 
orientieren. 

Das  Unterrichts^ebiet  der  Heimatkunde  ist  in  den  ver- 
schiedenen Fächern  so  reichhaltig^,  so  wertvoll  und  interessc- 
erweckend,  dass  es  wohl  des  Schweisses  der  Edlen  wert  ist,  die 
erst  begonnene  und  noch  lange  nicht  gelöste  Aufgabe  zu  fördern 
und  im  eigenen  Kreise  ihren  praktischen  Ausbau  zu  versuchen. 

IV. 

Wie  ist  beinatkundiicb  zu  unterrichten) 

Aller  Unterricht  in  sämtlichen  Fächern  hat  es,  wenn  er  rechter 

Art  ist,  zunächst  mit  !)ckannten  Vorstellungen  zu  tun,  an  welche 
alle  fremden  anzuknüpfen  sind.  Beide  müssen  einander  die 
Hand  reichen,  wenn  sie  sich  im  Bcwusstsein  festhalten 
sollen.  Die  bekannten  Vorstdlungen  sind  soldie,  <Ue  sich  der 
Schüler  bereits  erworben  hat  und  auch  solche,  die  er  sich  leicht  in 
seiner  Umgebung  erwerben  kann.  Nach  beiden  Seiten  hin  muss 
der  Lehrer  Bescheid  wissen,  wenn  er  seinen  Unterricht  recht  an- 
legen und  betreiben  will.  Er  muss  wissen,  über  welche  Vor- 
stellungen seine  Schüler  von  Haus  aus  verfügen.  Um  hierin  keiner 
Täuschung  anheimzufallen,  wird  es  gut  sem,  wenn  bald  nach  der 
Aufnahme  der  Schüler  in  die  unterste  Klasse  systematische  Er- 
hebungen über  den  Gedankenkreis  der  Schüler  nach  Ausdehnung 
und  Inhalt  angestellt  werden,  wie  seiner  Zeit  vom  Pädagogischen 
Verein  in  Berlin  und  von  Dr.  Hartmann  in  Annaberg  bekannt 
gegeben  wurden.^)  Man  wird  sich  wundem,  manches  bei  den 
Schülern  zu  finden,  was  man  nicht  vermutete,  aber  noch  mehr 
darüber,  dass  die  Schüler  so  vieles  nicht  wissen,  sich  nicht  vor- 
stellen können,  wovon  man  annahm,  dass  die  Bekanntschaft  damit 
bei  ihnen  vorhanden  sein  müssle.  Diese  Erhebungen  lassen 
sich  aber  auch  ganz  gelegentlich  zu  Beginn  einer  jeden  Unterrichts- 

S,  Dr,  HMtmaum,  Über  die  Analyse  des  kindlichea  Gedaakenkreiscs;  auch  bei 
E.  Piltz,  Natarb«obaehtitiig  dci  Sc^ttei«. 


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—  407  — 


stunde  anstellen,  wenn  man  die  Schüler  veranlasst,  immer  erst  an- 
zu<Teben,  was  sie  von  der  in  Betracht  kommenden  Sache  bereits 
wissen  und  so  ihren  freien  Mitteilungen  und  Fragen  entgegen- 
kommt. Lasst  man  sich  von  diesen  Angaben  der  Schüler 
im  Unterricht  leiten,  merkt  man  die  nicht  hei^ehörigen  für  spätere 
Lektionen  vor,  dann  wird  der  Unterricht  in  den  heimisdien  Vor- 
stellungsschatz der  Schüler  einf^reifen  und  sein  Interesse  gewinnen. 
Der  Lehrer  muss  tatsächhch  lernen,  sich  in  den  Gedankenkreis  des 
Kindes  zu  versetzen,  sich  zum  kindlichen  Denken,  Empfinden  und 
Wollen  herabzulassen  und  an  seinem  Interesse  teilzunehmen,  wenn 
er  es  weiter  und  höher  emporziehen  wilL  Der  Erwachsene  muss 
freilich  sich  etwas  Gewalt  antun,  um  sein  Bcwusstscin  so  7\i 
wandeln;  aber  das  «gehört  zum  I.chrcrbcruf.  Als  Hilfsmittel  können 
gute  Bücher  dienen,  die  das  kindliche  Denken  treffen  und  in  der 
Sprache  des  Kindes  sich  bewegea  Wir  nennen  aus  früherer  Zeit 
die  Schriften  Berthold  Sigismunds,  namentlich  dessen  Kinder- 
psychologie: ,,Kind  und  Welt".  Als  weitere  wissenschaftliche 
Werke  dieser  Art  schliesscn  sich  an:  liedemann,  Uber  die  Knt- 
wicklung  des  Seelenlebens  des  Kindes,  Löbisch,  Entwicklung  der 
Seele  des  Kindes,  W.  Preyer,  Die  Seele  des  Kindes,  J.  SuUy,  Unter- 
suchungen über  die  Kindheit  und  noch  manches  andere  aus  der 
neuen  Kindcrpsy*  holot^ic.  Demselben  Zweck  dient  das  Lesen 
guter  Jugendschriften  und  solcher  Schriften,  die  sich  in  der  Heimat 
anbauen,  z.  B.  die  Roseggers.  Auch  humoristische,  wie  die  aus 
dem  Englischen  übersetzte  Schrift  „Helenens  Kinderchen"  sind  nicht 
zu  vergessen.  In  der  Gegenwart  sind  es  die  Schriften  des  „Haus- 
lehrers" fBcrthold  Otto)  und  dieses  Hlatt  selbst,  welches  sich  be- 
sondere Mühe  ^^ibt,  das  kindliche  Geistesleben  in  Sprache  und 
Denkweise  zu  erfassen. 

Wie  der  Lehrer  sich  der  heimatlichen  Sprech-  und  Vor- 
stellungsweise und  der  kindliclien  Denkart  möglichst  anzuschliessen 
sucht,  so  muss  er  auch  dem  Kinde  gestatten,  sich  in  der  Mundart, 
in  der  üblichen  Ausdrucksweise  und  entsprechend  seinem  innersten 
Fülilen  und  Denken  auszudrücken.  Wo  sich  naive  Naturlaute  und 
eigenartige  Gedanken  hervorwagen,  dürfen  sie  nicht  mit  Spott  oder 
Verweis  zurückgewiesen  werden,  sonst  kann  sich  das  Kind  nicht 
in  der  Schule  daheim  finden.  Es  wird  dann  dem  beständj^en 
Schweigen  oder  dem  papa^einrticren  Antworten  verfallen.  Man 
denke  nur  an  die  Forderung  der  hochdeutschen  Sprache  schoji  in 
den  untersten  Klassen,  von  der  allerdings  In  neuen  Lehrplänen 
etwas  nachgelassen  wird.  Die  Schriftsprache  ist  ganz  und  gar  ein 
Kunstprodukt  und  nirgends  beheimatet  Die  lUnder  aber  müssen 
natürlichen  Ausdruck  wie  Freiheit  im  Denken  und  Fühlen  zu- 
gebilligt bekommen,  sonst  können  sie  nie  sich  aus  eigenen  Wurzeln 
entfalten.  Besondere  Berücksichtigung  verdienen  die  im  Kinder- 
mund befindlichen  Verschen  und  Reime,  Sprichwörter  und  Redens- 


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—  408  — 


arten.  Dieselben  leiten  leicht  zu  sachlichen  Betrachtungen  über, 
die  ffünsti^  auf  den  anzuschliesscndcn  Unterricht  wirken.  Es  ist 
deshalb  nötig,  dass  der  l^ehrer  mit  der  Mundart  seines  Wohnorts, 
der  volkstüimicheii  Ausdrucksweise ,  dem  Greistesgut  des  Volkes 
innig  vertraut,  also  im  Schulort  auch  daheim  ist.  Er  muss 
herrschende  ( Tchrän'^he,  Ansichten,  Redensarten,  Sitten,  den  Orts- 
aberglauben, sagcniiafte  und  geschichtliche  Erinnerungen  u.  dg^ 
kennen. 

Damit  kommen  wir  an  eine  zweite  Art,  wie  der  Lehrer  sich 
för  seinen  heimatlichen  IMterricht  geschickt  zu  machen  hat  Er 
muss  die  eigene  Heimat  seiner  Schüler  in  naturkundlicher,  -^geo- 
graphischer, freschichtlicher  und  cthnogrnphischer  Hinsicht  durch- 
forschen, dann  das  iMaterial  ordnen  und  für  die  zukünftige  Ver- 
wendung bereitsteilen.  Im  Leipziger  Herbartverein  bildete  sich 
seiner  Zdt  eine  Kommission  zur  Sammlung  der  am  Oite  vor- 
handenen „geographischen  Urelcmente,  Typen,  charakteristischen 
Raumformen,  sowie  aller  vorhandenen  Anknüpfungspunkte,  z.  B. 
auch  typischer  heimatlicher  Zahlen  und  Grössencinheiten ,  die  zur 
Büdung  des  Raumsinns  dienen,  kurz  zur  Sammlung  aller  Momente, 
die  als  Bausteine  zu  einem  rechten  geographischen  Wissen  ver- 
wendet werden  können".  Die  Arbeiten  erstreckten  sich  auf  a)  Be- 
griffe und  Gesetze  der  physikalischen  Geographie,  soweit  sie  aus 
der  Betrachtung^  der  Heimat  gewonnen  werden  können,  b)  geo- 
graphische Anknüpfungspunkte  aus  der  Heimat  für  ausserdeutsche 
Landschaftstypen,  c)  Bewusstsoinsmomente  des  Leipziger  Volks- 
schülers  fSr  den  Geographieuntenicht  von  Sachsen,  Deutschland, 
ineuropäische  und  aussereuropäische  Länder.  Das  Sfaterial  wurde 
dann  nach  Klassen  dem  Lehrplan  entsprechend  geordnet,  l.  nach 
dem  System  des  Lehrbuchs,  2.  alphabetisch  oder  lexikalisch, 
3.  nach  Stadtteilen  (Himmelsgegenden),  4.  nach  Spaziergängen, 
5.  nach  grosseren  typischen  Bildern,  z.  B.  ,J>er  Heinesche  Kanal^ 
„An  der  Mündung  der  Rödel  in  die  Elster*^  Eis  kann  noch  unter- 
schied  n  werden  zwischen  solchem  Material,  das  eingehend  zu  be- 
trachten, solchem,  das  fortlaufend  zu  beobachten  (z.  B.  klimatische 
und  Himmelserscheinungen)  und  solchem,  das  gelegentlich  zu  be- 
sonderen Zeiten,  z.  B.  überschwemmtes  Wiesengebiet  als  See,  und 
das  nur  vorübergehend  zu  besichtigen  ist') 

Zur  Mitarbeit  können  die  Schüler  und  durch  diese  noch  die 

Eltern  beigezogen  werden,  wenn  man  jene  zu  Hause  nachfragen 
lässt,  wo  dieses  oder  jenes  zu  finden  sei  u.  d<^\.  I'Veiiich  muss  bei 
diesen  Erkundigungsfragen  eine  gewisse  Vorsicht  walten,  damit  die 
Leute  nicht  eine  Spionage  dahinter  wittern.   Die  Zusammenstdlung 

')  Vorti»p .  ^,'<l'.;i!'.>ii  von  O.  Mönch  im  I-^  ip/i^-  '  1  < lircrvircin  Geo- 
graphie als  crwcitcnc  iicimatkundc.  I.  Teil  einer  .Saauniuiig  heimatkundlicher  An- 
Vaflpfnngipunkte  fllr  den  Geosrapbie-Uiitemcbt,'^ 


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—    409  — 


des  Stoffes  kann  leicht  in  die  Fonn  einer  Ortschronik  gebracht 

werden.  Die  Sammlung  erhält  dann  bleibenden  Wert.  Dazu  lassen 
sich  noch  Bcnierkunfjen  machen,  die  Anweisung  geben,  wann  und 
wie  der  Stoh  im  Unterricht  verwertet  werden  kann  (z.  B.  im  Auf- 
satz oder  ab  Lesestück  oder  im  Rechnen  usw.). 

Ist  so  der  Stoff  gesammelt  und  zur  Verfögung  gestellt,  dann 
muss  die  Heimat  nf]cr  Landschaft  in  kleinere,  charakteristische 
Gebiete  eingeteilt  werden,  die  als  methodische  i^.inhciten  je  eine 
besondere  Behandlung  verdienen.  Derartige  hinheiten  sind :  Schule, 
Scfaolhaus,  Hof,  Garten,  das  Nachbaihaus  mit  StaU  und  Scheune, 
Kirche,  Friedhof,  die  Hauptstrasse,  der  (irabcn  (Stadtmauer)  u,  s.  f.» 
der  Schafhof,  die  Wiesen  an  der  Lauter,  die  Acker  an  der  \abcrner 
Strasse,  der  ialwald,  die  Halinweid,  der  liüri^crsee,  der  Ilohcn- 
reisach,  die  Teck,  die  Hochebene  am  Breitenstein,  das  Zipfeibach- 
tal  u.  s.  t  Zur  Be^chtigung  jeder  dieser  methodischen  Einheiten 
Sand  ebenso  viele  Lemgänge  notwendig.  Die  auf  denselben  ge- 
wonnenen Anschauungen  werden  in  den  nächsten  Unterrichtsstunden 
verarbeitet.  Dabei  kommen  eine  Menge  heimatlicher  Begriffe  zur 
Entwicklung,  wie  z.  B.  bei  Schulhaus  und  Garten:  Lage,  Grösse, 
trdgeschoss,  Stockwerk,  Dach,  Giebel,  Front,  Kante,  First,  Geräte, 
Raum,  W<^nung,  Pflanzen,  Gemüse,  Beete,  Obst,  Himmelsgegenden; 
bei  Kirche:  Turm  oder  Dachreiter,  Glocken,  Geläute,  Wetterfahne, 
Schifif,  Empore,  Kanzel,  Altar,  Taufstein,  Sakristei,  Chor,  Or^el, 
Pfarrer,  Predigt,  Gottesdienst,  Kirchhof,  Friedhof,  Gottesacker, 
Bahre,  Leiche,  Denkmal j  bei  der  Wiese:  Gras,  Wiesenblumen, 
Heu,  öhmd,  Schwaden  oder  Mahden,  Flurname;  beim  Wald: 
Laub-  und  Nadelwald,  Baum,  Gebüsch,  Wurzel.  Stamm,  Rinde,  Äste, 
Zweige.  Moos,  Schutz  der  Fluren,  Raubtiere,  Raubvöjrel.  Förster, 
Forst,  l  loliiarbeiter,  Wild:  beim  Ber^:  Fuss,  Steil-  und  Flachabhang, 
Gipfel,  Rücken,  Abdachung,  Bergstrasse,  Aussichtsturm,  Hoch- 
ebene u.  s.  t 

Der  Gang  der  Untcrrichtslektion  ist  kein  anderer,  als 
in  den  übrigen  Fächern  auch.  Zuerst  müssen  die  Schüler  das 
schon  Bekannte  angeben.  Man  geht  mit  ihnen  so  darauf  ein,  dass 
sie  kaum  wissen,  ob  sie  nur  Bekanntes  sagen  oder  aber  schon 
Neues  lernen,  denn  es  handelt  ach  ja  nur  um  Klärung  ihres  Vor- 
stellungskreises, und  die  neuen  Vorstdlungen  treiben  bei  dem 
konkreten  Stoff  und  nac]ihalti;^'cn  Interesse  selbst  aus  dem  Bcwusst- 
scin  hervor.  Das  HeimatUclie  leitet  ihr  Denken  immer  weiter 
und  höher,  und  bei  aUedem  erhält  die  Selbsttätigkeit  des  Scliülers 
den  Vortritt  Was  er  nicht  genau  weiss,  das  muss  er  messen, 
beobachten,  auskundschaften;  liernach  berichtigen,  bestimmen, 
ordnen  und  in  Reihen  oder  Be^^rifCc  bringen;  dieselben  weiterhin 
verLjleichen  und  anwenden.  Die  Selbsttätigkeit  kann  auch  in  der 
Weise  genährt  werden,  dass  der  Schüler  selbst  die  Aufgabe  stellt, 
die  übrigen  Schüler  den  Gvang  des  Unterrichts  angeben.  Der 


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Unterricht  nimmt  dann  freilich  beim  Schüler  eine  solche  zutrauliche 
Form  an,  dass  er  sich  leicht  vcrg^isst  und  die  Schranken  der 
Disziplin  überschreitet.  Allein  das  ärgste  Vergehen  ist  das  nicht; 
lieber  zu  viel  Interesse  und  Leben  als  gar  keines.  Das  allzu 
dressierte  Antworten  ist  weder  Zeichen  eines  ^ten  Unterrichts, 
noch  einer  guten  Erziehung. 

Bei  der  Aufstellung  der  Ziele  muss  überall  das  Heimatliche 
herauslcuchten.  Also  nicht  etwa:  „Heute  reden  wir  vom  Stuhl", 
„von  der  Ziege",  „der  Schlüsselblume",  „dem  Rotkäppchen"  u.  dgl., 
sondern:  „Ob  euer  Stuhl  /.u  Hause  auch  aussieht,  wie  der  hinter 
dem  Ftilt",  „von  der  Ziege  des  Amtsdieners",  „von  der  Schlüssel- 
blume im  Herrschaftsgarten",  „vom  Rotkäppchen  im  Renen- 
wäldclicn",  „das  gestrige  Gewitter",  „der  Brand  am  20.  Februar  in 
der  Höhnischen  Mühle'"  u.  s.  f  Auch  die  übrigen  Fächer,  z.  B.  das 
Rechnen,  erhalten  solche  Aufgaben :  „Wir  wollen  einen  Brief  an  den 
Onkel  schreiben,  es  fehlen  uns  aber  zum  Porto  noch  einige  Pfennige" 
(Ergänzung  auf  lo).  „Der  Vater  des  Gteorg  verkauft  Postkarten" 
(Reihe  5).') 

Bei  der  Behandlung  der  vom  Lehrplan  vorgeschriebenen  Stoffe 
ist  noch  besonders  darauf  zu  sehen,  dass  eine  Kulturpflanze,  wie 
TL.  B.  der  Hopfen,  der  in  der  Heimat  gebaut  wird,  weit  ausführlicher 
zu  behandeln  ist,  als  z.  R  ein  Ackerunkraut  wie  der  Klatschmohn. 
Es  ergeben  sich  dann  fiir  crstere  folgende  Unterrichtseinheiten: 
I.  Die  noj)fenpf1anze.  2.  Welche  Arbeiten  Ht-r  Vater  auf  dem 
Hopfenacker  verrichtet.  3.  Wie  der  Hopfen  ;^cemtet,  t^epf!ückt, 
gedörrt  und  verkauft  wird.  Die  zweite  oben  angegebene  Pflanze 
kommt  nur  bei  Gelegenheit  der  Behandlung  des  Gerstenfdds  zur 
Besprechung.  Dieses  aber  erhalt  folgende  Besprechungen:  l.  Das 
Gerstenfeld  im  Frühjahr  (Pflügen,  Säen,  Keimen);  2.  die  Ger^ten- 
pflanze  blüht,  reift;  3.  ein  Unkraut  im  Gerstenfeld  (Klatschmr uin^; 
4.  das  Gerstenkorn  nach  der  Ernte;  5.  der  Gerstenacker  nach  der 
Ernte.  In  der  Geschichte  würde  man  ebenso  nidit  nur  im  all« 
gemeinen  behandeln  ,,Wic  es  in  Württemberg  vor  Zeiten  aussah" 
oder  „Die  alten  Deutschen  und  ihre  Beziehungen  zum  römischen 
Reich",  ,, Römische  Überreste  in  Schwaben",  ,,I)as  Christentum  unter 
den  germanischen  Völkern",  „Rittertum",  „Kiosterwesen" '*)  usw^ 
sondern:  „Wo  man  die  Dinge  in  unserer  Altertumssammlang 
gefunden  hat?",  »JDas  Kastell  bei  Köngen",  ,,\Vie  Kirchheim  ent- 
standen sein  soll?",  „Das  Kloster  in  Denkendorf',  „Wie  die  Teck 
früher  aussah?",  „Ein  Fest  darauf,  „Ein  Jagdtag",  „Wie  der  junge 
Ritter  aufwuchs",  „Ein  Überfall  der  Burg"  u.  s.  f.  Für  alle  diese 
Dinge  finden  sich  Anhaltspunkte  in  der  „Oberamtsbeschreibung", 
sowie  in  zahlreichen  Notizen  zur  Geschichte  der  Stadt   Soll  in 


*)  S.  Hossann,  Die  Heimatsidec  usw.,  S.  45  (vj;!.  besonders  S.  75  u.  76  o.). 
*)  5.  Lchrplan  für  die  wttrtt«inb«rgisch«tt  Volkstchtdea  1907. 


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—   4"  — 


das  Material  Leben  und  Bewegung  kommen,  dann  muss  die 
Phantasie  mithelfen.  Ausserdem  müssen  die  Produkte  der  Volks- 
phantasie, die  Sagen,  recht  häufig  7.ut  Verwendung  kommen.  An 
die  heidnische  Vorzeit  erinnert  die  Sage  vom  Sibyllenloch  unter 
der  Teck,  an  die  Alemannenzeit  die  Sage  vom  Heim  im  Heimen- 
stdfi,  an  die  Ritterzeit  die  Sage  von  den  drei  Brüdern  auf  Wieland- 
stein.  Württembergische  Volksschullehrer  haben  die  Märchen  und 
Sagen  unseres  Landes  gesammelt  und  so  eine  dankenswerte  Vor- 
arbeit geliefert,  die  grundlich  ausgenützt  werden  sollte.  Es  wäre 
kein  grosser  Fehler,  wenn  auch  Sagen  anderer  Gegenden  auf  die 
eigene  übertragen  wurden;  denn  es  kommt  ohnedem  vor,  dass  eine 
und  dieselbe  ^^e  an  verschiedenen  Orten  spielt. 

Die  Geschichte  beginnt  überhaupt  mit  der  Sage.*)  Diese  ist 
dem  kindhchen  Alter  angemessen,  weil  sie  <h>  Stufe  der  kindlichen 
Denkweise  des  \  olkcs  repräsentiert.  Die  \  oiksphantasie  spricht 
sich  darin  aus.  Deshalb  wird  die  Sage  stets  heimatliches  Gepräge 
an  sich  trs^n. 

Man  hat  es  nun  för  richtig  gehalten,  die  B^ärchen  und  Sagen 

dem  Geographieunterricht  anzuschliesscn  und  einesteils  die  ver- 
schiedenen Ortlichkeitcn  damit  zu  beleben,  den  Unterricht  inter- 
essant zu  machen,  und  anderenteils  die  Geographie  zum  Schauplatz 
des  Geschichtlichen  zu  erheben.  Damit  scheint  eine  Art  Kon- 
zentration zur  Ausführung  zu  kommen.  Doch  wäre  es  eine  Klebe- 
konzentration zu  nennen,  die  zur  Aufhebung  der  verschiedenen 
Fächer  führte  und  ein  Fach  an  das  andere  verloren  gehen  liesse, 
hier  die  Geschichte  an  die  ( reographie.  Die  Wechselwirkung  der 
Gedankenmassen,  dieses  geistig  belebende  und  allein  bildende 
Element,  bleibt  dabei  aus.  Die  Konzentration  lässt  sich  nur  er- 
reichen  durch  richtige,  auf  das  Erziehungsziel  abgestimmte  „Ziel**- 
stellung  der  C'n/r^lnen  Fächer  im  Lchrplan,  durch  Festhaltung  am 
vielseitigen  Interesse,  das  durcli  <iie  \erschiedenen  l'iicher  aufrecht 
erhalten  wird,  und  durch  ein  Lehrvcriaiiien,  das  bei  der  Vorbereitung, 
Verknüpfung  und  Anwendung  die  Gedanken  ineinanderspielen  lasst. 
Es  dari^  also  der  Geschichtsunterricht  nicht  im  Geographieunterricht 
aufgehen ,  wohl  aber  muss  er  demselben  parallel  laufen.  Es  wird 
'^irh  dann  von  selbst  ergeben,  dass  der  Behandlung  des  Ortes  und 
der  Umgegend  die  zugeliürigen  Sagen  angeschlossen  werden.  Doch 
wäre  damit  ein  fortlaufender  elementarer  Geschichtsunterricht  noch 
nicht  erreicht.  Einen  solchen  ins  Werk  zu  setzen,  sind  zwei  Wege 
gangbar.  Der  erste  Weg  ist  der,  dass  man  ausser  den  örtlichen 
Sagen  noch  weitere  sagenartige  Geschichten  des  eigenen  Stammes- 
gebiets und  der  deutschen  Gescliichte  behandelt.^  Manches  davon 
kann  dem  Lesebuch  oder  einer  Ergänzung  des  Lesebuches  zu- 

*)  S.  oben  S.  400. 

■)  S.  Beispiele  bei  Hossaan.  Die  Ilcinuitsidcc  usw.,  S.  95 — 98. 


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—   412  — 


gewiesen  werden  und  dann  als  Lektüre  sich  anschliessen.  Noch 
besser  scheint  mir,  wenn  f^rosse  zusammenhängende  Geschichts- 
stoffe ,  Märchen ,  kulturhistorische  Romane  und  epische  Sagen  das 
Geschichtsfach  repräsentieren  und  der  übrige,  vorhin  genannte  Einzel- 
sagenstoff  angeknüpft  wird.  Wir  denken  ausser  den  Grimmschen 
Märchen  an  Robinson,  Rulaman,  Kuning  Hartfest,  die  Nibelungen. 
In  dieser  Hinsicht  lässt  (ier  bisherige  Geschichtsunterricht  noch  viel 
zu  wünschen  übrifj  und  euie  Begründung  auf  die  Heimat  ist  nicht 
die  geringste  Reform,  die  seiner  wartet/) 

Die  Behandlung  der  geographischen  Gebiete  muss  sehr 
eingehend  sein,  besonders  so  lange  man  sich  im  heimischen  Ge- 
sichtskreis  bewegt.  Die  Ausdehnung  dieses  Gesichtskreises  richtet 
sich  jedenfalls  nicht  nach  der  })olitischen  Einteilung,  sondern  nach 
den  wichtit^^sten  Beziehungen  der  Miiuvohner  des  Orts.  Was  die 
Schüler  schon  wissen,  was  sie  in  Erfahrung  ziehen  können,  was 
sie  auf  einem  Ausflug  mit  dem  Lehrer  sehen,  das  müssen  sie  zu- 
sammenüaissend  erzählen  und  dann  in  gewisse  Ordnung  bringen. 
Dasselbe  gilt  bezüglich  der  Naturgeschichte.  Auch  was  sie  gelesen 
und  gehört  haben,  dürfen  sie  erzählen.  Es  schUesst  sich  unmittelbar 
daran  an  die  Aufstellung  von  Fragen,  Berichtigungen,  weiteren  Ziel- 
stellungen. Der  Unterricht  muss  sich  hierin  möglichst  naturgemäss 
gestalten,  d.  h.  die  Unterredung  des  Vaters  oder  der  Mutter  oder 
älterer  Leute  mit  den  Kindern  sidi  zum  Vorbild  nehmen.  Die 
dialocMsche  Lehrart  ist  Hie  geeignetste.  Auf  diese  Welse  erhält 
das  Kmd  seine  Anweisungen  und  Belehrungen  im  täglicheii  lieben, 
so  spricht  man  am  P  amilientisch,  so  verhandeln  es  die  Kameraden. 
Da  in  der  Schule  viele  Schüler  zum  Wort  kommen  wollen,  so 
müssen  die  Schüler  zur  Disputation  erst  angeleitet  und  erzogen 
werden.  Sic  müssen  sich  melden,  che  sie  fragen,  sie  düifen  nicht 
dasselbe  fragen,  was  schon  einer  gefragt  hat,  sie  müssen  nicht  auf 
jede  Frage  eine  besondere  Antwort  erwarten,  sondern  erst  zusehen, 
ob  dies^e  nicht  durch  den  nachfolgenden  Unterricht  erledigt  wird. 
Durch  die  auf  den  Lemgängen  gepflogene  vertrauliche  Unterredung 
werden  die  Schüler  gewöhnt,  aus  sich  herauszugehen  und  Fragen 
zu  stellen.  Sie  sollen  es  lernen,  alles  zu  sagen,  was  sie  interessiert 
Fragen  sie  in  der  Klasse,  so  muss  das  laut  und  möglichst  bestimmt 
geschehen,  nachdem  der  Lehrer  die  Erlaubnis  erteilt  hat  Dann 
geben  andere  Schüler  Antwort,  wenn  sie  es  können  oder  zu  können 
vermeinen ;  im  andern  Falle  antwortet  der  Lehrer.  Ausgelacht  oder 
getadelt  dürfen  die  Schüler  wegen  ihrer  Fragen  nie  werden.  Ent- 
weder wird  bei  einer  sogen,  dummen  Frage  das  gelobt,  dass 
wenigstens  gefragt  und  so  Gelegenheit  gegeben  wurde,  das 
Dunkel  —  oder  vielleicht  nur  den  unrichtigen  Ausdruck  —  auf- 


>)  Sieh«  oben  über  „Volksgcschichle",  S.  400«. 


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—  413  — 


zuheUen»  oder  wird  mit  einer  Gegenfrage  geantwortet  oder  der 

Schüler  kurzerhand  ad  absurdum  geführt. 

Man  kann  die  Schüler  auch  ihre  Fragen  aufschreiben  lassen, 
muss  ihnen  aber  sagen,  dass  sie  nur  das  in  Krage  stellen  sollen, 
was  sie  nicht  oder  nicht  sicher  wissen.  Zum  Aufschreiben  genügen 
einige  Minuten.  Dann  liest  ein  Schüler  Fiagc  um  Frage.  Wer 
(üeselbe  Frage  geschrieben  hat,  der  steht  auf  und  die  sitzen* 
bleibenden  Schüler  geben  die  Antwort.  Endlich  stehen  diejenigen 
Schüler  auf,  die  noch  weitere  Fragen  haben  und  lassen  sich  die- 
selben beantworten.  Auf  solche  Weise  lässt  sich  ein  Gegenstand 
auf  andere  Weise  als  gewöhnlich  behandeln  und  es  verbindet  sich 
damit  zugleich  eine  Wiederholung. 

Die  Mithilfe  der  Schüler  kann  noch  weiter  ausgedehnt  werden, 
wenn  die  Schüler  bei  der  Verbesserung  unrichtiger  Antworten  nicht 
einfach  djts  Richtige  sagen,  sondern  Hilfsfragen  stellen  oder  Ein- 
wendungen machen. 

Endlich  kann  der  Lehrer  seine  Schüler  veranlassen,  die  Unter- 
redung zu  beginnen  oder  weiterzuführen,  wenn  sie  es  nicht  von 
selber  tun,  indem  er  sie  auffordert:  Wer  möchte  hier  etwas  fragen? 
Machet  eine  Einwenduntr!  Warum  i<ann  es  nicht  so  sein  ?  Vielleicht! 
Was  niemt  ihr  dazu?  Regell  Denkt  an  die  Hauptiragel  usw.  usw. 
Nirgends  mehr  als  im  heimatkundlichen  Unterricht  kann  ein 
lebendiges,  selbsttätiges  Lernen  in  Szene  gesetzt  und  können  die 
Kinder  zu  freudigem  Mittun  veranlasst  werden.  Und  Freude  ist 
die  Seele  des  Unterrichts, 

Die  Darstellung  im  Unterricht  ist  am  besten  die  er- 
zählende. Blosser  Beridit  oder  blosse  Beschreibung  hat  lange 
nicht  die  Anziehungskraft  wie  eine  Geschichte.  Dann  muss  aber 
die  Geschichte  auch  eingehend,  konkret,  ausführlich  und  in  ein- 
fachem Gan<^  lebhaft  fortschreitend  sein;  sie  muss  das  heimatliche 
Leben  und  dessen  Verhältnisse  berücksichtigen.  Das  gilt  namentlich 
von  dem  Geschichtsunterricht  der  Oberstufe.  Er  muss  mög- 
lichst an  Vorkommnisse  der  eigenen  Heimat,  an  Erinnerungen 
daraus  angeknüpft  werden.  So  beginnen  wir  dann  den  dreissig- 
jährigen  Krieg  nicht  mit  dem  Ereignis  auf  dem  Rathaus  in  Prag, 
sondern  mit  dem  Einmarsch  feindlicher  Truppen  in  unsere  Gegend 
und  ihre  Aufstellung  am  Egelsberg  nach  der  Nördlinger  Schlacht 
und  gehen  dann  den  Weg  der  Ereignisse  rückwärts;  das  weitere 
knüpft  sich  uns  an  den  Namen  Widerholt,  der  in  Kirchheim  nach 
den  Mühsalen  des  grossen  Krieges  seinen  Wirkungskreis  gefunden 
hat  Manche  geschichtÜchen  Erlebnisse  verlegen  wir  an  eine  be- 
kannte örtlichkeit  in  der  Nähe,  um  den  Hergang  besser  vorstellig 
ztt  machen.  Die  Raubritterzeit  zur  Geschichte  Rudolfe  von  Habs- 
burg illustrieren  wir  durch  ein  Vorkommnis  auf  der  Strasse  zwischen 
Owen  und  Unterlenningen.  Dort  ist  eine  Burgruine,  heute  „Rauber", 
ürüher  Untere  Dieboldsburg  geheissen.    Ein  grosser  Frachtwagen 


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—    414  — 


kehrt  von  Frankfurt  zurück  nach  Augsburg  über  Blaubeuren  und 

Ulm.  Ausser  dem  Kaufmann  und  dem  Fuhrmann  sind  noch  drei 
gerüstete  Knechte  dabei  zur  Bedeckung  gegen  feindliche  Überfalle. 
Der  Dieboldsburgcr  hat  schon  das  Nahen  des  schwerbelasteten 
Wagens  ausgekundschaftet.  Mit  4  Kriegsknechten  hat  er  sich  in 
einem  Wäldchen  hart  an  der  Strasse  aufgestellt  Kaum  ist  der 
Wagen  an  der  Stelle  vorbeigefahren,  da  jagen  die  Ritter  mit  den 
Gäulen  im  Galopp  auf  die  Strasse  heraus,  hinter  dem  Wa^en  hrr 
und  schreien:  Halt!  Die  andern  halten,  stellen  sich  kamfifl  creit 
um  den  Wagen  auf  und  erwarten  den  Angriff.  Der  Fulirmann 
Spannt  schn^  seine  Pferde  aus,  setzt  sieb  auf  den  Sattelgaul  und 
reitet  davoa  Ein  heftiger  Kampf  tobt  um  den  Wagen.  Die 
Ritter  gewinnen  es.  Von  der  Burg  sind  norh  eine  Anzahl  Knechte 
nachgefolgt.  Sie  besteij^en  den  Wappen,  nehmen,  was  sie  brauchen 
können,  und  schleppen  es  zur  Burg  hinauf.  Der  Kauiniann  beginnt 
au&  neue  abzuwehren.  Da  padcen  ihn  die  Ritter,  binden  ihm  die 
Hände  auf  dem  Rücken  zusammen  und  ein  roher  Knecht  fuhrt  ihn 
wie  ein  Stück  Vieh  zur  Burg  hinauf.  Er  weiss  schon ,  was  sein 
Los  ist.  —  P"s  genügt  nicht,  dass  man  von  der  Ungcreclitigkcit, 
der  Unsicherheit  usw.  jener  Zeit  redet,  man  muss  sie  den  Kindern 
vor  Augen  stellen,  dann  können  de  selber  urteilen.  Ebenso  genügt 
uns  bei  der  Hermannsschlacht  im  Teutoburgerwald  die  Ausfuhrung 
des  Lesebuches  nicht,  sondern  wir  zeigen,  wie  geheime  Boten  mit 
Runenstäben  durchs  deutsche  Land  ziehen,  wie  die  Fürsten  der 
Deutschen  zu  einer  Verschwörung  im  heiligen  Hain  zusammen- 
kommen, wie  sie  ihren  Plan  entwerfen  und  denselben  bei  günstiger 
Gelegenheit  ausfuhren,  wie  die  Römer  aegesbewusst  ihres  Weges 
^ehen,  die  Deutschen  sich  gefallig  und  dienstbereit  anschliessen, 
wie  das  Wetter,  der  Weg  sirh  gestaltet  und  die  verschiedenen 
Angrifife  ausgeführt  werden,  wie  sich  endlich  kein  Ausweg  mehr 
zeigt  und  Varus  bei  der  Schwierigkeit  der  Lage  und  seinem,  dem 
römischen  Namen  nachteiligen,  unglücklichen  Unternehmen  zu  dem 
Entschluss  kommt,  sich  selbst  zu  töten.  Die  Motive  müssen  auf- 
gezeigt und  die  Kinder  müssen  sich  in  die  Lage  der  leitenden 
Personen  versetzen. 

Am  meisten  ist  eine  dctailUerle,  konkret  dargestellte  Geschichte 
bei  kulturhistorisdien  Kapiteln  notwendig,  lüer  wird  oft  mit 
wenig  Sätzen,  mit  einem  einzigen  Wort  so  viel  ausgesprochen,  dass 
die  Schüler  sich  unmöglich  etwas  Zutreffendes  dabei  denken  können. 
So  z.  B.  „Bonifatius  fällte  die  Donarseiche  bei  Geismar  und  führte 
das  Christentum  in  Deutschland  ein".  Die  Schüler  sollten  doch 
mindestens  den  alten  Glauben  der  Deutschen  kennen  und  sich 
dann  dem  gegenüber  den  neuen  vorstellen.  Sie  müssen  einen 
Götterhain  sich  ausgesucht  haben  und  hineingeführt  worden  sein, 
sich  ein  Opferfest  an  Ort  und  Stelle  ausgedacht  haben.  Dann  erst 
lässt  sich  das  Gottcriest  bei  der  heiligen  hiche  in  Geismar,  die 


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—   415  — 


Predigt  des  Bonifatius  und  was  sich  daran  anschliesst,  so  deutlich 
vor  Augen  stellen,  dass  die  Bedeutung  der  Sache  empliinden  wird^) 

Wie  der  erzählende  Unterricht  hauptsächlich  der  Gescl\ichte 
dient,  so  drr  /rirhnende  der  Geographie.  Es  werden  damit 
Anschauungen  und  Begriffe  womöglich  an  Ort  und  Stelle  gewonnen. 
Was  die  Kinder  auf  dem  Lemgang  gesehen  haben,  wird  vielleiclit 
diaussen  in  den  Sand,  in  der  Schule  auf  die  Wand-  und  von  den 
Kindern  auf  die  Schultafel  oder  auch  auf  einen  Bogen  Papier  und 
ins  Schulheft  gezeichnet.  Die  Verkleinerung  muss  vor  ihren  Augen 
entstehen  und  auf  ungefährer  Schätzung  beruhen.  Dieses  Fntstehen- 
iabsen  der  Heimatkarte  ist  viel  besser  als  die  Vorführung  eines 
fertigen  Reliefs,  das  viel  zu  viel  enthält  und  die  Übersichtiichkeit 
und  Vereinzelung  der  besprochenen  Gegenstände  vermissen  lasst. 
Besser  ist  es- ,  mit  den  Kindern  in  Sand  oder  durchweichten  Säge- 
spänen ein  Relief  zu  formen.  Als  Grundlage  dient  eine  alte  Wand- 
tafel. Die  Kinder  treten  heran  und  geben  an,  wo  eine  Erhöhung, 
ein  Tal  usw.  anzubringen  sind.  Die  Flässe  und  Bäche  werden  mit 
blauen  WolUäden  gelegt,  Eisenbahnen  und  Strassen  mit  schwarzen 
oder  weissen.  Hin  abg(  1  n  M-r  enc--  Streichholz  dient  als  Br;;  "l:e.  Die 
Ortschaften  lassen  sich  mit  Sternchen  andeuten.  Mit  grüner  Farbe 
können  die  Talgründe,  mit  brauner  die  Acker,  mit  blauer  oder 
schwarzer  die  Höhen  bezeichnet  werden.  Dieses  Modell  wird 
sodann  durch  farbige  Kreide  an  der  Tafel  skizziert  und  von  den 
Schülern  im  Heft  nachgezeichnet 

Wer  recht  sorgfältig  vorgehen  und  ein  sicheres  Kartenlesen 
erreichen  will,  der  muss  erst  eine  Karte  von  der  Schule  entwerfen^ 
dann  je  von  den  einzelnen  Lerngängen  und  den  betrachteten  Einzeln 
gebieten,  hierauf  eine  Orts-  oder  Markungskarte  zusammenstellen. 
Die  Kinder  müssen  sich  üben,  bei  jedem  Zeichen  der  Karte  den 
zugehörigen  Gegenstand  sicli  vorzustellen  und  den  Schluss  vom 
Zeichen  auf  die  Sache  mit  Leichtigkeit  zu  vollziehen,  so  dass  sie 
in  der  Karte  nicht  ein  Blatt  mit  vielen  Zeichen,  sondern  ein  Bild 
erblicken.  Bis  dann  zur  Beärkskarte  übergegangen  wird,  müssen 
die  Schüler  bereits  imstande  sein,  aus  der  Karte  die  Wege,  Ge- 
stalten der  Berge,  Art  der  Erhebungen  u.  s.  f.  abzulesen.  Sic 
erhalten  jetzt  auch  eine  kleine  Handkarte,  die  sie  bei  grösseren 
Ausflügen  mit  sich  führen.  Sie  empfinden  dann  das  Bedürfnis, 
manches  auf  der  Karte  aufzusuchen  und  aus  dem  Kartcnlesen  eine 
unterhaltende  Beschäftigung  zu  machen.  Es  schliessen  sich  Phantasie- 
reisen daran  und  der  Schüler  findet  am  folgenden  Geographie- 


1)  S.  weitere  I*< l^piLle  l>ei  Ilossann,  S.  104 — loS.  —  IKindner  ScminarbläUcr 
No.  6,  1902,  S.  136 — 142  uad  Berthoid  Sigismund  gesammelte  ächrifteo  296: 
„Weltceschicbte  im  Dorfe**.  —  Dentscbe  Gesciuctite,  Enihluiigen  nidi  QndlcB  von 
A.  CI.  Schciblhuber  (Nnrnbcrg,  Ft.  Donudw  Bochhandlung)  ist  cift  prüdtt^es 
HUfsmiUcJ  für  solchen  Unterricht. 


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—   4*0  — 


Unterricht  das  Vergnügen  des  Selbstfindens,  das  fUr  allen  Unterricht 

das  beste  Förderungsmittel  bildet. 

Eine  wichtige  Unterrichtsform  ist  auch  die  Vergleichung 
in  der  Heimatkunde.  Schon  bei  der  Vergleichung  der  wirklichen 
Grössen  der  Gegenstände,  bei  der  Vergleichung  der  in  der  Karte 
dargestellten  Ghrösse  und  endlich  bei  der  Vergleichung  der  reprasen- 
ticrendcn  Kartenzeichen  miteinander  ist  das  Schätzungsverfehrcn  in 
Tätigkeit.  Xoch  wichti^^er  aber  sind  die  aus  f'(  obachtungen  oder 
gehäuften  Wahrnehmungen  abzuleitenden  Gleichförmigkeiten,  wie: 
die  meisten  Orte  liegen  am  Fluss,  im  Tal;  die  Höhen  sind  be- 
waldet usw.  Die  Vetgleichung  besteht  oft  nur  darin,  dass  fest- 
gei^ellt  wird:  l£er  ist  es  wie  da  und  da;  diese  Gegend  dacht  sich 
ab  nach  dieser  Seite,  die  Flüsse  nehmen  deshalb  diese  Richtung; 
das  Klima  muss  so  und  so  sein;  hier  werden  viele  Leute  wohnen, 
hier  nicht  usw.  Wird  die  Gesteinsart  angegeben,  so  können  daraus 
noch  mancherlei  Schlüsse  gezogen  werden.  So  kommt  man  zum 
Denken  in  der  Greographic ,  i  einer  Erdgeschichte  und  erwirbt 
Landschaftsbilder,  geographische  He^nffe  und  Erkenntnisse. 

Führt  der  (xeogTaphieuntcrricht  immer  weiter  in  die  Fremde, 
so  müssen  die  heimatlichen  Analogien  das  Verständnis  und  Intere^e 
aufrechterhalten.  „Heimatliche  Vorstellungen  von  Bergen,  Tälern» 
Ebenen,  Flüssen,  Bachen,  Teichen,  Wudem,  Heiden,  Äckern, 
Wiesen,  Pflanzen,  Mineralien  spielen  eine  vermittelnde  Rolle."  Soll 
ich  die  Moore  Norddeutschlands  oder  die  Riede  Oberschwabens 
behandeln,  so  müssen  die  Erinnerungen  an  den  Sumpf  oder  See 
der  Heimat  aufgefrischt,  vielleicht  muss  demselben  noch  einmal 
Besuch  gemacht  und  ein  Stuck  Sumpfboden  aushoben  und  unter« 
sucht  werden.')  Die  erworbenen  Begriffe  müssen  Sodann  wieder 
rückwärts  auf  die  Heitnat  übertragen  werden. 

Auch  im  naturgeschichtlichen  Unterricht  ist  durch  Vergleichung 
das  Gleichartige  zusammenzustellen  und  schliesslich  ein  typischer 
Gegenstand  der  Heimat  eingehend  zu  beschreiben.  Es  ergeben 
sich  Gesetze  und  Begriffe,  die  in  das  Viele  des  auftauchenden 
Materials  eine  Übersicht  und  Ordnunc:  bringen,  die  eine  denkende 
Betrachtung  unterstützen  und  namentlich  in  der  Naturlehre  eine 
Anwendung  der  Naturgesetze  auf  Gegenstände  und  Vorkommnisse 
des  taglichen  Lebens,  des  Gewerbes  und  der  menschlichen  Arbeit 
gewähren.  Von  den  bekannten  Vorfallen  muss  ausgegangen  und 
auf  gleiche  oder  ähnliche  Dinge  der  Heimat  stets  der  Blick  zurück- 
gelenkt werden.-) 

Eine  durchgreifende  Wirkung  äussert  die  Heimatkunde  auch 
bei  ihrer  Anwendung  im  Unterricht  der  verschiedenen  übrigen 


S.  Lehrprobe  von  Ringelmann,  Schulfreund  1900,  S.  lojff. 
Vgl.  Conrad,  Prfipantionen  fiir  dea  PhysUniDtcmcht.   Dresden,  Bleyl  and 
Kacmmerer. 


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—    41/  — 


Fächer.    Der  Sprachunterricht  umfasste  seither  aof  der 

Unterstufe  den  Anschauungsunterricht.  Dieser  ging  in  neueren 
Lehrplänen  m  Sj^rachunterricht  und  Heimatkunde  über.  Daraus 
ersieht  man  die  enge  Verwandtschaft.  Es  soll  eben  bei  diesem 
Unterricht  die  Sprache  der  Sache  unmittelbar  angeschlossen  werden 
und  diese  der  Heimat  angehören.  Die  Erlebnisse  und  Erfahrungen 
des  Kindes,  nicht  die  Mitteilungen  des  I.elircrs  sind  dabei  die 
Hauptsache.  Deswegen  dürfen  die  Stoffe  niclit  allgemeiner  Art  sein, 
z.  B.  der  Säemann,  das  Pferd,  der  Regen,  das  Gewitter,  der  Wald  usw., 
sondern  es  muss  stets  von  einem  Mstimmten  Gegeiuitand  und  einer 
bekannten  oder  leicht  vorstellbaren  Situation  ausgegangen  werden, 
z.  B.  der  Ackergaul  des  Hofbauers  Christian,  das  Kutschenpferd 
des  Schwanenwirts,  der  gestrige  Regen.  So  redet  man  durchweg 
nicht  von  der  Kuh,  sondern  von  einer  bestimmten  Kuh,  nicht  von 
der  Stadt,  sondern  von  unserer  Stadt  Kirchheim,  nicht  von  der 
Mühle,  sondern  von  der  „Schellenmühle"  nicht  von  dem  Vogelnest, 
sondern  von  dem  Vogelnest,  das  Gustav  gestern  gefunden  hat, 
nicht  vom  Storch  überhaupt,  sondern  von  dem  vornehmen  Herrn 
auf  unserem  Kirchendach.  Heimatlich  sind  auch  die  diesem  Unter- 
richt einzufügenden  Kinderreime,  Rätsel,  Fabeln  und  Märchen.  Statt 
der  Beschreibung  kann  bei  naturgeschichtlichen  Gegenstanden  leicht 
die  erzählende  Darstellung  gewählt  werden,  bei  der  sich  die  Kinder 
selbsttätig'  verhalten.  Statt  der  hochdeutschen  Bezeichnung  der 
Dinge  ist  antangs  die  mundartliche  /.u/.ulasscn.  /..  H.  nicht  der  Hahn, 
sondern  der  Gicker  oder  Gockeler,  und  erst  nach  und  nach  die 
hochdeutsche  einzuführen.  So  nur  kommt  Heimatgefuhl  in  die 
Sache,  sonst  aber  mutet  sie  das  Kind  fremd  und  kalt  an.  Das 
Schwierigste  auf  der  Unterstufe,  die  Erlernung  der  24  Buchstaben 
im  Lese-  und  Schreibunterricht  und  hier  wieder  in  S  .Alphabeten 
könnte  erleichtert  werden  durch  Ausgehen  von  den  an  iiausschildern 
uns  entgegentretenden  Grossbuchstaben  im  Lesen,  durch  einfache 
Darstellung  nach  Elementen,  Übergang  zur  Lateinschrift  und  Ab- 
schaffung der  Kurrentschrift.  Sodann  muss  die  natürliche  Ver- 
bindung von  Sprechen  und  Schreiben  durch  Aussprache  und  Zer- 
legungsübungen dem  Kinde  recht  greifbar  gemacht  werden,  damit 
durch  Spiel  und  Beschäftigung  die  weltfremden  Dinger  beim  Kinde 
heimisch  werden.^) 

Bei  der  Behandlung  eines  Gedichts  oder  eines  belletrisüschen 
Lesest iirk-^  ist  immer  an  heimatliche  Gegenstände  oder  Vorfalle 
anzukn  i]  fcn  Schwabs  „Gewitter"  lä^t  sich  mit  Vorteil  behandeln, 
wenn  la^s  j.nvor  ein  Gewitter  die  Aufmerksamkeit  der  Kinder  auf 
sich  gezogen  hatte,  oder  wenn  ae  sich  auf  den  kommenden 
Feiertag  oder  Sonntag  freuen.  Werden  Vorkommnisse  im  Orte 
oder  Erinnerungen  der  Schüler  angerufen,  so  bringen  die  Kinder 

*)  S.  des  Vciiaiaen  Nene  Schulkuust,  Bd.  II,  S.  62.  (Dresden,  BIcyl  &  Kaemmcrcr.) 
PldkfOffMlu  BtadtaD.  XXUL  S.  27 


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—    4^8  — 


bald  so  viel  Stofi"  herbei,  dass  dem  Lehrer  die  Wahl  schwer  wird, 
was  und  wie  er  alles  austuhrlich  darlegen  lassen  will.  Dann  sind 
aber  die  Kinder  ganz  anders  beim  Unterricht,  sie  müssen  nicht  fort- 
während mit  Fragen  gezwackt  werden,  als  wenn  der  Gesichtskreis 
auf  einen  kleinen  Ausschnitt  des  vorliegenden  Buches  eingeschränkt 
bleibt. 

,1"-  rr-^r  sich  dor  dunkl<-n  (it  fühli-  Gewalt, 
Die  >ni  Hmi  ii  wunderbar  schliefen." 

Die  Handlung  des  Lesestücks  und  seine  Gegenstände  werden 
unwillkürlich  in  die  Heimat  verlegt.  Ks  ist  ruieh  i^Mr  kein  Fehler, 
wenn  bei  Lesestücken,  die  etwas  fremdartig  anmuten,  eine  kleine 
Umdichtung  vorgenommen  wird,  oft  reicht  eine  Abänderung  der 
Namen  der  auftretenden  Personen  oder  die  Einfügung  kleiner  Nebcn- 
umslände  vollständig  da/.u  aus.  In  dem  Lesestürk  „Der  kleine 
I'riedensbote"  komnAt  ein  ("lerber  vor.  Dieses  Handwerk  ist  nicht 
überall  vertreten,  man  wird  daher  gut  tun,  einen  andern  Handwerks- 
mann,  etwa  einen  Schmied,  dafiir  einzusetzen.  So  sind  noch  ver* 
schiedene  Ausdrücke  darin:  „hob  der  Bäcker  das  Kind  aus  der 
Taufe"  —  stand  zu  Gevatter:  .,an  .Martini  und  am  heiligen  Abend" 
—  am  Christtapf:  der  gute  .Märte  ist  nicht  überall  f^ehräuchli'  b  n  f. 
Es  wäre  Sache  der  Lesebuch  Verfasser,  die  Lesebuchstückc  der 
Heimat  anzupassen,  also  nicht  kurzweg  norddeuteche  Lesestücke  in 
süddeutsche  Lesebücher  einzustellen.  Das  Lesebuch  sollte  eben  ein 
heimatliches  „Geschichtenhuch"  sein. 

Um  der  Phantasie  im  sprachlichen  Ausdruck  und  in  der  Dar- 
stellung noch  mehr  Raum  zu  lassen,  dürfen  die  Schüler  die  Lese- 
Stücke  in  ihre  Sprache  übersetzen,  dieselben  in  Gespräche  auflösen 
und  auf  diese  Weise  dramatisieren.  Ein  weiterer  Schritt  ist  das 
Antwortlesen.  Der  Lehrer  stellt  eine  Frage,  der  Schüler  sucht  die 
Antwort  mit  einem  Satz  ries  Lesestücks  /.u  gehen.  Oder  der  I^ehrer 
lässt  einen  Satz  lesen  und  fragt  dann  die  Schüler,  was  sie  sich  aus 
der  Heimat  hinzugedacht  oder  wo  sie  die  Sache  hingedacht  haben. 
Leicht  lasst  sich  die  Sache  in  anderer  Fassung  in  einem  Aufsatz 
wiedergeben.  Es  kann  irgend  eine  Person  des  Stücks,  selbst  ein 
Tier  seine  ..Geschichte"  erzählen.  Rewei^  sich  die  Erzählung  in 
Rede  und  Gegenrede,  -^o  treten  die  Gegensätze  mehr  hervor. 

.\lle  geistige  iätigkcit  bewegt  sich  in  zweierlei  Bevvusstseins- 
formea*)  Die  eine  ist  die  Scheidung  oder  Auseinanderlegung 
(Entfaltung)  der  Inhalte,  Gedanken,  Worte,  die  andere  die  Ver-  ^ 
knüpfiinij.  Vrrtauschung  oder  l'rnsetzunc^  derselb'*'i  \''on  der  Auf- 
lösung der  Gedankeneinheiten  in  ihre  Bestandteile  haben  wir  schon 
geredet.  Die  Verknuiitung  des  Gelesenen  wurde  ins  .^uge  gcfasst 
bei  der  Wachrufung  heimatlicher  Vorstellungen,  die  ^di  mit  den 

1)  S.  dci>  Vfrfassers  Neue  Schulkunst.  M.  J.  Die  Lehrkuitst.   (Dresden,  Hlcyi  und 
Kacmmcrer.) 


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—   419  — 


im  Lesestück  enthaltenen  mehr  oder  weniger  decken  oder  wenigstens 
dieselben  herbeiziehen.    Z.  B.  können  poetische  Bilder  und  Aus» 

drücke  ?.n  der  heiiiiallichen  Xatur  und  dem  Mcnsclienleben  ihre 
Erklärung  finden  („Das  Geheimnis  des  Waldes'",  ,,der  Teppich  der 
Wiese",  „der  Schleier  der  Abenddämmerung",  „der  Mai  des  Lebens", 
„das  prächtige  I^ubdach  schattiger  Buchen",  „ins  Handwerk  pfuschen", 
ndetne  Uhr  ist  abgelaufen"  u.  s.  f.  oder  Sprichwörter:  „StiHc  Wasser 
gründen  tief;  „wie  die  Aussaat,  so  die  Ernte";  „Wetzen  hält  nicht 
auf  im  Mähen,  Sitzen  hält  nicht  auf  im  Gehen";  ,.wcim  ihr  langsam 
geht,  seid  ihr  in  einer  Stunde  am  Ziel,  wenn  ihr  schnell  gehet,  so 
braucht  ihr  zwei  Stunden";  „wer  den  Acker  ptlcgt,  den  ptlcgt  der 
Acker";  „steter  Tropfen  höhlt  den  Stein":  „wie  man  in  den  Wald 
ruft,  so  hallt  es  wieder"  (Köhler).^) 

F  s  kann  aber  noch  weiterhin  das  Lesestück  insgesamt  in  die 
Mundart  übertragen  und  so  erzählt  werden,  wie  die  Kinder 
ausserhalb  der  Schule  miteinander  reden.  Damit  erhält  dann  nicht 
bloss  die  Sprache,  sondern  auch  das  Denken  und  die  ganze  Sache 
einen  neuen  Anstrich,  ein  heimatliches  Kolorit,  das  ungemein  an- 
ziehend wirkt.  Hier  muss  dann  das  Kind  aus  der  Gcsatntvorstcllung 
der  Sache  heraus  reden,  muss  mit  Hilfe  der  Phantasie  die  Ausdrücke 
und  Fortgänge  suchen  und  kann  nicht  die  Scheidungsfunktion  des 
Gedächtnisses  in  Anwendung  bringen,  je  reiner  der  Dialekt  ist 
und  um  so  weiter  er  von  der  Schriftsprache  abweicht,  um  so 
sch\vierif::;er  gestaltet  sich  der  Vorgang;  um  so  leichter  aber,  je  mehr 
sich  di  *  rm^.uiL^ssprache  dem  Schriftdeutschen  annähert,  wie  z.  B. 
in  den  oladten.  lierthold  Otto  redet  in  seinem  „Hauslehrer" 
eine  „Sprechsprache",  die  sich  den  verschiedenen  Lebensaltem 
(„Altersmundarten")  anzuschmiegen  sucht  Aber  das  Berlinische 
ist  auch  in  der  Kindersprache  nicht  viberall  daheim.  Deshalb  kann 
eine  Sprechsprache  nicht  all'^^ernein^ültis^  aufgestellt,  nicht  ge- 
schrieben, sondern  nur  eben  von  den  Kindern  gesprochen  werden. 
Sie  dient  dann  dazu,  den  Unterschied  zwischen  der  gewohnten 
kindlichen  Denk-  und  Sprechweise  erkennen  zu  lassen  und  durch 
FcststclluHE^  der  Unterschiede  das  Interesse  für  spracliliche  Formen, 
die  konkrete  Vorstellung  derselben  hcrbcizulühren.  Die  Abweichungen 
des  Sprechdeutsch  vom  Schreibdeutscii  sind  dann  Gegenstand  des 
grammatischen  Unterrichts.  Die  mundartlichen  Abweichungen  in 
der  GeschlechtsbezeichnutiL,^  der  Wörter  (der  Butter,  der  Bank  usw.), 
in  der  Mehrzahlbildunt;  Ilenuler,  Retter,  .Steiner  usw.),  in  abweichen- 
der Zeitwortbildun;^'  er  hat  gedenkt  usw.)  müssen  aufgegriffen  und 
besonders  geübt  werden.  Umgekehrt  kann  vom  Dialekt  aus 
manche  hochdeutsche  Sprachform  erläutert  und  &sdicher  gemacht 
werden.   Die  Wortlehre  kann  sich  in  den  Hauptwörtern  an  die 


')  fibcnso  sjiricl.wortlichc  K  f!r  ii-;irtcu,  wie  z.  B. :  „Er  schimpfl ,  wii  i-in  Kohr- 
spatz,  zittert  wie  Ivspcnlaub,  ist  grob  wie  lk>hocnstrob,  ist  »chlank  wie  eine  Taonc'  usw. 

27* 


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Flurnamen,  in  den  Eigenschaftswörtern  an  die  Hauser,  in  den 

Tätigkeitswörtern  an  die  Verrichtungen  der  Handwerker  anschliessen. 
Die  Wortableitung  kann  an  die  Familiennamen,  an  Fremdwörter, 
an  Tiernamen  (wie  z.  B.  Maulwurfs,  v.  a.  Moltwurf,  En^j^crlinj  s.  v.  a. 
IUI  Anger  wohnend,  Eichhorn  s.  v.  a  Eichläutcr)  und  i  ilan/.cimu.men 
anknüpfen. 

Schon  in  den  dreissiger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  wurde 
in  Schwaben  der  Versuch  gemacht,  den  Sprachunterricht  an  den 
Dialekt  anzuschliessen.')  In  treflflichcr  Weise  hat  Rudolf  Hilde- 
brand in  seiner  Schrift  „Vom  deutschen  Sprachunterricht  in  der 
Schule  usw."  ausgeführt,  wie  das  Hochdeutsch  im  Anschluss  an  die 
Volkssprache  oder  Haussprache  gelehrt  werden  sollte  (S.  66  IT.). 
Dieselbe  Forderung  ist  von  H.  Burgwardt,  Diesterweg,  R.  von 
Raumer,  Schneller,  Weiland  u.  a,  aufgestellt  worden.  Der  neue 
WÜrttembor^Msche  Laiidcslchrplan  hat  sich  diese  Forderung  auch  zu 
eigen  |:^cmacht  und  es  steht  nichts  im  Wege,  derselben  nunmehr 
nachzukommen. 

Die  neuerliche  Reform  des  Aufsatzunterrichts  verlangt 
gleichfalls,  dass  die  Themen  dem  Lebenskreis  des  Kindes  ent- 
nommen und  Berichte  über  seine  Erfahrungen  ^nd.  Damach  ist 
das  Thema  nicht  in  allgemeiner  Fassung,  sondern  in  bestimmter, 
Gedanken  und  Erinnerunj^en  weckender  Form  zu  stellen,  z.  B.  nicht 
„Der  Hund",  sondern  „Der  Mops  des  Apothekers",  nicht  „Die 
Feuersbrunst",  sondern  „Der  Brand  am  20.  F'ebruar  d.  }.",  nicht 
„Die  Saugpumpe",  sondern  „Unsere  Güllenpumpe"  oder  „Der  Schul- 
brunnen"  oder  „Warum  unser  Brunnen  letzthin  kein  Wasser  mehr 
gab".  Mit  Vorteil  läs^;t  sich  au  Mi  Icr  Brief  als  Benachrichti^ing 
verwenden.  In  die  Auf^ät/e  kunuen  leicht  eigene  Erlebnisse  ein- 
gestellt werden,  wenn  z.  Ii.  der  Schüler  schon  Reisen  machen 
durfte.  Die  Sprach-  und  Au&atzfehler  sind  am  leichtesten  zu  ver- 
bessern ,  wenn  man  die  mündliche  Ausdrucksweise  danebertstellt 
oder  bei  forüaufender  Abweichung,  wie  z.  B.  beim  Gebrauch  des 
Perfekts  statt  des  Imperfekts  in  der  KrzähliinL^,  dies  als  Regel  zum 
Bewusstsein  bringt  und  dazu  das  Schriiidcutsch  m  Gegensatz  stellt 
Auch  Betonungsfehler  im  Lesen  werden  bemerkt,  wenn  man  das 
Sätzchen  in  der  Sprechsprache  sagen  lässt. 

Das  Heimatliche  findet  somit  im  gesamten  Sprachunterricht 
euie  fortwährende  Verwertung.    Auch  in  diesem  Formfach  muss 

der  Mensch  aus  eigenen  Wurzeln  wachsen  und  der  Lehrer  sirh  stets 
bewusst  bleiben,  dass  es  keine  Form  ohne  Inhalt  gibt.  Wenn  der 
Inhalt  gedacht  und  klar  vorgestellt  wird  —  und  solches  ist  eben 
nur  bei  Bekanntem,  Erlebtem,  Heimatlichem  der  Fall  —  dann 


')  G<  virr  Die  deatsebe  Dcklimdion  mit  Rllckaidit  «if  den  Klmibiidieii  Didekt. 
Rcotiingen  1835. 


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ergibt  sich  die  richtige  Form  voa  selbst  „Ks  ist  der  Geist,  der 
sich  den  Körper  baut,"  der  Inhalt,  der  die  Form  erschafit. 

Die  Heimatidee  muss  weiter  ihre  Anwendung  finden  im 
Rcchcnuntcrricht.  Das  ist  veHanojt ,  wenn  man  anstelle  des 
formalen  Rechnens  mit  abstrakten  Zahlen  oder  mit  blossen  Mass- 
bezeichnungcn,  mit  stellvertretenden  Zeichen  wie  Kugeln,  Ringlein, 
Stäbchen,  Fingern  usw.  die  Dinge  selbst  setzt,  wie  sie  in  der 
Heimat  dem  Schüler  begegnen,  abo  zum  „Sachrcchncn"  greift.*) 
Er  rechnet  dann  mit  den  Hasen  im  Stall,  den  Hühnern  im  Hof, 
deren  Hicrn,  den  Fenstern  am  Haus,  den  Füssen  der  Tiere  u.  s.  f. 
Diese  Diiii^c  sind  greifbarer  Natur,  ihre  Vorstellung  ist  konkret, 
dem  Schüler  geläufig,  mit  Gefühlswerten  versetzt  und  die  nötige 
Rechenoperation  leuchtet  im  einzelnen  Fall  ohne  weiteres  ein.  Was 
die  Kinder  vor  und  neben  der  Schule  lernten,  findet  damit  seine 
natürliche  Fortsetzünj^.  Schliesst  man  sich  dem  Interesse  des 
Schülers  an,  so  bringt  er  von  sich  aus  das  nötige  Material  für  die 
Au%aben  herbei,  stellt  sich  selbst  Aufgaben  und  übt  sich  im 
Rechnen.  Er  muss  daran  i^rwöhnt  werden,  zu  jeder  Zahl  immer 
einen  bekannten  t lef^fcnstaml  hinzuzudenken,  so  dass  er  nie  bloss 
aus  dem  Zahlen-  und  V\\)rt;.:fedärhtnis  rechnet,  sondern  immer  aus 
der  Mengcnvorsteliung  heraus,  d.  h.  die  rechnerische  Operation  an 
den  vorgestellten  Dingen  wirklich  vollzieht  Für  gewisse  Zahl* 
Vorstellungen  lassen  sich  typische  Heispiele  einführen:  für  die  Vier 
der  Wagen  mit  seinen  vier  Rädein,  für  die  Fünf  die  Hand,  für  die 
Sechs  das  Fenster  mit  sechs  Seht  ilien,  für  die  Sieben  die  Wochen- 
tage u.  s.  f.  Auf  der  .Mittelstufe  wird  das  Zahlensystem  mit  der 
Vorstellung'  der  Münzen-,  Mass-  und  Gewichtseinteilung  innig  ver- 
schmolzen; das  Einmaleins  wird  auf  das  Reihenzählen  mit  je  2, 
3,  4  usw.  vcreini_,'len  Kinern  begründet.  Die  Darstellung  des  Ge- 
dachten durch  Fin«;er,  durch  Kugeln,  durch  systematische  Zeich* 
nungen  geht  stets  nebenher. 

Auf  der  Oberstufe  beginnt  das  Rechenbuchiein  seine 
Herrschaft  zu  fuhren.  Die  Kinder  sind  es  aber  gewohnt,  nur  Be- 
kanntes und  dieses  in  leicht  vorstellbaren  Verhältnissen  zu  be- 
rechnen. Die  Huchaiir^aben  sind  ihnen  inhahlieli  frenui,  unverständ- 
lich und  meist  zu  allgemeiner  Art.  Daher  übers|)rinL;en  sie  die 
Sachverhältnisse  und  stürzen  sich  ohne  weiteres  auf  die  Zahlen- 
operation, den  Nachbar  höchstens  noch  fragend:  Muss  man  Zu« 
sammenzllhlen  oder  Abziehen,  Multiplizieren  oder  Dividierend  je 
nachdem  fjcrade  eine  Rechenoperation  an  der  Reihe  ist.  Wenn 
man  nun  neben  dem  Rechenbuch  den  Kindern  .Aufp^aben  diktiert, 
die  aus  dem  übrigen  Unterricht,  aus  den  Vorgängen  auf  dem  Markt, 


>)  S.  .  D.i  Snchrechncn  nach  seiner  geschichtUcbe»  Ktitwicfchu^,  seiner  ptycho- 
lo^ischen  Bekundung  und  srintr  methodischen  GestaJtaoj^*,  bearbeitet  von  den  Lehrern 

Weit,  Kai&,  Ileiningcr  und  Zluhan.  1904. 


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den  Berichten  der  Zeitung,  dem  letzten  Lemgang  u.  dgl.  entnommea 
sind,  werden  sie  gewöhnt,  denkend  und  selbständig  zu  rechnen. 
Aber  dies  '^eiuii^rt  nicht.  Man  muss  auch  noch  die  Aufj^abcn  des 
Rechenbuctis  in  die  heimischen  Verhältnisse  und  Vorkam: naisse 
übersetzen  lassen»  also  statt  „ein  Bauer",  „ein  Arbeiter"  oder  „A", 
„B"  u-  dgl.  einsetzen:  ,,Der  Bauer  Pfleiderer",  ,J>cr  Arbeiter  Friedrich 
in  der  StaiiclscliCii  I-"abrik"  u.  ^.  f.  Mnn  muss  weiter  statt  der  im 
Buch  genannten.  Preise  die  im  Ort  \orkoinmcnden  und  dnher  be- 
kannten Preise  einsetzen,  sie  die  Aufgaben  in  den  Einzelbestimmungen 
abändern  und  die  Frage  selber  steQen  lassen.  Dadurch  kommen 
die  Kinder  in  die  Rechensachc  hinein,  sie  gewinnen  Liebe  zu  dieser 
Tätigkeit,  Interesse  dafür,  so  dass  sie  von  selber  rechnen  und  sich 
Aufgaben  stellen.  Durch  Einschicbung  heimatlicher  Aufgaben  in 
den  Unterrichtsgang  wird  der  Rechenstoff  so  erweitert,  da.ss  dafür 
eine  ganze  Anzahl  der  RechenbÜchletnaufgabcn ,  die  unbekannte 
oder  fernliegende  Aufgaben  in  Betracht  ziehen,  kurzerhand  ge- 
strichen oder  der  freiwilligen  Übung  zugewiesen  werden  können. 

Die  Raumlehre  mit  ihren  Berechnungen  muss  unbedingt  an 

die  heimatlichen  f }en;enstände  anrii^eschlossen  werden.  Die  Schüler 
müssen  an  den  Acker  geführt,  derselbe  muss  mit  dem  Ouadrat- 
meter  gemessen  werden;  sie  müssen  über  die  Ausmessung  ihre 
Vermutungen  anstellen,  den  einfachsten  und  kürzesten  Weg  finden 
und  so  die  Regel  oder  das  Verfahren  ableiten.')  Die  geometrischen 
Figuren  müs'^en  an  Gecifenständen  aufgesucht ,  treme<;'^en  und  be- 
rechnet werden.  Man  rechnet  und  berechnet  ti  inn  incht  '  jedanken- 
dinge,  sondern  wirkliche  Gegenstände,  die  in  der  Heimat  /u  tmden 
sind.^ 

Der  Zeichenunterricht  ist  in  seiner  neuerlichen  Wendung 

zur  Natur-  und  Volkskunst  ganz  an  die  Heimat  gewiesen.  Schon 
im  lieiniatücju  n  elementaren  N'aturgeschichts-,  Erdkunde-  und  Ge- 
schichlsunterri  ht  werden  die  behandelten  Gegenstände  „gemalt", 
so  gut  es  die  Kinder  eben  fertig  bringen.  Es  ist  das  eine  Fort- 
setzung des  schon  vor  der  Schulzeit  begonnenen  kindlichen  Zeichnens 
und  Kritzeins,  als  ein  Ersatz  des  Schreibens,  zeichnerischer  Aus- 
drucksversuche. Sodann  wird  der  I, ehrer  seinen  Unterricht  in  den 
Sachfachcrn  durch  Skizzen,  Rildrhen  und  schcrnatische  Darstellungen 
an  der  Wandtalel  unterstützen,  die  sodann  wieder  Anlass  geben  zu 
Nachzeichnungen  von  sdten  der  Schüler.  Für  den  eigentlichen 
Zeichenunterricht  muss  der  Lehrer  unter  Beihilfe  der  Schüler  die 
zu  zeichnenden  einfachen  Gebrauchsgegenstände;  Briefumschlag. 
Mappe,  Lineal.  Damenbrett,  Taschentuch,  Sternformen,  Papierhclm, 
Drache,  Rad,  Schützenscheibe,  Fächer,  Schild,  Palette,  Bogen  und 

'  i  Vgl.  Kinc  I..chrprobc  in  d*r  Oberklavsc:  Das  Fcldmc-sscn  und  H<  mvrkunRci>  ru 
der  l..ehrprobc  Uber  daii  Fcldmcsscn  in  „Der  Schulfreund"  No.  l  und  No.  ii,  189$. 
«)  S.  Kohler  ».  a.  O.  S.  67-  71. 


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Pfeil,  Wappenschild»  Hufeisenmagnet  u.  s.  f.  anfertigen  und  sammein 

lassen,  ebenso  die  V^ogelfedern ,  Blattformen,  Blütenformen, 
Schmetterlinge,  Früchte,  Srhnccken  nnrl  Muschchi  u.  s.  f.  in  eine 
heimatliche  Materialiensainnilung  aufnehmen  und  sie  in  eine  be- 
stimmte Stufenfolge  bringen.  Aus  dem  Gebiet  der  Kunst  stehen 
an  Greräten,  an  Häusern,  Kirchen,  Denkmälern  zahlreiche  Vorbilder 
zu  Gebot,  wenn  man  sich  nur  die  Mühe  geben  will,  dieselben  auf- 
zusuchen. Manches,  das  nicht  i^ezelclinet  wird,  dient  der  kunst- 
sinnigen Betrachtung,  so  z.  B.  die  Bilder  der  Schule,  Baustile,  Ver- 
zierungen an  i^läusern,  Kirchen,  landschaftliche  Schönheiten. 

Im  Singen  ist  ein  Anschluss  an  die  Heimat  gleichfalls  von 
grossem  Wert,  denn  es  wird  dadurch  die  Singlust  und  das  Gefühl 
fiir  angemessenen  Ausdruck  innerer  Regungen  befördert.  Die 
Spiellieder  dürfen  in  der  Schule  weitergepflegt  und  die  Volkslieder 
müssen  ihren  Eingang  finden.  Was  die  Schüler  nicht  gern  singen, 
das  behalten  sie  nicht  Was  nicht  leicht  erlernbar  ist  und  was  sie 
nicht  ausser  der  Schule  zu  hören  bekommen,  das  hat  Hir  sie  kein 
Interesse.  Es  ist  deshalb  von  Vorteil,  wenn  übliche  Volkslieder, 
Melodie  samt  Text,  in  den  f.ieden;rhat/  der  Schule  aufgenommen 
werden,  wie  ja  auch  der  kirchliche  üemcindcgesang  in  der  Schule 
seine  Pflege  erhält. 

Endlich  sollte  audi  der  Religionsunterricht  die  Tatsachen 
und  Erlebnisse  der  Heimat  in  Betracht  ziehen.  Da  sind  z.  B.  die 
Grabsteine  des  iMiedhofs,  die  ("icdächtnistafeln  und  Denkmäler  der 
Kirche,  Glasmalereien,  Hausinschriften .  Wandsj)rüche ,  lOdesfälle 
unter  den  Kindern  oder  in  der  Gemeinde,  welche  zu  religiösen  Be- 
trachtungen anregen.  Die  Gedenkfeiern,  kirchliche  Feste,  auch 
nationale  Feiern  bringen  den  Kindern  das  religiöse  Gemeinschafts- 
gefühl nalie.  Die  f ilückwünsche  zum  neuen  Jahr,  die  Konfirmation. 
Hochzeiten,  die  Leichenfeiern,  Schulentlassung  lassen  sich  immer 
mit  der  Religion  in  Verbindung  bringen.  Lbenso  in  der  Nähe 
vorgekommene  Verbrechen  oder  hochherzige  Taten,  Feuer-  oder 
Wassersgefahr,  Verleurndung  und  Lügen,  schändliche  Taten  führen 
zur  etliis  h  t 'ÜL^ioscn  IJberlegunf^.  Die  Mrzählun^cn  der  biblischen 
Geschichte  werden  in  der  V^orsteüung  der  Kinder  nicht  bloss  von 
selbst  an  eine  Stätte  der  Heimat  verlegt,  sie  haben  auch  in  iieimat- 
liehen  Vorkommnissen  ihre  Analogie.  Eine  Nilüberschwemmung, 
eine  Weide  für  umherziehende  Wirten,  eine  Zie;:,^elei  mit  fremd- 
ländischen .Arl)eitern.  eine  ummauerte  Stadt,  durchziehende  Manöver- 
trui)j)en.  Höhlen  als  Schlupfwinkel  u.  dgl.  finden  sich  schliesslich 
überall  und  lassen  eine  Ani<nupfung  des  fernliegenden  Stoffes  zu. 
Manches  jedoch,  wie  Märkte,  Stadttore,  Lilien  des  Feldes,  Vögel 
unter  dem  Himmel,  Sperlinge  auf  dem  Dache,  Schafe  der  Hcnie, 
Rebe  am  Weinstock.  Sausen  des  Windes,  l'nkraut  unter  dem 
Weizen,  ein  säender  Landmann.  Ahrensammler  u.  d;,^!.  ist  hier  wie 
dort  daheim.    Endlich  lässt  sich  die  Vorerzahlung  oder  Entwicklung 


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des  Inhalts  so  gestalten,  dass  der  Schüler  sich  in  heimatlichen 
Vorstellungen  bewegt,  das  die  fremden  Geschichten  lokalisiert  und 
dass  die  Gefuhlsweise ,  der  sprachliche  Ausdruck  und  die  Vor- 
stellungsweise dem  Kindes^eist  angepasst  werden.') 

Man  kann  nun  wohl  sagen,  jeder  rechte  und  gute. Unterricht 
werde  dadurch  den  £rweis  seiner  Angemessenheit  und  Frucht- 
barkeit erbringen ,  dass  er  die  Schüler  zum  freudigen  Mittun ,  zur 
eifrigen  Selbsttätigkeit  und  zu  persönlichem  VVciterwirken  ver- 
anlasst. Das  kann  aber  nur  dann  erwartet  werden,  wenn  der 
Unterricht  mit  dem  Vorstellungsmaterial  arbeitet,  das  die  Kinder 
mit  zur  Schule  bringen,  wenn  er  dasselbe  konsequent  und  anschau- 
lich vermehrt  und  weiterbildet,  also  Erfahrung  und  Umgang  des 
Kindes  ert^änzt  und  erweitert  (Herbart),  und  wenn  er  auf  (Tfund 
dieses  kindlichen  Geistesbesitzes  die  weiteren  Einsichten,  Erkennt- 
nisse, Begritie,  Fertigkeiten  und  VVillensregungcn  ausgestaltet  Ein 
richtiger  Unterricht  ist  mithin  in  allen  Fächern  ein  heimatkundlicher 
Unterricht.  In  den  unteren  Schuljahren  wird  das  heimatliche  Vor- 
stellungsmaterial gewonnen,  ergänzt,  berichtigt  und  verbessert,  in 
den  oberen  Schuljahren  wird  es  angewendet  und  von  einem  höheren 
Standpunkt  aus  betrachtet.  Kui  solcher  Unten icht  ist  dem  Kindes- 
geist angemessen,  schliesst  sich  seiner  geistigen  Entwicklung  an, 
berücksichtigt  die  Individualität  des  Kindes,  sein  erworbenes 
Muttergut,  seine  I.cistungskraft.  führt  zur  Selbsttätigkeit,  zum  Inter- 
esse. Bei  einem  solchen  Unterricht  kommt  dir  Figenkraft  des 
Kindes,  seine  Abhängigkeit  von  der  umgebenden  Natur,  von  der 
Gesellschaft,  dem  Vollratum  und  der  Kidtur  zu  ihrem  Recht  und 
die  Erziehung  erhält  damit  ihre  Richtung  auf  das  Soziale,  auf  die 
bürgerliche  Gemeinschaft,  die  Konfession  und  die  Xation.  Der 
heimatkundliche  Unterricht  wird  somit  allen  echt  pädagogischen 
Anforderungen  gerecht  Er  folgt  der  Weisung;  „Bleibe  im  Lande 
und  nähre  dich  redlich  I'^ 


V. 

Erfordernisse  der  Vor-  und  Fortbildung  des  Lehrers  fiir  den 
kelMatkflsdnohMi  Unterrfelit 

Wir  müssen  noch  überlegen:  Wie  muss  der  Lehrer  selbst  in 
der  Heimat  zu  Hause  sein,  sie  zum  Gegenstand  eifrigen  Forschens 
und  liebevollen  Umgangs  machen,  wenn  er  ihren  did^tischen  Wert 

')  ^'k'-  »^r^ählcn  wir  dcD  Kindern  die  l>ihlis(!!.  n  nt-vcliii  !ii<  ii  '  \oii  Zur- 

hcllcn,  Titbinjjeu  lyoo,  und  Scharre  I  mann,  „Hcrzliaücr  Lnltriiclil  '  und  „Der 
Wcp  zur  Kraft'",  Weiter  fahren  die  von  Fritr.  Lienhard  in  „Neue  Ideale"  {Crtorg 
H.  Meyer,  Leipr.ifr  '^i'^''  <1t  m  At  srhaiU  „Cbristentom  «nd  Dcutscbtmn'*  gefiasscitea 
Gedanken  Uber  den  Religionsuntcrrtcbt. 


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—   425  — 


erkennen  und  das  vorhandene  reiche  Material  voll  ausnützen  und 
die  Schuler  nicht  nur  zur  Heimatkunde,  sondern  zur  Heimatfiebe 

und  zum  Heimatwirk«  II  führen  will? 

Die  beste  Pädai^rr^ik  erwirbt  sich  der  Lehrer  durch  l'ntcr- 
suchunpf  und  denkende  Betrachtung  setner  eit^enen  f^eistii^en  I*!nt- 
wickiung.  Das  eigene  Erlebnis  bedarf  keiner  weiteren  Begründung, 
um  unser  pädagogisches  Handeln  zu  beeinflussen.  Es  können 
jedoch  diese  Erfahrungen  sowohl'  gute  als  schlechte  gewesen  sein, 
beidemal  ist  etwas  daraus  zu  lernen ,  wenn  der  ernstliche  Wille 
vorhanden  ist,  den  besten  Wei;  der  I. in  Wirkung  auf  die  anvertrauten 
Unmündigen  zu  finden.  Man  erinnere  sich  nur.  welcher  Unterricht 
am  meisten  und  nachhaltigsten  zum  Lernen  anregte,  wdch«i  Lehrer 
man  am  liebsten  hatte,  wie  man  sich  bleibende  Einsichten  ver- 
schaffte, wo  man  am  liebsten  mit  seinen  Gedanken  verweilte  u.  s.  f. 
und  man  wird  finden,  was  für  die  heutige  Jugend  am  meisten  An- 
ziehungskraft hat,  denn  Kind  bleibt  Kind  zu  allen  2^iten.  Die  Ein- 
fiihlung  in  dasselbe,  die  Zurückversetzung  in  die  eigene  Jugendzeit 
sind  die  besten  Grundlagen  fiir  die  Erwerbung  eines  theoretisch 
dnwandfreien  Lehrverfahrens.') 

Wir  haben  bereits  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  man 
neben  einem  lebendigen  Umgang  mit  den  Kindern  durch  Lesen 
von  solchen  Jugeiulschriften .  die  im  Anscliauungskreis  der  Kinder 
sich  halten,  durch  Lektüre  von  Biographien,  durch  gute  poetische 
Werke  —  Poeten  und  Kinder  sind  immer  verwandt  —  durch  volks- 
tümliche  Erzählungen  u.  dgl.  sich  die  Fähigkeit  erhält,  bei  Kindern 
den  rechten  Ton  zu  treffen  und  die  Phantasie  beweglich  zu  erhalten. 

Von  grossem  \'^orteil  ist  es ,  wenn  man  schon  selbst  einen 
richtigen  iieitnatkundlicheii  Unterriehl  genossen  hat.  Dann  ist  man 
durch  das  Beispiel  belehrt  und  weiss  die  V  urteile  besser  ab- 
zuschätzen. Man  hat  sein  eigenes  Wissen  und  Können  auf  den 
richtigen  Boden  gestellt,  seine  geistigen  Fähigkeiten  aufs  beste  aus- 
gebildet, ein  seihsterworhencs  Wissen  m  vergeben,  und  hat  eben 
eine  persönliche  Bildung  erlangt.  Ein  guter  heimatkundlicher 
Unterricht  hat  „die  Verheissung '  nicht  bloss  für  das  erste,  sondern 
fiir  das  folgende  Geschlecht,  faUs  er  Schülern  zuteil  wird,  die  später 
Lehrer  werden. 

Noch  grtisscr  ist  der  Vorteil,  wenn  das  Seminar  sich  der 
Vorherritung  des  Lehrers  in  heimatkundlicher  Hinsicht  annimmt. 
Wiederum  in  erster  Linie  so,  dass  die  Seminarlehrcr  aus  dem 
Eigenen,  aus  dem  Vollen  schöpfen,  dass  sie  ihre  Fächer  selbständig 
'  anbauen,  heimatkundlich  unterbauen  und  nicht  bloss  Bücher  durch' 
machen.  Wenn  man  sich  mehr  bewusst  wird,  dass  nicht  bloss  das 


«)  Finp  HftrnrhtTinp  d-r  nächsten  Umgebung,  wie  «ie  in  „Waiden**  vonThore«a 

begegnet,  ist  glcichfallb  dienlich. 


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—   426  — 


Gedächtnis,  sondern  ebenso  die  Phantasie  der  Ausbildung  bedarf, 
so  müsste  auch  in  den  Seminarjahren  dieser  Rechnung  getmr^en 
werden,  trotz  der  Gefahr,  Hass  dieselbe  erst  üppipfe  Hliiten  treiben 
könnte.  So  dürfte  es  iin  Aufsatz  den  Seminaristen  woiii  freigestellt 
sein,^)  eine  konkrete  AufTa^ung  des  Stoffes,  eine  etwas  romanhafte 
Ausführung  u.  dgl.  sich  zu  eigen  zu  machen,  ohne  deswegen  sich 
in  der  Zensur  anzüglicher  Zurechtweisungen  auszusetzen. 

F.benso  planmässig  und  der  Individualität  den  nötigen  Spielraum 
lassend  soll  die  freie  Rede  oder  der  Vortra'^  bei  den  Seminaristen 
entwickelt  werden.  Man  sollte  dazu  angeleitet  werden,  aus  der 
Anschauung  zu  reden  und  nicht  bloss  zurechtgemachte  Gedanken 
zu  wiederholen.  Die  freie  Aussprache,  nicht  die  gedachtnismässige 
Wiederholung  eingelernten  Stoffes,  sollte  die  Hauptsache  sein.  Alle 
Fächer  könnten  hiebci  in  Betracht  kommen.  Die  Themen  und  die 
Anknüpfungen  sowie  die  Ausführungen  im  einzelnen  müssten  sich 
der  Heimat  möglichst  eng  anschliessen.  Hossann  führt  folgende 
Themen  an:  „Wenn  z.  B.  der  getreue  Eckart  behandelt  würde, 
könnte  daran  der  Vortrag  geknüpft  werden:  Der  Eckart  meines 
Heimatdorfes  —  oder:  an  welches  Vorkommnis  aus  meiner  Jugend 
erinnert  mich  diese  Sache?  Weiter:  Wie  ich  mir  den  Zul;  Barbarossas 
über  die  .-Mpcn  vorstelle  r  (Aufgebot  der  Ritter,  Ruine  der  Heimat, 
Abschied,  Beschwerden.)  Was  man  in  meiner  Heimat  von  der 
grossen  französischen  Revolution  (von  Napoleon)  erzahlt.  Wie  sich 
die  Kauern  unseres  Orts  gegen  ihren  Gutsherrn  auflehnten.  Zeigte 
sich  der  Löwe  in  der  Menagerie  noch  als  Wüstenkönig?  Der 
Stabreim  in  meiner  Mundart.  Falsches  Geschlecht,  abweichende 
Wortbedeutung,  bildliche  Redensarten,*)  Silbenkürzung  in  meiner 
heimatlichen  Mundart  Ein  merkwünli«;  :  Tag  in  meinem  Leben. 
Ein  Wintertag  aus  meiner  Jii;:jendzeit.  Was  mir  der  Kettenhund 
er/ähltc.  Wie  irli  mir  den  David  vor  dem  höluiischen  Goliath 
vorstelle.  Die  Prärie  und  die  grosse  ungemähte  W'icse  im  „Senk- 
feld". Der  Nutzen  des  Waldes  für  meinen  Heimatort  Selbst- 
i^cspriich  des  James  Maxwell  am  Ruder  des  brennenden  Schiffes. 
Hebel  in  der  NVerkstättc  meines  Vaters  (in  Küche.  Keller,  Wohn- 
stube .  Wie  meine  Mutter  physikalische  (xesctze  l)eachtct.  ohne 
sie  /AI  kennen.  Der  Gebirgsbach  ein  kleiner  Rlieinstrom.  Die 
Dorfgemeinde  ein  kleiner  Suat  Schildere  die  Überraschung  eines 
Mannes»  der  vor  50  Jahren  gestorben,  heute  wiederkehrte." 

EXa  weiteres  gutes  Aifittel  wäre  die  Führung  eines  Beobachtungs- 
heftes.   Die  ^minaristen  des  letzten  Kurses  hätten  wodientlidi 

zwei  von  ihnen  gemachte  Beobachtun«]fen  vom  Spa7.ier5::^ang,  aus  der 
Ferienzeit  oder  aus  der  früheren  Jugendzeit  darein  einzutragen  und 

*j  Vgl,  Hossann,  Die  Hi'imatsidt.«'  usw. 

*)  Z.  H.  „Wfna's  auf  die  GriisK  ankäinc,  »o  mttsstr  eiac  Kuh  einca  Hasen 


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—    42/  — 


mit  irgend  welchem  Unterrichtsfach  in  Verbindung^  zu  bringen. 
Solche  Beobachtungsnotizen  führt  Hossann  an.*) 

Kill  ähnliclics  Mittel  ist  die  Fülirurij:^  eines  T  a  ;^  c  l)  u  c  h  c  s  , -) 
in  welches  man  einschreibt,  worüber  man  ^^^clcscn  und  was  man 
dazu  gedacht  liat  Z.  B.  Heute  habe  ich  Quo  vadis  von  H.  Sienkiwicz 
zu  Ende  gelesen.  Es  enthalt  eine  unvei^leichliche  Darstellung  der 
Kultur  Roms  /.ur  Zeit  Neros,  den  Hergang  bei  Christenverfol^^ungen 
und  das  Lebensende  des  Apostels  Petrus.  Oder:  Die  Schrift 
„(loethcs  Lcbciisanschauung"  von  Li  ',  tb.eol.  S.  Lck  zeigt  die  P-in- 
wirivung  Spinozas  und  nachher  Kants  auf  Goethes  Denken  und 
Dichten.  „Er  meint  zwei  Kapitalfehler,  die  ihn  verfolgt  und  ge- 
peinigt haben,  entdeckt  zu  haben.  Nie  hat  er  das  Handwerk  einer 
Saclie  lernen  mögen.  Darum  gelang  oder  misslang,  wie  es  das 
Glück  oder  der  Zufall  wollten,  was  er  ant^riflT.  Und  nie  mochte  er 
so  viel  2^it  auf  eine  Arbeit  wenden,  als  sie  wirklich  erforderte: 
die  schrittweise  .Ausführung  der  Gedanken  und  Kombinationen  war 
ihm  unerträglich.''  Um  die  Kunst  und  Wissenschaft  zu  erfassen, 
arbeitete  er  darin,  indem  er  zeichnete,  modellierte,  malte,  botanisierte. 

„Beim  Lesen  des  letzten  Abschnittes  der  Schrift  ..l.ntwicklung 
des  Kindes"  von  Oppenheim  kam  ich  auf  den  Gedanken ,  einen 
-\doptivkindervcrein  ins  Leben  zu  rufen,  der  i.  vielen  1  lauen  einen 
Lebensberuf  verschaffte,  2.  die  Mängel  der  Anstaltserziehung  um- 
&i"gc,  3.  das  Kinzellebcn  und  die  untere  Stufe  der  Gesellschaft 
höher  heben  würde,  4.  Nachfrage  und  Angebot  in  dieser  Sache 
regelte." 

Damit  würde  der  Lehrer  sich  beständig  Stoff  zu  seinen  Auf- 
sätzen sammeln,  im  selbständigen,  tatkräftigen,  pädagogischen 
Denken  zunehmen  und  den  Weg  zur  Originalität  betreten.  Auch 
wäre  Antrieb  und  Anleitunpf  p^e'^cben,  dass  er  noch  nach  der 
Seminarzeit  diese  Hemühungcn  um  selbständige  berufhche  Fort- 
bildung weitcrfülirte. 

tndlich  luüsstcn  auch  die  .Ausfluge  der  Seminaristen  in  der 
Weise  geregelt  werden,  dass  sie  nicht  bloss  zu  frischer  Luft,  Essen, 
Trinken  und  Rauchen  führten,  sondern  dass  bestimmte  Ziele  ins 

Au;^e  gefasst  würden,  die  mit  dem  geschichtlichen,  ^coi^rnphischcn, 
Zeiclien-  odrf  n.iturkuniilichen  Unterricht  in  \'er!)indun-.;  stünden. 
Es  mussten  iicolKichtungeJi  gesammelt  und  dann  weiterhin  verwertet 
werden.  Der  junge  Lehrer  müsste  angeleitet  werden,  sich  auf 
solche  Lerngänge  vorzubereiten  und  bei  der  Ausführung  wirklich 
auch  Wahrnehmungen  zu  machen.  Trot/dem  nur  ein  bestinmitcs 
Ziel  vorschwebte,  dürfte  er  niclit  achtlos  an  Dingen  \  orül;er;^eiien, 
die  sich  für  sein  Studium  oder  seinen  Unterricht  besonders  nützlich 
erwiesen.   Er  müsste  eben  Auge  und  Ohr  (ur  solche  Dinge  oder 

')  Hll^^ann  .S.  39.  40.  4I. 

*)  auch  Über  Lesen  uml  UilUunji  vou  A.  l^.  Schöub.icii,  7ifT, 


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—    428  — 


Interesse  dafür  bekommci  r>eis  engere  Vaterland  sollte  ein  Lehrer 
seiner  typischen  (icstrilt  und  der  sich  darin  findenden  Besonderheiten 
nach  aus  eigener  Anschauun«:^  kennen. 

Die  Fo rt  b  i  1  d  u  n  i,^  des  I  ehrers  niüsste  sodann  an  jedem 
neuen  Anstcllungsort  wieder  dalua  gerichtet  werden,  dass  er  eben 
diese  örtlichkett  nach  allen  Seiten  erforschte  und  bald  darin  zu 
Hause  wäre.  Was  er  aus  Büchern  lernen  kann ,  das  genügt  für 
seinen  Unterricht  nicht.  Kann  c  auch  nicht  alles  wissen,  nicht  auf 
jede  an  ihn  i^^erichlele  l'rat;c  eine  zutreffende  Antwort  geben,  so 
muss  er  doch  vieles  und  manches  genau  kennen.  So  weit  er  durch 
den  Seminaninterricht  dafür  nicht  vorbereitet  ist,  muss  er  durch 
fortgesetzte  Arbeit  wenigst  ns  auf  einem  Gebiet  sein  Interesse  wach 
erlialtcn.  „Sei  es  Tjotanisches  oder  Geologisches  oder  Mineralogisches, 
seien  es  Schnecken  oder  Heuschrecken,  Gräser  oder  Moose.  <  rall- 
äpfcl  oder  Pilze :  Das  Sammeln  lehrt  unterscheiden ,  beobachten, 
sdien.  Wer  sammelt,  geht  nie  achtlos  durch  das  Land,  allenthalben 
fallt  ihm  etwas  auL  Und  alles»  was  man  gesammelt  hat,  sollte  man 
sofort  verarbeiten,  es  bestimmen,  darüber  nachlesen,  also  nicht 
einfach  anhäufen  und  am  Haufen  Freude  haben,"*) 

Zu  solcher  Arheii  steht  eine  Mcnj^c  wissenschaftlicher  Literatur 
zur  Verfügung.  Auch  bieten  der  deutsche  Lehrerverein  für  Natur- 
kunde und  naturwissenschaftliche  Zeitschriften  ihre  Unterstützung 
im  Bestimmen  und  im  Nachweis  geeigneter  Schriften  an.  Sf^dann 
sind  die  naturkundlichen  Bezirksvereine  für  diese  Aufgabe  bestimmt 
Dieselben  bedürfen  allerdings  noch  einer  geeigneten  Organisation  in 
der  Hinsicht,  dass  die  Teilnehmer  sich  in  die  versciiiedenen 
Forschungsgebiete  teilten  und  jede  Gruppe  dann  über  ihre  Funde 
und  Arbeiten  in  Vorträgen  berichtete.  Wenn  nur  hin  und  wieder 
ein  Vortrag  eingesetzt  wird,  der  mit  dem  Studium  der  Mitglieder 
in  keiner  Heztchung  steht  oder  dasselbe  gar  ersetzen  will,  so  kommt 
nicht  viel  heraus. 

£5  könnten  sich  auch  benachbarte  Kollegen  zu  heimatkund- 
lichen Kränzchen  zusammentun  und  die  Erforschung  der  Heimat 
nach  allen  Seiten  systematisch  betreiben,  die  Ei^ebnisse  nach 

Wssensgebieten  zusammenstellen  und  dann  ein  lexikalisches  und 
ein  nach  OrtUchkeiten  f^eordnetcs  Gesamtverzeichnis  anlegen,  in 
dem  die  Sammlungsgegenstände  initi>czeichnet  wären.  Der 
.•\nschluss  an  bereits  bestehende  naturwissenschaftliche,  historische 
oder  sprachkundliche  Vereine  liegt  für  jeden  Lehrer  nahe,  der 
ein  besonderes  Interesse  lÖr  eines  dieser  Gebiete  hat  und  zugleich 
sich  bewusst  ist,  dass  er  in  seiner  Heimat  die  Aufgabe  der  Kultur- 
förderung  in  erster  Linie  mit  angreifen  muss. 


>)  H.  Wegcliu,  Über  Kxkunioneo.    Schweizerische  pAdagogische  Zeitschrift  1907. 
Heft  I,  S.  38. 


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—   429  — 


So  ausgerüstet  wird  es  dem  Lehrer  nicht  schwer  fallen,  an 
Vortragsabenden  in  landwirtschaftlichen,  Lese-,  Altertums-,  Arbeiter-, 
Jünglings-  und  anderen  Vereinen  interessante  Themen  zu  behandeln. 

Eine  neuestL-  Einrichtung,  Lehrer  und  Schüler  mit  der  Heimat 
in  mannigfaltige  Berührung  zu  bringen,  sind  auch  die  in  Leipzig 
von  der  Ortsgruppe  vom  „Deutschen  Verein  für  Volkshygiene"  er- 
öffneten „Ferienwanderungen  für  Schulkinder.*' Die  Kinder  melden 
sich  freiwillig  dazu,  werden  in  Gruppen  von  höchstens  30  Köpfen 
eingeteilt  und  dann  einem  ebenfalls  sicli  freiwillig  dazu  erbietenden 
Lehrer  zugewiesen.  Dieselben  bleiben  während  sämtlicher  Wande- 
rungen in  einer  Ferienperiode  beisammen.  „Die  Anmeldung 
geschieht  durch  FcMrmuIarfcarten ,  die  kurz  über  Zweck  und  Ein- 
richtunt;  der  Wanderungen  orientieren  und  die  bindende  Unterschrift 
des  Waters  oder  Pflegers  verlangen.  I'ür  jede  rlirscr  Wander«;ruppen, 
bei  deren  Bildung  nach  Möglichkeit  das  Aller  und  vor  allem  das 
Wohnviertel  in  Rucksicht  gezogen  wird,  wird  för  die  Dauer  einer 
Wanderperiode  ein  Führer  bestellt,  dem,  abgesehen  von  einigen 
nötij^en  Bestimmungen,  völlii,'c  Freiheit  L^elasscn  ist."  Ein 
Lehrer,  der  sich  dieser  Sache  mit  Fieiss  annimmt,  wird  nicht  nur 
an  pädagogischen!  Geschick  im  Umgang  mit  Kindern  gewinnen, 
tiefe  Blicke  tn  ihr  Inneres  tun  und  Begeisterung  för  seinen  Beruf 
davontragen,  sondern  er  wird  auch  die  Natur  und  Umgebung  selbst 
immer  genauer  und  vollsiändiijcr  kennen  lernen  und  die  zur  Ver- 
fügung- gestelhe  reichhaltige  BibHothck  zur  weiteren  Selbstbelehrung 
fleissig  benützen,  da  er  jederzeit  reichliclie  Verwendung  für  seine 
Kenntntsse  findet 

Wer  also  eine  angestammte  Liebe  su  seiner  Heimat  und  ebenso 
eine  wirkliche  Liebe  zu  den  ihm  anvertrauten  Schülern,  wer  eine 
nachhaltige  Begeisterung  für  seinen  Beruf  sein  eigen  nennt,  der 
wird  die  Mühe  nicht  scheuen,  die  Heimat  nach  allen  Seiten 
zu  erforschen  und  im  Unterricht  zu  verwerten.  Und  „nur  ein  ver- 
ständnisvoUer  Beobachter  und  gründlicher  Kenner  seiner  Heimat 
wird  die  Augen  der  Kinder  für  die  Eigentümlichkeiten,  die  Schön- 
heiten der  Heimat  schärfen  können  und  sie  zu  der  Erkenntnis  bringen, 
dass  die  Heimat  wohl  das  teuerste  ist,  was  sie  besitzen". 


>)  Näheres  erfährt  man  durch  Obmann  W.  Schubert,  Lcipzig-G. ,  Elslx-thslr.  36. 
S.  auch  dessen  AufsaU  über  „Ferien wand eruugeu"  im  „Jahrbuch  für  Volks*  tmd 
Jugendspicie"  1907,  B.  G.  Teabfker,  Leipzig  und  in  „Das  Biidi  ▼om  Kinde"  von  Add« 
Schreiber,  1906,  cbemd«. 


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—   430  — 


B.  Kleiiiere  Beiträge  und  Mitteiluugen. 

1. 

Bericht  Ober  die  40.  Jahresvertammlung  des  Vereins  f&r 
wlssenacliaftllclie  Püiiagoglk  in  Magdeburg. 

Von  Fr.  Franke. 

Sehlns». 

ö.  In  8  f*li  n/t  zt^  u  in  ay  rs  Alihiuidlmii,'  hIkt  Dr.  E.  Webers  „Ästhetik 
als  iiruud  wihHeUrichaf  t  der  Pädagog^ik"  wird  die  iui  Tilei  des  Weberscheu 

BiteliM  liegfende  Bebaaptmiff  mit  dnein  vidldcbt  zu  wortnicben  Eifer«  aber  mit 
Becht  bekäuii'ft.   Da<i:egien  leheii  beide  die  Ästhetik  als  eine  ans  der  Psychologie 

hervorgehende  und  dieser  untortreordnete  WisHcnschift  an  h-s;].  nnter  4\  und  so 
wird  der  Irrtum  Wehprn  doch  nicht  völlig  klar  Die  Ästhetik  bezieht  sich  zwar 
eben&o  wie  die  Ethik  aut  psychL^che  Ilrscheinuugeu,  aber  die  Psychologie  erklärt 
dieaelbeii  anr,  indem  sie  das  Spfttere  ans  dem  Drsprttngltchen,  das  Zornrnnen- 
geeetate  aus  eingehen  Gmndtatsaehen  herleitet  nnd  dabei  lediglich  der  Ver« 
kuüpfung  vou  Ursache  und  Wirkung*  uachgeht.  In  solchem  Erklären,  das  Herbart 
der  theoreti-ächen  Philosophie  zuweist,  besteht  bei  vielen,  auch  bei  Wundt,  dif 
ganze  Philosophie.  Ästhetik  und  Ethik  dagegen  entstehen  richtiger  Weise 
dadurch  I  dass  der  Mensch  aas  sich  heraus  an  der  Wirklichkeit-  Kritik  Abt  und 
Ideale  aeichnet;  sie  sind  normative  Wissensehaften,  fthnlich  der  Logik.  Die 
Psychologie  als  solche  verhält  sich  gegen  alle  diese  ÜHtersohiede,  welche  die 
normative!»  Wissoti^rhaftcii  niaclion .  indifferent,  sie  erklärt  tins  S'rhöne  wie  das 
Hässliche,  das  Cthic  wie  das  Schlechte,  die  Wahrheit  uüd  den  Irrtum. 

Weber  kitte  dnige  SMae  an  den  YorsitMi^eu  gesandt  vad  in  einem  der« 
selben  gegen  Schretaenmayrs  an  schroffe  Qegeattberstdlnng  von  Ästhetik  nnd 
Ethik  IT*  Iten  l  :^eniucht,  auch  Herbart  baue  seine  Ethik  auf  ästhetischen  Nuruen 
auf.  Pas  hat  gegen  Schretzemnayr  eine  gewisse  Berech tiiTune.  in  Hinsicht  auf 
Uerbart  aber  trifft  es  die  Sache  nicht  genau.  Der  Ausdruck  „ästhetisch"  bezieht 
sich  bei  Weber  darchans  auf  das  SdiSne  im  gewfihnliiAmi  Sinne ,  Herbart  hin- 
gegen fasst,  nachdem  die  ethischen  Ideen  als  die  ^Normen"  des  Guten  entwickelt 
sind  nnd  auch  die  davon  verschiedenen  Monnen  des  Schttnen  als  gründen  gedacht 
werden,  ht  id«-  (lobii  t«  Ionisch  zusammen  als  Ästhetik  im  weiteren  Sinn<*.  weil 
»ie  darin  stusummeutrtÜeu,  dass  über  Verhältnisse  unwillkürliche  Urteile  ergehen. 
So  kann  mau  zwar  die  Ethik  als  Ästhetik  der  WillensTerhältnisse  erklären;  aber 
Herbart  lehrt  kanm  etwas  bestimmter,  als  dase  die  Normen  des  einen  O^ietes 
nicht  aus  denen  des  anderen  abgeleitet  werden  dürfen. 

Die  figeutliche  Absicht  WrlMr>  ist,  zu  zeigen,  flass  das  pädagogische 
Handeln  nicht  durch  Wissenschaft  bis  in-i  Einzelne  zu  beistiinmen  sei,  sondern 
wie  das  Tiui  des  Künstlers  aus  lutniiiun  hervorgehen  müsse.  Nicht  das  streng 
wissenschaftliche  Denken  mache  den  Ptdagogen,  „sondern  das  leiektbew^ilidie 


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—   431  — 

KttnstlergemUt,  dM  Yerinöirc  ii.  sii  h  dem  mifstiebenden  Neuen  rasch  hinzugeben, 
m\i\  Kraft,  es  organisch  mit  «lem  eigenen  Ich  zu  verschmelzeTi  und  als  neue» 
Gebilde  wieder  erscheinen  zu  hülsen".  Das  ist  seiupni  Kerne  nach  tiitsäoblich 
richtig.  Aber  dieses  Richtige  hat  von  selbst  nicht  die  Spitze  gegen  die  Wissen- 
tehsf  t,  di«  W«lier  ihm  ^bt,  WenigsCeai  die  Fidegogik  in  HerlmTte  Sinne  bat 
TOll  Anfang  an  nicht  gemeint,  die  Hendelo  bis  in  die  Einzelheiten  des  konlcreten 
Falle«  wissenschaftlich  lit-4tiniinPTi  zu  kCnucu.  Im  Aui^cnhlickc  des  Ilandelns  da» 
zu  treffen,  was  den  vielen  Anfordertin i-en  ilic  /.u  ertullen  sind,  am  besten  ent- 
spricht, ist  nach  Herbart  Sache  des  Taku  s  vun  tangere  ^  treffen),  und  dieser 
ihm  ek  dee  „htebete  Kleinod  für  die  püdagogiaehe  Knnet".  (Man  vergleiche 
darftber  die  in  den  pädagogieeben  Schriften  mitgeteilten  erat»  beiden  Vor- 
lesungen Herbarts  aus  dem  Jahre  1802.)  Weber  behauptet  aber  sogar,  Ästhetik 
sei  „die  Wissenschaft  der  pädagogischen  Praxis''.  Jc-tloch  auch  wenn  man  b^i 
dem  stehen  bleibt,  was  in  der  Analogie  zwischen  dem  Künstler  uud  dem  Päda- 
gogen wirklich  treffend  ist,  wird  die  Ästhetik  iiieht  eine  OnmdwineiMdieft  der 
P&dagogik.  Denn  dieielbe  Analogie  kehrt  bei  dem  Handeln  des  Mediainers,  des 
Staatsmannes,  des  Strategen  n.  s.  f.  wieder,  ohne  dn.ss  die  Medizin  usw.  Grnsd« 
Wissenschaften  der  Pädagogik  wären.  Die  pHdairoirisch*»  KuTi««t  jrleidit  in  dir-^er 
Hinsicht  jeder  anderen  Kunst,  uud  e-i  war  lediglich  ein  aus  der  Zeitströmung 
in  eiUArender  Miisgriff,  ans  der  laugen  Bähe  die  sehSne  Emut  heianszogreifen 
nnd  dafllr  Ästhetik  an  sagen.  Diese  sellwt  ist  fikr  den  Fidagogen  nötig  in- 
soweit, als  er  auch  mit  dem  Schönen  zu  tun  hat,  aber  sie  istuieht  in  einen  Rang 
zn  stellen  mit  der  Ethik.  Um  es  knr?:  mit  ITerhiirt  zu  sacrpn :  die  Imperative 
der  .\sLhetik  lauten  hypothetisch,  die  der  Ethik  lauten  kategorisch.  Wer  dies 
mit  Bewosstsetu  nnikehrt,  kommt  anf  den  Standpunkt  des  Ästhetentums ,  aber 
auch  der  Pflege  des  Schfinen  in  der  Ensiehnng  als  einer  ernsten  Sache  soll  man 
nidit  darch  eine  gewaltsame  Erweitenmg  der  P&dugogik  dienen  wollen. 

R.  Thiilliofers  .^U'jfnhnmiren  über  fesnelle  Piidagogik  im  Anschlüsse 
au  den  bekauuteu  Kougrend  in  Mannheim  laufen  daianf  liinan«.  da'*:^  den  einjielneu 
Massnahmen  der  Belehrung  nur  ein  durch  besondere  ^otstän<le  bedingter  Wert, 
dem  allgemMU«!  Geiste  der  ersiehenden  Massregeln  die  Hanptbedentnng  sn- 
kemae.  Daiin  stimmt  er  llbercin  mit  ntrster,  aber  anch  wir  Herbartiauer,  meinte 
ein  Redner,  hätten  niemals  andern  stehen  können;  die  Bestimmung  des  Willens 
im  entscheidenden  Augenblicke  i<f  Siehe  der  Zucht,  es  laufen  aber  Fäden  von 
dem  Unterricht  her.  Was  Tbalnoiur  über  besondere  Massnahmen  der  Zucht  vor- 
bringt, wurde  dnreh  Mitteilungen  ans  seiner  sezadlen  Pttdagogik  bei  den  Philan- 
thropen eigftnst  Nach  dem,  was  er  dort  verlangt,  mllsste  man  sieh  freilieh 
fragen,  wamm  in  katholischen  Ländern  die  fraglichen  Notstände  Uberhaupt  noch 
vorhand-'n  sein  können.  Die  I>isku.<»8ion  eriTitr  ni-  i.f  vorüher.  ohne  dass  wieder  atif 
die  Nutwtjadigkeit  einer  Reinigung  der  Haua-  nnd  Scbnlbibel  hingewicseu 
worden  wäre. 

7.  Hollenbachs  Beitrüge  snm  Verständnisse  der  Schrift  Kants 
Uber  Pädagogik  haben  die  noch  unsichere  Terminologie  nnd  den  Plan  dieser 
zuerst  von  Rink  verfiffpntlichten  Privatnotizen  unseres  Eraehtens  wirklich  klarer 
gemacht.  Willmann  freilich,  de^isen  .Vnsr^^ahf»  der  Schrift  Kants  von  Hollcnbacb 
mit  angegriffen  worden  war,  hatte  in  einem  Briefe  an  den  Vorsitzenden  den 


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—    432  — 

g-ftlogentliclien  Charakter  <li«:'S(  r  Kantischen  Distinktiouen  viel  mehr  betont  and 
allgemein  behauptet.  Kaut  habt'  meiir  Noicrnnq-  \nu\  FJhi ekelt  ST'^babt.  rer- 
^hiedeues  auocinauderzubaiten,  aU  ütu»  Zu^auiuieugebüiige  xu  verbiudeu.  Darum 
xechnet  er  HollenbMlis  Arbeit  zn  den  ^ttongen'',  die  notwendij^  nussÜDg«« 
mÜBSten.  Bektor  Dr.  Felsch,  der  sich  mit  Kmnt  auch  eingehend  beschäftig:!  htX 
(vgl.  f>eiiit;  Sclirift:  Da.«  Verhältnis  fler  transzendentalen  Freiheit  bei  Kant  zttr 
Möglichkeit  moralischer  Erziehung,  18^M-.  sni^te,  da.s  Richtige  habe  schun 
Strümpell  in  seiner  Darstellung  der  Pädagogik  Kants  getroffen,  nur  habe  ei  e» 
nieht  wie  HoUenbech  im  eiuseliieB  naehgewieseii. 

8.  VSliringere  Dftrstelliing  der  Pftdagogik  Sebleierniftebers 
und  ihrer  ethischen  Prinzipien  nimmt  ihren  Standpunkt  ganz  ianerbllb 
dts  (if  ire?ittHiules  und  setzt  sich  weder  mit  der  frflhereu  Arbeit  v.  Rhodens  noch 
mit  lierbarUi  l'adagogik  überhaupt  auseinander.  In  der  Besprechung  stellt  man 
zunächst  die  ethischen  Prinzipien  der  l'ädagogik  voran.  Die  £thik  Schleier- 
mMbers  ist  eine  kosmif  ebe  Sittenlebre  (man  TgL  Rttgel,  Die  Ftoblme  der 
Pbiloeophie,  im  II.  Hauptteil);  de  will  die  Darstellung  eines  kosmischen  Bealoi 
geben,  die  l^ndeii/tn  des  Absoluten,  sofern  fie  sich  im  menschlichen  Willen 
offenbaren,  autzei{>:eu.  Eine  Haudlnug  wird  alw>  darnach  gewertet,  ob  oder  wie 
nie  in  die  jeweilig  gegebene  Entwicklung  hineiupai^e.  Dadurch  wird  diese  Ethik 
eine  Gftteilebre,  die  fintwieUmig  des  Garnen  eine  EntwieUnng  der  „Otter*: 
I'ainilie,  Staat,  Kirche,  allgemeine  Geselligkeit.  Darin  sind  nun  gewiss  Worte 
enthalten,  aber  es  fehlt  irnmor  die  einfentliche,  letzte  Begi-Ündnnir  dies««  Wertes 
Es  ist  schon  eine  L/Uikehrnnir  des  richtigen  VerhRltnis.ses .  -.venu  Ptliclit  und 
Tugend  in  dem  Begriff  des  Gutes  mit  enthalten  sein  sollen ,  aber  auch  diese  sind 
nodi  nicbt  die  Orandbegrilfe  der  Ethik.  So  bleibt  die  geforderte  Dnrebdringiing 
4«r  Natur  mit  der  Vernunft  im  Grunde  nur  ein  tbeoretischnr  Voigauiir.  Diese 
Mängel  der  Ethik  an  sich  treten  noch  deutlicher  zutage,  sobald  der  Versuch 
gemacht  wird,  daraus  eine  Päüai^oLrik  alizuieiten;  es  kommt  zu  keiner  wirklichen 
Herausstellung  eines  Zieles.  Am  meisten  macht  sich  wie  immer  in  solcher  Be- 
arbeitung der  Btbik  die  Idee  der  VoUkmnmenheit  und  die  daraus  abgeleitete 
Idee  der  Knltnrgesellschaft  geltend,  aber  aach  diese  wird  Tenebwommen  dmcb 
die  Besiehnng  aqf  das  Unendliche. 

9.  Tittmanns  übersichtliche  Mitteilungen  au«  den»  T>rvhe  von  Louis 
<iockler  „La  Pedagogie  deHerbart"  (Paris  190Ö)  sind  willkooimeu  gewesen 
4Üs  Hinweis  daratif,  dass  mau  aneh  bei  mueren  westliehen  Nachbarn  HofEnungen 
«of  eine  „liebtere  Zukunft**  mit  Herbart  Terknttpft.  Die  Mitteilnngen  aeigeB 
aber  auch,  dass  der  Verf.  in  wesentlichen  Punkten  ganz  anderer  Meinung  ist 
als  Herbart.  Eine  Ifanptqnelle  dieser  Abw^irlinüfron  macht  ein  Satz  sichtbar, 
den  Tittmann  su  wiedergibt:  „Der  krankhafte  Wider.viüe  Kants  gegen  den  Endä- 
mouismus  habe  Herbart  derart  ergriffen,  dass  er  alle  wesentlichen  Elemente  eines 
moralisehen  Aktes  anrOekweise  und  sieh  in  der  Bewertong  lediglieh  an  ^ 
äusserlicbea  Formen  des  abstrakten  Willens  halte."  Dass  auch  in  der  blossen 
Auffassung  der  F. ehren  TT*'rharts  Fehlgriffe  vorkommen,  ist  angesiebt«  dessen, 
was  die  Literatur  in  Deutschland  bis  heute  ;^eig-t,.  kein  Wunder,  ja  gerade  die 
weite  literarische  Umsicht  des  Verf.  mag  manchen  Fehler  verursacht  habeu. 
Dihin  ist  wohl  an  reehnen,  dass  er  die  theoietisdie  Trennung  der  Beglerang 


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Ton  der  Zucbt  ao  selur  tadelt;  ferner  Ataa  er  Stoy  den  freien,  Züler  dagegen  den 
orthodoxen  Anhänger  Herbarts  nennt.  In  Wirklichkeit  hat  Ziller  Ht^rharta 
Lehren  in  einem  Masse  fortgebildet,  das«  noch  immer  d^r  Streit  darüber  nicht 
entsciiieden  üit,  ob  olle  Fortbildungen  dem  Sinne  lierbatU  geuiü^ä  waren,  Stujr 
dagegen  blieb  im  weeentlieben  bei  Herbarte  Lehre  stehen,  und  ein  Hanptteil 
seiner  Verdienste  liegt  auf  organiiatofiscliem  (it  lMtte.  Wenn  d^  Verf.  weiter 
meint.  Ilerbart  habe  drei  Erziflnniirszwecke,  nfimlich  die  IndividnalitSt.  die  Viel- 
seitigkeit des  Intwsfi*»  und  die  Charakterstärke,  so  hat  dabei  neben  dem  Vor- 
gange Jachmaujia  wohl  anch  die  Mehrdeutigkeit  des  Andruckes  „i^riuziy "  mit- 
gewirkt; denn  ^e  Individnalittt  ist  jedenfalki  ein  Erstes,  dn  Anfangspunkt  in 
dem  Sinne,  dass  der  Erzieher  sonftcbst  sn  das  gebnnden  ist,  was  er  findet,  wenn 
sie  amli  durchans  nicht  ohne  weiteres  ein  Finalzweck  sein  kann.  Am  anf- 
fäjli;rst*u  tand  man  die  Be<«timnnin^-,  das«»  bei  dem  Unterricht,  im  Gec'ensatz  zu 
Segiernug  und  Zucht,  „ein  neue«  ülenjeut  —  d&n  Wort  —  hinmkumme."  Das 
erinnert  nn  Herbarts  fiats  in  der  Selbstanzeige  der  Allg.  Pädagogik :  „Das  eharak- 
teristisehe  Merkmal  des  Unterrichta  ist,  daas  hier  Lehrar  und  Lahrliag  femem- 
schaftlich  mit  etwas  Drittem  beschäftigt  sind;  dahingegen  Zucht  und  Regierung 
unmittelbar  den  Ziiirlinir  treffen^  (vgl.  anch  Allg.  Päd.,  IIT.  Buch,  5.  Kap.,  Abs.  3). 
Aber  es  milsste  doch  noch  irgend  ein  neckischer  Xoboid  mitgewirkt  haben,  um 
die  obige  Bcadmibong  des  üstenidts  hmorndniogen.  IHua  Herbart  der 
Begründer  der  SoaialpSdagogik  genannt  wird,  konnte  dmeli  irgend  eine  Ver- 
teidigung HerbartH  ir^^u  die  Vorwürfe  der  wirklichen  Sozialpädagogen  ver> 
anla$<rtt  sein.  -  Den  N>  uphilologen  wurde  die  Schrift  von  Gockler  als  eine  sehr 
anregende  Lektüre  empfohlen,  ebenso  die  von  Tittmann  am  6cbiusiie  mitgenaunte 
Sebrift  von  Mauden.  Die  Uteste  nnd  sngleich  soTerlässigste  franaOsiseha  Sobiift 
■ei  wohl  die  von  Ed.  Boebrioh :  Thforie  de  l'idiieatioD  d*ainte  les  principes  de 
Herbart,  Paris  188d. 

Daran  schliessen  wir  einige  geschäftliche  Mitteilungen.  In  den  Vorstand 
wurden  nenirewRhlt  Srhnlrat  Dr.  Schilling  in  Rochlitz.  Rektor  Dr.  Felsch  in 
Magdeburg  und  f^erainardirektor  Dr.  Capesius  in  Ijermannstadt.  Die  Beschloss- 
fassong  aber  die  Satxongsauträge  wurde  auf  das  folgende  Jahr  venoheben,  damit 
man  hinsichtlieh  der  nor  alle  awei  Jahre  an  manstaltenden  GeneralTenammlmig, 
gegen  die  auch  Bedi  nken  geltend  gemacht  worden  nind ,  .sicherer  das  Richtige 
treffen  mui^c  I  ber  den  Inhalt  des  folgen  lf  r  fahrhuelie«  konnte  der  Vor-it/pnde 
schon  ziemlich  ausführliche  Mitteilungen  machen;  e»  wurden  noch  einige  Wiiuttcha 
und  Batschläge  geäussert,  anch  >Mirde  ausdrücklich  darum  gebeten,  derartige 
Wttnsdie  und  BatsebUge  jedemit  aueh  brieflieh  dem  Vorsittenden  mitmteilen, 
überhaupt  jede  Art  von  bedentongayollen  WalirnehinungOD  an  ihn  oder  an  den 
Schriftführer  ^ehtni,'en  zn  la.<»«i<»n ,  damit  .sie  gegebenen  Falles  aneh  dorch  die 
„Mitteilongen"  allen  Mitgliedern  bekannt  werden. 


PSdafoilMlw  StadieD.  XXUL  6 


28 


—  434  — 


IL 

Die  sozialen  Utopien. 

Vor  ungeffthr  400  Jahren  Hess  der  bertthmte  englische  Staatskanzler  ThomM 
Horns  ein  Bwh.  ♦'!^fli»'in»Mi .  wclchoii  betitelt  war:  ^Von  der  iM  'jrpn  Verfassang 
des  Staates  und  vou  '1er  neuen  Insel  Utopia."  Ein  weitgereister  Mann  mit 
Namen  Hjthlodens  schildert  seinen  Freunden  die  idealen  Ztistände  der  fenien 
Insel.  Das  ist  der  Haiptinhalt  dee  Bnelies.  Sohon  d«  Maine  Bythledena,  in 
welchem  das  griechiadie  Wort  hythlo*  -  leere  Rede,  Geschwäts  —  enthalten 
i«t  «'  heint  andeuten  zu  sollen,  iia?f  man  den  Erzähler  nicht  völlig  ernst  nehmen 
uiüge ;  aber  dabei  lüsat  Thomas  Morus  doch  durchMicken .  dass  gttr  manche«  aas 
der  Erzählung  des  Weltreiseutleu  äich  wohl  praktisch  verwirklichen  laiit»e. 

Der  Name  Utopia  ist  an  einem  Wort  geworden,  mit  welchem  man  eine 
ganze  Reihe  fthnlieber  literarischer  Erscheinungen  beseiebnet  hat.  Die  Menaebmi 
in  dieser  unvollkommenen  Welt  haben  nidit  nur  in  nn?eren  Tagen,  sondern  schon 
im  grauesten  Altertum,  weit  die  geschichtliche  Kunde  reicht,  das  ernsthafteste 
Bestreben  gezeigt,  ilber  ihre  sozialen  Verhältnisse  nachzudenken  und  sich  einen 
Znstand  von  allgemeinem  Glflek  nnd  Wohlbefinden  anmimalen  oder  davon  m 
trinmen.  Wir  haben  nns  gewöhnt,  solche  Gedankengänge  kurzweg  als  Hirn- 
{>^pspin=te.  Phantastereien  oder  Utopien  zu  besreirhnen  und  halten  damit  die  Sache 
für  abgetan.  Indessen  die  Tatsachen  lehren,  da«s  wir  liie  Utopien  doch  etwas 
ernster  aufzufassen  haben.  Wir  brauclien  nur. zu  erinnern  an  Bellamys  Schrift: 
MBtIckUick  ans  dem  Jahre  SOOO^  oder  an  Hertskas  nFreilaud",  die  beide  in 
knraester  Zdt  in  sahlreidien  Auflagen  vom  Publikum  verschlangen  wurden, 
wenn  wir  behaupten  wollen,  dass  die  Lnst  und  Liebe  an  Utopien  unausrottbar 
auch  in  den  Menschen  unserer  Zeit  schlummert  In  der  Tatsache  ,  dr.ss  immer 
wieder  hervorragende  Köpfe  sich  gedrungen  fühlen,  Flaue  einer  unbedingt  voU- 
kommenen  Staats-  nnd  GeeeUschaftaordnnng  an  entwerfen,  welche  allen  MeascheB 
hier  anf  Erden  schon  eine  nngetrllbte  Olttckseligkeit  Terbfirgcm  soll ,  liegt  ein 
Problem,  welches  unser  Nachdenken  herausfordert. 

In  den  Utopien  spricht  sich  die  erf>«ise  Sehn«sncht  des  Men«<chen  nach  Glück, 
nach  if'reiheit  und  Gerechtigkeit,  nach  Frieden  und  Ordnung  aus.  Welches  B^ht 
hat  iHese  Sehnsneht  im  allgemeinen?  Welohea  Bedit  hat  inabescmderB  das  SMMben, 
de  anf  dem  W^  na  stiUen,  den  die  Utopisten  einsehlagenf  Wie  Terhilt  deh 
dazu  die  christliche  oder  eine  philosophische  Weltauffassnng?  Wie  ist  das  ver- 
schiedene Verhalten  gegenüber  den  utopistischen  Ideen  zu  erklären?  Das  sind 
Fragen  allgemeiner  Art,  die  sich  uns  bei  der  Betrachtung  der  Utopien  aufdrängen. 

Lange  Zeit  haben  sich  die  ätaatswisaenscbaf  ten  nicht  um  die  Gemälde  einer 
besseren  Welt  in  den  Utopien  oder  Staatsromenen  gekümmert,  bis  der  Gelehrte 
Bobert  von  M(riil  sieh  eingehend  mit  diesen  Geisteserzeugnissen  befasste  und  ihre 
tiefere  Auffa.ssong  vorbereitete.  Seitdem  haben  die  staatswi^K^enschaftlirhen  .^'chrift- 
steller  die  Bedeutung  des  Gegenstandes  erkannt.  In  Beinem  Werke  über  den 
deutschen  Föderalismus  si>rieht  Konstautin  Frantz  mit  grosser  Anerkennung  von 
Tersebiedenen  Uu^iien. 


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Ganas  befeyuders  gilt  das  von  Professor  Dr.  Audreas  Voigt,  der  diesen  lito- 
rariflchen  Erscheinungen  ein  besonderes  Bnch  gewidmet  hat  (Die  sozialen 
Utopien,  O^todienMlie  Yerlagthaiidliuig  in  Leipiig).  Dm  Bocb  besteht  am 
fünf  Vaiixlgeu  de»  Veduten^  gehalten  im  freien  dontichen  Hoehstift  m  Frank* 
Cnrt  «.M. 

Im  crsti'ii  Vortrag-  werfIcTi  «lic  sozialen  Utopien  in  psych'-'l'i'rischer  und 
ethischer  Betracbtuug  gewt;rtet  alä  Ideaigebilde  einer  stokAnftigeu  Staats-  und 
Wirt«chaf tsordnnng ,  deren  innerer  Gehalt  sich  mit  der  fortschreitenden  Kultur 
vereddt  Sie  lehnen  es  meieteni  nnadrllcklielk  eb,  die  etwaige  YeryoUhemmnnnf 
Am  menschlichen  Odetee  oder  der  Sede  im  leligiOsen  nnd  sittlichen  Sinne  rar 
Vorauj'^etznni^  tn  machen  oder  zn  erstreben,  um  mit  Hilfe  der  vollkommeneren 
nnd  besseren  Meusjcbcn  auch  bessere  staatliche  und  wirtschaftliche  Zustünde  zu 
schauen.  Den  Einwand,  den  wohl  alle  Utopisten  zu  hüreu  bükuuimen  babeu,  d.uis 
lie  den  Himmel  anf  Erden  nur  «chaien  könnten,  wenn  die  Menaehen  Engel 
wären,  pflegt  ne  mit  Entschiedenheit  zurückzuweisen.  Der  Mensch  verändert 
•ich  ihrer  Meinung  nadl  nnr  mit  den  Verhältnissen,  unter  welchen  er  lebt. 

Diese  Anschauunir  i?t  nach  Voigt  für  den  wirklichen  T'topisteu  eine  Not- 
wendigkeit, denn  er  will  nicht  auf  eine  lerne,  uiiabselihare  Zukunft  warten,  in 
der  sich  seine  Ideeu  möglicherweise  verwirklichen,  suudern  er  luüchie  aiu  liebsten 
eofort  mit  der  Umgestaltung  des  Staates  nnd  der  Wirldidihelt  heginneit  Voigt 
laacht  femer  auf  die  merkwttrdige  Eritcheinnng  aufmerksam ,  dass  nicht  die 
energischen,  aktiven,  fniheitfliehenden  Naturen  es  s^ind,  welche  als  Utopisten 
Zukunftsbilder  voll  Freiheit  und  Selbstherrlichkeil  erdenken,  und  dass  es  nicht 
die  sanften,  passiven,  friedfertigen  Naturen  sind,  welche  Staatsideule  entwerfen, 
in  denen  der  Friede,  die  Sicherheit  nnd  dss  Wohlbetinden  mit  dem  Opfer  der 
per»ünlichen  Freüieit  der  Bliiger  erkauft  wttrde,  yielmehr  ist  es  gerade  umgekehrt. 
Der  Freigesinntc  träumt  von  einem  Zwanfr>?taat,  dessen  Zwang,  und  der  Ge- 
druckte von  einem  Freiheitsstaat.  dessen  VVilikür  er  nicht  empfindet,  weil  jeder 
sich  in  seineu  Gedanken  au  die  .Spitze  des  erträumten  Gemeinwesens  stellt  und 
da  besonders  das  erstrebt,  was  ihm  in  der  hatlMi  Wirklichiteit  fehlt. 

lui  «weiten  Vortrag  wird  hauptsäclilich  die  älteste  Utopie  besprochen,  wenn 
wir  vom  nenentdeekten  morgenllbidiseben  Schrifttum  ahsehtti,  nlbnlieh  das  Ideal 

▼om  Staate,  welches  sich  der  ::riechii!(che  Philosoph  Plato  gebildet  hatte.  In 
Piatos  Staat  sind  die  Weisen  Ii'  llerracher.  die  da?«  Ptaatliche  Leben  beraten  und 
leiten.  Um  das«  hesner  zu  können,  leben  sie  ohne  Ehv  und  Kii^cntnm.  Die  Mmm 
des  Volkes  wird  gezüchtet  nach  Gesetzen,  wie  sie  etwa  heul*i  lur  die  Pferdezucht 
massgebend  sind.  Das  liat  der  alte  Grieche  sehr  weitläufig  anseinandergesetst 

Im  dritten  Vortrag  setzt  Voigt  auseinander,  dass  der  sogenannte  christliche 
Sosialismns  ein  schiefer  Begriff  nnd  die  christliche  Fttrsorge  nnd  Vorliehe  fflr 
die  Armen  keine  Sozialpolitik  ist.  Er  sagt :  „Niemals  hatte  das  sich  selbst  tren- 

gebliebene  ("liri^tentum  die  (l*'m  ni  oilcinen  Au.>ie8eprinzip  entgegengesetzte 
Tendenz,  die  Schwachen  zu  erhalten  und  die  Starken  zu  unterdrücken.  Da.s  lag 
ganz  ausserhalb  seines  Bereiche:;,  denn  es  wollte  überhaupt  keine  Politik  treiben, 
sondern  nnr  Seelsorge.  Es  wollte  den  Schwachen  trfieten  in  seiner  Schwachheit 
nnd  wollte  den  Starken  demütigen  in  seiner  Stärke  mit  dem  Gedanken»  dass 

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Schwarhhpir  w.vl  Stinke  im  weltlichen  Sinuc  überhaupt  nicht  über  den  wahren 
Wert  des  Menschen  entdcheideu.  £s  ist  nicht  an  sich  dem  Starken  abhold  und 
mn  Freund  d«8  Sdimalittii,  dum  dM  Starke  kam  inneiüch  gross  nnd  da« 
Schwache  kann  innerlich  Terkommen  sdn.  Ebenso  verwirft  es  nicht  den  Kampf 
nms  Dasein,  denn  der  Kampf  kamt  edle  Kotlve  haben,  während  die  Friedfertigkeit 
vielleicht  nu"  niedriffstcr  Gesinnung  entsprausr  Was  das  Chriateutum  behauptet, 
ist  allein,  das»  der  Ausgang  des  Kampfes  niciit  massgebend  sei  für  den  inneren 
Wert  eines  Menschen,  wie  es  die  Anschaaujig  des  Altertums  gewesen  war.  Es 
kann  also  ein  MoiBch  im  wirtschafUichen  nnd  gesellsehaftlichen  Kampfe  nms 
Dasein  unterliegen  und  doch  in  den  Eigenschaften,  nach  welchen  wir  vor  allem 
den  Menschen  bewerten,  hfiher  strhcn  als  dir  irlänzendste  Sieger." 

Zncfeirebeu,  aber  es  trifft  (lorh  nirht  il  u  Kern  der  Sache.  Das  christliche 
Dogma  vom  Hcilsplan  Gottes  ist  doch  eine  so  grossartige  Utopie,  die  von  keiner 
anderen  erreicht  wird.  Sie  als  die  allein  seligmacheude  Wahrheit  anaonehmen, 
wie  die  ortliodoxe  Lehre  will,  lehnen  wir  ab,  aber  das  Gedankttngebftade  des 
Dogmas  verdient  eine  eingehendere  Würdigung,  als  Voigt  sie  betätigt  hat.  Auch 
dürfte  dahoi  <1>s  Kirchenvaters  AngostiniiB  Schrift  Uber  den  „Gottesataat"  nicht 
übergaiiiien  v.ertlen. 

Von  dcü  Staatsidf  iileii,  welche  im  christlichen  Mittelalter  ausgebildet  wurden, 
schildert  Voigt  besonders  den  „Somxenstaat"  de«  Dominikanennfinches  Thomas 
Kampanella.  In  ihm  ttben  die  Geistlichen  alle  Regieningstütigkeit  ans,  denn 
nur  sie  sind  im  VoUbesita  aller  Tüchtigkeit  und  Tugend.   Die  Beaiehnnff  in 

riato  xiiifl  An^rnstimiH  Hesft  auf  der  Hand.   Wie  sich  diese  Utopie  im  BpSteren 

Kircheiista.it  VLrwirkli(  ht  hat,  lehrt  die  Geschichte, 

l'tM-  vierte  Vortrag  ist  interessant  dnrf^h  seine  eiugehemle  Schilderung  des 
Jesuitenstaates  Paraguay.  Die  Väter  von  der  Uesellschaft  Jesu  hielten  die 
Ibudiaatt  aar  Arbeit  an,  nnterwiesen  sie  darin  nnd  hatten  damit  Erfolg,  wenigstens 
tiisaerlich.  Aber  weil  sie  das  Volk  in  Unmündigkeit  erhielten,  war  die  Knitnr 
nur  ein  dlhinfr  Firnis;  wenn  die  Leut«  siidi  selbst  überlassen  warnn.  dann  kam 
die  Unkultur  in  allen  Formen  nieder  zum  Vt-rrsf^hfin  In  unsem  Schulen  ist  es 
gerade  so,  wenn  die  Kinder  in  ihrem  Tun  nnd  Lassen  so  viel  gegängelt  werdeiu 
Die  Jesuiten  haben  sieh  in  ihren  Schriften  von  der  besten  Sdte  geieigt,  aber  in 
Sttdamerika  haben  sie  die  Probe  auf  das  Ezempid  schlecht  bestanden. 

Dass  der  grossen  französischen  Revolution  auch  sehr  phantastische  Utopien 
vorausgingen  und  die  I[andlun<;> weise  der  Bevolntiouäre  beeinflussten ,  wird  von 
Voigt  .sehr  cinsrehend  geschildei  t. 

Im  fünften  Vortrag  werden  die  modernen  Utopien  mehr  im  allgemeinen  are- 
wttrdigL  Die  besseren  Erscbeinougeu  dieser  Art  unterscheiden  sich  von  den 
Utemi  üto|d«ii  durch  ihr  Bestreben,  die  seit  der  «weiten  Htlfte  des  vorigen 
Jahrhnnderts  entwickelten  Lebreu  der  NalionalSkonomie  für  den  Anfban  ihres 
Idealstanto^  an  verwenden  nnd  sich  damit  anf  eine  wissenschaftliche  Omndlage 
an  stellen. 

Man  kann  nicht  leugnen ,  dass  die  neuere  sossialii^tiüche  Literatnr  manchen 
wissenschaftlich  wertvollen  Gedanken  zutage  gefördert  hat.  Doch  ist  damit  der 
Soidalinniia  noch  nicht  wiaaenschaftlidier  geworden  als  er  vordem  war,  denn  die 


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Hauptfrage,  ob  nnd  wie  eine  soaialiBtiBche  Organiaation  der  Qeselbdiaft  duch- 
ftbrbar  itt»  wild  niemals  durch  rein  wissenscbaftliche  Elrörteningen  und  T^utei^ 
gQchnngen  2:11  entacheiden  sein.  Oh  jemand  Sozialist  oder  Individualist,  Kom- 
mnuist  oder  Aoarcbist  wird,  hängt  nach  Voigts  Ansicht  nicht  von  seiner 
wissenschaftlichen  Bildung  und  Erkenntnis,  sondern  von  seinem  Temperament 
und  Yon  adnem  monUiaefaen  nnd  inteUektnelleii  Cbaiakter  ab.  Die  Entaebeidniig 
fOr  oder  gegen  ist  Sache  des  Olaabens,  nidit  des  Wissens. 

In  dieser  Form  dUrfte  der  Ausspruch  wohl  sehr  anfechtbar  sein,  aber  der 
Verfnsper  will  sagen,  dass  nirht  Frkcnntnisgründe  allein  nnser  Handeln  be- 
stimmen, sondern  auch  (iefühle  und  ätimmungeu,  die  sich  der  näheren  Beurteilung 
entaieheiL  Daram  bietet  anch  das  Bewoistseiii  petsOnlieher  IMheit  und  Un- 
abhingig^eit  den  besten  Sekatx  gegen  überspannte  Ide». 

Zum  Schluss  meint  der  Verfasser,  hd.  veroflnftiger  wirtwAaftlicher  FreilMit 
sei  wohl  eine  Versfihuung  zwischen  Kapital  nnd  Arbeit  denkbar.  Nicht  nur 
denkbar,  sip  mn^s  praktisch  verwirklicht  werden,  oder  unsere  ganze  Kultur 
versinkt  in  den  Abgrund.  Die  Lösung  dieser  Aufgabe  stellt  grosse  Anforderungen 
•a  die  Gebildeten  nnd  Beeitsenden,  denn  von  ihnen  darf  man  bflügerweise 
erwarten,  dass  sie  anerst  Hittel  nnd  Wege  finden  lar  Anbahnung  gltteUidKter 
Verhältnisse, 

Eine  bessere,  friedlii-herf  Ordnung  ist  es,  worauf  die  Mensclila-it  hofft.  Sie 
herbpiziiführen,  ist  tlas  Stri  lx-ii  aller  Gntgesinnten,  Tn  dieser  Hiusii  lit  hat  .'«ich 
der  Verfasser  der  sozialen  Utopien  ein  grosses  Verdienst  erworben,  denn  er  setzt 
Gedanken  in  Bew^nng,  die  niemals  mhen  dürfen. 

„Es  ist  billig  nnd  leicht,  wenn  hier  die  Realpolitiker  die  Achseln  zucken 
nnd  etwas  von  Binsenwahrheiten  nnd  utopisti^cher  Schwärmerei  murmeln.  IHese 

braven  Leute  verge^a^n  nur  dahei,  da.'^s  dif  oiofpiie  Erzichunfr.  die  sie  j^'enossen 
haben,  sie  ans  unsoziah-u  Ei;i>i^t<'n  zu  j^T.si'll.^ichaftlich  Itranchbaren  MeiiHchen 
gemacht  hat,  dass  Vernunft  und  Sittlichkeil  eine  uulöhbare  Ehe  miteinander 
geschlossen  haben»  nnd  dass  alles,  was  wir  Koltor  nennen,  darin  besteht,  dass 
anfingliche  Utopien  nur  Wirklichkeit  geworden  sind"  (Dr.  R.  Penzig). 

Deshalb  sind  auch  solche  Überl'  irniiijen  wertvoll.  Wer  aber  so  gestellt  ist, 
dass  er  «1ur<  h  .-ino  eflle  Tat  etwas  .nrharft.  wa.«;  dem  Frieden  forderlich  ist,  der 
ist  ein  VVohltÜter  der  Mou.Hchheit.  Für  alle  Zeit  blL-ibt  wahr  das  Wort  der 
edlen  Königin  Luise;  „Es  kaun  uur  gut  wcrduu  iu  der  Welt  durch  die  Guteu!'' 

Wir  haben  schon  daratif  hingewiesen,  dass  die  Verfasser  der  hier  erwähnten 
Utopien  anftnglicb  nnr  den  politischen  Ban  des  Staates  im  Ange  hatten.  Später 
wurde  mehr  und  mehr  das  gesellschaftliche  Leben  in  den  Bereich  der  Darstellung 

gezcf^^n.  Zu  diei'en  ErseheinnniT'en  mtlssen  wir  aber  auch  Rnnsseans  Emil  zählen. 
Wilhrt  ud  I'lati).  Kaiiijiaiiclla  und  Morus  der  Ausit  ht  wareu,  durch  eiue  j^TÜndliche 
Umgestaltung  der  üuääerun  Lebensverhältnisse  würde  auch  das  geistige  und 
nttliehe  Leben  nach  der  idealen  Seite  hin  Tenrollkomninet  werden,  gehen  die 
pädagogischen  Utopisten  den  umgekehrten  Weg.  Sie  machen  Vorschläge,  wie 
der  Mensch  innerlich  umgestaltet,  zn  einem  Ideal  herangebildet  werden  kann, 
nnd  sie  sind  der  Hoffnung,  dass  eine  so  er7"L"  TU'  Menschheit  besser  befähigt  ist, 
das  staatliche  nnd  gesellschaftliche  I^ben  umzubilden  un<l  gesunder  einzurichten. 


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—   43»  — 


Wie  sehr  diemr  Gedanke  Rontiaaiti  gestlndet  bat,  tMti  maii  ans  den  praktiaelien 

Yennchen,  zn  weklten  er  Anlaea  gegelwtt  Itat.  Pestalozzi  wurde  nicht  mOde, 
immpr  wieder  7'i  vt'rkftmlen,  dass  nnr  von  einer  f^HhulIichen  ErzielinKL^  ias  Hfil 
der  Menscbheit  zu  erwarten  sei.  Dass  der  Vater  Pestalozzi  nn  unverbesserlicher 
Schwäruier,  eiu  Utopist  war,  darin  stiiumteu  die  Zeitgenossen  übereiu. 

Aber  nocb  ein  anderer  ist  bier  an  nennen,  nlmlieh  der  Plüloeopb  liebte. 
In  seinen  berflbmten  nBeden  an  die  deutsche  Nation"  bexweckte  er  die  geistige 
Wiedergeburt  unsere  Volkes.  Mit  der  häuslichen  Erziehung  hat  Fichte  in  seinen 
„Reiien"  radikn!  (rebrochen.  Pichte  kam  auf  solch  eine  radikale  Unigeataltunc;^ 
der  lürzieiiuug^,  weil  er  deiu  BUrgerbause  seinerzeit  jede  moralische  Betuhiguug 
nur  Eniebttng  abepraeb.  Wie  daa  ataafticbe  Leben  der  Dentscben  sieb  im  ttebten 
Yeilall  befand,  so  sab  Fichte  auch  in  der  Gesellschaft  nur  die  Auflösung  aller 
bärgerlichen  Tugenden.  Darin  hat  ihm  die  (JiRchichte  Unrecht  i,-.  rr,  h  n  Wir 
sehen  soi^ar,  dass  seitdem  die  staatlichen  Behörden  fh'r  Erziehung  m  Haus  und 
Schule  eine  grössere  Wttrdignug  zuteil  werden  lassen  als  früher.  Der  Staat  hat 
dnrob  die  aoiiale  Geaetsgebnn^  damit  begonnen,  daa  geaamte  Leben  der  am 
meisten  bedrohten  Yolkeklassen  energisch  zu  beaebfltaen.  Die  Erfolge  davon  aind 
jetzt  schon  zu  spüren.  Die  Familie  den  .\rheitors  jrelantft  in  eine  h(.»sspre  soziale 
Lage,  so  dass  nie  imstande  ist,  ihren  Kiudeni  eine  Erziehung  geben  au  lassen, 
wie  sie  dem  Stande  unserer  Kultur  entspricht. 

ÜB  iat  aobadc^  daaa  Proteflor  Yoigt  die  aosialcn  Utopien,  die  aicb  nnf  dem 
pidagogiscben  Gebiete  bewegen,  nidhi  in  den  Krma  seiner  Betmditnngea  geaogen 
hat.  Wir  sprechen  den  Wunsch  aus,  dass  er  die  neue  Auflage  aeinea  interessanten 
Buches  um  eiu  pädagogische.«;  Kapitel  erweitert. 

Jeder  Lehrer,  der  es  mit  seinem  Beruf  ernet  meint,  ist  auch  iu  etwas 
ntopiadscb  Teranlagt  Um  ao  mebr  ist  ea  verwnnderlicb,  daaa  ZiUer  so  ent- 
acbiedenem  Widerstande  begegnete,  als  er  mit  aeinen  becbgeapannten  Forderungen 
einer  kunstvollen  Anordnung  und  Durcharbeitung  des  Lehrstoffes  auftrat.  Yom 
Standpunkt  der  Schulverbältnii*.se  in  der  Get^enwart  mag  Zillers  Lehre  als  Utopie 
erscheinen,  trotzdem  enthält  sie  wertvolle  Gedanken  für  einen  gesunden  Fort- 
achritt in  der  praktischen  findehung. 

Siegen.  JuL  Honke. 


C.  Beurteilniigeii. 


Th.  Fmnke,  Praktiaohea  Lebr- 

huch  der  «leutschen  Recht- 
schreibung. Lautgemässer  Leb  rgang 
in  drei  Stufen  nebet  Übungsaufgaben 
und  l^iktaten.  124  S.  Leijiziq:, 
AUred  Hahn.  1906.  Preis  1,30  M., 
geb.  1,7D  H. 

—  Prüfende  Satsdiktate  über 
alle  r e c h t  s c h r e i  b  1  i c  h e n 
Schwierigkeiten.  Zu  praktischem 


Gebraueb  ttbersiebtlieb  geordnet  und 

auf  drei  Stufen  verteilt.  98  S. 
Dresden,  Alwin  Muhle.  1906.  Preis 
geh.  1,80  M. 

—  Deutsche  Sprachlehre.  Prak- 
tisches Lehrbuch  für  Volks-  und 
Bürgerschulen,  in  drei  Stufen  be- 
arbeitet. 160  S.  Meissen,  Sächsische 
Schulbuchhandlung  (Albert  Bnchheim). 
1907.  Preis  2  M.,  geb.  2,40  M. 


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—  439  — 


Die  fT^irinn  „Lehrbücher"  g-eben  die 
Materialien  ihrer  Fächer  iu  fachwLiseii- 
schaftlicher  Anordnung,  aber  nach  der 
Schwierigkeit  auf  drei  Stufen  ((J,  H,  0) 
▼erteilt.  Hierbei  zeigt  die  „Sprachlehre** 
diete  Verteilung  in  einem  einzigen 
Gang^  durch  den  jpresamten  Stoff,  in 
der  „liechtächreibung"  dagejjeu  ist  der 
Stoff  der  Unterstufe  führ  sich  voran- 
getteUt.  Diese  Absonderung  hängt 
mit  der  Absicht  des  Verfassers  zu- 
sammen, dass  bei  tlem  _entjpii  Anschluss 
der  Bechtschreibung  an  den  Übrigen 
Deutsch-  oder  Sachnnterrieht'*,  den 
.Züler  und  seine  Schale  forderten^, 
der  Lehrgang  der  Rcchtscbreibnug  „von 
fremden  Lehrfächern  bestimmt  nnd 
nicht  nach  den  Gesetzen  des  Recht- 
schreibtiüs  geregelt"  werde.  Dabin 
kann  nnn  zwar  dieser  Anschluss  führen, 
aber  dein  Sinne  n;:d  den  Bemähnngen 
derer,  welche  denselben  zuerst  gefordert 
haben,  würde  das  nicht  entsprechen. 
£in  Fibelunterricht,  der  Lesen 
und  Schreib en  nicht  an seiuande r- 
reisj>t.  scmdern  das,  was  d;is  eino  Farli 
fftr  das  andere  von  selbst  mit  getan 
hat,  aneb  demselben  sogleich  wiridich 
zuführt,  hat  auch  die  für  die  Unter- 
stufe ausgesonderten  Lehren  grössten- 
teils schon  ZOT  Aneignung  gebracht, 
wie    ein   Vergleich   mit   irf»'end  einer 

ShonetischcQ  Fibel  zeigen  würde;  nur 
er  Wortschats,  der  den  einzelnen 
Gruppen  zuzuordnen  wäre,  würde  einer 
Erweiterung  bedürfen.  Dahin  zielt 
eigentlich  auch  der  Wunsch  des  Ver- 
fassers, dass  man  hh  zur  Hälfte  des 
zweiten  Schuljahre»  Lesen,  Sckreibeu 
und  Rechtscli reiben  „nur  im  Bereiche 
der  Gleichschreibnug''  zu  üben  haben 
sollte.  Von  dieser  Ansicht  abgesehen 
ist  aber  der  z.  B.  von  Hache  und 
Prüll  vollständig  durchgeführte 
Anschluss  an  den  Qbru^  Üntmicht 
Büchern  für  Lehrerhand  etwas  be- 
engend, denn  die  wirklii  heu  Voraus- 
setzungen dafür  Hind  seiir  wanddhär, 
und  dieser  Wandelbarkeit  gegenüber 
bietet  eine  reichhaltige,  gut  gegliederte 


Stoffttbersicht  Schutz  gegen  mancherlei 
Verirmngen.  Die  vorliegende  besitzt 
noeb  besondere  Beweglichkeit  und  An- 

Jtassnngsfähigkeit  r^ndurch,  dass  sie 
ormulierte  Regeln  k.aim  i^ibt;  „im 
allgemeinen  verdienen  Reih  e  n  , 
Gruppen')  ror  den  Reg^eln  den  Vor- 
zug". Den  Reihen  und  Gruppen,  die 
regelmässig  aufgeschrieben  werden 
sollen,  hat  der  Verfasser  zur  Üb 
oft  Wort-  und  Satzdiktatc  hinzu^^efügt; 
zur  r  t  il  f  u  11  LT  der  Fort.sehritte  und  zur 
Aussonderung  des  noch  Unsicheren 
sollen  die  „Prttfenden  Satadiktate'' 
dienen,  deren  Anordnunjj  sich  im 
ganzen  nach  dem  „Lehrbuch  der  Mecbt- 
schreibnng**  richtet.  —  Die  „Sprach- 
lehre''  Kann  natürlich  nicht  in  derselben 
Weise  ohne  Resfeln  auskommen,  aber 
Ikberall  ist  denseueu  ireeignetes  Material 
zur  Entwicklung  voran-  und  zur  Übung 
nachgestellt,  e!<  linden  sich  öfter 
parallele  Reihen  des  mundartlichen 
nnd  des  schriftdeutschen  Ausdrucks, 
nnd  die  i^nze  Art  der  Anordnung  gibt 
immer  eine  leichte  t'bersicht  dessen, 
was  bereits  gelehrt  ist  und  was  sich 
daran  an  sebliessen  bat.  Die  Hanpt- 
teile  sind  I  ^^'o^tlehre.  II.  Fallsetzung 
(Verhältnis-,  Zeit-  nnd  Eigenschafts- 
wörter), m.  Satalebre.  Li  nanohen 
P:ir:illi"']rrihini  ist  die  Verwandtschaft 
der  VV  üiter  nicht  klar  genug  behandelt 
worden.  Z.  B.  stehen  S.  6  „Blumen- 
strftnsse  —  zahme  Strausse.  Buntstifte 
—  milde  Stiftefr]''  in  einem  ganz 
anderen  Verhältnis  wie  „Schulbänke  — 
deutsche  Banken,  Talglichte  —  Irr- 
lichter" und  ähnliche,  die  in  langer 
Eeiiie  folgen;  S.  55  stehen  ebenso 
stehlen  —  st4hlen,  befehlen  —  fehlen** 
in  einem  MMen  KlanifTerbSltnis 
(fehlen  gehört  etymologisch  zu  fallen), 
im  übrigen  aber  stellt  die  Reihe  immer 
iwei  etwasnaffleicheVe  r  w  an  d  teneben» 
einander  („schwingen  —  schwenken"). 
Das  könnte  den  an  dieser  Stelle  ver- 
folgten grammatischen  Zwecken 
genügen:  aber  S.  M  wird  bei  dem  Ab- 
schnitt ..  WortbiMung"* -)  ausdrücklich 


Uber  den  Unterschied  vgl.  meinen  Aufsatz:  „Laut,  Regel,  Gruppe  nnd 
Sefhe"  in  Jnsts  Praxis  der  Braiemmgasehvle  1894,  dam  nein  MSebtilw9rterbneb, 

nach  Reiben  und  Familien  angeordnet",  Leipzig,  Wartigs  Verlag,  181»2. 

•)  In  meinem  Artikel  „Onomatik  iu  der  Vulkss(  Imle-  in  Reins  Encykl. 
Handbuch,  soeben  in  2.  Auflage  erschienen,  habe  ich  zu  zeigen  versucht,  dass  es 
der  Seite  des  Spraciiunterrichts,  welche  besonders  Rudolf  Hildebrand  in  denselben 
eingeführt  hat,  nicht  günstig  ist,  wenn  man  sie  in  die  Grammatik  einordnet. 


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—   440  — 


immer  gezeigt,  ^wic  der  Stamnibeerriff 
ancb  in  den  abgeleiteten  Wörtern  noch 
wirksam  ist";  nnfl  po  mnsste  in  den 
angeführten  Reiben  eine  kleine  Unter- 
•eheidnn^  angeliradit  werden. 

Steuer  imd  Wohlrabe,  Fibel  für 
den  ersten  Unterricht  im 
Deut  seh  0  11.  Nt'ue,  ua«  h  phone- 
tischen Grundsätzen  umgearbeitete 
Ansgabe.  Ausgabe  B  in  einem  Teile. 
98  S.  Hallr'  a  d.  8.,  Hemaim 
Scbroedel.   Fr.  ÖO  H. 

Born  nml  Kranz,  Fibel.  Anf  phone- 
tischer Grundlage  bearbeitet.  Mit 
reichem  Bilderschniui  k  von  G.  Kilb. 
Ansgabe  C  für  Volksschuli-ii  mit 
Schreibschrift  nach  dciu  urtu^-sischfn 
Nornialalpbabet.  82  S.  Leipzi^j  und 
Frankfurt  a.  M.,  Kesselringzcbe  Hof« 
bucbbandluug. 

Beide  Fibeln  stützen  sich  in  der 
Weise,  wie  es  früher  an  dieser  Stelle 
be^prochf  II  ist .  auf  iV\e  Phonetik  nnd 
haben  besoudcrs  eine  ähnliche  Ein- 
richtung nnd  Yerteiinng  irie  die  Fibel 
von  Bnrkhiirdt,  Laas.«  und  Schrndfr: 
uiau  VL'I.  Päd.  Stud.  1Ü04.  S.  2'Jlä., 
1906,  §.  165.  Steger  und  Wohlrabe 
haben  die  Fibel  von  Scharlach  und 
Haupt  umgearbeitet.  Sie  bringen  auch 
ähnliche  Siitzo  zu  döii  BiMeni  wie 
Bnrkhardt,  z.  B.  „Das  £i  ist  bunt", 
-wonQs  Mr  das  Lautaeren  (die  ersten 
7  Nonnalwttrtt  r  koII.  n  ,.il«  in  Schüler 
nur  im  Lautgewaude  entge^ntreten'') 
der  Laut  ei  gewonnen  wird;  Born 
nnd  Kranz  ..formulier»  n  solcho  Sätze 
nicht.  Im  Übnnarsj^ti  ff.;  unterscheiden 
lieh  beide  dadurt  )i .  «iass  die  letzteren 
kleingeschriebuK.'  Hauptwf^rter  c-cbpn. 
also  im  Anfang  eine  reichere  Auswahl 
haben.  Die  Lateiui^chrift  führen  beide 
sehr  kurz  ein.  auf  6  bez.  4  Seiten. 
Steger  uiui  Wohlrabe  bringen  am 
Scblnsse  noch  2  Seiten  „Muster  für  (la.s 
mtlende  Zeichnen",  Born  und  Kranz 
bringen  dafllr  eine  Zeitlang  kleine 
BililclK  u  nach  Art  Güht  lbcckers  (Tiul. 
Stud.  1906,  S.  22Ö),  aber  benuUt  zur 
Beselcbnnnff  der  Zellen  («Hotreihe, 
Sibelreihe*'). 

Die  mir  zugegan^nen  neuen  Auf- 
lagen der  Fibeln  von  liurkhardt  usw. 
und  TOB  Green  (im  einseinen  mD> 


gearbeitet)  geben  zn  neuen  ijemerknngeu 
Seinen  Anlan. 

F.  HoUkamm,  Lüben  und  Nackes 
Lesebuch:  FibeL  Nach  der  kom- 
binierten Schreiblese-  und  Normal- 
wortmethode, sowie  nach  den  Grund- 
sätzen der  Phonetik  völlig  nenbearb. 
Mit  Zeichnungen  von  Max  Daiio. 
27.  Aull.  2.  Aufl.  der  Nenbearbeitnnff. 
124  S.  Leipzig.  Fr.  Brandstetter.  1906. 
Pr.  geh.  60  Pf.,  geb.  76  Pf. 

Die  Grundsätze,  nach  denen  diese 
Fibel  umgearbeitet  ist,  und  das  Lehr- 

verfall  rt'Ti .  sif'  voraussetzt,  sind 

dargelegt  in  deu  UMJti,  S.  155  t.  be- 
sprochenen Präparationen  für  den 
Schreiblesenntt  riirlit  im  1.  nnd  2.  Schul- 
jahre". Man  erblickt  also  bis  S.  37  nur 
Schreibflchrift,  aber  schon  kleine  Be- 
Kchrcibungen  nnd  Erzählungen.  Man 
biehl  ferner  auf  der  ersten  Seite  nicht 
bloss  einen  Igel  oder  einen  schreienden 
Esel,  sondern  die  Szene,  wie  Esel, 
Hund,  Katze  nnd  Hahn  in  das  Ranber- 
liaiH  einfallen;  denn  ilir  i  rstt  n  Nonnal- 
wUrter  UoUkamms  sind,  wie  frUher  mit- 
geteilt ist,  AnsmfewSrter.  Das  Bild 
zu  dem  Normalwort  S^  if.  neuer  Buch- 
stabe: S)  zeigt,  wie  die  Mutter  ihre 
„schmutzige  Jangfran"  reinsuwasehen 
sucht  tisw.  .\n(1pro  Bilder  zpftren  Vor- 
gän'r*'  au.-;  der  wirk!icln>n  Uniy:t'Viuns^. 
In  iihiilichfr  Weise  b'wen  8i<  h  ^*p;iter  in 
den  Lesest  iickfu  Märchenwelt  und 
Wirklichkeil  ab.  Vou  den  Bremer 
Stadtmusikanten  kommt  zunächst  ein 
Abschnitt  mit  der  Nebenüberschrift: 
Der  Esel  und  seine  Reisegefährten; 
dann  folgt  eine  ..Loseilbung:  als, 
Hals  usw.;  Iti  alt,  kalt,  gelt  usw.**. 
darauf  die  He3r8che  Fabel  „Knabe  nna 
Esel"  nnd  anderi^s,  4  Seiten  {später  aber 
die  „Fortsetzung:  Wie  die  vier  Tiere 
Herberge  fanden."  Die  Einführung  in 
die  Lateinschrift  erfoltrt  etwas  kürzer 
als  bei  Burkhardt  usw.^  aber  doch  auch 
in  der  richtiireii  Weise,  dass  jedes 
Lautzeicben  einzeln  vorgeführt  und 
sogleich  mit  einer  Wi'irtergmppe  belegt 
wird.  Der  zum  Lesen  dai^boten« 
Inhalt  würde,  Imeson dei-s  wenn  ein  sog. 
Vorbereitungskuia  vorausgelit,  für  das 
erste  und  zweite  Schullahr  völlig 
ausreichend  sein.  Wie  ehrenvoll  es 
fUr  den  Verfasser  war,  daas  ihm  die 
NenbeMrbeitiing  dar  altberflhmten  Fibel 


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—   441  — 


von  Lttbeik  uud  Nacke  übtitruiren 
wurde,  so  erfreulich  ist  es,  dass  seine 
theoretischen  Ansichten  darin  eine 
solche  nach  Art  nnd  Mass  gleich  i?lück- 
Ucbe  Verwirklicbans:  gefunden  haben. 

Die  Mutttrsjt räche.  Lesebuch  für 
Volksscbaleo.  Neubearbeitung,  berau»- 
gegeben  roni  Dresdner  Lehrerrerein. 

Ausgabe  A  in  6  Teilen  F.v<\lv  T<  \\ 
(d.  h.  Fibelj.  112  S.  Ltipzi^^.  Jul. 
KUnkhardt.  V.m.  Preis  «jeb.  50  Pf. 
T>azn  als  Be;^!' irwuit :  KiitiM-lie  P.p- 
lenchlung  der  Methode  des  ersten 
LeBenuterriehts  von  Otto  Lippold. 

Die  Fibel  ?on  Gansber«:,  auf  welche 
meine  frühen«  '  hi^sbemcrkuna:  (Päd. 
Stnd.  iy06,  S.  2^7  üuniicbst  hinsteuerte, 
war,  wie  ich  hinterher  bemerkte,  bereit« 
TOD  einem  Dresdner  Kollegen  beleuchtet 
worden  rdasellHit  8.  213— 2U)).')  Ausser- 
dem iiWr  wifr^  iili  liiii  auf  <k-ii  Vor- 
schlag eines  anderen  Dresdner  Kollegen, 
G.  Sehanie,  das  Lesen  anssehliesRlieh 
an  der  Drurksrhrift  li  iiu  n  /ti  lassen 
nnd  das  Schreiben  erst  beträchtlich 
•piter  IQ  beinnnen.  G.  Sehanxe  sre- 
hr^Ttc  nnn  nebst  dem  ob<  n  STPiinntitf-n 
Lippold  zu  der  Komini-siou,  welche  die 
Fibel  der  «Matterspmche"  in  diesem 
Sinn"  inii'„'^  'nrbeitet  hat.  Es  steht  folg- 
lich, iraii/,  nn  Gegensatz^  zu  den  seither 
besprochenen  Fibeln,  in  dem  ganzen 
Buch  kein  Schrcihbitchstabe,  sondern 
lauter  SchwabacUui  Dmckschriil  iu 
hyg'ienisch  soriiffältii;  erwogeneu  üKisseu 
ond  Entfernungen.  Wann  das  äckreiben 
Btt  besinnen  nnd  fn  welcher  Art  es  sn 
betreilnii  stA.  will  diese  Fibel  dem 
Lehrer  überlassen  i  sie  ?erlangt  aber, 
das  malende  Zeietmen  mit  Bleistift  um 
Farbstift  mf^«>5p  vor  Ii  er  „den  Fonnen- 
sinn  so  entwickeln  uud  die  Fertit^keit 
der  Hand  so  ausbilden,  dass  die  Auf- 
fassung und  Aneignunf^  der  Bnchstaben- 
fonnen  niHhelos  nnd  sehr  schnell 
erfolgen  kann".  ,,Möirlichst  leicht,** 
wird  am  Schlnsse  des  Begleitwortes 
gesagt,  soll  anch  das  erste  Lesen  ge- 
macht werden  und  folglich,  wenn  es 
einmal  begonnen  wird,  ebenfalls  rasch 
erlernt  werden.  Dabei  ist  aber  hinzu- 
mdeftken:  in  Dresden  aoU  „in  Znkmift 


Lesen  uud  Schreiben  erst  nach  Pfingsten 
bcginiKii",  dieser  Aufschub  wird  nur 
als  das  jetzt  erreichbare  Minimum  be- 
trachtet, das  Schreiben  muss  der  Idee 
nach  noch  eine  gewisse  Zeit  länger 
warten,  and  damit  die  demselben  ge- 
stattete Fr«'iheit  nicht  zu  'Jnzuträglich- 
keiteu  führe,  müasten  „dem  Slementar- 
lehrar  seine  Kleinen  während  zweier 
Schuljahre  überlassen  werden.''  Also 
wieder  der  tiedanke  der  Elemeniar- 
fttnfe,  statt  der  Elementar  kl  esse, 
wip  wir  wiederholt  gefordert  und  stets 
gewünscht  haben.  Die  Fibel  im  engem 
Sinne  reicht  nach  dem  Sinne  der  Ver- 
fasser nur  bis  S.  fi9,  dann  folgt  ein 
.II.  Teil:  Lese.stücke".  In  der  eigent- 
lichen Fibel  bewegen  sich  die  Verfas.ser 
viel  freier,  als  es  iu  Schreiblesefibeln 
möglieh  i.st.  weil  sie  nicht  auf  Schreib- 
schwierigkeiten Rücksicht  zu  nehmen 
haben.  Sie  haben  keineklein^eschriebenen 
Hauptwörter,  können  einige  Gross- 
buchstaben  bald  einführen,  im  Anfange 
aber  besteht  der  wesentliche  Kunstgriff, 
nra  lebensfriscben  Stoff  an  finden,  darin, 
dass  sie  das  Lesen  ,,al8  Sprachunlerrtf  ht" 
betreiben,  d.  h.  aus  sachliciien  Unter- 
redungen Siltze  gewinnen,  ans  denselben 
geeignete  Wörter  herausnehmen  und 
von  einem  solchen  Worte  etwa  zunächst 
nur  einen  oder  awei  Anfangslente  znm 
Lesen  benutzen.  W^'nn  also  zur  Be- 
handlung des  a  Sätze  aus  dem  Kot- 
küpiohen  benutzt  werden  sollen,  so 
stt'h-n  Wörter  vf\f  Tag.  gab.  sage, 
kam,  latr.  sili.  nahm  (na!)  zur  Ver- 
füguni:, iinrh  tiics  l;i^^t  tl(  r  ['nisirht, 
dem  gemütvollen  Sinn,  der  hingebenden 
Treue  noeh  ein  weites  Fdd  offen,  nnd 

die  in  leicht  üh-T^chiinhaten  ?':I!itien 
von  Joseph  Goller  dargestellten  JhLiuder- 
taenen  geben  dabei,  weil  sie  nur  in 
miUsiger  Zahl  auftrctf  n,  »  ine  Anleitung, 
die  nicht  den  erst  Ireigemaohten  Weg 
wiedMT  fenchrSnkt. 

In  den  liesest iu  ken  treten  zwei  der 
einfachsten  aller  Volksmärchen  auf  (der 
eigentliche  Märchenband  ist  der  2.  Teil 
des  ganzen  Lesewerkes).  In  den 
Stücken,  die  wie  die  Bilder  die  kind- 
liche Wirklichkeit  behandeln,  findet 
•ich  wie  bei  Göbelbecker  eine  AnzaU 


*)  Damit  fiel  aneh  mein  Voriiaben  weg.  sn  der  „Sehatfensfimtde"  v<m  Gane- 

bog  im  7ir-nnimenhange  mit  der  Fihe!  be^timintt-rt^  Stcllting  zn  nehmen,  als  es 
in  einer  einzelnen  Anzeige  möglich  war^  vgl.  Päd.  Stud.  1Ü03,  S.  4ö0. 


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—   442  — 


neuer,  bisher  noch  ungedmckter  Ver- 
lache, beeonders  von  dem  genannten 
O.  Sehanse.  In  dem  Übnngsroaterial, 
welche«  den  eigentlichen  Lesestücken 
Toraoflgeht,  waltet  der  »schöne  alte 
Kindflnreini*'. 

El  geht  nicht  au,  noch  mehr  mit- 
zuteilen:  (laher  mögen  einige  Be- 
haaptuugen  de»  Begleit wortes,  die  an- 
fechtbar sind,  ni<  hf  hervorgezogen 
werden.  Da«i  an  der  Drackachnft  das 
bloeie  Leieii  leichter  und  raielMr  tn 
lernen  ist.  :ils  an  d.  r  lireibschrifT,  ist 
unaweiCelbaft,  and  da  das  Scbreiblesen 
iowold  l«i  den  reinen  Syntbetikern,  ala 
auch  bei  den  im  Reglfitwortf'  stark 
mitgenommeneu  ^Nornjalwörtlem"  eine 
10  grofwe  Verbreitung  hat,  iit  es  nur 
zw  bpgrftosen,  dass  an  dem  franz  ab- 
weichenden Verfahren,  das  die  I>reiidner 
Kollegen  gewählt  haben,  da»  aber  früher 
sehr  verbreitet  war  (hh  weit  über  die 
Mitte  Uus  lü.  JaLrlmuderts  gab  es  in 
sächsischen  Dorfschulen  Druckschrift- 
Übeln,  und  Lipuold  selbst  hat  noch 
1870  auf  einem  Dorfe  bei  Meissen  an 
der  Hand  einer  solchen  lesen  gelernt), 
auch  anter  ganz  anderen  Verhältnissen 
wieder  Erfahmngen  gesammelt  und 
dwebdacht  werden  können. 

Blicke  ich  auf  die  seit  mehreren 
Jahren  nach  nnd  nach  angezeigten 
Fibclarbeitcn  zurück  —  es  wurde  liier 
am  Orte  bei  JComnüssionsberataogen 
noch  eine  ganxe  AnxabI  vorgefahrt  — 
so  darf  ich  wohl  folgende!  als  firgebnil 
aussprechen. 

1.  Die  aiü  Faclivvi.sgeuschaft  suhr 
fortgeschrittene  Phonetik  brachte  in 
die  Fibelliteratur  zunächst  eine  gewisse 
Einseitigkeit,  die  einen  Ausgleich  mit 
edit  ])iiilai;ü;:ischen  Oesicbtapnnkten 
verlangte  und  auch  bnld  fand. 

2.  Die  synthetische  und  die  ana- 
lytisch -  synthetische  Leselehnnethode 
ringen  noch  immer  miteinander  um  den 
Yorrftug;  was  am  meisten  getrieben 
wird,  ist  irgend  eine  Kombination  beider. 

3.  Hierbei  hat  das  Scureiblesen  fort- 
gtiäui^t  au  Hoden  gewonnen:  Gausberg 
wollte  am  frühesten  selbständige,  eifpair 
artige  kindliehe  ^iedecachiSEten  er> 
reichen, 

4.  Die  nene  Fibel  der  HMntter- 

Sprache"  dagegen  verlässt  den  ,,gr08sen 
Umweg",  das  Lesen  an  der  ikhceib- 


schrift  zu  lernen,  wieder  tränzlich. 
schiebt  das  Schreiben  möglichst  binau 
nnd  will  durch  befdei  mit  gewinnen 
/II  einem  viel  inten.^iveren  An- 
scbauungsonterricht  verbunden  mit 
malendem  Zeiehn«i,  Tonea  nnd  Pomen 
nnfi  anderer  Handfertigkeit  nnd  zu 
einer  umfassenden  mttn^cben  Sprach- 
pflege«. 

5.  Von  einseitigen  Phonetik  rn  ab- 
gesehen, sind  alle  Eicbtongen  .aof 
guten  Stoff  hedaeht";  die  Oltte  enehen 
aber  z.  B.  Gan*beri:  nnd  Göbelberker 
etwas  zu  einseitig  darin,  dass  der  Sto£f 
der  Wiriüiehkeit  nnd  der  sinnlich  nahen 
Umwelt  entspreche  oder  das.s  die  fie- 
staltungeu  und  Verbindungen,  welche 
die  Phantasie  schaffen  miiM,  vom  Kinde 
wirklich  schon  vollzogen  worden  «leien. 
Den  förderlichen  Anreiz  dessen,  was 
die  diehtende  Tolkneele  in  der  Ver* 
gangenheit  davon  schon  geschaffen  hat, 
schätzen  aber  doch,  greifbar  ausgedrückt, 
nicht  mehr  bloss  Ziller  und  Rein,  und 
die  Richtung  des  Blickes  auf  „das 
Kind"  iSsst  hoffen,  man  werde  auch 
schärfer  sehen  lernen ,  was  in  den 
Schöpfungen  der  Neuzeit  und  der  Gegen- 
wart vHAlieh  Undertttmlidi  iit  oder 
bln.>  V  in  vielen  Erwachsenen  dafttr 
hallen  wird. 

6.  Ziemlich  alltreinein.  abgesehen  von 
Ph(>netik<'rn  wir  Bi  iis:geniann ,  Green, 
die  ganz  darauf  verzichten,  legt  man 
besonderen  Wert  anf  die  Fibelbilder 
und  liat  d  imit  anch  einen  wirklichen 
Fortschritt  erreicht.  Aber  bei  Göbel- 
becker  z..6.  führte  diese  Entwicklung 
zu  einer  Überzahl  von  Bildern  und  bei 
den  einzelnen  Bildern,  weil  die  Aus- 
führung „zu"  methodisch  war,  zu  einer 
Überfälle  von  Stoff.  Anf  der  anderen 
Seite  muss  man  immer  bedenken,  dass 
der  Künstler  die  kindliche  Phantasie 
nieht  blo.ss  befrachten  und  heben,  sondern 
auch  au  seine  Subjektivität  bindeu  kann. 

An  die  Dresdner  nnd  an  die  Holl* 
kamniMche  Fib«-1  schliessen  wir  sogleich 
einige  Bemerkungen  über  die  Lesewerke, 
sn  denen  dieselben  geboren. 

Die  ^f;;tteri^p räche.  I^.sebnch  für 
Volkäschuleu ,  herausgegeben  vom 
Dresdner  Lebrerverein.  Ausgabe  A 
in  5  Teilen.  II.  Teil.  154  S.  Geb. 
70  Pf.    UI.  Teü.  260  S.   1,10  M. 


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—   443  — 


IV.  TeU,  306  S.   1.35  M.   V.  T«il, 
s     1,60  H.    Leipcig,  Jidiu 

klinkhardt.  Id06. 


Llben  und  Nackes  Lesebuch  für 
den  Gebranch  in  mehrklaiwigen  Volks- 
srhnlcn  und  in  Hittelsrhalen  neO' 
bearbeitet  von  Hermann  Kasten. 
I.  Teil  (2.  u.  3.  Schnlj.).  336  S. 
Preis  geh  \.m  M.,  geb.  2  M.  2.  Anfl. 
der  Neubearbeitung.  1904.  II.  Teil 
(4.  u.  6.  Schnlj.).  488  S.  Geh. 
2,40  M.,  geb.  2,80  M.  2.  Aufl.  VJ06. 
m.  Teil  (6.-8.  Schul j).  621  S. 
Geh,  8  H.,  geb.  3,öU  M.  1.  Aufl. 
1906.  Leipiiirt  Friedlich  BnndBtefctttr. 

Jedes  dieser  beiden  Lesebuch  werke 
zeigt  uns  mit  seinen  Umarbeitungen 
ein  ganzes  Stück  üeachicbte  de«  Volks- 
schnllesebncheA;  ich  erinnere  mich  aus 
den  letzten  Jahren  des  ungeeinten 
Deutschen  Reiches  noch  gar  wohl  des 
.  heimlichen  Nrides,  mit  welchem  Ich, 
selbst  mit  einem  „Werke"  noch  früherer 
Art  aufgezogen,  bei  Gelegenheit  bier 
in  die  ^LebtaishiMei'',  dort  in  ,.'len 
Lüben"  geblickt  habe.  Die  „Mutter- 
sprache'* entstond  1876/78  ads  Um- 
arbeitung der  „Lebenubililer".  Eine 
weitere  Umarbeitung  erfolgte  1ÖÜ6/96, 
80  dass  dos  Werk  jetzt  in  vierter  Be- 
arbeitung vorliegt.  In  derselben  hat 
mau  die  frühere  achtteilige  Ausgabe 
g«Bi  Calleu  gelassen,  so  da.s.s  mit  Aus- 
nahme der  Fibel  und  des  darauf 
folgenden  II.  Teiles  jeder  Band  zwei 
Jahre  in  den  Händen  der  Kin<lei 
bleibt,  dagegen  die  dreiteilige  Aus- 
gabe (B)  hat  man  beibehalten.  Beim 
ersten  Blicke  fällt  auch  hier  wie  in  der 
Fibel  sogleich  die  Deutlichkeit  des 
Dm  eh  es  auf,  herrorgertifen  durch  die 
Grosse  und  den  Abstand  der  nnchstaben 
und  durch  den  Abstand  der  Zeilen, 
ausserdem  durch  mOglich.ste  Einheit  der 
Schriftarten.  Der  tr^^nze  II.  Teil  zeigt 
noch  die  Schwabacher  Schrift  der  Fibel, 
die  in  den  weiteren  Bänden  mit  gleicher 
Fraktur  und  .Antiqua  so  ^li)\vel■h^<elt, 
dass  jede  Gattimg^  gleich  eine  Anzahl 
Seiten  bis  znm  Ende  eines  Stückes  fort- 
läuft. Der  II.  TeU  zeigt  an  gewissen 
Stellen  noch  Fibelelemente.  S.  6  steht 
über  einem  Stück:  ^al  ei".  dann 
kommt  dei  Maikäfer j  ebenso  S.  16: 
„X     ks",  ond  68  kommt  dann  «neh 


eine  Hexe  vor.    So  sind  alle  die  an- 

gewHhnlirhpn  Lantbezeichnnngen ,  die 
son^^t  die  Fibeln  belasten,  bis  S.  U8 
hin  verteilt.  Die  Bilder  nehmen  nach 
oben  hin  an  Zahl  ab;  Ludwig  Richter 
hat  die  grü.sste  Ausbeute  geliefert.  Sie 
sollen  nicht  .Vuscbanungsbihier  .^ein, 
sondern  im  Aufaug  „eine  einzelne 
Stimmnng  der  Enfthlnng  durch  die 
Kunst  des  Malers"  weitemlhren,  j  iter 
neben  das  Lesestück  oder  zu  einer 
ganxen  Gruppe  „ein  ySlUg  sethetAndiges 
Werk"  stellen,  iu  dem  „die  Haupt» 
Stimmung  der  Erzählung  fortklingt''. 
Eine  ganse  Ansahl  ist  für  die  .Mutter- 
sprache erst  gemalt.  Wie  in  diesen 
Bildern  die  lebenden  Künstler,  so  zeigt 
das  Buch  auch  im  Inhalt  an  vielen 
Stellen  die  neuesten  Autoren:  Scharrel- 
mann, Gansberg.  Ilse  Frupaii  (im  III.  Teil 
8.  V  muss  das  Buch  derselben  genauer 
heissen  „Hamburger  Bilder  für  Ham- 
burger Kinder"),  Otto  Ernst,  Wolrad 
Eigenbrodt  (V!,d.  Päd.  Stml.  l'.KB.  S.;V)8), 
Voikmauu  -  Leauder.  Hoseggcr  u.  a. 
Aber  in  der  literarischen  übenieht  des 
V.  Teiles  haben  doch  die  grös^te 
Keihe  —  die  Brüder  Uhmm,  und  bei 
vielen  der  Neuheiten  muss  man,  wie 
die  Geschichte  des  Lesebuches  deutlich 
l^renn?  lehrt,  die  Aufnahme  nicht  an- 
seilen als  eine  Entscheidung,  sondern 
al.s  eine  Anfrage,  ob  es  «»ich  be- 
währen und  HO  das  kiudertUmliche 
literarische  Erbe  vermehren  wird. 
Endlich  muss  noch  ausdrücklich  be- 
merkt werden,  dass  die  Bearbeiter  in 
gewissem  ^\nm  ein  in d i  v i d  ii  e  1 1  e.s 
Lesebuch  scbafien  wollten  sie  iiben^^ebeu 
es  nach  demScblnsssats  desbeigegebenen 
Plmes  „der  sächsischen  Lehrer- 
schaft'', und  ein  Bild  der  Augustns- 
brfteke  in  Dresden  xiert  die  Anssenseite 
jedes  Bandes.  Darum  wandte  sich  auch 
G.  Schanse  in  dem  schon  erwähnten 
Artikel  der  Sächs.  SchuJzeitung  (1906, 
Nü.  2)  gegen  das  Vorhabeu  des  Ver- 
legers der  Gansbergschen  Fibel,  die- 
selbe für  andere  Gegenden  abändern  m 
liLs^t^ii.  Das  ist  eine  .\rbeit.  die  man 
durchüUji  den  Leuten  der  anderen 
Gegenden  selbst  Uberlassen  sollte. 
Jede  eigenartige  Arbeit  baut  aber 
znj^leich  an  dem  System  der  all- 
gemeinen (irund-iiitze  und  Gesichts- 
punkte, und  nur  was  durch  die  Ver* 
mittdnng  derselben  erfolgt,  ist  die 


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—   444  — 


recbte  Wirkung  iiach  aussen.  Maw 
vergleiche  dAmit  Keius  Forderang  iudi- 
vidHdl  dnrchgebiMeter  LebrpUüie  (PM, 
StDd.  1906,  S.  443). 

Da??  dreiteilige  Lf^eVinrh  von  Lüben 
uml  N  a  c  k  e  zählt,  wie  die  Tit«:laDgabe 
sei^.  die  Fibel  nicht  mit  und  Tcrtdlt 
sich  iwif  die  ?!dm!iahre  etwas  anders. 
Der  buntscheckige  Druck  ist  gleichfalls 
▼«rmicden,  der  Kauui  aber  wird  mehr 
ausgenutzt.  Etwas  mehr  getan  ist 
auch  für  die  Bilder,  ebenso  für  den 
Einbnn  i  <lie  obigen  Preise  beziehen 
«ich  auf  Gauzlemenbftude).  Beträchtlich 
mehr  aber  hat  der  Bearbeiter  getan  in 
stofflicher  Hinsirlit.  wie  schon  die  an- 

fftthrten  Seitenzahlen  beweisen;  dcor 
Teil  ist  dicker  als  der  Dradner  IV., 
nnd  df^r  TU  Tpü  hat  das  Aussehen  einer 
Bibel  ohne  \j»okryphen.  Das  erklärt 
lieh  ja  znni  I  cil  aus  der  Beschränkung' 
auf  drei  !>aiiiU%  der  andere  Teil  der 
Schuld  liegt  aber  darin,  dass  der  Be- 
arbeiter die  in  den  Begleitworten  ans- 
gf^prochenen  Grundsätze  der  Auswahl 
luitii  ,.literari3ch-ästhetischeu"  Gesichts- 
punkten wohl  benutzt  hat  zur  Herbei- 
ziehung trefflicher  Stoffe,  aber  nicht 

fenug  zur  Abwehr  solcher  Bestandteile, 
ie  man  zw  u-  l'l- wohnt  war  zu  finden, 
die  aber  ohne  wirklichen  Schaden  weg- 
bleiben oder  wenigstens  nnt«'  der 
Meng':-  il's  ni'li'itrücu  nicht  zu  der 
ihrem  Werte  entsprechenden  \\irkung 
gelangen  konnten.  Eine  Messerklinge 
mass  wohl  zunächst  starlc  £rf'e:"'<*>'n 
werden,  aber  vor  dem  Gebtiun  ln'  wird 
sie  dttnn  geschliffen.  Es  lassen  sich 
auch  ganz  hant1i,M«*if liehe  Beisuiele  an- 
geben. Die  Erzählungen,  welche  der 
L  Teil  zur  Geschichte  bringt,  gehören 
meinem  Empfinden  nach  mehrfach 
gerade  zu  dem,  was  nach  dem  Begleit- 
wort austreschieden  werden  sollte.  Im 
U.  Teile  ist  der  erzählende  Hauptinhalt 
mit  Recht  „der  SajBfe  Bern"  entnommen ; 
warum  alu-r  n''('hni:»l<  t-inc  ;,';\n /e  An- 
zahl Märchen,  und  zwar  vorwiegend 
„Knnstmflrcben"?  Im  flbrigen  trifft  die 

Auswahl  ih  r  nein  ii  Sttirkc  sehr  uft  mit 
der  Muttersprache  zusammen,  weil  man 
nach  denselbett  GmndsStcen  gearbeitet 
hat.  Einen  augpnfJil!ir:;en  Unterschied 
macht  es  nur,  dass  Kasten  nach  sach- 
lichen Gesichtspunkten  ziemlieh  weit 
ins  einzelne  gliedert,  während  die 
rMuttcrsprache**  eine  solche  Anordnung 


zwar  befolgt,  »her  iist  im  V.  Teile 
doreh  Überschriften  kenntlich  macht. 
In  diesem  V.  Teile  aber  seheint  mir 

die  oberste  Teilung  in  Prosa  nnd  Poesie 
nicht  glücklich,  denn  nnn  kehren  zum 
Teil  dieselben  Unt erteile (Ers&hlnu gen  — 
.\U6  der  Gt'sfhiihle  -  Aus  der  Natur 
u.  8.  L)  zw«  inial  wieder,  und  was  dem 
Inhalte  nach  zusammengehört  nnd  bei 
Karten  nnnh.  b»  isammensteht,  z.  B.  die 
Briefe,  Aktenstücke  und  Prosa- 
erzäh  Inngen  ans  dem  deutsch» 
französischen  Kriejre  und  die  Dich- 
tungen ans  derselben  Zeit,  das  steht 
dort  der  Form  wegen  weit  aus.  iniinder. 
Leipzig.  Fr.  Franke. 

Die  Technik  der  Feder,  dor 
Weg  der  Schrciblehrkunst, 
sacblich  begrAndet  nnd  methodisch 
erläntoi  t  von  Georg  Lang.  Slit  Ab- 
bildungen und  y  fckhrifttafelu.  Ver- 
lag von  B.  Oldenbonrg.  Mfinehen. 
Preis  4,75  M..  geb.  5.25  M. 

Die  Stagnation  der  Schreibmethodik 
hat  hauptsächlich  ihren  Grund  darin, 
dass  bisner  aller  Nachdruck  auf  »in 
vorgeschriebenes  Alphabet  gelegt  wurde. 
Hierdurch  glaubte  man  die  Hauptsache 
abiretan  zu  haben:  etwas  Lehrge.schick 
rattsse  das  Weitere  erledigen.  Im 
Übrigen  boten  die  ^Anleitungen"  anch 
so  wenig  Neues .  Piukendes,  dass  sie 
die  allgemeine  Indolenz  anfzurntteln 
nidit  imstande  waren.  Oder  man  sah 
III  ihren  Vorschriften  —  rr.^ist  freilich 
mit  Hecht  -  persönliche  Anncbanungen 
nnd  der  Beachtung  nicht  werte  theo- 
retische Pedanterien.  Sie  konnten  die 
Gepflogeuheiteu  nicht  aus  dem  Gleis 
bringen.  Tatsächlich  fehlte  die  auf 
sicherem  rtninde  aufgebaute  Theorie 
der  Methodik,  es  fehlten  unerschütter- 
liche Normen,  welche  zum  zielbewussten 
Handeln,  zum  Beachten  gedrängt 
hätten. 

An  (lit  scHi  ?a(  hvorh.iltc  ändert  auch 
das  Erscheinen  eines  Lehrbuches  aaf 
sogenannter  physiologischer  Gnindlage 
nichts,  weil  es  trotz  <h's  ^^:  le!n  t(  n  .\us- 
hänge-schildes  nur  alte  Bewegungs- 
übungen mit  allerlei  neuen  Benennungen 
vcrhriinit  und  gerade  den  physiologiacnoi 
Kernpunkt  des  Kraftaufwandes  durch 
Dmckgebnng  nicht  kennt. 

Das  angezeigte  Buch  füllt  diese 
Lücke   ans.    Es  zerstreut  hindernde 


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—   445  — 


Vorarteile  und  eröffnet  die  erfreulich  t- 
Aassicht  anf  einen  zum  ersehnten  Ziele 
führenden  Weff.  Lanjr  hat  einen  Grund 
jjelegrt  tiir  (inmilsat/.c :  er  stellt  die 
b^än  auf  uuanfecbtbare  Tataacbeu 
der  Tfttii^rkeit,  nm  die  e«  rieh  bandelt 
Wo  bisher  Traditi-m,  Horkommen, 
Meinuugen  ^herrscht  halMiu,  erringt 
er  festen  Boden,  klare  Einsichten,  ent« 
r€i««t  er  Lehrrndf  nnd  Lernende  den 
Zweifeln  und  Zufällen.  Die  Schreib- 
methodik erhält  eine  wissen -  'haftUc^e 
Begründung.  Langjähriiri  I^i  tahrunjjen 
and  Versuche  führten  ihn,  wie  er  in 
der  Vorrede  mitteilt,  auf  den  Weg. 
Er  begnügte  m-h  ah<>r  nicht  mit 
blossen  praktischen  Eifulgen.  Er  ging 
auf  eine  Untersuchung  der  be.«»tinjnien- 
den  Verhiitniase  aus,  um  die  £r- 
aar  Theorie  zn  erheben. 

Was  beweist  er  nns  und  worin 

:;i]ifi'lt  (las  Ergebnis?  Hii^rülitr  knunen 
freilich  nur  Andeutungen  folgen,  aber 
nicht  alle  weeentlicben  l^tsaehen  nnd 
Schlussreihen  atif<,'t:'f-  li-r  wr^nlon.  Die 
Schrift  aU  tochnischc-s  i'rodukt  nmm. 
wenn  sie  als  Handerzeugnis  nicht 
widerspruchsvoll  •jfrratPti  soll,  einer  L'her- 
einatimmuugsnotvvi  udigkeit  zwischen 
Werkxeng,  Stoff  und  Form  gerecht 
werden.  Man  darf  sich  nur  ein  dem 
Wesen  des  Mittels  angepasstes  Produkt 
als  Ziel  st<  Ikn.  Die  der  Stahl- 
feder eigentümliche  Elastizität  mnss 
•für  die  Schrift  nnd  ihre  Erlernung 
befragt,  befolgt  und  luii  rkamit  werden. 
Dies  ermüelicbt  erst  eine  federgemftsse 
Schrift.  Die  Federgemlssheit  der  Schrift 
ist  oberster  Grundsatz  und  die  Mög- 
lichkeit hierzu  die  Methodisiemng  und 
Gestaltung  unserer  Alphabete.  Der 
richtig^'  Cifbranch  rlcr  FL-der  tw  Mnem 
berech  tiijt  et) .  siachlich  begründeten 
8chreibj)rodiikt  muss  daher  auch  unsere 
▼ornohniste  Sorge  sein.  S'ioherheit  und 
Lvichtigkfiit  der  Auüiguuug  stehen 
daxn  im  geraden  Verhältnis,  denn  Ver- 
kennong  and  Nichtbeachtung  der 
Wirknngsweise  de«  Schreibinstrnments 
kann  nur  ein  ffblerf;  »IN  -  Tun  ergeben. 
Nur  aof  Grund  klarer  Erkenntnis  des 
gemtnnKasifleii  Znsanmenbangs  kann 
.sirb  der  Unterricht  vr.n  ,]<■::'  l'"r-^>."ln 
der  Vorurteile  und  Halbheiten  befreien. 
.Die  Hauptursache  für  die  Bflekstltodi^- 
keit  der  Schreibniethodik  der  Oegenwart 
ist  die  gelehrte  federwidrige  Schrift, 


d.  Ii.  ilit'  Verschleppung  der 
Federkielschrift  in  die  Zeit  des 
Stahlfedergebraucbs.**  —  In  dem 
Hnf  i<<^  i>t  im  \v»'itrren  um»  überzeugend 
uachgewieseii  and  bis  in  alle  Einael- 
beiten  hinein  yerfolgrt,  welche  Herk- 
nmle  unsere  Schul-  und  Lonischrift 
erhalten  muss,  um  als  Liehrobjekt  brauch- 
bar sn  werden.  IHe  gebrKnebtteheii 
Alphabete  verdanken  ihren  Ursprung 
der  ehemaligen  Federkieltechnik,  sind 
daher  veraltet,  angeeignet,  hindernd. 
Man  fürchte  nun  ab»^r  nicht,  da^s  lie 
gofordei-te  Methodisiernng  und  Mudorni- 
sierung  mit  der  gesamten  Schreibpraxis 
im  Wi'U'rsprucli  strlion  werdo.  N'ur 
gewöhiiiiclicu  ScliuLscliabluueu  ist  der 
Krieg  erklärt,  jenen  pedantischen 
Zügen,  die  schön  sein  sollen,  die  aber 
niemand  schreibt  und  nicht  schreiben 
kann.  Nur  der  Ciiiwctr  ist  Vfrlasscn, 
den  unsere  Jugend  bisher  einschlagen 
mnsste,  nra  die  angelernte,  steife,  nn> 
beh'>lf'  ii*-  Srlmls' In  ift  zu  brauchbarer 
Handschritt  umzubilden.  Freilich  ist 
derartiges  schon  hie  nnd  da  venmcht 
und  vorgeschlagen  worden ,  aber  weil 
mau  keine  Begründung  hici'für  hatte, 
ernteten  ihre  Urheber  nur  Anzweifetnng 
und  Nichtbeachtung.  Längs  unzweifel- 
haftes Verdienst  ist  es,  als  erster  da-n 
Irrtümliche  im  seitherigen  Unterricht 
mit  Aufwand  von  Scharfsinn  und  un- 
beirrter  Logik  aufgedeckt  zu  haben, 
sowie  in  all«'  S.'hliiiifwinkel  der 
Methodenliteratar  hinein  verfolgt  an 
haben.  Wenn  das  Rnch  nmfendrreicb 
irt'\vi»rdt'ii  i.^t,  80  hat  dif  s  in  dem  B<'- 
sireben  seine  Ursache^  die  neue  Lehre 
sogleich  gegen  alle  Binwflrfe  nnd  Be- 
denken sii  hcrznstfllen.  Eine  Berufung 
atif  Antoritäitiu  oder  Gewohnheitsrechte 
lehnt  der  Verfasser  auf  jeder  Seite 
seines  Buche?  ab.  Dafür  i:l  -  rrascht 
er  den  Licser  in  ailen  seinm  ivapiteln 
durch  neue  Einblicke  nnd  £iu>i<  hten, 
die  man  eben  nicht  gesucht  hat,  aber 
mit  ISetrieiligung  aacikeuui-n  wird, 
zumal  inui  mit  unfruchtbaren,  der 
Praxis  femliegenden  Doktrinen  ver- 
schont bleibt.  In  gewandter  Weise 
vermittelt  uns  der  Verfasser  «  iu' 
Stadien.  Wir  künneu  aus  Überzeugung 
seinem  Werke  die  uriürmate  Empfehlung 
mit  anf  den  Weg  geboL 

Nttmbeig. 

M.  Schanberger. 


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Frof.    Dr.    Felix    Auerbach,  Die 

Grund begrifle  der  Uiudernen 
Natnrlebre.  (Aus  Natur  and 
Gei.stepwelt ,  Bd.  40.)  Verlae:  von 
B.  G.  Teubuer  in  Leipziif.  2.  Aufl. 
Ifi6  8.  Pr.  geb.  1,26 

Der  reiche  Inhalt  dieses  Bmhe.s 
Us8t  «ich  in  3  Teile  anaeinauderlegeu. 
Der  erste  Teil  fAtoelm.  [  n.  IT)  be- 

handt  lt  die  Anscbauuutrsformeii,  Ranin 
and  Zeit,  sowie  die  Hastie,  die  fest- 
nietet  worden  lincl,  nin  BaniD  und 

Zeit  der  Gr^^ssi?  luich  peiiau  ■n^  bf- 
stimmen.  Im  zweiten  Teil  (.\bscliii  III 
bisT)  werden  die  loj^schen  Werkzeug^e 
Torpefilhrt.  die  von  der  Natuiu-bre  her- 
gestellt worden  sind,  um  «iie  Er- 
•cheinnngen  bestimmt  beacbreibeu 
zu  können.  Es  ift  da?  vor  allem  der 
Begriff  der  Bewejfuug,  die  gerad-  und 
krummlinig,  gleicbförmig  und  be- 
schleunigt sein  kann.  Als  besondere 
Bewegungsformen  werden  die  Schwing- 
nntrs-  und  die  \Vellenbev\  cltiid^'^  aus- 
führlich abgehandelt.  Der  dritte  Teil 
(Abeehn.  Vl—Y!^  maebt  den  Leser  mit 
den  geistigen  I]ilfsiiiitt*dn  hekaiiiiT.  dir- 
in  der  I^iaturlehre  angewandt  weiden, 
nm  die  Natnrerscheinnngen  im  Zn- 
sammenhang verstphen  und  be- 
greifen zu  küiiii'Mi.  Nach  einer 
kurzen  ErOrtemn^  «leg  Bt»s:rifrs  der 
Kausalität  werden  die  Be<;iiffe  Kraft 
und  Mas.'se,  die  Eigens«  bat  Uii  der 
Materie  und  die  Begriffe  Arbeit  und 
Energie  entwickelt.  Benonder.s  inter- 
essiert hier,  was  man  sonst  in  den 
L«  lirbii(  heru  der  Physik  gewöhnlich 
nicht  üudet,  die  Abhandlnng  über  die 
ErflTilmnini?  «nm  Prindp  von  der  Er* 
hiilTiiiiir  dt-r  Kn>  r<rie.  tiUjidirli  'lie  fUn-r 
die  Entwertung  der  Energie  und  Entropie. 

Schon  ans  dieser  lohaltftangiibe 
dürfte  hervorgehen,  dnsii  das  Buch  her- 
vorhebt und  zu)<ammenstellt ,  was  der 
Naturlehre  an  philosuphischem  Gebalt 
eigen  ist.  ^^'ird  dies  dem  willkommen 
sein,  der  schon  iimiger  mit  der  Physik 
vertraut  ist,  so  wird  der  Laie  die  ein- 
fache, anschauliche  Darstellnii^i'wf'i«? 
freudig  begrüssen,  die  es  ihm  duicu 
ihre  allgemein  bekannten  Erscheinungen 
entlehnten  Beispiele  möglich  macht, 
sieb  einen  Einblick  in  die  ganze  Denk- 
weise der  iiicdtriit-n  Natnrlebre  zu  ver- 
schaffen. Ein  Iirtum  dürfte  bei  Fig.  4ü 
8.  69  sUdiengeblieben  sein,  wo  der 


Pfeil  bei  Punkt  4  wohl  v.:\rh  oben,  der 
bei  Punkt  8  nach  unten  zeigen  mussj 
denn  die  Wendepunkte  der  Bewegung 
sind  nicht  Pnnkt  1,  d  und  9,  aondem 
3  und  7. 

Prof.  Dr.  S.  OppemheiBiy  Das  astro- 
nomische Weltbild  im  Wandel 
der  Zeit.  (Aus  Natur  und  Geistes- 
welt, Bd.  110.)  Verlag  von  B.  G. 
Tenbner  in  Leipsig.  IM  8.  PMis 
geb.  X. 

Der  Hni]  tz-iveck  de?  vorliegenden 
Werkeheus  ist,  eine  Geschichte  der 
Astronomie  sn  geben.  Mit  den  Völkern 
des  Orients  sammelt  da  der  Leser  <lie 
ersten  Bausteine  zu  einer  astrononüscbea 
Weltanschauung.  Er  nimmt  teil  an 
den  Spekulationen .  wodurch  die  grie- 
chischen Philusupbeu  das  Material  zu 
ordnen  und  zu  deuten  suchten.  In  der 
aiexandriuiscben  Scbnle  hilft  er  mit 
Aristarch.  Hipparch  und  Ptolem&ns 
jenes  grossartige  Gebäude  errichten,  in 
dem  sich  die  Astronomie  länger  als  ein 
Jahrtausend  behaglich  fttnlte.  Er 
eni]»findet,  wie  die  ftrrnereu  Entdtckmit^eii 
in  den  alten  Käuuien  schwer  unter- 
zubringen sind  und  führt  mit  Koper- 
nikus,  Keppb'i"  und  Newton  ein  neues 
Htius  auf.  da.s  allee-  auüiimmt,  waa  die 
Folgezeit  Neues  gebracht  hat.  Diese 
aktive  Beteiligung  des  Lesers  weiss 
der  Verfas.«er  durch  verschiedene  Mittel 
zu  erreichen.  Fast  immer  zeichnet  er 
die  Triebfedern  auf,  <lie  zu  neuen 
astronomischen  Beobachtungen  geführt 
ha!  en,  .so  dass  die  ganze  Entwicklung 
als  beinahe  notwendig  erkannt  wird. 
Wo  das  Wdltbild  dnrcb  phantasie- 
inä.'i-iL'ef'  Krfa.^seii  räumlicher  Verhält- 
nisse gestaltet  werden  muss,  fUgt  er 
ZQ  gans  bekannten  Vontelloncen  all- 
mählich nene,  bi?  das  Gunze  Ubi.rsicht- 
lich  dasteht.  Wem»  verstande-miissige 
Einsicht  gewonnen  werden  soll,  ."iiellt 
er  die  Piohleuie  einzeln  bestimmt 
herauh  und  bringt  dann  klar  die 
Lösung.  Der  Ertrag  eines  Zttt- 
Abschnittes  oder  die  Verdienste  eines 
grossen  Mannes  werden  knapp  zu- 
sammengefasst ,  wo  ein  Überblick 
wünschenswert  ist.  Bei  dieser  treff- 
lichen Einflihrnng  im  ganzen  bat  man 
zuweilen  den  VVun.-^eb.  im  einzelnen 
noch  etwas  tiefer  eindringen  su  können. 
Wie  bei  Hipparchs  Sonnentheorie  wSte 


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—  447  — 


auch  bei  Keppler-  iH-i-'-i'lihniiu''  <ler  Kfl- 
and  der  MarsbaLu  ein  Zahleab«ii>|)iel 
wiUkoniinen.  Bei  der  Entdecknng  der 
Fix«ternpar;illase  durch  Bessel  erfttbre 
mau  ^tra  ctwa^  über  die  Methode,  die 
so  feine  Messungen  möfi:lich  machte. 
Doch  die«e  und  andere  Wünsche  kann 
■an  zurückstellen  an^sicbtä  der 
weiteren  Vorzüge  des  Buches.  Ein 
philosopbiftcher  Zug  gebt  dnrcli  da» 
ganze  Bach.  In  bezug  auf  die  Natur- 
philosophie sei  nur  auf  die  .\u«<fübrung 
Aber  Flato,  Aristoteles  uud  Descartes 
varwieeen.  In  religionsphilosophiseher 
Hinsicht  winl  dtr  Liif^e  Zu-^ainmeiiliang 
swiscbeu  üdigiou  und  Astronomie  be- 
tont Die  Erkenntnistheorie  wird  voi^ 
bereitet  dnrrh  die  Darstellung  der  ver- 
schiedenen Hypothesen,  die  zur  Deutung 
der  Erscheinungen  aufgestellt  wurden 
sind.  Gro<5szügig  ist  das  vorli'  ir''ii(lo 
WerkcUeu  auch  insofern,  als  die  be- 
schichte der  Astronomie  immer  im 
Lichte  der  Kultur-  und  allgemeinen 
Geschichte  betrachtet  wird.  .\U8  alle- 
dem folgt,  dass  das  Buch  nicht  bloss  ge- 
eignet ist,  das  Wissen  des  Lesers  zu  be- 
reichem. Hondera  auch  dazu,  seinen 
ranzen  Bildungsstand  zu  heben  \u-s- 
halb  wird  besonders  der  um  seine 
Fortbildmiff  sieh  mfthende  Teil  der 
lii'hrt  rschaft  da.'^  Puch  daiikli.ir  liin- 
nehmen.  Ein  Sixchregister  würde  seinen 
Gebrauch  sehr  erleichtem.  Einige 
Druckfehler  sind  rihfrsf-hen.  iS.  4  8teht 
12  X  2y  4-  7  =  statt  12  x  lU  -p  7 
=  230 .  Seite  6.  iteht  4x366  =  1640 
statt  14f)0. 

Zschopau.  E.  W  i  n  k  1 «'  r. 

Nntorp,  P.,  Ge.Manunelte  Abhand- 
lungen zur  Sozialpäday  u^i  k. 
1.  Abt.:  Historisches.  Stutt^rart 
1907.  Fr.  Froiiiniaiir..    IV.  S.n<)  M". 

Der  reiche  uud  wertvolle  Inhalt 
dieses  Bandes  besieht  sich  mm  gr(tsseren 

Teil         203-510^   auf   Hr-rliart.  I^ie 

1.  Abhandlung  handelt  von  Flatos  8taat 
nnd  der  Idee  im  dozialpftdagngik,  die 

2.  Abhandluntr  mai^ht  mit  ("  iiidfirrris 
Idf^^-n  zur  Nuliuaaterziehan^  bek.iunt, 
iWc  Abhandlungen  3—6  bL^  häftigen 
sich  mit  Pestalozzi.  Dfr  ernnd-iiit/Iicli*^ 
Unterschied  zwiH-ben  ilerbari  und 
Natorp  liegt  auf  dem  Gebiete  der 
Ethik  nnd  der  Erkenntnislebre.  Natorp 
erkennt  Herbart  nicht  als  den  Furt- 


soA/Ar  der  Kaiit.sclicn  Ethik  an.  Nach 
Kaut  soll  „das  Formgesetz  des  Willens, 
das  Oesetx  der  inneren  Einheit  nna 
durchgängigen  Übereinstimmung  des 
Willens  mit  sich  selbst,  den  Massstab 
der  sittlichen  Beurteilung  geben".  ,,Die 
Gesotzirfhnng  de.s  Willens  tritt  dadurch 
in  eine  geuuue  Aualugie  luit  der  Ge- 
setzgebung des  Verstandes"  (S.  223, 226). 
Herbart  begnügt  sich  nicht  damit,  da-^s 
die  Pflicht,  der  kategorische  Imperativ, 
der  (it  hnrsaiu  des  einen  Willens  gegen 
den  andern  diese  Form  sei}  er  hat  die 
Frage  erhohen  nnd  beantwortet:  Welche 
Form  uiachi  •  inen  Willen  zu  einem 
sittlichen,  gil<t  ihm  die  Würde  des  g<e- 
hietenden  Willens? 

Natorp  vertritt  die  Autonomie  des 
Willens  gegenüber  Herbart,  der  die 
Bestimmbarkeit  dei  Willens  durch 
Rildniitr  des  Gedankenkreises  behanptet. 
ÜAck  Natorp  ist  der  Zweck  des  Unter» 
richts  Erkenntnisbildung  nnd  destmlb 
die  Didaktik  anf  den  Gt^etzen  der 
Logik  aufzubauen;  bei  Herbart  steht 
der  Unterriebt  im  Dienste  der  Willens- 
biMniis':  er  hat  ein  vipl.soitiL'"e«  und 
gkiciiHchwebendes  unmittelbarem  Inter- 
esse zn  enengen  nnd  den  Oedanken- 
kreis so  auszugestalten,  das»  ein  sitt- 
licher Wille  entstehen  kann.  Im 
erziehenden  L'nterricbte  Herbarts  ist 
Unterricht  und  Erziehuncr  praktiffch 
nicht  getrennt.  Nach  Natorp  deckt 
sich  die  wissensrhaftliche  Forschungs- 
methode  mit  der  Unterhchtsmethode, 
beide  finden  ihr  Qesets  in  der  Logik ; 
nach  Herliart  empfiingt  die  ünterrichts- 
roethode  ihre  Weisangen  von  der  Er- 
kenntnis der  Rindesnatnr  ond  sttttst 
«{'"h  niitrr  selhstverstäTidlMiiT  Bcrück- 
sichtiguiig  des  logischen  Aulbaus  aller 
wissrnsciiaftlichen  Erkenntnis  nnf  die 
Psyeliologie. 

Der  weitreichende  uud  tiefgehende 
Binllnss,  den  Herbarts  PRdagogik  ans- 

geUbt  hat  und  h  aii.«nVit,  wird  von 
Natorp  nicht  in  Abrede  gestellt,  aber 
ftls  verwunderlich  nnd  angehener  be- 
zeichnet. Herbart  mit  Schleiermaeher 
vergleichend ^sagt  er:  filier  bei<onder8 
nimmt  es  Wnnder,  was  eigentlich 
Ht'rl>arf  ein  «o  ungeheures  ilberiiewicht 
ver.Mü.ilTf  liat-  (S.  2U8).  „Vielleicht 
li<-L'^t  dA<  Gtheimnis  der  Wirkung  Her- 
barts nicht  zum  wenigstcni  eben  in  dem 
Tunc  seines  Auftretem,  in  der  Art  des 


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—    44»  — 


Vortrags  nn<1 .  was  sich  damit  nahe 
berührt,  in  dem  eigeutttmiichen  Stil 
seines  Denkens.  Hernart  T^niteht  die 
erosse  Kunst  zu  imponieren.  Kr  führt 
die  kurze,  iremeüseDe  Sprache  der  mass* 
(geblichen  Entscheidnns:.  ist  kdn 
lan::r^\  ieriirfs  Ahwäi;:  u  i\f"i  Für  und 
Wider,  keiu  diiUckti»t:lie.^  iiiu  und  Her 
wie  bei  Schleiermacher,  kein  bohrender 
Zweifel,  kein  verschlungener  Gang:  der 
Ihitersuchnng;  twndcru  die  reifen  runden 
Ergehnisse  prangen  nus  «ntgcgen  wit' 
die  Früchte  am  Baum;  man  braucht 
bloss  zu  schütteln,  und  hat  bald  den 
ganzen  Korb  davon  vuH'  S  JOit 
„AUein  er  versteht  durchatu  nicht  zu 
entwickeln;  ja  er  tcheint  in  befremd- 
lichem Masse,  ich  iiiai:  nicht  sair»'ii  uii- 
befähigt,  aber  unbedürftig,  ireeud  einen 
Ornndgednnken,  etwss  wie  ein  Prinzip, 
in  reiner  Folgerichtigkeit  festzuhalten 
and  auch  nur  einige  Schritt  weit  su 
Tcrfolgen.  Ich  kenne  kein  zweites  Bei- 
spiel eines  starkeu  IKukers.  dtr  m 
uiuatcrhaft  klar  /.u  beiu  verumg  im 
^seinen  Siitz.  und  so  wenig  selbst 
nur  ein  Gefühl  dafür  verrät,  dass  auch 
Satz  und  Satz  unzerreissbar  aneinander- 
hängen  loOssteo,  zusammengeschlossen 
dnrch  die  eiserne  Klammer  der  logischen 
Folge.  Macht  man  merst  diese  Ent- 
de<  knnir  (und  es  ist  keineswegs  schwer, 
sie  zu  machen),  so  moss  man  freilicli 
fast  bestflrxt  sein  Uber  den  niiberechen- 
baren  Einfluss,  den  gerade  dieser  Mann 
auf  die  pädagogische  Praxis  gewonnen 
hat''  (S  211  12).  Den  Einfluss  Meri»aTta 
auf  solche  l'rsachen  znrHrkznfiihreu, 
ist  wenig  schmeicbelhatt  für  Herbart 
und  für  alle,  die  sich  von  ihm  haben 
beeinflussen  lassen,  noch  wpnirrer  aber 
ein  wissenschaftliches  Verdienst  dea 
Kritikers.  Anf  diese  Weise  darf  man 
Herbart  doch  gewiss  nicht  abtuu  wollen. 
Sein  Einfluss  ist  tiefer  begründet,  nicht 
zum  mindesten  durch  die  Abkehr  von 
einem  ttberroannten,  erkenntnistheore- 
tiaehen  IdeaUamna,  dem  die  Wirklich- 
keit unter  den  FBasen  Terscbwindet. 

Herbarts  Einfluss  atif  ilic  j):u1a- 
gogische  Theorie  und  Praxis  ist  dem 
stark  pftdagogischen  Znge  seines  ganaen 

Wesens  und  -ifintT  Philosophie  zu- 
msfhrciht'u;  dieser  Zui^  uini  ein  —  ich 
mci].[.  sage»:  ( inethis*  her  Bliek  für 
das  Wirkliche  heherrsiht  seine  Philo- 
sophie.   Das  fühlt  Natorp  wohl  (vgl. 


S.  201)).     Herbart>    theoretische,  wie 

Sraktische  Phüosoptiie  läset  sich  daher 
er  Pädagogik  leicht  dienstbar  machen, 
leichter,  als  ein  erkenntnisthporf'tisrher 
Ideaiismns,  oder  eine  Ethik  mit  inhalts- 
losem Pflichtgebot,  die  dem  Pidagogen 
sein  Zi  1  nicht  zu  zeigen  verni  i_-  und 
ein  Willeusbegriff,  der  eine  Kluft 
zwi^dieii  dem  Erzieher  und  dem  Zög- 
lini;  lieiestigt.  80  dass  der  eine  w'uht 
zum  anderen  gelangen  kauu.  Natorp 
stellt  den  Untenichtsstoff.  Herbart  das 
Kind  in  den  Mittelpunkt  des  Unter- 
richt«. Bei  Natorp  ist  die  Erkenntnis- 
liildung,  bei  Herbart  die  Willensbildung 
Uuteri-ichtsiid.  Deshalb  findet  bei 
Kitorp  die  ünterriehtsmethode  ihr 
Gesetz  in  >ler  T.ogik,  bei  Herbfttt  ab« 

in  der  l'syelinloi^ie. 

Natorp  kann  dem  Pädagogen  Her- 
bart seine  Philosophie  nicht  Tersdheiit 

und  doch  bedingen  sich  der  Pftdagog 
und  der  Philnsfijtli  Hei  hart  weclwel- 
8eiti^,^  worauf  Fiüi:el  in  seiner  Schrift 
„Herbarts  Lehren  und  Leben''  S.  1071. 
hinweist. 

Der  Band  gesammelter  Abhandinngen 

enthält  zum  grössten  Teile  eine  Polemik 
gegen  Herbart;  deshalb  ist  der  Titel 
nicht  gans  antreffend. 

Dankenswert  ist  die  .Abhandlung 
über  Pestalozzis  Prinzip  der  Anschauong 
(S.  129  ff.),  dessen  echten  Sinn  der  Ver- 
fasser zu  enthüllen  sucht.  Ob  er  das 
nichtige  getrofien  bat,  mag  dahin- 
gestellt sein.  Jedenfalls  hat  die  avf 
Pe!stah>z/i  sieh  berufende  Entwicklung 
der  Praxis  die  Anschauung  nicht  als 
die  a-priori-Omndlage  der  Erkenntnil 
auffTpfasst.  nicht  mit  Begriffen  ge- 
rechnet, die  vor  aller  Erfahrung  i^egelMsa 
sind,  nicht  etwas  wie  die  ^reine  An- 
«srhanrinir*'  Knnts  unter  der  Ansfhannng 
dem  Prinzip  alles  Unterricht«  sich 
vorgestellt  Unrichtig  ist  es,  wenn 
Natorp  einen  Gegensatz  zwischen 
Pestnlozii  und  Herbart  in  dem  Sinne 
konf»tmiert ,  als  ob  nach  Herhart  die 
Bildung  als  etwas  von  aussen  in  die 
Seele  Gelegtes  sei  (S.  902.  381,  U8, 
450,  4ö2),  während  Pi.stulozzi  ilie  tjüuz- 
liche  Spontaneitiit  der  Bildung  vertrete. 

Natorp  will  Unterricht  und  Erziehung 
mit  Knntisdien  Bausteinen  neu  fnnda- 

mentieren.  Dieser  Gedanke  wird  in 
der  Vorbemerkung  zu   einer  Schrift 


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—   449  — 


ausgesprochen,  die  juuseii  Ldmni  ein 
Fiihr.  1  s,  i:i  will  znva  VereULndnis  für 
K&uu  kritisches  Problem  iu  der  Auf- 
fiassüDg  Pmü  NfttoqM.  Eb  ist  die 
8duift  von 

lM«irich  Meyerh«ll,  Erkenntnis- 
begriff und  Erkenntniserwerb. 
Eine  Natorp-Stadie.  Hannover  1^, 
C.  Meyer.  Fir.  1,20  K. 

Der  Terfa.^Her  hat  ilie  Beobaohtnug- 
gemacht,  dam  ans  den  Äussenmgen 
fon  Sdralminnem  ttber  Katorpeohe 
Schriften  hin  und  wieder  ein  wenig 
freundlicher  Ton  erklingt  Die  Ursache 
^anbt  er  nur  in  der  „SchwerleelwrlKeit*' 
der  Schriften  Natorps  erblicken  zu 
ra  mflasen.  In  klarer,  ruhiger  Dar- 
legmig  Ifthrt  er  in  die  von  Natorp  ver- 
trctpn(>  philosophische  Richtung  des 
„methodischen  Idealismus"  ein,  der 
nicht  das  Sein  der  Dillige  agrOndeD, 
sondern  die  Verfahningsweisen ,  die 
Methoden  darlegen  und  begründen  will, 
durrh  die  menschliche  Erkenntnis  aich 
aofbanl  (S.  9ilO}.  Der  Verfaaser  nimmt 
Mb  wid  wieder  Bemg  ftaf  Natorps  ge- 
nnuneite  Abhaudluni^en,  Bd.  I. 

Ali  Haunterffebuis  seiner  Erürte- 
für  (fie  Dtdftktfk  MlurC  der  Ver- 
fassrr  an:  1.  ^Anfa^ahe  iles  rnterrichts 
ist  die  Gewöhnung  an  die  tuaktiunelle 
Denkweise"  (d.  h.  das  Denken,  durch 
das  wir  uns  des  eignen  Tnns  im  Er- 
zeugou  der  Anschauungen  [in  Natun« 
Sinne]  bewusst  werden).  2.  „Es  gibt 
in  Wahrh«'it  für  Forschnii<f  und 
ünterweisuuj,'  nur  t;in  Verfahreü'' 
(also  Identität  der  wissenschaftlichen 
Forschuugemethode  nnd  der  Unterrichts- 
methode). 

Ostermann^  Dr.  W.,  Das  Interesse. 
2.  Anfl.  Oldenburg  u.  Leipzig  1907, 
Schnlse.  Fir.  1^  M. 

Walsemann,  A.^  Das  Tnt  rf^-sse. 
Eine  Ziller-Studie.  2.  Aull,  neubearb. 
▼on  Dr.  H.  Wnltemann.  HannoTer 
1907,  C.  Jfeyer.   Pr.  1,8Ü  H. 

Ostennanu  ^f'h;n^lltet,  (la.<5s  das 
Interesse  „gan^  und  gar  im  üduhl 
wurzelt"  (S.  12 ff);  er  identifiziert  es 
geradezu  mit  dem  GefUhl  (S.  77,  115) 
bez.  mit  der  Wertschätzung  (S.  38), 
Das  erscheint  nicht  zutreffend.  Im 
Hinblick    auf    di^    Bedeutung  des 

PldaffOfiiobc  Studieo.   XXJX.  & 


Interesse  in  Herimrts  Pidagogik  kSnnta 

man  Herbart  dann  einen  Geftthls- 
pftdagogen  nennen.  —  Nach  Ostermann 
entspringt  die  nrsprflngUelie  Aufmerk- 
samkeit dem  Interesse:  nach  anderer 
Auffaseung  (vgl.  Zillerj  entwickelt  sich 
dax  Interesse  aus  der  ursprünglichen 
Aufmerksamkeit.  —  Es  i.'*t  auffällig:,  in 
wie  vielen  Punkten  der  Verla^itr  der 
„hanptsächlichsten  Irrtümer  der  Her- 
bartscben Psychologie  usw."  in  der 
Bewertung  des  Interesse  mit  Herbart 
im  Grunde  doch  übereinstimmt.  Dieser 
Umstand  könnte  zu  der  Annahme  ver- 
anlassen, dass  der  Ffeydioloi^  Herbait 
be.'^ser  ist ,  als  der  ihm  bereitete  T\uf. 
Ferner  habe  ich  den  Eindruck  ge- 
wonnen, dass  Ostermann  der  Herbart- 
schen  Ethik  nähersteht,  als  er  dinkt 
zugibt.  Es  wäre  kuusjeyueut  gewesen, 
in  dem  Kapitel  ^Ethische  Bedenken-^ 
(S.  103  ff.)  auf  die  Ilerbartsche  Forde- 
rung des  vielseitigen  Interesse 
als  auf  einen  Schutzwall  gegen  die 
Selb.striui'ht  zuzukommen. 

l)ie  Erweiterung  der  Uerbartschen 
Fordenmg  des  vielseitigen  Interesse 
zu  der  des  allseitis^en  (S.  l'^*'"!  muss 
als  pädagogisch  »ehr  bedeukluh  be- 
Miehnet  weraen.  —  Die  Unterscheidung 
eines  positiven  und  negativen  Interesse 
(S.  11  j  erscheint  erkünstelt  und  logrisch 
nicht  haltbar.  —  Ostermanns  l'nter- 
snchung  ist  ihrer  Vielseitigkeit  wegen 
zn  seniteen  nnd  aneh  Ton  dem  mit 
Nutzen  zu  lesi :.  i!er  seinen  psycho- 
logischen Standpunkt  bezw.  seine 
Gegnerschaft  gegen  Herbart  nidit  teilt. 
Dem  r>nrhe  ist  ein  h i haltsverzeichnis 
und  ein  Register  zu  wünschen. 

A.  Walseroann  wollte  durch  seine, 
bereits  1884  in  1.  Auna^:e  erschienene 
Arbeit  mit  der  Herbart -Zilierschen 
Pädagogik  vertrant  machen.  Selbsi- 
Ter8tüudlit:h  erschöpft  Sich  diesi?  Päda- 
gogik nicht  in  der  Iiehre  vom  Interesse; 
aber  es  sengt  von  gesundem  pSda- 

fogiscben  Blick,  dass  der  Verfasser  die 
infObrung  in  Herbarts  Pädagogik 
getnde  von  diesem  Punkte  aus  vor- 
zunehmen versuchte.  Er  stützte  sich 
dabei,  wie  im  Vurwort  gesagt  ist,  ganz 
auf  Zillers  Grundlegung  zur  Lehre 
vom  erziehenden  Unterrichte.  Die 
2.  Auflage  ist  von  Dr.  H.  Walsemann, 
dem  Bruder  des  früh  verstorbenen 
Verfassers,  herausgegeben.    Ein  Ver- 

2y 


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—  450  — 


gleich  zwiachen  der  1.  und  2.  Anflat^e 
ißt  mir  nicht  m'iglirb ,  da  ich  <lie 
1.  Auflage  nicht  zur  Hand  habe.  Der 
Heraatgeber  der  2.  Aufla<:<'  scheint  an- 
zunehmen S.  5),  dass  Herbart  und 
Ziller  den  üciühlüfaktor  im  Wesen  des 
Interesse  verkannt  haben.  Da«  Ver- 
hältnis des  Interesse  zum  Willen  und 
zur  Handlnncr  (S.  23)  ist  nicht  richtig 
auffJTtfaHsr.  Der  S'atz:  „Die  Aufnu'rk- 
aamkeit  spielt  im  Unterricht,  das 
iDterMse  im  Leben  die  HanpiroUe" 
(S.  2'V ,  U{  nicht  zutivffend.  Da» 
Interesse  ist  doch  der  Zweck  des  er- 
riehenden  Unterrichts.  Wenn  femw 
dus  Intprcssc  als  die  Wurzel  des 
Willfiis  eilt  ,  dami  kann  das  Interesse 
nicht  schon  Wille  sein  und  nicht  als 
„Willenslage"  bezeichnest  werden  (S.24).') 
Auch  was  über  die  tormalen  Stufen 
gesafft  ist,  über  ttittelbftres  vaA  nn> 
mittelbares  Interesse  und  manches 
andere,  bedarf  der  Revision.  Alles  in 
allem:  dem  Buche,  dessen  Zweck  ge- 
billigt werden  mnss,  ist  eine  gründliche 
Umarbeitung  von  nOten. 

Yogel.  Ur«  Faul,  Fichtes  philo- 
sopniseh  -  pädagogische  An- 
sichten in  ihrem  Verhältnis 
SU  Pestalossi.  lAugensalza  11)07, 
H.  Beyer  &  S.  Pr.  2  M. 

Diese  Arbeit  bildet  in  gewissem 

Sinne  eine  Eri,'äiizuug  zu  Natorps 
Studien  über  Pestalozzi  im  1.  Bande 
seiner  Oeeammelten  Abhandlungen.  In 
scharfsinniger,  gründlicher  und  um- 
fassender Untersuchung  wird  eine 
weitgehende  Übereinstiuunuiig  zwischen 
Fichte  und  Pestalo«ü  nachgewiesen. 
Als  charakteristisch  für  die  ndagogik 
beider  werden  die  drei  grossen  teleo- 
logischeu  Tendenzen  ihres  Sorialismos, 
IttdiTidvaUsmns  und  Hnmanismns  be- 
zeichnet. Der  Verfasser  schlics'^t  mit 
dem  Satze:  ^Fichte  und  Pestalozzi 
gehören  der  Vergangenheit  an,  aber 
uure  Kulturanschauun^ren  her;2^en  Keime 
zu  einer  Ideenentwickluu^s  die  auch 
heute  noch  nicht  abgeschlossen  ist." 
Die  Lektüre  des  Buches  bestärkt  die 
Meinnug^  dass  die  metaphysi scheu  und 
erkenntnis-theoretischen  *  Grundlagen 
fruchtbarer  Ideen  von  der  Nachwelt 
nngesweifelt ,   ja   aufgccrehen  werden 


kffnnen,  ohne  dass  jene  Ideen  an  Wiilc- 
8amkeit  einbüssen.  Von  den  Tausenden, 
die  sich  beute  noch  zu  Pestalozzi  be- 
kennen, werden  nur  wenige  dessen 
metaphischen  und  psychologisch-erkount- 
nistheoretischeu  Standpunkt  teilen. 
Trotzdem  föllt  es  niemand  ein,  zu 
sagen :  Fort  mit  Pcr^talozzis  Pädagogik. 
Herbart  gegenüber  erlaubt  man  anaers 
sich  verhalten  zu  dinfi  n 

Vogels  Unteisachaug  kommt  auf 
Natorps  Ansicht  sn,  dass  die  An- 
schauung im  Sinne  Pestalozzis  als 
apriorbtische  Grundlage  aller  Erkenntnis 
na  denken  ist,  dass  der  Proseas  des 
Anschauens  s  iii  -n  innersten  Wesen 
nach  die  Au.^lt^uiii^-  aprioristischer 
Funktionsanlagen  ist,  wodurch  sich  die 
Genesis  der  objektiven  Merkmale  der 
Erfahrungswelt  vollzieht".  „Wenn 
Pestahnn  wiederholt  von  der  un- 
wandelbaren Urfortu  der  menschlichen 
Geistesentwickiuu^if  und  vuu  den  ewigen 
Gesetzen  der  Natur  spricht,  so  liegt 
in  dem  Gebrauche  der  B^gfriffe  un- 
wandelbar, ewig  die  Annahme  gewisser 
von  der  Erfahrung  nnabhängiger  Be- 
wusstseinsbestaud teile'  (S.  94).  Uier- 
iuu;h  wArde  die  Anschnnnngspädagogik 
de?i  19.  .Tahrhuuderta  nicht  in  Pesta- 
iu£ziä  Bahnen  wandeln,  sondern  mehr 
dem  Standpunkte  der  Herbartieh«& 
Philosophie  eut.sprechen. 

Vogels  Buch  mnss  eingehendem 
Stadium  angelegentlich  empfohlen 
werden.  Leicht  freilich  ist  die  Lektüre 
nicht.  Die  Übersichtlichkeit  di:s  weit- 
schichtigen  Stoftes  würde  wesentlich 
dadurch  erleichtert  werden,  dass  am 
Schluss  der  einzelnen  Kapitel  die  £r- 
gebnis-ie  in  kurzen  Sätzen  sdlftrf  Sll> 
sammengefasst  werden. 

Boddite.       Br.  V.  Sehilling. 

Herbarts  Lehren  und  Leben  von 
0.  Flügel.  Leipzig,  Teubner,  1907. 
156  S.   Pr.  geb.  1,26  M. 

0.  Flügel  bat  uns  schon  manches 
schöne  Buch  geschenkt,  zu  dem  man 
gern  narttckkehrt,  wenn  man  sieh  vom 
modernen  Materialismus  und  Monismus 
angewidert  fühlt;  aber  dieses  neueste 
kleine  Schriftchen  ist  entschieden  sein 
pädagogisch  -  philosophisches  Meister- 
stück. Keine  Geschichte  der  Philosophie 


>)  Über  Willensbüdttug  und  Interesse  siehe  Päd.  Stadien  liMJö,  H.  4. 


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—   451  — 


«Üe  ich  keuue,  gibt  mm  6o  klare  Dar- 
flellang  der  Herbartischen  Philosophie, 
und  kein  Doaent  der  Philosophie  kann 
geine  ikiiuler  geschickter  zum  Mit- 
philosophieren  anleiten,  als  tu  Flai;el 
tut  in  diesem  kleinen  Heftch-  n  ihr 
Sammlaufir  .Aas  Natur  und  Geistes- 

W6lt«. 

Tauseude  von  Lehrern,  die  in  Her- 
itarüscher  Pädagogik  und  Psycholo^^ie 
unterwiesen  worden  sind,  haben  gewiss 
(las  Rf;>lnrfnis,  die  philosophischen  Aus- 
schnittef  die  man  ihnen  geboten  bat, 
m  einem  abgerundeten  Gmucen  sn  ge* 
stalti-n.  Fiiiircl  bietet  ihnen  dazu  «He 
beste  Gelegenheit.  Indem  er  das 
Weiden  nnd  Wachsen  der  Philosopliie 
Herbarts  ^■leichf^am  initerlehen  iSsst, 
führt  er  ohne  da»  sciiwtre  KüsUeug 
einer  gelehrten  Scholaprache  den  Laien 
in  «he  wichtigsten  philosophischen 
Prtihkme  ein  und  zeigt  ihm,  welchen 
Answeg  Herbart  gefunden  hat  und 
warum  er  ihn  gerade  so  gefunden  hat 
Indem  Flügel  so  seinen  Leser  zum  Mit- 
phih-i^phieren  <'in!,iil«t  nnd  anleitet, 
bietet  er  ihm  xagleich  eine  Aus- 
eutudersefarnngr  mit  allen  wiehtigvn 
philosophischen  Zeitfragen.  Er  geht 
nämlich,  ohne  es  immer  besonders 
bttrvorzuheben ,  anf  alle  Einwftrfe  ein, 
die  im  Laufe  der  Zeit  gegen  Herbart 
erhoben  worden  sind,  nnd  gibt  so 
reichlich  Gelegenheit  und  Anleitung, 
sich  mit  i»iol!xi*ogischen  und  philo- 
öophischeii  Gegenwartsfragen  aus- 
einanderzusetzen. Ich  möchte  daher 
das  Flligelsche  Schriftchen  besonders 
auch  den  Gegnern  Herbart«  recht  »ehr 
an»  }ier/.  legen;  denn  oft  beruht  ihre 
Gei^nerachaft  bloss  anf  dem  falschen 
Bilde,  das  man  ihnen  ron  diesem 
Philosophien  entworf«-n  hat.  Es  ist  jii 
leider  so,  dasa  gewisse  Leute  sich  die 
Überwindmig  ihns  wiaaenaehaftlieben 
Gegners  dadurch  erleichtem,  das.*«  sie 
ihren  gläubigen  Lesern  ein  ZerrbUd 
•einer  Oedanken  vormaleu,  mn  dann 
diesen  selbstgeschaffenen  Popanz  gründ- 
lich zu  vernichten.  Wer  sich  also 
ein  eigenes  Urteil  über  Herbart  bilden 
will,  der  sehe  sich  das  BiM  an,  das 
Flügel,  der  zwuifullus  gründlichute 
Kenner  des  Philosophen,  von  ihm  ent- 
wirft. Dastt  m^bte  ich  um  so 
dringender  aoffordem,  weil  es  gerade 
jecat  bMMideia  bei  jangeien  Leuten 


xom  guten  Tone  zu  gehören  scheint, 
dam  man  Herbart  berutetit,  om  das 
eigene  kleine  Licht  um  so  beUer 
stnihleu  za  lassen. 

Anerbacb  LV.    E.  Tbrindorf. 

eil*  Gmber,  Wirtschaftliebe 
Erdkunde.  Leipzig,  B.  G.  Tenbner, 
1906.    (Ans  Natur  und  Geisteswelt, 

122.  Bändchen  )    137  S.    1.25  M. 

Dieses  kleine  Wt  rk  des  leider  zu 
früh  verstorbenen  Vcrfassirs  isi  erst 
nach  seinem  Tode  ven'iffentlicht  wor«len; 
er  selbst  hat  es  aber  noch  nahezu 
druckiertii»  herstellen  können.  Die 
Wirtschaftsgeographie  gewinnt  heate 
immer  grössere  Bedeutung.  Es  ist 
ileslialh  mit  Frenden  zu  be^^rüsseu, 
wenu  von  so  berufener  Feder  auch  für 
das  ^roese  Pnblilcnm  wirtsebaftsgeo- 
l^rai»lii3che  Fragen  in  anreihender  und 
allgemeinverständlicher  Weise  behandelt 
werden.  Grober  gibt  ulebt,  wie  der 
Titel  vielleicht  vermuten  lassen  kf^nnte, 
eine  vollständige  Wirtschaftsgeographie. 
Er  greift  wichtige  Kapitel  herans, 
er  kurz  nml  hftn<fig  bespricht,  und  zwar 
so,  dass  der  Leser  selbst  zum  Nach- 
•  lenken  angeregt  wird.  Das  Buch  be- 
bandelt in  einem  allgemeinen  .Abschnitt 
den  Einflnss  von  Meer  uml  Festland  auf 
das  Wirtschaftsleben  der  Völker  und 
dann  in  abgerundeten  Einzelbildern 
die  Wirtschaftsgeograph  iscbe  Stellung 
Europas  und  der  bedeutendsten  Staaten 
nnsers  Erdteils.  Ans  der  deutschen 
Wirtacbaftsgeograpbie  bat  Gruber 
Deutschlands  .^tellnnür  anf  dem  Welt- 
markt und  deren  Ur.'-arhen  ausgewählt 
und  dieses  Thema  auf  '22  .'leiten  in  ge- 
drängter Kürze  und  sehr  übersiihtlich 
behandelt.  Die  Schlusskapitel  [)ieten 
einen  Überblick  über  ganz  Asien  nnd 
eine  Betrachtung  über  die  Wurzeln  der 
volkswirtschaftlichen  Stärke  der  Ver- 
einigten Staaten.  Wir  kOnncn  das 
Bttcblein  bestens  empfeblen. 

A.  Kleinschmidt.  Die  geographi- 
schen Grundbegriffe.  Gieaseo, 

Emil  Küth.    73  S. 

Das  Heft  ist  ein  Konimeutur  zum 
Relief  von  Siedle,  das  den  gleichen 
Titel  führt  Eine  sehr  farbenfreudig« 
grosse  Abbildung  des  Reliefs  ist  dem 
Bndie  beigegeben.   Sa  iat  eine  der 

29* 


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—  452  — 


bekannten  Itleullandsclmfteu,  auf  tieneu 
aUes  mögliche  anf  dem  ene^aten  Raum 
znsammcngenfercht  ist.  Im  Hinter- 
gründe erbebt  sieb  eine  blutrote  Sonne 
mit  der  Hälfte  ihrtr  Schdbe  Aber  den 
Meeresspiegel.  Links  davon  speit  ein 
Vulkan^  und  in  dessen  nächster  Nach» 
barscbaft  erbebt  sieb  ein  mit  Ületschem 
bedecktes  Hochgebirge.  Von  diesem 
kommt  man  ansseroFdentlich  schnell 
herab  tn  StiiiUen,  Feldern,  Eisenbahnen. 
Hafenplfttzen  und  Inseln.  Kleinschmidt 
unternimmt  es  mm,  mit  den  Kindern  ntf 
dieiem  Relief  Reisen  zu  machen,  auf 
denen  alle  Elemente  der  Erdkunde  von 
den  einfachsten  Omndbegriffen  bis  snr 
allmmeinen  Geoqrriiphie  des  Weltmeeres 
QUO  Festlandes  entvYickdi  und  lyrewunueu 
werden.  Sogar  die  Entstehmig  der 
Eoralleninscln  und  riffe  wird  erläutert, 
obgleich  die  Relief-Laudsscbaft  durchaus 
nichts  Tropisches  an  sich  hat  und 
Koralleninseln  in  ihr  nicht  zu  erblicken 
sind.  Es  ist  erstaunlich,  was  der  Ver- 
fasser aus  dem  Relief  herausholt.  Eine 
noch  grtludlichere  Ansnutzuug  dieses 
Anseliauungsniittels  ist  kaum  denkbar. 
In  dieser  Ikziehunc  if>t  die  Arbeit 
ausserordentlich  fleissig  und  sorgfältig 
dnrcb^fnhrt,  ond  wer  ein  Freand  yon 
derartigem  geographischen  Untt  ri  ',f 
ist,  wird  mit  Nutzen  das  Heft  zur  Hand 
nehmen.  Ich  kann  mich  allerdings  für 
derartii,^e  AuHcbauungsmittel ,  die  dem 
Kinde  ein  Bild  geben,  das  in  Wirk- 
lichkeit nirgends  vorhanden  ist.  und 
die  deshalb  nur  zu  leicht  falsdir  An- 
schauungen erwecken,  nicht  erwärnjcu. 

A»  Oppel,  Landeskunde  des 
britischen  Nordamerika.  Hit 
13  .Abbildungen  und  1  Karte.  (Samm- 
luug  Göschen,  No.  2&i.)  Leipzig, 
Gfischen,  1906.  164  S.  80  Pf. 

Die  Sammlunip  O^lscben  bat  er- 
freulicherweise jetjrt  auch  die  Erdkunde 
in  ihren  Bereich  t,'ezogeu.  Das«  die 
Verlagshandlung  da^  in  grosszttgiger 
Weise  tun  will,  beweist  das  vorliegende 
Bändchen.  Dieses  behandelt  ein  Gebiet, 
das  dem  deutschen  Leaer  im  allgemeinen 
fem  liecrt  und  durh  von  Jahr  zn  Jahr 
eine  erbühie  \virt»ekU'tsgeci«jnijdiisehe 
und  politische  Bedeutung  erhält  als 
neue  Weizenkammer  der  Erde  und  als 
eine  der  wichtigsten  englischen  Be- 
sitzungen infolge  seiner  Lige  iwiseben 


zwei  Ozeanen.  l>er  Verfasser  kennt 
Amerika  aus  eigener  Anschauung. 
Seine  Darstelluni}:  ist  von  wissenschaft- 
licher Gründlichkeit  und  Sachkenntnis 
getragen  und  durchweg  anr^end  ge- 
schriehen.  Die  hei^ejjebene  Karte  stellt 
im  Massstabc  von  1  :  20  Millionen 
ganz  Britisch  -  Nordamerika  mit  dCD 
neuesten  Verkehnwegen  und  politischen 
Grenzen  dar. 

W.Uhle,  Alfred  Kirchhoff.  Halle, 
Waisenhans.  1907.   30  S.   50  Pf. 

Die  Schrift  iht  dem  Andenken  des 
verstorbenen  Hallischen  Geographen 
gewidmet.  Uhle  wtirdigt  in  liebevoller 
und  doch  nicht  kritikloser  Darstellung 
da.H  Leben  und  die  Verdienste  des  Ver- 
storbenen. Er  betout,  daas  die  Uni- 
Teraltät  die  Stfttte  von  Kirdibofls 
wichtigster  Wirksamkeit  war  und  dass 
K.S  wissenschaftliche  Bedeutung  weniger 
auf  der  eigenen  Erweiterung  unseres 
Wissens  beruht  als  auf  der  Fäliiffkeit, 
andere  für  eine  solche  .\ufgabe  zu  ge- 
winnen. AlK*  trüberen  Schüler  K.s 
werden  das  Heft  ürern  zur  Hand  nehmen. 
Ein  wo  hl  gelungenes  Bildnis  des  Ver- 
storbenen ist  i^igegeben,  ebenso  eine 
Cbersicht  seiner  wichtigsten  Werke 
und  Schriften, 

Heinrich  Fischer,  Schul at las  für 
Anfang  SU  nterric  h  t  und  Mit  lel- 
Btufen.  47  Haupt-  und  74  Neben- 
karten auf  ;')2  Kartenseiten.  Biele- 
feld und  I^ieipzig,  \  elhagen  Klasing, 
1907.  Ft,  1^  M. 

Dieser  neue  Atlas  zeiehnet  sieb 
durch  eine  sehr  scharfe  und  wirksame 
Darstellung  des  <4elftndes  und  grosse 
Übersichtlichkeit  der  Kartenblätter  aus. 
Der  Preis  ist  für  das  Gebotene  sehr 
billig.  Der  Name  des  Heransgebers, 
der  als  Vorsitzender  der  Zentral« 
komuüssion  für  ertlkundliciien  Unter* 
riebt  in  Fachkreisen  auf  das  beste 
bekannt  ist .  bürgt  wohl  tr^nflirend 
dafür,  dmn  auch  die  Stoffanswahl  und 
die  methodische  Anlage  auf  der  H9he 
der  heutigen  Erdkunde  stehen.  Der 
Atlas  beginnt  mit  der  Darstellung 
typischer  Landschaftsformen  Mittel- 
europas in  Gestalt  von  äusserst  sanber 
ansgefQhrtea  SpexialkSrtcben,  •«! 
denen  s&mtliche  Oitschaften  in  ibiem 


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—  453  — 


wirklichen  ümfaiicr  durch  rotes  Kolorit 
h^TOrtrSten,  ohne  ilnss  bei  (k'n 
kkilMlieil  die  Namen  ein^etrAqreii  8inii. 
Po  c^cvrinnt  der  Schüler  ein  wirkliches 
iSüii  über  die  Verteilnng,  Grösse  und 
Anlage  d«r  Si«'(lclungfen,  ohne  dass  ein 
Übermass  von  überflüssigen  Namen  das 
Karteubild  »türt.  Hervorzutiebtju  ist, 
daas  für  die  einzelnen  Blätter  der 
eigentlichen  Landkarten  miteinander 
Tergleichbare  Massstäbe  gewählt  sind 
iiiiil    zw.ir    V.  n    1  :  3000000    bis  zn 

1 :  4ti0üÜ0U>.  Jiksterer  Maesetab  dient 
für  die  spezieUeren  KartenblStter  Ton 

Mitteleurop;» .  der  letztere  für  lie 
awsereoroii&ischett  Erdteile.  Au^  diese 
Weise  let  es  leidit,  Masse  aas  der 

dBen  Karte  vergleichsweise  auf  die 
andere  zn  übur  tragen.  Anch  die 
Nebenkarten  sind  in  einem  Massstabe 
gehalten,  der  immer  1  :  3000 (XX)  oder 
ein  vielfacbeü  vuu  3  Millionen  ist. 
Ganz  besondere  Berücksichtigung  haben 
die  deutsche  Heimat  und  das  deutsche 
Volk  gefanden.  Besondere  Karten 
zeigen  die  Verbreitung  des  Deutsch- 
tuins  innerhalb  and  ansserbalb  Europas 
nnd  lUe  wiitsdiartliche  Bedentnng  ««r 
vers(hieileiieu  Liuider  für  Deutschland. 
Pie  letzten  Kartenblätter  behandeln 
die  aDs:em<dne  Erdkunde.  Sie  geben 
ins  die  r  übersichtlich  das  Wichtigste 
Bber  Klimu,  Vegutationsformcu  und 
Meeresströmungen,  Nutzpflanzen,  wich- 
tige  Tiere,  Weltverkehr,  Volksdir  hte. 
Verbreitung  von  Kohle  und  Eisen  uitd 
ein  Blatt  zur  Himmetolnude.  Die 
Reibenfolf^e  der  Karten  pas^t  sich 
genau  «lern  Gange  des  Untt-rricbls  au. 
Ans  praktischen  Gründen  sind  noch 
zwei  Kartenblätter  zur  biblischen  Ge- 
schichte  nnd  zn  den  deutseben  Ein- 
heit>kriegeii  beiy^ef^eben.  Der  Fiscbersche 
Atlas  kann  als  eine  wertvolle  Bereicbe- 
nms  maserer  bUfigwi  UnterrichtsndUel 
bmehmet  werden. 

Devtscbe  Rundschau  fUr  Geo- 
granhie  und  Statistik.  Ileraus- 
gegebeu  vuu  Trvf.  Dr.  Fr.  Lmlaoft. 
Wien,  A.  Hartleben.  Jibtl.  18  Hefte. 
Pr.  13,50  M. 

Wir  haben  diese  für  einen  weiteren 
Leserkreis  berechnete  Zeitschrift  hchon 
wiederholt  empfehlen  können.  Auch 
der  jetzt  abgeschlossen  vorliegende 
29.  Jahrgang  rechtfertigt  den  Ruf, 


den  sich  die  D.  R.  erworben  hat.  Neben 
grös^seren  Aufsitzen,  die  die  ver- 
schiedensten Themen  aus  den  Gebieten 
der  Erd-  nii  !  ^^ilkerknnde  behandeln, 
unterrichten  nie  kleineren  Mitteilungen 
schnell  nnd  zuverlässig  ttber  alle 
Neuigkeiten.  Eint  n  besonaeren  Schmuck 
deis  letzten  Jaiiii,aiiigs  bilden  die  vor- 
züglich ausgeführten  Abbildungen,  die 
fast  ausnahmslos  nach  guten  Photo- 
graphien angefertigt  sind  und  dem 
Leser  Lander  und  Völker  im  Bilde  vor- 
führen. Am  lehrreichsten  sind  in  dem 
Tortiegenden  Jahrg-ange  yielldeht  die 
AbLilmingeu  errünländischer  Glet.scher, 
Eisfjorde  und  Eisberge.  Jedem  Hefte 
ist,  wie  bbher,  eine  Karte  beigegeben; 
im  letzten  .lahrgang:e  sind  die  Karten- 
beilagen zum  grossen  Teil  der  Verkehrs- 

Geographie  gewidmet.  Bis  auf  die 
egenwart  ergänzte  Eis«.nbahnlcrn-t»'n 
von  Afrika,  Argentiuieu  und  llussiaud 
geben  eine  Vorstellung  von  der  Ent- 
wicklunj?  des  Verkehrs  in  diesen 
Ländern.  Auf  der  Karte  von  Rassland 
sind  auch  die  WaisBiBtraisen  eingehend 
berücksichtigt. 

Planen  i.V.   Dr.  J.  Zemmrich. 

Die  Technik  i1 1  <  Zeiehenun  t  er- 
richtes  vont^eorgFriese.  Hannover, 
Hdwingsehe  Verlagshandlnng.  Freie 
76  Ft. 

Die  vorliegende  Schrift  ist  ein  er- 
weiterter Sonderabdruck  ans  dem 
8.  Bande   des  Jahrbnehes   fttr  den 

Zeicheu-  und  Kunstuuterricbt  von 
Friese.  Sie  will  weitere  Kreise  mit 
einem  wichtigen  Abschnitt  des  gt- 
nannten  umfangreichen  Werkes  be- 
kannt maciieu.  In  vier  Kapiteln  ver- 
breitet sich  der  Verfasser  über  den 
Raum,  in  dem  gezeichnet  wird.  Ober 
die  Modelle,  die  für  die  verschiedenen 
Stufen  nnd  die  verschiedenen  Schnl- 
gattnn^n  empfehlenswert  sind,  über 
die  Zeichengeräte  für  den  Unterricht 
im  Freihandzeichnen  U)id  aber  £»e- 
ei^nete  jUilfsnuttel  heim  konstruktiven 
Zeiehnea. 

Die  Amfllhrungen  lassen  doieh- 
ijänarig  den  erfahrenen  Fachmann  er- 
kennen nnd  können  Behörden  und 
Lehrern  bei  der  Aulatje  und  Ein- 
richtung von  Zeichensälen  und  ebenso 
bei  dar   Amehaflqng   von  Zeichen" 


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modellen  und  der  Auswahl  tob  Zeicbeu- 
gerfiten  gute  Dienite  leistcii. 

Zeichnennnd  Zeiclianu  ut  er  riebt. 
£ine  theoretisch-praktische  Anleitang 
inr  Neugestaltaug  des  Schnlzeichcn- 
anterrichtes  von  K.  JÜAngold. 
Halle  a.  S.,  Hermann  Sehroedel. 
Preis  2  M. 

Das  150  Seiten  umfassende  Buch 
•will  Zeichenlehrern,  die  bisher  nicht 
Gt'k'^'pnhcit  hatten  und  voraussichtlirli 
auch  in  Zukunft  nicht  haben  werden, 
lieh  in  logenanoten  Etnfahntiin-  oder 
Fortbfldiuiffskursen  mit  den  Zielen  und 
den  Kethown  dea  neoseitlichen  Zeichen- 
unterriebtes  bekannt  m  machen,  als 
Wegweiser  dienon. 

in  dem  ersten,  all^emelneu  Teile 
der  Schrift  werden  das  Wesen  und  der 
Wert  der  Zeichenkunst  besprochen.  Der 
zwcitti  Teil  bebandelt  zunächst  die 
Wandlungen,  die  der  Schulzeichenuuter- 
richt  seit  den  siebzicrer  Jahren  des 
vergangcueu  Jahrhuuderts  erfahren  hat, 
und  wendet  sich  dann  dem  Unterrichte 
an,  wie  er  nach  den  ministeriellen  Be- 
stimmiingen  Aber  den  Zeichennnterricht, 
die  in  den  Jahr^^n  1901—1904  erlassen 
worden  aiud,  in  Prenuen  erteilt  werden 
•oll. 

Benonders  willkommen  werden  vielen 
die  Lehrbeispiele  sein,  die  der  Be- 
apreebmipr  jeder  Unternehtsitnfe  hti' 
gefügt  sind. 

Auch  Aber  das  Linearzeichnen  im 


6.,  7.  und  b.  Sobnljahr,  aber  Zeit, 
Banm,  Lehr^  mid  Leminittel  (Zeieheii- 

bl<"  V-"-  Zeichenstiinder  u.  a.)  fttr  den 
Zeichcuunterricbt  spricht  sich  der  Ver- 
fasser aas. 

Den  SchluBs  bilden  die  prenssisohen 
ministeriellen  Bestimiuuiigeu  über  den 
Zeiehenonterricht. 

Von  der  Beigabe  grösserer  bildlicher 
Darstelluu^eu  ist  Abütaud  geuuinmen 
worden.  Die  kleinen  Textfignren  wollen 
nur  die  Formentwicklung  einiger  Vor- 
bilder vor  Augen  führen. 

Eine  empfehlenswerte  Schrift  für 
jeden,  der  sich  mit  dem  Betrieb  des 
neiumtUdHui  Zeieheniinterridits  belnuHil 
matcbfln  willl 

Zeichenger&te  nnd  LehrnitteL 

Ein  Hilisbach  für  den  Zeichennnter- 
richt an  gewerblichen  Lehranstalten, 
nach  eigener  Brfümng  Bttsammen- 
gestellt  und  herausges-eben  von  Otto 
Llppmanji.  Dre»deu-N.  SO.  Preis 
60  Pft 

Verfasser  unterrichtet  über  die  Be- 
schaffenheit, Behandlung  und  An- 
wendung sämtlicher  bei  dem  technischen 
Zeichnen  in  Betracht  koim  ,  i  ier  Werk- 
zeuge und  Hilfsmittd.  Zahlreiche 
saabere  Abbildungen  VDtenttttsen  den 
Text  nnd  1  i  ^  n  das  Hefteben  auch  ffir 
die  Verwendung  in  Fortbildungsschulen 
geeignet  erschonen. 

BoeUitaiS.  A.  Mtder. 


Eingegangene  Bfleher. 

(Besprachnag  vwbebaltcii.) 

Ermert,  0.,  Vom  deutschen  Aiifsal;*  in  drr  Volksschule.  >Tindf  n,  >t.irowsky.  Plr,  70  PC 
Miller  II.  Völker,  Realienbuch  für  Volks»  und  Mittcischulco.    Ausg.  A.  fllr  nfbi^ 

klasaige  Sdralen.   Giesien,  E.  Roth.   Pr.  9,50  M. 
Flügel,  0.,   Monismus  und  Theolocir.    3.  Aufl.    Cöthcn  igoS.   O.  Schiil/c.    Pr.  7  M. 
Franke,  Herrn.,  Chfullicher  Monismus.    Dresden  1908,  Ungelenk.    Pr.  60  Pf. 
Conrad,  Qerh.,  HomefTers  Well-  und  LcbrnsanschauoBg.    Ebenda  1908.    Pr.  80  Pf. 
BaM,  Prof.  Lic.  B..  Unsere  religiösen  Ersieher.   Bd.  I  tt.  a.  Ldptig  1908,  Quelle 

und  Meyer.    Pr.  geb.  8,80  M. 
BltOllr  Lndw.,  Das  Markus-Evangelium  als  Grundlage  zur  Gewinnung  eines  Lebensbildes 

Jesu.    Berlin  1907,  C.  Meyer.    Pr.  geb.  1.70  M. 
Klepl,  Georg,  Zur  Umbildung  des  religiösen  Denkens.    Leipzig  1908,  Klinkbardt. 
WiMmr»  Dl  Rlobtrii  KateehismascDtwinl  Tflbiqgen  1908,  Mobr.  Pr«  geb.  30  PC 


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—  455  — 


Eckert  Alfred,  Du  FtoUem  des  Kioderkatechmnas.   Leipzig  1907,  G.  Strübig. 
Dendbe,  KiRderkatedüsniiis  filr  den  Koofimiaiideiiuiiteindil.  Du  3.-5.  Hiiiptitllck. 
Ebenda. 

■urz,  Fritdrteli,  ChrisÜtclf«*aiigdiMhes  Ldu-bflehlein  fllr  den  Konfirnundcnnntmicbt. 

Auspiibe  für  Baden.    Tübingen  1907,  Mohr.    Pr.  geh.  50  Pf, 
teile,  Dr.  RiOhard,  An  der  Wiege  des  „Biblischen  Geschicht»>Uaterricbu"  und  „Lathen 

Punonalbndi**.   Berlin  1907,  A.  Uofinann  n.  Komp. 
Mnridt,  D.  P.  W.,  Die  Geschichte  Jesu.  Volksaauenbe.   TUbiaKen  1906,  Mohr. 

Pr.  I  M. 

Bof,  SoNIrat  8h  Das  Leben  Jesu  in  historisch-pragmatischer  Dantdlong.    l.  Teil. 

I.iirrif^  iOf^7  Wunderlich.    Pr.  p^b.  2  M. 
Dietterle,  Dr.  Joh.,  i  jic  Reform  des  Religionsunterrichtes  in  der  Volksschule,  Leipzig  1907, 

KlinkhiiriU. 

fnak,  Albert,  LHe  Erlccnntals  Gottes  durch  die  Natnr.  Bertin  1907,  Meyer.  Preis 

geh.  o,bo  M. 

teies,  6.,  Reineckes  Handbuch  zur  unterrichtlichen  Behandivng  der  biblitdwn  Ge- 
schichte.   I.  u,  2.  Teil.   4.  Aufl.    Ebenda.    Pr.  2,25  M. 

Spanuth,  H.,  Präparationen  für  den  evangelischen  Religionsunterricht.  l.  Teil:  Unter- 
stufe.   Ostcrwieck  1907,  Zickfcldt.    Pr.  geb.  3  M. 

Falcke,  fiebrMer,  Einheitliche  Präparationen  fttr  den  gesamten  Religionsunterricht. 
3.  Bd.  A.  Das  neue  Testament,  B.  Das  alte  Testament.  Für  die  Oberstufe 
1  .i'l      n.ille  1907,  Schroi-drl,    Pr.  geb.  je  3,50  M. 

ReltfioOMetGUOhtllehe  VollilJlQober»  herausgegeben  von  Fr.  Michael  Schiele- 
Tflbingen:  Mrrx ,  A.,  Die  Bfleher  Moses  und  Josua.  —  Bertholet,  Prof.  D.  A., 

Daniel  un<l  dir  griccliisclu-  Gefahr.  —  Vollmer,  Lic.  th,  IT..  Vom  Lesen  und 
Deuten  heiliger  Schriften.  —  Krüger,  Prof.  Dr.  G.,  Das  Papsttum.  —  Weinel, 
Prof.  Dr.  H.,  Die  nrduistliche  und  die  heutige  Mission.  —  Meblhorn,  D.  F., 
Die  niutt/eit  der  dentschcn  Mystik.   Ttlbingen  1907,  Mbfar.   Pr.  i  M.,  0,50  M., 

I  M.,  0,50  M. 

Freybe,  D.  Dr.  A.,  Die  Sitte  nach  ihrem  Ursprung.  Wesen  und  Wert,  die  treuste  Gehilfin 

der  Kirche  und  ihrer  Inneren  Mission.  Hamburg,  Agentur  des  Rauhen  Hauses. 
Unfrid,  Otto  Üld.,  Weiscaguag  und  EdUUung.  1.  u.  2.  Heft.  Esslingen  1905,  Langguth. 
Siiwwi,  0OttArl«l,  Dss  Banner  der  Freiheit.    la.  Jahrg.    143.  Heft:  Jesns41ostie. 

Karlsruhe  i.  P.  1907,  Srlhstvrrlap  des  Verfassers.  TVris  3  M.  für  dm  J;ihr;jang. 
FrOliokf  ILt  Was   kann  die  Volksschule  zur  Hebung   des  Proletariates  beitragen? 

Minden  i.  W.,  C.  Marowsky.   Pr.  60  Pf. 
UtorfttW^erioht  aber  Kinderfiirsorge  1906.   Herausgegeben  von  ProC  Dr.  Klnmker 

und  Wilh.  Polligkeit.    Dresden  1907,  O.  V,  BübmerU 
Bukes,  Chr.,  Bedeutung  der  Frauenarbeit  in  der  FUisorge«  und  Waisenpflege.  Kdefeld, 

A.  K'  ln  i-h.    Pr.  40  Pf. 
MiillOll,   Amalie,  Die  Musik  in  Schule  und  Haus.    I.  Teil:   Gesangmethodik  und 

Hannonielclife.    IL  Teil :  Ästhetik  der  Musik.    Musikgeschichte  und  musiValitche 

Formenlehre.    Leipzig  1907,  Tcubner.    Pr.  2,40  M..  3,60  M. 
RIetSCh,  Prof.  Dr.  H.,  Die  Grundlagen  der  Tonkunst.    Ebenda.    Pr,  geb.  1,25  M. 
triSMer,  A.,  u.  Kropf,  R.,  Volksliedtrhuch  für  Stadtssehulen.    s.  mb.  Anfl. 

Halle  a.  d.  S.»  H.  ächrocdel.   Fr.  0,80  M. 
Battfce,  Max,  Lehr-  und  Lernmittel  för  den  Gesangunterricht.  Berltn-Gross-Lichterfelde, 

i"lir.   1'  \'ichwrj^. 

Möller*  Karl,  Deutsches  Kiogen  oach  Kraft  und  Scbuoheil.   I.  Von  Schiller  bis  Lange. 

Leipcig  1907,  B.  G.  Teubner.   Pr.  geb.  M. 
IMhuuin,  Prof.  Dr.  Paul,   Die  Bedeutung  der  FarhenUtadheit  fttr  die  Sdmle. 

Leipzig  1907,  Quelle  &  Mcjcr.    Pr.  geh.  o,bo  M. 
V.  IMVfObeidt,  Kurt,  Prenssisches  Volkssdiularchiv.   6.  Jahrg.  3.  v.  4.  Heft.  7.  Jahrg. 

I.  Heft.    Berlin  I907j'8,  Fr.  Vahlen.    Jahrg.  Pr.  5  M. 
BookenfihI,    0.,   Vaterlündisclics   Festspiel    für  Schulen    und   Vereine.  Mettmann, 

A.  Frickenhaus.    Pr.  50  I'f. 
WdMI,       JUtaal  der  Schulsedanfeier.   Ebenda.  Fr.  50  Ff. 


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EHlt,  R.,  Drei  Rcformationifeiern  für  Kirche,  Schule  und  FanrfMembendt.   S.  venu. 

Nti''     1  firTip-   Sicgismund  &  VolkcninR.    Pr.  50  Pf. 
Zeitschrift  für  christliche  ErziebungSwUsenschaft,    Herausgegeben  von  J.  Pötsch. 

1.  Jahrg.    I.  Heft.    Fhdcrborn  1907,  F.  Schöningh.    Pr.  d.  Jahrg.  6,80  M. 
06r  SOkitfirMSlI*    Monatsschrift  zur  Förderung  des  Volksschulwe^ens  und  der  Tugend- 
erziehung.   Neu  herausgegeben  von  einer  Vereinigung  prakÜ5.chcr  bchulmänntr. 
r  j   J  ihrp.    2.  Heft.    Hamm  i.  Westf.,  Breer  &  Thiemann,    Pr.  d.  Jahrg.  6  M. 

lülltir  der  Familie.   Heraugegebcn  voa  Dr.  Heinrich  Pudor.   z.  Jahig.   5.  Udk. 

Beriin-Slcglitz,  Forttstrasse    Pr.  Quartal  2,10  M. 
TM  Kindergarten  Magazine  and  Pedagogloal  Digest.   IIor.iu>f;cf^'tb<  n  von  E.  Lyell 

Earlc.    New  \'otk,  59  West  96"«  Street.    Pr.  d.  Jahrg.  i  Dollar. 
IHnt  lustige  Kindergarten.  Text  voa  Oskar  Wiener.   Kider  von  Aug.  Gcigt  n- 

berger.    München,  C.  Schnell.    Pr,  2.50  M. 
Mun,  Prof.  Dr.  Ludwig,  Über  die  Unsicherheit  des  literarischen  Eigentonu  bei  Griechen 

und  Römern.    Düsseldorf  1906,  Sehanb. 
Sohiafer,  Prof.  A.,  FinfUhrunp  in  die  Kulturwclt  der  allen  Griechen  und  Römer.  För 

Schiller    höherer   Lchnmstalten    und    zum   Stlbstunterrichl.     Hannover  IQ07, 

<      Mi  y  r.     Pr.  4  M. 

Statzer,  Prof.  E.,  Uism.ircks  Reden  und  Briefe.    Leipzig,  L.  Thiermann,    Pr.  i  M. 

Derselbe.  Lesebuch  zui  deutschen  Staatskunde.    Ebenda.    Pr.  1,20  M. 

DMTenbacher,  Prof.  Dr.  J.,  Deutsches  Leben  im  13.  und  13.  Jahrhundert.    L  öfient- 

liebes  Leben.    II.  Privatleben.    Leipzig  1907,  Guschen.    Pr.  je  o,8o  M. 
Brandenburger,  Dr.  Cl.,  Polnische  Geschichte.   Ebenda.   Pr.  0,80  M. 
Pfeift,  Wilhelm,  Lehrbuch  nir  den  G«acktcbU«Atemcbt   5.  «.  6.  Teil.  Breabn  1906. 

F,  Hirt.   Pr.  geb.  je  3,a5  M. 
FrHltOlMt  Richard,  Die  deutsche  Geschidile  in  der  Volksschnk.    2.  Teil:  Vom 

dreissigj^iliri^en  Krie^  bis  zor  Gegenwart.   4.  Verb.  Aufl.    Altenbofg  1907, 

H.  A.  Pierer.    Pr.  geb.  6  M. 

Derselbe,  Baasteine  Air  den  GesclüchtsiuMenicht  in  der  evangelischen  Londsdmle. 

2.  vcrh.  .\uf1.    Ebendn.    Pr.  peh.  3,40  M. 

Rossbach,  Dr.  F.,  Der  Geschichtsunlcrricbt  in  mittleren  Schulen.  Berlin  1907,  (ierdcs 
und  Hödel.    Pr.  0,60  M. 

Dwrtache  Schulausgaben.  Herausgegeben  von  Dr.  J.  Ziehen.  Leip/i^',  [>.  Ehlcrmann. 
Hü.  43:  Wasse  r /i  e  her ,  Shakespeare,  Julius  Cäsar.  Hd.  44  .  SchLidehach, 
Rflckerts  Gedieht«  .  Bd.  46:  Kinzel,  Bcgicitstoffc  zur  deutschen  Literatur- 
geschichte,   ßd.  47  .  Wohlrab,  Sopholdcs  König  Ödipns.   Pr.  0,80  M.,  I  M.« 

I,  45  M.  und  0,60  M. 

Die  »isländischen  Klassiker.  Herausgegeben  von  Dr.  P.  H;  1  11?  Dr.  H.  Wolf. 
9.  Bdch. :  Shakespeares  Coriolan  von  Wasserzichcr.  b.  Bdcb.:  Shalcespeares 
jölins  Cäsar  von  P.  Han.  l^ipzig  1907,  Bredt.   Pr.  i,ao  M.,  f  M. 

Dld  deutschen  Klassiker.  IIer,iu.>-^;rj,'ei)en  von  K.  Kuenen  undM,  Evers.  2.  Bdch. : 
Schillers  Jungfrau  von  Orleans  von  E.  Kucacn.    6,  AuA.    Ettenda.   Pr.  l  M. 

Volktblolier  der  Deoteebeii  Dloliter*fiedloMiilt*Sttfhiiig.  Heft  i3->3o:  Wiehert, 

Der  VV^ilddicb,  Srhückinf^.  Die  drei  Grossmächte,  .^n7engruber,  Der 
Erbonkel  und  andere  Geschichten.  Döhlau,  Kusswirkungen.  Frapan- 
Akunian,  Die  Last.  H.  v.  Kleist,  Die  Veriobong  in  St.  Domingo.  —  E>as 
Erdbeben  in  Chili.  —  Der  Zweikampf.  Roscggcr,  Der  Adlerwirt  von  Kirch- 
bruua.  Ernst  Zahn,  Die  Mutler.  Hamburg-GrosslMJrstd,  Verlag  der  DcuUchen 
Dichtcr-Gcdächtnis-Stiftung.  Pr.  geli.  50 — 60  Pf. 
Odlkmäler  der  älteren  deutschen  Literatur.  Herausgegeben  von  G.  Böttieher  und 
K.  Kiiiicl.  Halle,  Waisenhaus.  D-is  Nibelungenlied.  Pr.  1,40  M.  W.ilther 
von  der  Vogelweide.  Pr.  i,io  M.  Ufr  arme  Heinrich  und  Meier  Helmbrecbt. 
Pr.  1,10  M.  Die  Literatur  des  siebzehnten  Jahrhunderts.  I'r,  1,20  M.  Neu- 
baoer,  Martin  Luther.  Eine  Auswahl  aus  seinen  Schriften  in  aller  Spracliform. 
Pr.  3,80  M. 


Uruet  TOD  A.  Kl«u  A  e^bn  in  >'auo>burg  a.  S. 


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Pädagoöiscbe  Studien. 

Neue  Folfle. 

Gegründet 

ProfflBsor  Dr.  W.  Rein. 


XXX.  Jahrgang. 


Heramgegeben 
Ton  Schulrat  Dr.  M.  Schilling, 

in  Eochlits. 


DraBd«ii*Blawwitji. 
Oertoa  90B  Bleyl  A  Katmmtrer  (0.  S<bainb44)). 

i9oe. 


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Jnl)ait$uerzeid)nis 
XXX.  Jahrganges  (1909). 


B.  Jlbbandlungcn. 

1.  Dr.  M.  Sctallltngr,  Lehrerpenöulicbkeit.  S.  1—8. 

2.  'A.  Köhler,  August  Hennaim  Niemeyen  SteUnng  n  BcUgioi  md  Beligiims- 
nnterricht  S.  8—21. 

a.  Br.  B.  Stftvie.  Zum  Katechumunintamoht  S.  21—28. 

4.  Dr.  Rlohtvr.  Mnndarfliefae  Wörter  und  Wendimgw  in  dmifadM&  AnlialM. 

6.  II.  BMitely  Wte  hüt  der  ünterriobt  auf  den  kansalen  ZoHunmenhaiif  koltiir- 

^eographischer  Stoffe  hiuznarbeit.  n:-'   S.  46— ft4;  S.  106—113 

6.  L.  Sehretxeniiiavr,  Zur  Psychologie  des  Kinderspiels.  S.  81— i^S:  S.  176 — 190. 

7.  H.  Hoffmann,  Der  Begriff  Bildung  und  die  Schnle.  S.  93—106. 

8.  Dr.  H.  Zimmer,  Die  Herbart -Forschung  im  Jahre  1908.    S.  113—131. 

9.  D,  Hieronjmas,  Die  vielklaasige  Schule,  ihre  Vorteile  und  Nachteile,  und 
andere  Organisationsfragen.   S.  132—138:  S.  191—198. 

10.  Oradlnger,  (Generalinajor),  Militärische  Jugenderziehung.    S.  161—176. 

11.  M.  Scheffel,  Moderne  Erziehungsromane.   S.  199— 217; 'S.  267  -287, 

12.  K.  Ehrhardt,  Das  geographische  Individuum.   S.  241—267. 

13.  Dr.  H.  Tögely  Die  Keugestaltung  des  Spruchbuchs.   S.  287—314. 

14.  0.  Kohlmeyer,  Das  biologische  Prinzip  im  naturgeschichtlichen  Unterrichte. 
S.  321—347;  S.  444—459. 

16.  F*  Heider,  pie  Yeranschaolichang  auf  Abwegen.  S.  347—869. 

18.  P.  Zillig,  Über  die  Aufnahme  in  die  Schale  und  Ober  die  Featetdiong  der 
Gegebenheit  des  Kindes.   S.  369-  .S88;  S.  418-444, 

17.  L.  KSkler,  Unsere  Schalfeste.  S.  401-418. 

B.  KMnm  Bettrigc  und  lOitMIttnflfii. 

1.  Dr.  Fr.  Warneeke,  Herbarts  Regierung  und  Zucht.   S.  56—61. 

2.  Dr.  M.  Schilling,  Die  Zukunft  der  Fortbildungsschule.  S.  61-^ 

3.  Fr.  Franke«  Schnle  und  Charakter.   S.  63—66. 

4.  H.  Storn,  Über  visuelle  Erinm mnixsbilder  beim  Rechnen.   S.  66 — 67. 
&  X.  Wittig,  Herbarts  Stellung  zum  Arbeitsnnteirichte.  S.  139-148. 

6.  Br.  fl.  Pndor,  Die  Bedeutung  Hontaignee  Mr  die  FIdagogik  luueier  Zeit 
g  217  221. 

7.  begen  die  Schundliteratur.  S.  221—222. 

8.  Fr,  Fkwikey  Zu  Herbarts  Lehre  Ton  den  Stufen  dea  Unteniehta.  S.  816—817. 

9.  Ferienkurse.   S.  317. 

10.  E.  Lenpolt,  Einstimmung.   S.  .S<S8— 396. 

11.  Fr.  Franke,  Bericht  Uber  die  41.  Haaptmaunmlmur  dee  Yereina  fllr  wissen* 
icbalttifibe  Fidagogik.  S.  480-466. 

C  Beurteilungen. 

1.  F.  Coirai.  PrftpantioiMB  lllr  den  PliTaik-UiiteRidit  i»  Yelki»  md  XÜlal- 
aohnleii.  ^ril  I/n.  S.  67— 68. 


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—  ni  — 


I.  Peters,  f  ^hrhucb  der  Mineralo^nc  nn<I  Geolojfie.   S.  68—69. 

tr,  Arnold  lira^g,  UnterHuuliungeu  Uber  datt  Licht  und  die  Farben.   Teil  I. 

.  69-70. 

«haeil)  I<ehrbnch  der  Zoologie.  S.  70. 
)ers.,  Leitfaden  der  Botanik.  8.  70. 

>ers..  Grundriss  der  Nuturj^eschichte,  2.  Heft:  Pflanzenkunde.    S.  70. 
•tto  Jnnge,  Schmeüs  „wiBsenBcbaftlicheBeleachtonff"  der  Jaiigeachen  Beform- 
estrebnngen,  um  einise  Nomnlkenen  ventirkt«  8.  TO— 71. 
•rof.  Dr.  H.  Reichenbach,  F.  C.  Nolls  Nftturg^hichte  des  MfluelMll.  8.71. 
•r.  Julias  Ziehen,  Männer  der  Wissenschaft.  S.  71—72. 
ir.  F.  DftuiMui&ii,  Onellenbueh  svOetdddite  der  NfttnrwisMosidMlIeiL  8. 72. 
!.  Rebmann,  Der  menschliche  KOrper,  sein  Ban  nnd  seine  Tfttigkeiteii.  8.  78. 
»r*  E.  Dennert,  Die  Pflanze,  ihr  Bau  nnd  ihr  Leben.   8.  72. 
irof.  X,  Kistner,  Gesehichte  der  Phynik.  Teil  I  II.  S.  72. 
tr,  Friedrich  Knaner,  Die  .\meiäen.   S.  72.  iKott«.) 
•r.  F.  Wilbrand,  Leitfaden  fUr  dm  methodischen  Tuterricht  in  der  Chemie. 
72  -  73. 

iiliiiA  Schmidt.  rhmi.scLe.s  Praktikum.    Teil  Tl.    S.  7:1  (Müller.) 

'auuy  Stockhauneii,  Bilder  aus  Paul  Gerhards  Leben.   S.  7.S. 

.ndwig:  Reinick«,  !»olIt  ich  meinem  Gott  nicht  singen?  S.  74. 

*tto  Hardeland,  Paol  Gerhardt  der  liebliche  Sänger  unserer  Kirche.  S.  74. 

»r.  Hermann  Gebhardt,  Panlns  Gerhardt  der  Streiter  mid  Sänger  der 

vangeIiFi'li-l-,i(lir]-i.-.i'li":i  Kirche.    S.  74. 

Tof.  D.  Paol  Wernle,  Paolos  Gerhardt.  S.  76. 

[erauu»  Joiephson,  Fun]  Gerhsrilt  8.  75—76. 

nllus  Kaftan,  Jesns  und  Paulus.    S.  76—78. 

1-of.  Dr.  Heinrieh  OefTlieiu  Praktische  Fragen  des  modernen  Christentums. 
.  78—80.  (Naumann.) 

mHt  Menmaan,  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experinieiitelle  ndagogik 

od  ihre  psychologischen  Urundlaeen.  ä.  148—149. 

dolf  Pohlmann,  Experimenteue  Betrüge  sar  Lehre  ?om  GedKebtnis. 

I4*t   1n(t.  'f.nb.iien.) 
o^ef  Jtikel,  ine  Freineit  des  menschlichen  Willens.   S.  IdO. 
irof.  Dr.  8tier-8omlo.  Politik.  8.  160-151 

•r.  A.  Neuland,  Der  Weer  zur  ünirersitlt.    S.  Inl— 153 

T.  August  Vogel,  Überblick  über  die  Geschichte  der  i  hilosoiihie  in  ibieu 

itoressantesten  Problemen.   I.  TeiJ.   S.  152. 

•r.  A.  6ille«  Philosophisches  Lesebnoh  in  sjsteaatisoher  Anordannir. 

.  152-m  rorimm.i 

f.  Lic.  Tran»,  Die  Wunder  im  neuen  Testament.    S.  153 — 154. 
rof.  D.  Gnnkel,  Elias,  Jabve  und  Baal.  S.  154— l&ö.  (Naumann.) 
Bei«,  Unsere  reHgiOton  Ersiebar.  8.  166—167.  (Weltnr.) 

T.  Gustav  Kotlisteln.  f'nti  rrcht  im  Alten  Testament.    S.  157-  l.'S'. 
aator  prim.  Bode,  Mehr  Freudigkeit,  mehr  Freiheit  im  Religionsunterricht. 
.  168.  (Tö^el.) 

rnnt  Frilnkel,  T'ber  Vorstellungselemente  und  .Aufmerksamkeit.  S.  223. 
»r.  .f.  Köhler,  2ur  Einführung  in  die  cxper.  Psychologie.  S.  22.3.  (M.  Lobsien.) 
.  Flttgel,  Monismus  und  Theologie.   S.  223-224. 

'riTatdozent  Llc.  K.  Otto,  Natumlipti^rh*  nml  rpli[Hr.He  Weltan.sicht.  .S.  224. 
'rof.  Dr.  W.  Rein,  Gmndris.s  der  Lthik  iiui  Beziehung  auf  das  Leben  der 
egenwart.   S.  224. 

'ers.,  Enoyklopädisches  Handbuch  der  Pädagogik.       224  —225. 

»r.  Paul  Barth,  Die  Elemente  der  Erziehuni^?-  und  Unterrichtslehre. 

.  226-228. 

0.  Beetz,  Einführung  in  die  moderne  Psychologie.  8.  228.  (M.  Schilling.) 
»r.  OustAT  Herherieh,  Entwurf  zu  einem  Lehiplan  für  die  Obenealschiue. 


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—  IV  - 


46.  Prof.  Dr.  Paul  Fftnter,  Anü-Boethe!  8.  m.    (K.  Needou.; 

47.  H9lMlt  Wandbilder  fttr  den  Anaduiiiangs-  und  Spradnutamdil  FBnfle 

Srrie:  Hlntt  XVIII:  K^n     S.  226-230.  (Schöne.) 
.40.  Dt.  kaii  Plötz.  Auszug  aus  der  alten,  mittleren  und  neueren  Geschichte.  S.230. 

49.  Alfons  Bock,  Hellas  und  Rom.   S.  230-2:^1. 

oO.  ZIebftrth.  Kultnrbilder  au»  griechischen  Stiulteu.   S.  231. 

öl.  F.  T.  Diinu,  Pompeji,  eine  hellenistische  Stadt  in  Italien.  S.  231. 

52.  DaenoU,  Geschichte  der  Vereinigten  Staaten  von  Amenka.  8.  881. 

53.  M.  (i.  Schmidt,  Geschichte  des  Welthandel--.    S  2.H1. 

64.  Dr.  K*  Roth.  Geschichte  der  christlichen  liftlkanötaaten.   S.  231, 

55.  Dr.  Reinhold  GOnther,  Deutsche  Kulturgeschichte.   S.  231. 

fi6.  Dr.  Fr.  Kenbaaer,  Oeschichtsatlas  zu  dem  Lehrbuch  der  Geaehiehte  £ttr 

höhere  fvehranstalten.   S.  231.  (Stern.) 
57.  K.  Haupt iiiaun,  Nfttionale  Erdkunde.    Teil  II.   S,  231—232. 
68.  Dr.  K.  iicliBieUlei  DeatscUand  nach  methodiaobea  Geaichtapnnkten  für 

Sehdler  bsbefw  Lehranttalten.  S.  888.  (ZMiniiidL) 

50.  Prof. Dr.  PanlGIgevlns,  nif>iandwirtMha(tileheNatnrkiuida.S.8B8^-S8S.(Baa.) 
60.  A.  FabHt«  Praktische  Krsiehonff.  S.  888.  ^rättig.) 

81.  ]Nf.AlUBmM,Di6Knaben]i8n&rbeHtoderheQtf9«nKRid^ 

62.  Prof.  Dr.  F.  Menmann,  Intelliiretiz  nml  Wille.   S.  234. 

63.  Dr.  Fr.  W.  Förster,  Schule  und  Charaltter.  S.  234.  (Sclnlling.) 

64.  Karl  Hemprieh,  Otto  Flügels  Lehen  und  Schriften.  S.  234—236.  (Blttthgea.) 
66.  Jun^^tiäch-p^vchiatrische  Qrettafnffen,IILBaDd,Heft8:  DieZwangi^findahiinc. 

S.  23Ö--237."  (PietMch.) 

66.  Karl  Roller,  Hausaufgaben  und  hdhere  Scholen.  S.  237. 

67.  Pv-  ünv'  indi.scheu  und  die  deutschen  Klassiker    S  2H7-  239.  (Deiie.) 

68.  Paul  l.  F.  Schulz,  Unsere  Zierpflanzen.   S.  2aii.  iFries.j 

6U.  Prof.  Jost,  Charakterbildung  und  Schnlleben  oder  die  Lehre  von  der  Zucht.  S.  318. 

70.  Dr.  Stande  und  Dr.  Göpfert,  Leaebnoh  fttr  den  Dentachen  QeaehichtniBtei^ 
rieht,  Teil  in/IV.   S.  318. 

71.  Müller  A  Völker,  Geschichte.    S.  318. 

72.  Uelnrieh  Heine.  Kaisers  Bilder  und  Lebensbeschreibungen  ans  der  Welt* 

rsbiehte.   8.  818—819.   (Hemprich  ) 
V.  SoTfllitz,  Handbuch  <li  r  r,,rir.niphie    S  P>19— 320.  (Zemmrich.) 
74.  M.  Uemprich,  Winke  zur  üründong  und  Leitung  von  JugendTereinignngea. 

•  8.  396.  (Franke.) 
7n  ThcDdar  Paul  Tol^  Hein  Kind.  8.  886-887.  (Blttthgin.) 

76.  i'eutscijeh  Lesebuch. 

77.  Leonhard,  Der  dentMiie  Aufsatz  auf  der  Mittelstufe.  S.  397. 

7&  Ewald,  Wegweiser  mr  Eniehong  einM  adbatiiidlgeii  daiitaohiB  Sehftlar- 

anfsatzes.  S.  397 

79.  Reiff,  Praktische  Kunsterziehung.  S.  397—398.  (Fr.  Schilling^ 

80.  J.  F.  HerbartK  sämtliche  Werke.   Band  14  m  15    S.  466—46(8.  (Pranke.) 

81.  Dr.  Kurt  üeiiHler,  Moderne  Verimmgen  auf  jihilosophisch -mathematischen 
Gebieten.    S.  466—467.  (Geissler.) 

88.  Friedrich  Ranaefe^  Mängel  der  AnaehaaiiBgsbilder  and  die  StoiDahimittel. 
8.  467 — 468. 

8!'    W,  Krück,  Wie  ich  mit  meinen  Kleinen  rechne.    S.  468. 
84.  Uermann  HaaM»  Zwc  Methodik  des  eiaten  Bechennaterdehtea.  S.  im-AßH, 
(Hemprich.) 


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A.  Abhauüluugeu. 

L 

Lehrerpersönlichkeit.') 

Von  Dr.  M.  Sohllling  ia  Roclüitz. 

In  Zeiten  grosser  Bewegung  wird  die  Fahne  des  Schlagworts 
"gepflanzt.  Dies  geschieht  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der  Pohtik, 
idern  auf  allen  Gebieten  des  öffentlichen  Lebens.  Schlagwörter 
rden  zu  F^eibezeichnungen.  Das  Schlagwort  ist  ein  Schein- 
rfer,  der  nur  einzelne  Streifen  einer  Landschaft  erhellt  Wer  die 
eifen  für  das  Ganze  nimmt,  wird  getäuscht  und  irregeleitet  Im 
tilagworte  kommt  ein  starkes  Verlangen  nach  Befreiung  von  einem 
lel,  oder  nach  dem  Besitz  eines  Gutes  zum  Ausdruck.  Ein  Übel 
'd  zu  dem  Übel,  ein  Gut  zu  dem  Guten,  zum  höchsten  Gute, 
s  Schlagwort  ist  ein  weites  Gedankengewand;  in  seinen  Falten 
nnen  tausend  individuelle  Wünsche  und  Auffassungen  sich  bergen ; 
her  bannt  es  die  Massen  in  seinen  Zauber.  Es  erleuchtet  blitz- 
ig, aber  es  verhüllt  auch;  es  lockt  den  Blick  in  weite  Fernen 
d  blendet  das  Auge  für  das  Nächstliegende. 

Nicht  darf  verkannt  werden,  dass  ein  jg;ltteklich  geprägtes  Wort, 
3  die  Aufmerksamkeit  auf  ein  hohes  Ziel  lenkt,  Grosses  zu  wirken 
mag:  es  eint  die  Auseinanderstrebenden,  sammelt  die  zerstreuten 
mpfcr  TU  wuchtigem  Verstösse.  Doch  ebenso  wichtig  wie  solche 
•rstösse  ist  der  Überblick  über  das  Ganze  der  Gefechtslage  und 
s  verständige,  treue  und  zahe  Festhalten  an  dem  bereits  Er- 
igenen.  Das  Schlagwort  drängt  nur  in  einer  Richtung  vorwärts; 
i-ht  wird  dabei  die  Fühlung  mit  dem  Ganzen  verloren.  £in< 
ti^keit  wird  zur  Abseitigkeit. 

In  der  pädagogischen  Presse  und  Literatur  begegnet  man  jetzt 
ir  oft  dem  Worte  Lehreroersönlichkeit  Die  Lehrerpersönlichkeit 
ihrem  Verhältnisse  zur  Unterrichtsmethode,  zur  Schul- 


*)  Eine  Ansprache ,  gehalten  auf  dcr^  i^Iauptkooferenz  des  Scholinspektionsbczirks 
cUHt  am  15.  September  1908. 

FldHMMblMta.  XXX.  L  1 


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aufsieht  und  zu  dem  Erzieh u  05:^5 ziel:  unter  diese  drei  Ge- 
sichtspunkte lassen  sich  die  verschiedenen  Meinuni:,'en,  Wiinsche  und 
Forderungcii  zusammenfassen,  die  sich  an  jenes  VVort  knüpfen. 

Bei  dem  Worte  Persönlichkeit  wird  nicht  immer  an  dieselbe 
Sache  gedacht  Manche  benennen  schon  die  Eigentümlichkeiten 
eines  Menschen  damit:  sie  verwechseln  Individualität  und  Persön- 
lichkeit. Wir  Wüllen  dabei  an  die  sittliche  Persönlichkeit  denken, 
deren  Wollen  auf  sittliche  Urteile  gegründet  und  von  sitthciien 
Grnindsätzen  beherrscht  wird»  die  ein  in  sich  geschlossenes  har- 
monisches Gefiige  bilden.  Der  Begriff  der  sittlichen  Persönlichkeit 
ist  ein  Idcalbcg^riff.  Die  Fordcrun^^cn  dieses  Ideals  ert^ehen  als 
zwingende  und  bindende  h  orderungen  an  alle  Menschen  ohne  Unter* 
schied  des  Berufes  und  Standes. 

In  dem  Worte  „Lehrerpersönlichkeit"  tritt  aber  zu  dem  Be- 
griffe  der  Persönlichkeit  etwas  Besonderes,  etwas  auf  den  Beruf 
Be/ücjlichcs,  was  diese  Persönlichkeit  von  allen  anderen  unterscheidet. 
In  keinem  anderen  Berufe  ist  das  allgemein  sittliclie  Ideal  so  eng 
mit  dem  Berufsideale  verbunden,  wie  in  dem  Berufe  des  Lehrers 
imd  des  Geistlichen.  Daher  haben  in  keinem  anderen  Stande  Mangel 
der  sittlichen  Persönlichkeit  so  nachteilige  Wirkungen  auf  die  Berufe- 
erfüUung,  als  bei  den  genannten;  daher  wird  auch  dem  Lehrer  wie 
dem  Geistlichen  die  Fähigkeit  zur  Ausübung  des  Berufs  abg^esprochen, 
wo  unter  sonst  gleichen  Verhältnissen  andere  Berufe  nocli  ausgeübt 
werden  dürfen.  Jener  enge  Zusammenhang  mrkt  hinein  in  die 
bürgerlichen  Verhältnisse  und  drängt  nach  mancher  Seite  hin  in 
dne  Ausnahmestellung.  Diese  Ausnahmestellung  bedeutet  an  sich 
noch  keine  bürgcrliclic  Dei^radierung,  als  welche  sie  Öfters  aufgefasst 
wird.  Von  höherem  Gesichtspunkte  aus  kann  man  vielmehr  darin 
eine  besondere  Hochhaltung  und  Wertschätzung  des  Standes  er- 
blicken. 

Gehen  wir  nun  auf  die  Lehrerpersönlichkeit  etwas  näher  ein! 
Die  Lehrerpersönlichkeit  und  die  Unterrichtsmethode.  Da 
hören  wir  /..  B. :  „Von  einer  Persönlichkeit  verlangen  wir  nichts 
aiideres,  als  einen  braven,  ehrlichen,  strebsamen,  selbstherrlichen 
Menschen  mit  einer  bestimmten  Summe  von  Kenntnissen  für  seinen 
Beruf;"  oder:  „einen  vollen  Menschen  eignen  Gepräges  und  eigner 
Selbstbestimmung,  der  denken  Irann,  und  mit  einer  starken  Seele, 
einem  starken  Wollen  ausi^erusiet  ist  In  diesem  Sinne  muss  der 
Lehrer  eine  Persönlichkeit  sein."  —  „Jeder  Mensch  denkt  ver« 
schieden;  darum  passt  auch  nicht  eine  Methode  für  alle."  So  nach 
einem  Berichte  der  Fädag.  Zeitung  (1906,  No.  15)  Prof.  Dr.  Ludwig 
Gurlitt  in  einem  Vortraf^e  vor  einer  ausserordentlich  stark  besuchten 
Versammlung  des  Berliner  Lchrervereins.  Von  einer  anderen  Seite 
hören  wir:  „Mehr  PersönUchkeit  und  weniger  Methode  1  Ihr 
Methodiker  seid  kalt  und  herzlos;  denn  euer  Mechanismus  ist  die 
Sünde  wider  den  Geist  des  Unterrichts  und  der  Erziehung.  • .  . 


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Unterriclitskunst  ist  wie  die  Bühnenkunst  in  so  vielen  Fällen 
Mechanismus  mit  dekorativem  Schimmer.  Die  wahre  Kunst 
n  Schöpfungsakt  Sie  steht  über  Anweisungen  und  Theorien 
ist  ein  Feind  jeder  Schablone.  Ihre  Ausübung  ist  ganz 
nlichkeitssache'*  (O.  Seydel  in  der  Pädag.  Zeltung  1905» 
2). 

n  diesen  Aussprüchen  kommen  fol;^cnde  Auffassungen  zum 
rucke:  Persönlichkeit  ist  Ungebundenheit,  Freiheit,  Selbst- 
:hkeit;  Methode  bedeutet  Grebundenheit ,  Mechanismus, 
>lone.  Demnach  stehen  Persönlichkeit  und  Methode  in  einem 
asatze.  —  Persönlichkeit  ist  inbe/.u^  ;iuf  den  einzelnen  Einzig- 
:cit,  inbezug  auf  alle  unbegrenzte  .Mannigfaltigkeit.  Daher  gibt 
•  viel  Methoden  als  es  Lehrer  gibt.  (Mit  demselben  Rechte 
:e  man  sagen:  daher  muss  es  so  viel  Methoden  geben,  als  es 
lehende  Individuen  gibt)  Allgemein  bindende  Vorschriften 
vom  ÜbeL  Sie  vergewaltigen  den  Lehrer  und  Erzieher  auf 
inen,  den  Lernenden  Ufid  Zögling  auf  der  anderen  Seite. 

A'ären  die«;e  .Auffassungen  richtig,  dann  müssten  die  Schulen, 
enon  .Methode  nichts  gilt,  die  besten  Erfolge  und  die  meisten 
gediegensten  Lehrerpersönlichkeiten  aufweisen,  die  Schulen  aber, 
iich  eines  methodischen  Verfahrens  befleissigen,  gedankenlose 
iklaven  und  nur  dressierte  Zöglinge  erzeugen.  Dem  wider- 
hen  die  Tatsach <^:i.  Wenn  jene  Auffassungen  über  da.s  Ver- 
ls  zwischen  Lehrerpersönlichkeit  und  Methode  richtig  waren, 

müssten  alle  hervorragenden  Pädagogen  \'erächter  der  Lehrer- 
inlichkeit  gewesen  sein,  denn  ae  alle  haben  es  als  eine  der 
^hmsten  Aufgaben  erachtet,  bestimmte  Normen  für  das  Lehr- 
hren  zu  erforschen  ,  rlann  auch  müssten  wir  die  eifrige  Arbeit 
Gegenwart  auf  dem  Gebiete  der  experimentellen  Psychologie 

die  Erforschung  der  seelischen  Entwicklung  nicht  nur  als 
klos,  sondern  geradezu  als  verwerflich  erklären,  denn  diese 
'ebungen  sind  auf  Feststellung  von  Normen  für  das  Lehrverfahren 
htct  und  würden  folglich  ebenfalls  zur  Knebelung  der  Lehrcr- 
inlichkeit  beitragen. 

Dass  die  Persönlichkeitspädagogen  der  oben  gekenn7eichncten 
tung  sich  starker  Einseitigkeiten  und  Übertreibungen  schuldig 
len,  bedarf  kaum  eines  Nachweises.  Ihre  Behauptungen  können 
iT  vor  der  Ethik,  noch  vor  der  Logik  und  Psychologie  bestehen. 

könnte  deshalb  darüber  hinv.  ersehen  und  diese  Richtung  sich 
t  überlassen,  wenn  nicht  .\n/,eichen  vorhanden  wären,  dnss  ihre 
:hauungen  Kingan;^  finden  und  Verwirrung  anzurichten  beginnen, 
.erleiien  zu  dem  Irrtum,  dass  der  Lehrer  das  Mass  aller  Dinge 
nterricht  und  Erziehung  nur  in  sich  zu  suchen  habe  und  da 

finden  könne. 

Peisönlichkeit  ist  nicht  Ungebundenheit  und  Methode  nicht 


Schablone.')  Wer  die  Methode  als  Schablone  auffasst,  oder  wer  sie 
dazu  macht,  beweist  nur,  dass  er  nicht  Pädagog  ist.  Wem 
methodische  Normen  überhaupt  nur  äusserer  Zwang,  blosse  PoUzei- 
vorschriften  sind,  dem  können  sie  allerdings  auch  nicht  zu  einem 
Bestandteile  seiner  Persönlichkeit  werden,  der  entbehrt  aber  auch 
eines  charakteristischen  Merkmals  der  Lehrerpersönlichkeit.  Wenn 
die  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  auf  ethischem  und  psycho- 
logischem (jrebiete  nicht  auf  gewisse  Normen  zurückgeführt  werden 
könnte,  danfi  mOsste  diese  Mannigfaltigkeit  verwirren  und  ein  ztel> 
bewusstes  und  zielstrebiges  Handeln  des  Lehrers  und  £rziehers  im 
Keime  erstickt  werden.  Wenn  die  Persönlichkeit  im  Sinne  blosser 
Individualität  schon  die  Methode  wäre,  dann  wäre  ein  jeder  Lehrer 
ganz  auf  sich  gestellt,  ein  jeder  müsste  immer  wieder  von  vom 
beginnen;  was  andere  erfahren,  gedacht  und  erforscht  haben,  wäre 
fiir  ihn  unmassgeblich,  also  so  gut  wie  nicht  vorhanden.  Ein  Fort' 
schritt  wäre  danti  nicht  möglich,  nach  den  Anschauungen  gewisser 
Persönlichkeitspädagogen  aber  auch  nicht  nötig. 

Persönlichkeit  und  Methode  bilden  keinen  Gegensatz;  auch  ist 
mit  der  Persönlichkeit  die  Methode  nicht  schon  gegeben :  wohl  aber 
soll  alles,  was  man  mit  dem  Worte  Methode  zusammenfasst,  als 
Ei^ebnis  gründlicher  Erwägungen  und  emster  Selbstbildung  Sadw 
der  Überzeugung  werden,  in  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  an- 
gehen, also  nicht  etwas  nur  Angelerntes  und  handwerksmässig  An- 
zuwendendes sein.  Methode  ist  ein  wesentlicher  Bestandteil  der 
Lehrerpersönlichkeit  Persönlich  wird  nur,  wovon  wir  überzeugt 
sind*  Mit  der  Lehrerpersönlichkeit  werden  daher  nur  solche 
methodische  Vorschriften  in  Widerstreit  geraten,  die  wider  besseres 
Weissen  gehen,  den  Tadel  eines  feineren,  schärferen  pädagogischen 
Gewissens  sich  zuziehen.  Das  pädai^nfTi-sche  Gewissen  ist  die 
Lehrerpersönlichkeit.  Ks  wird  nicht  angeboren,  sondern  durch  sorg» 
fältiges  Studium  und  prüfende  Prasds  erworben.  Je  tiefer  und  um- 
fassender das  Studium,  je  feinfühliger  die  Pkaxis,  desto  schärfer  das 
Gewissen  auch  in  methodischen  Fragen. 

Weil  nun  das  pädagogische  Gewissen  erworben  und  infolge- 
dessen bei  verschiedenen  Personen  verschiedene  Grade  hat,  ist  eine 
gewisse  Unterordnung  aucli  m  lueLhodischen  Dingen  luciiL  wieder 
das  Gewissen.  Der  angehende  Lehrer  muss  eine  solche  Unter- 
Ordnung  geradezu  als  Wohltat  empfinden,  la  sie  ihn  in  einer  Ver* 
antworüichkeit  entlastet,  die  er  noch  nicht  voll  tragen  kann.  Je 
weiter  er  sich  zur  Überzeugung  heraufarbeitet,  desto  mehr  wird 
das  ursprünglich  fremde  (jebot  zum  Sclbstgebot,  desto  mehr 
schwindet  da»  Gefiihl  der  Unterordnung  und  wächst  bei  normalem 
Empfinden  das  VerantwortlichkeitsgefiihL   Die  LdirerpefSönlichkeit 

>)  Vgl.  Pädagogische  Studien  1904,  S.  81  ff.  (Hefi  2);  Individualit&t  und 
Persttalichkeit. 


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—   5  — 


lichts  Fertiges,  sie  ist  und  soll  ein  beständig  Wachsendes  sein, 
r   fertig^  i-^t    dem  ist  niclits  recht  zu  maclien,  ein  Werdender 
X  immer  dankbar  sein." 


'Mit  dem  Schlagworte  „I.chrerpersönlichkeit"  soll  au-h  das 
biet  der  Schulaufsicht  getroffen  werden.  Wenn  man  memt, 
SS  Aufsicht  irgend  welcher  Art,  Aufsicht  an  sich  schon  eine  Be- 
digung  der  Lehrerpersönlichkeit  sei,  so  geht  man  gewiss  zu  weit 
sgreiflich  ist,  dass  der  Lehrer  in  diesem  Punkte  besonders 
npfindlich  ist  und  empfindlich  sein  muss.  Jede  Sc  lnvächung  der 
utorität  trifft  den  Hauptnerv  seiner  Wirksamkeit,  verletzt  oder 
iterbricht  die  Leitungsbahn,  die  ihn  mit  dem  Zöghnge  verbindet, 
»er  Empfindlichkeitsgrad  hängt  unter  normalen  Verältnissen  ab 
on  der  Stärke  des  Verantwortlichkeitsgefuhls.  Wie  das  Ver- 
ntworllichkeitsgcfühl  des  einzelnen,  so  wächst  das  eines  ganzen 
itandes  im  Verlauf  seiner  Entwicklunjr.    Ks  wird  zur  Standesehre. 

Je  lebendiger  das  Verantwortlichkeitsgcfuhl  ist,  desto  zarter 
muss  die  Aufsicht  ausgeübt  werden.   Aber  sdbit  das  empfindlichste 
Verantwortlichkeitsgeluhl  braucht  die  Aufsicht  an  sich  nicht  als 
entwürdigend  anzusehen.     Die  Schule  ist  eine  Einrichtung  des 
Staates,  ein  Faktor  der  religiösen  Volkserziehung,  ein  wichtiges 
Selbstverwaitungsgebiet    der    Gemeinden,    eine    Ergänzung  der 
FamiUenerziehung.    Der  Staat  und  die  Gemeinde  muss  die  Ver- 
antwortung daßir  tragen,  dass  diese  Einrichtung  ihren  Zweck  nicht 
veifdüt,   die  Kirche   und   die  Familie    haben    ein  wesentliches 
und  natürliches  Interc'^se  daran.    Diese  Verantwortung  kann  nur  in 
der  Form  einer  Aulsichtsführunfr  über  das  Schulwesen  in  die  Er- 
scheinung treten.    Aufgabe  des  Staates  iSl  es,  dafür  zu  sorgen,  dass 
die  Au&icht  nicht  ein  Hemmnis  der  Entwicidung  wird,  dass  sie 
nicht  in  Formen  ausgeübt  wird,  durch  die  die  Lehrerschaft  in  ihrer 
Wirksamkeit  beeinträchtigt  und  in  ihrem  Vorantwortlichkeitsgefühle 
gekränkt  wird.    P^s  ist  ijewiss  nicht  leicht,  einen  siciieren  Massstab 
für  die  Stärke  des  Verantwortlichkeitsgefühls  eines  f^anzen  Standes 
ZU  gewiiuiea  Die  Erfahrung  aber  lehrt,  dass  entgegengebrachtes 
Vertrauen  starke  Kräfte  auslöst.    Im  Lefarerstande  hegen  Kräfte, 
die  ein  solches  Vertrauen  rechtfertigen. 

Es  wird  gesaf^,  gerade  das  Beste,  was  der  Lehrer  geben  kann, 
entzieht  sich  der  Aufsicht  und  kann  durch  keine  Prüfung  festgestellt 
und  gesicbert  werden.  Das  kann  doch  nur  heissen:  Das  Beste,  was 
der  Lehrer  zu  geben  hat,  kann  weder  durch  Aufsicht,  noch  durch 
Prüfimgsvorschriften  erzeugt  werden.  Das  ist  nicht  zu  bestreiten. 
Einem  geiibten  Blicke  entgeht  es  aber  wohl  kaum,  ob  der  Lehrer 
ein  Hera  für  seinen  Beruf  und  für  die  Kinder  hat,  oder  nicht;  ob 
die  Kinder  sich  unbefangen  geben  und  gern  ihm  folgen,  oder  ob 


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knechtische  Furcht  sie  behercscht;  ob  der  Unterricht  das  organische 
Wachsen  der  Seele  fordert,  oder  eitel  Drill  ist.  Das  Her/  kann 
freilicli  durch  keine  Aufsicht  ersetzt,  und  das  echte  päda;^o<;ische 
Schaffen  nicht  durch  Anweisungen  und  Vorschriften  von  Fall  zu  Fall 
geregelt  und  ermöglicht  werden;  aber  es  ist  ebenso  widitig,  zu 
wissen,  was  ein  Lelu'er  nicht  vermag,  als  zu  wissen,  was  er  vermag. 
Eine  verständige  Beratung  kann  die  üblen  Folgen  von  Mängeln  der 
Lehrerpersönlichkeit  abschwächen,  wenn  auch  nie  ganz  aufheben. 
Dass  solche  Mängel  bestehen,  wird  niemand  bestreiten  wollen.  Sie 
bestehen  so  gewiss,  ab  wir  alle  eben  nur  Menschen  sind.  Im 
Interesse  seiner  selbst  und  wegen  der  Wichtigkeit  seiner  Aufgaben 
muss  der  Lehrerstand  wünschen,  dass  solche  Mängel  entdeckt  und 
ihre  Folgen  möglichst  abj^cschwächt  werden.  Lehrerpersönlichkeit 
und  Schulaufsicht  sind  nicht  geborene  Feinde,  sondern  natürliche 
und  notwendige  Bundesgenossen.  Nur  müssen  sie  sich  auch  wie 
Bundesgenossen  und  Kameraden  zueinander  stellen.  Wenn  die  Auf- 
sicht den  Charakter  pilichtbewussten  und  pflichtgetreuen  Zusammen- 
wirkens der  verantwortlichen  Faktoren  trä^^ft,  kann  durch  sie  die 
Lehrerpersönlichkeit  nicht  gekränkt,  sondern  nur  gestärkt  und  ge- 
hoben werden. 

Es  wäre  falsch,  die  in  neuerer  Zeit  hervortretende  Betonung 
der  Lehrerpersönlichkeit  schlechthin  als  Standeseitelkeit,  als  Ausfluss 

eines  überreizten  Standesfjefiihls  zu  betrachten  und  zu  verurteilen; 
ebenso  falsch  aber,  ja  sot^ar  zweckwidrig  und  c^efahrlich  ist  es,  zu 
weitgehende  Folgerungen  daran  zu  knüpfen  und  die  Persönlichkeit 
als  einen  gänzlich  unumschränkten  Herrscher  sich  zu  denken.  Wie 
die  sittliche  Persönlichkeit  an  Normen  gebunden  und  eben  durch 
diese  Gebundenheit  erst  Persönlichkeit  ist,  so  auch  dir  f  chrer- 
persönlichkeit.  Hüten  wir^uns  vor  Ubertreibunfjen,  die  von  niemand 
geglaubt  werden  und  die  Anerkennung  berechtigter  Wünsche  und 
Forderungen  nur  verhindern.  Die  besonnene  Betonung  des  Rechts 
der  Lehrerpersönlichkeit  muss  als  ein  gutes  Zeichen  der  Zeit  auf- 
gcfasst  werden,  denn  in.  der  Lehrerpersönlichkeit  liegt  ein  Haupt> 
faktor  der  Erziehung. 


Es  hat  wohl  kaum  eine  Zeit  L,a'i^eben,  die  den  Pünfluss  der 
Lehrerjjcrsönlichkeit  auf  die  Erreichung  des  Erziehungsziels 
verkannt  hatj  aber  es  hat  Zeiten  gegeben,  in  denen  dieser  Einfluss 
nicht  hinreichend  wirksam  werden  konnte,  oder  in  falscher  Richtung 
sich  ii^eltend  machte.  Es  kommen  hierbei  die  Staats-,  sozial-  und 
schulpolitischen  Anschauungen ,  die  Bildungs-  und  Erziehungsideale 
der  verschiedenen  Zeiten,  besonders  auch  Fragen  der  Lehrerbildung, 
der  sozialen  und  wirtschaftlichen  Lage  des  Lehrerstandes  in  Betracht 
Nachdem  die  Bildung  des  sittlich -religiösen  Charakters,  oder  die 


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»önlichkeitsbildun^  als  oberstes  Erziehung^sziel  mehr  und  mehr 
Tkennunff  srefunden  hat,  ist  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  in 
ste  Beziehung  zu  seinen  Beruisaufgaben  gerückt.  Nur  wer  selbst 
der  Bahn  nach  dem  Ideal  der  Persönlichkeit  wandelt;  kann  mit 
>lg  in  der  Richtung  jenes  Erziehungszieles  wirken.  Nur  Charaktere 
nen  Charaktere  bilden  Deshnlh  ist  die  Betonung  der  Lehrer- 
iönlichkeit  mit  FtrinJcn  zu  bc^russen;  doch  darf  man  Persön- 
keit  nicht  mit  iiidividuaiit«it  verwechseln,  wie  manche  tun.  Der 
rifr  der  Lehrerpefsönltchkeit  schliesst  die  sittliche  Persönlichkeit 

dazu  aber  alles  das,  was  den  Lehrer  und  Erzieher  ausmacht, 

das  ist  nicht  wenig.  Wenn  die  Lehrerschaft  das  Recht  der 
rerpersönlichkeit  geltend  macht,  so  fordert  sie  im  letzten  Urunde 
it  mehr  und  nicht  weniger,  als  dass  der  Lehrer  ein  sittlicher 
rakter  sei,  dass  er  mit  einer  zeitgemassen  allgemeinen  Bildung 

mit  den  Hilfsinittcln  einer  wissenschaftlich  gut  begründeten  und 
:enschaftlich  fortschreitenden  Pädagogik  ausgerüstet  sei;  sie 
ert  damit  aber  auch,  dass  der  Lehrer  in  seiner  Selbständigkeit 
it  weiter  beschränkt  werde,  als  gemeinsame  planqiässige  Arbeit 

die  Rücksicht  auf  berechtigte  Interessen  und  Anbrüche  des 
ttes,  der  Kirche,  der  Gemeinde  und  der  Familie  unbedingt  nötig 
hen.  Mit  dem  Ansprüche  auf  ein  Recht  der  Lehrerpersönlichkeit 
:nüpft  sich  ferner  der  Anspruch  auf  Vertrauen.  Die  Stellung  des 
rcrs  als  Jugenderziehers  ist  eine  Vertrauensstellung.    Der  Grad 

entgegengebrachten  Vertrauens  ist  ein  Massstab  nir  die  Wert- 
itzung  einer  Person,  oder  eines  Standes  und  somit  ein  Massstab 
die  Ehre,  die  man  einem  Stande,  oder  einer  Person  zubilligt, 
önliche  Khre  kann  nur  durch  strenge  Selbstzucht,  Standesehrc 
durch  strenge  Standeszucht  erworben  und  gewahrt  werden.  So 

der  Anspruch  auf  das  Recht  der  Lehrerpersönlichkeit  zugleich 
Pflicht  der  Selbstzucht  und  der  Standeazucht  auf.  Durch  Söss- 
en kränkt  ein  andrer  meine  Ehre,  durch  Missbrauch  des  Ver- 
ens  verletze  ich  sie  selbst.  Beides  ist  scfaUmm;  das  Schlimmere 
Missbraucii  geschenkten  Vertrauens. 

Wer  könnte  von  sich  behaupten,  eine  vollendete  Lehrer- 
önlichkeit  zu  sein?  Darf  man  deshalb  von  einem  Rechte  der 
rerpersönlichkeit  sprechen?  Persönlichkeit  ist  Wille.  Alle 
Gerungen,  die  sich  an  den  Willen  richten,  müssen  die  Möglichkeit 

Könnens  voraussetzen,  sonst  sind  sie  unvernünftig.  Ideale  sind 
iste  Willensforderungen.    Nur  schrittweise  nähern  wir  uns  ihnen. 

aUmähUdie  Annäherung  an  das  Ideal  ist  ein  Wachsen,  ein  Sich- 
nckeln.  Wer  im  Zustande  des  Wachsens  sich  befindet,  muss 
da.K  c^enommen  werden,  was  er  werden  will,  d.  h.  es  müssen 

alle  Bedingungen  gewährt  werden ,  dem  Ideale  nachzustreben 

sich  ihm  anzugleichen.  Persönlichkeit  ist  Selbständigkeit  und 
*dei  auf  aOen  &ufen  der  Entwicklung  ist  dem  Rechnung  zu 
en.  Das  ist  schon  in  der  Erziehung  der  Unmündigen  zu  berock* 


sichtigen.  Durch  Anregung  wahrer,  bildender  Selbsttätigkeit,  durch 
ein  verständiges  Gewährenlassen  innerhalb  notwendiger  Schranken 
entwickelt  sich  ein  gesundes  Selbstbewusstsein»  die  Voraussetzung 
der  Selbständigkeit.  Bei  solchem  Verfahren  sieht  der  weise  Er- 
zieher im  wachsenden  Knaben  den  künftig^en  Mann ;  seine  Haupt- 
erziehungssorj^e  ist  darauf  frericlitet,  sicii  allmahUch  überflüssig  zu 
machen.  Ähnliches  geschieht  und  soll  g^chehen  durch  das  moderne 
staadidie  Verwaltungssystem,  das  eng  mit  der  Idee  der  Selbst- 
verwaltung verknüpft  ist  Freilich  wird  zwischen  Ideal  und  Wirk- 
lichkeit  immer  ein  Abstand  sein.  Sobald  sich  beide  decken,  hört 
ein  Ideal  auf,  Ideal  zu  sein;  es  muss  aber  durch  ein  neues  und 
höheres  Ideal  abgelöst  werden.  Ohne  Ideale  gibt  es  keine  Ent- 
wicklung, keine  Aufwärtsbewegung  vom  Unvollkommenen  zum  Voll- 
kommeneren. 

Lehrerpcrsönlichkdt  ist  ein  Idealbegriff.    Je  mehr  wir  die 

Lehrerpersönlichkeit  in  uns  verwirkHchen ,  desto  freier  werden  wir 
in  der  Handhabung  und  Betätigung  alles  dessen,  was  zur  Erfüllung 
unseres  Berufs  nach  der  Seite  des  Unterrichts  und  der  Erziehung 
erfordeilich  ist,  desto  mehr  muss  die  Aufsicht  sidi  zurückziehen, 
um  der  Selbständiglceit  weiteren  Spielraum  zu  gewahren.  Nicht 
wollen  wir  <las  hohe  Wort  I  ohrorprrsönlichkeit  -m  finem  blossen 
Schlagworte  und  zum  Deckmantel  der  Willkür  werden  lassen. 


August  Hermann  Niemeyers  Stellung  zu  Religion  und 

Religionsunterriclit') 

Eine  Stodi«  von  Uc.  Oieol.  Albsrl  KMsr,  Gymnaiialoberlchrer  in  Zitlatt  iS«. 

Die  den  Religionsunterricht  —  sowohl  in  der  Volksschule  als 
aucii  in  den  höheren  Schulen  —  betreffenden  Fragen  stehen  zur 
Zeit  im  Vordergrunde  des  öffentlichen  Interesses,  besonders  seit 
dem  bekannten  Antrage  der  Bremer  Lehrerschaft  (Mai  1906}  auf 


')  A.  H.  Nicmcyer,  Urenkel  A.  H.  Franckc.s,  gchorm  am  i.  Srptrmbcr  1754  in 
Halle,  I*rofcssor  und  Kanzler  der  L'nivcrsii;it,  Direktor  dt-r  Franckeschcn  Stiftungen  in 
Halle,  gestorben  den  7.  Juli  1828.  —  Verzeichnis  der  in  de-r  folpcndrn  Studio  vrr- 
wendeten  Schriften  Nietnej'crs:  I.  Grundsätze  der  Erziehung  und  des  Uolcrrichte«. 
8.  Aufl.  1S24  (  -  V.r.  I,  II,  III).  2.  Handbuch  für  christliche  Religionslehrer.  7.  Aull, 
1829  (=  Hd.  I,  II).  3.  Briefe  an  christliche  Religionslehrer.  1796.  3  Saramlongen 
(=.  Br.  I,  U,  III).  4.  Lchrboch  füx  die  oberen  Religionsklas$cn.  14.  Aufl.  ifaS 
Lb).  $.  Erllntcnide  Anmerkviifcn  und  ZotStie  m  dm  Lebriwch  Ar  die  obeicn 


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—  9  — 


tfernung  des  Rel^onsunterrichtes  aus  den  öffentlichen  Schulen. 

e  d icshr 7 ü etlichen  Fragen  haben  weit  über  den  Kreis  der  Srhn!- 
inner  hinaus  Interesse  und  zwar  berechtigtes  Interesse  j^cfunden. 
el  ist  dafür,  viel  ist  dagegen  geschrieben  worden.  Neben  Be- 
ienen  —  womit  nicht  nur  die  Fachleute  gemeint  sein  sollen  — 
ben  auch  Unberufene  sich  zum  Urteilen  veranlasst  gesehen.  Es 
nun  ohne  Frage  schwer,  beim  Streit  der  Meinungen  den  richtigen 
indort  zur  Beurteilung  zu  finden,  besonders  da  die  Verhandhingen 
:ht  immer  rein  sachlich  geführt  werden.  Motive  und  Stimmungen 
er  Art  spielen  dabei  eine  oft  unheilvolle  Rolle.  Individuelle  Er- 
mingen werden  zum  Schaden  der  Sache  generalisiert.  Zu  einer 
befangenen  Würdigung  und  sachgemässen  Lösung  der  in  Frage 
:henden  Probleme  bedarf  es  meines  Erachtens  einer  genauen 
inntnis  der  geschichtlichen  Entwicklung  des  gegenwärtigen  Standes 
s  Religionsunterrichtes.  Diese  notwendige  geschichtliche  Kenntnb 
ht  nicht  wenigen  ab,  die  sich  berufen  fühlen,  an  der  Diskussion 
ilzunehmen.  Man  kann  die  Gegenwart  nur  recht  verstehen  und 
der  Beseitigung  der  ihr  anhaftenden  Mängel  mitarbeiten,  wenn 
an  die  Vergangenheit  kennt.  Sonst  kommt  man  zu  leicht  in  die 
irfahr,  den  Boden  der  Wirklichkeit  unter  den  Füssen  zu  verlieren 
id  ins  Aschgrau  der  Theorie  zu  geraten. 

Unter  den  Männern  vergangener  Zeiten,  die  betrefl^  der  den 
angclischen  Religionsunterricht  berührenden  Fragen  gehört  zu 
?rden  verdienen,  darf  wohl  in  erster  Linie  A.  H.  Niemeyer  genannt 
*rden,  er,  „der  mit  dem  inneren  Berufe  zum  Pädagogen  ein  ebenso 
iches  Mass  tüchtiger  und  gründlicher  Bildung  in  den  verwandten 
ebieten  der  Philologie,  Philosophie  und  Theologie  verband" 
.  Georgiii  In  seinen  zahlreichen  pädagogischen  Schriften  ist  eine 
nie  von  Gedanken  über  den  Religionsunterricht  und  von  Rat- 
hlägen zu  seiner  erspriessliclien  Erteilung  enthalten.  Mit  Recht 
."trachtet  Herbart  Niemeyers  Hauptwerke:  Grundsatze  der  Erziehung 
id  des  Unterrichtes  „als  die  Summe  der  Pädagogik  der  Zeit,  als 
IS  Sicher-^te  und  Bewährteste,  als  das  allgemein  Verständliche  und 
Igemein  Anwendbare,  als  die  breite  und  feste  empirische  Basis 
r  die  Theorie  der  Erziehung".  Wir  haben  hier  „die  erste  wirklich 
'stematische  Darstellung  der  Pädagogik  auf  deutschem  Boden" 
!.  Hennecke).  Im  Ans<£luss  an  dieses  Hauptwerk  Niemeyers  und 
iter  Berücksichtigung  seiner  übrigen  oben  angeführten  Schriften 
)11  in  den  folgenden  Zeilen  Niemeyers  Stellung  zu  Religion  und 
eligionsunterricht  dargestellt  werden.  Dabei  ist  unter  Religions- 
iterricht   die  planmässige  religiöse  Belohnung  der  Jugend  im 

llipoMklassrn ,  nebst  einer  Abhandlung  über  die  Melhodik  des  Unti-rricht*;  f=  Erl. 
Lb.).  Dif  Litcr;itur  über  A.  H.  Nicniovcr  findet  sich  angegeben  vi.  a.  in  Kein, 
wyklopädischos  Handhurh  der  Pädagojjik ,  2.  Aufl.  1907,  in  der  rruU  stantischeD 
ralrnzyklopädie  Alf  Theologie  und  Kirche,  3.  Aufl.,  I4.  Band  und  ia  der  Allgemdncii 
eutschen  Biographie,  2J.  Bcuid. 


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—     lO  — 


Schulunterricht  —  inag  er  öffentlichen  oder  privaten  Charakter 
haben  —  verstanden,  nicht  in  dem  weiteren  Sinne,  wie  es  sich  auch 
bei  Niemcyer  findet,  der  in  sehr  anfechtbarer  Weise  alle  Tätigkeit 
des  Geistlichen  in  dem  Begriff  „Religionslehre"  zusammenfasst 

L 

Qher  RemiML 

Für  Nicmeyer  ist  die  Religion  zunächst  Gefühl.  Das  zeigen 
seine  Ausführungen  Gr.  I  §§  67  ff.  und  75  ff.  Damit  steht  Niemeyer 
auf  dem  Standpunkt  seines  grossen  Zeitgenossen  Friedrich  Schleier» 

macher,  nach  dem  ja  „die  Frömmigkeit  nie  für  sich  betrachtet  weder 
ein  Wissen  noch  ein  Tun ,  sondern  eine  Bestimmtheit  des  Gefühls 
oder  des  unmittelbaren  Selbstbewusslscins  ist  und  zwar  Hegt  hier 
das  Gefühl  der  schlechthinnigen  Abhängigkeit  vor".  (VgL  dazu 
Fr.  Schleiermacher,  Der  christliche  Glaube  usw.  §§  3  ff.)  Näher 
schildert  Niemeyer  dieses  Gefühl  als  „ein  geheimes  Ahnden  und 
Suchen  des  grossen  Unbekannten,  der  nicht  fern  von  jedem  mensch- 
lichen Gemüt  ist,  durch  den  und  in  dem  wir  leben  uiui  sind,  ein 
Gefühl,  in  dem  sich  Ehrfurcht,  Demut,  Bcwusstscin  der  Abhängigkeit 
mit  Liebe  und  Zutrauen  verbinden."  Gr.  I  §  77. 

Nach  Lb.  S.  1  hat  man  unter  Religion  überhaupt  den  Glauben 
an  Gott  und  das  Bewusstsein  unserer  Abhängigkeit  von  ihm  zu 
verstehen.  Das  „Religionsgefühl",  das  tief  in  der  menschlichen 
Natur  wurzelt,  ist,  wie  Nicmeyer  Lb.  S.  67  sagt,  „das  Gefühl  der 
Abliängigkeit  von  einem  selbst  unabhängigen  Wesen".  Weitere 
Aussprüche  dieser  Art  finden  sich  x.  B.  Gr.  n,  §  130;  Br.  n  S.  337; 
Hd.  I,  Sw  37  und  S.  63.  An  letzterer  Stelle  sagt  er  ricluii;:  „So 
weit  unsere  Nachrichten  von  dem  menschlichen  Geschlecht  hinauf- 
reichen, so  weit  zeii^cn  sich  auch  dunklere  oder  hellere  Spuren 
eines  frommen  Glaubens  oder  eines  Gefülils  der  Abhängigkeit  des 
Endlichen  vom  Unendlichen  und  je  mehr  sich  die  Kenntnis  von 
den  Erdbewohnern  erweitert,  desto  mehr  bestätigt  sich  diese  Be- 
merkung." 

Besonders  wichtig  für  die  Entstehung  der  Religion  ist  das 
Gefühl  der  Dankbarkeit  Hat  doch  nach  Nicmcycrs  Ansicht  die 
christliche  Religion  „ein  eigentümliches  Motiv  darin,  dass  sie  durch 
die  Anregung  des  edlen  Gefühls  der  Dankbarkeit  geneigt  macht 
zu  den  Absichten  eines  Wohltäters  mitzuwirken,  der  alles,  was  dem 
Menschen  teuer  ist.  selbst  Blut  und  Leben  aufi,^eopfert  liat,  um  eine 
Gesellschaft  zu  <:^ründen,  die  sich  durch  Reinheit  des  Wandels  von 
der  herrschenden  religiösen  Denkart  unterschiede".  Br.  II,  S.  295. 
Dieses  Gefühl  ist  „streng  genommen  in  keinem  einagen  Mensdien 
dasselbe,  das  in  einem  andern  ist".  Richtig  unterscheidet  Niemcyer 


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II  — 


ischen  dem  al^emein  religiösen  und  dem  spezifisch  christlichen 
fUhl  (Gr.  I,  S.  172;  II,  S.  438).    Es  ist  das  eine  Folge  seines 

)ssen  Vcrständni?;scs  für  den  Wert  der  ReliVionsp^eschichte.  wie  es 
5  in  seinen  Ausfühnuv^cn  über  allgemeine  und  besondere  ReUgnons- 
jchichte  Lb.  S.  67  h.  entgegentritt. 

Freilich  ist  das  Gefühl  nur  ein  Moment  im  Wesen  der  Religion, 
smeyer  ist  ab  Kind  seiner  Zeit  misstrauisch  gegen  eine  zu  starke, 
iscitiji^c    Beton- !n<^    des    (iefühls    in    der   Religion.     Gefühl  und 
hwärmcrci   iic^^cn  ihm   sehr  nahe  beieinander  (Br.  I,  S.  l65ff.; 
S.  330 ;  Gr.  I,  'S  i  i6j.    Religiöses  Geluhl  ohne  sittliche  Bewährung 
ihm  ein  „sehr  verdiächtiges  Geföhl,  ja  ein  irreführendes  Gefühl", 
diesem  Sinne  sagt  er  Gr.  I,  §  116:  „Jede  Religiosität»  mit  der 
h    nicht  zugleich  alle  sittlichen   Empfindunf^cn  und  ernste  Be- 
ehvingcn  des  Willens,  dem  Gesetze  zu  gehorchen,  verbinden,  bleibt 
\  sehr  verdächtiges  Gelühl,  das  der  Sinnlichkeit  näher  als  der 
^munft  verwandt."   Ahnlich  auch  Br.  II,  S.  217. 

Das  religiöse  Gefühl  ist  nun  entwicklungsfähig.  So  heisst  es 
r.  1 ,  §  75:  ..So  wie  die  Rcli'^ion  ein  allgemeines  Bedürfnis  des 
enschen  ist,  so  gehört  sie  auch  unstreitig  zu  seinen  ursprünglichen 
nlagen,  und  in  der  religiösen  Bildungsfähigkeit  liegt  schon 
'ink  und  Aufforderung  an  die  Erziehung."  Aber  nicht  nur  ent- 
icklungrsfahig,  sondern  auch  entwicklungs  bedürftig  ist  das  religiöse 
efühl.  Dieses  Entwickeln  geschieht  nach  Niemeyer  durch  das 
orbild  des  Erziehers  und  durch  Belehrung.  Also  verlangt  Nie- 
eyer  ethische  und  intellektuelle  Vertiefung  des  als  Anlage  vor- 
indenen  Gefühls.  Religion  ist  für  ihn  selbstverständlich  lehrbar. 
aran  ändert  auch  nichts  eine  Äusserung  wie  Gr.  I,  §  88:  „Es  kann 
so  auch  keine  Erziehung  eigentlich  unternehmen  wollen,  dem 
ögling  einen  sittlichen  Charakter  zu  geben  otler  ihn  etwa  so 
igendhaft  oder  gar  fromm  zu  machen,  wie  der  Uriterricht  ihn 
:wa  gelehrt  machen  kann."  Von  Interesse  sind  in  dieser  Hinsicht 
»Igende  Worte  Niemeyers:  „Die  in  neuerer  Zeit  geäusserten,  be- 
anders  Schriftstellern,  die  überall  das  Paradoxe  lieben «  nach- 
esprochenen  Behauptungen :  „Religion  lasse  sich  nicht  lehren"  oder 
alle  gelehrte  Religioii  sei  leerer  Wortkram,  nicht  lehren,  sondern 
arstellen  solle  man  sie  im  Leben"  köimen  die  Verständigen  nicht 
TC  machen.  Denn  es  geht  allerdings  auch  durch  den  Verstand  zu 
lem  Herzen,  und  gerade  die,  welche  am  meisten  für  Religiosität  in 
!er  Weit  gewirkt  haben,  haben  Religion  gelehrt  und  gewollt,  dass 
ic  gelehrt  und  den  Menschen  dadurch  geholfen  würde,  dass  sie 
ur  Erkenntnis  der  Wahrheit  kämen.  Frommer  Sinn  ist  etwas  Vor- 
reffliches,  aber  ohne  Licht  kann  er  zum  gröbsten  Aberglauben  und 
;um  schrecklichsten  Fanatismus  werden"  (Gr.  II.  §  126  Anmerkung). 

Bei  dieser  Gelegenheit  streift  Niemeyer  eine  Frage,  die  auch  in 
leuerer  Zeit,  besonders  infolge  der  scharfpointierten  Äusserungen 
/on  Arthur  Bonus  in  der  „Christlichen  Welt"   1900  No.  32  fr., 


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—     12  — 


erörtert  worden  sind.  Kr  sagt  nämlich  an  der  zuletzt  genannten 
Steile:  „So  hat  man  z.  Ii  behauptet:  der  Rehgionsuntcrricht  gehöre 
nicht  in  die  Schulen,  weil  da  so  selten  das  Heilige  als  recht  heilig 
betrachtet  und  zu  sehr  mit  den  übrigen  Lehrgegenständen  in  eine 
Reihe  gestellt  werde.  Gewiss  ist  dies  letztere  oft  nur  zu  wahr. 
Aber  wie  ist  es  denn  möglich,  den  Schulunterricht  auf  andere  Art 
zu  ersetzen?  Oder  ist  der  kalte  und  geistlose  Unterricht  so  vieler 
Prediger  besser  als  der  öffentliche?" 

Mit  Recht  unterscheidet  nun  Niemeyer  zwischen  Erziehung  zur 
Religion  und  Unterricht  in  der  Religion,  wenn  er  in  Gr.  II,  §  126 
am  Anfang  erklärt:  „Erziehung  zur  Religion  und  Sittlichkeit  ist 
allerdings  etwas  vom  Unterricht  in  der  Religion  und  Moral  Ver- 
schiedenes, aber  keineswegs  zu  Trennendes.  Wenn  sich  die  Er- 
ziehung vorzüglich  die  Erweckung  und  Belebung  frommer  und  sitt- 
licher Gefühle  und  Gesinnungen  zum  Ziele  setzt,  so  wül  der  Unterricht 
den  Verstand  mit  den  höchsten  Gegenständen  aller  Erkenntnis 
beschäftigen  und  den  Menschen  zur  klaren  Einsicht  seiner  Be- 
stimmung und  seiner  PHichten  bringen.  Soll  das  Erste  nicht  nur 
ein  dunkles  Gefülil  erzeugen,  so  muss  der  Begrin  die  Empfindung 
leiten;  soll  der  Verstand  an  dem  Übersinnlichen  Interesse  finden, 
so  muss  das  Herz  dafür  erwärmt  werden  und  das  Bedürfnis,  sich 
in  einem  Verhältnis  zu  dem  Unsichtbaren  zu  denken,  in  das  Innerste 
der  Seele  aufgenommen  scm." 

Die  Frage  betreft's  der  Lehrbarkeit  der  Religion  erledigt  Nie- 
meyer zu  rasch,  ohne  sie  in  ihrer  ganzen  Tiefe  erfasst  zu  haben. 
Wie  die  gerade  in  unserer  Zeit  gepflogenen  Erörterungen  über  diese 
Frage  gezeigt  haben  —  man  vergleiche  besonders  Katechetische 
Zeitschrift  IV,  4,  Zeitschrift  für  Theologie  und  Kirche  XII,  4, 
Monatsschrift  für  die  kirchliche  Praxis  1903,  3.  Heft  —  kann  hier 
die  Antwort  ,ja"  und  „nein"  lauten,  je  nachdem  man  den  Begriff 
Religion  aufiasst  Religion  als  persönliches  Erleben  und  Eriebnis 
kann  niemals  gelehrt  werden ;  man  kann  nur  zu  einem  solchen 
Erlebnis  anleiten,  dazu  \  orbereiten ,  in  die  innere  Verfassung  zu 
setzen  versuchen  durch  Belehrung  verschiedener  Art.  Man  kann 
das  religiöse  Leben  bedeuteikler  Persönlichkeiten  kbendig  und 
anschaulich  dar^ellen,  sein  eigenes  religiöses  Leben  —  wenn  auch 
in  der  keuschesten  Art  —  beschreiben,  aber  das  Nacherleben  in 
den  Herzen  anderer  steht  ausserhalb  der  Kraft  des  Lehrenden  und 
ausserhalb  des  Einflusses  der  Belehrung.  Es  tritt  eben  in  Niemeyers 
Ausfiihrungen  die  Religion,  der  Glaube  als  Erfahrung,  die  keines 
wissensdiaftiichen  Beweises  bedarf  oder  überhaupt  durch  kein  wissen- 
schaftliches Verfahren  mit  logischer  Notwendigkeit  als  wirklich  nadi- 
gcwicsen  werden  kann,  zurück.  Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass 
Niemeyer  auch  in  seinem  eignen  Leben  diese  Art  des  (ilaubens 
entbehrt  habe.  Trotz  aller  Betonung  des  Gefuhlsmomentes  in  der 
Religion  stdit  doch  in  seinen  Sduiften  ihre  Besdehung  zur  Vernunft 


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—   13  — 


1  Vordergrunde.  Als  solche  ist  sie  lehrbar,  als  solche  kommt  sie 
uptsächfich  für  den  Unterricht  in  der  Schule  in  Betracht  An 
»len  Stellen  —  besonders  in  seinem  Briefe  an  christliche  Rdigions- 
irer  —  redet  er  von  der  Vernunftmässigkcit  der  Religion,  von 
m  Zusammenhange  und  von  der  ewigen  Harmonie  ihrer  ewigen 
iriiunftwahrheiten.    Man  verglcicac  u.  a.  Gr.  II,  §  132;  Hd.  I, 

37,  61;  Br.  I,  S.  132  fr.;  n,  S.  49 ff.,  147;  Lb.  S.  141.  Wegen 
eser  Betonung  des  rationalen  Charakters  der  Religion  darf  man 
emeyer  nun  aber  nicht  kurzn  ec'  einen  Rationalisten  im  hndläufigen 
nne  dieser  Bezeichnung  nennen.  Schön  sagt  in  dieser  Hinsicht 
Hennecke  in  der  Protestantischen  Realenzyklopädie  für  1  heologie 
id  Kirche,  3.  Aufl.,  14.  Band:  „Nieme3^r  gehörte  unter  die  nicht 
enigen  Manner  jener  Zeit,  in  denen  mehr  Christentum  war,  als  sie 

sagen  '.vtisstcn ,  die  eine  lederne  Sprache  führten  in  Prosa  und 
)esie,  aber  dabei  einen  Ernst  in  der  Überzeugung  und  eine  sitt- 
:he  Entschiedenheit  des  Charakters  hatten,  wie  sich  dies,  auch 
o  man  von  allen  himmlischen  Dingen  mit  viel  0berscliwenglicher 
Übung  zu  reden  weiss,  nicht  immer  findet.  Und  dass  unter  der 
ichcn  Decke  nüchterner  Verständigkeit  eine  tiefere  religiöse  Innigkeit 
st  unbewusst  ruht,  davon  geben  einzelne  Laute  —  wie  sein  i.ied: 
h  weiss,  an  wen  ich  glaube  —  ein  immerhin  schönes  Zeugnis." 
iesem  Urteil  sdüiesst  sich  Binder  an,  wenn  er  hi  der  A]^;emeinen 
eutschen  Biographie,  23,  Band,  S.  679  bemerkt:  „Nicmeyer  besass 
?i  vielseitiger  Gelehrsamkeit  ein  tiefreligiöses  Gemüt,  eine  feine 
2obachtungsgabe  und  genaue  Vertrautheit  mit  der  Natur  des 
enschUchen  Herzens."  In  gleicher  Weise  äussert  sich  Rein  in 
anem  Enzyklopädischen  Handbuch  der  Pädagogik,  Artikel  Nie* 
leyer:  „Niemeyer  huldigte  der  wahren  Oiristusrdigion ,  deren 
auptgesetz  Liebe  heisst.  Vor  den  religiösen  Freigeistereien  der 
imals  in  Deutschland  sehr  einflussreichen  englischen  Deisten  be* 
ahrte  ihn  sein  tiefes  Gemüt  und  das  Bestreben,  die  sittliche  Kraft 
es  EvangeUums  in  den  Mittelpunkt  seiner  Theologie  zu  rücken." 
in  ähnliches  Urteil  findet  sich  auch  bei  Geoi^,  in  Schmids  Enzy* 
lopädic,  2.  Aufl.,  Band  5,  S.  336. 

Also  Niemeyer  darf  nicht  von  den  theologischen  Garderobiers 
cn  Rationalisten  schlechthin  zugewiesen  werden.  Kr  kennt  sehr 
'ohl  die  Grenzen  der  Veraunfterkenutius  aut  religiösem  Gebiete  ^ 
r  weiss,  dass  wir  nicht  anders  als  in  sinnlichen  Budem  von  über- 
nnlichen  Dingen  reden  können  und  dass  solche  Ausdnicksweise 
:ets  etwas  Unzulängliches  an  «^ich  hat.  Mit  der  Anwendung  der 
5^enannten  Gottesbeweise  will  er  vorsichtig  umgegangen  wissen, 
lan  vergleiche  hierzu  Lb.  S.  I44tf.  Seine  Bezeichnungen  für  Gott 
ind  mannigfaltige:  z.  B.  die  Idee  der  höchsten  und  unendlicben 
rüte,  der  Welturlleber,  der  grosse  Unbekannte,  die  höchste  Macht 
er  Liebe  das  beste  und  heiligste  Wesen.  Den  Vaternrimen  Gottes 
/ünscht  er  aus  beachtlichen  Gründen  sparsam  angewandt  zu  sehen. 


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—    14  — 


obwohl  er  die  Bedeutung  des  Vatemamens  voUkommeo  würdigt 
Siehe  besonders  Br.  II,  S.  162  ff. 

Gleich  wichtig  wie  die  Beziehung  der  Religion  zur  Vernunft 
ist  ihr  Verhältnis  zur  Moral.  Von  Religion  und  Moral  redet  Nie* 
meyer  sehr  häufiff,  so  Gir,  II,  S.  428 flf.,  531  ff.,  607 f.;  Br.  I,  S.  153, 
258,  272;  II,  S.  iioflf.  u.  5.  f.  Niemeyer  kann  sich  Religion  oluie 
Moral  gar  nicht  denken ,  eher  noch  Moral  ohne  Religion.  „Ein 
moralischer  Charakter  lässt  sich  gar  wohl  denken,  ohne  zugleich 
ein  religiöser  zu  sein,"  sagt  er  Gr.  1,  ^116.  So  wird  ihm  die 
Religion  oft  nur  zu  einem  Vehikel  moralischer  Forderungen.  ,»F]eis8 
in  der  Tugend  zu  immer  wahrerer  Annäherung  an  Gott  —  das  ist 
und  bleibt  doch  der  let/.te  Zweck  aller  religiösen  Belehrung;  auch 
die  christliche  Religion  kennt  keinen  andern.  '  Vgl.  Br.  II,  S.  295. 
Und  was  Niemeyer  hier  in  der  Theorie  als  sein  Lehrideal  und 
Lehrziel  aufstellt,  das  hat  er  auch  in  setner  eigenen  Lehrtätigkeit 
durch  viele  Jahre  geübt  Mit  Recht  stellt  ihm  W.  Schräder,  Die 
Geschichte  der  Friedrichsuniversität  zu  Halle,  I.  Band,  S.  487  ff.  das 
Zeugnis  aus:  „Kr/.iehung  des  Menschen  zur  Sittlichkeit  unter 
harmonischer  Entwicklung  seiner  allgemeinen  Geistesanlage  auf 
Grund  des  Christentums  und  nach  Massgabe  der  Vernunft,  das  war 
das  Ziel,  dem  er  während  einer  fünfzigjährigen  Wirksamkeit  in  Amt 
und  Wissenschaft  mit  unermüdlichem  Fleisse  ond  stets  wachsender 
Erfahrung  nachstrebte."  Wie  hoch  Niemeyer  die  Sittlichkeit  im 
Vergleich  mit  der  ReliL^ion  wertet,  zeigt  folgender  Ausspruch,  den 
er  gelegentlich  der  Aufstellung  der  höchsten  Grundsätze  aller  Er- 
ziehung tut  Gr.  I,  S.  1$  sagt  er:  „Die  Harmonie  der  Freiheit  mit 
der  Vernunft  lass  dein  höchstes  Ziel  sein,  weil  auf  ihr  der  sittliche, 
folglich  der  unbedingte  und  höchste  Wert  des  Menschen  beruht." 

Mit  c^an/er  Entschiedenheit  wendet  sich  Niemeyer  i^C'^en  die 
versuchte  Trennung  des  Religiösen  vom  Sittlichen;  er  hat  dabei 
Schleiermacher  im  Auge.  Zu  diesem  Zwecke  sagt  er  Gr.  I,  S  268 
in  der  i.  Anmerkung:  „Die  Trennnng  des  Sittlichen  und  Religiösen, 
welche  von  mehreren  Schriftstellern  einer  neueren  philosojihischen 
Schule  in  theoretischen  .Schriften  so  stark  aiis;^^esprochen  ist,  scheint 
mir  kein  Gewinn,  so  wenig  für  die  Theologie  als  für  die  Moral. 
Wo  diese  Trennung  stattfindet,  da  verliert  das  eine  oder  das  andere 
sicher."  Man  kann  sich  nidit  des  Eindruckes  erwehren,  dass  für 
Nicmcycr  die  Religion  im  g^rossen  rrid  ':^-lnze^  der  Sittlichkeit  nach- 
steht, der  die  erste  Stelle  eins^eräun^t  wird.  Doch  für  uns  Christen 
bleibt  die  höchste  Sittlichkeit  immer  eine  Folge  des  neuen  religiösen 
Verhältnisses,  d.  h.  des  Kindesverhältnisses  zum  Vater-Gott,  in  das 
wir  uns  durch  Jesus  Christus  versetzt  wissen,  je  tiefer  das  religiöse 
Leben  wurzelt,  desto  grössere  Kraft  führt  es  dem  sittlichen  Leben 
zu;  je  reicher  sich  das  sittliche  Leben  entfaltet,  desto  mehr  vertieft 
sich  das  religiöse.  Also  Religion  und  Sittlichkeit  in  schöner  Wechsel- 
wirkung. 


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Wie  in  Niemeyers  Aui&issuag  der  Religion  deren  Beziehung  zu 

rnunft  und  Sittlichkeit  ausschlac^gebend  ist,  so  ist  auch  sein  Urteil 
;r  die  Bibel  an  diesem  Gesichtspunkt  orientiert.  Die  Bibel  ist 
1  in  erster  Linie  ein  „moralischer  Text"  (ßr.  II,  S.  112),  auf  dessen 
ereinstimmung  mit  den  „ewigen  Vernunftwahrheiten"  Niemeyer 
1  grössten  Wert  legt.  Femer  Br.  II,  S.  264ff.  Niemeyer  ist  oft 
it  entfernt  von  einer  richtigen  Beurteilung  der  heiligen  Scfarifit 

geschichtlicher  Urkunde  des  relig:iösen  Lebens.  Je  mehr  man 
ti  in  die  Schrift  vertieft,  um  so  deutlicher  erkennt  man,  dass  uns 

ihr  die  Bekundungen  des  religiösen  Geisteslebens  konkreter, 
rch  ihre  Individualität  und  die  gesdüchtlichen  Verhaltnisse  ihres 
Ikes  und  ihrer  Zeit  bestimmter  Persönlidikeiten  m^egentreten. 

ist  eine  Welt  religiöser  Empfindungen,  Überzeugungen  und 
ffnunfn^n ,  die  sich  uns  dort  erschliesst  und  die  sich  in  engster 
iiehuug  auf  die  jeweiligen  geschicntiichen  Verhältnisse  der  V'er- 
ser  dort  ihren  Ausdruck  gegeben  hat. 

Mit  der  erwähnten  Betonung  des  Wertes  der  Vernunft  und  der 
ligion  hängt  auch  Niemeyers  Beurteilung  der  Persm^  Jesu  zu- 
nmen.  Nach  ihm  war  „der  letzte  Zweck  Jesu  kein  anderer  als 
r;  den  Menschen  durch  eine  würdige  Gotteserkenntnis  zur  Sitt- 
ikeit  zu  fuhren  und  ihm  seine  Bestimmung  für  jene  wie  für  diese 
slt  gleich  wichtig  zu  machen"  (Br.  I,  S.  23).  Ja,  das  „letzte  Ziel 
?r  Bemühungen  Jesu  war  die  Hervorbringung  einer  durch  die 
ligion   motivierten  Sittlichkeit  der  Gesinnungen"   (Br.  I,  S.  79). 

doch  die  Sendung  Jesu  —  nach  Br.  II,  S.  287  —  eine  „Ver- 
staltung  der  Vorsehung  zu  moralischen  Zwecken :  denn  der  grosse 
m  seiner  Sendung  war  die  moralische  Beglückung  der  Men^hen" 
•.  II,  S.  303).  „Ihm,  Jesu,  verdanken  alle,  die  ihn  kennen  und 
f  %c'mc  Lehre  achten,  die  wohltätigste  Belehrung  über  die 
chtigsLen  Gegenstände  des  menschlichen  Denkens,  die  voll- 
mmenste  Anleitung  zu  einem  tugendhaften  Wandel,  ihm  die 
■freiung  von  der  quälenden  Furcht  vor  Gott  und  Zukunft;  durch 
1  also  gelangen  sie  zur  Wahrheit,  zur  Tugend  und  zur  Gemüts-* 
he."    L!r  S.  179. 

Nur  ganz  vereinzelt  findet  sich  ein  reHgiöses  Verständnis  der 
:rsönlichkeit  und  des  Werkes  Jesu,  z.  B.  Gr.  I,  S.  172;  Hd.  I, 

351,  an  welchen  Stellen  er  mit  Melanchthon  (loci  communes) 
:kennt:  hoc  est  Christum  cognoscere,  beoelicia  eius  cognoscere, 
in  quod  isti  doccnt,  eius  naturas,  modos  incarnationis  contueri. 

scias  in  (]ueni  usuiti  carnem  induerit  et  cruci  affixus  sit  Christus, 
lid  proderit  ems  iüstoriam  novisse ! 

So  viel  über  Niemeyers  Stellung  zur  Religion. 


—    i6  — 


n. 

Obtr  dm  RelisionNiitMTtoM. 

Aus  Niemeyers  Auffassung  der  Religion  ergibt  sich  schon  zum 
Teil  seine  Stellun£^  zum  Religionsunterricht.  Mit  Recht  scheidet 
Niemc}'cr  —  wie  bereits  erwähnt  wurde  —  zwischen  religiöser 
Erziehung  und  religiöser  Unterweisung.  Die  erste  weist  er  vor 
allem  dem  Eltemhause  zu  und  legt  t£r  die  aUergrösste  Bedeutung 
bei.  Damit  gibt  Niemeyer  zu,  dass  bei  der  ri£giösen  Exziehung 
nicht  allein  die  Schule  in  Fra^^e  kommt  und  kommen  kann,  schon 
in  Anbetracht  dessen,  dass  sie  ihre  Zöglinge  nur  auf  Stunden  — 
und  wie  wenige  oft  —  unter  ihrem  Einflüsse  hat  Also  kann  auch 
die  Schule»  d.  h.  der  Religionsunterridit,  besonders  der  auf  den 
höheren  Sdiulen,  nicht  allein  Schuld  sein  an  der  religiösen  Gleich- 
gültigkeit und  kirchlichen  Teilnahmlosij^rkeit  einer  bestimmten  Zeit, 
wie  man  gerade  in  unseren  Tagen  oft  recht  unbillig  urteilt.  Einen 
unsichtbaren,  aber  höchst  einflussreichen  Faktor  betreffs  der  reli- 
giösen Erziehung  sieht  Niemeyer  ganz  richtig  im  „Zeitgeist",  der 
wie  es  Grr.  I,  S.  269  heisst  —  im  allgemeinen  aufgefasst,  kein  reli* 
giöser  Geist  ist.  Wenn  das  Niemeyer  von  seiner  Zeit  sagt,  um 
wieviel  mehr  gilt  das  von  der  unsrigen.  Das  „Milieu",  das  oft 
alles  andere  nur  nicht  religiös  und  kirchlich  ist,  ist  ein  sehr  gefähr- 
licher, weil  geheimer  Gegner  der  religiösen  und  kirchlichen  Unter- 
weisung. Gewiss  betont  auch  Niemeyer  mit  Entsciiiedenheit,  dass 
der  Religionslefarer  —  und  hierzu  gehört  ja  nach  ihm  audi  der 
Geistliche  —  vor  allem  durch  sein  Beispiel  religiös  erziehen  und 
unterrichten  müsse.  „Das  Wichtigste  bleibt  auch  hier  —  so  heisst 
es  Gr.  I,  S.  271  —  durch  eigenes  Beispiel  bei  allen  Gelegenheiten 
zu  beweisen,  dass  der  Gedanke  an  Gott  des  Lehrenden  Seele  erföUe 
und  ihm  Kraft  zur  Selbstbeherrschung,  Geduld  bei  misslingenden 
Unternehmungen,  Ruhe  bei  widrigen  Srhirksnlcn  einflösse."  Weit 
mehr  als  religiöse  Andachtsübungen,  als  lange  moralische  Prc  liL^ten 
wird  der  Geist  des  Lehrers  wirken.  „Wenn  der  Schüler  wahrnimmt, 
dass  jener  gerade  diese  Lehistunden  mit  einer  besonderen  Wichtig- 
Iceit  behandelt,  dass  ihm  alles  Heilige  selbst  heilig  ist,  dass  er 
Religiöse  in  dem  einzelnen  Menschen  und  in  der  Menschheit  in  allen 
Gestallen  achtet  und  ehrt,  dass  seine  Wehmut  oder  scmen  Unwillen 
nichts  so  stark  aufregt,  als  wo  kalte  Gleichgültigkeit  an  die  Stelle 
frommer  Empfindung  tritt  oder  roher  Mutwille  sich  an  dem,  was 
anderen  heilig  und  ehrwürdig  ist,  vergreift,  so  wird  das  me  ohne 
Wirkung  auf  den  Schüler  bleiben;  so  wie  im  Gegenteil  der 
frevelnde  Leichtsinn  oder  die  Kälte,  mit  der  von  manchem  Lehrer 
die  Religion  im  Unterricht  behandelt  wird,  alle  die  Folgen  erklärlich 
macht,  welche  sich  nur  zu  sichtbar  ofTenbaren."  Man  vergleiche 


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—    17  — 


T.  II,  S.  43$.   Recht  zeitgemass  muten  uns  folgende  Worte  (Hd.  m» 

,  313)  an:  „Der  Religionsunterricht  in  Gekhrtenschulen  ist  oft 
nter  den  anderen  Lehrn^e^enständen  am  schlechtesten  bestellt,  ja 
er  und  Ja  wecken  der  \'erkehrtheit  der  Methode  und  wetzen  der 
riiiaiigeiung  alles  religiösen  Sinnes  der  Lehrer  mehr  schädlich  als 
Utzlich.  Daher  man  auch  schon  darauf  angetragen  hat,  sie  lieber 
anz  von  lii  sem  Unterrichte  loszusprechen." 

Neben  der  religiösen  Erziehung  steht  der  religiöse  Unterricht, 
essen  Schu-irrigkeiten  er  aus  lanf:^jähriger  Praxis  kennt  und  zu 
ürdigen  weiss.  Darum  sagt  er  (ir.  II,  S.  412:  „Wenn  man  bloss 
on  der  Allgemeinheit  dieses  Bedürfnisses  (nämlich  des  religiösen 
rnterrichtes)  ausgeht  und  sidi  erinnert,  dass  auf  allen  Stufen 
lenschlichcr  Kultur  rclii^iüse  Vor-tenruit^en  und  religiöse  Bestrebunc^cn 
eüindcn  werden,  so  s'^hrint  die  Aufgabe,  KeUgion  in  dem  jugend- 
chen (jremut  zu  begründen  und  Teilnahme  an  diesem  Unterrichte 
u  erwecken,  nicht  schwer.  Aber  wenn  man  die  individuelle  Anla^ 
er  Meisten,  die  Hindernisse  von  aussen,  die  eigentümliche  Art,  wie 
twas  von  allem  Irdischen  und  Sinnlichen  so  ganz  Verschiedenes 
■ehandelt  und  gepflegt  sein  will ,  in  Anschlag  bringt  und  erwägt, 
nc  alles  in  der  gemeinen  Wirklichkeit  unseres  gewöhnlichen 
^bensganges  anders  als  in  der  blossen  Idee  ist,  so  findet  man 
«i  keinem  Gegenstand  die  Schwierigkeiten  so  gross  und  in  einzelnen 
•"ällen  fast  unüberwindlich," 

Mit  dem  Religionsuntcrrirht  ,  dessen  Ziel  die  „.Aufklärung  des 
Verstandes"  ist,  kann  unbedenklich  im  jugendlichen  Alter  begonnen 
«rerden,  natürlich  muss  es  der  Religionsichrer  verstehen,  sich  dem 
Viter  in  Sprache  und  Bilderwelt  anzupassen  (Ghr.  II,  S.  415  f.)*  Eine 
Curückschiebung  des  Religionsunterrichtes  empfindet  Niemeyer  mit 
iecht  als  einen  Mangel  im  Unterrichtsbctriehc.  Er  sagt  deshalb: 
Aber  dass  der  Mensch  sehr  früh  mit  den  rehgiösen  Fragen  und 
jedanken  vertraut  werde,  ist  von  der  höchsten  Wichtigkeit,  da  sie 
:u  seinem  Wesen  gehören  und,  erst  spät  nutgeteilt,  zu  wenig  in 
jein  ganzes  Denken  und  Sein  verwebt  werden"  (Gr.  II,  S.  415). 

Die  Anweisungen  und  Ratschläge  Niemeyers  für  die  Erteilung 
les  Religionsunterrichtes  in  den  einzelnen  Stufen  in  extenso  wieder- 
zugeben, würde  zu  weit  führen  j  man  müsste  die  diesbezüglichen 
Paragraphen  einfach  wörtlich  reproduzieren,  besonders  die  recht 
esenswerten  Ausführungen  über  die  „Methodik  des  Unterrichtes" 
m  I.  Teile  des  Handbuchc'i  und  in  den  ,,erläutenidcn  Anmerkungen 
jnd  Zusätzen  zu  dem  Rcligions-Lehrbuch".  Aber  das  sei  betont, 
iass  aus  all  den  einzelnen  Anweisungen  der  Mann  der  Praxis  spricht, 
der  auch  den  Lehrern  unserer  Tage,  nicht  nur  den  pädagogischen 
Anfangern,  noch  etwas  zu  sagen  hat.  Gewiss  mag  manches  ver» 
iltct,  durch  die  Zeit  und  die  Verhältnisse  überholt  -ein  aber  der 
praktische  Wert  seiner  Grundsätze  bleibt  im  allgemeinen  in  Geltung, 
ts  seien  einige  Proben  von  Niemeyers  Lehrweisheit  mitgeteilt  So 

Pikittgagtsche  Studien.   XXJL  1.  9 


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—   i8  — 


zeigt   sich  uns  Niemeyer  als  erfahrener  und  nachahmenswerter 

Führer  auf  dem  schwieri^^en  Gebiet  dr<  Katechismusunterrichtes  in 
seiner  Anleitung,  die  Lehre  von  der  i)unde  zu  behandeln  (Hd.  I, 
S.  197  ff.  und  Br.  III,  S.  78  ff.).  Was  wird  doch  oft  hier  den  Kindern 
voi^tragen  und  zugemutet;  wie  langatmig,  wie  rein  theoretisch 
sina  da  oft  die  katechetisdien  Leitfaden !  VVie  \veni<^  berücksichtigt 
man  das  Fassungsvermögen  und  den  Erfahruiif^^skrcis  der  zu  Unter- 
richtenden I  Gleich  beachtenswert  ist  das,  was  Nieiiic\-er  hd.  I, 
S.  424  über  die  Behandlung  der  Heilslehre  (ordo  salutis,  3.  Artikel) 
sagt:  „Der  Kranke  wird  nicht  durch  die  Theorie  der  Heilsart, 
sondern  durch  die  wirkliche  Anwendung  der  Mittel  gesund.  Der 
Zögling  wird  nicht  durch  die  Theorie  der  Pädagogik,  sondern 
dadurch  gebildet,  dass  man  ihn  in  alle  die  Lagen  bringt,  alle  die 
Eindrücke  auf  ihn  zu  machen  sucht,  ihn  alle  die  Übungen  vor- 
nehmen lässt,  davon  man  eingesehen  hat,  dass  sie  zu  seiner  Bildung 
die  dienlichsten  sind.  —  Dies  wollte  man  auch  wohl  durch  den 
Satz  sa^en:  Der  Religionslehrer  müsse  die  Tugend  nicht  lehren, 
sondern  hervorbringen.  Statt  also  theoretisch  die  Hcilsordnung  zu 
lehren  oder  zu  zeigen,  dass  alle  Besserung  vom  Nachdenken  und 
von  der  Berichtigung  der  mancherlei  Irrtümer  der  Erkenntnis  aus* 
gehe,  dass  daraus  Reue  entstehe,  die  gleichwohl  mit  Vertrauen  oder 
Glauben  verbunden  sein  könne  usw.,  müsste  man  vidmehr  das  eigne 
Nachdenken  des  Menschen  über  sich  selbst  anzuregen ,  ihn  durch 
Vorhalten  eines  Spiegels  von  seiner  Kigenliebe  zurückzubringen, 
Sinn  für  die  höheren  Güter  in  ihm  zu  wecken  oder  ihn  durch  die 
lebendigste  Darstellung  der  Güte  Gottes  von  seiner  Undankbarkeit 
zu  überzeugen,  ihm  seine  väterlichen  Gesinnungen  bei  all  unseren 
Irrtümern  und  Vergehungen  aus  der  Lelire  tles  Evangeliums  an- 
schaulich zu  machen  suchen.  Das  hiesse  weit  besser  die  Ordnung, 
worin  wir  gute  Menschen  werden,  predigen  und  lehren  als  durch 
dne  unaufliörliche  Wiederholung  der  Theorie  von  Busse  und 
Glaube." 

Den  Sinn  und  das  Verständnis  Niemeyers  für  die  Religions« 
geschichte  hatten  wir  schon  kennen  gelernt  anlässlich  seiner  Unter- 
scheidung zwischen  dem  aligemein  religiösen  und  dem  spezifisch 
christiidi-religiösen  Gefühl.  Niemeyer  redet  nun  auch  der  Religions* 
geschichte  im  Unterrichte  das  Wort  und  zwar  mit  durchaus  Stich- 
haltigen Gründen:  einmal  um  die  Erhabenheit  des  Christentums  ins 
rechte  Licht  zu  stellen ,  sodann  um  ein  billiges  Urteil  über  die 
nichtchristlichen  Religionen  zu  bewirken.  Sicherlich  kann  ein  so 
getriebener,  sich  nicht  in  fiinzelheiten  verlierender  Unterricht  in  der 
Reli^onsgeschichte  sehr  fruchtbar  sich  gestalten  lassen,  nicht  nur 
in  den  höheren  Schulen.  Die  erforderliche  Zeit  Hesse  sich  wohl 
durch  kürzere  Behandlung  anderer  Stofte  gewinnen. 

Das  „vorzügliche  Hüfsbuch  für  den  Religionsunterricht"  ist  und 
bleibt  för  Niemeyer  die  Bibel,  deren  hohen  Wert  für  den  Untenidit 


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—   19  — 

nit  foli^enden  Worten  kennzeichnet:  ,,Dic  eiste  Tendenz  alles 

stlichcn  Rcli^onsuntcrrichtes  soll  sein,  Achtunpf  fiepen  die  hcilij^^e 
unde  zu  erwecken  vind  von  ihr  als  einer  bestehenden,  von  dem 
üben  der  Vorzeit  ancricanuien  Autorität  auszugehnn."  Man  ver- 
che  Gr.  II,  S.  419.  Jedoch  bei  aller  Schätzung  der  Bibel  ver- 
nt  Niemeyer  nicht  die  Möglichkeit,  Zweckmässigkeit  und  Not- 
idigkcit  eines  Lesebuches,  eines  l^ibehiusziiq^es  oder  einer 
ulbibel  —  auf  den  Namen  kommt  es  ja  nicht  an.  l{r  will 
nit  keineswegs  die  Vollbibel  aus  der  Schule  und  aus  dem  Hause 
drängen.  „Ein  anderes  ist's  bei  der  Jugend  mit  dem  Grebraudi 
Bibel  —  so  führt  er  Br.  II,  &  123  ff.  aus  —  ein  anderes  bei 
\  Geübteren.  Ich  kann  mir  gar  wohl  denken,  dass  für  sie  die 
ne  Lektüre  der  Bibel  ein  sehr  nützliches  Geschäft  werden  kann  und, 
is  man  daher  wohltun  könne,  sie  zu  empfehlen.  Nur  steigt  dabei 
oner  aufs  neue  der  Wunsch  auf.  dass  wir  neben  unsrer  ganzen 
>el  ein  Buch  haben  möchten,  welches  das  Allgemeinverständliche 
d  das  Allgemeinpraktische  ihres  ganzen  Inhalts  in  einer  durchaus 
slichcn  Sprache  darstellte.  Man  muss  auf  gar  keine  Gründe 
Ilten  oder  mit  offenen  Augen  blind  oder  von  einer  schwachen 
ircht  für  den  Verfall  der  Religion  ergriffen  sein,  wenn  man  die 
glaublichen  Schwierigkeiten  verkennt,  welche  bei  den  meisten  der 
lehrten  Theolc^e  Unkundigen  die  nützliche  Lesung  der  heiligen 
;hrift  hindern,  wenn  man  den  Missbrauch  übersieht,  welcher  bc- 
nders  bei  der  Jugend  unvermeidlich  ist,  sobald  ilir  so  vieles  in 
e  Hände  fällt,  was  sie  wenigstens  nocii  niclit  tragen  kann.  Man 
sst  sich  dabei  Inkonsequenzen  zuschulden  kommen,  welche  sich 
ir  aus  der  auch  sonst  bekannten  Verdrehung  des  menschlichen 
erStandes  durch  vorgefnsstc.  besonders  religiöse  Vorurteile  erklären 
ssen.  Man  zittert  vor  den  unschuldigsten  Stellen  in  menschlichen 
üchern,  wciiu  mau  sie  in  den  1  landen  der  Kinder  sieht.  Man  gibt 
inen  aber,  ohne  Ahnung  der  Gefahr,  selbst  die  anstössigsten  Er- 
üilungen  in  die  Hände,  sobald  sie  nur  in  der  Bibel  stehn."  Nie- 
icyer  erwägt  sehr  wohl  die  Hrrienken  ^cf^cn  einen  solchen  Bibel- 
uszug,  wenn  er  auch  nicht  befürchtet,  dass  dadurch  die  Bibel  in 
irem  Wert  beeinträchtigt,  aus  ihrem  Gebrauch  verdrängt  werden 
:önnte.  Ja,  er  ist  auch  bereit,  auf  den  Namen  „Auszug"  zu  vcr- 
ichten.  „Selbst  der  Name  eines  Auszuges  würde  vielleicht  besser 
'crinicdcn.  Er  erinnert  allerdings  zu  leicht  an  Wcglassungen  und 
:ann  den  Verdacht  erregen,  ob  nicht  absichtlich  manches  Wesent- 
iche  weggelassen  sei.  Man  belege  doch  das  Buch  mit  irgend  einem 
mdem  Namen,  man  rede  gar  nicht  davon,  dass  es  an  die  Stelle  der 
Bibel  treten,  sondern  sage  bloss,  was  ja  auch  der  Wahrheit  so  voll- 
kommen gemäss  ist,  dass  es  auf  sie  vorbereiten  solle."  Das  Be- 
rechtigte der  Forderung  nach  einer  soIcIicti  Schulbibcl  können  nur 
die  in  der  Schulpraxis  Stehenden  ganz  ermessen.  Erfreulicherweise 
bricht  ach  ja  die  Überzeugung  von  der  Notwendigkeit  einer 

2« 


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0 


—    20  — 

Schulhibcl  immer  mehr  Bahn ;  die  nocli  bestehenden  Widerstände  — 
mehr  dogmalischer  Art  —  werden  schliesslich  doch  nicht  ausreichen, 
die  Durchfuhrung  der  im  Interesse  eines  gedeihlichen  Unterrichtes 
erhobenen  Forderung  zu  verhindern,  zumai  bei  den  massgebenden 
Stellen  dankenswertes  Entgegenkommen  vorhanden  ist 

Diesen  weitherzigen,  im  besten  Sinne  auf  das  Zweckmässige 
achtenden  Standpunkt  Niemeyers  finden  wir  auch  bei  der  Fra^e 
betretts  der  Benutzung  ausserbiblischer  Erzählungen  zur  religiös- 
sittlichen  Belehrung,  besonders  in  dem  Elementarunterricht  Nie- 
meyer verhält  sich  durchaus  nicht  ablehnend  gegenüber  auch  in 
neuerer  Zeit  wieder  aufgetauchten  Gedanken.  In  diesem  Sinne  sagt 
er  Gr.  II,  S.  4 19 f.:  ..Für  die  erste  Stufe  des  Religionsunterrichtes 
eignet  sich  nichts  so  sehr,  als  durch  (ieschichte  und  an  der  Ge- 
sdiichte  die  religiösen  und  moralischen  Grundbegriffe  zu  entwickeln. 
Die  biblischen  &:hriften  liefern  hierzu  einen  reichen  und,  sobald  er 
mit  reicher  Auswahl  benutzt  wird,  auch  zweckmässigen  Stoff,  womit 
jedoch  auch  andere  für  die  Ju<]^cnd  ausgewählte  I^rzähhm^cn  und 
Parabeln  zu  verbinden  sind.  So  reiclier  Stoff"  auch  in  den  biblischen 
Geschichten  liegt,  so  ist  doch  die  Zeit  und  der  Kulturzustand,  be- 
sonders in  den  älteren,  zu  verschieden  von  den  unsrigen,  als  dass 
sie  alle  anderen  entbehrlich  machten.  Daher  sind  daneben  gute 
SammlunL^en  entweder  wahrer  aber  auch  erdichteter  Geschichten 
für  Kuider.  wenn  ein  recht  rcii^nös  -  morahscher  (jeist  in  ihnen 
herrscht,  nicht  ohne  Verdienst."  Freihch  eins  sei  mit  allem  Nach- 
druck betont:  för  Niemeyer  sollen  die  ausserbiblischen  Erzählungen 
nur  eine  Ergänzung  der  biblischen  Stoffe  sein,  während  manche 
moderne  \''crtrcter  dieser  Idee  einen  Ersatz,  eine  Verdrängung  der 
biblischen  Krzählungen  beabsichtigen. 

Vor  einem  zu  frühen  Gebrauch  des  kleinen  Katechismus  warnt 
Niemeyer,  ohne  den  Wert  desselben  irgendwie  schmäkm  zu  wollen; 
sa^t  er  doch  Gr.  II,  S.  425  Anmerkung:  ,JLuthers  Katechismus  war 
bckannthch  für  sein  Zeitalter  eine  grosse  Wohltat  und  hat  auch 
fortdauernd  unter  den  Händen  verständiger  und  frommer  Lehrer 
sehr  viel  gutes  gewirkt;  denn  solche  Lehrer  verstehen  es,  die  Lücken 
anszufÜllen,  das  Dunkle  zu  erklären  und  Geist  und  Leben  in  den 
toten  Buchstaben  zu  bringen."  Mit  Recht  nimmt  Niemeyer  Stellung 
gegen  die  Religionslehrer,  die  den  kleinen  Katechismus  benutzet), 
um  populäre  Dogmatik  zu  treiben ;  dazu  berechtigt  auch  nicht  der 
Umstand,  dass  der  kleine  Katechismus  symbolisches  Ansehen 
erlangt  habe.  „Schuldogmatik  gehört  ebensowenig  in  die  Sphäre 
des  Schulunterrichts  als  strenge  philosophische  Ethik."  Gr.  II, 
S.  429  Anmerkung  i.  Dem  Religionslehrer  räumt  Niemeyer  volle 
Freiheit  ein  <^ef:^enübcr  der  Reihenfolge  der  fünf  Hauptstückc.  In 
diesem  Sinne  sagt  er:  „Dass  gerade  dieser  Gant:^  der  fünf  Haupt- 
Stücke,  diese  Anordnung  der  Materien,  diese  Beschrankung  der 
ganzen  christlichen  Moral  auf  zehn  mosaisdie  Gebote  Hauptmängd 


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Katechismus  Luthers  sind,  die  selbst  durch  so  viel  Praktisches 
Herzliches  in  seinen  Erklärungen  nicht  ersetzt  werden  können, 
jedem  Unbcfantn*ncn  wohl  einleuchtend."  Dass  sich  Luthers 
cchismus  in  irucliibringender  Weise  zum  Unterricht  wohl  ver- 
iden  lässt,  auch  wenn  man  sich  nicht  an  die  urspriingtiche 
henfolge  der  Hauptstücke  gebunden  föhlt,  zeigt  u.  a.  in  treff- 
er  Weise  W.  Reyschlags  „Christenlehre  auf  Grund  des  kleinen 
herischen  Katechismus". 

So  viel  zum  Belege  für  Niemeyers  pädagogisches  Können.  Die 
ligen  Proben  werden  zeigen,  dass  Niemeyer  als  praktischer 
lagogischer  Schriftstdler  auch  für  unsere  Zeit  noch  nicht  ganz 
altet  ist;  so  manche  seiner  Ansichten  und  P'orderungen  sind  auch 
unseren  Tagen  noch  zeitgemäss.  Dass  er  bereits  sie  aus- 
.prochen  und  gestellt  hat  —  und  damit  in  gewissem  Sinne  seiner 
.t  vorausgeeilt  ist  — ,  soll  man  nicht  unterschätzen.  Gewiss  kann 
.n  Niemejrer  nicht  zu  den  Grossen  im  Reiche  der  Pädagogik 
:hnen ,  sofern  man  an  die  Begründer  neuer  wissenschaftHcher 
dn<^o<;ischer  Theorien  denkt,  z.  B.  an  Herbart.  „Erfinder  neuer, 
hnbrechender  pädagogischer  Systeme  war  er  nicht."  (Binder  in 
r  Allgemeinen  Deutschen  Biographie,  Bd.  23.)  Aber  das  steht 
X:  Der  Lehrer  unserer  Tage  —  und  nicht  nur  der  Religions- 
ircr  — ,  der  sich  Zeit  nimmt,  Niemeyers  sicherlich  oft  etwas  ins 
eitc  j^chcnde  Ausführungen  zu  lesen,  wird  dies  nicht  ohne  Gewinn 
-  sich  und  sein  Amt  tun,  wie  das  auch  der  Schreiber  dieser  Zeilen 
m  Schluss  dankbar  von  sich  bekennt. 


III. 

Zum  Katechismusunterricht 

Von  SclMil»t  Dr.  B.  Staflde. 

Der  Streit  um  den  Katechismusunterricht,  um  Sein  oder  Nicht' 
sin«  um  seine  Stellung  und  Methode  dauert  nun  schon  Jahrzehnte, 

nd  noch  ist  sein  Knde  nicht  abzusehen.  Wer  dies  Auf-  und  Ab- 
rollen der  Ansichten  und  h'orderungen  verfolgt  hat  und  dal)ei  den 
)ingen  auf  den  Grund  zu  blicken  vermag,  der  wird  bald  zu  der 
Überzeugung  gekommen  sein,  dass  es  sich  hierbei  in  erster  Linie 
licht  um  einen  methodischen  Streit  handelt,  sondern  um  einen 
achlichen  Zwiespalt,  um  eine  kirchlich-religiöse  Differenz,  und  dass 
)ei  allen  Beteilicften  bewusst  oder  unbewusst,  ausfrcsprochen  oder 
inausgesprochen  massgebend  ist  die  Stellung,  die  sie  zum  Glaubens» 
nhalt  des  Lutherischen  Katechismus  einnehmen.  Bei  allen  ist  die 


22  — 


entscheidende  Frage:  Deckt  sich  tler  Glauheiisinhalt  tics  Katcchismn'^ 
mit  unserer  religiösen  UberzeuL,nni<^\  mit  dem  Christentum,  das  wir 
als  moderne  evangelische  Christen  haben  und  unseren  Schülern  für 
das  Leben  mitgeben  möchten?  Decken  sich  insbesondere  die  von 
Luther  verkündeten  Glaubenssätze  und  altkirchlichen  Dogmen  über 
Person  und  Werk  Christi  noch  mit  unserer  an  der  wissenschaftUchen 
Darstellung^  des  ursprünglichen  KA'angeliums  <]^ereiften  Ansrhauunf^? 
Diese  Frage  wird  je  nach  dem  religiösen  Standpunkt  des  Kritikern 
bejaht  oder  verneint,  sei  es  glattweg  oder  mit  Einschiänkungen. 
Wer  die  Frage  bejaht,  kann  und  wird  für  den  Katechismus  ein- 
treten, sei  es  auch  nur  unter  gewissen  Voraussetzungen,  wer  sie 
verneint,  wird  dem  Katechismus  seine  Berechtigung  im  I,chrplan 
bestreiten  und  wird  zur  Unterstützung  dieser  Absage  erst  recht  auf 
die  methodischen  und  formellen  Bedenken  hinweisen,  die  gegen 
den  Katechismus  geltend  gemacht  werden  können.  Dieser  kom- 
plizierte  Stand  der  Frage  reizte  mich  zu  einer  Zeit,  wo  ich  gerade 
mit  dem  Problem  des  „Schulkatechismus"  beschäftigt  war,  mich  in 
die  IVage  zu  vertiefen,  um  ein  wirklich  sachverständiges,  selb- 
ständiges Urteil  zu  gcvvimieti.  Nicht  ohne  Vorurteil  in  Betreff  des 
dogmatischen  und  unpädagogischen  Charakters  des  Lutherschen 
Büchleins  trat  ich  an  dasselbe  heran,  studierte  vor  allem  den 
grossen  Katechismus,  vertiefte  mich  dann  in  die  gfedie^enste  neuere 
Katechismusliteratur  und  verband  damit  praktisclie  Versuche.  Das 
Ergebnis  dieser  Bemühungen  waren  meine  „Präparationen  zum 
Katechismusunterricht",^)  und  hierin  schon  liegt  das  Bekenntnis» 
dass  ich  die  oben  aufgeworfene  Kernfrage  bejaht  habe.  Warum f 
Mit  oder  ohne  Einschränkung? 

Ich  erkannte  vor  allem ,  dass  I.uthers  Katechismus  kein 
theoretisches  Sv'stem  der  christhchen  Lehre  ist,  sondern  ein  persön- 
Uches  Bekenntnis  Luthers  bezw.  des  evangelischen  Christen,  eine 
praktische  und  gemütliche  Herzens*  und  WUlenserklärung  desselben 
inbezug  auf  seine  durch  Christus  vermittelte  Gemeinschaft  mit  Gott 
Er  stellt  daher  dem  Unterricht  die  ebenso  einlache  als  schwicric^e 
Auf^^abe.  dem  durch  die  biblisclie  ( reschichte  und  die  ihr  ent- 
sprechende i..ebcnscrfahrung  vorgebildeten  jungen  Christen  die 
„innere  Leichtigkeit"  zu  schaffen,  dereinst  das  allgemeine  kirchliche 
Bekenntnis  zu  seinem  eigenen  zu  machen,  den  von  Luther  aus« 
geprägten  Glaubensstand  und  Lebensstand  zum  peisönlichen  Besitz 
auszugestalten. 

Wie  steht  es  aber  nun  mit  den  sachhchen,  religiös-theo- 
logischen Bedenken  gegen  den  Katechismus,   mit  der  viel 


1)  Der  KatccIiisRraBttnterricht.   T«U  I.   Das  erste  Hmuptstfick  (3.  «1.  4.  Auflag). 

Teil  II.  Das  zweite  Ilauptstiick  (3.  u.  4.  .\uftagc.)  Teil  III.  lUs  driUe  llauptstü  k 
und  aU  AnhaDg:  Viertes  und  fünfte»  Ilauptsliick  (2.  u.  3.  Auflage).  Dresden  190S, 
Verlas  ^o»         ^  Kaemmerer  (O.  Schambsch). 


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—  23  — 


reiteten  Anschauung,  dass  der  Katechismus  die  Verkörperung 
Schutzstättc  längst  überwundener  Dogmen  sei?  Da  habe  ich 
in  Übereinstimmuog  mit  den  besten  Kennern  die  Überzeugung 
onnen,  dass  Luther  in  seinem  Katechismus  nicht  Dogmatik  und 
olo^ic ,  sondern  religiöses  Leben  und  persönliche  Glaubens- 
issheit  lehren  wolle  und  darstelle.  Denn  er  hat  in  seinem 
schismustext  keines  der  grossen  altkirchlichen  iiauptdogmen 
Trinität«  Zweinatarenlehre,  steUvertretende  Genugtuung  als  zum 
.sglauben  gehörig  verkündet,  ja  er  hat  nicht  einmal  seine 
>lingslehre  von  der  Rechtfertigung  erwähnt.  Er  liat  vielmehr 
die  religiöse  Bedeutung  des  Werkes  und  der  Person  Christi  für 
Christen  unter  dem  alleinigen  Gesichtspunkt  der  Erlösung  dar- 
teUt.  Er  hat  also  weder  seine  noch  irgend  eine  Thedc^e  hier 
iergelegt,  sondern  nur  Religion.  Wohl  haben  bei  der  Prägung 
ler  Sätze  jene  theologischen  Denkergebnisse  mitgeschwungen, 
l  Luther  hat  sie  natürlich  voran sg^esetzt ,  T.um  Teil  auch  an- 
leutet  (Erbsünde,  erlösende  Kraft  des  Todes  Christi),  aber  sie 
>en  keinen  Einfluss  auf  seine  Glaubensdarstellung  ausgeübt 
nn  für  den  Gläubigen  hat  Luther,  wie  Hamack  so  gründlich 
:hgewicsen,  das  altkirchliche  Dogma  als  solches,  d.  h.  als  ein  die 
i^^kcit  bedingendes  Lehr^csf-t/  aufgelöst,  wenn  er  auch  noch 
ht  selbst  diese  theoretisciic  Konsequenz  aus  seinem  faktischen 
inütsveriiältnis  zu  Gott  und  Christus  gezogen  hat.  Wer  also 
!se  Konsequenz  zieht,  der  legt  nichts  Unlutiierisches  in  Luthers 
orte  hinein,  sondern  hält  sich  an  das  Bleibende  in  Luthers  reli- 
isem  f.eljen  gegenüber  dem  zeitlich  Bescliränktcn  in  seinem 
üologischen  Denken.  So  hat  Lnther  in  seinem  Kntrchismus  nichts 
sgesprochen,  was  das  Denken  der  Christen  an  alte  Dogmen 
iden  soll,  sondern  nur  was  sein  Herz  und  seinen  Willen  religiös 
i  Gott  und  Christus  tnndet  Das  gilt  meines  Erachtens  auch  flir 
:n  stärksten  dogmatischen  .\usdruck  Luthers:  „wahrhaftiger  Gott, 
>m  Vater  in  K\vi<Tfkeit  j^^eboren".  l.uther  wollte  mit  dein  Begriff 
wahrhaftiger  Gott"  nicht  das  Dogma  von  der  Gottheit  Christi  fest- 
gen,  sondern  er  wollte  dem  darzustellenden  Eriösungswerk  von 
>mherein  die  letzte  und  höchste  Bürgschaft  für  seine  wirkliche  | 
ollendung  mitgeben;  denn  nur  wenn  Christus  auch  auf  die  Seite 
ottes  gehört,  wenn  Gott  selbst  durch  ihn  mit  uns  handelt,  gilt  die 
on  ihm  gebrachte  Vergebung.  Und  wenn  Luther  hier  noch 
reiteigeht  und  aus  dem  Nlcänum  noch  das  „vom  Vater  in  Ewigkeit 
eboren"  herübernimmt,  so  will  er  auch  hiermit  nicht  das  ihm 
elbstverständliche  Dogma  als  ein  zum  Seligwerden  q^chörcndes 
rchrgesetz  festlegen,  sondern  er  benutzt  bloss  die  Athanasianische 
*ormel,  mit  der  einst  die  Kirche  in  den  Denkformen  ihrer  Zeit  die 
Gottheit"  Jesu  bezeichnete,  um  die  för  die  Erlösung  unbedingt 
idtige  gotdiche  Seite  der  Person  Jesu  so  deutlich  als  möglich  aus* 
lud^ckeo.    Und  so  wurde  ihm  die  „Gottheit"  Jesu  aus  einem 


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—    24  — 


Unterwerfung  des  Verstandes  heischenden  Lehr^j^csct/.  ein  herz- 
beglückendes,  eriosungwirkendes  Evangelium,  das  im  Grunde  nichts 
anderes  sagt  als  das  jedem  Christen  selbstverständliche,  einfache 
Wort:  Grott  war  in  Qiristo.  So  berührt  sich  Luther  mit  unserer 
modernen  Anschauunj^,  dnss  Relis^ion  eine  von  der  Theologie  völlig 
unabhängige  Grösse  ist,  dass  die  theologischen  \'orsteUungen  und 
Begriffe  bloss  wechselnde  Darstellungen  des  wirklichen  Glaubens 
sind,  und  dass  es  im  Verhältnis  zum  Wert  des  wirklichen  Glaubens- 
lebens ziemlich  gleichgültig  ist,  ob  dieses  durch  orthodoxe  oder 
liberale  Anschauungen  getragen  wird.  (Es  wird  Sache  der  sonstigen 
Weltanschauung  und  r>)enkweisc  sein ,  welchen  von  diesen  beiden 
Wegen  man  selber  gehl  und  andere  führt)  Die  Dogmatik  Luthers 
braucht  also  dem  heutigen  Katecheten  keine  Schmerzen  und  Skrupel 
zu  bereiten;  er  kann  ruhig  der  modernen  pädagogischen  Forderung: 
Ausscheidung  oder  Zurückdrängung  des  theologischen  und  dog- 
matischen Elementes  im  Katechismusunterricht  Folge  leisten  und 
wird  dabei  entdecken,  dass  von  dieser  Ausscheidung  Luther  selbst 
weit  weniger  betrofTen  wird  als  die  spätere  katechetische  Tradition, 
die  erst  so  massenhaft  Theologie  eingetragen  hat;  gewisse  theo- 
logische Lehren  des  altkatbolischen  Apostolikums  (Geburt  von  der 
Jungfrau,  Höllenfahrt)  aber  wird  der  Lehrer  durch  alleinige  Be- 
tonung der  Lutherschen  Erklärung  als  unwesentlich  zurücktreten 
lassen. 

So  ist  also  der  Katechismuslehrer  berechtigt  zur  W^lassung, 
bezw«  Umdeutung  und  Erweichung  der  altkirchlichen  Dogmen,  ja 
er  kann  sich  dabei  auf  den  undogmatischen  Geist  Luthers  selber 
berufen;  er  kann  sein  modernes  Christentum,  d.  i.  die  durch  die 
moderne  Wissenschaft  als  Kern  des  Evangeliums  bestätigte  Luthersche 
Gnindauffassung  der  christlichen  Religion»  ruhig  in  die  von  Luther 
geprägten,  klassischen  und  weitherzigen  Formen  hineinl^en  und 
den  Kindern  in  dieser  Fassung  übermitteln. 

Die  methodischen  Bedenken  'J:ep[en  den  Katechismus 
lassen  sich  meines  Erachtens  noch  leichter  beseitigen  oder  ab- 
schwächen. Wenn  man  auf  die  Ungereimtheit  hinweist,  dass  man 
hier  erst  einen  Grundtext  und  dann  noch  einen  diesen  erklärenden 
Text  zu  erklären  habe,  so  ist  mit  Bornemann  7.\^  erwK^crn,  dass  es 
sich  für  uns  evanji^elische  Christen  wesentlich  nur  um  die  von 
Luther  gegebene  evangelische  Deutung  der  teils  vorchristlichen 
(L  Hauptstück),  teils  alScatholischen  (II.  Hauptstück}  Texte  handelt, 
während  (nach  meiner  Ansicht)  beim  IIL  Hauptstuck  der  evan* 
gelische  Grundtext  massgebend  bleibt.  Befürchtet  man  ,  dass  die 
abstrakte  Form  des  Katechismus  zum  Begriffespalten  und  -definieren 
und  zum  Verbalismus  verführt,  so  ist  dieser  Verirrung  durch 
reichlidics  Herandehen  von  Anschauungsmaterial  aus  der  biblisdien 
Geschichte  und  noch  mehr  aus  der  iSidlichen  Lebenserlabning  zu 
begegnen,  wie  ich  in  meinen  „Präparationen''  genügend  gezeigt  zu 


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—    25  — 


1  glaube.  Die  Sorge  über  Verfrühung  des  Lehrhaften  und 
matischen  beseitigt  der  Lchrplan ,  indem  er  den  Katechismus 
e  letzten  Sciiuljahre  setzt  und  vorher  nur  einzelne  Stücke  des- 
n  gelegentlich  aus  der  biblischen  Geschichte  gewinnen  iässt. 
Igt  man  die  sprachliche  Schwierigkeit  des  Katechismustextes 
die  Mühsal  seiner  Einprägung,  so  ist  darauf  hinzuweisen,  dass 

jetzt  schon  vielfach  die  lirklärun^  zum  V^atcrun^er  nicht 
orieren  lässt,  was  ich  als  völlig  berechtiget  nachi^^ewiesen  zu 
n  glaube  (Teil  lllj,  und  schon  darangeht,  auch  beim  I.  und 
auptstück  den  zu  lernenden  Text  wesentlich  zu  verkürzen,  was 
auch  lur  zulassig  halte,  da  ja  dadurch  die  Zugrundelegung  des 
ersehen  Textes  für  die  Besprcchunc^  niclit  l^eschränkt  wird. 

man  zu  dieser  Vermeidung  von  l'chlcrn  noch  als  positive 
jesscrungen  hinzu:  die  christozentrischc  Behandlung  des  I.  Haupt- 
kes  und  des  i.  Artikels,  und  demgemSss  die  theozentrische  des 
.rtikels,  ferner  die  Auffassung,  dass  das  I.  Haujitstück  nicht  ein 
lenspiegel  sein,  sondern  das  Idealbild  christlicher  Vollkommenheit 
teilen  soll,  weiter  dass  in  jedem  Hauptstück  das  ganze  Christen- 

enthaiten  ist  und  in  jedem  nur  unter  einem  anderen  Gesichtspunkt 
efasst  wird,  und  ist  man  ach  stets  bewusst,  dass  es  sich  im 
echismusunterricht  nicht  um  das  Idealziel  handelt,  den  Kindern 
volle  Aneignung  des  evangelischen  Christentums  zu  vermitteln, 
iern  nur  um  die  erreichbare  Aufgabe,  ihnen  Interesse  un'd  Vcr- 
.dnis  für  die  Hauptpunkte  des  Christenglaubens  beizubringen 

ihnen  so  die  innere  Leichtigkeit  zur  dereinstigen  Gewinnung 

vollen  Glaubens  zu  verschalfen  —  so  ist  meines  Erachtens 
5  geschehen,  um  auch  bei  dem  heutigen  Stand  der  Dinge  den 
echismus  Luthers  dem  abschliessenden  Religionsunterri(At  der 
nie  zu  Grunde  zu  legen  und  mit  Erfolg  zu  behandeln. 

Die  wichtigste  Voraussetzung  ist  und  bleibt  die  Berechtigung 

freien  Stellung  des  Katecheten  zu  allem  Dogmatischen,  das  im 
:cchismus  vorausgesetzt,  angedeutet  oder  ausgesprochen  wird, 

Recht  zur  Erweichung  und  Umdeutung  des  Dogmas  bezw.  zur 
-ückführung  desselben  auf  den  religiösen  Kern,  dessen  Ausdruck 
sein  sollte.  Denn  gerade  auf  dem  tiefuuicriichen  Gebiet  der 
ligion  duldet  das  evangelische  Gewissen  keinen  Gewaltspnich  des 
alogisch  -  kirchlichen  Lehrgesetzes,  und  das  religfiöse  Leben  des 
hrouden  kann  nur  gedeihen  und  wirken,  wenn  es  frei  aus  ihm 
ber  quillt.  Das  ist  aber  eben  die  Not  der  Zeit,  dass  viele  religiös 
iinnte  Lehrer  den  iCatechismus  als  eine  Sammlung  von  Dogmen 
d  zwar,  wie  sie  später  erkennen,  von  überwundenen  Dogmen, 
ffassen,  weil  es  ihnen  nie  anders  dargestellt  wurde,  dass  sie  nun 
f  dieser  Grundlage  Religionsunterricht  erteilen  sollen  unti  dass  sie 
zu  oft  von  Behörden  beauftragt  werden,  die  gerade  das  Dog- 
itische  für  das  Wesentliche  am  Christentum  halten  und  betont 
ssen  wollen.    Grerade  diesen  Lehrern  wollte  ich  einen  Dienst 


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—    26  — 


erweisen,  indem  ich  ihnen  die  Mo;7lichkcit  zcii^te,  auch  ihr  modernes, 
freies  evangelisches  Christentum  in  die  ehrwürdigen  Sätze  Luthers 
hineinzulegen.  Ihnen  wollte  ich  ein  Hilfsmittel  bieten,  das  —  wie 
sie  selbst  —  sich  erhebt  über  die  herkömmliche  dogmatisch-theo- 
logische Lehrweise  und  doch  dem  bleibenden  evangelischen  Gehalt 
des  Lutherischen  Katechismus  i^^erechl  wird.  Ein  solches  L^ntcr- 
nehmen  muss  ich  für  wohlberechtigt  und  zeitgemäss  halten,  weil  es 
dem  an  den  Katechismus  gebundenen  L^rer,  der  sich  selbst  nicht 
mehr  an  die  altkirchliche  Theologie  bindet  ^  den  gegebenen  Weg 
zagt  oder  gehen  hilft,  um  in  freiem  und  doch  biblischem  Geist,  mit 
gutem  Gewissen  und  gutem  Erfolg  Luthers  Katechismus  zu  be- 
handeln. Und  wenn  ich  auch  in  dieser  Auffassung  und  vor  allem 
in  dieser  Behandlung  des  Katechismus  noch  ziemlich  isoliert  stehe, 
so  glaube  ich  doch  in  gutem  Rechte  zu  sein,  weil  ich  nicht  durch 
negatix  e  Verstandeskritik  dazu  gekommen  bin .  sondern  durch 
positives  Zunirkc^ehen  auf  Luthers  Lebenswerk  und  auf  die  offenbare 
Tendenz  seines  Katechismus,  nur  Religion,  nicht  Dogrnatik  zu  lehren. 

Es  gibt  noch  andere  Wege,  um  den  vermeintlichen  oder  wirk- 
lichen ähwierigkeiten  zu  begegnen,  die  Luthers  Katechismus  in 
dogmatischer  Hinsicht  bereitet.  Viele  Sdiulmänner  schlagen  jetzt 
vor,  dass  dir  Wilksschule  /war  den  geschichtlirf^n  Religions- 
unterricht übernehme,  während  die  Kirche  in  einem  erweiterten  und 
vertieften  Koniiraiandcnunterricht  den  Katechismus  als  Einführung 
in  das  Bekenntnis  der  Gemeinde  behandeln  solle.  Diese  Lösung, 
die  auch  ich  schon  1882  vorgeschlagen  habe,  setzt  aber  ein  Idrchen- 
und  «chul.^fcschichtHchcs  Fntwicklungsstadium  voraus,  auf  dem  wir 
eben  noch  nicht  angelangt  sind,  und,  was  die  Hauptsache  ist,  sie 
schiebt  einfach  die  Entscheidung  über  die  zweckmässigste  Gestaltung 
des  abschliessenden  Religionsunterrichtes  aus  dem  schulischen  in 
das  kirchliche  Gebiet  hinüber;  denn  auch  hier  bleibt  noch  die 
reli^^ionsmethodische  Fraj^c  bestehen:  Soll  dieser  Abschluss  im 
Ansehluss  an  den  Katechismus  geschehen  oder  nicht?  Andere 
Methodiker  empfehlen  neuerdings  als  den  einfachsten  Ausweg, 
Luthers  Katechismus  im  Unterricht  auch  der  Volksschule  als  ein 
rein  historisches  Zeugnis  vergangenen  Glaubenslebens  aufzufassen 
und  daraustellen  und  ihn  demgemäss  als  ein  kirchcngeschichtliches 
Ouellenstück  in  aller  Kürze  zu  behandeln.  Damit  entkleiden  sie 
aber  den  Katechismus  seines  normativen  Charakters,  und  gerade 
diesen  normativen  Charakter  müsste  meines  Erachtens  der  Lehr- 
stoff haben,  der  dem  abschliessenden  Religionsunterricht  zu  Grunde 
gel^  wird.  Denn  die  blosse  Gruppierung  und  Durcharbeitung  des 
im  geschichtlichen  Relic^ionsuntcrricht  gewonnenen  Systems  f,,Schul- 
katechismus";  kann  doch  sicherlich  nicht  die  rechte  Mitgift  der 
Schule  an  die  ihr  entwachsende  Jugend  sein,  und  die  blosse 
Historie  (Bibel  und  Kirchengeschichte)  und  deren  Besprechung 
genügen  auch  nicht,  sondern  irgend  einmal  müssen  wir  auch  beim 


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iscben  Religionsunterricht  aus  den  geschichtUchea  Relativitäten 

den  stets  wechselnden  Zcitanschaiiun.^en  hcrnu'-kommcn  und 
luf  den  Boden  des  absoluten  Glaubcnsurteils  und  VVerlurteüs 
II,  damit  die  Kinder  gerade  zur  Zeit  ihrer  höclisten  schulischen 
klar  und  deutlich  erfahren,  wie  ihr  Lehrer  über  die  grossen 
isfragen  denkt,  und  was  für  sie  selbst  die  höchste  religiös- 
hc  Wahrheil  sein  snU.  Der  aljseliliessende  Relii^ions- 
'icht  muss  nlso  einen  normativen  Cliarakter  haben  und  wird 
i  am  besten  im  Anschluss  an  eine  möglichst  allgemein  an- 
nmene  Norm  erteilt,  und  als  eine  striche  Norm  kann  unter 
oben  angegebenen  Einschränkungen  noch  immer  Luthers 
liismus  angesehen  und  verwendet  werden,  so  lange  kein 
er,  /.cii<,'eiTiäs«;er  und  kirehlich  sanktionierter  Ausdruck  des 
clischen  Christentums  vorhanden  ist. 

:h  weiss,  dass  ich  mit  meiner  Bejahung  und  Behandlung  des 
tischen  Katechismus  manchem  Lehrer,  der  von  mir  völlig  neue, 
vatechismus  abführende  Wege  im  abschliessenden  Religions- 
icht  erwartete,  eine  P^nttäuschung  bereitet  habe.  Andererseits 
labe  ich  auch  bei  manchem  Rezensenten  ob  meiner  „Rück- 
(vom  Schulkatechismus)  zum  Lutherschea  Katechismus  An- 
lung  und  Lob  gefunden.  Auf  die  Gefahr  hin,  nunmehr  beiden 
en  zu  missfallcn,  muss  ich  aber  erklären:  P2s  war,  wie  ich 
oben  anf^edeutct  habe,  von  jeher  mein  Ideal,  dass  die  Volks- 

nur  geschichtlichen  Religionsunterricht  erteilen,  die  Kirche 
Icn  Katechisrausuntcrricht  übernehmen  sollte,  wobei  ich  die 
ng  hegte,  dass  die  Kirche  bald  einen  treffenderen  und  zeit- 
icn  Ausdruck  für  ihr  evangelisches  Bekenntnis  finden  werde, 
lies  Ideal  kann  unter  den  gep, ebenen  Verhältnissen  noch  nicht 
dicht  werden,  und  die  HolTnung  auf  eine  Neuerung  im 
•nsbekenntnis  bleibt  bei  dem  konservativen   Lnarakicr  der 

und  der  Schwierigkeit  der  Aufgabe  sehr  schwach.  Und  so 
oraussichtlich  noch  ein  längeres  Interim  eintreten,  während 

sich  der  Religionsunterricht  in  der  Kirche  sowohl  als  auch 
Schule  mit  der  historisch  gewordenen  und  gegebenen  Norm 
itherischen  Katechismus  so  gut  als  möglich  abfinden  muss. 
im  Ende  der  Entwicklung  stehen  wir  noch  nicht,  und  noch 
steht  die  Im  age  nach  der  besten  Gestaltung  und  Krönung  des 
lischen  Reüf^ionsuntcrrichtcs  offen. 

d  so  ist  auch  das  Kr^ehnis  meiner  obigen  Darlegungen  nur: 
)schliessendc  Religionsunterricht  kann  an  den  Lutherischen 
ismus  angeschlossen  werden,  aber  nicht:  Kr  muss  daran 
ilossen  werden.  Und  deshalb  wahre  auch  ich  mir  das  Recht, 
iidcrcn  besseren  Anschlüssen  und  Wethen  zu  suchen.  Und 
^cht  aucii  die  Richtun[:,f  der  Bewegvnig  in  den  führenden 
gischen  und  theologischen  Kreisen,  nämlich  vom  Katechismus 
nicht  auf  ihn  zu.    Hierin  wirken  mancherlei  Gedanken  und 


« 

~    28  — 


Anschaiiiini^cn  zusammen.  Vor  allem  wird  der  ö\f^  Rcligions- 
mcthodik  immer  stärker  beherrschende  Gedanke,  dass  die  Wirkung 
des  Religionsunterrichtes  vor  allem  in  der  anschaulichen  Vorführung 
religiös  •sittlicher  Persönlichkeiten  und  ihrer  konkreten  Lebens« 
äusseningen  liege,  das  Lehrhafte  und  Systematische  immer  mehr 
zurückdrängen  und  wird  für  das  Wcnit^c ,  was  auf  diesem  Gebiet 
noch  bleibt,  homogene  AnschlussstolTe  und  Kristallisationskeme 
suchen.  Dazu  kommt,  dass  jede  Zeit  nach  einem  eigenen  treffenden 
Ausdruck  ihrer  Frömmigkeit  strebt,  dass  die  kommende  Zeit  dies 
Bedürfnis  in  weit  stärkerem  Masse  geltend  machen  wird  und  sich 
daher  immer  mehr  von  der  Umdeiitun<:;^  und  Erwcichunc^  der 
historisch  gegebenen  Begriffe  und  Lclirformen  wie  von  etwas  l  in- 
wahrem abwenden  wird.  Ohne  diese  ümdeutung  der  allklassischen 
Sprache  und  Begriflfswelt  ist  aber  Luthers  Katechismus  nicht  als 
Ausdruck  des  modernen  evangelischen  Christentums  zu  brauchen. 
Ungünstig  für  Luthers  Katechismus  ist  auch  seine  Verbindung  mit 
dem  für  viele  evangelische  Christen  als  Bekenntnis  unannehmbaren 
Apostolikum  und  die  wie  in  jeder  Glaubensformulierung  so  auch 
im  Katechismus  ruhende  Gefaihr,  dass  sich  die  Unterweisung  ins 
Dogmatische  und  Lehi^setzliche  verirre.  Alle  diest  Gedanken 
und  Bestrebungen  wirken  langsam  aber  sicher  gegen  die  Erhaltung 
des  Katechismus  als  Grundlage  für  den  abschliessenden  Religions- 
unterricht der  evan^^elischen  Jugend,  und  .  so  wird  die  fort- 
schreitende Entwicklung  wohl  damit  enden,  dass  der  Luthersche 
Katechismus  dereinst  aus  dem  Religionsunterricht  der  evangelischen 
Volksschule  ausscheidet  (abgesehen  von  den  zehn  Geboten  und  dem 
Vatenmser,  die  Bestandteile  des  biblischen  Unterrichtes  bleiben) 
und  schliesslich  auch  aus  der  kirchlichen  Katechese  verschwindet, 
sei  es  mit  oder  ohne  Ersatz  durch  eine  zeitgemässe  Formulierung 
des  evangelischen  Christentums. 

Aber  bis  dahin  muss  noch  in  der  Mehrzahl  der  evangelischen 
Volksschulen  RcHf]fionsunterrirht  nach  Luthers  Katechismus  erteilt 
werden,  und  für  dies  Interim  verspricht  die  Behandlung  des 
Katechismus  nach  den  von  mir  angegebenen  Gesichtspunkten  und 
Einschränkungen  und  auf  den  in  meinem  Buch  beschrittenen  Wegen 
noch  immer  einen  guten  Erfolg.  Also  nicht  das  Ideal  des  ab- 
schliessenden Rclit:;ionsunterrichts  suclitc  ich  darin  zu  verwirkHchcn, 
denn  daran  werden  noch  viele  Jahrzehnte  zu  arbeiten  haben,  sondern 
ich  wollte  nur  zeigen,  dass  und  wie  Luthers  Katechismus  dogmatisch 
freier  und  methodisch  richtiger  behandelt  werden  kann  und  dadurch 
dazu  helfen,  dass  Luthers  Katechismus  auch  in  unserer  Übergangs- 
zeit  der  religiösen  Bildung  der  evangelischen  Jugend  diene. 


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IV. 


fldartliche  Wörter  und  Wendungen  im  deutschen 

Aufsatze.') 

Von  Dr.  Richter  io  Kochliu. 

ist  am  besten,  wir  fassen  gleich  anfangs  die  Bedenken 

len,  die  uns  das  Thema  aufdrängt. 

IS  will  die  Mundart  im  deutschen  Aufsatze?  Die  Kinder 
Joch  in  neuhochdeutscher  Sprache  etwas  aufsetzen  lernen. 

die  Sprache,  die  jeder  Deutsche  versteht  und  die  darum 
i  Schulen  des  Reiches  gddut  und  gelernt  wird.    Wie  viel 

und  Geduld  fordert  es  namentlich  auf  der  Unterstufe,  dem 
Tolpatsch  fiir  seine  plumpen  und  derben  Ausdrücke  das 
leutsche  Wort  einzutauschen  und  nach  und  nach  geläufig 
henl  Der  Lehrer  auf  dem  Lande  weiss  ein  Lied  davon  zu 

Und  wenn  dann  glücklich  ein  Vorrat  an  Wörtern  und 
ic^en  aufi^estapclt  ist  und  wir  der  Mundart  nicht  mehr  be- 
(lanii  will  sie  sich  wieder  eindrängten?  Das  Aufsatzdeutsch 
h  Wühl  eine  solche  Mischung  nicht  gefallen  lassen. 

Bedenken;  Zur  Mundart  gehört  die  Sprache  der  Hauern- 
auf dem  Felde,  im  Hofe  und  Stalle,  des  Grassenjui^gen  auf 
issc  —  alle  die  verunstalteten,  groben,  derben  Ausdrücke  — 
crissenen  Redeweisen  —  die  abgebrochenen  Darstellungen, 
wir  allem  diesem  ungewaschenen  Gesindel,  dessen  Namen 
kaum  zu  schreiben  vermochten,  ein  iiausrecht  neben  unseren 
beren  neuhochdeutschen  Wortkindem  gewähren? 

bedenken:  Was  soU  auch  die  Mundart  in  unserem  Aufeatze? 
id    doch   bisher  mit  gemeindeutschen  Ausdificken  aus- 

icn.  Vielleicht  ist  es  nur  eine  Liebhaberei  von  mir,  den 
ind  auch  im  Aufsätze  als  etwas  Beachtenswertes  anzusehen* 

r  Wortkundc,  da  liegt  die  Sache  anders  I 

.  sind  3  Bedenken,  die  schwer  genug  wiegen,  um  aufstützig 
hen;  das  letzte  kann  sogar  Misstrauen  erwecken.  Wir 
darum  recht  sachlich  nachprüfen,  ob  hier  ein  Wert  gefunden 
kann,  der  für  die  Schule  brauchbar  ist.  Ich  will  deshalb 
r  tatsächlich  Erfahrenes  vorlegen  und,  so  weit  möglich, 
ches  aus  dem  Spiele  lassen. 

>rtra$r.  ^(  haltcD  «Ulf  dcf  Hauptkoikfereitt  de«  SdudioapcItUoiubedila  RocUits 

jtember  190S 


—  30  — 
T. 

Hit  welchem  Rechte  kann  die  Mundart  einen  Platz  Im  Aufsatze  verlangen?  Kau 
sie  Werte  aufzeige«  —  und  welche  Werte,  die  wir  brauotien  können 

oder  gar  müuwf 

Ich  behaupte  zunächst: 
der  Aufsatz  muss  nach  Inhalt  und  Ausdruck  wahr  sein. 

Wenn  ich  vom  Aufsatze  rede,  so  meine  ich  nicht  die  Nach- 
schrift von  Ergeboissätzen,  sondern  die  soweit  möglich  selbständige 
schriftliche  Darstellung  eines  Gegenstandes.  Auf  der  Unterstufe 
und  Mittelstufe  macht  ein  solcher  Aufsatz  Schwierigkeit,  da  die 
Kinder  in  Schreiben  und  Rechtschreibung^  noch  zu  wenig  fertig 
sind;  aber  es  gibt  ja  nach  Inhalt  und  Umfang  angemessene  Stoffe. 
Und  ausserdem  unterstützt  die  Hand  des  Lehrers  in  entsprechender 
Weise.  Wo  es  auch  sei»  der  Schüler  muss  den  äusseren  Vorgang, 
über  den  er  bericlitet  so  erzählen,  wie  er  wirkUdi  war  oder  sein 
konnte.  Und  britiL^t  er  seine  eigene  Stimmung  hinzu,  so  werde  ich 
auch  da  Unwahrscheinliches  und  Gekünsteltes  zurückweisen.  Kurz: 
der  Inhalt  muss  wahr  sein. 

Zwischen  Schüler  und  Lehrer  vermittelt  die  Sprache.  Will  ich 
ein  ganz  natürliches  Bild  bekommen,  so  muss  ich  mündlich  be* 
richten  lassen.  Nur  die  gesprochene  Sprache  —  nicht  die  ge- 
schriebene —  kann  das  Krlcbte  voll  ausdrücken,  und  sie  ist 
namentlich  die  Sprache  des  Kindes. 

Wie  schwierig  ist  daher  der  Aufsatzunterricht,  der  die  Schüler 
befähigen  soll,  schriftlich  darzustellen.  Es  ist  das  Geringste,  dass 
seine  Sätze  grammcitis.ch  und  orthographisch  einwandfrei  sind ;  das 
ist  .Aufgabe  der  Spraciilehrc  und  Rechtschreibung.  Die  Haupt- 
sache ist  die.  Der  Schüler  soll  seine  Erzählung  schriftlich  so  dar- 
stellen lernen,  dass  der  Leser  genau  sieht,  was  der  Schreiber  sah, 
das  fühlt,  was  jener  ftihlte.  Der  Ausdruck  soll  nach  und  nach  dem 
Gegenstande  und  dem  persönlichen  Jundrucke  entsprechend:  also 
wahr  werden.  —  Die  Schwierigkeit  wird  dadurch  grosser,  dass  sich 
der  Schüler  der  gemeindeutschen  Schriftsprache  bedienen  muss,  die 
er  sich  erst  in  der  Schulzeit  aneignet,  während  sein  mündlicher 
Ausdruck  ausserhalb  der  Schule  mundartlich  ist.  Wir  werden  nodi 
sehen,  ob  er  an  allen  Orten  mit  gemeindeutschen  Ausdrücken  aus- 
kommen kann,  daran  müssen  wir  jedenfalls  festhalten:  der  Aufsatz 
muss  nach  Inhalt  und  Ausdruck  wahr  sein. 

Wenn  ich  so  die  schlichte  Wahrheit  im  Ausdruck  als  den 
Massstab  fUr  die  Aufsatzsprache  hinstelle,  so  weise  ich  zugleich 
andere  Instanzen  ab,  die  z.  Z.  mit  halber  oder  ohne  Berechtigung 
mitsprechen  wollen.  —  Wie  von  selber  hat  die  beschreibende 
Sprachlehre  einen  Einfluss  erlangt,  indem  ihre  Satzbeispielc 
schlechthin  als  normal  angesehen  werden;  und  so  glauben  viele 


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,  nur  solche  Satzgebilde  nach  Wortwahl  und  Wortstellung 
Fsatzc  schreiben  zu  dürfen,  wie  sie  in  der  Sprachlehre  be- 

:  wurden.  Ich  habe  den  Eindruck,  dass  die  Grammatik 
mli' h  eine  Analyse  der  geschriebenen  Wörter  und  Sätze  sei. 
rbcit  kommt  in  erster  Linie  ihrem  System  und  dann  der 
chreibung  zugute,  die  Kernfrage  des  Aufsatzunterrichtes  aber: 
"ücke  ich  mich  richtig  aus?  und:  Warum  ist  nur  dieser  Aus- 
nchtig?  lässt  sie  meist  ausser  acht.  Ich  bin  auch  der  Meinung^ 
an  auf  der  Unterstufe  aus  technischen  Gründen  weniger  und 
^ätzc  schreiben  lasse,  aber  man  darf  dabei  nicht  vert^e^scn: 
jentliche  Sprache,  das  ist  nicht  die  vun  der  Grauuiiatik 
e  und  geheiligte  —  das  ist  jdie  gesprochene  Sprache.  Welche 
:  aber  leistet  die  Sprachlehre  der  lebendigen  Sprache  des 
,  die  sich  in  allen  Formen  wenn  sie  auch  nicht  benannt 
-  schon  darbietet?  Ich  habe  die  (xrammatik  stark  im  Ver- 
dass  sie  neben  der  peinlichen,  ungeduldigen,  mündlichen 
tur  die  Hauptschuld  daran  trägt,  dass  unsere  Schüler  so 
gern  Aufsatz  schreiben  und  dass  ihr  schriftlicber  Ausdruck 
entfernt  ist  von  ihrem  lebendigen  und  anschaulichen  Gc- 
das  sie  nach  der  Stunde  im  Schulhofe  und  im  Hause 
n, 

ch  eine  zweite  Instanz.  Eine  Frage,  die  man  früher  oft  selber 
1er  oder  Mutter  richtete,  lautet:  Wie  klingt  das?  —  Klingt 

lön?  Diese  Fraj^c  hat  sicher  meine  Quintaner  geleitet,  als 
rieben:  „Der  mit  grünen  Blattern  bedeckte  Wald"  —  ,,cine 
:;he  Menschenmenge  kam  durch  das  Tor"  —  „der  Kuckuck 
;  der  finsteren  Nacht  der  Tannen"  —  „das  sUbeme  Band  des 
trägt  die  Blicke  aufwärts  zu  den  jenseitigen  Höhen."  —  Der 
:  Schönklang  ist  der  [i^rösste  Feind  eines  wahren  Aus- 
;  denn  er  frac^t  nicht  nach  der  wirklichen  Beschaftcnheit  der 
und  prüft  nicht  das  Wort  nach  seinem  wirklichen  Inhalt, 
iste  Unwahrheit  —  Unldaiheit  und  Übertreibung,  mit  einem 
alles  hohle  Getäne  kommen  von  ihm  her.  Schon  deswegen 
er  blosse  Schonklang  kein  Massstab  für  den  Ausdrtick  sein, 

nicht  für  alle  Stoffe  passt  und  weil  er  keiner  Abstufung 
cigcrung  lahig  ist  Besonders  charakteristisch  aber  ist,  dass 
schwächere  Schüler  die  duftigsten  Blüten  bauen, 
t,  dann  halten  wir  uns  an  das  klassische  Vorbild: 
,  der  Meister  des  klaren  Ausdruckes  in  der  Abhandlung, 
mit  seinen  Naturschilderungen,  die  so  wahr  und  so  lebendig 
ass  das  Kind  seine  Freude  dran  hat;  Peter  Hebel  vom 
'.walde,  der  alles  so  witzig  und  persönlich  darstellt,  dass 
enau  weiss,  das  ist  Hebel  und  kein  anderer.  Nach- 
,  das  ist  unmöglich;  ich  müsste  alles  von  Lessing,  von 

von  Hebel  kennen,  und  ich  müsste  mich  selber  aufgeben; 

unmöglich  namentlich  für  die  Schüler.    Aber  wir  kommen 


—  32  - 


«in  Stück  vorwärts,  wenn  wir  so  fragen:  Wie  kommt  es,  dass  diese 

Darstellungen  so  klar,  so  anschaulich,  so  persönlich  sind  ?  Antwort: 
Wie  die  Saciie  war  und  wie  die  Verfasser  sie  sahen,  so  haben  sie 
geschrieben :  Sie  haben  walir  geschrieben.  —  Der  Aufsatz  kann  wohl 
die  Dienste  der  Sprachlehre  nicht  entbehren,  der  Schüler  muss  sich 
an  Mustern  fortbilden  und  auch  den  guten  Klang  darf  er  nicht 
-ausser  acht  lassen  ;  aber  sie  sind  nicht  die  entscheidenden  Instanzen 
für  den  sj^rachlichen  Ausdruck,  sondern  die  Wahrheit.  —  Und  wenn 
uns  die  Mundart  dabei  unterstützen  kann,  so  muss  sie  einen  Platz 
im  Aufsätze  eriialten. 

Statt  uns  weiter  theoretisch  auseinanderzusetzen,  wollen  wir 
mal  in  den  Aufsätzen  meiner  13jährigen  Ubungsschüler  blättern. 
Ein  Junge  erzählt  da,  dass  Weihnachten  auch  bei  ihm  zu  Hause 
ein  Fest  der  Verzeihung  war.  Die  .Mutter  liatte  erst  wenige  Tage 
vorher  den  Fritz  tüchtig  auszanken  müssen.  Auch  der  Vater  war 
auf  den  Bengel  ganz  böse  geworden,  als  er  heimkam  und  die 
Mutter  alles  erzählt  hatte.  Sie  hatte  ihm  aufgetragen:  Geh'  beim 
Fleischer!  Der  dumme  Junge  aber  war  trotzig  stehen  ge- 
blieben und  hatte  gesagt:  Grete  kann  auch  mal  gehen  1  —  Wie 
hässUch  klingt  dieser  grobe  Verstoss  gegen  die  Grammatik:  Geh' 
beim  Fleischerl  —  Ja,  aber  die  Mutter  l»t  wirklich  so  gesagt,  und 
der  Junge  schrieb  es,  obwohl  er  die  gemeindeutsch  sprachrichtige 
Form  kannte.  — -  Ich  habe  das  (jefühl,  dass  der  Junge  die  Frau 
nicht  mehr  als  seine  Mutter  darstellen  würde,  wenn  er  sie  sa^en 
lassen  müsste:  Gehe  zum  Fleischer!  Er  hat  den  VaLcr  noch  nicht 
zornig  gesehen,  wohl  aber  kann  er  mal  recht  böse  werden.  Von 
Knaben  hat  der  Vater  noch  nie  geredet,  nur  von  seinen  Jungea 

Der  vierjährige  Karl  fragte  jeden  Tag^:  Wenn  kommt  denn 
nun  der  „Ruperch"?  So  hatte  er  wirkhch  gefragt;  denn  er  wusste 
den  Namen  nicht  anders.  Die  Mutter  musste  sich  nachher  beim 
Ruprecht  über  den  Franz  beschweren,  weil  er  in  den  letzten  Wochen 
ganz  und  g^r  ungezogen  gewesen  war.  Komm'  mal  vor,  du 
Schlin^i^ell  hat  ihn  der  Ruprecht  angedonnert  So  war  es 
wirklich  gewesen,  und  so  musste  der  Schüler  schreiben,  sollte  ich 
überhaupt  ein  getreues  Bild  von  der  ganzen  Geschichte  bekommen. 

Als  wir  den  Aufsatz  aus  dem  „Postillon*'  von  Lenau  vor- 
bereiteten, hatte  ich  den  Schülern  gesagt:  Denkt  immer  daran,  dass 
der  Postillon  ein  einfacher  Mann  aus  dem  Volke  war,  gerade  so 
wie  unser  Postillon  in  Rochlitz  oder  der  Kutscher  aus  dem  Bären". 
Wenn  ihr  ihn  reden  iasst,  dann  iasst  ihn  so  sprechen,  wie  ein 
solcher  Mann  wirklich  sagen  wurde.  ,^s  ist  doch  jammer* 
schade  um  den  guten  Kerl!"  Trifft  das  nicht  die  Sache  eher, 
als  wenn  der  Schüler  „treuer  Genosse"  oder  „lieber  Freund"  schreibt? 

An  anderen  Stellen  Hessen  wir  sicher  die  Mundart  schon  reden 
und  dachten  nicht  daran.  Die  Kinder  erzählen  von  der  Schlitt- 
schuhbahn auf  der  „Lache";  sie  waren  am  „Küngborn"  vorbei- 


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gen  und  auf  den  „Schöllberg"  geklettert.  MMonchsstieg^e", 

grund",  (.Teufclsloch"  und  wie  die  mundartlich  gefärbten 
ümlichen  Ortsbezeichnungen  alle  heisscn:  der  Lehrer  muss  sie 
a  und  das  Kind  sie  schreiben,  soll  seine  kleine  Erzählung 
werden. 

s  handelt  sich  in  den  hier  aufgeführten  Beispielen  um  Dinge« 

r  den  Schüler  und  auch  für  uns  mit  bestimmten  volkstümlichen 
jcken  verbunden  sind.  Nehme  ich  das  Wort,  so  entstelle 
e  Wahrheit  Ks  erscheint  dann  alles  so  scheinatisch  abgeklärt, 
iinUch  zugerichtet,  die  Worte  so  vornehm,  die  es  doch  nicht 
Es  liegt  ein  falscher  Idealismus  darin,  die  Leute  so  reden  zu 

wie  sie  eigentlich  reden  sollten.  Man  kann  dann  nur  noch 
iner  Übuni^  in  neuhochdeutscher  Sprache  reden,  nicht  aber 
iner  wahrheitstreuen  Erzählung.  Soll  die  Darstellung  walir 
o  können  wir  in  gewissen  Fällen  die  Mundart  nicht  entbehren, 
strachten  wir  eine  neue  Reihe  von  Beispielen,  die  mir  die 
r  aus  ihren  Aufsätzen  herausgeschrieben  haben.  Ich  wollte 
;hen,  ob  die  Junj^en  eine  einfache  selbstcrlcbte  Geschichte 
frisch  und  heiter  erzählen  könnten.  Jeder  sollte  sich  einen 
er  fangen  und  ihn  turnen  lassen.  „Ich  schütteiie  einen 
bäum  an  der  Hohenldrchener  Strasse  und  richtig!  da 
chte  einer  auf  den  Weg."  So  hatte  ein  Lunzenauer  gc- 
)en.  Ich  habe  das  Wort  klatschte"  gern  stehen  lassen; 
es  sagt  viel  mehr  als:  er  fiel  herunter.    Meine  Augen  ver- 

nicht  bloss  die  Ricluuag,  wie  sicli  der  Maikäfer  bewegte, 
ort  erzählt  mir  zugleich,  dass  er  mit  seiner  breiten  plumpen 
aufschlug  und  dass  ihn  mein  Junge  schon  gehört  hatte,  ehe 

sah  und  :\ns  dem  Staube  aufhob.  Ich  glaube  sogar  aus 
nundartlichcn  Worte  zu  hören,  wie  sich  der  Jun^e  g;efreut 
Curz  gesagt:  „fiel"  gibt  nur  die  Richtung  der  Bewegung  an, 
hte"  aber  ausserdem  den  Grad  und  den  Schall  der  Bewegung 
ägt  einen  Geiiihlston. 

□rt  plumpste  eine  dicke  Kröte  ins  Wasser.  Das  trifft  aus- 
mct  nicht  bloss  die  Hewc^unj^slinie,  sondern  auch  die  Stärke 
en  Klang.  Wie  matt  dagegen  die  Ausdrücke:  Eine  Kröte 
—  hüpfte  ins  Wasser,  Ausdrucke,  die  überhaupt  nicht  richtig 
Besser  wäre  noch:  Eine  Kröte  lieas  sich  ins  Wasser  fallen, 
ie's  auf  dem  Ameisenhaufen  wuselt  und  krabbelt!  Es 
'in  ^gemeindeutsches  Wort,  das  das  Leben  auf  dem  Amciscn- 
so  anschaulich,  klangvoll  und  kurz  bezeichnete.  Ich  kann 
agen:  die  einen  schalen  Nadeln  herzu,  andere  kriechen  aus 
Schern  des  Baues,  um  neuen  Vorrat  zu  holen,  wieder  andere 
len  sorgfaltig  die  Eier,  da  löse  ich  alle  die  Bewegungen  in 
e  auf.  Aber  wenn  ich  alles  kurz  und  treffend  mit  einem 
deutschen  Wort  zusammeutassen  soll,  komme  ich  in  Ver* 
;it 

«flMbe  Stiidi«.  X3LX.  1.  3 


—    34  — 


Die  Jungen  haben  Ausdrücke  gebracht,  die  ich  noc'n  nie  gehört 
hatte.  Einer  aus  rirünlichtenbcrj:^  bei  Waldlicim  schrieb  in  dem 
Aufsätze  vom  Fostillon:  Der  Kutscher  hagelte  mit  seiner  Peitsche, 
dn  echtes  Volkswort  Er  knaOte  mit  seiner  Peitsche  —  er  klatschte 
mit  seiner  Peitsche  —  er  hagelte  mit  seiner  Peitsche.  Das  ist 
nicht  bloss  einmal  gewesen,  Icli  höre  einen  starken  Knall  /.wanziormal 
hintereinander,  und  wie  pfeilschnell  mag  der  Riemen  mit  der 
Schmitzc  durch  die  Luft  gesaust  seiiil 

Wir  waren  durch  und  durch  nass  —  ganz  durcbnässt  schreiben 
wir  mit  gemeindeutschen  Ausdrücken,  „klatsche  nass"  und 
„klitschen ass"  sagen  die  Kinder.  Die  Jungen  patschten  im 
Wasser  herum.  An  seiner  „a  b  ^  e  s  c  h  u  n  d  e  n  e  n"  Lederhose  merkte 
man,  dass  er  manchen  Baumstamm  mit  auf]|;claden  hatte.  —  Die 
Beispiele  mögen  genügen.  Die  Mundart  hat  viele  aus  der  unmittd- 
baren  Empfindung  heraus  geschaffene  anschauliche,  klangvolle  und 
treffende  Wörter,  die  die  gemeindeutsche  Schriftsprache  nicht  er« 
setzen  kann. 

Ebenso  ist  es  mit  vielen  volkstümlichen  Redewendungen.  — 
Manche  von  den  Jungen  hatten  geschrieben:  Mosen  gab  seinen 
Gefühlen  Ausdruck,  andere:  er  brachte  seine  Gefühle  zum  Ausdruck 
in  dem  Gedichte  „Aus  der  Fremde".  Als  ich  aber  bei  einem  las: 
„Er  musste  seinen  Gefühlen  in  einer  Weise  Luft 
m  a  c  h  e  n ,  und  da  schrieb  er  das  Gedicht",  —  da  wusste  ich,  dass 
dieser  Verfasser  am  innigsten  nacherlebt  hatte.  —  So  anschaulich 
ist  gar  keine  inhaltsahnlidie  gemeindeutsche  Wendung.  Er  brachte 
seine  Gefühle  zum  Ausdruck,  er  schrieb  seine  Gefühle  nieder,  er 
legte  sie  nieder  u.  ä.  —  Das  klingt  alles  so  trocken  und  nüchtern, 
so  verstandesmässig  absichtlich.  So  war  es  ja  gar  nicht.  W'i»^ 
ganz  anders:  Er  musstc  seinen  Gefühlen  Luft  machen.  Sie  draugcu 
mit  Gewalt  aus  seiner  Brust;  sie  hätten  ihn  erwürgt,  hätte  er  nicht 
seinen  Mund  geöffnet  und  geredet. 

Die  l'ahrt  nach  Maricnc}-  ^cht  los.  Wir  hatten  uns  schon 
frühzeitig  aus  den  Federn  gemacht  und  dann,  so  schrieb  ein 
anderer,  machten  wir  uns  auf  die  Beine.  Das  „machen" 
klingt  nicht  gerade  hübsch,  vollends  wenn  es  zweimal  aufeinander 
folgt  Aber  ich  habe  diese  Wendungen  gern  stehen  lassen.  Sie 
sind  so  anscliaulich .  frisch  vmd  liumorvoll  -  -  viel  anschaulicher 
und  mehr  hurnurvoll,  als  wenn  dastünde:  Wir  erhoben  uns  zeitig 
von  unserem  Lager,  und  dann  wanderten  wir  fort 

Eine  manche  Forelle  hatte  Mosen  in  dem  Bache  geian^^en. 
—  Ich  weiss  wohl,  dass  das  unbestimmte  Fürwort  den  unbestimmten 
Artikel  nicht  noch  braucht.  Aber  es  liegt  doch  ein  ci^'cnartii^er 
Unterschied  darin,  oh  ich  sn^c:  Manche  Forelle  —  oder  —  eine 
manche  Forelle.  Bei  dem  letzten  Ausdrucke  scheinen  es  nach 
meinem  Sprachgefühl  mehr  Forellen  gewesen  zu  sein  als  bdm 
ersten.  Der  Junge  aus  Köttwitzsch,  der  so  schrieb,  muss  doch  so 


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ht  haben,  oder  er  hat  aus  Liebe  ZU  seinem  sonstigen  ^rach> 

uchc  diese  Wendung  gewählt. 

Da  lag  in  der  Stille  des  Sonntagmorgens  das  Dorf 
eney.  Dort  die  Kirche  mit  dem  Glockenboden, 
osen  so  oft  gespielt  hat.  Dort  die  weissgetünchte 
le  und  Pfarre:    Alles  Bekannte.   Horch,  die  Glocken 

Dort  noch  ein  Bekannter:  der  umgestürzte  Weih- 
unterm  Weic Ii selbaum.  —  Ich  habe  den  Junp^cn  weder 
r  Klassen  Verbesserung,  noch  in  meinem  Aulsatz,  den  ich  ge- 
Uch  biete,  —  weder  vorbildlich  noch  ausdrücklich  —  erlaubt» 
sie  sich  solch  abgerissener  Sätze  bedienen  dürfen.  Warum 
bt  der  Jtmge  gerade  an  dieser  Stelle  eine  ganze  Reihe  von 
ständii^cn  Sätzen?  Vom  irrammatischen  Standpunkte  aus  ist 
aerhort.  Vielleicht  kam  es  daher,  ich  sagte:  Machi,  so  lebhaft 
>nnt,  die  Wanderung  mit,  so,  als  ob  ihr  über  die  Höhe  ins 
ner  Tal  oder  ins  Köttwitzschtal  hineinkämt.  Und  wie  ihr's 
md  fühlt,  so  sclireibt!  Ganz,  riclitig,  das  ist  die  Wahrheit, 
;chade,  diese  Form !  Wenn  er  geschrieben  hätte :  Dort  erhebt 
lie  Kirche  mit  dem  Glockcnboden.  Dort  stehen  die  Schule 
farre.  Es  sind  all«  Bekannte.  Dort  ist  noch  ein  Bekannter» 
mgestürzte  Weihkessel  liegt  noch  unterm  Weichselbaum,  da 
lies  in  schönster  Ordnunj;".  — -  Aber  der  Inhaltswcrt  dieser 
n!  Die  Kirche  erhebt  sich:  Selbstverständlich.  Die  Schule 
'farre  stehen:  Wusstcn  wir  das  nicht  schon  vorhin?  Das 
alles  Bekannte.  Ist  es  nicht  ein  Sdierz,  das  „sind"  zu  vcr* 
>  —  Warum  lässt  die  Volkssprache  alle  diese  Aussagen  weg? 
)inge  drängen  sich  dem  Auge  so  schnell  auf,  dass  es  mit 
allein  voll  beschäftigt  ist  und  jede  nebensächliche  selbst- 
idliche  Beziehung  dabei  nur  stört.  So  sieht  das  Kind,  und 
let  es,  wenn  es  mit  der  Mutter  am  Felde  vorbcigclit,  oder 
es  vom  Turme  auf  unserm  Berge  ins  Land  hinausschaut: 
,  o  die  schönen  Blumen!  Gib  mir  cinel  Dort  die  Augustus- , 
dort  der  Fichtelbcrp;^!  Das  ist  aber  schön I  DaderKirsch- 
!  Bald  werden  seine  Knospen  aufbrechen.  Ach,  wenn  sie 
irst!  —  Ein  dumpfer  Fall  —  und  dann  tiefe,  tiefe 
tl  —  Horch  ein  Schussl  Noch  einer! 
alt,  was  war  das?  So  unterbricht  ein  Junge  plötzlich  die 
ung.  Wir  werden  stutzig  und  lauschen ,  bis  wir  das  Eich- 
icn  im  knisternden  Geäst  über  uns  entdeckt  haben  und  die 
jrung  ruhig  fortsetzen.  —  Ist  es  nicht  eine  Unart,  statt  ruiiig 
achlich  vom  Walde  zu  erzählen,  da  plötzlich  mit  seiner 
n  Gedanken-  und  Gefühlshaltung  dazwischen  zu  fahren 
cn  Leser  auf  das  Subjekt  der  h>/ählung  abzulenken?  —  Ja, 
ciien  es  aber  die  I-cutc.  Sie  haben  eine  MenL'^e  Finschiebsel 
■r  Hand;  Warum?  —  Man  sollte  es  kaum  glauben  1  —  Hält 
fiir  möglich?  —  Was  für  ein  Mannl  —  Nun  noch  einen 

3* 


-   36  - 


Schritt  weiter.  Darf  ich  sie  im  Aufsatze  durchlassen,  diese  Stören- 
friede, die  in  gesitteter  Versammlung  immer  halblaut  und  diesmal 
ganz  laut  ihre  Bemerkungen  nebenher  und  zwischenhinein  machen? 
—  Ich  meine,  sie  werden  nur  an  einer  ganz  besonders  spannenden 
Stelle  auftreten,  an  einer  Stelle,  wo  man  etwa  im  Reicfastagsbericht 
„Ohol"  oder  „Hört,  hört!"  lesen  würde.  Und  wenn  unser  kleiner 
Erzähler  so  lebhaft  darstellt,  dass  er  sich  der  Zwischenbemerkung 
nicht  mehr  enthalten  kann,  dann  können  wir  acht  zufrieden  sein. 
Diese  volkstümlichen  Ausbrüche  des  persönlichen  Abscheus,  der 
Verwunderung,  der  Freude,  der  Trauer  beleben  den  AufisatK  ganz 
wirksam. 

Die  Volkssprache  hat  also  viele  aus  der  unmittelbaren  Emp- 
findung heraus  geschaffene  eigenartig  bedeutsame,  lebhafte  Rede- 
wendungen und  Darstellungsfornien. 

Die  Kinderzeit  ist  eine  Zeit  zartester  Empfindung,  das  kommt 
auch  in  der  kindlichen  Sprache  zum  Ausdruck.  Ks  redet  vom 
Vati  und  Vatel,  von  Mutti,  Mütterchen  und  Multcl,  vom 
Bubi,*von  Martel  und  Liesel  und  wie  die  Kosenamen  für  seine 
lieben  Menschen  alle  heissen.  —  Die  Puppe  im  Wagen,  Mätzchen 
im  Bauer,  Mieze  hinterm  Ofen,  alle  haben  ihre  besonderen  Idnd* 
liehen  Namen,  die  schon  das  Vierjähri^rc  spielend  erfindet  —  Wenn 
CS  dann  Frühling  auf  der  Wiese  winl ,  da  spielt  das  Kind  mit 
Hundeblumen  und  Milch  blumcn,  und  es  bringt  einen  feinen 
Strauss  von  iVIiczchen  mit  heim.  Die  schulmässigen  Namen  sind 
ihm  wohl  bekannt,  aber  die  volkstümlichen  sagt  es  lieber.  —  Eine 
Gruppe  von  Jungen  schart  sich  an  der  Bleich  wiese  zusammen,  ein 
Spiel  soll  bej^iiuicn.  Ein  Zählrcim  oder  ein  anderer  S[Melvers  wird 
aufgesagt,  der  Häscher  ist  gefunden,  und  nun  läuft  alles  lachend 
auseinander.  Diese  einfachen  Reime  sagt  das  Kind  tausendmal  und 
wird  doch  nicht  müde  dabei. 

Die  mundartlich  gefärbten  Kosenamen  für  Menschen  und  Tiere, 
die  Blumenbezeichnungen,  die  Spielreime  und  Spielausdrückc  sind 
recht  eigentlich  kindlich  und  würden  sicher  für  den  Aufsatz  kleiner 
Kinder  Wert  haben  und  zugleich  Freude  machen.  Vielleicht  ist 
das  ein  Mittel,  unvermerkt  das  Kind  vom  Spiel  zur  Arlieit  zu  locken 
und  die  so  oft  langweilige  Aufsatzstunde  lebendiger  zu  gestalten. 

Sc^ar  die  neuhochdeutsche  Verkehrs-  und  Kunstsprache  können 
in  gewissen  Fällen  den  mundartlichen  Ausdruck  nicht  entbehren. 
Nikolaus  Fries  berichtet,  wie  er's  erlebte;  „Die  Buben  schreien: 
Napolium  ist  gefangen  1"  —  Wie  haben  sich  die  Jungen  gefreut,  als 
sie  das  lasen  I  Theodor  Storms  „Ruprecht"  erzählt  in  seiner  be- 
häbig freundlichen  Art:  „Und  wie  ich  so  strolcht'  durch  den  finstera 
Tann,  da  riefs  mich  mit  heller  Stimme  an."  Konrad  Ferdinand 
Meyer  im  Lutherlied: 

,4^ic  Bulle  schmcisst  lÜDcin  er  Hiak 

Wie  Pftiikit  schleakcrt*  in  den  Brand  den  Wwm.** 


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It  zitternde  Kringelein  an  die  Wand**  heisst  es  bei  Chamisso. 

in  Goethes  Briefen  wininiell's  von  mundartlichen  Ausdrücken, 
icbenbei  gesagt,  nicht  immer  die  zarteste  Tonart  sin^ren.  Unterm 
September  1782  schreibt  er  an  Frau  v.  Stein:  „Ich  bin  recht 
dnem  Privatmeoschen  erschaflTen  und  b^^reife  nicht,  wie  mich 
S<  hicksal  in  eine  Staatsverwaltung  und  eine  fürstliche  Familie  hat 
flicken  mögen."  Und  am  22.  Februar  1779  meldet  er  ihrhoch- 
nt :  „Kinen  gar  guten  Brief  \  on  meiner  Mutter  hab'  ich  kriegL" 
Aus  natürlichen  Gründen  kann  die  gemeindeutsche  Schriftsprache 
Mundart  nicht  voll  ersetzen.  —  Es  ist  nicht  zufällig,  dass  das 
skind  an  seiner  Mundart  so  festhält  Es  ist  auch  nicht  dörflich 
e  Hartnäckigkeit,  dass  der  gemeine  Mann  sie  trotz  Schule, 
he,  Zeitung,  Behörde  und  Briefverkehr  nicht  lässt.  Das  ist  seine 
fliehe  Haus-  und  VVerktagssprache ,  natürlich  aus  folgendem 
ide.  Seitdem  die  ersten  deutschen  Einwanderer  unsere  Gegend 
iten,  hat  sich  ihre  Sprache  auf  Grund  der  eigentümlichen 
smischung,  der  Beschaftigui^,  der  Verkehrsverhältnisse  so 
iart!*T  weiter  entwickelt,  wie  wir  sie  jetzt  mundartlich  hören.  — 

sie  so  eigenartig  macht,  sind  gewisse  Lautbildungen,  das 
chtempo,  die  Sprachmelodie,  gewisse  Wortbedeutungen  und 
ndere  Erscheinungen  im  Satzbau.  Am  auffälligsten  sind  Laut* 
ing,  Sprachtempo  und  Sprachmelodie.  —  Ganz  natürlich  ent- 
cite  sich  aber  auch  in  der  l.üic'en  Zeit  des  jrcschlossenen  Zu- 
rienlebens  dieser  Menschengru}Ji>e  eine  eigene  Art  heraus,  Dinge 
ewisser  Weise  zu  sehen,  Schälle  und  Geräusche  zu  hören  und 
ndere  Bcgleitgefühle  zu  haben.  So  vielartig  und  eigentümlich 
lindrücke  und  Gefühle,  so  vielgestaltig  und  eigentümlich  auch 
sprachlichen  Ausdrücke  dafür.  —  Die  gernrindrutsche  Schrift- 
'he  kann  daher  nicht  allenthalben  den  volitrcttenden  Ausdruck 
las  Volksempfinden  haben.  Wie  oft  geht's  einem  nicht  selber 
lass  man  sagen  muss:  Na,  wenn  ich  die  Sache  beim  richtigen 
en  nennen  soll,  muss  ich  so  . . .  nämlich  in  der  Mundart . . .  sagen. 

U« 

felok«iii  IlBlhno«  fOmm  «ondartliohe  WSrItr  md  WMAii|M  Im  AufMlie 

bMutzt  werden? 

In  den  Schüleraufsätzen  wird  teils  Selbsterlebtcs,  teils  Fremdes 
htet.  Das  Sclbsterlebte  (den  Ausflur:  den  Frühling.  Königs 
irtstag)  kennt  der  Schüler  in  allen  seinen  Einzelheiten.  Das 
le  und  Einzelne  ist  das  Element,  worin  das  Kind  lebt,  das  ist 
sein  Stoffgebiet  im  Aufsatze,  wenn  es  gut  und  selbständig 
Iten  soll.  Ruprechts  Hosen,  Stiefeln  und  Mandelsack,  ja  das 
Dinge,  die  Staunen  erregen,  nicht  aber,  dass  er  wie  ein  Buss- 
iger vor  dem  Christkinde  herschreitet.  Von  den  kleinen  Zügen 
n  besonders  Bewegungen  die  Aufmerksamkeit  des  Kindes  auf 


-   38  - 


sich  —  merkwürdig,  dass  auch  die  meisten  wertvollen  mundartlichen 
Ausdrücke  Tätigkeitswörter  sind.  Wie  der  Maikäfer  aussieht,  dns 
hatten  viele  Jungen  zu  schreiben  vcrc;^essen,  keiner  aber,  wie  er 
grabclt  und  krabbelt  und  klettert  und  die  schweren  braunen  Decken 
leichtert  Wenn  der  Lehrer  den  Schüler  anregt,  das  Kleine  m 
gestalten  und  wenn  er  wünscht:  Schreibe  genau,  wo  und  wann  und 
wie  du  es  gesehen  und  gehört  hast:  dann  wird  es  klar:  Bei  <ler 
lebendigen  Krzählunt;  von  Selbf;terlebtem  mit  all  seinen  bestimmt 
gezeichneten  Einzelheiten  und  namentlich  den  Bewegungen  sind 
mundartliche  Ausdrücke  an  ihrem  Katze. 

Halt!  Jetzt  sollen  aber  die  Schüler  im  Anschluss  an  das 
Gocthcschc  Gedicht  vom  Ostcrtai^f  bei  Frankfurt  or/.ählcn  —  ein 
andres  Mal  \on  Schiller,  dass  er  ein  Knabe  wie  andre  war  --  von 
Dingen  also,  die  fern  von  Heimat  und  Gegenwart  liegen,  die  der 
Sdriil«*  höchstens  nadierleben  kann.  Da  sind  die  mundartfidien 
Ausdrücke  wahrscheinlich  überflüssig.  Sehen  wir  mal  genauer  zu.  — 
Das  räumlich  und  zeitlich  F'erne  kann  in  zwei  Weisen  dargestellt 
werden :  entweder  a!«;  einfache  Narhcr/ählung  ~  bc7.w.  unver- 
ändertes I'ernbiid  oder  lebendig  verändert.  Im  ersten  Falle,  wo 
der  Vorgang  aus  weiter  Feme  ohne  eigenes  Zutun  gesehen  wird, 
reicht  das  gegebene  Material  aus.  Im  zweiten  Falle  aber,  wo  die 
Handlung  lebhaft  ausgestaltet  oder  umgestaltet  werden  soll,  muss 
der  Schüler  seine  eigenen  Vorstellungen  und  Gefühle  hinzubringen. 
Die  Vorstellungen  entstammen  meist  seiner  nächsten  Umgebung: 
er  trägt  also  einzelne  Züge  der  Heimat  in  den  fremden  Vorgang. 
Oder  wenn  er  die  heimatlichen  Raumelemente  in  grosser  Zahl  und 
in  heimatlicher  Anordnung  benutzt,  so  rückt  er  das  Ferne  kühn  in 
die  Nähe  und  in  die  Gegenwart.  Das  ist  der  natürliche  \''crlaitf; 
denn  der  Schüler  benutzt,  oline  aiifc^efordert  zu  sein,  Sclbstn;cseheiies, 
Selbstgchortes,  Selbstempluiidenes,  wenn  er  Nacherlebtes  lebendig 
berichtet.  „Bimbaum,  bimbaum,  klang  es  jetzt  vom  Dorfe  Afarieney 
her."  Was  der  Junge  bei  Seelitz  hörte,  das  überträgt  er  einfach  auf 
Marieney.  —  Wenn  er  vom  Ameisenhaufen  auf  der  Tannenhöhe 
vor  Marieney  schreibt:  Wie's  dort  wuselt  und  krabbelt I  so  n;lauht 
er,  dass  der  Ameisenhügel  dort  genau  so  aussieht  wie  einer  im 
Rochlitzer  Walde.  Er  reiht  nicht  Bildliches,  sondern  übertragene 
Erlebnisse  aneinander.  Das  geht  sogar  so  weit,  dass  er  sich  körper- 
lich in  die  Fremde  einfülilt.  ,,Ich  fühhe,  wie  mein  Herz  weit  w  urde, 
und  ich  konnte  mich  nicht  mehr  hallen,  ich  musste  mitjubcln." 
So  schrieb  einer  in  demselben  Aufsatze.  Eine  plastische  Darstellung, 
gemütvolle  Vertiefung  und  selbständige  phantadevoHe  Umgestaltung 
des  räumlich  und  zeitlich  Femen  ist  nur  dann  möglich,  wenn  es 
nacherlebt,  d.  h.  in  die  Heimat  ciferückt  oder  mit  heimatlichen 
Elementen  ausgestaltet  wird.  Ist  das  aber  der  Fall,  dann  wird  auch 
in  der  Darstellung  des  Nacherlebten,  wo  sie  lebhaft  wie  die  Wiric- 
lichkeit  wird,  der  mundartliche  Ausdruck  von  selber  gebraucht  werdea 


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frotzdcRi  wird  uns  nicht  entgangen  sein,  dass  die  Gründe  für 

.'^erwcndung  von  volkstümlichen  Ausdrücken  im  Aufsatze  zu- 
i  ihren  Umfang  einschränken  und  bestimmen,  wo  sie  gebraucht 
:n  dürfen.  Wir  werden  ja  unsere  Kinder  auch  nicht  mit  jedem 
del  auf  der  Strasse  spielen  lassen.  Ich  las  den  Schülern  bei 
Lückgabe  des  2.  Aufsatzes  den  Satz  vor:  der  Kutscher  knallte 
einer  Pritsche  und  machte  einen  ziemlichen  Radau.  Gegen 
:  Wort  erhoben  sich  sofort  eine  Menge  Hände.  Es  gehört  dem 
Ideutsch  und  der  Gassenjungensprache  an  und  ist  kein  gutes 
scbes  Wort^}  Auch  mit  den  gewöhnlichen  Schimpfwörtern» 
'luch  ausdrücken  und  anderem  unfeinen  Gesindd  wollen  wir 
zu  tun  haben.  — 

)as  Wort  ,,bu  ekeln"  v.ichi  ohne  weiteres  von  der  Hand 
:isen;  es  kann  ut\s  ati  sruu  in  Chtr,  im  Walde  oder  in  der 
lahlgeschichte  zur  Abwcciisiung  vielleicht  einen  Dienst  leisten. 
:r  iGrchentür  aber  muss  es  Halt  machen.  Es  stört  die  weihe* 
Stimmung,  wenn  es  ein  Unvorsichtiger  mit  hineinschlüpfen 

Ich  ^hiube ,  mein  kleiner  Stilist  war  mit  seinen  Gedanken 
ganz  bei  der  Sache,  sonst  liättc  er  sich  seine  Begleitung  besser 
:hen.  „Da  stand  ja  das  Marienbild  schreibt  er,  „das  Mosen 
so  bewunderte!  Der  Kirchner  erzählte  uns  nachher,  dass 

vom  Boden  heruntergebuckelt  hatte."  Benutze  das  volks* 
he  Wort  un<^esucht,  am  passenden  Ortet 

ic  mundartliche  Aussprache  an  sicli  hat  für  den  Aufsatz  keinen 
etwa  Boom  für  Baum,  schcene  tur  schön,  griene  für  grün 
Es  könnte  höchstens  dann  sein,  wenn  es  die  ungeschminkte 
eit  an  besonderer  Stelle  verlangte.  Und  dann  genügt  das 
inende  Wort  Ja»  fiir  den  Dialektforscher  sind  alle  münd- 
en Erscheinungen  von  gleicher  Bedeutung.  Fiir  den  Schüler 
der  aus  nationalen,  kulturlichen  und  Verkehrsgründen  das 
ndeutsche  im  Aufsatze  schreiben  muss,  kommt  die  Mundart 
soweit  in  Betracht,  als  sie  durch  wertvolle  Wörter,  Rede- 
igen und  Satzfügung  die  von  der  gemeindeutschen  Schriftsprache 
nen  Sprachmittel  bereichert  und  den  wahren,  lebendigen 
ck  fördert. 

III. 

hen  Vorzug  hat  der  Aufsatz,  der  in  dnn  vorhin  gezogfnen  Grenzen  die 
zolässt,  vor  dem,  der  ohne  Ausaabme  fleneiodeutMhe  Auadrücke  fordert? 

tr  prüfen  an  zwei  Schülerarbeiten  nach.  Der  erste  Aufsatz 
Selbsterlebtes,  der  zweite  Nacherlebtes. 


>o  ist  es  bei  uns.    In  anderen  Gegendea  wird  das  Sprachgefühl  wieder  anders 


—   40  — 


Der  Frühling  kommt!  {Freier  Au&atz.) 

Noch  vor  wenig  Wochen  bedeckte  Schnee  das  ^anze  Land. 
Jung  und  alt  vergnügte  sich  mit  Schlittenfahren  und  war  fröhlich. 
Aber  dennoch  war  es  nicht  die  rechte  Herzensfreude,  wie  sie  im 
Frühlinge  herrscht  Woran  lag's?  —  Die  Natur  war  noch  tot  und 
kahl.  Wie  unter  einem  Leichentuche  lag  sie  da.  Im  Walde  war 
kein  Ton,  keine  Stimme  eines  Singvogels  zu  hören.  Wie  manches 
kranke  Kind  wird  da  täglich,  ja  stündlich  gefragt  haben:  Mutti, 
darf  ich  denn  noch  nicht  bald  naus?  Und  immer  wieder  die 
Antwort :  Ja,  wenn  der  Frühling  kommt,  wenn  die  Sonne  warm 
scheint,  dann  darfist  du  draussen  spielen,  aber  eher  nicht 

Und  jetzt!   Jetzt  ist  er  endlich  gekommen  I   Die  Sonne  steht 

jeden  Morgen  eher  auf  als  ich,  und  der  Schnee  ist  überall  ver- 
schwunden. Die  Wiesen  bedecken  sich  mit  frischgrünem  Grase, 
und  durch  die  Halme  kommen  an  manchen  Stellen  schon  Blumen 
geguckt  Die  Bäume  und  Sträucher  haben  braune  Knospen,  manche 
sind  schon  aufgesprungen.  Jetzt  regen  sich  auch  die  Vogel.  Die 
Stare  sitzen  schon  längst  auf  unserem  Apfelbaume  hinterm  Hause 
und  pfeifen  ilirc  Melodien.  Und  im  Bergwalde  oben,  da  r.witschert's 
und  singt's  und  pfeift's,  dass  man  vor  lauter  Lust  mitsingen  möchte  usw. 

Eine  Wanderung  in  die  Heimat  Julius  Mosens. 
(Nach  dem  Gedicht  „Aus  der  Fremde".) 

Einsam  und  fem  von  den  Seinen  lag  Mosen  auf  dem  Kranken- 
lager. Einmal  war  er  nun  so  traurig,  —  denn  er  konnte  seine 
Heimat  nicht  wiedersehen  —  dass  er  nicht  anders  konnte,  er  musstc 
seinen  Gefühlen  in  einer  Weise  Luft  machen.  Da  hat  er  das 
Gedicht  „Aus  der  Fremde"  gedichtet  Darin  erzählt  er,  wie  er 
einmal  als  Student  eine  Wanderung  in  sein  Dörfchen  unternommen 
hat.  An  einem  Frühlingsmorgen  überstieg  er  den  letzten  Bei^,  da 
schreibt  er:  Bald  umgab  mich  das  grüne  Holz.  Und  dann  die 
kleinen  Vögel  in  Bäun\ca  und  Sträuchern !  Wie  das  zwitscherte  und 
jubilierte  aus  tausend  kleinen  Kehlen  1  immer  höher  hinauf  stieg 
ich.  Steif  und  ernst  standen  die  weissstämmigen  Tannen  und 
dunkelgrünen  Fichten  da.  Ich  fühlte,  wie  mir  das  Herz  weit  wurde, 
und  ich  konnte  mich  nicht  wehren,  ich  musste  hell  aufjauchzen. 
Endhch  langte  ich  am  „f  elsensprung"  an.  Ich  stand  nun  oben  un<l 
konnte  das  ganze  Dörfchen  überblicken.  O  wie  schön,  mein 
Marieney!  Unter  den  Eschen  rieselte  der  klare  Bach  mit  frischem 
Bergwasser  hinab.  Drüben  zog  mit  frischrotem  Backen  der  Gciss- 
bubc  mit  seiner  Herde  hinaus.  Seine  Geissen  srir-inj^^en  um  ihn 
herum,  und  plötzlich  erhob  der  Bube  seine  Stimme  und  sang  und 
jodelte,  dass  es  in  den  Bergen  widerhallte.  Endlich  war  er  ver* 
schwunden.  Horch,  was  war  das?  Jetzt  wieder  1   Von  unten  herauf 


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die  Glocken  zur  Kirche.  Eben  wollte  ich  hinunter,  da  trat 
I  der  Geissbube  auf  die  Feisenkanxel  und  sang  seinen 
(gschoral  ins  Tal  hinab: 

Erheb'  ihn  ewig,  o  mein  Geist, 
erhebe  teiaea  Namen! 

h  kam  ins  Dorf  und  ging  mit  den  anderen  zur  Kirche. 

jr  einige  kurze  Bemerkungen  dazu. 

ich  der  ffemeindeutschen  Ausdrucksweise  in  den  Lesebüchern 
die  Hrzählung  vom  Frühlinge  glcichmässig  fortfliessen.  Der 
aber  bringt  schon  nach  einigen  Sätzen  die  Frage:  Woran 

und  weiter  unten  den  freudig  spannenden  Ausruf:  Und  jetzt! 

r  Erzabiton  hört  auf,  das  gleichmässige  Tempo  wird  unter» 

n,  die  Aufmerksamkeit  c^espannt,  und  ich  lausche  dem  Berichte 

—  Wenn  ich  den  kindlich-volkstümlichen  Ausdruck  lese: 
die  grünen  Halme  kommen  an  manchen  Stellen  schon  Blumen 
t,  so  freue  ich  mich  schon  an  seinem  eigenartigen  Klange 
ass  ich  mal  etwas  anderes  höre  als  das  Alltägliche.  Der 
ck  wird  durcli  die  Verwendung  von  volkstümlichen  Wörtern 
endungen  iti  der  Tat  mannigfaltiger,  — Das  Bedenken,  dnss 
imeindeutschcs  und  Mundartliches  nicht  miteinander  vcrtraj^ea 

ist  hinfallig  geworden.  Die  Beispiele  haben  ones  anderen 
.  Es  entsteht  eine  ganz  eigenartige,  aber  gesunde  Verbindung 
iitvaterländischem  und  enger  Heimat,  von  Sache  und  Person, 
rres  Diirrhein  unler  ist  ausgeschlossen,  da  jedes  von  beiden 
bestmimtca  .Vntcil  zu  Hefern  hat, 

ie  solche  Darstellung,  wie  in  den  beiden  Aufsätzen,  hat 
1  Leben.  Das  sind  lebendige  Worte,  nicht  solche,  die 
h  gezirkelt  nur  im  Buche  stehen.  Da  fängt  auch  der 
tand  an  zu  leben,  und  der  Le&er  hört  gern  zu  und  erlebt 
iL 

as  Wissen  vom  Können  erzeugt  aus  der  Begehrung  den 
")   Wenn  nun  der  Schäler  im  Au6ata»  die  Sprache  reden 

ie  seiner  Zunge  naheliegt,  so  hat  er  das  Gefühl  sicheren 
is.  Die  Tat  wird  dadurch  nicht  bloss  leichter,  sondern  auch 
hr  Kraft  vollzogen.  Der  mit  dem  Bewusstsein  des  Könnens 
e  Au&atz  redet  eine  viel  mutigere  Sprache  als  der  ängstlich 
Auch  der  sdiwächere  Schüler  bekommt  Mut  und  versagt 
/enn  er  sonst  guten  Willen  hat. 

i  Schreibung  der  mundartlichen  Wörter  hindert  nicht  so, 
n  meinen  könnte,  hrstcns  einmal  kommen  gar  nicht  so  viel 
ige  Wörter  vor.  Und  dann  braucht  man  ja  nur  auf  die 
henen  Laute,  ähnlichldingende  und  sinnverwandte  Worter 
iten.     Im   schlimmsten  P'alle    geben   Grimm  u.  a.  Auf- 

—  Den  Schülern  hat  die  Schreibung  von  mundartlichen 

dagogisehe  Studien,  XXIX.  Jahrg.,  4.  Heft,  S.  255. 


—   42  — 


Wörtern  immer  l)e<>ondere  Freude  gemacht,  gerade  so,  wie  wenn 
sie  den  NaiTien  eines  lieben  Bekannten  zum  crstenmale  schreiben. 

Der  Autsatz  soll  persönlich  sein,  das  ist  die  höchste  Forde- 
rung, die  an  den  Schälerauisatz  gestellt  werden  kann;  denn  das 
setzt  schon  Sicherheit  im  Sehen,  Sicherheit  im  Urteil  und  eigen- 
artige Ausdrucksweise  voraus.  Wenn  der  Ausdruck  sich  nur  zufäHig 
und  äusserlich  in  Wortwnhl  und  Satzbnu  vom  anderen  unterscheidet, 
dann  ist  er  noch  lange  nicht  persönlich,  erst  dann,  wenn  er  in 
innerem  Zusammenhange  gerade  mit  diesem  Verfasser  steht.  Voin 
gleichförmigen  Aufsätze  auf  der  Unterstufe  schreitet  der  Schüler  ZU 
mannigfaltiger  Darstellung  fort,  und  das  Ziel  ist  mannigfaltige  Dar- 
stellung schon  mit  persönlichem  tlepräge. 

Die  volkstümlichen  Wörter  und  Wendungen  haben  nach  meiner 
Beobachtung  mit  dazu  beigetragen,  dass  der  Ausdruck  persönlidi 
wurde.  Der  Schüler  durfte  nicht  bloss  schreiben,  wie  er  den  Wald 
sah,  sondern  auch  mit  dem  Ausdrucke,  der  seine  Beobachtung  am 
besten  bezeichnete :  „das  c^rüne  Holz"  —  „da  kommen  schon  Blumen 
geguckt",  tr  schrieb,  wie  er  fühlt,  wenn  er  einen  schönen  Bück 
ins  Tal  hat,  und  mit  dem  Worte,  in  dem  sich  für  ihn  der  ganze 
Eindruck  des  Bildes  widerspieglt:  das  ist  aber  schön! 

Der  Verfasser,  der  in  seinem  Aufeatze  von  dem  kranken  Kinde 
schrieb:  , Mutti,  darf  ich  denn  noch  nicht  bald  naus?"  erschien  mir 
von  da  an  in  einem  ganz  anderen  Lichte:  viel  kindlicher  und  herz- 
licher und  melir  häusUch,  als  ich's  vorher  gedacht  hatte. 

IV. 

Wo  Im  UataiTlchte  kam  der  Schüler  planmäetig  asf  die  wertvollen  miadarinshia 
W8rttr  und  WeadnaiAn  anftnerktaii  genaoht  werden? 

Finc  .\nleitung  ist  notwendig,  da  der  Gebrauch  von  mund- 
artlichen Wiirtcrn  und  Wendungen  in  vielen  Fällen  ein  verfeinerte 
Sprachgefühl  voraussetzt,  absichthclie  Anleitung,  weil  die  Sache  aus 
sprachlichen  und  methodisclicn  Gründen  von  solcher  Bedeutung  ist 

Es  ist  nichts  Neues,  dass  die  Beachtung  der  Mundart  in  erster 
Linie  der  Wort!  l  ide  zufallt,  besonders  bei  der  Betrachtung  von 
Wortfamilien  und  sinnverwandten  Reihen.  Die  Wortfamilie  nimmt 
auch  ihre  mundartliclien  Hriidcr  und  Schwestern  auf  und  lässt  aus 
ihrem  Gesicht  und  ihrem  Charakter  die  natürliche  Zugehörigkeit 
und  Abstammui^  erkennen.  Schon  da  sieht  der  Schüler,  was  das 
mundartliche  Wort  bedeutet;  sein  Wert  für  den  Ausdruck  aber 
wird  ihm  erst  klar,  wenn  er  es  neben  Gebilde  ähnlichen  Inhaltes 
stellen  und  abwägen  lernt,  also  bei  der  Betrachtung  Sinn 
verwandter.  —  Ausser  den  gemeindeutschen  Wörtern  nimmt 
die  Reihe  auch  die  zugehörigen  mundartlichen  auf,  neben  sehen, 
erblicken,  schauen,  stehen,  gucken,  schielen,  schiekeln,  stieren,  klotzen. 


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auptsache  ist  nun  allerdings  weniger  die  Aufzählung  und 
il,  sie  besteht  darin,  dass  der  I  ehrf^r  in  recht  einfacher  und 
er  Weise  die  Schüler  anleitet,  den  Sinn  des  Wortes  zu  ver- 
und  sich  für  seinen  eigenartigen  Wert  zu  interessieren.  Wenn 
it  Worten  umschrieben  oder  verbalistisch  definiert  wird: 
d.  h.  .  .  spähen,  das  bedeutet  .  .  dann  wird  die  Wort- 
zuin  entsetzlichsten  Wortkramc.  Die  neue  Snche,  der  neu« 
vustand  verlangten  ehedem  die  neue  sprachliche  Bezeichnung, 
jscr  Entstehungsakt  muss  nacherlebt  werden,  damit  wir  Herr 
•rtes  werden.  Wo  der  Ausdruck  geradenwegs  den  Naturlaut 
mt,  kann  der  Schüler  sogar  die  Formentstehung  nacherleben, 
as  ist  xcrluiltnlsmässi;^  selten  olinc  gcu'af^tc  X'ermutiinf^en 
1.  Die  Erforschung  ties  Wortsinnes,  d;is  ist  die  Hauptsache, 
ort  ist  mit  der  Sache  entstanden,  das  eigenartige  Sprach- 

nUt  dem  besonderen  Gegenstande,  das  macht  sich  der 
aus  genetischen  und  methodischen  Ghrunden  zu  nutze.  Am 
jlichen  Gegenstande,  an  der  Heimat  muss  die  Sprache  fest- 
t  und  klargemacht  werden.  \ur  zwei  Heispiele.  Wenn  ich 
IS  Bild  dort  in  unserem  Zimmer  „besehe ',  dann  richte  ich 
beiden  Augen  auf  das  Bild  —  ich  mache  meine  Augen  weit 
ich  trage  sie  sogar  dn  Stück  näher  hin  —  ich  möchte  alles 
aulfassen,  damit  ich  nichts  vergesse,  auch  wenn  das  Bild  nicht 
or  mir  hängt  Das  ganz  kleine  Kind  ,, guckt"  noch  nicht  aus 
Bettelten,  es  „stiert"  mich  an ;  denn  es  macht  ganz  grosse 
—  sie  sind  gerade  aus  gerichtet  —  und  das  Kleine  weiss 
licht,  was  es  sieht.  —  (Einfache  sachUche  Klarheit  genfigt, 
.onen  sind  schwierig,  langweili^^  leblos  und  wenig  gebrauc^- 
Wenn  der  Schüler  in  solch  schlichter  lebensvoller  Weise 
1  Sinn  der  mund.irtlichen  Worter  achten  lernt,  dann  wird  er 
Iber  das  trelfcndc  Wort  am  riclitigen  i  iai/.c  schreiben, 
ich  in  der  gelegentlichen  Aufsatzkorrektur  vor  der 
irift  können  die  Schüler  zum  Gebrauche  der  Mundart  an- 
;  werden.  Jeder  .Aufsatz  hat  i  !it  bloss  seinem  Inhalte, 
n  auch  seiner  Form  nach  ein  eigentümliches  Gepräge, 
ch;  denn  die  Sprache  ist  mit  dem  Inlialtc  untrennbar  ver- 
I,  wenn  sie  wahr  sein  soll  In  der  Schilderung  des  Gewitters 
I  die  Ausdrücke  bedeutsam,  die  die  Naturerscheinungen  und 
Timung  der  Kinder  am  besten  bezeichnen :  der  Donner  rollte, 

prasselte:  der  Regen  strömte  —  klatschte  —  platschte  an 
.leibeo.  —  Schon  um  das  ewige  Einerlei  zu  vermeiden,  lenke 
i  der  Enählung  vom  Ausfluge  die  Aufmerksamkeit  auf  die 
rausdrücke,  beim  Schulfest  werden  die  Spielausdrücke 
cht,  und  zum  Weihnachtsfeste,  da  werden  dem  Kinde  die 
chaftswörter  lieb,  die  seinen  Baum  nach  Gestalt,  Beleuchtnn<^, 
ck  usw.  malen.  Den  rechten  Erzählten  müsste  der  Schüler 
«Iber  treffen,  wenn  er  die  Geschichte  im  Augenblicke  der 


Niedersrhrift  wirklicli  mit-  und  nacherlebt  und  so  lebhaft  berichtet. 
Ja,  so  sollte  es  sein.  Aber  jeder,  der  mit  Kindern  arbeitet,  weiss, 
wie  ungeschickt  sie  oft  im  Gebrauche  des  Nächstliegenden  sind  und 
wie  unsicher  zumal  Schwächere  angreifen.  Ich  eröflhe  ihnen  den 
reichen  Schatz  der  Sprache  auch  nach  dieser  Seite»  damit  sie  bewusst 
und  sicher  für  ihre  Zwecke  nehmen.  Wir  fragen  auch  die  Mundart, 
wie  sie  diese  Slininuin<^  pcrn  ausdrückt,  und  wählen  das  Wertv'olle 
und  Geföilige  für  unseren  Aufsatz.  —  Was  der  Aufsatzunterricht  da 
nicht  selber  schaffen  kann,  übernimmt  die  Wortkunde  und  leistet 
auf  diese  Weise  wertvollste  direkte  Dienste. 

Noch  eine  wichtige  Frage  bleibt  übrig:  Wie  kann  der  Unter- 

rieht  auf  der  Unter-  und  Mittelstufe  einem  solchen  Aufsat/c  \or- 
arbeiten?  Ich  kann  mich  auf  dem  engten  Raum  hier  nicht  umlangiich 
mit  der  grundsätzUciien  Frage  auseinandersetzen,  ob  Aufsatz  auf  der 
Unterstufe  oder  nicht.  Nur  eine  kurze  Bcmeikung.  Wenn  man 
vorschlägt,  erst  im  5.  oder  6.  Schuljahre  Aufsätze  und  dann  sofort 
freie  schreiben  zu  lassen,  so  muss  diese  Ansiclit  auf  der  Auffassung 
ruhen,  dass  das  Kind  da  schon  über  die  Ausdrucksformen  verfügt 
oder  dass  eine  Anleitung  zum  Gebrauche  der  Ausdrucksformen 
und  namentlich  zu  persönlichem  Gebrauche  unmöglich  ist.  Eine 
solche  Anerkennung  des  Kindes  ist  das  schärfste  Gegenwort  gegen 
das  Gcän^cl-  und  Drechsclprinzip  früherer  Methode  und  wird  als 
starker  Ruf  in  die  Zeit  ihre  Wirkun^^  nicht  verfehlen.  Aber  wenn 
sie  ohne  alle  Einschränkung  in  der  Praxis  verwirklicht  werden  soll  — 
man  denke  auch  an  die  verschiedenen  Schulgattungen  und  an  die 
weniger  befähigten  Kinderl  — ^  so  ist  das  zu  weit  gegangen.  —  Von 
der  Willkür  in  der  Sprache  vor  der  Schulzeit  gehe  das  Kind  durch 
eine  Zeit  weiser  Gebundenheit,  und  dann  lasse  man  ihm  sobald  als 
möglich  alle  Formen  in  wertvoller  persönlicher  Freiheit  handhaben. 
Wie  wäre  es,  wenn  vom  3.  Schuljahre  an  Lehrer  und  Schüler  zu« 
sammen  solche  nette  kleine  Sachen  arbeiteten,  wie  sie  Scharrelmann 
in  seinen  „Fensterchen"  erzählt*)  Schadet  nichts,  wenn  sie  anfangs 
auch  formenglcich  sind.  Aber  der  Schüler  erfahrt  doch,  wie  so 
etwas  wird,  und  freut  sich,  dass  er  mitgearbeitet  hat.  Und  wenn 
vollends  Aufsatzdiktate  in  gleich  kindlich-natürlicher  Sprache  neben- 
hergehen, dann  kann  der  Erfolg  nicht  fehlen. 

Auch  auf  der  Oberstufe  ist  eine  direkte  Anlcitunj.,^  hie  und  da 
wertvoll.  Manche  Stoffe  werden  dem  Schüler  nicht  gleich  in  die 
Feder  fliesscn,  schon  weil  er  nicht  immer  gleich  stoffsicher  und  in 
der  Stimmung  dazu  ist.  Wenn  ich  an  einer  solch  schwierigen  Stelle 
ein  kleines  Stück  selber  gestalte  —  recht  frisch  und  kindlich  — 
und  dazu  bemerke:  So  habe  ich  mirs  gedacht,  du  wirst  es  wahr- 
scheinlich anders  ansehen,  da  nehme  ich  dem  Schüler  von  seiner 
Freiheit  nichts,  und  er  wird  mir  dankbar  sein. 


Sebamlmaim,  laienhafter  Untcnicht",  S.  io8flg. 


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31  Schlüsse  noch  dn  kurzes  Wort 

;le  fordern  für  die  Oberstufe  durchaus  freie  Aufsätze.  Ich 
1  Jahre  auch  mehrere  vollständig  freie  Aufsätze  als  zwci- 
!  Klassenarbeiten  schreiben,  halte  es  aber  im  iibrigen  so: 
Satzüberschrift  verlangt  von  allen  Schülern  eine  nach  Inhalt 
:fang  bestimmte  A<t>eit,  aber  eine  Arbeit  die  inhaltlich  nicht 
g  ist  und  die  meinen  kleinen  Stilisten  Freude  macht.  Wir 
n  einer  Stunde  die  Gliederunf^  fest  und  führen  das  Wesent- 
s.  Darnach  hat  jeder  Schüler  zu  arbeiten.  Aber  innerhalb 
ircnzen  ^^ewähre  ich  gern  hVeiheit: 

Wenn  du  Einzelnes,  was  dich  interessiert,  weiter  ausführen 
D  tue  es,  ich  werde  mich  darüber  freuen.  Aber  denke  immer 
lass  es  iiir  deine  Oberschrift  Wert  haben  muss! 

Schreibe,  wie  du  sonst  gut  sprichst  —  wahr  und  lebendig, 

der  Leser  genau  das  sieht,  was  du  gesehen  hast,   dass  er 
fühlt,  was  du  gefühlt  hast  — ,  so,  dass  er  dir  gern  weiter 
Findest  du  einen  guten  vollcstümlichen  Ausdruck,  der  viel- 
s  ein  anderes  Wort  sagt  oder  den  du  gern  hast  oder  den 
irheit  verlangt,  so  schreibe  ihn  ruhig  hinl   Wenn  du  nicht 
ist,  frage  mich  noch  einmall 


t  der  Unterricht  auf  den  kausalen  Zusammenhang 
kulturgeograpbischer  Stoffe  hinzuarbeiten? 

Von  ü  RomM,  WoUin  i/P. 

Das  kulturgeographiscbe  üenient  im  allgemeinen. 

fem  der  geographische  Unterricht  den  Nachweis  fuhrt,  wie 
uttcr  Krde  auf  die  Lebensführung  des  Menschen,  auf  seine 
>eine  Eigentümlichkeiten  leiblicher  und  geistiger  Art,  auf 
;ten  und  Gewohnheiten,  auf  Kunst,  Wissenschaft  und 
einwirkt  und  einwirken  muss,  erhebt  er  sich  zur  Kultur- 
ie.  Und  dieser  Zweig  des  Unterrichts  findet  gegenwärtig 
er  wirtschaftlichen  Kampfstellung  Deutschlands  gegenüber 
rcndcn  Nationen  mit  Recht  eine  grössere  Wertschätzung. 
Ti  besonderen  wird  der  kulturgeographischc  Unterricht 
as  und  in  weicher  Weise  der  Mensch  für  die  verschiedenen 
tines  Kulturlebens  unter  dem  Einfluss  der  durch  die  Natur 


des  Landes  gegebenen  Verhältnisse  geleistet  hat,  bezw.  lebten 

konnte. 

Doch  nicht  die  Tatsachen  an  sich,  sondern  der  Nachweis  des 
kausalen  Zusammenhanges  zwischen  kulturgeographischen  Stoffen 
und  anderen  geographischen  Tatsachen,  ateo  die  lückenlose 
Darstellung  von  Ursache  und  Wii»kung  machen  wie  in  der 
physikalischen  Geor^^raphie,  so  auch  hier  den  Reiz  des  Unterrichtes 
aus  und  verbürgen  ein  allseitii^es  Interesse. 

Iis  ist  gewiss,  dass  in  Lui/cifallcn  das  Verständnis  des  kausalen 
Zusammenhanges  über  die  geistige  Fassungskraft  der  Schüler  hinaus- 
geht ;  im  aU^emeinen  aber  wird  dieser  Zusammenhang  nicht  schwer 
zu  erbringen  sein. 

Der  Mensch  lebt  auf  dem  Krdbodcn,  auf  ihm  erbaut  er  seine 
Wohnungen,  zieht  seine  Strassen  und  betreibt  seine  Geschäfte.  Aus 
ihm  gewinnt  er  Nahrung  för  sich  und  sdne  Haustiere,  Holz  zu 
seinen  Bauten  und  Möbeln,  Kohlen  zur  Feuerung  und  Erze  zur 
weiteren  Bearbeitung^  und  Verwertunj^.  So  empfangt  er  Anrcgtino^cn 
der  verschiedensten  Art,  wird  durch  den  Boden  erzot^en  und  unter 
Umständen  zur  höchsten  I.eistungsfahigkeit  im  Kampfe  ums  Dasein 
angespornt.  Und  so  sind  die  einzelnen  Landgebiete  das  treueste 
Abbild  menschlicher  Tatkraft  oder  menschlicher  Gleichgültigkeit 
und  Faulheit. 

Den  Nachweis  dafür  zu  führen  und  die  kausalen  He/ieliuiUf^cn 
aus  Natur-  und  iVIenschenlebcn  in  möglichst  lückenlosem  Gange 
darzustellen,  ist  die  wichtigste,  wenn  auch  schwierigste  Aufgatie 
kulturgeographischer  Heiehrungen. 

2.  Ist  der  kausale  Zusammenhang  festgestellt,  so  hat  der  Unter- 
richt sich  nicht  mit  einer  g^anz  im  allcjemeinen  gehaltenen 
Exemplifizierung  zu  bet^niit^en.  Stets  muss  er  auf  gan  z  bestimmte, 
konkrete  Fälle  zurückgreifen.  Wie  es  zwecklos  ist,  wenn  die 
Schüler  von  einem  Fürsten  etwa  die  so  beliebte  Wendung  ge- 
brauchen: er  sorgte  für  Kunst  und  Wissenschaft,  so  ist  es  für  das 
Verständnis  kulturgcographischer  Tatsachen  völlig  nutzlos,  wenn  es 
heisst :  die  Bewohner  beschäftigen  sich  mit  Ackerbau  und  Vieh- 
zucht. Das  mag  ja  ganz  richtig  sein,  wahrscheinlich  haben  es  Adam 
und  Eva  auch  schon  getan.  Will  man  diese  kritische  Würdigung 
der  Besdiafdgung  der  Bewohner  eines  Landes  überhaupt  zulassen, 
so  muss  sie  durch  Etnzelf^Ule  bestätigt  und  begründet  werden. 
Richtitn-r  aber  scheint  es  mir.  von  der  Bodenkultur  und  Viehzucht 
nur  dann  un  besonderen  zu  sprechen,  wenn  es  sich  um  hervor- 
ragende Leistungen  handelt,  wie  z.  B.  im  Warthe-,  Oder-, 
Netzebruch,  in  der  goldenen  Aue,  in  den  Werdergegenden,  an  der 
unteren  Weichsel  usw. 

Im  Einzelnen  ist  nachzuweisen,  welciien  bcsond  :  n  Umständen 
gerade  diese  Gegenden  ihre  hohe  Ertragsfähigkeit  verdanken;  leils 
handelt  es  sidi  um  Niederungen  an  Flüssen  und  am  Meere,  deren 


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mmboden  einen  grossen  Vorrat  von  Nährsalzen  birgt,  für  die 
Mtuncj  locker  ist  und  ^'enü(Tcnde  Feuchtigkeit  erhält  und  fest- 
teils  sind  es  Gebir^fsgc^cndcn  mit  ihren  Tälern  und  Vor- 
n,  also  Gegenden,  die  sich,  wie  jene,  nur  wenig  über  den 
«Spiegel  erbeben  und  darum  ein  mildes  Klima  haben,  geschützt 
die  Gebirgsmauer. 

icht  darf  es  heissen:  In  Deutschland  werden  viel  Zuckerrüben 
,  sondern  es  sollte  heissen :  Die  meisten  Zuckerrüben  liefern 
,  Braunsciiweig,  die  Pro\iii/.  Sachsen.  Die  Zuckerrübe  ver- 
nämlich  einen  tiefgründigen  Lehm*  und  Mergelboden.  Er 
US  der  Verwitterung  gewisser  Gesteine  hervor,  die  gerade  in 
enannten  Gebieten  die  Gebirge  /Zusammensetzen  und  in  dem 
de  als  Lehm  beüw.  Mergel  abgelagert  ^iiid  und  zwar  in 
*  mineralischen  Zusammensetzung,  wie  sie  lur  die  Zuckerrübe 
kdmmlichsten  ist  Dieser  Zusatz  darf  nicht  fehlen,  weil  auch 
loch  Lehm*  und  Mergelboden  vorkommen.  (Geschlebemergel 
:utschhnds.)  Dass  Wärme  und  Feuchtigkeit  mitsprechen, 
jstvcrständiich. 

ne  gleiche  Spezialisierung  ist  mit  Rücksicht  auf  den  Getreide- 
Deutschlands  erforderlich,  wo  man  zwischen  Roggen-  und 
iibau  einerseits  und  VVeizenbau  andrerseits  Streng  scheiden 
E!)enso  ist  im  einzelnen  der  Nachweis  zu  führen,  warum 
der  Rheingau  das  gesegnetste  deutsche  Weingebiet  ist. 
im  Schlüsse  noch  ein  Beispiel  aus  dem  Gebiete  des  in- 
llen  Lebens.  Rheinland,  Westfolen  und  Oberschlesien  sind 
uptorte  unserer  Eisenindustrie:  Hs  genügt  nicht,  diese  Tat* 
zu  konstatieren,  sondern  der  Schüler  hat  sie  zu  begründen: 
;en  Gegenden  liefert  der  Boden  das  Eisen  zur  Herstellung 
lüchinen  und  zahlreicher  Eisenwaren  und  Eisenwerkzeuge. 
;  und  Stelle  findet  sich  aber  auch  die  Kohle,  die  die  Fabrik- 
en heizt  Viele  Menschenhände  sind  notwendig,  die  Schätze 
ic  ans  Tageslicht  zu  ffirdcrn  und  zu  verarbeiten.  Darum 
>e  Gegenden  stark  bevölkert,  und  die  Landschaft  erhält  durch 
aid  von  Eabrikschornstcinen  ihr  eigentümliches  Gepräge. 
Erst  dann,  wenn  die  Kulturverhältnisse  der  einzelnen  Landes- 
ezw.  Länder  im  besonderen  erörtert  worden  sind,  ist  eine 
natische  Zusammenstellung  am  Platze.  Der  Schüler 
mit  Hilfe  des  Lehrers  zu  erarbeiten.  Sie  gchTirt  an  das  Ende 
•uartals-  oder  Scmesterpensunis  und  hat  in  der  l Gruppierung 
er  Einzelheiten  zu  bestellen,  aus  denen  sich  all  gemein - 
e  Urteile  über  die  Kulturtätigkeit  des  betreffenden  Landes 
eren  lassen. 

>t '  ihrer  generellen  Gültigkeit  sollen  diese  Urteile  doch  auch 
euieii  individuellen  Charakter  habon,  sollen  das  Land  heraus- 
JUS  der  Reihe  anderer  und  ihm  ein  festabgegrenztes  spezi- 
Gepräge  geben.   £s  ist  ja  richtig,  wenn  der  Schüler  etwa 


von  Deutsc  l  il.Kid  sagt,  dass  da  und  dort  viel  Steinkohlen  gewonnen 
werden,  da  und  dort  viel  Eisen  erzeugt  wird  usw.  Gcnnu  dasselbe 
aber  gibt  er  später  von  England,  Frankreich,  Belgien  und  den 
Vereinigten  Staaten  an.  Somit  ist  für  die  Kenntnis  der  deutschen 
Verhältnisse  nichts  individuelles,  nichts  spezifisch  Deutsches  ge- 
wonnen. Deshalb  muss  bei  solchen  Zusammenstellungen  der  Ver- 
gleich hinzutreten,  damit  sich  unsere  Kulturverhältnisse  aus  der 
Reihe  anderer  bestimmt  herausheben. 

Am  deutschen  Bergbau  sei  es  gezeigt. 

Unter  den  Schätzen  der  Erde,  die  Deutschland  besitzt,  sind 

Eisen,  Kohlen,  Kupfer,  Nickel,  Blei,  Silber,  Zink  und  Salz  zu  nennen. 
Die  Lage  der  Fundorte  beweist,  dass  diese  nüt/li'  hen  Mineralien 
hauptsächlich  im  Gebirge  und  in  seinen  unmittelbaren  Vorländern 
gefunden  werden,  während  das  Schwemmland  arm  an  Bodenschätzen 
ist  So  muss  der  Bergbau  in  den  Gebirgsgegenden  seinen 
Sitz  haben,  was  der  Name  ja  auch  treffend  andeutet. 

Welche  Bedeutung  aber  der  deutsche  Bei^bau  hat,  ergibt  sich 
aus  folgendem: 

Deutschland  ist  das  erste  Zinkland  der  Erde  und  das 
einzige  Land,  das  die  für  die  Landivirtschaft  so  wichtigen  Kali- 
salze liefert.  Silber  erzeugt  es  ebensoviel  wie  die  andern 
europäischen  Staaten  zusammen,  wird  aber  von  den  V'ercinigtcn 
Staaten  von  Nordamerika  und  von  Mexiko  übertroti'en.  In  der 
Steinkohlenfbrderung  steht  es  hinter  England  und  den  Ver- 
einigten Staaten»  allein  seine  Kohlenlager  sind  nach  Ausdehnung 
und  Ergiebigkeit  die  bedeutendsten  des  europäischen  Festlandes. 
In  der  Kisen gewinnung  behauptet  es  in  Europa  den  zweiten, 
in  der  Welt  den  dritten  Platz,  da  ihm  England  und  Amerika  voran- 
stehen. 

Will  der  Lehrer  noch  ein  Übriges  tun,  so  mag  er  durch  be* 
stimmte  Zahlen  die  Kulturbeziehungen  beleuchten.   Solche  Zahlen 

sind  nicht  zum  Auswendiglernen;  sie  sind  Strahlen.  „Eine  Zahl  am 
rechten  Flat/e  eingesclioben,  verstärkt  die  erstrebte  Vorstellung 
weit  mehr  als  die  kräftigsten  Worte."  (Harms.) 

B.  Das  kuiturgeographische  Element  im  besonderen. 

Die  folgenden  Abschnitte  bieten  Material  zu  einer  /Aisammen- 
hängenden  Betrachtung  der  Kulturverhältnisse  Deutschlands,  durch 
die  die  Schüler  ein  tieferes  Verständnis  und  eine  auf  kausalen  Ver- 
hältnissen aufgebaute  Obersicht  erhalten  sollen. 

I.  „Im  Schweisse  deines  Angesichts  sollst  du  dein  Brot  essend 
sagt  die  heilige  Schrift.  „Wer  nicht  arbeitet,  soll  auch  nicht  essen", 
heisst  es  an  andrer  Stelle;  und  an  einer  dritten  lesen  wir:  ,,Gehe 
hin  zur  Ameise,  du  Fauler,  siehe  ihre  Weise  an  und  lerne."  So  ist 
die  Arbeit  unsere  Lebensaufgabe,  sie  ist  des  Bürgers  Zierde. 


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'as  heisst  es  denn  aber:  der  Mensch  arbeitet? 

enken  wir  uns  jemand,  der  einen  schweren  Stein  eine  starke 
e  hinaufrollt.    Kaum  oben  angelanr^.  t:^leitet  der  Stein  wieder 

Der  Mann  versucht  die  Sache  zum  zweiten  oder  dritten 
nit  demselben  Erfolge.  Wir  werden  nicht  bestreiten,  dass  es 
ier  um  köperliche  Anstrengung  handelt»  aber  Arbeit  nennen 
IC  solche  Tätigkeit  nicht.    Oder  ein  Schlosser  beschäftigt  sich 

täglich  ein  sof^enanntes  Kunstschloss  auseinanderzunehmen 
ieder  zusammenzusetzen.  Der  Mann  zei^^t  seine  Geschicküch- 
irbeit  aber  nennen  wir  seine  Beschäftigung  ebenfalls  nicht, 
n  wir  weiter  an  Diebe,  Einbrecher,  Falschmünzer  u.  a.,  die 
•ft  den  grössten  Anstrengungen  unterwerfen,  oft  eine  kaum 
che  Geschicklichkeit  an  den  Tag  legen:  sie  arbeiten  ebenfalls 
denn  eine  gesetzwidrige,  verbotene  Tätigkeit  kann  nie  Arbeit 
it  werden. 

nders  ist's  beim  Handwerker.  Von  ihm  sagt  man  gewiss» 
r  arbeitet  Er  will  Geld  verdienen,  um  sich  und  seine  FamiUe 
ähren.  Er  will  seine  Bedürfnisse  nach  N'ahnmg,  Kleidung, 
ung,  nach  geselligen  I'Veiulen  bcfrictiij»;?^"!.  Kr  will  seine 
hten  als  Hausvater  und  Staatsbürger  eiiullcn.  (Weiterer 
'eb  am  Kaufmann,  Gelehrten,  Schüler  usw.) 

Ergebnis:  Arbeit  ist  jede  erlaubte  Tätigkeit  des 
Renschen,  die  ihn  in  den  Stand  setzt,  seine  Bedikfnisse  zu 
>efriedigen  und  seine  Pflichten  zu  erfullea^ 

Doch  wir  reden  in  der  Geographiestunde  nicht  von  der 
an  sich,  sondern  von  der  Kulturarbeit  des  Menschen, 
n  Zwecke  müssen  wir  untersuchen,  unter  welchen  Bedingungen 
hliche  Arbeit  zur  Kulturtätigkeit  wird, 
/ür  vergleichen  deshalb  die  Zustande,  wie  wir  sie  z.  B.  bei 
ilden  oder  halbwilden  Völkern  finden,  mit  tienen,  die  wir  bei 
alirnehmen.  Dann  entdecken  wir  auf  Schritt  und  Tritt  ganz 
lendc  l  nterschiedc :  Die  Wilden  auf  den  Inseln  der  Südsee 
n  .'Afrika,  die  Indianer  in  Amerika  erzeugen  das  Feuer  durch 
i;  vnr  haben  die  so  bequemen  Streichhölzer.  Jene  leuchten 
:ht  mit  einem  Kienspan  ;  wir  haben  die  Petroleum-  oder  Gas- 
oder  das  elektrische  Licht.  Jene  wohnen  in  Hütten,  Zelten, 
hlen,  wir  in  oft  prächtif^cn  Häusern.  Weitere  Beispiele:  Lasten- 
erung,  Schiffahrt,   VVcrk/cu[^e,   Handmühle  der   Wilden  usw. 

US  den  Beispielen  folgt,  dass  wilde  Völker  zwar  die  Mittel 
:en,  die  die  Natur  ihnen  bietet,  um  notwendige  Verrichtungen 
ühren,  dass  sie  sich  aber  auch  damit  begnügen.  Der  WUde 
nicht  nach,  wie  etwa  ein  Werkzeug  verbessert  werden  könnte, 
er  es  vom  Vater  ererbt  hat,  so  werden  es  auch  die  Enkel 


Ftlr  Schfiler  mw  diew  Dentonp  genSgen. 
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4 


—  so  — 


brauchen.  An  Vervollkommnung  denkt  niemand.  Das  ist  der 
Naturzustand  der  Völker.  Ihm  steht  der  Kulturzustand 
gegenüber,  in  dem  Kulturvölker  im  Gegensatze  zu  den  Wilden 
lel^n.  Zwar  befanden  auch  sie  sich  anfanglich  im  Naturzutande 
und  benutzen  Gaben  und  Kräfte  der  Natur,  um  ihre  Bedürfnisse  zu 
befriedigen.  Doch  sie  blieben  auf  der  Stufe  nicht  stehen.  Sie 
dachten  nach,  wie  sie  dies  und  jenes  verbessern  könnten,  sie  machten 
Erfindungen  aller  Art  und  kamen  im  Laufe  einer  langen  Ent- 
wicklung zu  einer  äusserst  vollkommenen  Ausnutzung  aUcr  Natur- 
gaben und  Kräfte. 

Ergebnis:  Kulturarbeit  ist  jede  Tätigiceit  des  Menschen, 
durch  die  er  die  Gaben  der  Natur  zu  vervollkommnen  und  neue 
Mittel  und  Wege  zur  Befriedigung  seiner  Bedürfnisse  zu  ent- 
decken sucht   (Nach  Harms.) 

3.  Die  erste  und  wichtigste  Kulturarbeit  leiittete  der  Mensch 

in  der  Bearbeitung  des  Bodens  und  in  der  Pflege  gewisser  Tiere. 
Mit  Bedacht  lässt  darum  der  Verfasser  des  i.  Buches  Mo-^cs  Kain 
einen  Ackersmaiiii,  Abel  einen  Schäfer  sein.  Der  Mensch  inusste 
sich  bemühen  berbeizuschafien,  was  zu  seines  Leibes  Nahrung  und 

Notdurft  gehört.    Durch  lange  Erfahrung  fand  er  heraus,  welche 

Fcldfrüchte  und  Feldgcwächse  ihm  besnndi  rs  nüt/lich  wnren,  und 
welche  Tiere  er  vorteilhaft  für  sich  r^iifzicl.cn  müsse.  limcn  wandte 
er  seine  besondere  Pflege  zu  und  wurde  so  Ackerbauer  und  Vieh- 
züchter. 

a)  Als  Ackerbauer  sucht  er  dem  Boden  in  möglichst  voll- 
kommener Weise  Erträge  abzugewinnen.  Daraus  folgt,  dass  er 
als  solcher  völlig  vom  Boden  abhängig  ist 

Denn  nicht  jedes  Land,  nicht  jede  Gegend  eines  Landes  ist 

zum  .Ackerbau  geeignet. 

aa)  Die  gebirf^if^en  Gegenden  scheiden  meistens  aus.  I.  Das 
Klima  ist  oft  zu  rauh.  2.  Die  fruchtbare,  lockere  Erde  bildet, 
wenn  sie  Überhaupt  vorhanden  ist,  eine  nur  dünne  Schicht  auf 
dem  felsigen  Untergrunde.  Es  fehlt  der  tiefgründige  Boden. 
3.  Lawinen.  Her^türze,  Gewitterregen  vernichten  die  Felder. 
Der  Ackerboden  wird  mit  Geröll  und  Sand  bedeckt  und  nicht 
selten  zu  Tal  gespült.  4.  Die  Bearbeitung  ist  wegen  der  Un- 
ebenheit und  Steilheit  des  Bodens  äusserst  schwierig.  So 
bleiben  nur  die  geschützten  Täler  und  die  sanften,  nach  Süden 
gerichteten  .Abhännje  der  Gebirge  für  den  Ackerbau  übrig. 
(Ricsen^a'birf^e,  Jura,  Harz.) 

bb)  Anders  ist's  in  der  Ebene. 

I.  Das  Erdreich  ist  locker  und  besteht  aus  Erdmassen, 
die  im  Laufe  langer  Zeiten  durch  Wasser  angeschwemmt 
worden  sind.  2.  Aus  diesem  Grunde  und  weil  der  Boden 


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meist  eben  ist,  ist  auch  die  Bearbeitung:  verhältnismässig  leicht 
3.  Das  Klima  ist  warmer  als  auf  der  Höhe,  vorausgesetzt,  dass 

die  Ebene  nicht  etwa  selbst  Hochebene  ist.  (SchwIÜDisch' 
bayrische  Hoclic'bcne,  norddeutsches  Tiefland.) 

Eines  besonderen  Vorzuges  erfreuen  sich  die  Gebiete  an 
oder  in  der  Nähe  des  Meeres,  i.  Der  oft  bewölkte  Himmel 
verhindert  die  Ausdorrung  des  Bodens,  wie  sie  Länder,  weit 
vom  Meere  entfernt,  oft  ertragen  müssen.  2.  Die  Niederschläge 
sind  häufig,  weil  viel  W.T^ser  verdunstet  und  de-  Seewind  die 
Wolkea  nach  dem  Lande  zu  treibt.    3.  Die  Sommer  sind  kühl. 

Aber  es  können  unter  sonst  günstigen  Bedingungen 
für  den  Ackerbau  im  Tiefland  die  Gebirge  durch  ihre 
Richtung  die  Tätigkeit  des  Landmannes  beeinträchtigen, 
nach  der  andern  Seite  hin  noch  mehr  fördern.  Taunus,  Rhön, 
Thüringer-  und  Frankenwald  sind  günstig  gelegen  für  den 
Rheingau  und  die  Maingegenden,  ebenso  Harz  tmd  Erzgebirge 
für  die  südlich  davon  gelegenen  Gebiete,  waincnd  sie  für  die 
nach  Norden  zu  sich  erstreckenden  eine  ungünstige  Lage 
haben.  Jene  schützen  sie  vor  den  kalten  Nordwinden,  diese 
aber  nicht.   Auch  die  Alpen  sind  ein  typisches  Beispiel. 

Bemerkenswert  ist  es,  dass  jetzt  fast  50%  der  HoHfniflächc 
Deutschlands  für  den  Ackerbau  Verwendung  finden.  Das 
Streben  des  Menschen,  sich  einen  Boden  iierzurichten,  der  ihn 
ernährt,  die  stets  wachsende  Bevölkerung  und  das  Bemühen, 
nicht  aus  fremdem  Lande  zu  kaufen,  was  der  eigne  Boden 
:^'ebcn  kann,  waren  die  Ursachen  der  gesteigerten  Landkultur 
Kreilich  konnten  nach  dem  Gesagten  nicht  alle  deutschen 
Lande  den  gleichen  Anteil  daran  haben.  Süddeutschland  muss 
linter  Norddeutschland  zurückstehen,  der  Osten  hinter  dem 
Westen,  dem  die  grössere  Meeresnahe  zum  Vorteil  gereicht 
Doch  kommen  auch  Hannover  und  Oldenburg  wegen  ihrer 
Trossen  Moor-  und  Heideflächen  tur  den  Ackerbau  nicht 
ATCsentlich  in  Betracht.  Ungünstig  gesteilt  sind  auch  die 
3ommersche  Seenplatte,  die  Saadfläcfaeo  zwischen  EU>e  und 
Dder  (Brandenburg)  das  Sauerland,  die  EifeL 

Angebaut  werden  in  erster  Linie  die  Getreidearten.  Der 

'nterricht  bat  nachzuweisen,  warum  Rogf^en  und  Hafer  in 
jvcitem  Masse,  Weizen  und  Gerste  in  beschränktem  Umfange 
rebaut  werden. 

Es  kommen  dann  die  Hackfrüchte  in  Betracht, 
tarnen  I  Dazu  gehört  vor  allen  die  Kartoflel.  Deutschland 

!rzeugt  mehr  Kartc^eln  ab  irgend  ein  anderes  Land  der  Erde 
md  kann  darum  seinen  Bedarf  selbst  decken.  Da  die 
Kartoffel  auch  mit  i  incm  leichten,  sandigen  Roden  zufrieden 
St  und  kühles  Klima  vertragt,  hegen  die  Hauptgebiete  des 

4« 


—   52  — 


KartofTclbaues  im  Nordosten  Deutschlands.  Eine  schlechte 
Getreideernte  kann  durch  eine  gute  Kartoffelernte  zum  teil 
wieder  ausgeglichen  werden  und  umgekehrt.  —  Zu  den  Hack- 
früchten gehört  ferner  die  Zuckerrübe.  Ehe  man  an  ihren 
Anbau  ging,  musste  man  den  Zucker  aus  Tropenländem  be- 
ziehen, wo  er  aus  dem  Zuckerrohr  gewonnen  wird.  Allein 
der  Anbau  der  Zuckerrüben  ist  so  bedeutend,  dass  die  Menge 
des  Rübenzuckers  die  des  Rohrzuckers  weit  übertrifft.  So 
kommt  es,  dass  Deutschland  seinen  Zucker  auch  nach  andern 
Ländern,  besonders  nach  Grossbritannien  tmd  Nordamerika 
versendet  Es  nahm  daiiir  im  Jahre  1905  etwa  170  Millionen 
Mark  ein.  — 

In  ähnlicher  Weise,  nach  den  im  1.  Teil  ausgeführten 
Grundsätzen,  sind  die  weiteren  Krzeugnisse  des  Ackerbaues 
zu  behandeln,  also:  Hülsengewächse,  Handelspflanzen  (Flachs, 
Hopfen,  Tabak).  Literatur:  E.  Rasche,  Handels*  und  Wirt- 
schaftsgeographie Deutschlands.   Hirt,  Leipzig. 

Beim  Gartenbau  handdt  es  sich  um  die  Zucht  von 

Sämereien,  Gemüse,  Obst.  Bemerkenswert  ist  es,  dass  sich 
grosse  Gärtnereien  oft  in  der  Nahe  grosser  Städte  befinden: 
Rieselfelder,  viel  Bedarf,  gute  VerkchrswcE^e. 

Der  Wein  „verlangt  zu  seiner  vollen  Entwicklung  einer 
mittleren  Juliwärme  von  20®  und  zu  seiner  Reife  eines  langen 
sonnigen  Nachsommers".  Die  Talwände  des  Rheines,  der  Mosel, 
Nahe,  des  Mains  und  Neckars  entsprechen  diesen  Bedingungen, 
insbesondere  das  Rheinf:rau:  i.  dunkler.  kalkhaltip;er  Srhicfcr- 
boden,  2  nach  Süden  gerichtete  Lage,  3.  Schutz  gegen  Nord- 
winde, 4.  Zuruckwerfung  der  Warmestrahlen  von  der  Rhein- 
Oberfläche  auf  die  Weinberge. 

Da,  wo  der  Ackerbau  keinen  rechten  Krtrag  liefert,  finden 
die  Rewohner  vielleicht  durch  Waldwirtschaft  Beschäfti- 
gung und  Verdienst. 

Es  handelt  sich  dabei  um  Gegenden,  deren  Boden  zu 
unfruchtbar  Sandboden)  oder  zu  schwer  zu  bearbeiten,  oder 
deren  Klima  zu  kalt  ist.  (Gebirgsgegenden.) 

Noch  immer  ist  der  4.  Teil  des  deutschen  Bodens  mit 
Wald  be  leckt.  Davon  sind  65 '^  j,  Nadelwald.  35  "  .^  Laubwald. 
Jener  ist  mit  einem  sandigen  Boden  zufrieden  und  \"erträgt 
auch  rauhes  KUma.  Deshalb  finden  wir  Kiefern  in  den  sandigen 
Gegenden  Norddeutschlands  und  an  der  Ostsee  als  Dunen- 
schutz, Fichten  und  Tannen  auf  den  kräftigown  Verwitterungs- 
böden der  Gebirgskämme  Mittel-  und  Süddeutschlands.  Der 
Laubwald  verlangt  hect;ercn  Roden,  namentlich  aber  braucht 
er  genügende  Feuchtigkeit.  Darum  treffen  wir  Eichen-  und 
fiuchenwaldungen   mit  anderem  Gehölz   gemischt  auf  den 


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;andlg-lehiiu(ren  Hügelketten  in  der  Nähe  der  See,  in  sumpfigen 
Niederungen  und  in  Flusstälern.  Auch  der  untere,  meist 
luellenrelche  Teil  von  Gebirgen  trägt  Laubwald. 

Für  die  Bewohner  der  Waldgegenden  brinjrt  das  Abholzen 
ler  Stämme  und  ihre  Abfuhr  lohnende  Beschäftigung,  die  um 
o  mehr  zu  schätzen  ist,  da  sie  in  einer  Zeit  vorgenommen 
Verden  kann,  in  der  die  Landarbeit  ruhen  muss. 

t  immer  geht  mit  dem  Ackerbau  die  Viehzucht  Hand  in 

id.  Der  Grund  dafür  ist  leicht  einzusehen:  der  Landmann 
ucht  auf  dem  Felde  Stalldünger.  Rind  und  Pferd  helfen  ihm 
Land  bestellen;  hat  er  Getreide  gedroschen  und  gemahlen, 
>cn  geemtet,  so  kann  er  ohne  Viehstand  Stroh,  Kleie,  Blätter 
it  ausgiebig  verwerten.  So  aber  verwendet  er  diese  und  noch 
ere  Nebenerzeugnisse  der  Landwirtschaft  zur  Viehzucht  und 
et  auf  diese  Weise  die  Erträge  des  Ackerbaues  vollständig 
Für  Wiesen-  und  Weideland  hätte  er  ohne  Viehstand  cben- 
5  keine  Verwendung.  Endlich  können  schlechte  Krnten  durch 
nahmen  aus  der  Viehzucht  wieder  oder  doch  zum  teil  aus- 
liehen werden. 

Nur  in  seltenen  P'ällen  besteht  die  Viehzucht  für  sich  allein: 
Gebirgswiesen  und  -weiden.  Dort  kann  der  <  rt  l jir'^sbe wohner 
h  ohne  Landwirtschaft  bestehen,  da  er  un  \.  ichfutter  keinen 
Igel  hat 

Gezüchtet  werden  besonders  Pferde,  Rinder,  Schafe  und 

weine. 

\uf  die  Kntwickelung  der  Pferdezucht  Ic^t  die  deutsche 
ve;^ncrung  t^rossen  Wert,  will  sie  doch  für  das  Heer  f^utcs 
ferdematerial  und  für  den  Kriegsfall  brauchbaren  Ersatz  haben. 
Regehnässige  Pferdeschau  [Weitere  Belehrungen  nach  Rasche, 
iVirtschaftsgeographle\) 

i-)ie  Verschiedenheit  des  deutschen  Bodens,  der  im  Norden 
•"lachland,  im  Süden  Hergland  ist,  tritt  in  der  Rindvieh- 
:ucht  deutlich  hervor,  indem  das  Flachland  die  soijenannten 
.Niederlandsschläge"  des  Rindviehes,  das  Gebirgsland  die 
.Berglandsschlage"  erzeugt  Jene,  in  Friesland,  Holstein  und 
Aldenburg  besonders  gepflegt,  zeichnen  sich  durch  Milch- 
irgiebigkeit  und  hohe  Mastfahigkcit  aus,  diese  sind  vortreffliche 
\rbeitstiere.  Es  gibt  aber  auch  hier  Ausnahmen. 
>chafe  brauchen  viel  Weideland,  wenn  es  auch  ina^cr  ist. 
is  können  demnach  nur  Grossgrundbesitzer  eine  einträghche 
Schafzucht  betreiben.  Doch  hat  die  deutsche  Schafzucht  gegen- 
vilrti^'  niit  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  da  Australien,  Süd- 
ifrika  und  Argentinien  auf  ihren  f^cwnltiiyen  Steppen  ungeheure 
Schafherden  halten  und  die  Wolle  billiger  produzieren  können, 
la  die  Bodenpreisc  verhältnismässig  gering  sind. 


—  54  — 


dd)  Bienenzucht:  Klee-  und  Rapsfelder,  Heide,  Nach  Frank- 
reich ist  Deutschland  das  am  meisten  Honig  erzeugende  Land 

Europas. 

ee)  Dass  die  Anwohner  von  IHü^srn  Seen  und  der  Meeresküste 
Fischerei  betreiben,  ist  uamrlicii.  Indessen  geht  die  Fluss- 
fischerei  immer  mehr  zurück.  Man  hat  in  früheren  Jahren, 
als  noch  völlige  Fan^reiheit  herrschte  und  Bestimmungen  über 
die  Masch cnG^rns-r-  der  Netze  fehlten,  auch  kleine  und  kleinste 
Fische  weggelangcn.  Man  trieb  Raubfischerci,  Dr^zu  kommt, 
dass  zahlreiche  Fabriken  ihre  schädlichen  Fabnkuasser  in  die 
Flüsse  schicken,  dass  der  rege  Dampfenrerkehr  die  Fische 
beim  Laichen  stört:  das  alles  verursacht  den  Niedergang  der 
Flussfischerei.  Gewiss  bietet  das  Meer  rcichHchen  Ersatz, 
doch  steht  auch  hier  mit  Recht  die  Fischerei  jetzt  unter 
Kontrolle. 

c)  Neben  den  Erzeugnissen  des  Pflanzen-  und  l  ierreiches  lernte  der 
Mensch  schon  frühzeitig  auch  die  des  Mineralreiches  kennen 
und  zu  seinem  Nutzen  verwenden.    Darum  steigt  er  in  die  Tiefen 

der  Rcrgc  und  holt  aus  ihnen  Frzc  aller  Art,  fördert  Braun-  und 
Steinkohlen  ans  Tac^esHcht,  bricht  Schiefer,  Sandstein,  Granit  u.  a. 
Gesteine,  gewinnt  Ton  und  Salz:  und  so  ist  er  zum  Bergmanne 
gewordea 

Wie  schon  der  Name  sagt,  kann  Bergbau  nur  in  gebirgigen 
Cregenden  getrieben  werden.    Weil  Tag  und  Nacht  gearbeitet 

wird,  erfordert  er  viele  Arbcitskrrtftc,  und  darum  sind  auch  die 
Gegenden,  wo  die  Erde  in  ilircni  Innern  reiche  Schätze  birgt, 
dicht  bevölkert  Die  Karte  von  Deutschland  zeigt  das  aufe 
deutlichste  (lir  Obeiscbleaen,  das  Ruhrgebiet,  den  Harz.  Und 
so  wirkt  der  Bodenreichtum  eines  Landes  auf  die  Ansiedelung 
seiner  Bewohner,  indem  er  sie  nötigt,  sich  zusammenzuschliessen 
und  in  reichbevölkerten  Städten  und  dichtgedrängten  Dörfern 
zu  wohnen. 

Für  Deutschland  kommt  dabei  noch  in  betracht,  dass  die 
mdsten  Erzlager  sich  in  Gemeinschaft  mit  Kohlenlagern  befinden. 
In  solchen  Gegenden  bewahrheitet  sich  des  Dichters  Wort: 
„Tausend  fleissige  Hände  regen,  helfen  sich  im  muntern  Bund.** 

Schhias  folgt. 


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Kleinere  Beiträge  und  Mitteiiuugen, 


I. 

Herbartt  Regtarunn  und  Zucht  ^} 

Von  Dr.  Friedrieb  Warneeke  in  Magdeburg. 

egiernnfif.  ^Nichts  iu  der  Welt  erschwert  so  «ehr  cUe  eigeutliche 
:be  Erziehnug  als  Anhäufung  vieler  Kiuder  auf  einem  Punkte"  (Herbart: 
«  yeriiUtais  dei  IdeilinniiB  nur  Pidagogik,  Werke  X,  ^. 

I  folgenden  weist  Herbart  darani,  daw  jeder  Direktor  diese  Sehwierig- 

cennt.  Den  Anfängern  wird  dergleichen  ent  bewusst,  wenn  siewToUen 
fler  jüncTPr*»!!  Jahrgräng'p  ge«tand''n  hnVipn.  Was  die  Kr:^i^hiino'  »ohr 
rt  deutet  Herbart  in  den  Apborisnieu  über  die  Anhäufung  vieler  Menschen 
1  wenige  geben  keinen  gleichmässigen  Fortschritt,  zu  viele  machen,  dass 
ler  mehr  von  der  aUgemeinen  Bewegung,  worin  die  Menge  einmal  fort« 
oosB  getrieben  wird,  als  selbst  treiben  kann.  Sehr  viele  bilden  leicht  eine 
seibat  mit  Be-wnsstsein,  wo  nicht  die  Ma^ht  de«  Staates  dahinter  ist. 
rielen  hiMon  sich  die  iJbel  einer  rohen  (icselligkeit :  ParteiPn  ttnd  deren 
ad  Streit  und  Betrug;  dagegen  als  gegen  ein  stets  drohendes  Uebel  muss 
gewirict  werden.  Also  —  strenge  Dissiplin.  Sie  ist  mdir  fiegtemng  ah 
eben  deshalb  nicht  Iksiehang.''  (Werke  XI,  499.) 

inehe  Mutter  zahlreicher  Söhne  ist  am  Ende  der  grossen  Ferien  froh,  wenn 
die  wieder  betrinnt:  brancht  sie  doch  dann  nicht  mehr  allein  fiir  Ordnung 
m.  Herbarts  Beobachtung  ii}t  dettbaib  richtig,  iUirn  :  „aus  manchen  Häuüem 
der  nur  darum  iu  die  Schule  g^chickt  werden,  weU  sie  ün  Wege  sind, 
bt  mBieig  sein  sollen.  Da  wird  die  Sehnte  so  angesehen,  als  ob  sie  vor- 
se  regiere".  (Umrisa  der  Pidagogik,  Werke  X,  147.) 
as  Herbart  unter  „Befiemng  der  Kinder'^  versteht  ist  damit  schon  an- 
t. 

18  wilde  Ungestüm  der  Knaben,  liorbart  nennt  es  auch  ,.das  Prinzip  der 
lug"  (YI,  18),  gefährdet  andere  und  auch  das  lünd  selbst;  es  muss  unter- 
srerden,  ehe  die  Spnren  einee  echten  Willen mciä  leigen.  Dies:  nOidnnng  an 


Die  Arbeil  ist  von  Herrn  Direktor  Prof.  Dr  ZaUi:  •  Erfurt,  anjferegt 
und  hat  auch  von  ihm  in  den  Seminarbesprechungen  manche  Fördenmg 
I.  —  Uteratnr:  Herbart,  S&mHiehe  Werke,  heranseegeben  von  Harten- 
83 — 9H.  —  A.Matthias:  Praktische  Pädagoprib  für  höhere  Lehranstalten, 
n  18iH),  iu  Bauiueiüter,  Krziehuugs-  und  Unterrichtülebre  Ii.  —  A.  Mat- 
Wie  erziehen  wir  unseren  Sohn  Benjamin?  5.  Aufl.  München  1904.  — 
chrift  ftlr  höhere  Schulen,  herausgegeben  von  Küpke  und  Matthias,  Weid- 
erlin.  —  W.  Münch:  Geist  des  Lehramts,  Berlin  1003.  —  W.  Toischer: 
iäcbe  Pädagogik  und  allgemeine  Didaktik  in  Baumeister,  Erziehuugs-  und 
:htslehre  IL  —  Th.  Ziesrler:  Geschichte  der  Pädagogik,  in  Banineister 
ngs-  nnd  UntenicbUtlehre  I.  --  Th.  Zill  er:  Die  Regierung  der  Kinder. 


-   56  - 


schaffen",  ja  mir  ,,Or.Inui)£r  für  den  Augenblick"  (Apliori8iii«n  XI,       m  wahren 

ist  die  ATtfe:;ibp  dfr  Iiop:iernug. 

Zurht.  Herhart  behauptet  nun  X,  81:  ^da£5  man  Zucht  und  Regierung 
in  der  Pädagogik  notwendig  unterscheiden  moss".  An  anderer  Stelle  (X,  177; 
Umrim  pidago|fi8Gh«r  Vorlesnugen)  sagt  er  dAnn  nwnr,  da»  es  mehr  eine 
Trennung  (h-r  Bejjriffe  sei,  die  fttr  die  Erzieher  utttrlich  wÄre,  als  dass  rie  in  der 
Praxis  zum  Vorschein  kStmc  (siehe  atich  X.  81 1;  doch  widerspricht  sich  Herbart 
damit  nicht.  In  der  Praxis  ist  vieles  nicht  oifensichtlich,  man  legt  nicht  immer 
die  Gründe  seiner  Handlungen  dar,  obwohl  man  weis»,  dies  tue  ich  im  Interesse 
des  Zöglings  nnd  jenes  gescliiebt  in  Bttekaielit  auf  die  Disziplin,  ist  also  eine 
Begiernngsmasenahme. 

Die  auch  für  den  Ersiaher  listige  Begiemng  (Ziller,  Regierung  der  Kinder, 

S.  18)  sorf?t  für  Onlnnnir  nra  überhaupt  erziehen  zt;  kennen.  Die  Art  nnd  Wei-e, 
wie  en  iftschieht,  soll  zwar  nicht  roh,  unitberiegt  sein,  doch  ist  sie  für  mnncheri 
Schüler  miudesteos  iudiflerent.  Weder  Uerbart  noch  Zilier  leugnen,  dass 
Beschäftigung,  die  die  Unmhe  ablenkt  (ZUler,  B.  d.  K.  24},  MQssigang,  Lange- 
weile bannt,  dem  Laster  keinen  Eintritt  gewShren,  ohne  unser  Znton  endeherisdi 
wirken  könmn  oder  wie  Münch  (Geist  des  Lehramts  206)  es  ausdrückt:  ,.Zur 
poHitiTen  Gestaitnnf^  des  Innern  des  Züi,'liugs"  beitragen  k($nnen;  doch  sie  branchen 
es  nicht,  die  Wirkung  ist  keine  beabsiclitigte. 

Keicheu  Autorität  und  Liebe  des  Kindes  zum  Erzieher  nicht  aus,  um  vor 
Übertretung  smtteksnhalten,  so  snoht  die  Begierung  durch  nDrohea"  und  nAuf* 
flicht''  die  für  alle  gttltigen  Oeeetse,  weldie  nicht  motiviert  werden  {Ziller, 
B.  d.  K.  .%)  aufrecht  zn  erimlten. 

Ihre  Verletznncf  wird  rasch  nnd  ener[,'isch  bestraft.  Die  Strafen  werden 
auch  dadurch  nicht  zu  Zucbtmitteln.  dass  man  die  Strafandrohungen  unbestimmt 
gelassen  hat  and  sie  selbst  für  den  Einzelnen  nach  Lage  der  Sache  suschneidet. 
Eiatma  ist  nOtig,  weil  die  Ungewissen  Folgen  mdir  gelRlrehtet  werden  als  die 
▼OH  vom  herein  bekannten,  nnd  letsteres  ist  dmeh  die  Bttckriciht  auf  dia  physische 
Natur  des  Schülers  «geboten. 

Das  Wesentlich«'  ist  innner,  dass  man  nicht  straft  mn  sn  bessern,  sondern 

um  in  Schranken  y.n  halten. 

Die  Kc'i^ierunt;  sorgt  für  den  .Aiiyenblick ,  ist  conventionell, ')  während 
die  Zucht  die  Zukunft  des  Zöglings  im  Auge  hat  (Herbart  X,  17ß),  ganz  indi- 
vidneli  ist 

Wie  kommt  nnn  Herbart,  der  seine  pftdagogischen  Erfahrangen  doch  im 
wesentlichen  als  Frivatlehrer  machte,  m  dieser  scharfen  Trenmnng  von  Begiemng 

nnd  Zucht'::' 

Im  Emile,  der  einen  Erzieher  ganz  fflr  nch  hat,  ist  von  Regienmg  oder 
etwas  dem  gleich  Bedeutendem  nicht  die  Kede.  Matthias  Benjamin  hat  aoch 

>)  Das  Wort  im  Sinne  Goethes  genommen.  W.  Meisters  Wanderjahre  II  8: 
„Es  'das  Genie)  bequemt  sich  zum  Respekt,  sogar  vor  dem,  was  man  konventionell 
nennen  könnte,  denn  was  ist  dieses  anders,  ab  dass  die  vorzüglichsten  Menschen 
abereinkamen,  das  Notwendige,  das  Unerlilssliche  für  das  Beste  sn  halten/ 


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trnder  noeli  >Scbweiter,  ihm  wird  die  Fllnoigtt  der  Slteru  gaux  allein 
T  bnnchl  nicht  mit  andern  regiert  an  werden. 

■er  Herbart  hatte  drei  Brflder  zw  erziehen  nnd  er  bcsasa  Mnt  genog«  Herrn 

ger  zu  gehreiben:  „Karl  und  Rndolf  übersah  ich,  sio  waren  mir  zn  nn- 
id  neben  Ludwitr:  jed..-  Vemachl&.«?i£rnn2:  schien  mir  leicht  zu  ersetzen, 
ierte,  statt  zn  erziehen.  Jenes  ist  nur  ein  zuweilen  notwendiges  übeJ, 
ndlicli  ala  Anarchie;  aber  e>  aehwSeht,  tütet  die  Kraft,  Sisiehnng:  lenkt 
tBe.**») 

e«e  Anffaasnng  der  „Regieninie:"  als  einer  Art  Massenverwaltnng  nnd  der 
n!s  eigentlicher.  individtipHer  Erziehnng  teilt  anch  Matthias;  wai 
m  sich  nicht  au  ät^iuer  Terminologie  sbossen,  er  gebraacbt  „Zncbt"  im 
en  Herbaits  Regiening  nnd  redet  daneben  vmi  dner  KBehandlong  nnd 
sag  des  einadnen  Scbfllers",  waa  wieder  Herberts  Zneht  ents|iriebt. 
{:  Fraktieehe  Pädagogik  fßr  hühere  Lehranstalten,  siehe  Baumeister,  Er- 
-  nnd  ITnt«Trieht<lehre  II.  121 :  .—  ftramme  Zncht  und  Ordnung  haben 
hen  Wert,  es  darf  nur  dabei  die  Individualität  des  einzelnen,  sobald  sie 
«iekelnng  der  Feniteliebkelt  nm  Nntaen  iet,  nicht  einfMh  fibergeranut 
nnd  gXnzlich  an  Schaden  konraaen.  Deebalb  ist  der  Übencbrift  und  dem 
les  3.  Abschnittes  auch  die  „Behandlung  und  Beurteilung  des  einzelnen 
zugeffiert.  Die  Zncht  will  alles  il;i^.  was  im  Scliiih  r  vorhanden  ist.  aber 
irhanden  sein  sollte  und  was  nicht  habituell  wtni*n  darf,  vernichten, 
tu  aber  dasjenige,  was  im  ScbfUer  nicht  vorhandeu  ist  aber  vorbanden 
te  dnrcb  Nötigung  ihm  beianbringen  sndben.*) 

selbst  KUnch,  Geist  des  Lehramt«  396,  mnss  angeben:  ^Dass  das  gesamte 
Lebensgebaren  ein  etwas  wilderes  ist  bei  einer  Klasse  a]s  bei  dem 

n  Einzelnen.  —  Schon  verhältni«!inässi(r  schwache  Resrnnsren  finden 
ark  erscheinenden  Ausdruck.  Das  aileü  bedingt  für  die  Beherrschung 
formen  also  fttr  diejenige  einzelner  Zöglinge.  Etwas  mehr  vom  Tier- 
wird der  KlaasoiMirer  an  sich  haben  mfiasen;  ans  Ange,  Stimme  nnd 
mnss  der  Klasse  der  überlegene,  feste  Wille  des  Lehrers  fühlbar  werden ; 
fa<:<«e.  wie  sie  selbst  iii<  hr  F'^agerin  mhigen,  festen,  einheitlichen  Willens 
ri  sie  eine«  solchen  CTeiremibers«." 

n  sollte  memen,  das«  wäre  von  Herhart  nicht  allzuweit  entfernt.  In  die 
mgesetzt  würde  man  Herbarts  von  Münchs  Pädagogik  in  diesem  Punkte 
im  nntwsdieiden  kfinnra. 

l  der  ZOgling  an  setnem  Beebt  kmnmen,  so  mOssen  die  Vertreter  bdder 
:en  doch  immer  wieder  an  dem  Schlnss  kommen,  dass:  iu 

)er  Gedanke  kehrt  bei  Herbiui  wieder  iu  dem  Umriss  pädagogischer 
^en  X,  178.  „Bey  strenger  Regierung,  welche  Allem  was  verführen  könnte 
itt  sperrt,  ergiebt  sich  eher  ein  mangelndes  Wollen,  als  eine  bleibende 
theit.  Hört  die  Erziehung  auf,  so  kommen  die  gefürchteten  Gelegen- 
ind  der  Ziiylinir  kann  sich  bis  zur  Unkenntlichkeit  schnell  veriindem. 
;abe  der  Zucht  muss  so  gedacht  werden,  dass  sie  Bejdes  Wollen  imd 
esoi,  nrnfssse.** 

iiiler,  Reg.  d.  K.  17,  spriclit  davon,  diL^s  es  sich  bei  der  „Begiemng 
;  ein  Unterweisen,  sondern  um  ein  Abrichten  bandelt". 


-    S8  - 


strengen  Sinne  (Heibarta  Zueilt)  ein  tob  der  Begieniiif<  Tellig  venehiedeiiMtigw 
GeMhAft  ut"  (Herbart.  Apborümen  XI,  449). 

Einwand.  Zic>£:Ier  nnd  Münch  weisen  Mch  nii^geiide  wh^  dut  Herbut 
jyfiegierunc:  nnd  Zucht"  mit  Unrecht  trennt. 

Der  Schein  eines  Beweises  wird  bei  MUnch  darch  die  neue  Termiuolo^e 
erweckt  Er  gebmoeht  ebenso  wie  Tor  ibm  Toleober,  Theoietisdie  PAdagogik 
und  allgemeine  Didaktik  (Baomeister,  Sniebiuigs-  und  Unterriebtelehi«  II) 
„Zacht''  im  Sinne  von  Herbarts  ^^^nug",  wogsgea  ^Pflege"  fttr  Herbaxts 

„Zacbt"  i^ehraucht  wird.') 

MUnch  hnt  sicher  seine  Verdieuate,  ih\än  er  mehr  al«  Herbart  und  vor  allem 
Ziller  aueb  für  die  körperliche  Bntwickeluug  der  Schfller  eingetreten  ist  Seine 
Worte,  0^  des  Lehramts  167:  «Das  Vervebmi  der  leiblieben  Anfeniehnng  nnd 
leiblichen  Schulung  mit  der  bildenden  Einwirkung  auf  das  Innere  erhält  denn 
doch  in  den  meisten  nach  Herbartischen  Systemen')  sein  Becht",  treien  nicht 
zum  wenigsten  auf  Münch  selbst 

Tietadem  geht  MlbH^  eher  m  weit  166:  ,,Das  Febtoi  der  leibHchen  fttnorge 
nnd  der  gerade  mit  ihr  Tetbindenden  gnindleipB&dNi  Fttrsetge  fttr  die  seeliiche 
Bntwickelang  ist  eben  doch  auch  charakteristisch  fflr  Herbart.  £r  ist  zu  sehr 
0Jeist<»STnen8ch,  zu  sehr  abfstrakter  ^Gedankenbildner",  nm  ssicli  um  das  zu  kümmern, 
waä  nur  die  Mätter,  Wärterinnen,  oder  was  die  technischen  Lehrmeister  an« 
angehen  scheint.'' 

Einmal  hatte  schon  Toiseher  (Bsanrister,  Eraiehnngs<  and  Uaterrichtdebre  H, 
18&)  darauf  hingewiesen,  dass  auch  Herbart  betont,  ,,dass  jeder  Unterricht,  auch 
der  Tortrefftichste,  v«<rdcrhliiMi  wird,  sobald  die  piqrsische  Kraft  der  Kinder  nicht 
gegen  ihn  im  Gleich^-ewichi  i^elialten  wird". 

Münch,  der  bodkI  allen  andern  Pädagogen  historisch  gert^cbt  zu  w  erden  suchte 
hätte  auch  sehen  können,  dass  Uerbarts  scharfe  Betonung  des  Geistigen  eine 
gesonde  Reaktion  gvsgan  die  BonMeaniicb-philanthro]Hstiiehe  Bicbtong  war,  die 
nnter  Basedow  nnd  Carl  Friedrieh  Barth  doch  recht  aondcrbare  Blttten  seitigte. 

Hi'iharts  nnd  ZUlers  Abneigung  Tor  dem  englischen  Erziehnngsideal  war 
denn  doch  i^o  iram  nnbegriindet  nicht.  Wenn  man  von  hamionispher  Ausbildung 
der  Persönliciikcit  redet,  muss  man  sich  hüten  nicht  in  das  schlimmere,  entgegen- 
gesetste  Extrem  sn  fallen,  den  Körper  mehr  als  den  Geist  zu  pflegen. 

In  England  sdbet  nacht  dch  eine  Opposition  gegen  die  ttbertrieb»  q^rtlidie 
Richtung  geltend.   Li  der  „Erening  Kews"  vom  19.  Juli  1907  wirft  jemand  die 

Frage  auf :  Do  our  public  scbools  stand  in  need  of  reform  ?  Do  they  pay  too  mnch 
attention  to  athlotirs  and  too  little  to  work?  Are  their  methods  of  teachin^  ont 
o£  date?  Is  what  is  known  as  tbe  „public  school  type"  of  man  the  heKt  available? 
niese  «re  questions  of  grave  importance  wbidi  are  being  widely  diseaased  to- 
day."  (Sind  nnsere  Öffentlichen  Schnlen  relormbedttiftig?  Berltckriditigen  sie  die 
kSiperlicben  Übungen  ni<bt  zu  »ehr  und  wird  die  geistige  Arbeit  nicht  dabei 
Temachlässigt?  Sind  die  Methoden  des  Untetrit^ts  noch  auf  der  Ufihe  der  Zeit? 

>)  „Lehre"  für  .Unterricht"  im  Herbartschen  Sinne  ist  Ton  Münch  selbst 
geprägt  worden      es  kommt  aber  hier  nicht  in  betracht. 

Stoy  war  156  in  diesem  Punkte  als  weitherziger  bezeichnet. 


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•las,  was  mau  unter  öffentlicher  Schulbildung  versteht,  den  Menseben  für 
ben  am  tauchlichtteii?  Das  sind  Fragen,  die  ihrer  Wichtiirkeit  gemte, 

ttberall  erörtert  weiden.)  Einem  Abschnitt  dieses  Aufsatzes,  „Caases  of 
ion"  überschrieben,  cnrnehme  idi  ik^cIi  fol/j^fiuk- Stellen:  ^Hfimlp,  Flösse  nnd 
der  Knabpn  werden  zuiu  mindesten  /.a  gleich  hoher  Geschicklichkeit  aus- 
:t  wie  ihre  Denkföhigkeit  wird  auch  bei  der  Anstellang  der  Lehrer 
dchtigt:  de  rnttasen  Meister  auf  dem  Cricket-  und  Fnnballplats  sein, 
der  die  Verhältnisse  kennt,  weiss  welche  Rolle  die  Bedingung,  ,.er  muss 
nn  von  kßrperlic  her  Stärke  nnd  Geschioklichkeit  sein"  bfä  der  Anssehreibttnjp 
eilen  durch  die  Dir^iktoren  spielt," 

.Us  weitrer Beweis  für  die  Wichtigkeit  die  den  sportlichen  Übungen  beigelegt 
8t  fener  die  Tatsache  aasiiselien,  dass  in  mianvii  bedsatendsten  Schulen 
infigr  ein  Lehrer  für  Cricket  und  einer  fVr  Fniaball  Torihanitoi  ist,  deren 

eit  znm  mindesten  in  gleichem  Ansehen  steht,  wie  die  der  Lehrer  für  alte 
en,  Mathematik  und  Naturwissspiii^chaft.  Der  Vertreter  der  fremden 
en  kommt  kaum  zn  Worte,  er  wird  ganz  in  den  Hintergrund  gedrängt." 
Der  Schfriber  dieses  glaabt  jedoch,  das«,  wenn  die  Aniddien  nidit  trttgen, 
mde  fttr  den  ttbertriebenen  Knltns  des  KOrpem  gescUagen  hat  Schon 
j  nüchtern  denkende  Leute  ziehen  Vergleiche  die  nicht  zu  unserem  Vorteil 
m  zwischen  den  heute  in  Enjrland  vorhandenen  Anschannngen  Uber  Vater- 
ebe  und  Fortschritt  und  denen  gewisser  Vülker  des  Festlandes,  die  nicht 
sser  Sportmeht  ergriffen  sind  nnd  Urteilskraft  nnd  Hut  genug  haben  ein- 
n,  dass  eine  gesnnde  Seele  nicht  leben  kann  bei  nngeannder  Ansbildang 
iipen."  >) 

Iwar  sinil  wir  in  Deutsrhlaiui  von  derartigen  Zuständen  noeh  5«ehr  weit 
it  (vgl:  „Die  Mitarbeit  der  wi^senschaftUchen  Lehrer  bei  der  körperlichen 
ang  der  ScbtUer  höherer  Schulen",  von  Fritz  Eckardt.  Nene  Jahrbücher  f. 
issiiohe  Altertam  nsv.  1907,  S60f.),  doch  handelt  es  sich  dämm  zn  neigen, 
ierbarts  Abneigung  Tor  dem  englischen  Ideal  nicht  gans  nabegrftndet  war, 
•ünseitii^keit  also  wohl  zn  entschnlfüpfen  ist. 

Itnbart  nnd  Ziiler  beHchrüukten  den  Begri£f  der  Erziehung  auf  die  geiHttge 
lung,  nicht  weil  sie  die  körperliche  fUr  behiuglüs  halten.  Betrachtet  man 
ite  nicht  als  einen  Fehler,  wenn  ein  Lehrer  medininische  Vorkenntnisse 
,  so  dass  er  bei  der  Erziehung  auch  einen  klaren  Einblick  in  die  körperliche 
^keluug  seines  Zut^Hnj^H  li.it,  so  wird  man  doch  ziigreben  inllssen.  dass  beide?« 
irtch  m  trennen  ist.  Herbart  setzt  einen  «•esumien  Körper  voraus,  er 
i  ihn,  um  ihn  geüuud,  dem  Geiste  Untertan  zu  erhalten. 
)el  Kants  £inteilnn|r  der  Ersiehnng  iSsst  es  Münch  dahin  gestellt,  ob  man 
viel  von  dem  Gebte  des  grossoi  Philosophen  finden  kCnne  (Odst  des  Lehr- 

)  Einem  Aufsatz  der  „School  World"  Mai  1907,  entnehroe  ich  noch  folgende 
„Während  icli  für  vernünftige  körperliche  Ühnniren  eintrete,  bedame  ich 
rseits  fast  gladiatorenhafte  Schaustellungen ;  hier  ist  der  Eifer  übel  angebracht 
?r  Schüler  wird  geschädigt  und  auf  falsche  Bahnen  geleitet.   Wir  konnten 
letsten  Jahren  einen  gewi^^scn  Rückfall  au  einer  Art  von  Barbarei  heohuehten, 
ir  man  bfltte  glanben  sollen^  dass  sie  ein  fOr  allemal  hinter  nm  lüge.  Es 
PtHcht  der  Männer  der  Wisaensch;ift.  dem  durch  die  Ebsielrang  entgegen 
leiten  oder  ein  Gleichgewicht  entgegen  zu  setzen." 


amts  155).  Münch  sieht  darin  mehr  den  Geist  seines  JahilltinderCs  (ft.a.0.  16^ 
Schleiermacber  erhält  ähnliche  Mildenmgsgründe 

Nur  von  Herbart  heisst  es  156:  „Bestimmter  spiegelt  sieb  in  der  Einteilung 
Herbarts  der  Gebt  seiner  Pädagogik  überhaupt:  eigentliche  Erziehung  ist  ihm 
die  Bildung  emes  gcseUossenen  and  wertvoUrni  Oedankeukretses,  der  m^eieli 
das  wesentlichste  Vehikel  für  die  (^haraktirbildung  wird,  was  als  „Zuchf  nach 
seiner  eipr^^ntlichen  Tt'iininointn'*  neben  «len  Unterricht  tritt,  ist  in  seinem  Sinne 
nur  eine  Ergänzung;  'kr  Ein\virkuu>(  auf  die  Bildung  eines  positiren  Zpntmnis, 
Jedenfalls  ist  eine  Einteilung  etwas  ganz  anderes  und  ist  weit  mehr  als  der 
Venuch  Ordnimg:  in  das  foehliche  Denken  an  bxii^pai.  Hinter  dem  Schema  der 
SinteUnng  steht  eben  der  eigenartig«  Geist  der  Pidagogik  und  des 
Pädagoiren."' 

Dilss  mir  diesem  „eigeuartigen  Geist  "  die  Philosophie  Ilerltarts  c^eiiKint  ist, 
gebt  aus  einer  andern  Stelle  noch  deutlicher -)  hervor,  IGÜf. :  „Die  .Soudcruiig  dieser 
Tfttigkdt  der  Pflege  von  derjenigen  der  Lehre  und  aneh  selbst  der  Zncht  ist 
freilich  keine  so  unbedingte,  wie  sie  Herbart  für  seine  „Regierung  '  und  „Zucht" 
forderte  -  M-lir  dif  NiclitiintPi-srht^idniiLr  de?  nach  Ziel  und  We-fu  Ver- 
schiedenen den  Geist  der  Erjtiihuntr  irre  leiten  kann,  so  gro.<s  naraentiich  die 
Gefahr  der  Einseitigkeit  ist,  wt-nn  nicht  die  verschiedenen  Linien  zugleich  im 
Bewnsstda  od«r  Gefflhl  festgehalten  werden,  so  liegt  es  andererseits  doch  geiadn 
im  Wesen  der  Endebung.  die  somit  der  universalen  und  nicht  mechanisch 
zu  konstruierenden  oder  zu  zerlegenden  Mcn sch ennatur  sntnn  hat^ 
daas  jene  einzelnen  Gebiete  vielfach  iiieinnnder  überfjelien  '' 

Ich  inilhnt  k:»nn  dem  Pbilosojjlitn  Herliart  auch  nirut  folc^en  und  rede  bei 
der  Erziehung  mit  Münch  lieber  von  dci  Eutnickelung  des  Angeborenen,  das  ün 
wesentlichoi  den  Charskter  bestimmt,*)  als  von  der  Bildung  eines  geaehlessenen 
Gedankenkreiaes. 


Geist  des  Lehramth  lit6:  „Mau  wird  kaum  sagen  krmni  n,  da<s  sich  in 
der  Gliederang  von  Schleiermacher,  dem  alle  Ersiebung  in  (Te;4\invirkung  und 
Uut'-rstiUznnsr  vorfHllt.  d(  r  Geist  dieses  Übrigens  80  eindringlich  sucbenden  pftda> 
gogiscben  Denkers  ottenbare." 

*)  Oani  nnumwnnden  ist  es  nirgends  gesagt  —  es  gehSrt  das  mit  an  dem 

eigentümlichen  Stil  Mlinrhs.  Matthias  sairt  scherzend  von  ihm.  Monatss.  f.  L 
Schnlen  11K)4,  310:  „liei  dem  Studium  dieser  Aufsätze  kommt  einein  der  Gedanke, 
ob  nicht  Münch  <'i;j:i  nTli('li  seinen  Beruf  verfehlt  hat:  thnn  er  i.-t  »in  Essayist 
feinster  Zunft,  wie  wir  wenige  besitzen:  und  fnr  -»Avhe  Mfns(lien  ist  die 
Schule  und  alles  waä  mit  ihr  zusammenhängt,  doch  eigentlich  recht  langweilig." 

*)  Deswegen  braneht  man  noch  nicht  jede  Enriehnng  als  nnnttts  anattsehen, 

de  bietet  im  G.'irenteil  dem  Z*'£rlin2r  (ieloc:enhtdt  zu  zeigen  was  in  ihm  i^^t.  macht 
ihn  mit  sich  selbst  bekannt,  lehrt  ihn  das  ihm  Gemässe  zu  ergreifen  und  macht 
ihn  so  zum  festen  Charakter.  —  Die  philosophische  Voranssetzung  ist  aber  fttr 
die  Praxis  fast  gleichgttltiq*:  die  Hanpr>a(lie  ist,  dass  man  überhaupt  ein  Ideal 
bat.  ..Ohne  «inen  erhabenen  Zwtck.  wer  »nichte  es  aufhalten,  den  männlichen 
Geist  berabznbengra  xnr  Kinderwelt ?  Ohne  die  Hoffnung  mit  der  man  si-lltst  die 
Jugend  anf.inirt,  wer  möchte  die  Kälte  des  Gi  iankens  überwinden,  dass  ilie  Welt 
bleibtn  vviril  wie  sie  ist?  Vielleicht  könnte  mnn  hinzusetzen,  jeder  dem  Erziehung 
am  Herzen  liegt  habe  etwas  von  Ubaschimg  wissentlich  in  jener  Hoffnong 
geduldet  und  ernährt;  nur  um  sich  in  seinem  eigenen,  pflichtmässigen  Streben  mm 
Bessern  die  rechte  Gesinnung  zu  erhalten."  (Herbart  Aphorismen.) 


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)och  darauf  kommt  es  hier  gar  nicht  an. 

[iinch  hat  Ilerbarts  „Zncht"  falsch  ansg-elejrt.')   Sie  ist  bei  Uerbart 

A'egs  bloss  eine  Ergänzung  der  Einwirkungen  auf  die  Bildung  „eine«  posi- 
Uatrm^t  es  iit  ifaia  sogar  die  eigratliche,  wie  wir  Mhea  Inttvidaelle, 
nng.  Ferner  ist  tie  dem  Daterricht  nebengeordnet  oder  gar  Toa  dieflen 
idoi,  wie  die  B^eniiig. 

aäjt  doch  Herbart  in  der  Einleitung  zur  Allgemeinen  Pädagogik  X.  11 :  Ich 
!  gleich  hier  keinen  Be£riiff  zu  haben  von  Erziehung  ohne 
riebt;  so  wie  ich  rUckwärts  iu  dieser  Schrift  wenigstens 
D  Usterricht  auerkemie,  der  nicht  eraieht/' 


II. 

Die  Zukunft  der  Fortbildungsschule. 

Von  Dr.  M.  Schilling  in  BochUte. 

on  der  Zukunft  der  FortbUdnnguchule  kann  man  in  doppeltem  Sinne 

a:  man  kann  dabei  an  die  Weiterentwicklung  tatsächlich  bestcbeiuler 
lungsschnli-ii  denken,  oder  an  die  Verwirklichnng  einer  UoMen  Idee,  der 

lnnßi«sphtiliiliM'. 

dem  Begriäie  „Fortbildungsschule''  liegt  der  Gedanke  der  Weiterfllhrung 
egounenen  Bildung.  Daher  fallen  Fachschulen  jeder  Art  nicht  unter 
BegrtfT,  denn  sie  setaen  nicht  Begonnenes  fort,  sondern  ndimen  Neues  in 

Auch  der  Umstand,  dass  mancherlei,  was  vorausgegangener  Unterricht 
en  hat,  hier  nach  einer  lestiniinten  Richtung  hin  Aiiwondnnsf  hndet, 
au  dem  Charakter  dieser  öchuieu  nichts  und  macht  sie  noch  nicht  2U 
.ongsscbulen. 

n  die  VenHrkUchiuig  der  Fortbildangsechiilidee  handelte  ee  sich  bei  dem 
les  aichsiaehen  Volksschnlgesetaea  1873.  Sachsen  eihielt  die  JFertUldvngS' 
Ob  die  demOesetigeber  seinersdt  vorsdiwebendeldee  volle  Verwirklichung 

M.  scheint  sich  dabei  anf  Ziegler,  Geschichte  der  Pädagogik  (Baumeister 
stützt  zu  haben.  Es  fehlen  uns  aber  noch  die  Gedanken  Herbarts  über 
ten  Haapteil  seiner  Pädagogik,  über  die  Zucht,  die  nun  doch  von  der 
ng  und  Unterricht  in  «einem  Sinne  als  einem  erziehenden  schroffer 
len  wird,  als  dies  kouMt'qut'ntcr  Weise  hätte  der  Fall  sein  sollen;  d>-nn 
ck  ist  eben  der  Hauptzweck  der  ganzen  Ersiehung:  nCharakterstärke  der 
:eit.*' 

4:  ..Wie  dif'ses  Tlerhart^rhe  System,  dessen  lliiuptbedeutuntr  doch  in  dor 
und  tief  trriindigeu  Verbindung  von  Pädagogik  und  Philosophie  (Psycho- 
ad  Ethik)  lietrt  and  dessen  Fülle  von  pädagogischer  Weisheit  im 
;u  durch  die  Verbindung  mit  einem  unhaltbarer  philosophischen  S}-8tem 
cht  den  ^nzen  formalistischen  und  schablonisiereuduu  Aufbau  mehr  ver- 
ird  als  ui  die  Snoheinung  tritt, 


—    62  — 


geftuHleii  hat,  wird  im  Hinblidc  auf  die  tatiächlieheii  VerhUtnisM  der  6es«iwarl 
bezweifelt  werden  mn>%seu.   Eine  starke  Strömung  droht  die  Fortbildnngnebnle 

in  das  Fahrwasser  der  Fachschule  zu  ziehtn.   Ist  claa  wüiiscbenswert? 

Mit  dieser  Frage  beschäftigt  sich  eine  Denkschrift  des  Herausgebers  der 
Pädagogischen  .Studien.  Sie  ist  unter  dem  Titel  „KichtOnien  znr  Orgauis&tioa 
der  Fortbildungsschule  und  Lehiplan"  bei  Ble^  dt  Keenunerer  in  Dieiden- 
Blasewits  Anfan;  Oktetor  190B  eiseMMien.  Die  Sdiiilt  eritetert  den  BegriM  der 
allgemeinen  Bildung,  berührt  das  Verhältnis  zwischen  allgemeiner  und  Bemfs- 
bildung,  zwischen  Fortbildungsschule  und  Volksflchnle  ond  ninunt  dabei  äteilnng 
zu  Dr.  Kerschensteiiiers  Ansichten. 

£s  wird  eine  Organisation  der  l'ortbilduugsschale  empfohlen,  die  den 
jBedSrfniiMii  bemfUeber  Anabildnnir  ^  >n  dnem  gewinen  Gnde  Bedinnag 
trftgt,  ohne  jedoch  den  Beruf  zuui  Min  Ipimkte  des  gesamten  Fortbildungsschnl* 
nnterric-htes  zn  machpr,  und  die  juicli  di»*  Mitwirkuiiü,'  der  an  der  rein  beroflichen 
Auibilduuj^  interessierten  Kreise  in  weitem  Umfanije  züliiyjil. 

Die  Deukbchrift  war  bereite  erschienen,  als  dem  Verfasser  Nr.  4  der 
«Broicbttren  «ir  ScbnlpoUtik''  (Leipslg  und  Beriin  1906,  JnL  Klinkbardt)  in  die 
Hand  kam.  Hier  wird  ein  Vortrag  des  Freiherm  von  Zedlitz  nnd  Nenkireh 
Whf'T  die  wichtigsten  Anfir  i^eu  der  prenssischen  Schulpolitik''  veröffentlicht,  den 
er  in  der  Vereinigung-  tür  .Schulpolitik  in  Berlin  gtdialten  hat.  Der  Vortrag 
gedenkt  der  Fortbildungsschule  in  folgenden  Sätzen :  „Mit  14  Jahren  kann  weder 
KncAe  noch  Xidehen  das  notwendige  Man  Ton  Kenntninen  nnd  rittUeher 
Herzensbildung  besitzen.  Es  ist  durchaus  nBÜg,  dass  die  sarten  Keime,  die  in 
der  Volksschule  in  die  jugendlichen  Herzen  und  Geister  geletft  sind,  noch  mit 
sorgsamer  Hand  jahrelang  f^eplleijt  werden,  damit  sie  kräftig  bleiben,  festwurzeln 
nnd  nicht  von  den  Stürmen  des  Lebens  weggefegt  werden.  Wir  haben  zwar 
jetst  nach  nwnehen  Riehtnngen  hin  FottUldnngeantalten ,  geweibliehe,  kaiif> 
männwche.  landwirtschaftliche.  Aber  daa,  was  noch  fehlt,  ist  die  allgemeine 
Fortbildungsschule,  die  oben  anf  die  Volksschule  sich  aufbaut  und  für  Knaben 
wie  Mftdrhen  bis  zn  einem  £rewissen  Lebensalter  oblicfatorisch  ist.  Dies  obere 
Stockwerk  werden  wir  sobald  als  möglich  aufsetzen  müssen,  wenn  wir  erreichen 
wollen,  diss  wir  in  den  Stflnnen  nnsexer  Zelt^  ia  der  naohMi  Knltaventiriiddcing, 
in  der  wir  anf  gewerUiehem  nnd  sonstigeni  Gebiete  in  Jahnehnten  nacUMlen 
wollen  nnd  müssen,  was  wir  in  den  Jahrhunderten  seit  dem  dreissigj&hrigen 
Kriege  vendinnit  haben,  nnj^crc  Jngend.  mit  dem  notwendigen  geistigen  nnd 
sittlichen  Büstzeug  zu  versehen.'' 

Das  MmmA»  Volkssehnlgeseti  bat  vor  bereits  86  Jahren  die  Tolkssohnle 
mit  diesem  oberen  8to<^werke  versehen.  Heute  ist  man  an  der  Arbeit,  dieses 
Stockwerk  ahmtragen  nnd  neben  der  VoUtasehnle  dnen  Ban  mit  ebenso  vielfln 
Isoliersellen  zu  errichten.  a1>>  e<  Berafe  eibt. 

Die  oben  erwähnte  Dcuki^chrift  steht  im  wuseutlichcu  auf  dem  Standpunkte 
des  Freiherm  von  Zedlitz  und  Neukirch.  Sie  tritt  dafür  ein,  dass  der  Volksschole 
das  obere  Stockwerk  erhalten  bldbe,  wenn  auch  nicht  so,  wie  es  snrseit 
beschaffen  ist.  Die  Konstruktion,  die  es  durch  das  sächsi.'iche  Volks-schnlgesetS 
von  1873  erhalten  hat.  ist  im  allt,'eineiuen  gilt,  nur  wird  hie  uri  l  la  r  in  Pfeiler 
zu  verstärken  sein;  für  den  Ausbau  aber  ma«s  noch  mancherlei  ge:»chehen,  wenn 


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rtbildongsschnle  einen  das  Volk&sclialweaen  krüueadeu  Ab»chlus8  d&r- 
nnd  nnabweiBbareii  eniehUcben,  nationalen  nnd  tosialen  Aufgaben  ent- 
n  mU. 

er  Denkichrift  ist  ein  Lebrplan  beigegeben.  Er  erbebt  nicht  ÄatfXwHk 

bis  in  alle  Einzelheiten  allen  Verhftltnifsen  iin<l  Bedürfniesen  zn  ent- 
n;  der  Plan  will  nur  ein  Beispiel  dafür  sein,  welche  Ziele  ins  Ange  an 
iind,  und  mit  welchen  Mittein  diese  Ziele  erreicht  werden  können. 


III. 

Scbule  und  Charakter. 

Ein  Bttiebt  von  Fr.  Franke. 

e  Uerbartkränzehen  bezw.  Ortsgruppen  des  Vereins  für  wiuaiacbaftliche 
Sik  in  Halle,  Kanmbnrg,  Leipzig  ntw.  hielten  am  14.  November  1906 

eine  gemeinsame  Sitzung:  ab    Vereammlnngsort  war  diesmal  Halle;  die 

r  Hesncher  betrug  etwa  öü,  der  weiteste  war  m\<  Mair'lf^^nrt:  gekommen. 
LT'-iistHud  der  Beratung,  mit  dem  sich  die  Urtsvtreiiu-  seit  Muuaten 
igt  batteu,  war  das  Buch  von  Fr.  W.  Foerster:  „Schule  und  Charakter. 
)  nur  Fftdagogik  des  OehorBams  nnd  snr  Reform  der  Schnldiniplin.'' 
1908. 

ktnr  Hemprif'h  ans  Naumburg  crab  p?Ti)fitPnr1  eine  T'hiTsicht  über  den 
Biuh^.  Die  dreistündige  Besprechuug  bewegte  sich  um  folgende 
jdaukeu. 

Vorwort  epricht  Feenter  ans,  der  Charakter  dee  Ifettechen  id  noch 
je  ^edes  noch  so  kleine  köri)crliche  Organ**  Gegenstand  eines  besonderen 
s  geworden,  die  morali)iida*,'oirisclie  Literatur  sei  der  „Intellekt-Piidasfogik" 
er  sehr  arm.  Das  niiiL'  bloss  statistinrh  an<re«iehen  leider  richtig  sein, 
iirde  darauf  hingewiesen,  dass  vor  allem  üerbart  die  Charaktbildnng  eben 
iMDd  behandelt  hat  wie  das  Interesie,  und  in  einer  Weise,  dass  noch 
der  neue  Versneb  damit  Tergliehen  weiden  mnas.  Foerster  behandelt  die 
konkret  und  wird  hierdurch,  nnter8tützt  von  einer  j^lOcklichen  Schreibart, 
n  trrösüeren  Teile  der  Eltern  verständlich;  er  bezieht  sich  fortwährend 
öffentlichen  Einriebtangen  der  Gegenwart,  hebt  ans  dem  Auslande 

Torlnidfiehe  hervor  und  gewinnt  dadurch  das  Ihterssse  alkr»  denen  das 
is  gaami  Volkes  am  Hersen  liegt.  Jedoch  seine  Erfshning  ist  an  sich 
\  nnd  dazu  fehlt  ihr  auch  die  Deutung  durch  eine  durchgebildete  phycho- 

ethifche  und  pädagogische  Anschannnq^weise.  Pestalozzi  wird  bei 
ung  der  „DriUdisziplin"  als  Vorbild  hingestellt,  und  gegen  B^nsBeaas 
ihon  an  dÜB  Gftte  der  mensddiehen  Natnr  wird  polemisiert;  aber  eine 
ende  Ansdnandeneürang  mit  den  IHUiagogen  dmr  Vergangenheit  findet 
lt.  So  erklirt  es  rieh  wohl,  dass  üMt  alle  Hanptbegrilfe  des  Bnohes  in 


-  64  - 


«iii«r  gewissen  tlnbeetimmtheit  schweben.  Es  gelang  t.  B.  nidit,  Uber  den  Sinn 

des  Satzes:  „Wahrhaft  logisches  Dmken  setst  Gbarakter  voraus*'  (S.  11)  so  einer 

z^nngenden  EDt.«rli^i.lung  zu  Icommeu.  Feruer  wäre  der  Ksuupf  i^eiren  Brutalität 
der  Disziplin,  die  entweder  Angstgefühl  erregt  oder  den  Widerspruchsgeist  reiit, 
wirkungavoiler  zu  führen  gewesen,  wenn  er  wie  Herbart  Eegierung  (von  Stoj 
SchnlpolÜBei,  sonst  meist  DissipUn  geiuuat)  und  Zucht  MueJasudefgehBltin 
hfttte^  In  der  jetcigeu  DarsteUnng  entsteht  anf  der  einen  Seite  leicht  der  Sdiefai» 
dass  Foerster  gsns  ohne  Zwang  auszukommen  glaube;  auf  der  anderen  Seite 
wird  ant  h  das,  was  sich  an  da«  nach  und  nach  ausreifende  Urteil  des  Schülers 
weudct,  durch  die  Vermincbung  mit  jenen  vorwiegend  negativen  Massreg^  nicht 
genügend  Idar.  Oberhaupt  scheint  dieses  dgene  sittliche  Urteil  nicht  als  der 
eiste  Qinnd,  ans  dem  alle  Pflicht  herfoigeht,  erkannt  su  sein;  wo  Foenter  sidi 
an  da&^elbe  wendet,  s])richt  er  davon,  dusa  man  sich  an  die  Persönlichkeit  oder 
an  den  Charakte  r  wende.  Der  .\h8chnitt:  ,,die  Bedeutnnir  de^  Gelior-sani.*  für  die 
Freiheit^  tritt  wobi  der  unklaren  modernen  Freiheitspädagogik  entgegen,  nnd 
diese  Absicht  fand  allgemeine  ZosUmmong.  Jedoch  die  Begriffe  Indi  vid  aalit&t, 
Charakter  nnd  Persönlichkeit  sind  nicht  in  das  richtige  YerhUtnis  gesetit 
„Die  Indindualität  muss  sterben,  wenn  die  Persönlichkeit  aotersteben  Boli"  liest 
mau  S.  'JO.  Nun  ist  zwar  nichts  Silnverwies'cndes  das^t'pfpn  zu  sagen,  dass  man 
heute  wie  schon  zu  Fichtes  Zeiten  und  noch  früher  mit  dem  Ausdrucke  Persuu- 
lichkeit,  der  ganz  allgemein  die  bewusste  Beziehung  aller  paycbiscben  Inhalte 
anf  einen  Ptinkt,  anf  das  Ich  bedentet,  sdion  die  besondere  Art,  die  starke, 
eigenartig  ansgepilgte  Persönlichkeit,  bezeil  haen  will  nnd  dass  Foentar  noch 
enger  nur  die  srnte  starke  Persönlichkeit  meint  ;  es  stört  auch  nicht  wesentlich, 
dass  er  unter  (  burakter  inniiLr  die  eine  Hanptnrt,  den  sittlichen  Chanikter 
versteht,  obwohl  aiitltire  Arten  auch  voiliauden  äind.  Aber  bei  dei  Individualität 
denkt  er  umgekehrt  nnr  an  die  ttbdn  Seiten,  nfimlicb  an  dasjenige  Angeborene 
(oder  in  der  ersten  Bildungszeit  Erworbene),  welches  eine  ideal  gerichtete  Erziehung 
wirklich  zn  überAvindi  n  .suchen  nin««?,  und  st<dlt  ihr,  wie  wenn  sie  hloss  .Sinn- 
lichkeit, verwerlliche  Bci^ierde.  Leiiienscliift  wHre.  die  BekampftiTii,'-  iiud 
Beherrschung  durch  den  (^besseren)  ,.üei8l"  gegcuüber.  Nach  HerbarL  hiugegeu 
soll  die  IndiridnaUt&t  mit  allen  ihren  hervorragenden  Seiten  oder  Spitsen  mOgliclMt 
nnversi dirt  erhalten  werden.  Was  man  der  Persönlichkeit  an  stark  Ausgeprägton, 
an  chixnikttruiäs.'ilt,'  Festem  nur  iiiimer  wünschen  kann,  muss  sich  an  die  Natnr- 
gaben  der  Individualität  anschliessen.  denn  auch  die  gelungenste  Erziehung  zeigt 
noch  einen  „besonderen  Menschen  .  iMan  vgl.  Uerbartä  Allg.  Päd.  L  Bach 
8.  Kap.  nift.)  Hier  ist  Foerster  dvreh  sein  löbliches  Bestreben,  dem  modernen 
Extrem  entgegenzntreten ,  zu  einem  älteren  Extrem  snrftckgedrfingt  worden. 
Deshalb  kann  das  liuch  manche  Eltern  dazu  verleiten,  ihre  eigenen  individuellen 
Seiten  bei  den  Kindern  durchaus  durchsetzen  zu  wollen,  denn  dieses  Stück  Erb- 
sünde droht  den  Eltern  immer.  Dagegen  fordert  Herbart  a.  a.  0.  den  Erzieher 
anf,  dass  er  f,seine  eigenen  ZnfUligkciten  wohl  nntersdieide'',  d.  h.  nur  als  solche 
ansehe,  nicht  blindlings  als  das,  was  normaler  Weise  sein  mass.  Ausser  dem 
angedeuteten  Grunde  hat  hier  bei  Foerster  wohl  auch  der  verschwommene  Begriff 
des  Triebes  mitgewirkt;  die  Versammlung  sab  aber  davon  ab,  diesen  Punkt 
zu  verfolgen. 


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-  6s  - 


r  folgende  Abschnitt:  „Dw  Bedentung  der  FteUiMt  fttr  den  Gehorsam" 

Tendenz  nach  sranz  niit  Herbarta  Zacht  znsammen.  l>ie  Freiheit, 
•.«ter  mit  tieiu  Gehorsam  ..versöhnen*'  will,  ist  eben  der  (it^horsam  gegen- 
II  sittlichen  Forderungen,  deueu  das  bessere  Selbst  des  Schülers  Beifall 

die  er  also  selbst  an  sich  stellt.  So  ist  wirklich  ,,der  freiwillige 
n  der  eigentliche  Trinmpli  der  Enidinni?"  tS.  112).  Doch  ergibt  sieh 
was  an  an<Teri*ii  Stellen  zweifelhaft  erscheint,  dass  anch  F'i"r-ät»'r  vor 
Teiwilligeu  üehorsam  den  ,. Zwang",  also  den  Dmck  der  Kei^iemug  nicht 
thehren  kann;  daza  wurde  ausgeführt,  dasa  auch  bei  milder  Behandlung 
e  Foersters  noch  regiert  wird.  Seiner  PKdagogik  dee  Gehontms  fehlen 
rh  andere  scharfe  ü&terscheidQngen.  Herbart  nntenebeidet  annftchst  den 
iven  Charakter,  d.  h.  die  Fertigkeit,  die  allmählich  durch  Einwirkung 
ssen  entsteht,  und  den  subjektiveu  Charakter,  welcher  sich,  wie 
:agt,  anf  die  eigene  Einsicht  gründet.  Daran  ächliessen  sich  dann 
Arten  von  TKtigkeiten:  die  haltende  und  bertimmende,  die  regelnde  nnd 
taende  Zucht,  die  sidi  in  dersdhen  JPolfa  an  die  Begiemng  ansehliessen 
a  Laufe  der  Gntwickelung  dieselbe  allmählich  überflüssig  machen  sollen, 
sammen  ist  aber  die  unm  ittelbare  Charakterbüdnn?,  deren  eisrentliche 
i  darin  besteht,  Wollen  in  Handeln  ttbersuftthren.  Ikr  steht  die 
bare  CkaiakterUldung  gegenüber,  weleh»  den  GeibnlnnkreiB  heetinmen 
»ieaem  Zwecke  dienen  bei  Foerster  die  „Beapreehnngen",  mit  denen  er 
das  bessere  Selbst  der  Schüler  wendet.  Man  findet  darin  vides,  was  der 
enbildung,  wie  sie  Herbart  beschreibt.  "!i»'nt  aber  die  Bedeutnng  des 
'.hts  für  das  eigene  Urteil  steht  im  Dnukei  der  „iuteilekt- Pädagogik", 
sr  letale  Abschnitt:  „Befonn  der  SohnldiaaipUn"  wmde  in  der  Besprechung 
»ingeleitet,  dase  die  Yorscbllge,  die  Foenter  darin  madit,  ans  iwei 
rtihchen  Staaten  stammen,  aus  der  Schweiz,  wo  Foerster  selbst  tätig  ist, 

Amerika  wo  er  viel  Vorbildliches  findet.    Ein  in  London  abj^ehahener 
s  über  moralische  Erziehung  hat  sich  dahin  entschiedt^n .  da^s  eine 
leuhafte  Übertragung  auf   englische  und  deutsche  Verhältnisse  nicht 
-  seL  Die  Voraanunelten  bemUhten  sich  aber,  an  aeigen,  daas  doeh  vieles 

sei;  nur  läast  sich  über  solche  lünaelheiten  nicht  kurz  beriditen.  Zu 
lool-city-System  wurde  bemerkt,  dass  ausser  den  Hmnani-^ti  n  le.s  Ii).  .Jahr- 
«  bereits  Trapp  in  Halle  17h;I— iKj  einen  .SchuUtaat  gefordert  und 
Utet  hahej  vgl.  Th.  Fritzsch,  £,  Chr.  Trapp.  VJUÜ,  S.  47. 
18  Bnch  Feersteia  ist  also  anch  für  an«  eine  sehr  erfienliche  Erseheinnng. 
:  nickt  t^entliek  von  wissenschaltflehen  Wetonngen,  sondern  Ton  Erfahr 
und  politischen  Anliegen  ans  und  betont  besonders  die  religiöse  Stütze 
rakterbildung;  in  dieser  Art  tut  es  einen  wiehtigen  Teil  der  gegenwärtig 

Arbeit,  gibt  dem  Uefereu  theoretischen  Denken  einerseits  Anregungen 
>blenie  nnd  dient  anderseitB  denselben  noch  an  nener  Bestätigung.  — 
ie  schon  an  Pingatoi  190B  in  Magdebnrg  Torllnflg  Terabredet  worden 
U  in  Febmar  oder  März  IWtö  in  Leipzig  verhandelt  werden  über  den 
glichen  Sinn  der  Herbartschen  Stufen  (Klarheit,  As.^oziation  usw.);  zur 
ituuij  wurde  ausser  der  Allc:emeinen  Pädaerncik  nnd  dem  Umriss  besonders 
len  UerbarLH  butachteu  Uber  (iraff  und  die  llezeusiou  von  Vogels  Atlas. 
KOgUohe  SiodteB.  XZX.  i.  .  6 


~   66  — 


IT. 

Ober  visuelle  Erinneruimsbilder  beim  Rechnen. 

Von  H.  Stern  iu  TarnowiU. 

Über  diesen  GfirfTi fand  hcrichtet  K.Eckhardt,  Frankfurt  a  M..  im 
V.  Band  der  Zeiteclirift  für  experimentelle  Pädagogiii  (Herausi;.  I'rof.  M*^^iiTinnn 
in  Mttuster,  Verl.  ?on  Otto  Nenmicb,  Leipzig).  Eckhardt  geht  von  dem  Gedanken 
»na,  daas,  da  die  Zftbl  als  ^giiff  nicht  TeiMellbar  ht,  sie  im  OedScbtuis  d« 
Kindes  stet«  von  einer  entepieehenden  Tonteihniff  ab  AepritoeDtans  des  ZaU- 
beerrifts  betjleitet  >ein  muss.  Da  muss  es  für  die  Didaktik  doch  von  höchstem 
Interesse  »ein  zn  *  rfahren,  welche  Bedentnngr  diese  Erinnemncrsbilder  fttr  den 
Rechenonterricbt  haben,  welche  Stelle  sie  bei  den  Bechenoperationen  spielen. 

Die  Antworten  anf  diese  Fragen  sind  das  Ergebnis  von  experimentetten 
Unteffsnchangen,  die  an  62  Kindern  im  Alter  von  6—10  Jahren  voigenonanen 
worden  sind,  und  die  sich  über  einen  Zeitraum  von  zwei  Jahren  erstreeken. 

Es  ergeben  sich  drei  HanjJtarten  von  Vorstellnngstypen : 

Vistielle  (Gesichtsbilder),  akustische  (Klangbilder),  motorische  (i^prcchinnar- 
vationen,  Schreibvorstellnngen).  Natarii«h  tritt  lücht  jeder  Typ  rein  für  rieb  anf, 
sondern  in  Verbindung  mit  den  einen  oder  anderen.  Ss  waren  von  den  58  Kindern 
ttberhaupt  nicht  visuell  13  =  25®  ,,,  gemischt,  d.  h.  aw^  oder  drei  Typen  in 
gkicher  StSrke  vorhanden,  r.i  =  ;Uj,5^',>,  rein  oder  vorzufr.'ivv»'!«*  visnell  20  =  'AS.b^',,. 
Dem  visuellen  Typ,  der  für  das  Rechnen  der  wichtigste  ist,  gehören  also  die 
wenigsten  Schiller  an.  Die  weiteren  Untersuchungen  beschränkt  Eckhardt  auf 
diesen  l^P       infblge  sdner  Bedentnnip. 

Die  visuelle  Vorstellung  kann  nun  wieder  sein:  1.  die  arabische  Ziffer 
isolitrt.  '2  in  der  Reihe  und  3.  (nehonhei)  verbumlen  mit  sachlichen  Phanta?i<»- 
vorsii-iiiini^eu  (der  scbreibeude  Lehrer,  die  Tafel  usw.}.  Dabei  muss  sofort  auf- 
fallen, dass  nur  ein  Schüler  —  im  Anfange  des  2.  Schuljahres  —  das  Gesichts- 
bfld  der  Ponktgntppe,  kein  einsiger  das  der  Kngelgmppiernngen  an  der  msnsehen 
Rechenmaschine  hatte.  (Ich  habe  das  Ergebnis  in  meiner  Klasse,  ebenfells 
zweites  Schuljahr,  nachgeprüft  und  fs  vollauf  bestätigt  gefunden.)  Die  isolierte 
Ziffer  erscheint  vor^ngi»weisp  bei  dem  s:emischteu  Tvj) ,  die  Zifferreihe  beim 
visuellen  Typ.  Letztere  ist  ein  Produkt  der  Übung,  deau  uutaugs  tciilt  üie  voll- 
stindig.  Da  die  Ziflerreilie  allein  eine  intnitive  Ansehatning  von  der  GrQsse  nnd 
Zusammeusetzuug  der  Zahl  ergibt,  ist  sie  für  die  Rechenoperation  besonders  von 
Wert.  Die.se  Behatiptnng  wird  dnrch  die  weit*'nn!  l'ntersuchnnfren  betrrftndet. 
Sie  haben  uiimlich  ergeben,  dass  der  Visuelle,  und  zwar  der,  der  die  Zifferreibe 
produziert,  das  beste  Zahleugedächtnis  hat,  überhaupt  der  begabtere  Schüler  und 
bessere  Reehner  ist.  Der  gemischte  Typ  ist  leicht  ablenkbar.  (Anch  das  hahe 
ich  als  richtig  g^nden.  Meine  besten  Rechner  stellw  die  SSffeneihe  vw.  Ein 
Privatschiller  .stellt  die  isolierte  Ziffer  vor,  ist  aber,  trotzdem  er  ein  begabter 
.Iiinge  ist,  kein  sicherer  Rechner,  ist  leicht  ablenkbar  and  fitagt  die  Operation 
oft  von  vorn  an.) 


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Welche  Bedeutung  haben  nnn  die  visuellen  Erinneningsbilder  bei  der 
Operation?  Das  sucht  EckliarJt  an  'kr  Anfsrnbe  24  -\-  15  festzustellen, 
.eben  sich  hierbei  folgeude  Bilder:  1.  Einzelne  Ziffern:  24  15  39,  2.  die 
les  schriftlichen  BeebnenB:  a)  24  -f-  lö  =  3U,  b;  24  -f  lü  =  34,  34  -{-  ö  » 
)peration  alt  Vorwärtsgehen  in  der  Bcihe.  Etwa  io...nns824n... 
6  •  .  .  39  (Reihenseber).  Daraus  ergibt  sich:  In  Gruppe  1  und  2  sind 
>  Bilder  der  KcchoTioperation  selbst  nicht  vorhiuiden;  erst  das  Rf'snltat 
isuell  vorgestellt.  Diese  Gesichtsbüder  aiud  infolgedessen  nur  als  Hilfen 
i  Zahlengedächtnis  von  Bedeutung.  Dagegen  wird  in  der  3.  Gruppe  die 
ion  »dlMt  TOii  TisueUen  OeeichtoUldem  kegrieitet.  Also  erwdst  sieh  aiteh 
<•  visuelle  Zahlenreihe  als  wichtigstes  Gesichtabüd. 
:t  khiuilt  fa>;s't  di  ■  h  apteiohlicbsten  £rgei>niB8e  seiner  Untersuebangeii  in 

l>ii  "^'iitzen  zusammen: 

.  Eine  unterrichtlicbe  Bedeutung  haben  nur  die  visuellen  Ei  inneruiigbbilder 
ittler,  die  dem  Tisvellen  Typ  angehUieu  oder  Tonngsweise  visndl  arbeiten. 
.  Die  Zahl  dieser  SobUer  ist  yerbiltnismSstig  grees,  so  dass  ihre  besondere 

sichtignng  wünschenswert  ist. 

.  Die  visuellen  Erinnerongsbilder  zeigen  sieb  als  wertvolle  Hilfen  des 
gcdächtuisses. 

.  Auch  die  enten  BeehenoperatioiieB  kltaiiea  dnreh  dieTiaiiellenErianenuigs- 

erleichtert  werden. 

.  Die  Schüler  zeigen  si<  h  i»hne  Anleitnn^  in  der  Handhabung  und  Aas- 
ig dieser  Vorstellungen  durchweg  unsicher  und  unbeholfen. 

Die  Zahl  der  visuellen  Zahlvorstellungen  ist  durch  Übung  steigerongs- 
ihre  Art  kann  modiflsiert  und  der  Schüler  in  der  Vorwendong  dersdben 
itet  werden. 


€.  Beurteiliuigeu. 


arationeu  für  den  Pliysik- 
terrichtin  Volks*  u.Mtttel» 
nlen,  mit  Zugrundlegung  von 
ividuen  bearbeitet  von  P.  Conrad, 
leil.  Mechanik  und  Akustik.  Mit 
im  Anhang  von  Präparationen  ans 
I  elementaren  i'liemieunterrichtft. 
utl,  3,60  M.,  gtib.  4,50  M.  II.  TeU. 
ik,  Wärme,  Magnetismus  und 
litrizität.  2.  Aull.  3.60  M.  Dresden, 
yl  &  Kaemmerer  (0.  Schambach). 

ist  mir  eine  besondere  Freude,  in 
I  Blättern  anf  die  Neuauflage  des 
les  der  Conradschen  Priiparationen 
en  i'bysikunterhcbt  hinweisen  an 
tn,  entledige  ich  mich  doch  dadurch 


der  Danke.''schuld  einem  "NVerke  ^'ey^on- 
über,  dem  ich  selbst  die  reichste  An- 
regung venhmke  und  das  idi  seit  Jabten 
den  Präparationen  der  Lehrseminaristen 
an  unserer  Übungsschule  mit  vor- 
attglichem  Erfolge  zugrunde  legen  lasse. 
Ich  zöQ^ere  nicht,  diese  PrSiuirationen 
für  das  Beste  zu  erklären,  waä  wir  an 
Vorbereitnngswerken  für  den  Physih- 
Unterricht  in  der  Volksschule  überhaupt 
besitzen.  Sie  sind  vorbiidiicb  zunächst 
inbemg  anf  die  Stoffauswabl  nnd  -Um- 
grenzung; denn  sie  räumen  pmiiilsätz- 
lieh  mit  jener  leitfadeuuiässigen  Voll- 
ständigkeit auf,  bei  der  im  Grunde  doch 
nur  um  des  .^Systems''  willen  dem 
Gataen  Lehrstoff  geopfert  wird,  und 

6^ 


—   68  — 


TimCTenzen  in  elilcklichst«r  Weise  «len 
Ston  einer  VoTkanatorleUre ,  die  sich 
auf  diejenigen  Gegenstände  und  Er- 
Bcbeinnagen  zu  beeckräukeu  hat,  auf 
die  tieh  die  menschliche  Arbeit  richtet 
oder  die  sonst  in  nalier  T?t  /,it  hiuiir  zum 
Henschen  stehen,  Vorbildlich  aber  sind 
sie  aoch  inbesnf  mt  die  Behandltmg 
des  Li'hrst>iffs.  Iiier  erscheint  mir 
neben  der  gfcuiali  ji  Anwendung  der 
Forderungen  der  ulliremeinen  Didaktik 
auf  das  pliysikalische  Lehr<,'t>1)iet  am 
glücklichsten  der  Leitgedanke  Conrads, 
die  Naturerscheinungen  nnd  die  auf  den 
Naturgesetzen  beruhenden  zahlreichen 
menschlichen  Werkzeuge  und  Ver- 
richtungen als  den  Ausgangs-, 
Hittel-  and  Zielpunkt  des 
physikalischen  Unterrichts  zu 
b  e  t  r  :i  r  h  t  c  n.  Dadurch  wird  ilt-m 
Schulexperimeate  die  ihm  gebühreade 
Bolle  angewiesen ;  der  Apparat  tritt  in 
den  Hintergrund  gegenüber  dor  zu 
demonstrierenden  Erscheinung  und  er- 
Bch^nt  nnr  all«  Beiwerk,  ala  ein  ge- 
eignetes Hüfsmittt?] .  um  au»  der 
Mannigfaltigkeit  der  Ursache»  nnd 
Wiikiingen  eine  bestimmt  -  (i nippe 
heranszuffhfilfn  nml  sie  '\vr  rntt-r- 
suchun^  zugänglich  zu  machen,  kurz 
die  Natvmscheinungen  und  die 
wichtigen  menschlichen  Arbeitswerk- 
zeuge erscheinen  als  da«  Wesentliche 
gegenüber  den  Experimenten  und  Ge- 
«etsen,  deren  wir  doch  nur  bedUrfeOi 
Hin  die  Erseheiniingen  zu  „erkliren**. 

Die  Auswahl  der  Versuche  ist  eine 
sehr  glürküclie,  «In  übtTall  diejenigen 
Ver«uchi»auurdnunt;cu  beschrieben  sind, 
die  sich  auch  in  den  einfachsten  Schul- 
verhältuis^en  herstellen  lassen  und  die 
in  ihrer  Einfachheit  und  Übersichtlich- 
keit i^eei^rnet  sind,  die  y.u  demun- 
stricrcudeu  Vorgänge  nicht  zu  ver- 
achleiern.  aondem  Idar  hervortreten  an 
lassen.  Vielleicht  ent.scliliesst  sich  der 
Herr  Verfasser,  in  späteren  Auflagen 
«neh  die  für  oen  Unterricht  besonders 
wertTolleu  Exprrimnnte  ohne  eifr^ntliche 
Apparate,  sogen.  Freihandversucbe,  noch 
«iwaa  mehr  sn  berttckBlditigen. 

Die  wertvollste  Bereichern iiij  hat  die 
neue  '6.  Auflage  des  I.  Teiles  durch 
die  Anfnahme  einer  Beihe  von  Pri- 
parationen  ans  der  elementaren  Chemie 
erfahren,  die  nach  denselben  Grund- 
afttsen  wie  die  idiyslkaliaehen  Präpa^ 


rationen  bearbeitet  sind.  sind  be- 
handelt: 1.  Die  Verbrenuuuiif  nnd  der 
SautTstoff.  2.  Kohleudioxyd  als  erstes 
Verbrenuungaprodukt.  3.  Wasserdampf 
als  «weite«  Verbrenntingsprodtikt 
4.  Piiitsiilinr  und  .>cb\vefel  und  ihre 
Verbindung  mit  tSauerstofi.  ö.  Die  Ver- 
brennung im  meuBcbUchen  nnd  tierisehen 
K<'iriier.  ß.  Atmung  uiel  .\?>imi?atinn 
bei  den  Pflanzen.  £s  wäre  zu  H  uuschen, 
daSB  der  Herr  Verfasser  die  in  .\ussicht 
gestellte  Erweitenuiir  des  chemischen 
btohes  auf  einige  wichtige  techno- 
logische Prozesse  recht  bald  roniähme. 
Iiier  würde  er  nirklicli  einmal  ..einem 
lutäächlich  vorhandenen  IJeiliirtnissü" 
gerecht  werden. 

Den  grössten  Vorzug  dieser  Präpa- 
rationen gegenüber  anderen  Rnsfßnr- 
liehen  Präparationswerkeu  des  Lehrers 
erhUoke  ich  darin,  dass  sie  nicht  einfach 
in  die  Fmzis  ttbertragbar  sind  nnd 
daher  zur  „Eselsbri\cke"  wi-rden  können, 
sondern  den  Lehrer,  der  wirklich  bestrebt 
ist,  fiberaU  in  seinem  phy-sikalischen 
Unterrichte  von  tatsächlichen  Er- 
fahrungen seiner  Schüler  axi^ugehen, 
m  freier,  nach.«chaffender  Tätigkeit 
veranlagten.  Kndlieli  mair  hier  noch 
au  die  überall  wieder  kehrende  Forderung 
Conrads  ciinnert  sein,  auf  allen  Unter- 
richtsstufen vom  Zeichnen  w  ei  tischenden 
Gebrauch  zu  machen,  tla  leider  das 
Zeichnen  auch  im  physikalischen  Unter- 
richte noch  lange  nicht  in  seiner  grossen 
Bedeutung  für  die  genaue  Beobachtung, 
denkende  Verl<nüiifii!i;r  und  richtige 
Üeschreibung  der  Vorgänge  und  Gegeu- 
stittde  recht  flrewflrdigt  an  werden 
schein*.  Die  Fi^rureti  ^ind  j*^tzt  zweck- 
mässig ia  den  Teil  eiugeluirl  und  er- 
scheinen nicht  mehr  wie  in  den  ersten 
Auflagen  im  .\nhan:::e.  T»ie  ( 'unr.idschen 
Präparatiouea  seien  daher  erneut  allen 
Faengenossen  angelegentUchat  emp« 
fohlen. 

Lehrbuch  der  Mineralogie  nnd 
Geologie  für  Schulen  und  für  die 
Hand  des  Lehrers,  zugleich  ein  Lehr- 
buch für  Naturfreunde  von  H.  Peter». 
2.  Auflage  der  ,.Bilder  aus  der  Min»' 
ralogie  nnd  Geologie-'.  Kiel,  Liptiva 
&  Tiseker. 

Die^^es  jetzt  in  zweiter  Auflage  mit 
verändertem  Titel  vorliegende  Werk 
hat  «if  die  Nengeataltnng  das  min»- 


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-  69  - 


log-ischen  Uuterrichts  äusserst  be- 
achtend eing^ewirkt,  da  es  eine  ener- 
sche  Protest-  und  Absageschrift  ^egcn 
e  aacb  jeut  noch  so  weit  varbrnteten 
»tftdCD  der  Mineraloifie  d«r«teUt,  die 
der  Stnffübt  nüUe  erstirken-'  uiul  sich 
f  reine  Kennzeicbenlehre  beschränkend, 

jeDem  ycrdammniiffsarteile  Anlua 
treben  Laben,  das  nor  Mineralopic 
i  einem  geisttütvnden,  zu  geistiger 
•erbflrdnng  und  ödem  VerDalismns 
irfnden  Fache  Uberhauut  am  liebsten 
*  Daseinsrecht  in  der  Schule  bestreiten 
«kte.  grosse  Verdienst  Ton 

tere  beste  llt  ilarin.  da«s  er  dem^eg'pn- 
?r  die  Fiui^e  nach  dem  kraftbüdendeu 
jrte  des  mineralogipche«  Stoffes  wieder 

den  Vordergrund  rückte  und  die 
bl  der  zu  b^recbenden  Mineralien 
«chüessHch  auf  diejeniirt  ii  b<  - 
ränkte,  die  für  den  Aufbau  der  £rd- 
de  sowie  fSr  den  Menscben  toü 
v«rr:u't  ii'li  r  nt-rtcutung  sind.  Er 
e  aber  ni.  £.  darin,  dass  er  die 
ler  faitt  aUgemein  in  den  Lehr» 
neu  übliche  Vf-rbiiiiluTii^  dt  r  Minc- 
•gie  mit  der  Chemie  aU  Krcbs&chiiden 
rachtete  nnd  für  die  Synthese  der 
leralügie  und  Grologie  eintrat.  Hier 
it  freilich  Meinung  ge|;en  Meinung; 

gehöre  zu  jenen,  die  mit  Prof, 
Iter-Jeua  diese  immer  von  neuem 
terholten  Versuche  von  Schul- 
incrn,  Mineralogie  und  Geologie  zu 
m  Ganxen  znsammeuzascb  weissen, 

ainsicbtslos  betracbten,  „da  die 
ritsmethoden  beider  Wissenschaften 
n  wissenschaftlichen  Voraus- 
ingen.  ihren  GedankenTerbindiniiiren 
ihren  Zi'  !<  ti  nach  grundverschiedon 
Wtim  die  moderne  Mineralogie 
Entwicklungsgeschichte  ihrer  Ob- 
' .  ihr  Sein  nnd  Werden,  ihre  • 
mg    nnd   Umbildung  erforschen 

.HO  wird  sie  sich  wesentlich  der 
mittel  nnd  Methoden  bedienen 
c'ü,  die  die  Physik  und  die  ('hemie 
«ondere  anwenden.  Verzichtet  man, 
dies  Peters  offensichtlich  tut  — 
dche  auch  seinen  Artikel  in 
nr  und  Schule-  II,  201  ff.  —  auf 
»hemiache  Grandlage,  so  werden 

alle  (Jnterbflltungen  über  das 
?n"  der  Mineralien  schliesslioh 
gewissen  allgemeinen  Redensarten 
igen  mflnen,  ein  wirklich  tieferes 
ttndDia  fllr  die  ^geseli«cbeii  Vor- 


gSnge  im  Mineralreich  darf  nicht  er- 
wartet werden.  Das  Bnch  wird  als 
„Lehrbuch  für  Naturfreunde",  denen  an 
allgemeiner  Belehrung  gelegen  ist, 
HicHer  grossen  Nutzen  stiften;  als  Lehr- 
hunli  für  höhere  Schulen  dagei^en  halte 
ich  es  —  abgesehen  von  der  Breite  der 
Dftr»teUiu$r  —  ntebt  fttr  geeignet,  da 
iiiiin  hier  ans  gutem  Ciruude  nicht 
TöUig  auf  die  Kristallographie,  die  bei 
Feten  auch  nicht  sehr  hoch  im  An- 
sehen ftpht.  und  auf  eine  ;<i(  here,  durch 
physikalisch-chemische  Merkmale  be- 
atinunte  Diagnostik  wird  verzichten 
wollen.  Beidfs  scheint  mir  im  Mine- 
ralogieunterrichre  ebenso  wichtig  zu 
sein ,  wie  gründliche  morphologische 
und  systematische  Kenntnisse  in  Zoologie 
und  Botanik,  ohne  die  alle  schönen 
„intensr<aiittir  hidlogischen  (ökolo- 
gischen) Mitteilungen  völlig  in  der 
Lnft  aehweben.  Man  kommt  freiUeh 
beinahe  in  den  Geruch  der  Kückständig- 
keit,  wenn  inan  gegenwärtig  wieder 
dnmal  an  solche  Biraenwahrheiten  sn 
erinnern  w.ict.  Snlunge  an  unseren 
höherenSchuit  litten  Naturwissenschaften 
im  allgeroeinon  nicht  mehr  Zeit  wie 
bisher  znr  Verfügung  qrestellt  werden 
kann,  wird  sicher  die  Verknüpfung  der 
Mineralogie  mit  der  Ciiemie  aie  natllr^ 
liebere  sein,  während  die  Geologie  in 
Verbindung  mit  der  Gtographie  zu 
lehren  sein  wird.  Über  das,  was  die 
Volkaschnle  unter  den  gegenwärtigen 
V«rhKltniB«en  erarbeiten  kann,  geht 
Peters,  besonders  unrh  in  dem  histori- 
schen Abschnitte,  weit  binans.  Ent- 
schieden wurde  &et  frOhere  Titel  des 
Bni  hps  der  ^'anien  Anlage  des  Werket 
besiter  gerecht. 

U Ute  1  such untr*'ii  nijer  das  Lieht 
und  die  Farben  von  Dr.  Arnold 
BriM.  I.  Teil.  Osterwieck;Harz, 
Verlag  von  A.  W.  Zlekfeldt 

• 

Dieses  merkwürdige  Bnch  sucht  den 
Nachweis  zu  führen,  das«  die  gegen- 
wärtig wissenschaftlich  allgemein 
herrschenden  Anschauungen  Uber  das 
Wesen  des  Lichtes  vüUig  falsch  seien 
mid  daher  anf gegeben  werden  mftnen; 
schon  die  Begründer  der  modernen  Auf- 
fassung, Newton  nsw.  hätten,  „von 
ganz  ndaehen  mathematischen  Vorans- 
setcongen  ausgehend'*,  (welche,  wird 


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—  70  — 


ireilich  nicht  gesagt),  „dia  Verh&ltniMe 
irrifir  dargestdlt  und  daher  Ar  ihre 

Nachfolger  verschleiert" .  Dann  ist  es 
aber  doch  eine  auffällige  Tatsache.  <las.H 
diese  Orandfehler  von  all  den  beileuieu- 
den  mathematischen  und  phy'si kalischeu 
Geistern,  ilie  auf  optischem  Gebiete 
geartMitot  haben,  bisher  nicht  entdeckt 
worden  siml :  auffällig  bleibt  uuoh.  dass 
sich  bisher  ulk  optischen  Kr&ubeiuuugeu 
in  einwandfreier  Weise  ans  der  Undula- 
tionshypothese  des  Lichtes  ableiten 
Hessen  nnd  dass  alle  anf  dieser  Hypothese 
anffji'bauten  Deduktionen  zu  den  foltroii- 
jceichsten  Fortaohritten  auf  optiBchem 
Gebiete  geführt  haben.  Der  Herr  Ver- 
fasser yersteiirt  sich  mehrfach  zu  der 
Behaaptuiig  -dass  wir  Wellenkonstmk- 
tionen  awffBhren  kOnnen,  ao  viel  wir 
v,n!lf  ii,  >vir  dnch  nicht  imstande  seien, 
bestimmte  Kröoheiiiungtiu "  (Bcuguugs- 
streifen  z.  6.)  „herausznrechneu  oder 
graphisch  darzustellen";  er  bleibt  aber 
den  mathematischen  Nachweis  tUr  die 
Unmöglichkeit  solcher  Konstruktionen 
überall  ^rTmldig,  wie  denn  überhaupt 
die  mit  eiufaclisten  Mitteln  arbeitende 
nnd  sich  au  die  grosse  Masse,  nicht  au 
die  Physiker  wendende  Darsteilaug 
Icanm  geeiguet  sein  dQrfte,  die  wissen- 
schaftlichf  Arlx-it  mehrerer  Jahrhunderte 
ernstlich  zu  erschüttern.  Anderseits 
•etat  die  ganae  DatateUnng  bei  dem 
JjCwt  eine  völlii^e  Vertrautheit  mit 
den  gegenwärtig  herrschenden  Anschau- 
ungen Torans.  Nor  solchen  Lesern 
kann  daher  auch  zn  einem  Studium  des 
Buches  geraten  werden,  da  es  immer 
wertvoU  Dleibt.  eine  die  i^egenwtrtlfe 
Auffassung  optischer  Phänomene  vrtllig 
ablehnende  Behaudltuig  keuutu  zu 
lernen,  Selbstverständlich  ist  es  aus- 
geschlossen hier  näher  auf  die  Materie 
selbst  einzugehen;  die  Versuchs- 
ergebnisse  scheinen  mir  indessen  die 
sorgfältigste  Nachprüfung  zu  verdienen. 

8ehni«U,  Lehrbvch  der  Zoologie. 

17.  AnfliMfe. 
Seknellf  Leitfaden  der  Botanik. 

12.  Auflage. 
Schmell.  (irnndrisR   der  Natur- 
ge«iehichte.     2.  Heft.  Pflanzen- 
künde.   1.  Auflage.  Leipsig»  Erwin 

Nägele. 

Vuu  der  ^'e^lagsbuchhandluug  siud 
OBS  abermab  die  SchmeÜscben  Lehr* 


bücher  in  ihren  neuesten  .\ntlagen  za> 
gegangen.  Der  beispiellose  Erfolg 
.sjtrieht  mehr  als  viele  Worte  für  diese 
l'uterricht^werke.  die  nach  Inhalt  und 
Ausstattung  gegen  würtii:  un«.-rreicht 
dastehen  und  daher  abermals  eindring- 
lich empfohlen  seien.  Der  Leitfaden 
der  Botanik  sowie  der  Grundriss  sind 
im  wesi'Utlieben  tmveräudert  geblieben; 
das  Lehrbuch  der  Zoologie  weist  dagegen 
eine  grosse  jVnzahl  neuer  anatomischer 
Zeichnungen  und  uener  Habitusbilder 
der  Wirbel-  wie  der  wirliellosen  Tiere 
auf:  auch  sind  4  neue  farbenj)rüehtige 
Tafeln  (Kolibris  von  Heubach,  Krebse 
Yon  KereaHano,  zwei  Insektentafeln: 
schSdlicbe  hmetterlinire  und  Käfer 
von  J.  Griebel^  hinzugekommen,  die 
sich  gleich  den  ilteren  Tafeln  dem 
Text  sf»rürfältig  anpassen  und  in  hervor- 
ragender Weise  der  kiiustleriscben 
BiTdnng  der  Jngend  dienen  werden. 

Schmeilä  pWisseuschaltliche  Be- 
leuchtung" derjungesch»  n  Re- 
formbestrebangen,  nm  einige 
Normalkerzen  verstärkt  Ton< 
Otto  Jnnge,  Obeilehrer.  Kid* 
Lipsins  &  Tischer. 

Diese  schon  in  ihrem  Titel,  mehr 
noch  in  ihrem  Texte  durch  die  persOn- 

liebe  Znspit/.uuijabstossende.  menschlich 
vielleicht  verständliehe  Kampf broschiire 
des  Sohnes  des  VerfasserBTOm„  Dorf  teich" 
sucht  die  von  Fr.  Junge  aufgestellten 
„Gesetze"  des  organischen  Lebens 
gegenüber  dem  ablehnenden  Standpunkte 
zu  rechtfertigen,  den  Schmeil  in  «einer 
bekannten  Broschüre  „Keformbe- 
Btrebungen  im  uatnrgescbichtlichen 
Unterrichte"  eingenommen  hat.  Es  mag 
hier  hervorgehoben  werden,  dass  0.  Junge 
recht  beachtL-nswerle  ^a  eli  Ii  c  he  Gründe 
für  diese  Gesetze  vorzubringen  weiss, 
anch  dass  man  sidi  mit  der  Art  nnd 
Weise,  wie  er  .sicli  die  Einführung  dieser 
Gesetze  in  den  Unterricht  der  Volks« 
aehiüe  denkt,  durchaus  eiuTerstanden 
erklären  kann.  Mir  scheinen  die 
wissenst-haftlicbeu  und  pädagogischen 
Bedenken,  die  Schmeil  gegen  diese 
„Gesetze"  geltend  gemacht  hat,  trlcich- 
falls  nicht  zutreffend,  und  so  ij^t  za 
hoffen,  dass  durch  diese  Broschüre  die 
vorliegfende  Frage  von  neuem  in  Fluss 
kumuieu  wird.  Iiu  übrigen  mag  hier 
beiden  Parteien  nahe  gelegt  werden, 


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Zukunft  eiuer  weniger  gereizten 
icben  SprAcbe  n  oedienen,  da 
Inrch  (ItT  Snche .  die  sie  doch 
fördern  wollen,  besser  dienen 
i.  Vielleicht  stehen  wir  dem 
beide  Männer,  Fr.  Jnnge  und 
1.  geschaffenen  gewaltigen  Ura- 
ige  in  dem  >atnrge«chichts- 
uUte  der  Schule  geschichtlich 
zn  nahe;  soTiel  «ber  lSs»t  «ich 
MXiU-  »ittr';'n,  Friedrich  Junge 
seinen  Dorfteich  und  seine 
n  Schriften  die  Kefonn  de»  Mo- 
len   Unterrichtes    in  genialer 

eingeleitet  Ijat,  dass  aber 
meil  von  der  Znkmift  das  grosse 
nst  nicht  bestritten  werden  wird, 
ich  genialer  Weise,  mit  hervor- 
ier  Sachkenntnis  nnd  in  gross- 
tr,  auch  die  technischen  Mittel 
r  Zeit  voll  auswertenden  Art 
Reform  an  niederen  und  höheren 
■a  durchgeführt  zu  haben.  Es 
iber  hier  auch  einmal  0.  Sehmeil 
-■  nn<re}ienere  miituortlichkeit 
rt  werden,  die  iiiui  durch  die 
nhliche  Verbreitung  seiner 
ten  auferlegt  ist.  alle  z.  T.  mit 
i  Rechte  von  verschiedenen 
rem  geltend  gemachten  Einwürfe 

zahlreiche  biologische  Einzel- 
1  seiner  Schriften  und  vielfache 
immigkeiten''  recht  Tomrteilsfrei 
-nfen  nnd  abzuändern;  es  würde 
dadurch  kein  Stein  aus  seiner 
I  fallen. 

Nolls  Katuri^eBehichte  des 

nscheii  (AnthropolrjuMei  fUr  den 
»rauch  an  höheren  Lehranstalten 
.  Lebrerbildnngsanstalteii.  6.Aiifl., 
irs?t  von  Prof.  Dr.  II.  Relehea- 
•,b.    Breslau.  Ferdinand  Hirt. 

IS  Buch  bebt  «?ich  weder  binsicht- 
1er  Auswahl  des  Stoffes  noeh  seiner 
beitan£r  wesentlich  von  der  grossen 
hl  ähnlicber,  für  höhere  Schulen 
riebenen  L»  itfiiden  ab.  Es  ist 
auffällige  Tatsache,  dasa  gerade 
intbropologiennterricht  bisher  am 
fsten  von  einer  wirklich  bioh»t:i- 

BetrachtungsweiBe,  bei  der  Ana* 
Physiologie  imd  Hyi^ene  des 
:hlichen  Körpers  zu  euiem  ein- 
chen  GaB»n  verknttpft  sein 
ten,  berührt  worden  lit  Auch 

man  in  dm  meiften  Mr  llittel- 


schulen  geschriebenen  Leitfäden  den 
Hoischen  immer  noch  viel  zu  sehr 
atis«erhalh  der  übrigen  Natur  nnd  f»ncht 
den  Authropologieuüterricht  nicht,  wie 
es  doch  natürlich  wäre,  auf  einer  ver- 
ffleichenden  Tierkunde  aufxubanen. 
Dann  wtirde  wohl  auch  die  Entwiek* 
hnifiTsgescbicbte,  die  iti  1  )u  vorliegen- 
den Leitfaden  gar  keine  Berücksichti- 
gung gefunden  hat,  etwas  mdir  an 
ihrem  Rechte  gelansren  IHc  Gründe 
dieser  Erscheinungen  liegen  w  ohl  darin, 
dass  die  Herren  vn^asser  viel  zu  sehr 
mit  den  an  unseren  Mittelschulen  be- 
stehenden Lehrplauverhältnist»en  rechnen 
müssen,  die  den  Antbropolog-ieunterricht 
auf  eine  Klassenstnfe  lU  III  der  Voll- 
unstaiten.  Quarta  oder  Tertia  der 
Seminarien)  verweisen,  auf  der  die 
Schüler  absolut  noch  nicht  die  geistige 
Reife  besitzen,  auch  die  notwendigen 
jdiysikalischen  und  chemi^ichen  Kennt- 
nisse ihnen  mangeln,  die  für  einen 
▼ertiefteren  anthropolo^schen  Unter- 
richt durchaus  notwendin?  sind.  Die 
Ausstattung  des  Bttehleins  ist  eine 
gut».  — 

Männer  der  Wi^senschif»  Eine 
Saiumhm^  von  Lebensbe8chreibuugen 
zur  Geschichte  der  wissenschaftlicfien 
Forschung  und  Praxis.  Heraus- 
gegeben von  Dr.  Julius  Ziehen- 
Berlin,  Leipzig.  Wilhelm  Weicher. 
Jedes  Heft  1  M. :  hei  Subskription 
auf  die  ganze  Sammlung  0,80  M. 

Um  tiefer  in  wissenschaftliche 
Probleme  elnendringen ,   wird  sieher 

immer  ein-  r  1  r  wertvoll^itf  n  inid  :\n- 
ziehendsten  W  ege  der  sein,  sich  in  liebe- 
ToUer  Weise  in  das  Studium  derjenigen 
Persönlichkeiten  zu  vertiefen,  die  für 
die  Geschichte  der  Wissenüchaft  von 
hervorragender  Bedeutung  geworden 
lind.  Probleme,  die  in  Lehrbüchern 
büntitf  abstrakt,  ja  sogar  schwervör- 
ständlieb  erscheinen  nnd  uns  völlig 
kalt  lassen,  gewinnen  plötzlich  ein 
höheres  Interesse,  wenn  wir  ihre  Ent- 
wicklung studieren,  wenn  wir  sie  in 
jener  eigenartigen,  lebendorchglühten 
Beleuchtung  grosser  Forscher  Kennen 
lernen,  die  sie  sich  zuerst  stellten,  mit 
ihnen  in  heisser  Arbeit  rangen  und  sie 
sehiieeslich  in  glliMder  Weise  be- 
wältigten. Diesen  Gedanken  sucht  dl« 


—  72  — 


vorliegende  Sammluuer  ant  eiue  sehr 
glückliche  Art  zu  vorwirklichen. 

Uns  liegen  2  Hefte  vor.  Heft  4 
enthält  die  feineiniiig  crescbriebene  Ge- 
dächtnisrede auf  FerdinaiKi  Freiherr  v. 
Richthofen,  die  Erich  v.  Djygilski  in 
der  GeseUachaft  fttr  ßndkiinde  in  Berlin 
fi-ehalten  hat  nnd  in  dor  er  ein  um- 
fasseudcä  Bild  der  grossartigen  forschen* 
den  und  or^ganisierenden  TStigkeit 
Ricbthofens  entrollt,  die.  nnr  ini*  ler 
Alex.  V.  Humboldt«  verglicheu  wenien 
kann.  Das  H^t  ist  beeonders  wertvoll 
durch  die  beigefügte  Znsatnmenstellnilg 
sämtlicher  Werke  v.  Kichthüfens. 

Auch  das  Bild,  das  Prof.  Dr.  Jäger 
von  dem  Leben  und  Wirken,  dem  Wesen 
und  den  Ldstungcn  Werners  v. 
Siemen«  in  Heft  ö  der  !^ammlnng 
bietet,  ist  ausserordentlich  fesselnd 
freseiebnet;  zeigt  es  doch  in  eindring- 
licher Weise,  was  eine  zähe  Energie, 
gepaart  mit  festem,  «ielbewnasten  Willen 
mia  klnran,  weitem  BUek,  zn  enrdclMD 
vermag  trotz  der  manniirfrxchen,  sich 
entgegenstellenden  Hindernisst;.  Bei  dem 
populären  Klange,  den  der  Name  Werner 
V.  Siemens  besitzt,  wünschen  wir  gerade 
diesem  Scüriftcben  die  weiteste  Ver- 

Quellenbuch  zur  GpschicLte  der 
Natur ^^  i  <  'ngchaften  von  Dr.  F. 
Dannemann^  deutsche  Schulausgaben, 
herausgeg.  v,  Dr.  J.  Zidien.  Verlag 
V.  L.  iMennuinf  Dresden. 

Auch  dieses  Schrift chen  ist  ein  Beweis 
für  die  Wertflchät^uug ,  die  man  in 
neuerer  Zeit  der  geschichtlichen  Be* 
trachtunir  für  das  Verständnis  der  Natur- 
wissenschaften beilesrt.  Der  durch  seinen 
Orundrise  einer  (lesdiiclite  der  Natur* 
Wissenschaften  bekannte  \'erf  asser  unter- 
nimmt es  hier,  auf  engem  Rahmen  ein 
naturwissenschaftliches  Quellenbuch  ftlr 
den  Scbulgebrauch  und  für  weitere 
Kreise  zusammenzustellen.  Die  ge- 
troffene .Auswahl  mnss  angesichts  der 
Fülle  des  Stoffes  als  eine  sehr  glückliche 
beMichnet  werden;  das  Verständnis  der 
geboten i  !i  All  iinitte  wird  durch  kurze 
£inführuugeu  am  Kopf  jedes  Lese- 
rtttekes,  durch  AnniMrktingen  nnd 
literarische  Nachweise  wesentlich  £re- 
f Ordert.  Die  kleine  Schrift  sei  neben 
dem  grii^.sereu  Ornndritt  anch  fBr 
SchülerbibJiotheken  wann  ein]rfohlen. 


Aus  der  Sammlung  Göschen 
rind  uns  mgegangten: 

E.  Rebmann,  Der  menschliche 
Kör]    r    sein  Baa  nnd  seine 

Tätigkeiten. 

Dr.  £.  Dennert,  Die  Pflanze,  ihr 

Bau  nnd  ihr  Leben. 
Frof.  A.  Kistner,  Geschichte  der 

Phjsik.    I.  Die  Physik  bis  Newton. 

n.  Die  Physik  von  Newton  bis  zur 

Gegenwart 

Die  an;,'t'zeic-ten  Srhriftohen  jfas-en 
sich  dem  Zwecke,  dem  die  ganze  Samm- 
lung dienen  will,  auf  das  beste  an.  Am 
wertvollsten  erscheint  mir  die  .\rbeit 
von  Prof.  Kistner.  in  der  eine  Unmenge 
von  wertv(^en  IMiigen  in  voncnglicher 
Weise  zusammeniretragen  und  über- 
sichtlich dargestellt  ist,  so  dass  die 
zwei  Bändchen  für  schnell.'  i)ri«i* 
tierungen  und  als  erste^s  Nachsdilaire- 
werk  vorzügliche  Dienste  leisten  dürften. 

D,ie  Ameisen.  Von  Dr.  Friedrich 
Knaner.  „Ans  Matur  und  Geistes* 
weit.''    94.  Bändchen.    Verlag  von 

R.  G.  Teubner. 

Die  .Naturgeschichte  der  Ameisen" 
ist  in  den  letiten  Jahren  dnreb'^e 

«solche  Fülle  insbesondere  biolo^is«  her 
Arbeiten  bereichert  worden,  dass  es  als 
ein  besonderes  Verdienst  des  Verikssers 
bezeichnet  werden  kann  v/rnn  er  in 
grossen  Zügen  das  Wissens  weiteste  Uber 
die  systematische  Gruppierung,  die 
wichtigsten  Vertrptfr  der  einzelnen 
Gruppen,  die  Beobachtungen  über  die 
Formenmanigfaltigkeit,  die  Bautätigkeit, 
die  Brutpflege  und  Ökonomie,  dasSmoes- 
leben  der  Ameise  und  ihre  Symbiose 
mit  anderen  Tieren  und  Pflanzen  dar- 
zustellen versuchte.  Das  Schriftchen 
wird  sicher  diesem  Gebiete,  auf  dem 
ieder  dnn  h  liebevolle  Beobachtung  die 
Wissenschaft  fördern  kann,  neue  Freunde 
suffthren. 

Dresden.  Dr.  B.  Kotte. 

Dr.  P.  Wtibrand,  Leitfaden  für 
den  methodischen  Unterricht 
in  der  Chemie.  Hildesheim,  Lax. 
a  Aufl.  1906.  248  Seiten  mit  87  Ab- 
bildungen. 3,60  M.,  geb.  4,20  X. 

Das  Bnch  ist  in  Fsdikfeisen  benils 


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—   73  - 


rOhinlichst  bekannt;  die  Xot- 
tfkeit  einer  8.  Auflage  spricht  für 
Wert.  Es  nmfasat  ausser  der 
uuscben  Chemie,  welche  den 
Inhalt  bildet,  einen  kurzen  Abriss 
ineraloKif"  und  oiiiitje  ausirewiihltö 
el  aus  der  organischen  Chemie, 
und  hat  neben  Arendt  merit  den 
>  h  trt'""^<'^''.  f^i*'  Cht-niit'  für  T'iitf-r- 
zwecke  zu  bearbeiten.  Sein  Buch 
mag  methedieeh  aufgebaut.  Den 
\«gr  der  Besprechiiucr  bildpn  stets 
2,  die  allgemein  bekannt  sind  und 
m  praktischen  Leben  grosse  Be- 
ug luiln.M.  so  Luft,  Wasser,  Schwefel, 
äalz,  Kalkstein  u.  a.  DerGedanken- 
eines  jeden  Kapitels  ist  tDOüter- 
Ij;  mehrfach  folgt  der  Verfasser  den 
iten  alter  Forscher,  wobei  die  An- 
historischer Daten  nicht  unan- 
icht  aein  dilrfte.  Die  Veranche, 
qnalltatiyer,  teila  quantitativer  Art, 
trefflich  gewählt;  i;>i:fTi  die  so- 
nnte Elektroljse  des  Wa-säers  im 
ipitel  lieesen  steh  allerdings  gewisse 
«ken  erhebin.  Am  Srlilus-»-  eiiu-s 
X  üLapitels  tinden  sich  Denk-  haz. 
lenanfgaben.  Dadurch  und  durch 
gauTif^ri  Aufbau  des  Stoffes  werden 
jchüler  zu  leger  geistiger  MilHibeit 
nlaaet  Auf  die  methodische  Dnrch- 
itnilK  der  anorganischen  Chemie 
5n  Kapitel  allgemeinen  Inhalts, 
lieh  theoretische  Darlegungen  im 
»mmenhange  und  eine  systematische 
rsicht  Aber  die  Elemente.  E>a8s 
i>ei  H  ^  1  mit  0  =  Iß  i.'-i'hranrht 
1.  lässtflich  aus  methodischeu  Grinden 
billig.  (Das  genauere  Verhftltiüa 
i  i'ibngeni  am  SeUniae  knis  uit- 
ilt.) 

Jie  Mineralogie  kommt  freilich  recht 
j  weg:  bei  der  Bedeutung  dieses 
1)69  wi\rde  sich  «loch  eineErwciicrnng 
fehlen.  Es  iat  besonders  anzu- 
tnnen,  dass  Verfemer  trots  des 
ngen  Raumes  wichtigr-  (?lioim>;<  he 
ktionen  der  Erze,  die  zu  deren  Er- 
mag  dienen,  angeführt  bat.  Gerade 
,e  Cntereuchnngen    sind  geeignet, 

Unterricht  interessant  zu  machen; 

bieten  ferner  Stoffe  zn  Schfller- 
.ngen. 

Erwnnsilit  wäre  ein  R»'gistfr,  Die 
istatttmg  Ist  tadellos.  Das  Buch  ist 
;eleg«itlicbit  m  empfehlen. 


Jallua  Schmidt,  Chemisches  Prak- 
tikum. IL  Teil.  Breslau,  Hirt  1907. 
138  Seiten  mit  47  Fisrnran.  1,80 
kart.  2  M. 

Der  Verfasser  hat  im  Berliner  Lehrer- 
▼erein  mehrfach  praktische  Übungen  in 
Chen)ie  ;ibirehnlt»-ii ;  die  ilabei  zur  Aus- 
ftthruDg  gelangten  Experimente  sind 
Ton  ihm  als  Leitfaden  in  umck  gegeben 
worden.  Der  vorliegende  IL  Teil  ent- 
hält ausgewählte  Kapitel  aus  der 
organischen  und  Nnhnini;:snüttelebemie. 
N'  ben  kurzen  EinleiTnngeu  bez.  Er- 
läuterungen werden  883  Versuche  so 
beeehriewn,  dass  sie  vou  jedermann 
bequem  ansgcfiilirt  werilcn  können.  In 
den  meihtca  Fällen  siiiil  zu  diesem 
Zwecke  nur  ganz  t  intai  l»e  Hilfsmittel 
nötig.  Eine  grosse  Anzahl  dieser  Ver- 
suche sind  für  die  Volksschule  brauchbar; 
es  sei  besonders  wn  die  Über  Nahrungs- 
mittel gedacht.  Die  Uansbaltungslninde 
fBr  Hftdchen  wird  viel  Nutzen  ans  dem 
Buche  zicht  n.  Die  VevMichsergebnisse 
sind  vielfach  iu  chemischen  üleichoutfen 
ansgedrHekt,  nnd  mit  Recht  weraen 
'laliei  ilie  Stniktiirfonneln  ane:ewendet. 
Das  Buch  enthält  ein  Literaturver- 
/t  ichttis  nnd  am  Schlüsse  eine  knne 
ZuaanimenstcHnng  allt  <  drssen.  was  an 
Chemikalien  und  Apparaten  gebraucht 
wird ;  auch  einige  BecngKinellen  werden 
angeführt. 

Der  Verfasser  zeigt  sich  als  rechter 
Praktiker.    Das  Bacfa,  dessen  Ans« 

<<t!Tttnng  eine  <:ohr  gnte  ist,  kann  bestens 

empfohlen  werden. 

Rochlitz.  Rieb.  Möller. 

Bilder  aus  Paul  Gerhards  Leben. 
Festspiel  von  Fanny  SioeklinnMa« 

Leipzi?    Fiiedr.  Jansa.  1907.  31  S. 

'M)  l'fg. 

Mit  etwas  spärlicher  Verwendung 
Panl  Gerhanltacher  Lieder  vier  Bilder 
ans  de«  Dichters  Le»en  in  Berlin, 
Mittenwalde,  Berlin.  Lilbben,  die  iu 
poetischer  .\usschmttcknng  und  Freiheit 
sein  Bekannt  werden  mit  seiner  Gattin, 
die  Entstehung  des  Liedes:  Befiehl  du 
deine  Wege,  seine  .\mtsentsetzung  in 
Berlin  und  sein  Sterben  behandeln.  Der 
Dichter  tritt  selbst  nicht  auf.  In  der 
Form,  abgesehen  von  einigen  Härten, 
geföUig.  AuffUhrbar  mit  bescheidenen 
Krftftennnekin  einfaehsteiiyerhiltniBiien. 


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—  74  - 


Sollt  ich  meiuem  Gott  nicht 
singen?  Ein  Liederspiel  zu 
Paul  Gerhardts  Ehren  von 
P.  Ludwig  Reinlcke.  Leipzig.  Friedr. 

jmm«.  mi.  31  8.  ao  pfg. 

Paul  Gfrliaidts  Bedcutniig  wird  dar- 
gestellt in  einem  Wecbselgesang  von 
Ebni^ii  im  deutseben  Walde  nach  dem 
dreissiejäliriiycn  Krieefo.  Seine  Lieder 
lindern  nnd  mindern  das  Elend  der  Zeit 
nftch  dem  Kriege  und  helfen  der 
Frömmigkeit  wieder  auf  Keichliche 
DarbiefunLT  l'aul  üerhardtacher  Lieder 
£ör  alle  Feiitzeiteu  des  Kirchenjahres 
und  alle  VerhäUni.sj}L*  des  zeirlirtien 
Lebens  nnd dochmassvolleBeschrankimg 
in  Bezug  auf  die  Verszahl.  Die  Zu- 
hörer werden  zum  Mitsingen  heran- 
gezogen, was  immer  wirkungsvoll  ist. 
Der  verbindende  Text  ist  in  schöner 

E>eti8cher  Form  gegeben.  Audi  diesee 
iedenpid  leicht  aufffthrbar. 

Der  Wert  sokhcr  Singspiele  liegt 
darin,  da."?!  durch  sie  dem  Volke, 
sonderlich  der  Schuljugend  Leben  und 
Lieder  des  Dichters  in  der  Form  an- 
sprechender und  edler  Unterhaltiing 
bekannt  gemacht  werden. 

P.  Otto  Hardeland.  Panl  Gerhardt 
der  liebliche  Sänger  unserer 
Kirche.  Ein  Erinnemngsblatt  zur 
Feier  seines  300 jährigen  Geburtstages. 
Mit  Bildnis.  Leipzig,  Friedr.  Jansa. 
1907.  48  S.  20  Pf  IT.  M  Exenplaie 
ä  \b  Fig.,  100  ä  lU  Pfg. 

Uardeland  zeichnet  zuerst  das  Lebens« 
bild  P.  Oerhardts,  gibt  dann  in  3  Ab- 

srhuitt» n  iiioti  Überblick  über  seine 
Lieder,  uideni  er  ihn  schildert  als  den 
Singer,  1.  der  grossen  Taten  Gotte», 
2.  des  Olaulicns,  3.  des  Gebets,  nnd  fi^c-t 
zum  8(  hliisH  einige  Urteile  von  kom- 
petenter Seite  über  Panl  Gerhardt  und 
seine  geistlichen  Lieder  an.  Die  Schrift 
zeugt  von  guter  Orientierung  und 
Sichtung  de.s  geschichtlichen  MateriaU 
und  ist  in  volkstümlichem  Tone  gehalten. 
Sie  bietet  in  allen  Abschnitten  reichliche 
Zitate  au(»  I'aul  Gerhardts  Liedern, 
besonders  auch  aus  den  weniger  bo* 
kannten,  die  dnrchgehends  ge8(£iekt  in 
den  Text  verflocliten  .^ind.  Als  ans- 
gesprochener  Lutheraner  wird  der  Ver- 
naser  der  konfeMioDellen  StdlnnKnahme 
Panl  Oerhardta  in  Sachen  der  Beven* 


Unterschrift  ohne  kiini^tlich  gezüchtete 
Objektivität  gerecht  und  weiss  anch 
sonst  die  Individualität  des  grossen 
Liederdichters  als  treuen  Lehrers  der 
lutherischen  Kirche  geblUirend  int  Licht 
zu  stellen. 

Lie  Dr.  Hermann  Gebhardt,  Paulus 
Gerhardt  der  Streiter  und 
Sftnger  der  evangelisch-lnthe* 
riscnen  Kirche.  Leipzig,  Friedr. 
Jansa.   1907.  92  S.  1  M. 

Eine  wissenschaftliche  Schrift  Uber 
Panl  Gerhardt  von  grossem  Werte, 
reich  an  interr^santen  Einzelheiten, 
die  sonst  nicht  begegnen.  Der 
Verfasser  hat  viel  Qnellenmaterial 
verarbeit  und  wiedergegeben,  auch  die 
Geschichte  der  Zeitgenossen  Paul 
Gerhardts,  sonderlich  seiner  Mitarbeiter 
im  geistlichen  Amt  herangezogen.  Ans 
dem  1.  Teil,  der  das  Leben  dee  Dichten 
behandi^'r  Im  I  n  wir  hervor  die  feine 
Charakteristik  meiner  geistlichen  Kede 
aus  den  Leichensermonen  nnd  den 
Abschnitt:  ,.Paul  Gerlnr^  als  treupr 
Vorkämpfer  evangeliä- tieii  Luthertums'', 
in  dem  die  Frage;  „Wie  kam  es  sn 
einem  so  heftigen  Streit  zwischen  zwei 
so  bedeutenden  und  zugleich  reli!?if>««n 
Männern,  dem  Grossen  Knrfüreten  und 
Paul  Gerhardt,  von  denen  jeder  den 
anderen  hochachtete?",  ausgebend  von 
einer  kurzen  Vorgeschichte  der  kon- 
fessionellen VerhIUtnisae  in  Branden- 
burg gründlich  nnd  sachlich  beantwortet 
wird.  Der  2.  Teil  iri^t  zunfichst  die 
Skizze  einer  Entwicklung  des  evan- 
gelisehen  dentechen  Kirehhedes  hie  auf 
Faul  Gerhardt  und  zeichnet  diesen 
dann  als  Liederdichter:  „Paul  Gerhardts 
Lieder  tragen  kirchlichen  Charakter  an 
sich.  In  ihnen  spricht  sich  das  geistige 
Gut  der  evanp^elisch-luiherischen  Kirche 
aus  „Dabei  sind  sie  der  getreue  .\n8- 
drnck  ilirer  Zeit.**  „Eine  Eigentihnlicb- 
keil  i.st  auch  ihre  Biblizität"  und  ..dass 
ne  den  ganzen  Inhalt  des  Christentums 
mit  all  seinen  scheinbaren  Gegensätzen 
erschöpfen"  ;  u.  a.  m.  Zum  Scnlnss  gibt 
Gebhardt  in  2  Beilaijen  die  für  die 
Geschichte  Paul  Gerhardts  so  bedeut- 
samen Edikte  des  Knrffisten  Friedlieh 
Wilhelm  vom  2.  Juni  1662  und  16. 
September  1664  in  extenso  wieder.  Die 
Schrift  iShlt  entschieden  «i  dem  Beeten 
in  der  neueren  Paal  Gerhardt  Ütentar. 


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D.  Faul  Wernle«  Panlas  Ger- 
d  t  ( Rel  igioDsgeschiehÜfdie  Yol1i§- 

ler  TV,  2,    TiiI>in<rMi.  J.  C.  B. 
f  (Paul  Jsiebeck)   ml.  60  S. 
Hg.,  kvtt  75  ?{g.,  feine  Atisgabe 
l,öO  M. 

ml  Gcrhftnlr  i*;  'It-n  rt-ligiona- 
:iitliclii;ii  VolkiitiilcUeru"  ist  ein 
ke,  anf  desien  AnsfUhnin^  man 
rnherein  gespnnrf  sspiii  darf.  Der 
ser   steht  ofitiibar  selbst  unter 

Eindruck,  wenn  er  im  Vorwort 

Gerhardt  ^den  enirsten  und 
sten  Lutherkänipfer  des  17.  .Tahr- 
ts"  nennt  und  ilunii  sact:  „Eh 
icht  an  Stimmen  fehlen,  die  dann 

ünwahrhafteR  erblicken!  Ihr 
:kt  die  Ciräbf  r  'l^r  Propheti  n.  die 
s  Zeitgenossen,  gesteinigt  hättet!" 
nnn  ein  abfiülure«  Ürteil  ttber 
Gerhardt  prwnrtpf.  knmint  tiiVht 
ine  Rechnung.  Kanu  auch  Froi. 
e  nach  seiner  Theolo^rie  und 
'n.-stcllnntr  dem  grossen  Lieder- 
r  nicht  allseitig  »rereeht  werden 
ielleicht  i^erade  Mir  die  tiefste 
anc  an  ihm  kein  volles  V'er- 
is  Lubcü,  80  betätigt  er  doch  in 

Schrift  grossartijfe  Objektivität 
mcht  Paul  Gerhardt  aus  den 
snsanschauungen  seiner  Zeit  und 
Juug  lieraiH  ir-Ttdit  z\i  Wi-rlen. 
es  Gabe,  in  kurzen  markanten 

ein  ansprechendes  Zeitbild  tn 

un<l  zu  ülxTmaleu.  tritt  aucli  Iii»  r 
;  Erscheinung.  Paul  Gerhardts 
«?an^  in  der  Konfliktszeit  ist 

kt  in  iVie  narritfllnn;:  der  dog- 
hen  und  kirchlichfu  Kämpfe  jener 
rerflochten;  diese  selbst  fesselnd 
Idert  und  mit  feinen  Schlaglichtem 
Zt.  In  der  Wiedergabe  der  kon- 
ttllen  Streitigkeiten  ist  eine  starke 
nähme  für  die  Reformierten  nicht 
•kennen.  Wohltuend  berührt  es, 
lil  ik'ii  t^eistlichen  Verwl(  klu!i''^eu 
einmal  etwas  rein  Menschliches 
m  Leben  Pknl  Oerhardts  zn  hSren. 
erfasS'-r  erziihlt  in  Kap.  3  bei  der 
mg  des  Dichters  nach  Lübben: 
Lttbbener  stiessen  sich  an  seinem 
i^en  einer  anständigeren  Pfarr- 
ing,  fanden  seine  Familie  zu  gross, 
hnten,  er  wollte  sich  wÄhrend  der 
•it  seiner  Gemeinde  entzieb«Mi  und 
rde  im  Widerspruch  zur  Lübbener 
»recbtigkeit  trräides  Bier  einführen 


und  ausschänkeu/  —  Charakteristisch 
ist.  dass  Wemle  das  Kapitel,  in  dem 

er  von  Paul  (icrhardt.s  Lifdem  handelt, 
Überschreibt :  „Gerhardt  als  lutherischer 
Dichter  vnd  Offenbarer."  Ebenso« 

dass  ihm  Versf  vom  Wa.s«or,  das  durch 
das  göttliche  Wort  Wuudürkraftempting, 
oder  von  der  Kraft  des  Blutes,  das 
Lebenssaft  und  göttliche  Liebe  ins  TT>'rz 
bringt,  Anklänge  „an  die  alleiälteäte 
Zauberreligion''  sind.  Abschlies-seud 
rirt' ilt  Wt-rnlc:  „Eine  geschichtliche 
Betrachtung',  die  Paul  Gerhardt  im 
Rahmen  seiner  Zeit  zu  verstehen  sncht, 
wird  ihn  als  den  voUendesten  Typus 
lutherischer  Theologie  und  Frömmigkeit 
'le>  17.  Jahrhunderts  erfasj^icn  niüss<'n. 
der,  in  unsre  Zeit  versetzt,  etwa  in 
einer  separierten  altlntherisehen  Ge» 
mcindc  PrcU'-'  i>  i;:  ri  riutz  bekäme."" 
FUr  lebendigem  i  hiisteutuni  gewiss  kein 
schlechter  Platz.  „Die  Gerhard tsche 
Dichtung  ist  das  klas<;i»;f  lu«  Werk  des 
Luthertums,  in  dem  khir  und  bündig 
zum  Vorsrhein  kommt,  was  dieses  fOr 
die  Welt  bedeutet.  Sie  ist  aber  ganz 
gewiss  mehr  als  da«:  in  ihren 
scliliclitfisten  liedern  gflnirt  sie  dem 
Christentum,  mehr  noch  der  Menschheit 
schlechthin  au  als  ein  Ausdruck  dessen, 
was  die  frohsten,  aber  aiuli  für  im 
Leid  erprobtesten  Menschen  mit  ihrem 
Gott  erlebt  haben,  verttftndlich  für  Jedes 
•ndere  Menseheohem.*'  — 

Heranow  JMei»]iMn,Panl  Gerhardt. 

Leipziir,  Sächsischer  Volksschriftai'' 
Verlag  liK)7.   63  S.  50  Pfg. 

Ein  poetischer  Zug  geht  durch  divi 
ganae  Büchl< m  <  bucht  wie  die  Ein- 
t-ilnng:  sein  Leben,  seine  Lieder,  und 
wann  in  der  Weise  der  Darstellung. 
Die  Konfliktszeit  ist  in  aller  Kürze 
behandelt,  für  ein  Volksbuch,  das  diese 
Schrift  sein  will  und  wahrhaft  ist. 
gewiss  nur  ein  Vorzug.  L>arin  ergänzen 
sich  die  verschiedenen  Paul  Gerhardt- 
Festschriften  in  glücklicher  Weise,  dass 
sie  i'ine  schöne  Reibe  bemerkenswerter 
Au.*).sprUche  des  Liederdichters  und  Einzel- 
heiten ans  seinem  Leben  mitteilen. 
Auch  Jost'phson  trügt  hierzu  reichlich 
bei.  Er  gibt  z.  L.  wieder  Paul  Ger- 
hardts Eintrag  in  das  Berliner  Ordinii- 
tionsbuch  vom  Jahre  1651,  der  vv.  Plick 
auf  seinen  späteren  Bekenntuiükumpf 
besondere  Benchtang  Terdient;  Au« 


zeichiituigeu  seiuer  Gattin  iu  ihrer 
Hamblbel,  die,  wenn  aneh  ibre  EcMheit 

zweifelhaft  ist,  <1(h;1i  ein  getreue?  Spiegel- 
bild der  edlen  t'ran  nnd  Mntter  gehen 
und  ein  Zeugnis  sind,  wie  das  fromme 
Geschlecht  jener  Tage  in  der  Schrift 
lebte;  das  Testament  an  seinen  Sohn 
im  vollständigen  Wortlaut.  Zu  Anfang 
des  2.  Teils  empfiehlt  der  ^'eI•fa88er, 
Paul  ÜLihardts  Lieder  selbst  zu  lesen 
nud  nennt  einige  Ausgaben  derselben. 
Dieser  Teil  bietet  femer  bedeutsame 
Urteile  neuerer  Theologen,  JCnimmacber, 
S'l»itt.i  u.  a.  über  Paul  Gerhardts  Lieder, 
je  ein  besonderes  Uber  ibre  Masikmeiater 
und  ihren  Segensgang,  das  sind  gnt- 
gewählte  (ieschic'hteii  aus  alter  nnd 
neuer  Zeit,  die  für  den  bleibendes  und 
nnlTenellen  Wert  dieser  Lieder  beredtes 
ZengTii?  ahlpgon.  Pie  Schrift  ist  in 
ihrer  Kigeuart  recht  zu  empfehlen. 

D.   Jalin§    Kaftui)    Jesus  und 
Paulus.  Eine frenndscliaftHche 

Streitschrift  gegen  die  Reli- 

fiousgeschichtlichen  Volks- 
ticber  von  D.  Bonsset  und 
D.  Wrede.  Tübingen  1906.  J.  C. 
B.  Hohr  (Paul  Siebeck).  77.  S.  80  Pfg. 

Kaftan  geht  von  einer  Kritik  der 
(iruiidaätze  uns,  mit  denen  Sdiiele  als 
Herant^eeber  seincrseit  die  Heligions- 
gesehicntUchen  VolksbUeber  einführte, 
und  weji'let  sich  treiron  den  o.  dieser 
Gnindsfttze;  ,,Da.s  Gesetz  der  Unver- 
brüchlichkeit der  wissenschaftlichen 
Methode,  die  alle  WelT£re>)irte  nach 
ihrer  Besonderheit  ordnet  unter  den 
gemeinsamen  Regeln  der  Venrnnft." 
l)aliinter  stecke,  kurz  gesagt,  die  soge- 
nannt«: moiieme  Weltanschauung.  Die 
ütini  ( ;esetz  « rlK-beue  Unverbrüchlichkeit 
der  Methode  bedeute  hier  soviel  wie 
den  Vorsatz :  Wir  wollen  die  Geschichte 
erkennen  nicht  wie  sie  ist  oder  war, 
sondern  wie  sie  sein  darf.  Dadorcb 
werden  die  Resoltate.  zn  denen  Bonaset 
tnnl  Wrede  in  ihren  Büchern  iiitcr  Jesus 
und  Paulus  kommen,  g;erade  ali  ge- 
schichtliche, nnrichtig'.  Statt  der  wirk- 
lichen zeicen  sie  uns  eine  d'esrliicLte, 
die  den  Vorau-ssetzungen  des  modernen 
Bewusstseins  augepasst  ist.  So  sucht 
Kaftan  die  Kontroverse  auf  dem  Boden 
rein  geschichtlieber  Betrachtung  fest- 
xobalten.  Er  will  zeigen,  dass  diese 
ganz  andere  ftesultate  eigibt  als  die 


von  Bonsset  und  Wrede  vorgetragenen. 
Dabei  leitet  Kaftan  dasselbe  Interesse, 

ans  <leni  rlie  Volkshiieh(T  hervorirriranpen 
sind,  nämlich  das  Iutere!<t.t'  au  der  Er- 
ziehung der  Gemeinde  zum  ge.Hchieht- 
lichcn  Verständnis  von  Bibel  und  Dogma. 
—  Bonsset  hatte  die  wichtigste  Aufgabe 
übemoinini  II.  die  den  religionsgesducht- 
lichen  Volksiinchem  cestellt  war,  ein 

feschichtlichts  Bild  Jesu  zu  entwerfen, 
aftan  sagt,  er  hat  das  Bild  arg  ver- 
zeichnet. Denn  er  hat  die  prophetische 
Wirksamkeit  Jesu  geschildert  nnd  sein 
Charakterbild  entworfen  <>hn '  iede 
Rücksicht  anf  den  Messiasgedankeu. 
Was  so  faeranskcmimt,  ist  niebt  Ge- 
schichte. Für  Jesu  eiiclies  Rr^vnsstsein, 
auf  das  es  hier  allein  ankommt,  ist 
seine  Sendung  als  der  Messias  Israels, 
als  der  Christ  des  Herrn  die  sein  inneres 
Leben  und  all  sein  Tun  bedingende 
Tatsache  gewesen.  Und  zwar  hat  er 
sich  in  seiin-n  Bewusstsein  nicht  an  den 
national-politischen  Messiastypus  ge- 
halten, sondern  an  den  apokalyptischen; 
daher  seine  Selbstbezeichuung  als  des 
Menschen  Sohn^.  Weiter:  Wenn  irgend 
etwas  in  diesem  Leben  geschichtlich 
f^tsteht,  so  ist  es  dies,  dass  Jesus  von 
Anfang  bis  Ende  mit  unerschütterlicher 
Zuvei>ii  ht  auf  den  Messiaserweis  durch 
den  Vater  gereclniet  hat.  Dieser  Erweis 
ist  die  Anferweckung  des  Gekreuzigten. 
Gesehiehtlicli  i,'eAvI<s  ist,  dass  die  Jünger 
den  Herrn  gesehen  haben,  und  dass  sie 
nach  Art  dieser  Erschdnnngen  vtm 
seiner  Atiferweckung  überzeugt  waren. 
Ebenso  gewiss  ist,  dni^s  Jesus  hierdurch 
der  Gegenstand  ihres  Glaubens  und, 
wenn  man  diese  Katr'gorie  anwenden 
will,  der  biiiter  der  christlichen  Religion 
^worden  ist.  Die  urchristliche  Predigt 
ist  von  .'Vnfang  an  die  I'redi^t  von  dem 
Gekreu7-igteu  und  Auferstandenen  ge- 
wesen, ist  es  nicht  etwa  erst  durch 
Paulus  geworden.  Eine  Jesusreligion, 
wie  fite  die  modernen  Theologen  sich 
denken,  hat  es  daher  in  den  Anfruiiren 
des  Christentums  überhaunt  nicht  ge- 
lben, weder  Tor  dem  Tode  Jesu  noch 
m  «It  r  Gemeinde  nach  seiner  Auf- 
erweckuug.  Hätte  es  sie  gegeben,  so 
wftre  sie  Streiks  gegen  Jesu  eignen 
?iTiTi  ;-'e\vesen.  Vui\  Paulus  steht  in 
allerernter  Linie  unter  den  Zeugen, 
durch  die  da«  Evangelium  Jesu  als  du 
Evasgelinm  von   dem  gekreuzigten 


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anf erstandenen  Christas  geiuem 
en  Sinn  sremäss  eiae  welt- 
ichtücli  wirksame  ilaclit  geworden 
Oer  wirkliche  ^Paulos'',  den  uns 
e  zeigt,  hat  i'ljeTi-iuweuia:  jerruiit« 
.T  Oeschiclite  exisLicrl  wiw  der 
liehe  Jesus",  den  uns  Boasset 
ert.  Das  weiat  £LafUu  im  2.  Ka- 
nach.  Die  eigentliche  Lehre  des 
el  Paulus  ist  ili»-  Lehre  von  «kr 
tag  uod  zwar  der  Erlösung  von 
fdt.  Dies  Heilflwerk,  sagt  non 
e,  ..i>t  na<:1i  Paulus  ein  durchaus 
schlechterdings  objelttives  Ge* 
m.  Ei  hat  mit  penOnlichen  Er- 
igeii  nn  1  inneren  \  orgängen  nichts 
u.    Wer  glaubt,  d.  h.  wer  diese 

gehoiMuu  annimmt,  ist  erlöst, 
'rsprung  der  Lehre  liegt  in  der 
hen  Christologie,  die  dem  Apostel 

feststand,  ehe  er  Christ  wurde. 
Iriebuis  vor  Damaskus  überzeugte 
ass  Jesus  —  der  Gekreuzigte  und 
«tandcue  —  der  Messias  sei.  Aus 
1  Glanhen  zusammen  mit  den 
iken,  die  Panlns  mitbrachte,  ist 
Lr'are  »  utnlau<l':u.  Sie  steht  ihiber 
jm  geschichtlichen  Jesus  nur  in 

losen  Znsammenhanire.  ist  dem 
•elium  Jesu  creg-enllbcr  «■in  Zweites 
seues.     Paulus  ist  durch  diese 

und  VerkUudigiin^  der  swelte 
igeutiif  h  erfultrieichere  Stifter  des 
tnitums  gt; Wurden."  Dem  gegen- 
le weist  nun  Kaftau,  dass  die  tat- 
:hen  An^fiiLrungen  in  den  Brii  fen 
postels  iu  deutlich  wie  müglich 
•genteil  zeigen.  ,,\Vi<  Paulus  von 
riösuug  redet,  erscheint  si<^  st.  ts 
was,  was  er  und  die  CLrlüLeu 
t  luiht'U.  Es  ist  nicht  eine  Lehre, 

entwickelt,  für  die  er  Glauben 
l.    Bs  ist  eine  Wirklichkeit,  in 

lebt,  und  von  iltr  li  voraussetzt, 
ie  das  fUr  alle  Christen  ist.''  So 
nn  anch  durch  Paulus,  gerade 

ihn  und  keinen  andern,  das 
eliiun  Jesu  im  Urchristentum 
!B  nnd  eine  die  Welt  umgestaltend« 
geworden.  Kaftau  ?•<  liliesst  diese 
irungeu  mit  den  bedeutsamen 
n  ab:  „Mag  man  denn  heute 
md  Paulus  ausf'inanderreissen,  sich 
sus  berufen  und  Paulus  abstossen 

die  Geschichte  gesehen  ist  das 
ir.  In  der  Geschichte  gehören 
uunmen  als  der  Herr,  au  den  wir 


glauben,  nnd  der  Apostel,  dem  wir  die 
hleihi-ndeu  Formen  die.ses  Glauben-?  ver- 
daukcu.  (So  ist  es  iu  der  Gemeinde 
bisher  gehalten  worden.  Ich  zweifle 
nicht,  dass  es  anch  in  Zukunft  rlabei 
bleiben  wird.  Die  moderue  Treuuuug 
zwischen  Jesus  und  Paulus  wird  sich 
in  der  weiteren  Entwicklung  von 
Theologie  und  Kirche  als  eine  Torttber- 
gehende  Iiruu«,'  erweisen."  —  Dlt  Ver- 
Sisaer  fügt  seiner  Streitschrift  noch  ein 
drittes  Kapitel  hinzu:  „Jesus,  Paulufl 
und  Johannes."  Auch  die  jolminii-rtiM 
Theologie  in  die  Erürlenmg  einzube- 
siehen,  yeranlaast  ihn  der  Umstand, 
dass  unleugbar  bei  Paulus  Gedanken 
vorhanden  $tiud,  in  denen  seine  Predigt 
auch  sachlich  über  das  Evangelium 
Jesu  hinansreicht.  Hierin  liegen  die 
AniiaiUspunkte  für  Wreilts  Betrachtung, 
überhaupt  für  die  Betrachtung  aller 
derer,  die  Jeans  nnd  Paulus  in  einen 
Gegensatz  zueinander  stellen.  Wir 
heben  aus  diesem  Teil  der  Kontroverse 
den  Nachweis  Kaftans  heraus,  dass  das 
vierte  Evangelium  eine  Znsammen- 
fassung des  EvaniT' liuni-s  Jesu  nnd  der 
apostolischen  Verkündigung  ist.  So 
schliesst  sieh  Johannes  als  dritter  in 
der  Rtihe  an  Jesus  und  Panln-*  an. 
In  dieser  Üeibe  ist  uns  der  geistige 
Inhalt  des  Neuen  Testaments  gegeben 
und  damit  die  massgebenden  Anfänge 
unsrer  Religion.  In  einem  Schluss- 
abschuitt  endlich  stellt  der  Verfasser 
u.  a.  die  Fra?»-:  ,,L;isst  sieh  ntin  der 
(relative)  Geyensatz,  um  den  es  sich  in 
dieser  Streitschrift  letztlich  handelt, 
auf  einen  bestimmten  Gedanken  zurück- 
führen? Ich  glaube,  dass  es  der  Fall 
ist.  Die  modernen  Theologen  wollen 
den  Gedanken  von  der  Erlösung  in  die 
Peripherie  schieben,  wSbrend  er  doeb 
der     Mitt-'lpunkt      il!'  r  lebendigen 

SeisUgeu  Keligion  und  vor  allem  aneh 
es  Christentums  ist.  Was  wir  hraneheii 
uml  erstreben  müssen,  ist,  dass  in 
allen  Glaubenssätzen  dieser  Gedanke 
als  das  eigentlich  bewegende  Element 
erkennbar  werde." 

Was  uns  Kaftau  iu  seiner  Schrift 
bietet,  ist  keine  leichte  Speise,  aber 
wer  sich  die  Mühe  nimmt,  ihm  iu  seinen 
klaren  Gedankengängen  zu  folgen,  wird 
reichen  Gewinn  davon  haben.  Besondecs 
wertvoll  erscheint  uns  der  hier  von 
berufener  Seite  geführte  Nachweis,  dass 


-   7«  - 


es  ein  folgenschwerer  Irrtiim  ist,  wenn 
das  geschichtliche  Vt>t<?tiiudni8  mit  der 
moderueii  WekaHbchauiiug  unauflüslicb 
Teiqiuckt  winL  ~ 

•    PraktischeFragen  des  modernen 

Christen  tarn  8.  Fünf  reliirioii.s- 
wissenschaltUcbe  Vortrtoe  von  Pfarrer 
Lk.  Tninb,  Pfarrw  Jatho,  Prof.  Dr. 
Am  iM  Mever,  Privatdozeut  Dr. 
Niebergall  nnd  Pfarrer  l).  theol. 
Förster.  Herausgegeben  von  Prof« 
Dr.  Heinrich  (veffken.  Leipsig  1907. 
QueUe  &  Meyer.   126  S. 

Die  Veranstallnng  dieser  im  HerlNit 
1906  in  Köln  gehaltenen  Vortiilge 
ergab  sich  für  «Iii-  AiiLarijrer  des  ..in-n- 
zeitlicb  verstaudeutu  Christt-utuius"' 
aus  dem  begreiflichen  Wunsche,  nicht 
immer  nur  dem  alteu  dogmatischen 
Glanben  zn  opponieren  nna  an  dem 
Altbnirli  srincs  Lehr^'-eliaudes  zu 
arbeiten,  sondern  auch  „eine  positive 
Weltansdiaiinng  zn  gewinnen'',  „die 
Glauben  niul  \Vi<i.<»  u  zu  viTsr/hncn 
weiss,  die  in  der  Geschichte  Jesu  das 
g^chichtlich  gegebene  nnd  seither  un- 
erreichte Vorbila  men?rhlirher  Selbst- 
erlOsnng  und  Gottes2:emeini>eliäft  ver- 
ehrt". Der  Zj'klus  begann  mit  zwei 
Vortriitren  Uber  die  Frage,  in  welchem 
Sinne  tlie  altehrwürdigen  Einrichtungen 
der  Taufe  und  des  Abendmahls  aucb 
dem  Anbänger  neuzeitlicher  Weltan- 
schauung weiterhin  als  wertvolle  Sym- 
bole seines  religi()st:-ii  (iluuhtiis  tcclttu 
können.  Der  dritte  Vortrag  führt«  in 
ein  Problem  ein,  welebei  heute  das 
V»'r;uit\vi»rTli(  bkcitsgefühl  unzähliger 
Eltern  und  Pädagogen  mit  schwerer 
Sorg« belastet:  ^WieernebenwiriuueTe 
JnS'Pnfl  zn  wahrer  FrüTuriii^keit?".  wie 
schützen  wir  sie  vor  dein  iunereu  Zwie- 
spalt, der  ihnen  durch  widerspruchsvolle 
Eindrücke  in  Schule  und  Haus  er» 
wäch.st,  und  wie  erzi»*l«'n  wir  in  ihren» 
GemUte  jene  harmouisehe  Entwicklung, 
die  sie  später  vor  allzu  gewaltsamen 
Erschütterungen  ihres  Innenlebens  be- 
wahrt. Ein  vierter  Vortrag  erörtert 
diese  Frage  speziell  im  Binblick  auf 
die  besondere  Not,  welche  unsem 
Kindern  aus  der  herrschenden  Konfir- 
mationsnraxiB  entsteht.  Der  letxte  Vor- 
trag befajmt  adi  mit  den  Bekenntnis- 
.schrifton  und  legt  dar,  welchen 
tatsächlichen     Gegen  warts  wert  der 


historii^th  nnd  natnrwisseuschaftlieb 
gebildete  Jiilrfrer  der  Xenzeit  dem 
Apostfflikum  und  den  übrigen  offiziellen, 
Bekenntnissen  der  evangeliseben  Kindie 
beizumessen  in  der  Lage  sei. 

Das  bind  alles  sehr  wichtige  und 
brennende  Kratzen  und  sie  werden  in 
den  Vorträgen  sehr  eingebend  and 
fesselnd  bebtndelt.  Zwar  mnde  und 
trlatte  Antworteu  erbiilteri  wir  nicht. 
Dazu  ist  die  moderne  Kichtong  noch 
sa  sebr  im  KlSmngsprosess.  Aber  et 
tritt  dl  eil  allonthatbc-n  deutlich  7,u 
Tage,  ila.Sh  wir  hier  mit  einem 
modernen  Rationalismus  zn  tun  haben, 
der  mit  den  Grundwahrheiten  des 
(  hristentnms  gründlich  aufräumt  nnd 
den  Glaubeuj«inhalt  vOUig  umwertet. 
Es  wird  alizuw.Hrten  sein.  (>h  die 
praktische  Durcbfülirun-,'  dieser  Ge- 
danken das  religiöse  Bedürfnis  dauernd 
befriedigen  kann,  oder  die  Befürchtung 
sieb  bestätigt,  dass  ein  so  TdlHges 
Aus>(  lit  iden  von  Glaub^'iisrealitäten  aus 
der  Wortverkttndigung  eine  ähnliche 
Verarmung  des  geistlieben  und  Ureb- 
ü.lien  Lebens  zeitigen  muss  wie  Mir 
Zdt  des  alten  Hatiuualismus. 

Die  höbe  Bedeutung  der  Torliegen» 
d<-n  Frac»^n  prfordeit  es.  arit;  ihrer  Be- 
handlung nnd  Beantwortung  in  den 
einzelnen  Vortrigen  nodi  etwas  la 
geben. 

L  Was  halten  wir  von  der  Taufe? 
Ton  Pfarrer  Lic.  O.  Tranb-Hortmnnd. 

„Irgend  eine  8pe?:i  M  Fii:  tzung  der 
Taufe  durch  Jesus  ibi  um  nirgends 
glaubwürdig  berichtet.*  „Ein  reli- 
<,n*'"Her  'JrundcredAnke  steckt  in  der 
Kiadci  tuufc" ;  „Dd*»  ganze  Leben  des 
Menschen  vom  ersten  .Atemzuge  an 
«steht  unter  Gottes  Gnade .  und  ehe 
wir  überhaupt  etwas  gedacht  haben, 
kam  Gott  der  Herr  in  seiner  Güte  uns 
entgegen  und  sagte :  du  bist  mein  lieber 
Sohn,  meine  liebe  Tochter."  Das 
Wassergic'^sen  in  der  Taufe  weeke  die 
Sebnsncht  nach  üerzensreinbeit.  Bei 
KonTertitentanfen  komme  einem  manch* 
mal  die  Erapfinduntr:  „wllrdo  es  hier 
nicht  auch  ein  Uandschla|^  tun  ?  Wäre 
es  vielleicht  nicht  minnheher  nnd  wBie 
es  nicht  höher?" 

U.  Welche  Bodentaug  hat  f&r  no« 
das  Abendmahl  ?  von  Pwrer  Karl  Jatbo- 

Koln.  ..Die  biblischen  Abendmuhls- 
berichte, besonders  der  panlinische,  sind 


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—  79  - 


ahUtoriüch  zu  bAseichnen."  ^Et 
bnen  aber  eine  gesunde  geschiebt- 
Brumeran^  zngrnnde.'*   ^An  den 

I  Tatsaeh«!!,  das8  Jesus  sich  wedw 
iu  übermenschlirbe«  Wt'HOti  ge- 
i,  noch  »einem  Tod  als  ein  stell- 
tendee  Söhnopfer  anfgefasst  hat. 
ern  alle  Versuche,  das  AbendmAhi 
ne  sakramentale  Stiftung  zn  er- 

II  '  ..  r)as  Abendmahl  .Ii'su  ist  ein 
irmahi  des  Frupheteu  mit  saiuor 
!rg«mMiide  treweMU  in  der  Bf> 
lüg  d<  -  Koches  Guttes.''  „Je 
r  aber  Jet>u  einstige  Haudlung  iu 
'er^angenheit  xttekte,  desto  niher 
s8,  ihr  eine  heson  l  ri  \\n<\  cinrÄ»- 
i  Bedeutung  beizuiues^en.  und  die^ 
ler  Weg,  auf  welchem  sich  mit 

eiufacner  Handlung  allmiiblich 
<omplizierten  theologischen  Ideen 
Suhnung  und  Versöhnung,  dce 
•todes  nnd  der  reale»  Christus- 
.'ilung  verbiüdeu;  oder  kRrzer  ge- 
:  auf  diesem  Wege  wurde  aus  dem 
idmahl  ein  Sakrament.''  .Wer  der 
.dmahlsfeier  nicht  bedarf  snr  ehr- 
n  Befrieilitruntr  eines  religiösen  Re- 
liases,  der  bleibe  ihr  fern.  £in 
terwertige«  Glied  der  Oemeinde 

er  dadnndi  Tiirht.**  ..Wir  haben 
Abendmahl  so  aufzttfaii.sen  und  seine 
r  eo  sn  gestalten,  wie  es  den  Vor* 
etzungen  unseres  religiösen  Denkens 
sittlichen  Empfindens  entspricht." 
n  Begehen  einer  solchen  Feier 
i*fte  die  lit\iri,''i><  he  F<»nn  i1e< 
idmahls  in  vielen  Stücken  einer 
cning/  ^Religiöses  und  ästhe- 
les  Empfinden  mtUsten  sich  bei  der 
Gestaltung  einer  solchen  Feier  die 
d  reichen  wie  etwa  in  der  poetischen 
irbeitong  der  üinsetzungiiworte  in 
lard  WagBcrt  PtusifaL" 

in.  Wie  ertiehen  wir  nnsre  Kinder 

wahren  Frömmigkeit?  von  Prof. 
Arnold  Mejfer-Zlirich.    In  diesem 
trtg  wirkt  wohltuend  das  Hervor- 

m  ynn  mancherlei  Berilhmnirs- 
kieii  zwischen  altem  und  neuem 
aben  auf  praktischem  Gebiete.  Be- 
lenswert  und  «harakteristi.'-cli  sind 
\.  (olgende  Sätze.  „Do  sollst  deinen 
aen  Gott  haben  und  nicht  den 
.t  deiner  Mitmenschen  neben  dir." 
tt  erste  Haupterfordemis ,  Re- 
lon  mitzateilen ,  ist  die» ,  dass 
'    wlber    fromm    sind,  denn 


Religion  ist  eben  keine  Ldjire.*  ^Wir 
haben  nicht  zr.  wenig,  sondern  su  viel 
Beiigionsunter  rieht!''  „Wirklich 
lel>endiges  Christentmi  bat  sieh  so 

wenig  überlebt,  dass  man  nicht  fragen 
darf:  „Sind  wir  auch  L brieten  sondern 
vielmehr:  „Sind  wir  schon  Christen?" 
(Paulsen.)  „Die  Religion  des  Kindes 
besteht  darin,  dass  es  zunächst  seine 
Eltern  und  seine  UausgenoHsen  nnd  die 
U&glieUen  firiebnisee  des  Hauses  und 
des  dgenen  Lebens  in  religiSser  Wdse 
erfährt.  '  ^Freude  au  Gott  zn  schaffen 
and  zu  stärken,  ist  gewiss  eine  be* 
reehtigte  Aufgabe  der  TeligiOsen 
ziehnncr,  ja  das  letzte  Ziel  der  religiösen 
Erziehung,  ja  dag  letzte  Ziel  der 
BeUgioQ.*'  „Es  gilt  der  Jugend  aneh 
zu  reden  von  dem  furchtbaren  und 
schrecklichen  Gott.  Allgemach  muss 
das  junge  Oeschleeht  es  ertngen  lernen, 
ohnf  an  Gott  irre  zu  werden,  dass  Gott 
die  Mens  eben  oft  tief  in  die  Not 
hineinführt  und  wir  oft  keine  SflOsnng^ 
▼on  ihr  sehen." 

IV.  KonfirmationsnSte  von  Privat- 

dozent  Dr.  Niebergall-Heidelberfi:.  ITicr 
stört  der  saloppe  Ton  nnd  die 
starken  Übertreibungen  imd  Verall- 
gemeinerungen. So  zirmlieh  all»^  Schuld 
au  den  Kontlrniatiousiiüteu  wird  dem 
Apostolikum  aufirebürdet.  Interessant 
ist  die  Auslegung  dieses  Bekenntnisses  : 
..E"?  sribt  eine  grosse,  eeistige,  gütige 
Macht,  der  untersteht  nie  ^n»e  Welt, 
sie  leitet  unser  Leben  zu  einem  ewigen 
Ziele  hin.  das  in  unserem  Herzen  wohnt. 
Wir  werden  an  diese  yiifiLre  Macht  vor 
allem  durch  den  Gedanken  an  den  einen 
Grossen  erinnert,  dem  wir  uns  alle 
miteinander  bengen,  zu  dem  wir  sagen 
müssen:  Herr!  Ans  ihm,  aumal  aas 
•einem  Leiden  und  Sterben.  strUmt  eine 
fii)  eindrucksvnlle  Gewalt  ^-eistiefen 
Ltjbenö,  das»  wir  iu  seiner  Sphäre  immer 
über  uns  selbst  hinaus  wachsen  und  an 
da.s  Höchste  uinl  Beste  erinnert  werden. 
Was  von  ihm  aber  ausströmt,  bringt 
BOTiel  Kraft,  soviel  Leben  nnd  Steden 
in  uns  hinein,  macht  un-^  so  mfinrhes 
klar  und  hebt  uns  über  die  Ziisammeu- 
hänge  des  mechanischen  Weltlebens 
hinaus  in  eine  andere  Sphäre  hinein!" 
Und  „durch  dieses  Bekenntnis",  d.  b. 
diese  Auffassung'  des  Apostuliknms, 
„sollen  die  Konfirmanden  immer  die 


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—    80  — 


Mranne   Erklänine:  Luthns  hiadllMli'' 

hören"';  das  if»t  viel  verlaTi<;t  1 

V.  Waa  sind  nm  die  kirchlichen 
Beltenntiii8«e?  von  Pfarrer  D.  Erich 

FotTsitor-Friinkfurt  a.  M.  „Freumio  der 
Bt;kenntnis8e.  nicht  Kuecbt«"  nennt  der 
Verfasser  sich  und  die  Anhänger  seiner 
Richtmi?  Aber  wie  sein  Vortrarr  er- 
gibt, geht  diese  Frenndschaft  eben  nur 
Büweit,  als  man  sich  mit  dem  Inhalt 
der  Bekenntnisse  befreunden  k  uHi.  und 
damit  ist  der  Willkür  Tiir  uml  Tor 
geöffnet.  Unhaltbar  sind  Behauptungen 
wie  diese:  Die  Reformatoren  hätten  die 
Sfttse  des  Apostolikums  von  Christi 
Gottli'it  usw..  ilie  ihnen  neliensiicblich 
^weseu  wären,  ans  politischen  Gründen 


und  aus  \'er8öhnlichkeit  gegen  Rom 
in  ihre  Bekenntnisse  aofgeuommen. 
Auch  die  dogmengescbichUiche  Karri- 
katur  (!♦  r  3Io(lrnien.  Luther  und  die 
Reformatoren  als  Vorläuier  ihrer  Rich- 
tung in  Ansprach  tn  nehmen,  begebet 
ans  hier  des  öfteren.  „Dass  die  Zeit 
der  Bekenutiusvtrpäiehtuog  unaufhalt- 
sam und  unwiderruflich  dahin  \ai\ 
läs.s^t  -iicli  eben  ducli  nicht  so  „als  ein- 
i'ache  W'alirheif  hiusteileu.  Das 
Zeugni.s  der  Uesohichte  ist  an  stark, 
dass  ohne  Bekenntnis  und  ohne  Be- 
kenntnisverpflichtung in  irgend  welcher 
Form  eine  KirchragenMiiWQluft  nicht 
bestehen  kann. 

Bochlitz,  Naumann. 


Eingogaagene  Blleher. 

(Besprechmig  vorbehalten.) 

IL  BSttoher  U.  K.  Kinzel,  Geschichte  der  deatsehea  Lateratw  uid  Spiache.   Halle  1907. 

\V  i'v- nVi.iu-.    IV.  i.So  M. 
Holz,  Georg,  D-  r  Sagenkreis  der  Nibclungc.    Leipzig  1907.    Quelle  &  Mcycr,  Preis 
Rcb.  1.25  M. 

DaUn»  Prof.  Sottirold,  Wicdcrholungsfragen  aas  der  deutschen  Literatur  mit  angefugten 
Antworten,    l.— 3.  Teil.    2.  Aull.    Dessau.    C.  Dünnhaupt.    Pr,  geb.  1,20  M., 

^:    1  V. 

Behimhei,  Otto,  Die  deutsche  Spntche.  4.  Aul).  Leipxig  1907.  O.  FreyUg.  Prds 
geb.  4  M. 

Uldo,  Ernst,  Die  Muttersprsdic  im  Ekmentairnntericht.  2.  Aufl.    Leipzig  1907. 

Küokbardt. 

BarfmtM,  Or.  A.,  Anleitmig  tum  Auftatzbilden.   Leipzig  1907.   Quelle  ft  Meyer. 

Pr.  geh.  3  40  M. 

Krause,  Paul,  Der  irclt-  Aufsatz  in  den  Lntcrkl^scn.  Leipzig  1907.  Wunderlich, 
P.  I  M. 

tUbtf  Dr.  C.  U.  Soblimbacb,  6.,  n.  r  deutsche  Sprachunterricht  im  ^r<ilen  Schuljahre 
nach  seiner  geschichtlichcü  Lntwicklung,  theoretischen  iiegründung  und  prak- 
tischen Gestaltung.    10.  AuH.    Gotha  1907.    Thicneman:i.    I'r.  geb.  4  M. 

Funk,  Dr.  G.,  Heispicle  zur  Satzlehre.    3.  verb.  u.  vcrm.  Aufl.    Ebenda.    Pr.  0,90  M. 

HofTmann.  Karl.  DcuUche  Sprachlehre.  Ein  methodischer  I^itfaden  filr  Mittelschule» 
u:id   ll^Jht:re  Lehranstalten.    4.  Auri.    Glessen  1907,    Roth.    Pr.  geb.   1,30  M. 

MayeT)  Johanneai  Deutsches  Sprachbuch.  Ausg.  B.  4.  lieft,  a.  Aud.  Haoaorcr  1907. 
Meyer.   Fr.  i  M, 

Ders.,  Lehr*  und  Übungsbuch  für  den  Unterricht   in  der  deutschen  RechtSChrethu^. 

Ausg.  b.    I.  Heft.   i.  Aut).   Ebenda.    Pr.  30  Pf. 
LahMMR,  Dr.  0.,  n.  Dor«DW«li,  iL,  Deutsches  Sprach«  und  Übungsbuch  für  höhere 

Schulen,    .\usgabc  B.    Urft  r  — 4.     rhcno.T     Pr.  je  0,50  M. 
Wilke,  Edwin,  Sprachhefte  für  Mittelschulen  und  verwandte  Lehranstalten.    3.  Aud. 

Halle  1907.    Schroedel.    Heft  I— 3.    Pr.  15  Pf.,  30  Pf.,  35  Pf. 
DMCT,  A.,   U.  Hesse,  E.,  Methodisch  geordnete  ni:sch!iftsß:inp;r  für  dm  Huchhaltungs- 

untcrricht.     Heft  2.    Uankbucbhandlang.    Leipzig  1907.    i  eubner.    Pr.  40  Pf. 
Btfitch.  Karl,  Diktatstoffe  fttr  Unter«  und  Hittelstufi^.  BerUn.    Gerdes  &  HMel. 

Pr.  60  Pf. 

Conund,  Die  lautremc  Kechiächrcibuug.    Dresden.    Pierson.    Pr.  1.50  ^L 


DfUflk  TOD  A,  Ittels  A  Soba  ia  Vrambwi  a.  B. 


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A.  Abiiandiongeik 


Zur  Psychologie  des  Kinderspielt. 

Von  LatibiHI  Sohratnnmyr.') 

Die  Weihnachtszeit  kommt  wieder  heran.  Wenn  der  Nikolaus 
Buben  keinen  Wagen  besorgen  kann  und  dem  Mädchen  keine 
)enküche,  so  bringts  das  Christkindl.  Und  die  Alten  werden 
er  jiin^,  und  der  Junge,  der  das  ganze  Jahr  über  nur  als  der 
fcl  im  Hause  fungiert  hat,  der  ist  heute  seine  paar  „Marki'n" 
;er  wert.  Das  ist  gcwissermassen  ein  oiKzieller  Akt  der  höheren 
dereinschätzung  unserer  Jugend,  ein  Vorgang  der  Weltverjüngung, 
rein  menschliche  Sinn  des  Weihnachtsfestes. 
Und  was  hat  nicht  die  Weihnachtszeit  Spielzeug  in  die  Welt 
acht.  Man  könnte  die  grössten  Warenhäuser  von  oben  bis 
n  damit  vollpfropfen.  Alles  aber  wandert  so  nach  und  nach 
US  an  die  Millionen.  Und  die  Dinge  aus  Holz  und  Blech  machen 
Lebensprosess  mit,  leben  und  sterben.  Dann  und  wann  bleibt 
den  langen  Jahrhunderten  ein  Stück  für  die  Landcsmiiseen  übri^j. 
Pu|)penhaiis  der  Prinzessin  X.  eine  Krie^'saiisrüstung  des 
zen  Y  und  ähnliciies.  Die  besten  Spielzeuge  aber,  die  einem 
de  gedient  haben,  verirren  sich  kaum  in  ein  fremdes  Jahrhundert 
nn  —  sie  sind  verbraucht,  ebenso  wie  man  sein  eigenes  Leben 
)raucht.  Die  besten  Spielzeuge  machen  den  Lebensprozess 
ithaft  mit  und  gehen  daran  zu«Trunde.  Sie  haben  Wochen, 
late  und  Jahre,  wo  üuien  die  höclisten  Werte  zugedacht  werden  — 
b  wenn  kein  kaufinännischer  Wert  sie  deckt  —  und  dann  sinken 
urplötzlich  zu  einem  Nichts  zusammen.  Sie  haben  sich  im 
ilichen  Geiste  überlebt  —  weil  das  Kind  sich  jeweils  selber 

»)  Nach  einem  Vortrag,  gchallcn  am  7.  Dezember  1907  im  Bczirks-Lehrcr- Verein 
chcn  (Sektion  für  allgemeine  Pädagogik). 

Der  Verüwer  dieser  Abhandlung,  der  2.  Vorstueoder  de«  MUnchocr  Bezirks« 
erveremi  w,  ist  gestorben. 

<.  6 


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—    82  — 


überlebt   Was  das  Kind  früher  geliebt  hat,  dessen  langt  es  sich 

sol:  *!  in  einen  i  1  c  timmten  Alter  zu  schämen  an.  Es  wendet  sich 
ab.  Das  ist  der  l'rozcss.  Das  SttiHium  aber,  das  der  Spickchatii 
vorausgeht,  begreift  lange  Jahre  eines  reichen,  psycholo-^asch  eigen- 
artigen Lebens  in  sich.  VVir  bezeichnen  die  intensivsten  Momente 
dieses  Kinderlebens  als  Kinderspiel. 

Ich  möchte  versuchen,  diese  Momente  psychologisch  zu  fassen. 

Es  ist  dabei  wohl  die  von  allen  neueren  Psychologen  geteilte 
Ansicht  vorauszuschicken,  dass  die  Seele  des  Kindes  mit  der  Seele 
des  Erwachsenen  niciu  streng  vergleiclibar  ist.  Die  Kindesseelc  ist 
wie  der  Leib  im  Hauptstadium  der  Entwicklung  und  Entfallung, 
sie  ist  im  Wachstum  begriffen.  Dabei  ist  zu  bedenken,  dass  die 
Wachstumsprozesse,  die  man  sich  ganz  organisch  vorstellen  kann, 
in  der  Hauplsaclic  da<  Hcwiisstseinsleben  erfüllen,  und  dass  zunächst 
alles  psychische  I.cbcii  andere  Rnergieverhältnissc  au  1  weist  als  im 
späteren  Leben.  Der  Gesanilbau  der  Seele  kann  im  jeweiligen 
Lebensalter  mit  einem  Baume  verglichen  werden.  Ein  junger  Baum 
weist  andere  Proportionen  und  Kraftverhältnisse  auf  als  ein  alter. 
So  auch  hat  die  Kindesseele  der  ausgereiften  gegenüber  ganz  andere 
Prü])ortioneii  und  1  .ehcnsabsichten,  Sic  will  /unächst  auch  nicht 
nach  aussen  hin  zweckmässig  wirken,  sondern  vor  allem  wachsen 
—  und  zwar  nicht  wachsen  durch  medizinische  und  pädagogische 
Eintrichterung,  sondern  aus  eigener  Kraft,  von  innen  heraus,  wachsen 
und  werden  an  der  eigenen  Produktion. 

Wenn  wir  uns  deswegen  von  der  Psychologie  her  mit  dem 
Kinde  beschäftigen,  so  müssen  wir  von  dem  Erbübel  abkommen, 
die  psycliischcn  Ersciieinungen  analog  denen  der  Ewachsenen  zu 
nehmen  und  immer  mit  dem  Massstab  des  Erwachsenen  zu  messen. 
Der  Massstab  des  Erwachsenen  passt  auch  bei  der  grössten  Ver* 
kleinerung  nie  aufs  Kind,  weil  sich,  je  weiter  wir  zur  Geburt  des 
Individuums  zurückschreiten,  die  Proportionen  und  Warhstums:^\vccke 
mehr  und  mehr  vcrscliieben.  Die  Weise,  das  Kmd  proportional 
dem  Erwachsenen  zu  behandeln,  so  wie  man  Landkarten  im  ver- 
kleinerten Massstab  zeichnet,  ist  absolut  falsch.  Soweit  sind  wir  heute. 

Ich  habe  mir  deswegen  auch  nicht  zum  Ziele  gesetzt,  Ihnen 
eine  Ps)  rhologie  des  Spieles  im  allgemeinen  vorzutragen,  weil  unter 
dieser  Bezeichnung  au(  Ii  die  Spiele  des  Erwachsenen  mit  hinein- 
bezogen werden  müssten. 

Das  Kind  steht  sclion  durch  seine  Tcörperliche  Grösse  in  einem 
ganz  anderen  Vcriiäknis  zur  Umwelt  als  der  Erwachsene.  Die  Enge 
des  Horizontes,  die  generelle  Einfachheit  des  begrifflichen  Denkens, 

der  Mangel  an  Reflexion,  Selbstbestimmung,  Willensstärke,  Übung 

und  Geschicklichkeit,  der  Manc:el  an  Erfahrung  und  geschichtlichem 
Denken,  die  .Abhängigkeit  vom  Wachstum  und  von  der  Wucht 
bestimmter  EinzclvorstcUungen,  all  das  macht  es  unmogiich,  vom 


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erspiele   und   \on  dem  der  Erwachsenen  in  psychologisch 

hlnutcndcr  Weise  /.u  sprechen. 

Weil  die  Seele  des  Erwachsenen  eben  andere  organische  Vcr- 
issc  hat,  als  die  des  Kindes,  so  entartet  das  Spiel  des  lir- 
isenen  teSs  unter  Begleiterscheinungen  des  Stump&inns  wie 
ich  beim  KegelMhicbcn,  teils  der  Spekulation  wie  beim  Hazard- 
teils  des  Sportes  wie  beim  I.awn-Temiis,  teils  der  abstraktesten 
tandcstätit^kcit  wie  beim  Schach,  oder  es  eriiebt  sich  zur  Höhe 
Cunst,  die  sich  gleichfalls  nicht  in  eine  dem  Kinderspiel  analoge 
leinungr  auflösen  lässt   Man  wird  sagen  dürfen,  dass  Spiel  und 
t  des  Erwachsenen  entwicklungsgeschichtlich  mit  dem  Kinder- 
ziisammenhängen;  mehr  aber  haben  sie  miteinander  nicht  zu 
Sie  erheben  sich  weit  über  das  Kinderspiel,  oder  sie  sind 
rs  geartet. 

\hce  auch  nicht  alles,  was  das  Kind  spielt,  ßl\t  unter  den 
ff  des  Kinderspieles,  an  das  man  um  Weihnachten  herum 
t,  das  in  der  Hauptsache  mit  Spielzeug  gespielt  wird  oder  doch 
tr  Tlh!sion  und  Darstellung  In  irgend  einer  Form  in  sich 
ift,  und  das  durch  seine  Xatur  so  sehr  zur  reizenden  psychischen 
leinung  wird,  dass  es  uns  oft  das  Kind  verklärt  und  auf  einer 
-en  geistigen  Stufe  stehend  erscheinen  lässt,  höher  als  es  in 
rat  zutrifft. 

Nir  wollen  uns  nh  i'ädagogcn  gerade  den  Blick  für  dieses 

•rspiel  offen  halten  und  bewahren. 

Carl  Groos  (vgl.  „Die  Spiele  des  Menschen")  liat  den  Ikgriflf 
Spieles  über  seine  landläufige  Fassung  hinaus  erweitert  Er 
licht  bloss  die  Spiele  der  Erwachsenen  gemeinsam  mit  den 
^'-spielen  behandelt,  sondern  auch  schon  das  Str;un})cln  der 
iristen  mit  Hand»  ri  »mkI  Füssen,  sowie  alles  i'iappern  und 
nein  /.um  Spiele  gezuiilt,  also  alles,  was  man  nur  physiologische 
Ilgen  und  —  biologisch  gedacht  —  Vorübungen  für  Gang, 
und  Sprache  heissen  könnte.  Soweit  Groos  den  biologischen 
htspunkt  nllcin  hervorkehrt,  kann  ihm  nicht  'A  idcr^tritt':'n  v.'crdon. 
:  vielmehr  unstreitig  wahr,  da^s  d'^r  biologische  Gedanke  alles 
legung,  Übung,  Spiel  und  Spielerei  betrifft,  einheitlich  begreiten 
Nicht  ganz  so  steht  es  mit  dem  psychologischen  Gesichts« 
.,  von  dem  aus  eben  im  wesentlichen  auf  Bewusstseinselemente 
icwusstseinsvorgängc  zu  arliten  ist. 

'sychologisch  gedacht  kann  nur  das  als  Spiel  bezeichnet  v.  erden, 
nit  Bcwusstseinsvorgängen  verbunden  ist^  eigentliches  Kinder- 
ist nur  Spiel  innerhalb  der  Bewusstseinsvorgänge  und  zwar 
jpicl  des  Vorstcllungslebens  mit  irgend  welchen  Sinnes- 
ichmungen.  Beispiele  dieser  psychischen  Erscheinungen  sind  Ihnen 
hl  genug  in  allen  Arten  gegenwärtig:  das  Kind  zieht  im  Sand 
r\rt  Viereck  um  sich^  das  ist  sein  Haus,  und  da  muss  es  aus- 
eingehen; oder  es  steckt  einen  Stecken  zwischen  die  Beine 

6* 


—    84  — 


und  gefallt  steh  als  Reitersmannn;  oder  es  stellt  die  Stuhle  im 

Zimmer  zusammen,  schiebt  die  game  Reihe  und  fahrt  auf  diese 

Weise  Eisenbahn.  Oder  die  Kinder  spielen  Papa  und  Mama.  Der 
Papa  ist  Schreiner,  Der  Tisch  ersetzt  ihm  die  Hobelbank,  der 
Bürstenrücken  den  Hobel,  das  Lineal  die  Säge  —  obwohl  es  absolut 
nichts  absägt,  sondern  nur  wie  eine  Sage  hin-  und  herfunktioniert 
Das  Mädchen  als  Mama  ist  eine  Bügelfrau  und  hat  es  wichtig. 
Das  Taschentuch  ist  die  irro5sse  Wäsche,  die  zusammen^epresstc 
Faust  das  Bügeleisen.  Noch  ein  anderer  Knabe  stellt  so  clwa'^  wie 
Stäbchen  in  eine  Alice  und  sagt :  Das  sind  Apfelbaume.  Dana  lallt 
ihm  der  Sturmwind  ein,  und  da  bläst  er  unter  die  Bäume,  und  der 
Wind  reisst  seine  Bäume  um. 

Psycfiolo^isch  kn:in  dieses  Kinderspiel  von  den  reinen  Bewej^ungs- 
spielca  und  Sumesspiclca  —  wie  da  Laufen  und  Hüpfen,  Schiessen, 
Knallen,  Klopfen  usw.  es  sind  —  losgelöst  betrachtet  werden.  Es 
wäre  demnach  das  Kinderspiel  in  meinem  Sinne  jeweils  jener 
intensive  psychische  Moment  de>  Kin  l  rlebens,  der  uns  als  ein 
phantastisches  I>eben  in  einer  ScheinwirkHchkeit  crsclieint,  der  aber 
bei  grossem  Gefühlsreichtum  und  kräftiii^en  X'orstcllungsbewegungen 
verläuft,  indes  die  Sinne  —  bei  vollständiger  Befriedigung  — 
praktisch  unzulänglichen  realen  Mitteln  oder  Verhältnissen  zu- 
gewandt sind. 

Und  die  Psychol()i,'ie  des  Kinderspieles  wäre  nichts  als  eine 
Analyse  dieser  I,ebenstuonicnte  unter  Berücksichtigung  des  \'ür- 
stellungslebens,  der  Gefühls-  und  Willenscrscheinungcn,  wobei  noch 
eines  über  Ausdrucksbewegungen  und  Begleiterscheinungen  des 
Spieles  zur  Vervolbtändigung  der  Gesamterscheinung  angeführt 
werden  könnte. 

Sehen  wir  aber  zunächst  von  allem  Ausseren,  Sichtbaren,  von 
allem  Liebreiz  der  Bewegungen,  von  allen  ästhetisch  wirksamen  oder 
unwirksamen  Spielzeugen  ab  und  versuchen  wir  bloss  in  dem 
Augenblick  eines  tiefen  Spielzustandes  in  das  Innere  der  Kindesseele 
zu  dringen.  Was  ist  da?  Mit  kurzen  Worten:  Da  ist  Leben.  Da 
treffen  wir  ebenso  eine  Werkstätte  der  Natur  an  und  scliauen 
organisches  Hilden  und  Wachsen,  wie  weim  wir  mit  oftenem  Auge 
durch  die  Wälder  und  Fluren  irgend  einer  Landschaft  wandern. 
In  engem  Rahmen  sehen  wir  eine  ganze  Welt  von  Gestalten,  einen 
reichen  Wechsel  lebensfrischer  Bilder.  In  ungestörtem  Sommerfrieden 
lebt  H'csf'  Welt  sicli  selber  und  will  nichts  als  sich  selber  leben. 
Jeder  Kenn  wetteifert,  der  Blüte  t^leicii  zu  werden.  Und  das  reiche 
Leben  umsehliesst  ein  weiter  llinnnel  von  Gefühlen.  Und  bei  allem 
Leben  kein  sichtbarer  Kampf,  kein  Ringen,  kein  Schmerz. 

Was  im  spielenden  Kinde  lebt,  das  ist  nicht  ein  Zweck,  eine 
Absicht,  das  ist  zunächst  nur  die  Vorstellunc^,  die  leben  will  um 
ihrer  selbst  willen  —  und  dann  das  Gefühl,  der  Gesamtgenuss  dieses 
Lebens. 


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wird  die  l'sychologie  des  Kinderspieles  ein  besonderer 
hnitt  aus  der  Kinderps\-chologie ,   und  insofern  sie  sich  mit 

wertvollen,  häufig  wiederkehrenden  Situation  im  gesamten 
ellungs-  und  Gefiilüsleben  des  Kindes  beschäftigt,  wird  sie  ein 
kteristisches  Bruchstück  der  Kinderpsychologie. 

ist  das  Kntscheidende  in  der  Psychologie  des  Kindcr- 
s,  dass  hier  die  Vorstellung  lebt  und  herrscht.  Selbst  das 
1  tritt  gegen  dieses  Leben,  wenn  auch  nicht  an  Intensität,  so 
an  Reichtum  und  stetiger  Entfaltung  zurück.  Mehr  als  sonst- 
1  einer  psychischen  Verfassung  gilt  im  Kinderspiele,  dass  nicht 
die  gesamte  Psyche  ein  Kraft-  und  Energiezentrum  ist,  sondern 
jede  apperzipicrte  und  selbständig  gewordene  Vorstellung  in 
»eele  zur  Kraft-  und  Lcbensäusserung  will  und  kommt.  Im 
le  hat  ja  jede  Vorstellung  immer  Lebensbedürfnis  und  einen 
ichen  Lebenswillen.  Die  Vorstellung  will  leben,  wie  das  Ich 
und  sie  strebt  unaufhöiiich  nach  Bewegung  und  Umgebung, 
piele  reisst  sie  nur  eine  gewisse  Herrschaft  des  sedischen 
IS  an  sich.  Das  Kind  wird  von  der  Vorstellung  beherrscht. 
Voher  die  Vorstellung  dieses  Stück  Urkraft  hat,  das  ist  eine 

fnr  sich,  die  eine  Metaph3rsik  fiber  das  Leben  erklären  mag. 
genügt  es,  diese  Kraft  wirksam  zu  sehen,  za  sehen,  dass  das 
<lurch  den  Lrht-'iswillen  einer  Vorstellung  einem  bestiniintt^n 
ntsprechcnden  i  eile  der  Aussenwelt  gegenüber  —  etwa  einem 
n  Sand  oder  einem  Stück  Papier  oder  einem  Holzblock  gcgcn- 

in  ein  neuartiges  Lebensveihahnis  gerückt  wird,  in  eine 
bche  Potenz,  die  sich  auswirken  wÜl  und  sich  auszuwirken  weiss. 
)ieses  Sic'i-.Xuswirken  der  Vorstellungen  maclit  da*^  Kinderspiel 
ner  inneren  oder  seelischen  Aktion.  Alles  ist  Im  Zustande 
.ktivität.  Und  diese  Aktivität  ist  so  mächtig,  dass  sie  nicht 
das  Kind,  sondern  auch  die  Aussenwelt  zum  TeUe  nutbeherrscht 
Aktivität  der  Vorstellung  ist  Herr  in  allen  Formen.  Daher 
las  Kind  in  der  Vorstellung. 

Jnd  die  erste  Form  der  Herrschaft  und  der  Aktion  äussert  sich 
icr  Wirkung  auf  die  Außenwelt  und  auf  die  Sinneswahr' 
ungen,  und  zwar  als  Belebung  an  sich  toter,  leerer  Andrücke 
un'-cheinbarer  Objekte.  Die  lebendige  Vorstellung  fiihlt  sich 
ndlichen  Geiste  nicht  wirklich  und  wirksam  genug.  Sie  will 
:ein  und  sagt  daher  zu  einem  an  sich  unzulänglichen  —  aber 
r  blossen  Form  und  Funktion  doch  verwandten  Objekte  der 
nwelt:  „Set  du  das.  was  ich  bin!  Und,  du  bist  est  Ich 
»  in  dir!"  Und  um  sich  wirklich  zu  machen,  vergräbt  und 
ppt  sich  so  die  Vorstellung  in  ein  Schema,  das  der  Aussen- 
angehört.  Da  wird  durch  diese  .'Xktion  aus  der  Hand  ein 
eisen,  aus  dem  Lineal  die  Säge,  aus  dem  Bürstenrücken  ein 
l  usw.  Alle  realen  Anforderungen,  die  das  Lineal  oder  der 
tnrücken    als    solche    an    das  Sionesleben  und  an  das 


—   86  — 


Bewusstsein  stellen,  werden  überhört;  sie  kommen  nicht  auf,  sie 
treten  in  ihrer  sachlichen  Existenz  zu  Gunsten  der  Vorstellung 
zurück  und  werden  zur  Puppe  der  im  Bewusstsein  eben  lebendigen 
Vorstellung. 

Ein  Merkmal  dieser  Puppen,  oft  ein  ganz  nebensachliches,  tritt 

in  den  Vordergrund  und  wird  wichtig  genug,  Vorstellung  und 
Sinnescindruck  gleichwertig  im  Bewusstsein  zu  machen.  Wetin 
das  Scheinobjekt  nur  zur  Darstellung  einer  Giundfunktioti  des 
gewollten  Objektes  dienlich  ist,  dann  ist  das  Kind  schon  ausser 
aller  Verlegenheit 

Das  IGnd  sieht  ohnedies  alle  Sachen  elementar.  Wo  wir  zehn 
Eindrücke  von  einem  Gegenstände  ins  Bewusstsein  geschleudert 
bekommen,  wirkt  beim  Kinde  ein  Merkmal,  oder  zwei,  allem  voran 
und  betont  den  Gegenstand  nacii  dem  realen  V'orzugsmerkmale. 
Darum  hat  es  die  Vorstellung  leicht,  i^u'c  Madit  zu  äussern.  Das 
Kind  findet  überall  Puppen  genug  für  seine  Vorstellungen. 

Natürlich  ist  hier  das  Wort  Puppe  im  vvcitc-ten  Sinne  zu 
nehmen.  Der  .\tein  ist  I'ui)pe  für  den  Wind,  die  .Schachtel  Puppe 
für  einen  Wagen  und  der  Stecken  Puppe  für  ein  Pferd.  Und  bei 
der  eigentlichen  Puppe  der  Mädchen  deckt  sich  mein  Begriff  mit 
der  landläufigen  Bezeichnung.  Der  Puppe  werden  die  Qualitäten 
der  Vorstellung  unterschoben.  Oder:  Die  Vorstellung  tritt  beim 
Spiel  innerlich  auf  —  und  äusserlich  —  aber  äusserlich  verpuppt 

Die  Sinne  des  Kindes  halten  an  der  Puppe  und  suchen  immer 
aussen  —  aber  die  Vorstellung,  die  geml%  ihrer  Kraft  die  Situation 
beherrscht,  wechselt  die  Eindrücke  /u  ihren  Gunsten  vor  dem 
Bewusstsein  in  einer  selbstgesuchten  Täuschimc^  um.  So  wollen 
die  Sinne  einen  Holzblock  auf  einem  Karren  schieben  —  die  Vor 
Stellung  aber  setzt  sich  als  Zauberprinz  darauf  und  lässt  sich  in 
einer  Kutsche  fohren. 

Während  so  die  Sinne  im  Spiele  immer  einem  realen  Objekte 
zugewandt  sind,  ist  der  Geist  mit  einer  Vorstellung  beschäftigt,  oder 
besser  gesagt,  von  einer  Vorstellunf:r  absorbiert.  Die  mächtige 
Aktion  der  Vorstellung  bewirkt  es  so,  dass  wir  im  Kinderspiele 
eine  direkte  psychische  Zwiespältigkeit  erfahren,  die  unbehinderte 
Zwiespältigkeit  nämlich  zwischen  Sinnesempfindung  und  Vor* 
stellungsverlaui  Diese  Zidespältigkeit  ist  immer  mit  der  Ver> 
puppung  gegeben,  und  sie  macht  in  erster  Linie  unser  Spiel  zum 
Kindersj)iel. 

Und  wenn  wir  die  eingangs  erwähnten  Dinge  aus  Holz  und 
Blech  ins  Auge  fassen,  so  wollen  «e  der  Zwiespältigkeit  dienen. 

Es  sind  lauter  beabsichtigte  Puppen,  die  auf  das  kindliche  Vor- 
stellun;^sleben  abzielen.  An  ihnen  hält  sich  die  Vorstellung  aufrecht, 
sie  tragen  die  Vorstellung  oder  in  leicliter  Berührung  gleitet  sie 
über  das  Gerüste  der  sinnlichen  Eindrücke  hinweg.  All  die  mannig- 
faltigen Puppen  sind  brauchbar,  wenn  sie  einer  lebenski^igen  und 


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-  87  - 


isrcicticii   Vorstellung   zur    genügenden    sinnlichen  (jrundlage 
m  können.    Im  anderen  Fall  taugen  sie  nichts. 
Die  Verpuppung,  bezw.  die  Veischiebung  oder  Unterschiebung, 
,tattfindet,  ist  gerade  beim  Kinderspiele  eine  äusserst  feinsinnige 

bringt  alle  Khrc  über  die  \'crstandes-  und  Gcmütsanlagc  des 
.es.  Wie  hübsch,  fast  poetisch  ist  es,  dass  der  Jun«]^e,  der  eine 
;  aus  Holzstabchen  aufstellt,  plötzlich  seinem  Atem  die  Funktion 
Sturmmndes  überträgt,  ja  eigentlich  den  Atem  vollständig 
nwind  werden  lasst  Schon  für  die  innere  \'crknüpfung  des 
liehen  Vorstellungsmaterials  ist  es  charakteristisch,  dass  dem 
en  dort,  wo  er  funktionell  den  Sturmwind  braucht,  der  Jilasbalg 
:r  Backen  einfällt.  Alles  ist  in  seinem  Kopfe  schon  organisch 
edert.  Die  gemeinschaftlichen  Merkmale  zweier  Dinge  werden 
lammem,  die  die  Vorstellungen  zusammenhalten  und  vor  allem 
Spiel  zwischen  Vorstellung  und  Sinnlichkeit  ermöglichen,  den 
i^^losen  Zusammentritt  einer  inneren  und  einer  äusseren  Welt, 
Soweit  das  Spie!  den  Charakter  der  Verpuppung  hat,  wiederholt 
ch  beim  Erwachseaeii  unter  ähnhchen  Zügen  in  der  Poesie  und 

dann  ästhetisch  empfunden.  Es  ist  der  Fall,  wenn  der  Dichter 
einem  Gesänge  das  Murmeln  des  Wassers  eine  geheimnisvolle 
che  nennt  oder  wenn  in  seiner  Pliantasie  die  ..eilenden  Wolken 
er  der  Lüfte"  werden.  Das  ist  ein  \'erpuppen  höherer  Art,  eine 
iell  ästhetisciic  Verpuppuiig,  insuferne  sie  nämlich  vorwiegend 
:tisch  wirkt 

Auch  hier  werden  dem  Geniessenden  durch  Eigenschaften 
ndiger  Dini^^c  die  Funktionen  toter  Objekte  belebt  und  Ijeseclt. 
l',ine  ästhetische  Verpuji]  im^,^  ist  allerdings  die  der  Kinder 
:  immer.  Wenn  wir  das  Kmderspiel  ganz  würdigen,  kann  es 
1  mit  gewisser  Beschrankung  poetisch  genannt  werden  oder  es 
i  um  der  Verpuppung  willen  als  die  Poesie  der  Jugend  in  der 
atur  figurieren,  aber  ein  ausschhcssÜch  ästhetisches  Phänomen 
s  nicht,  so  zwar,  dass  es  immer  schon  eine  Poesie  für  sich  ist, 
Kinderspiel  eine  Poesie  im  ästhetischen  Sinne  zu  nennen. 
Die  Poesie  begnügt  sich  übrigens  auch  mit  einer  vorgesteltteo 
3uppung,  indes  das  Spiel  eine  immerhin  real  gestaltete  Welt, 
1  Schauplatz  und  tatsächliche,  nicht  bloss  gedachte  Handlungen 
mgt  und  das  Kind  selbst,  in  die  Lage  versetzt  sein  will,  diese 
dlungen  zu  vollführen.  Das  Kind  steht  körperUch  und  selbst- 
lelnd  in  einem  Weltmittelpunkt  Das  Kind  ist  in  dieser  Wdt 
1  kausaler  Grrund  und  Gesetzgeber  realer  Verhältnisse,  und 
entsprechend  werden  wir  auch  seine  Gefühle  finden. 
Ein  besonderer  Fall  ist,  dass  beim  Spiel  die  Vorstellungen 
t  bloss  Puppen  um  das  Kind  herum  schaffen,  sondern  dass  sie 
elber  zur  Puppe  umschaiTen  und  es  das  Kind  so  in  sich  erlebt, 
'er  des  Vorstellungsgehaltes  und  Träger  des  Scheines  zu  gleicher 
zu  sein*   Oft  kommt  es  bis  zur  voQigen  Identifizierung  beider. 


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—  88  — 


Im  tiefsten  Spiele  ist  das  Kind  nicht  mehr  Kind,  sondern  Vater, 
Lehrer,  Soldat,  König,  Robinson,  und  seine  unscheinbarsten  Fähig- 
keiten werden  zu  elementaren  Gewalten. 

Bisweilen  endlich  kommt  es  vor,  dass  das  Kind  ein  Spiel  ohne 
Puppe  spielt  —  und  zwar  ein  Spiel  in  unserem  Sinne,  mit  Gestaltung, 
Handlung  und  Illusion.  Da  werden  ausschliesslich  Bewegungen, 
Worte  und  Gebärden  y.u  den  Trägern  der  Vorstellunc^en.  Der  Fall 
ist  indes  selten.  Ich  konnte  ihn  in  auffälliger  Form  nur  an  meiner 
2*/,jährigren  Nichte  beobachten.  Da  erinnere  ich  mich,  dass  es  nur 
nötig  war,  zu  ihr  zu  sagen:  „Mädi,  spiel  einmal,  hab  das  Kindlcin 
lieb!  Hol's!"  Da  verfiel  sie  sofort  in  den  Zustan  !  der  Illusion, 
lief  an  die  Türe,  tnt  als  ol)  sie  ein  kleines  Kind  hert-mlassen  würde, 
iuiirtc  es  bei  der  Hand  an  den  Tisch,  setzte  es  aufs  Sofa,  sprach 
mit  ihm,  streichelte  es,  lachte,  gab  ihm  Kosenamen,  tat  als  ob  sich 
das  Kind  angestossen  hätte,  beschwichtigte  es,  nahm  es  in  den  Arm, 
als  ob  es  leibhaftit;  da  wäre,  und  führte  es  wieder  7i!r  Tvire  hinriii';. 
Und  sie  bt-nutzte  zu  all  dem  nicht  den  Schein  einer  l'uppe.  Ihre 
Worte  und  ihre  Fantomimik  genügten  ihr.  Mein  Bruder  versicherte 
mir,  dass  sein  Mädchen  sehr  oft  auf  diese  Weise  und  in  mann^- 
facher  Variation  spiele. 

Die  Aktion  der  Vcrpuppun<T  erscheint  in  ihrem  vollen  UmfancfC 
in  der  Belebung  und  Organisieruni^^  chicr  unzulänglichen  sinnlichen 
Grrundlage  als  der  Anfang  einer  anderen  im  späteren  Leben  sehr 
bedeutsamen  psychischen  Aktton,  der  Kinftihlung,  insofern  sAt  das 
Ich  wirksam  und  passend  in  die  gegebenen  Verhältnisse  der  Aussen' 
weit  stellt.  Das  entfaltete  Ich  erfüllt  die  Welt  mit  Sinn  und  trägt 
sich  in  die  Welt  hinein.  Jeden  Vorgang,  jeden  Menschen,  jede 
Absicht,  jeden  Zweck  verstehen  wir  nur  durch  uns,  durch  die  Anlage 
unserer  eigenen  Psyche  ~-  unserer  eigenen  Person  —  über  die  wir 
nicht  hinauskönnen,  auf  die  jeder  Ausgang  und  jede  Handlung  wieder 
aurückgeht. 

Im  Spiele  erw^eist  das  Kind  seine  Fähifi^keit  zur  Einfühlnnjr,  es 
fühlt  sich  nicht  bloss  in  andere  Personen  und  Spielkameraden  ein, 
sondern  in  hundert-  und  tausenderlei  Verhältnisse.  Man  möchte  die 
Natur  beglückwünschen,  dass  sie  so  frühzeitig  die  wichtigsten  Lebens- 
funktionen vorzeitig  in  Erscheinung  drangt,  gewandt  macht  und  fiiis 
spätere  T.eben  festic;t. 

N'atürlicli  ist  beim  Kinde  die  Einfühlung  seiner  ganzen  Ent- 
wicklung entsprechend  einseitig  und  nach  den  Lebensforderungen 
direkt  unzulänglich;  aber  an  Intensität  ist  sie  wohl  der  Einfühlung 
des  Erwachsenen  überlegen.  Der  Erwachsene  ist  bei  aller  Einfühlung 
in  <V:c  Erscheinungen  des  Daseins  zurückhaltender,  er  hat  sich  mehr 
kennen  gelernt  durch  sich  selbst.  Kr  weiss,  dass  er  das  Mass  der  Din<^e 
ist,  und  dass  mit  Verschiebung  der  Dinge  die  Gedanken  nicht  zugleich 
mitverschoben  werden,  und  umgekehrt.  Die  Welt  steht  ihm  mehr 
objektiv  gegenüber.  Das  ist  beim  Kinde  anders.  Bei  ihm  ist  die 


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Tianchmal  Subjekt.  Die  (Icwalt  der  \'orslcIluii>^en  schiebt  das 
bisweilen  förmlich  in  die  Aussenwelt  hinein.  Und  das  Kind 
irch  diese  Macht  nicht  begreifen,  dass  die  Aussenwelt  anders 
)11  als  die  Gedanken.  Der  Zustand  gilt  vor  allem  beim  Spiele, 
ird  aus  der  Einfühlung  leicht  ein  völliges  Verbundensein  mit 
jsseren  Gegenständen  des  Spieles  zur  Schöpfung  einer  Welt 
h,  damit  eine  vorübergehende  Einheit  bestehe  zwischen  dem 
und  dem  Aussen.  Das  Spiel  erscheint  in  Form  der  Ver- 
ig  als  selbsttätiger  Ausgleich  der  beiden  Mächte:  Vorstellung 
nnlichkeit  zur  Erhaltung  und  zum  Wachstum  der  ersten. 


berblicken  wir  nun  die  Aktivität  des  gesamten  Vorstellungs- 
im  Spiele  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  und  wie  sich  jede 
llung  zur  Verpuppung  und  zur  herrschenden  Stellung  im  Be- 

:ln  durchringt!  I)a  fallt  neben  einem  relativ  grossen  Reich- 
n  Vorstellungen  die  allgemeine  BewegUchkeit  auf.  Die  Vör- 
den leben  und  bewegen  sich  wirklich.  Und  das  ist  etwas 
rtiges,  insofern  wir  das  in  der  Schule  bei  den  Kindern  so 
e  gar  nicht,  oder  doch  meist  nur  mangelhaft  antreffen, 
ir  wissen  ja,  wie  ganze  Klassen  oft  dasitzen,  als  wäre  ein 
iber  die  Bcwusstseinslage  der  Ju^^end  gelegt,  der  nichts  rinnen 
:)rudelii  lassen  will.  Das  geistige  Band  ist  wie  in  tausend 
gebrochen,  und  die  Vorstellungen  kommen  abgerissen  und 
zum  Ausdruck.  Freilich,  die  Mutter  sagt  uns  dann  und 
;chon:  „Wissen  S'  Herr  Lehrer  iaheim  kann  der  Bub  alles." 
in  er  spielt!  Da  hat  die  Mutter  nicht  ganz  unrecht, 
er  da  spielende  Kinder  belauscht  und  ihren  Vorstellungs- 
1  verfolgt,  der  erlebt  jedesmal,  wie  da  so  natürlich  Bild  um 
^oxt  um  Wort,  Vorstelhini^  lun  Vorstdlung  sich  drängt  und 
Das  ganze  Bewusstsein  ist  in  Bcwcf^un^  aufgelöst  und  eins 
dere  gebunden.  I^angc  Assoziationsketten  bilden  sich  oline 
Bruch.  Das  Seelisch- Line  weckt  das  andere,  bevor  es  nur 
u  Ende  gedacht  ist,  ganz  perzipiert  zu  sein  scheint  Wie 
an  eine  Schnur  gefasst,  folgt  das  Verwandte  dem  Verwandten, 
he  dem  Nahen. 

weit  wir  die  Vorstellungen  jede  für  sich  betrachten,  liegt  am 
v'ohl  auch  immer  ein  Sprung  vom  Hundertsten  ins  Tausendste 
>er  die  frappierendsten  Wendungen  stören  kaum  die  Einheit 
uizen.  Und  eben  das  eine  muss  bei  allem  Wechsel  zu- 
len  werden:  die  Kinder  bleiben  gegen  ihre  Gewohnheit  und 
ihr  Naturell  —  wenn  sie  wirklich  vertieft  spielen  —  lange 
er  Idee,  bei  einem  I  hema,  wie  man  sich  ausdrücken  könnte, 
ir  wissen  ja,  wie  hart  es  bei  einem  Kinde  sonst  mit  der 
itration  hält.  Das  voUständige  Abirren  nach  einer  Viertd> 


—  90  — 


stunde  ist  beim  sieben-  und  achtjährigen  Kinde  noch  i<eine  Selten- 
heit. Im  Spiele  aber  ist  die  Natur  wie  verleugnet.  Ohne  Unter- 
brechung und  ohne  wesentliche  geistige  und  körperliche  Ermüdung 
sehen  wir  Kinder  ganze  Nachmittage  lang  sich  in  einem  Milieu 
beweisen,  mit  ein  und  denselben  Gegenstanden  oft  in  dutzendfacher 
Wiederholuni,'^  dasselbe  5;pielen,  und  das  Wissen,  die  Geduld,  die 
Lust  und  die  Kraft  «^eht  ihnen  nicht  aus.  M 

Ohne  Besinnen,  ohne  Zwang,  ohne  sonderlichen  Kraftaufwand 
stellen  sich  alle  Vorstellungen  und  Vorstellungsverbindungen  ein. 
Die  Möglichkeiten  in  neue  Vorstellungsketten  hinüberzugleiten  ver* 
doppeln  sich  und  verdreifachen  sich  bei  jeder  neuen  Wahrnehmung 
und  bei  jeder  p^elegentiichen  Ausserunir.  Alle  Vorstellunnren  sind 
gc Wissermassen  an  die  Schwelle  des  Hewusstseins  herangerückt.  Die 
geringste  Erregung  genügt,  sie  deutlich  und  offenbar  zu  machen. 
Wir  sehen,  dass  alles,  was  zum  Bewusstseinszutritt  bei  ihnen  fähig 
ist,  zugleich  auch  rege,  lebendig,  disponibel  ist.  Im  Spielzustande 
drängen  die  Vorstellungen  mehr  als  sonst  zur  X'erbindim;:^  mit  nndrrn 
Vorstellun;:^en.  In  Hast  und  Eile  kommen  sie  einander  entgegen, 
folgen  sie  einander  nach,  erinnert  die  eine  an  die  andere.  Man 
könnte  sagen,  es  bestehe  ein  Wetteifer  unter  den  Vorstellungen, 
sich  gegenseitig  zu  unterhalten. 

Es  ist  nicht  etwa  ein  wirres  Chaos  von  geistigen  Inhalten,  was 
sich  da  ineinander  fügt:  Es  ist  ein  orj^anisches  Wachstum.  Und 
das  W'achslinn  ist  die  weitere  Aktivität  der  Vorstellungen.  Was 
in  Erscheinung  tritt,  das  ist  ebenso  naturgeniäss,  wie  es  ir'lianzen 
und  andere  Organismen  sind,  so  sehr,  dass  die  Biologie  ein  neues 
Arbeitsfeld  vor  sich  sehen  könnte.  Die  Vorstellung  hat  im  Kinde 
eben  nicht  bloss  den  Han<^,  ins  Bewusstscin  zu  treten,  sondern  vor 
allem  das  Bedürfnis,  sich  organisch  in  Gesamt^^^ebilde,  in  Vorstellungs- 
organismen einzugliedern,  sich  an  einem  (jcsamtwachstum  in  der 
Seele  zn  beteiligen. 

Die  Vorstellung  ist  wohl  durch  irgend  ein  Erlebnb  in  das 

Bewusstsein  gekommen.  Was  will  aber  ein  rein  sinnlich  gewonnenes 
Erlebnis  bedeuten,  wenn  es  nicht  innerlich  nachgelebt  wird.  Ein 
äusseres  Erlebnis  wird  in  der  Kinderseelc  erst  fruchtbar,  wenn  es 
innerlich  wieder  durchlebt  wird.  Und  die  Vorstellung  hat,  natur- 
gemäss  gerade  beim  Kinde,  nur  dann  die  Lust,  ins  Bewusstsein  zu 
treten,  wenn  dadurch  ein  inneres  Erleben  zustande  kommen  kann. 
Das  Kind  will  erleben.  Das  innere  Zusammenleben  und  Zusammen- 
crlcben  von  X'orstellungcn  äussert  sich  in  pssxhischcr  I^'orm  und 
ist  eben  das  organische  Wachstum  der  Elemente  zu  Gestaltungen 
und  Gesamtgebilden  und  zeigt  sich  im  Kinderspiel  als  dessen  Inhalt 
oder  Verlauf.  Jedes  Kinderspiel  ist  daher  notwendig  ein  inneres 


>)  Du  Interesse  ist  geduldig,  ansdaaerad.   D.  R. 


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—   91  — 


leben,  tiicht  bloss  eine  Vorstellung»  sondern  ein  gestaltenreicher 

bensvorgang. 

Das  jeweils  organische  Wachstum  bringt  es  aber  mit  sich,  dass 
finiclKstücke  von  Erinnerungsbildern  nie  wieder  genau  in  der 
nn  reproduziert  werden,  in  der  sie  in  die  Seele  aufgenommen 
rdcn  sind.  Und  in  dem  gleichen  Sinn  erfolgt  die  Angliedcrung 
•  einen  Vorstellung  an  die  andere  niclu  unbedingt  nach  dem 
dauf  der  Wirklichkeit,  sondern  nach  einem  inneren  Bedürfnis, 
f  diese  Weise  wird  .im  Spiele  die  Reproduktion  fast  immer  zur 
anischen  oder  freien  Produktion,  d.  h.  sie  erfolgt  als  AusAuss 
erer  Regelungen  und  umgeht  aus  Lebensbedürfnis  und  innerer 
)ensabsicht  jede  sklavische  Nachahmuno;^.  Dass  die  Seele  mit 
1  vorhandenen  psychischen  Material  so  ihre  eigenen  Formen 
äfft  oder  ihre  eigenen  Wege  geht,  das  heissen  viele  Phantasie. 
Phantasie  ist  ein  etwas  schadhaft  gewordener  Begriff.  Auf  der 
;n  Seite  tritt  das  Wort  sehr  gern  als  leere  Phrase  auf;  auf  der 
cm  Seite  wird  der  Begriff  sehr  eingeschränkt.  Mit  der  phrasen- 
en  Anwendung:  wollen  wir  uns  gar  nicht  auseinandersetzen.  Die 
ise  Einschränkung  tmdet  sich  vielfach  in  psychologischen  Lehr- 
hem.  Dazu  wollen  wir  einiges  bemerken. 

Phantasie  bedeutet  in  psychologischen  Lehrbüchern  vielfach 
änderte  Reproduktion  der  Vorstellungen".  Gemeint  ist  damit, 
Vorstellung^  sei  eine  Einiieit,  msofern  sie  gedacht  wird.  Gedacht 
l  sie  also  immer  als  Einheit.  Aber  sie  ist  bei  verschiedener 
roduktion  nicht  immer  die  gleiche  Einheit,  insofern  sie  nämlich 
tils  ein  kompliziertes  Gefüge  aus  psychologischen  Elementen 
teilt,  die  sich  ihrerseits  bruchstiJckwi       loslösen  oder  ergänzen 

so  einen  Klementarprozess  in  jeder  einzelnen  Vorstellung  her- 
afen.  Durch  den  Elemcntarprozess,  der  sich  im  ganzen 
hischen  Leben  findet,  wird  die  Vorstellung  dem  ursprünglichen 
ruck  imtreu. 

Und  damit  gilt  die  Phantasie  vielfach  für  einen  blossen  Verfall 
i^'orstellungen.  Nun,  teilweise  ist  das  auch  so.  Aber  wenn  die 
crung  der  phantastischen  Kräfte  nur  ein  Verfall  der  V^or- 
mgen  wäre,  so  hätten  wir  in  der  Phantasie  den  grössten  Feind 
tierischer  Massnahmen  zu  suchen.  Glücklicherweise  hat  der 
entare  Verfall  der  Kindrücke  und  Vorstcllunqfen  nur  vereinzelt 
nmc  P'olgen.  Im  grossen  und  ganzen  ist  er  nötig,  so  wie  alle 
e  dem  Tode  zu  müssen,  damit  sie  wiedergeboren  werden 
en.  Dieser  Tod  macht  eist  das  möglich,  was  wir  woflen: 
wahre  Phantasie,  das  Wachstum  des  psychischen  Inhaltes  in 
r  jeweiligen  Lebensmöglichkeit,  in  seiner  Weite  und  Begrenzung. 
3er  Verfall  der  Vorstellungen  ist  ein  passiver  Vorgang  des 
alebens,  und  nur  ein  seelisch  krankhafter  Mensch  hat  darunter 
;r  zu  leiden.  Beim  gesunden  Menschen  und  hauptsächlich 
Kinde,  das  an  natürlichen  Triebkräften  reich  ist,  folgt  auf  den 


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92  — 


passiven  Vorgang  tin  aktiver,  ein  gewaltsam  aufsteigender  Prozess, 
der  aus  Elementen  und  Fragmenten  in  neuer  Synthese  neue  Gebilde 
erzeugt,  nicht  aber  etwa  aus  Hang  am  Abenteuerlichen  und  Roman- 
tischen, sondern  aus  Lebensbedürfnis.  Und  dieser  Trieb  schafft 
vielleicht  über  die  Erscheinungsformen  des  realen  Lebens  hinaus» 
schafft  aber  den  allem  Leben  zugrunde  liegenden  Gesetzen  im 
normalen  Zustande  nicht  entgegen.') 

Das  Spiel  des  Kindes  ist  zum  grossen  Teil  identisch  mit  diesem 
aufsteigenden  seelischen  Prozesse.  Es  ist  ein  inneres  Aufraffen  und 
Bilden,  und  seine  Gestaltungen  sind  nicht  wertvoll,  weil  sie  so  hübsch 
phantastisch  sind  und  uns  bisweilen  im  ästhetischen  Sinne  gefallen, 
sondern  weil  die  Pliantasie  eine  naturf^emässe  Folge  innerer  Kraft- 
regung ist  und  das  innere  Wachstum  die  reiche  Möglichkeit  zur 
geistigen  Synthese  verrät.  Und  Synthese  ist  in  allem  geistigen 
Leben  nötig.   Die  Sjmthese  ist  die  wahre  Produktion. 

Die  Synthese  des  Kindes  hat  allerdings  etwas  Sprunghaftem 
Unbeirrt  von  dem  Bewusstsein,  dass  die  Lebensformen  in  der 
Realität  ihre  notwendige  Grösse  aber  auch  ihre  notwendige  Be- 
schränkung besitzen  müssen,  macht  sie  das  Kleine  gross  und  das 
Grosse  klein.  Das  Kind  reimt  Dinge  zusanmien,  die  in  der  Tat 
nie  bestehen  würden  und  nie  bestehen  könnten.  Wie  die  Vor« 
Stellungen  kommen,  werden  sie  verbunden.  Sie  fügen  sich  ihrer 
eigenen  primitiven  organischen  Ordnung,  die  allem  Naturalismu>  in 
der  Darstellung  fern  ist  und  nur  eine  Art  konstruktiven  Charakters 
verrät.  Eine  sachliche  Kritik  mischt  sich  selten  in  die  freie 
Gestaltung.  Nur  bei  Stadtkindern  kommt  vielfach  früh  eine 
naturalistische  Kontrolle  und  diese  wird  vor  allem  durch  den 
Anblick  und  die  lienui/ung  der  zahlreichen,  hypermodernen  tech« 
nischen  Kunstspiel  zeuge  erweckt. 

Zur  wichtigsten  psychischen  Aktion  wird  also  das  Vorsteüungs» 
leben  im  Spiele  dadurch,  dass  ein  organisches  Zusammenführen 
oder  Zusammengehen  der  kindlichen  Vorstellungen  möglich  wird, 
das  ohne  Spie!  vielfach  ausgeschlossen  wäre.  Das  Spiel  ist  für  das 
Kind  eine  Notwendigkeit,  ein  nahezu  unumgänzUches  iMittcl  zur 
psychischen  Selbsterhaltung,  zum  psychfechen  Wachstum  und  zum 
Zusammenschluss  des  gesamten  Geisteslebens  im  Kindesalter. 

Ohne  Spiel  haben  wir  beim  Kinde  ein  geistiges  Leben  in  ab- 
gerissenen Bruchstücken.  Seine  geistige  Existenz  ist  allen  Zufällig- 
keiten des  Lebens  preisgegeben.  Und  so  müsstc  das  Kind  ohne 
das  Spiel  ein  endlos  zerfahrenes,  geistig  unmö^ches  Wesen  werden. 
Die  Eindrücke  der  Aussenwelt  würden  seine  Einheit  zerreissen  und 
die  neuen  Eindrücke  die  alten  töten,  ehe  sie  noch  ganz  zum  Leben 
erwacht  wären.   Setzt  das  Spiel  ein,  so  sammelt  und  belebt  und 


»)  Vgl.  Schill  iug,  Über  Begriff  und  Bedcatung  der  Phantasie :  P&d.  Mudicn  iyo6, 
Hefte,  S.  377fr. 


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* 


—  93  — 

das  Kind  die  Eindrücke  durch  die  Kraft  des  Lebens,  und  sie 
liert  oder  organisiert  die  Vorstellungen  zu  psychischen  Ver- 
und  Einheiten,  indem  es  durch  seine  eigene  innere  £inheit 
;h  die  Kinheit  der  äusseren  Vorgänge  schafft 
as  so  beim  Kinderspiele  scheinbar  zufällig  Herauskommt,  ist 
;weadiger  Zusammenschluss  von  seelischen  Bruchstücken  und 
it  den  vollen  Namen  der  Produktion.  Als  Produktion  ist  das 
lie  höchste  psychische  I">schcinun;^  seines  Alters,  und  jedes 
-)rodu7ierl,  wenn  iiim  freier  Spielraum  gewährt  wird,  seinem 
seiner  Kraft  und  seiner  Keife  gemäss.  Daher  wechseln  auch 
iele  mit  dem  jeweiligen  Alter  nach  Inhalt,  nach  Gegenstand 
.ch  sachlicher  Vollendung.  Mit  zunehmendem  Alter  bewältigt 
nd  die  Aussenwelt  mehr  und  mehr  und  der  Junge,  dem 
die  Tischplatte  und  der  Stubenboden  als  Grundl.if^e  seiner 
stischen  VVeit  ausreichte,  der  trägt  später  sein  Spielbedürfnis 
:ie  hinaus;  die  ganze  Stadt  mit  ihren  Strassen,  das  Gelände 
ISS  und  Weiher  und  vor  allem  der  Wald  wird  das  Gefilde 
seligen  Träume.  Die  Zinnsoldaten  werden  ausgewechselt  gegen 
Itrige  Genossen ,  die  Verschanzung  aus  Schnee  oder  aus 
)ündeln  zwischen  den  Waidbäumen  zieht  er  der  kleinen  an- 
en  Holzburg  vor,  die  ihm  vor  Jahren  das  Christkind  gebracht 
dehr  und  mehr  merkt  man,  dass  das  Vorstellungsleben  sich 
nt  und  einesteils  sein  Gebiet  in  der  Aussenwelt  erweitert, 
teils  den  inneren  Anschluss  an  neue  Gefühls-  und  Willens- 
ite, an  erwachte  iriebe  und  Instinkte  nicht  verpasst  iiat. 

Schlnn  folgt. 


II. 

Der  Bagritf  Bildung  und  die  Schule.') 

Voa  a  tMhum,  Rektor,  Wandsbek. 

ie  geläufig  ist  doch  einem  jeden  das  Wort  „Bildung ",  und 
ufig  wird  es  gebraucht  Ebenso  ist  aber  auch  Tatsache,  dass 
dung,  die  man  allerseits  verlangt,  selbst  noch  ein  Gegenstand 
inungsverschiedenheit  genannt  werden  muss  und  bald  in  dieser, 

Benutzte  Werke.  Hauber,  Artikel  „Bildung"  in  Schmids  Encyklopädic. 
Gotha,  F.  A.  Perthes.  —  Fr.  Paulsen,  Artikel  ,,Hililun^''  in  Rrins  Ericykt. 
b.  Bd.  t.  UwgCQSsUza  1895,  H.  Beyer  &  Söhne.  —  Lazarus,  Das  Leben 
s.   Bd.  t.   Berlin  1885,  Dammler.  —  Wnndt,  Grandxflge  der  pliysiol.  Psyeho- 

Jd.  2.  Lcipnß  1893  und  (f..  Fn^i  liuann.  Willriiann.  Didu'ktik  uls  P.üiiun^j^Ichre.  • 
tweig  1895,  Viewcg  &  Sobo.  —  llerbarts  pädagogische  Schriften.  Herattsg. 


—   94  — 

bald  in  Jener  Weise  gefasst,  gefordert  oder  auch  zur  Schau  getragen 

wird.  So  nennt  man  häufig  denjenigen  einen  Mann  von  tiefer 
Bildung,  von  dem  man  weiss,  dass  er  umfassende  Kenntnisse,  also 
hohe  Gelehrsamkeit  besitzt,  auch  wenn  man  ihn  sonst  nicht  weiter 
kennt.  Wer  nicht  mit  der  Hand  arbeitet,  dagegen  Gewandtheit  und 
Ungeniertheit  im  Umgange  zeigt,  sich  richtig  zu  benehmen  und  an- 
zuziehen weiss,  kurz  die  sogenannte  „Weltbildung"  oder  „gesell- 
schaftliche Rüdunf^"  besitzt,  zählt  vielfach  nur  sich  und  scines[^lcMchen 
zu  den  Gebildeten;  alle  Mensciien,  die  nicht  dieselbe  Sicherheit  in 
gesellschaftlicher  Beziehung  zeigen,  bezeichnet  er  als  Leute  ohne 
jede  Bildung,  mögen  dieselben  auch  an  wahrer  Bildung  hoch  über 
ihm  stehen.  Oft  wird  die  Ansicht  ausgesprochen,  dass  nur  der 
erfolp^rciche  Be>^urh  einer  ,,höherii  Schule",  wenigstens  bis  Unter- 
sekunda, Bildung'  übermittle.  Andrerseits  ^^'chort  das  Prädikat 
gebildet,  dein  Sprachgebrauchc  nach,  allen  „besitzenden  Klassen  ', 
während  die  besitzlosen,  arbeitenden  Schichten  ohne  weiteres  un- 
gebildet sind.  Ausdrücke  wie:  formale,  materiale,  nationale,  in- 
tellektuelle, ethisehe.  äsllietische.  rcliijiöse  l'ildun^,  Schulb!lduni,% 
Volksbildung,  Berufs-  und  Stainiesbildunef  u.  a.  m.  lielc  rn  gleiehraÜs 
den  Beweis  des  häufigen  (lebrauchs  und  der  verschiedensten  An- 
wendung, welche  der  Begriff  erleidet.  Der  häufige  Gebrauch  ist  eben 
die  Ursache  davon,  dass  der  Bcgrifl'  so  viclsinnig  und  vieldeutig 
geworden  ist;  er  hat  ihn  nach  soviel  verschiedenen  Richtungen 
hin  auseinander  gezogen,  dass  man  die  Behauptung  aussprechen 
dürfte,  „die  ganze  Ansicht  des  Menschen  von  Leben  und  Welt,  von 
Himmel  und  Erde,  von  Zeit  und  Ewigkeit  drehe  sich  um  das 
Wörtchen  Bildung".  Ja,  Roth  glaubt  ein  Recht  zu  der  Versicherung 
zu  haben:  „Sage  mir,  was  du  Bildung  ncnn'-t.  so  werde  ich  dir  sagen, 
was  du  denkst,  glaubst,  liebst,  wer  du  bist."  Um  der  V'ieldeutigkeit 
willen,  welche  der  Begriff  im  Sprachgebrauche  zeigt,  nennt  Hauber 
ihn  „einen  Rocken,  aus  dessen  krausem  Werg  die  Fäden  (ur  manches 
Hirngespinst  gezogen  werden,  ein  Nest,  darin  verstiegene  Ein- 
bildung ihre  Wind-  und  politische  Berechnung  ihre  Kuckuckscier 
zu  legen  suchen".   Es  ist  gewiss,  dass  mit  dem  W'orte  Bildung  eine 

von  O.  Willmann.  Hamburg  1S75,  Voss.  —  Dr.  Emil  iichettig,  Der  BcgnÜ*  der 
Bildung  ub.w.  Leipzig;  18S5.  Heinrich  Mauhcs.  —  K.  Thiemano,  Das  Wesen  der 
w.ihr<  n  Bildunj;.  Wittenberg  1893,  Wunsclimann.  —  Rieh.  v.  Schubcrt-Soldern. 
CtKT  den  Begriff  der  aligt-mcincn  Bildung,  l^ipzig  1896,  H.  iiaake.  —  Ddnhardt, 
Kleine  Schriften.  Bromberu  1S55.  —  Dr.  Th.  Carl  Ludwig  Roth,  Kleine  Schriften 
pädapopischtn  und  biopraphischcn  Inhalts.  2.  H>1.  S"iii?{j.',i r  iS;7.  J.  F.  Steinkopf. 
—  lir.  Ludwig  Uoderlein,  Rcdca  und  Aufsätze.  Krlangcn  1S43,  Fcrd.  Eoke.  —  Prot. 
Dr.  Gustav  Zenker,  Über  das  Wesen  der  Bildung.  Jena  1859,  Cröker.  —  Gebr.  Grimm, 
I  Hutschcs  W  iirtcrbiich.  —  Sanders,  Wörterbuch  I  :  deutschen  Sjiraclie.  Leipzig  1905. 
Wigand.  —  Weißuad,  Dr,  Fr.  l,uwig  Karl,  Deutsches  Wortcihuch.  üicäseu  I&73, 
I.  Kicker.  —  RIatr,  Neahochd.  Grammatik,  Karlsruhe,  1899/1900,  Uuig.  —  Vihniir, 
Dr.  F  A.  C.  .\nf  n;:>ßrBndc  der  neuhochd.  Graismatik.  4.  Aaflagr.  Marbnrg  und 
Lcijjiit;  1S55,  Llwert. 


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üle  von  Idealen  verknüpft  ist;  ebenso  gewiss  haftet  dem  Begriife 

er  auch  viel  Fremdes  an.    An  den  Lehrer,  dessen  Beruf  doch  die 
gcndbildung^  ist.  muss  die  Forderung  gestellt  werden,  dass  er  sirh 
dieser  Frage  Klarheit  verschaffe.    Treten  wir  darum  im  folgenden 
m  Begriffe  Bildung  näher. 

Grimms  Wörterbuch  (uhrt  einen  mehrfachen  Gebrauch  des 
Rede  stehenden  Wortes  an :  imago,  forma,  cultus  animi,  formatio. 
der  ältesten  Zeit  ist  Bildun»:^  nur  in  der  Bedeutung  von  f^ild, 
dnis,  Gestalt,  Form  angewendet  worden,  so  z.  B.  von  Notker  \  on 
Gallen,  der  es  nachweisslich  zuerst  gebraucht  hat  (Weigand, 
i.  0.).  Dieser  Gebrauch  zeigt  sich  uns  überall,  so  oft  bildunc, 
lui^  in  der  Literatur  des  Mittelalters  auftritt.  Erhalten  hat  er 
I  bis  in  die  neuere  Zeit.  So  sagt  Lessing:  „Ich  glaube  zwar 
it,  dass  es  etwas  Unerlaubtes  für  ein  Frauenzimmer  ist,  sich  zu 
niücken,  aber  doch  habe  ich  noch  nie  lür  gut  befunden,  meiner 
lung  auf  diese  Art  zu  Hilfe  zu  kommen^';  Kant  spricht:  „Die 
imelskörper  sind  runde  Massen,  also  von  der  einfachsten  Bildung, 
ein  Körper  haben  kann",  und  in  Goethes  Hermann  \um\  Dorctlicn 
et  sich  die  Stelle;  So  bewet^tc  vor  Hermann  die  liebliche 
ung  des  Mädchens  b»aniL  sich  vorbei!"  —  Daneben  tritt  aber 
»n  seit  der  Zeit  des  Humanismus  eine  mehr  verinnerltchende 
endung  auf,  wenn  auch  anfangs  die  vorher  genannte  die  Ober- 
I  behielt.  Die  ritterliche  hineschheit  des  Mittelalters,  welche 
•  eine  gewisse  Bildung  kaum  gerlacht  werden  kann,  wurde  etwas 
;r  durch  das  französische  courtoiaic  bezeichnet.  Als  dieses  aber 
-  auf  das  rein  Ausserliche  angewendet  wurde,  trat  an  seine 
?.  unser  Wort  Bildung.  Der  Hei^riff  erhielt  also  neben  seinem 
•üni^Iichen  Inhalte  den  einer  Verfassun;:;-.  einer  Gestaltun^f  der 
iiiinier  mehr  trat  der  neue  Gebraui^ii  in  den  N'ordergrund, 
die  zweite  Hälfte  des  18.  Jahrhunderls  machte  daraus  einen 
amcntalbegriff  der  Pädagogik  und  brauchte  ihn  einmal  von  der 
ideten  Geistesverfassung,  sodann  aber  auch  von  der  Arbeit 
^cstaltens  der  Seele.  Herder  und  Pestalozzi  sind  wohl  die 
i,  welche  den  Begriff,  auf  die  Pädagogik  bezo]::en.  in  ihren 
ten  zur  Anwendung  bringen,  und  bei  beiden  hndet  sich  auch 
ervorgehobene  doppelte  Gebrauch. 

Vic  Vilmar  nachweist,  hatte  das  Suffix  „ung '  ursprünglich  die 
itung  eines  Zustandes  (a.  a.  O.  3.  Teil,  S.  32).  Heute  aber  „sind 
MTiinina  auf  —  ung  nomina  actionis  und  können  eine  vorübcr- 
dc  oder  dauernde  Handlung  bezeichnen"  (Blatz,  a.  a.  O.  Bd.  i, 
}.  Die  Substantiva  auf  —  ung  bezeichnen  also  ein  Werden, 
teile  nur  die  Wörter  HeOi^ng  und  Heiligkeit  einander  gegen* 
Das  letzte  Wort  bezeichnet  den  vollendeten  Zustand,  das 
r  das  Werden,  das  Wachstum  in  diesen  Zustand  hinein.  Die 
le  der  Gegenwart  besitzt  das  Wort  Bildung  in  doppelter 
Lung,   entsprechend  dem  im  vorhergehenden  nachgewiesenen 


-   96  - 


doppelten  Gebrauche:  Bildung  wird  im  aktiven  und  passiven  Saonc 

gebraucht.  Es  dient  einerseits  zur  Bezeichnung  des  Prozesses  oder 
der  Tätigkeit  des  Bildens;  andrerseits  versteht  man  darunter  das 
Resultat,  welches  durch  die  bildende  Tätigkeit  im  Objekte  hervor- 
gebracht wird.  Wenn  man  beispielsweise  sagt:  „Der Mensch  zeichnet 
sich  durch  hohe  Bildung  aus",  so  denkt  man  die  Bildung  als 
Resultat  eines  Prozesses  und  daher  als  Qualität  eines  Menschen, 
durch  die  er  sich  von  jedem  Ungebildeten  auf  das  bestimmteste 
unterscheidet.  Sagt  man  aber  von  einem  Erzieher,  dass  er  die 
Bildung  eines  Knaben  übernommen  habe,  so  mcml  man  mit  Bildung 
den  Prozess,  dessen  Frucht  etwa  das  vorher  genannte  Resultat  ist 
Dem  hier  GesaL^ten  entsprechend,  müssen  wir  zu  einer  doppelten 
Definition  des  Begriffes  Bildung  gelangen. 

Versuchen  wir ,  bevor  wir  zur  Menschenbildung  übergehen, 
den  Begriff  der  Bildung  in  seiner  liöchsten  Allgemeinheit  so  kurz 
als  mögUch  klar  zu  stellen.  V^oraussctzung  aller  Bildung  ist  ein 
Stoff,  an  oder  in  welchem  sie  vor  sich  geht  Derselbe  kann  ein 
unorganischer,  starr  und  tot  erscheinender  oder  ein  organischer 
sein.  Der  Künstler  bildet  den  MarmorMrv-k  die  Pflanze  bildet  sich: 
im  Ki  bildet  sich  der  junge  Vogel;  der  Erzieher  bildet  den  Knaben 
oder  Jütigling.  —  Eine  nächste  Bedingung  ist  ein  Bildner  oder  ein 
bildendes  Prinzip.  In  der  Pflanze  und  im  animalischen  Organismus 
äussert  sich  ein  sich  seiner  selbst  unbewusster  Bildungstrieb. 
Gehemmt  oder  crefördcrt  durch  äussere  ungünstige,  beziehunt^^sweise 
günstit^c  Kinwirkunj^en  entwickeln  sicli  die  Organismen  durch  eine 
in  ihnen  wohnende  Kraft.  Von  dieser  aus  dem  Innern  hervor- 
gehenden Bildung  müssen  wir  diejenige  wohl  unterscheiden,  welche 
at>sichtlich  oder  unabsichtlich  mit  einem  Gegenstande  vorgenommen 
wird,  Ist  dieser  Gegenstand  ein  roher  Stoff,  Marmorbiock  oder 
Holz,  so  verhält  er  sich  rein  passiv,  während  dieses  bei  der  Bildung 
des  Menschen,  wie  wir  später  sehen  werden,  niemals  der  Kall  sein 
kann.  —  Dem  Stotfe  wird  etwas  an-  oder  eingebildet,  nämlich  die  ■ 
dem  Künstler  vorschwebende  Idee.  Diese  ist  die  dritte  Voraus- 
setzung der  Bildung.  Fassen  wir  Bildung  als  Prozess  auf,  so  kommen 
wir  also  zu  dem  Ergebnis:  Bilduni,^  ist  Gestaltunj::^  oder  Formc^ebung 
irgend  eines  Stoffes  durch  einen  Bildner  oder  durch  ein  Prinzip 
nach  irgend  einer  Idee.  Andrerseits  müssen  wir  Bildung  bezeichnen 
als  das  Resultat  dieser  Arbeit,  somit  als  die  durch  den  Künstler 
oder  durch  das  Prinzip  vollendete  Idealgestalt,  welche  aus  dem 
Stoffe  hervorgegangen  ist 

Gehen  wir  nun  zur  Menschenhildung  über,  so  müssen  wir  uns 
im  Hinblick  auf  die  Schule  zuerst  darüber  klar  sein,  dass  Berufs- 
und Standcsbildung  hier  nicht  Gegenstand  der  Erörterung  sein 
können.  Jeder  Beruf  stellt  besondere  Forderungen  an  die  Bildung 
des  Menschen,  und  die  Berufsbildung  dokumentiert  sich  demgemäss 
als  Beherrschung  und  Kultivierung  eines  bestimmten  Faches.  Wir 


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»inmen  zif  dem  Resultat,  dass  das  Daheimsein  in  den  Fundamenten 

id  verschiedenen  Teilen  eines  bestimmten  Faches  wohl  Fach- 
nntnis  ergibt;  für  die  Beurteilung  der  Bildung^  eines  Menschen 
rin  diese  aber  nicht  massgebend  sein.  Gesellt  sich  7U  ihr  noch 
s  Heimisclisein  in  den  Ausläufern  des  betrefienden  Faches,  welche 
len  Kern  konzentrisch  umlagern,  nicht  aber  direkt  dem  Fache 
gehören,  so  kennzeichnet  diese  Verfassung  des  Menschen  den 
:)ildeten  Fachmann.  Indessen  ist  es  denkbar,  dass  wir  uns  in  die 
yc  versetzt  finden,  einem  solchen  Menschen  dennoch  das  Prädikat 
es  gebildeten  Mannes  verweigern  zu  müssen.  Was  man  von 
em  Gebildeten  verlangt,  ist  die  sogenannte  allgemeine  Bildung, 
lohe  zugleich  die  Fähigkeit  gibt,  über  „die  Grenzen  des  eigenen 
-ufs  in  fremde  Gebiete  hinüberzuschauenp  und  die  Willlj^^keit,  aus 
1  selbst  heraus-  und  in  andere  einzugehen".  —  Desgleichen  müssen 

hier  von  dem  Hcgritfe  der  Volksbildung-  absehen.  Denn  es 
n  ein  Volk  im  Gegensatz  zu  einem  andern  gebildet  genannt 
den,  es  kann  ihm  also  in  der  Bildung  voraus  sein;  dennoch  ist 
möglich,  den  Einzelnen  aus  diesem  Volke  ohne  Bildung  zu 
ken.  Also  die  allc^cmeine  Bildung  des  einzelnen  Menschen  ist 
die   wir  in  den  Kreis  unserer  weiteren  BetrachtutiL^en  ziehen. 

ist  diejenige  Bildung,  die  allen,  welche  auf  das  Prädikat 
:>ildet"  Anspruch  machen  können,  gemeinsam  ist;  sie  ist  dasjenige, 

den  Gebildeten  zum  Gebildeten  macht. 

Was  nun  diese  allgemeine  Bildung  im  Sinne  eines  Prozesses 
?laii£;t,  so  erinnert  sie  an  die  bildende  Kunst.    Der  Stoff,  mit 

sie  es  zu  tun  hat.  ist  das  menschliche  Individuum  nach  Leib 

Seele.  Dieser  Dualismus  im  Menschen  muss  berücksichtigt, 
er  der  beiden  Teile  darf  vernachlässigt  werden.  Das  natürliche, 

Wesen  des  Kindes  macht  es  bildungsbedürft^,  —  Die  Stelle 
Bildners  wird  vom  Lehrer  und  F.rzicher  eingenommen.  Jedoch 
-scheidet  sich  seine  Tätii;keit  \on  der  des  bildenden  Künstlers 

bedeutend.  Der  zu  bildende  Mensch  verhält  sich  der  auf  ihn 
irkenden  Tätigkeit  gegenüber  nicht  lediglich  passiv;  aus  ihm 

der  Erzieher  durchaus  nicht  machen,  was  er  will.  Nein,  neben 
Lehrer  tritt  der  Zögling  als  sein  eigner  Bildner.  Bezüglich  der 
gen  und  rrmütlichen  Entwicklung,  von  welcher  der  Begriff 
ng  eine  gewisse  Stufe  voraussetzt,  besteht  die  Arbeit  des 
hers  zunächst  darin,  die  verschiedenen  Bildungselemente  dar- 
ten.  Aufgabe  des  in  Bildung  Begriflfenen  ist  die  Aneignung, 
ung  und  Assimilierung  derselben,  welche  Tätigkeit  ihm  natürlidi 
dem  Bildner  durch  seine  Hilfe  erleichtert  werden  kann.  Nur 
id.ition  setzt  die  7ur  Krnährung  aufgenommenen  Stoffe  in 
ii  und  Blut  um,  und  nur  Umsatz  der  Bildungselemente  kann 
:ig  verschaffen.  Daher  ist  diese  nicht  als  Ausstattung  zu 
:n.  Ausserdem  vollzieht  sie  sich  nicht  allein  durch  gcniessendes 
:hmen,  ist  keine  Anhäufung.   Es  gehört  vielmehr  sowohl  Ab* 


-   9«  - 


Weisung  als  Aneignung  des  Stoffes,  ebenso  Selbstbeschrankung  wie 

Ausdehnung  dazu,  Demgemäss  können  wir  Bildung  nvir  als  Aus- 
gestaltung bezeichnen.  —  Falsch  wäre  es,  wenn  man  die  Bildung 
nur  nach  dem  Reichtum  des  Wissens  und  nacli  der  Mannigfaltigkeit 
des  Könnens  beurteilen  wollte.  Alle  in  dem  Menschen  liegenden 
Keime  sind  zu  gestalten.  Deshalb  bezeichnet  die  Pädagogik  die 
organische  oder  haimonische  Ausbildung  des  Menschen  als  den 
Weg,  auf  welchem  mnn  in  den  Besitz  der  Bilduni^  «gelangt  Kein 
Teil  darf  auf  Kosten  eines  andern  besonders  kultiviert  werden.  So 
wie  dem  Körper  die  nötige  Pflege  zu  teil  werden  muss,  so  versteht 
es  sich  für  die  Seele,  dass  mit  dem  Geiste  und  Gemüte  auch  der 
Wille  gebildet  werden  muss.  Die  sittliche  Seite  der  Menschennatur 
ist  ein  ebenso  wesentliches  Merkmal  der  Bildung  als  die  intellektuelle 
und  ästhetische.  Ja,  das  sittliche  Moment  ist  für  alle  Bildungsfragen 
das  entscheidende,  wie  wir  das  bereits  aus  dem  Umstände  erkennen 
können,  dass  der  Sprachgebrauch  zwar  den  Erwachsenen,  niemals 
aber  Kindern  Bildung  zuschreibt  Wirklich  gebildet  ist  deshalb  nur 
ein  Mensch  von  sittlichem  Charakter,  jemand,  dessen  Inneres  feste 
und  klare  sittliche  Gesichtszüge  aufweist.  Ist  der  Mensch  eine 
sittliche  Persönlichkeit  geworden,  so  wird  er  sich  als  ein  tätiges 
Mitglied  der  Gesellschaft  beweisen  und  ist  befähigt,  das  von  ihm 
Errungfene  dem  Granzen  dienstbar  zu  machen.  Doch  kann  man  die 
sittliclie  Wertschätzung  nicht  lediglicl^  \  om  Wirken  ins  Grosse  und 
Weite  abhängig  machen ;  es  [^'ehört  dazu  ebenso  notwendig 
Treue  in  der  Pflichterfüllung  auch  im  kleinsten.  Auch  hei  diesem 
Punkte,  bei  der  Sittlichkeit,  sehen  wir,  dass  wir  Bildung  durchaus 
nicht  als  Ausstattung  bezeichnen  können,  dass  sie  vielmehr  Aus> 
gestaltung  ist  Ohne  eigne  sittliche  Arbeit  an  sich  ist  diese  Aufgabe 
nicht  zu  lösen.  Gewiss  bilden  Erzieher,  Lehrer,  Verhältnisse  und 
Schicksale  den  Menschen;  aber  sie  sind  doch  dabei  nur  mehr  oder 
minder  Gehilfen.  Bildun;^^  ist  nicht  lediglich  das  Erzeugnis  fremder 
Arbeit  am  Menschen.  Der  Meister,  der  den  rohen  Stoff  der  Natur- 
anlage zur  Kunstgestalt  formt  ist  jeder  Mensch  för  seine  eigne 
Person;  er  hat  sein  Werk  im  eignen  Innern.  —  Sehen  wir  genauer 
zu,  so  finden  wir  auch  hier,  dass  ein  blosses  Formen  des  Stoffes 
noch  keine  Ausgestaltung  ergibt.  Gebieterisch  \  erlangt  die  Menschen- 
natur vor  dem  Gestalten  und  neben  ihm  heriautcud  ein  .Ausscheiden 
von  Stoff.  „Zwei  Seelen  wohnen,  ach,  in  meiner  Brust",  sagt  Alt« 
meistcr  Goethe,  und  die  Bibel  redet  im  Römerbriefe  gleichfalls  vom 
Widerstreit  des  Guten  und  Bösea  Plato  stellt  denselben  Gedanken 
unter  dem  Bilde  eines  Zwiegespannes  urserer  Seele  dar.  Daran 
denkend,  kommen  wir  zu  dem  Schlüsse,  dass  Menschcnbildung  die 
Uberwindung  der  Gegensätze  erfordert,  eine  Kritik  des  unreinen 
Herzens.  Im  gewissen  Sinne  muss  die  menschliche  Seele  umgebildet 
werden,  und  diese  Arbeit  vollzieht  sich  durch  Bekämpfung,  Be- 
schränkung und  Oberwindung  des  in  ihr  wohnenden  Niedrigen  und 


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)sen.  Dieser  Kampf  geht  dem  Gestalten  voraus,  begleitet  dasselbe 
er  auch.  Wir  stehen  auch  hier  völlig  auf  dem  Hoden  der 
dagogik  Herbarts.  Nach  Herbart  erzeugt  die  Tat  den  Willen 
s  der  Begierde  (All^.  Päd.,  3.  Buch,  4.  Kapitel,  V.).  Begehren 
d  Wollen  einrs  Menschen  ist  sehr  mannisijfach.  Die  verschiedenen 
1 /chvüllun*^cn.  wie  sie  aus  dein  mannigfachen  Begehren  stammen, 
int  Mcrbart  den  objektiven  Charakter.  Weil  sie  so  mannigfacl\ 
d,  sich  so  oft  widersprechen,  so  kommt  es  oft  zwischen  Innen 
n  Kampf.  Jedes  Wollen  sucht  sich  in  diesem  Kampfe  zu 
naupten,  und  (lemje:iii.;cn,  das  durch  grössere  Stärke  und  Klarheit 
i  Ubergewicht  erhält,  muss  sich  alles  übri;:^c  fii«^en.  So  ist  es 
on  schwer,  den  objektiven  i  eil  des  Charakters  in  Übereinstimmung 

sich  selbst  zu  bringen.  Geschehen  aber  muss  das;  es  gehört 
1  Wesen  der  Bildung,  nicht  Charakterlosigkeit  zur  Folge  zu  haben, 
u'akterlos  nennt  man  einen  iMenschen,  wenn  seine  Handlungen 
nals  übereinstimmend  sind,  wenn  Temperament,  Neigung, 
vohnheit  usw.  sie  stets  entscheidend  beeinflussen,  also  die  aller- 
ersprechcnd.sten  Handlungen  zutage  treten.  Bildung  muss 
rerseits  auch  das  böse  Wollen  bekämpfen  und  unterdrücken, 
lit  es  sich  nicht  zu  hö^cn  Grundsätzen  herausbilde,  die,  wenn 
zur  herrschenden  Macht  im  rremüte  werden,  den  unsittlichen 
rakter  kennzeichnen.  Dagegen  nui>s  das  Wollen,  das  sicli  auf 
Gute  und  Rechte  richtet,  unterstutzt  und  gestärkt  werden.  Auf 
nd  einzelner  gleichartiger  Willensakte  entstehen  dann  durch 
•erzepUon  sittliche  Allgemeinwollungen.  —  Ausser  diesem  Wider- 
t  im  objektiven  Teil  des  Charakters  gibt  es  noch  einen  zweiten 
ipf,  den  zwischen  objektivem  und  subjektivem  Charakter. 
>art  sagt:  .,Der  Mensch  beobachtet  sich  selbst;  er  möchte  sich 
cifen,  sich  gefallen,  sich  leiten"  (.\llg.  Päd.,  3.  Buch,  1.  Kapitel,  I.). 

Wollen,  das  er  bei  dieser  Selbstbeobachtung  bereits  vorfindet, 
!er  objektive  Teil  des  Charakters:  es  wurde  dieses  Wollen  vorher 
I'inzclwolUn  f:^cnannt.  In  und  niit  der  Selbstbeobachtung  ent- 
abcr  ein  neues  Wollen.  Ms  resultiert  aus  den  bereits  vor- 
enen  Vorstellungsmassen  und  aus  dem  bisher  erzielten  Allgemein- 
;n  oder,  wenn  der  Charakter  reifer  geworden  ist,  aus  den 
mnenen  Vorsätzen,  Maximen,  Grundsätzen.  Herbart  nennt  es 
subjektiven  Charakter  (Umriss,  3.  .\bschnitt,  Kapitel  3,  §  143 
47).  „Das  Bemühen,  sich  aufzufassen,  wirkt  unmittelbar  als  ein 
ihen,  sich  zu  befestigen;  denn  das  Festere  wird  dadurch 
lern  minder  Festen  noch  mehr  im  Bewusstsein  hervorgehoben. 
iVf  ensch  kommt  dadurch  leicht  zu  irgend  einer  Art  von  Einheit 
sich  selbst.  ...  So  erheben  sich  die  Her\'orragungcn  des 
■ctiven  zu  Gnmdsätzen  in  dem  Subjektiven  des  Charakters,  und 
herrschenden  Neigunp[en  sind  nun  Ic^^alisiert."  i-Mlg.  Pädag., 
ch,  I.  Kap.  IL)  „Kommt  der  subjektive  Teil  des  Charakters 
eife,  so  entstehen  nacheinander  Vorsatze,  Maximen,  Grundsatze. 


—    100  — 

Damit  hängen  Subsumtionen.  Schlüsse,  Motive  zusammen.  Diese 
Motive  gelten  zu  machen,  wird  oft  Kampf  kosten.  Die  Schwäche 
oder  Stärke  des  Charakters  wird  sich  danach  bestimmen,  ob  beide 
Teile  desselben  zusnmmenstimmcn  oder  nicht.  Das  Sittliche  mus 
in  beiden  l;ci:;eii:  sonst  ist  die  Stärke  nicht  einmal  eruüiischt." 
(Uniiiss,  3.  Abschnitt,  Kap.  3,  §  147-)  iüldung  iiat  daiiir  zu  sorgen, 
dass  ein  einheitlicher  Gedankenkreis  entsteht,  nicht  mehrere  Kreise, 
sonst  wird  das  Wollen  und  Handeln  nicht  übereinstimmen;  der 
Menscli  ist  charakterlos.  -  -  Wird  dieses  l)ekäinj»fende.  bescln änkende, 
aussondernde  Schaffen  versäumt,  so  entstein  keine  waiire  Bildung. 
Man  erzielt  dann  höchstens  eine  gebrechliche  Kunstgeslalt,  an  der 
sich  leicht  die  Versäumius  rächt;  „denn  die  Elemente  hassen  das 
Gebild  der  Menschenhand". 

Fassen  wir  das  Gesagte  zusammen,  so  kommen  wir  mit  Hauber 
zu  der  Definition:  „Bildung  ist  Ausgestaltung  des  Menschen  zu  einer 
in  sich  liarmonischen  I.ebenserscheinuni;."'  Sie  ^ehi  dadurch  vor 
sich,  dass  das  uatUrhclie  West'.u  des  Mensciicn  aus  dem  an  sich 
rohen  Zustande  herausgearbeitet  wird,  wobei  die  sündhaften  Elemente 
ausscheidend  bekämpft  werden.  Bei  dieser  Tätigkeit  muss  der  zu 
Bildende,  indem  er  sich  selbst  entwickelt  und  selbst  beschränkt, 
sich  die  vorhandenen  HildunL^selcmente  aneii^ncn,  sie  sichten  und 
assimilieren,  und  das  in  einem  solchen  Grade,  daiss  er  imstande  ist, 
sich  im  Leben  zu  orientieren  und  mit  dem  Ganzen  als  Glied  in  die 
Wechselbeziehung  des  Empfangens  und  Wirkens  zu  treten.  (Vgl. 
Artikel  „Bildung"  von  Hauber  in  Schmids  Encyklopädie.) 

Es  würde  nun  noch  erübrigen,  Bildun|]f  als  das  Abgeschlossene 
zu  betrachten,  und  wir  müssten  es  als  das  Resultat  der  vorher 
gekennzeichneten  Ausgestaltung  bezeichnen.  Hierbei  ist  jedoch  zu 
bedenken,  dass  ein  Endresultat  nie  erreicht  wird.  Es  ergeht  uns 
da  wie  einem  Menschen,  der  einen  Berg  erklimmt:  je  höher  der 
Mensch  steigt,  desto  !2frösser  wird  sein  Gesichtskreis,  und  somit  wird 
das,  was  man  als  festes  Resultat  anzusehen  versucht  war,  nichts 
weiter  als  eine  neue  Station  auf  dem  Bildungswege.  Bildung  ist 
also  auch  als  bleibende  Qualität  nichts  Fertiges,  nichts  endgültig 
Abgeschlossenes,  sondern  ein  bestandiges  Werden. 

Lässt  sich  aus  dem  oben  Gesagten  in  keiner  Weise  verkennen 
dass  es  die  Bemüiiung  eines  jeden  sein  müsse,  wahre  Bildunir  an- 
zustreben, so  ergibt  sich  daraus,  dass  bereits  in  der  Jugend,  als  der 
Zeit  der  grossten  Büdsamkeit,  bei  dieser  Gestaltung  der  Hauptteil 
der  Arbeit  geleistet  werden  muss.  Erziehung  und  Unterricht  müssen 
also  stets  dieses  Zid  vor  Augen  haben.  Sie  stellen  den  Weg  dar, 
auf  welchem  der  wahren  Bildung  zugestrebt  werden  muss;  die 
Bikluni^  selber  ist  das  Ziel  jener  beiden,  und  im  Hinblick  auf  dieses 
Ziel  müssen  beide  alle  iiirc  Veranstaltungen  tretilen. 

Wenden  wir  uns  zunächst  dem  Unterricht  zu.  Damit  er  zur 
Bildung  führe,  muss  von  ihm  verlangt  werden,  dass  er  den  ganzen 


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ienscheri  ^^lciclimässi|^  cri^reife.  Will  der  l'ntrrriclu  nicht  den 
urwurf  des  Mechanismus  erhalten,  sondern  die  Selbsttätigkeit  des 
j^üngs,  die,  wie  wir  gesehen  haben,  schliesslich  doch  nur  allein 

I  wahrer  Bildung  führt,  in  Anspruch  nehmen,  so  mtiss  er  bezüglich 
»  Intellekts  an  den  vorhandenen  Bewusstseinsinhalt  anknüpfen 
id  ihn  durch  natui^emässe  und  zielbcwusste  Leitung  zu  weiteren 
itv.  il  klunf^en  fortfuhren.  Das  geschieht  durch  Vcrmchruncr, 
larung,  Verbindung  und  Ordiumi^  der  Vorstellungen.  Vermehrt 
rd  der  Bewusstseinsinhalt  täglich ;  jede  Unterrichtsstunde  liefert 
was  Neues.   Das  geistige  Bild  in  dem  Schüler,  der  Mikrokosmos, 

II  femer  mit  der  Aussen  weit,  dem  Makrokosmos,  übereinstimmen, 
in^m  müssen  die  Vorst  eil  un{::fcn  der  \\  irkhchkeit  ent<;prcchcn : 
;  \'orstrllun<^cn  müssen  richtig  sein.  Das  erfordert  einmal  auf- 
:rksame  Beobachtung  und  bei  derselben  Anspannung  aller  Sinne, 
drerseits  aber  auch  Richtigstellung  desjenigen,  was  durch  die 
Inestätigkeit  allein  nicht  so  erkannt  werden  kann,  wie  es  in 
irklichkeit  ist.  Ferner  müssen  die  bereits  erworbenen  Vor- 
llungen  strcn;^  sachlich  aufeinander  bezogen  und  ihre  Wrhältnisse 
Mnandcr  bestimmt  und  klar  erkannt  werden.  Aul  diese  Weise 
bindet  sich  mit  der  Richtigkeit  die  scharfe  Trennung  des  Ähn- 
len,  und  die  Forderung  der  Klarheit  wird  erreicht  Eine  grosse 
il  von  \^orstcllungcn  hat  nun  aber  nicht  zugleich  eine  intensive 
rkiin'^^skraft  zur  I'olge ;  diese^  h  itv^'t  vielmehr  von  der  innigen 
rknüptung  der  \  orstcllungcn  niiieinander  ab.  und  muss  der 
terricht  sich  eine  solche  angelegen  sein  lassen.  Allerdings  liegt 
der  Seele  schon  a  priori  das  Bedürfnis,  die  Vielheit  der  Vor- 
hinL(cn  ZU  vereinigen.    Sic  \  t>ll/.ieht  diese  Zusammenfassung  nach 

bekannten  Gesetzen.    Der  Lehrer  vermag  es  aber  im  Unterrichte, 

V^organg  zu  erleichtern,  zu  sichern  und  zu  steigern  diuch  Vor- 
citung  des  Neuen,  Fingerzeige  auf  Verwandtes  und  durch  Übung. 
;  Ergebnis  der  Vereinigung  ist  Neben-,  Unter-  und  Überordnung. 

nächste  Folge  der  Verknüpfung  und  Ordnung  ist  die  Möglichkeit 

schnellen  Durchlaufens  und  der  Beherrschung  der  Vorstellungs- 
sen,  die  weitere  das  schnelle,  sichere  und  richtige  l^rteilen  und 
licsscn.        Sorgt  der  l  ■nterricht  auf  diese  Weise  luv  die  Bildung 

Intellekts,  so  pflegt  er  auch  zugleich  das  Gemüt.  Mit  der  V^or- 
ung  ist  das  Gefühl  verbunden.  Wird  in  der  Vorstellung  der 
:h  äussere  Reize  veranlasste  „innere  Vorgang  objektiviert",  so 
i/cichnct  sich  das  Gefühl  als  .,das  Ik'wusstwcrdcn  desselben 
2^aii;^'es  nac}i.  der  subjekti\en  Seite".     1  >ie  Bedeutung  der  (iefühle 

darin,  dass  sie  Antriebe  für  das  Wollen  sind.  Weil  nur  lebhafte, 
ce  und  herrschende  Gefühle  diese  ihre  Aufgabe  erfüllen,  so  folgt 
US,  dass  der  Unterricht  entsprechend  auf  sie  einwirken  muss, 
ihnen  die  hervorgehobene  Verfassung  zu  geben.    Der  Einfluss 

sie  ist  nur  durch  Einwirkung  auf  die  Vorstellungen  möglich, 
littelbar,  frisch  und  in  angemessener  Starke  müssen  die  Reize 


—    102  — 


wirken;  durch  Wicdeiholuncf  müssen  die  Gefühle  ;^^cstarkt  und  nach- 
haltig wirksam  gemacht  werden;  durch  Bildung  von  klaren,  richtigen 
Verstellungen  müssen  sie  aber  auch  von  allem  Unhaltbaren  befreit 
werden  zum  Zwecke  der  Beherrschung,  damit  nicht  „das  Herz  über^ 
fliesse  zum  Nachteile  für  klare  Entscheidung  und  Entschtiessung^.  — 
Das  entscheidende  Moment  bei  der  Bildung  ist,  wie  wir  preschen 
haben,  der  Charakter;  darum  darf  der  Unterricht  die  Pfle^^c  des 
Willens  nicht  vergessen.  Von  dessen  Stellung  zu  den  Gefühlen 
und  Vorstellungen  sagt  Wandt:  „In  dem  Willen  erfasst  das  Subjekt 
unmittelbar  sein  eignes  inneres  Handeln ;  in  dem  Vorstellungsinhalte 
spicg^elt  sich  eine  von  dem  Subjekt  verschiedene  Wirklichkeit,  die 
Beziehungen  aber,  die  zwischen  beiden  stattfinden,  äussern  sich  in 
den  Gefühlen  und  Gemütsbewegungen."  Der  Charakter  verlangt, 
dass  der  Mensch  weder  Projektenmacher  sei,  noch  unentschlossen 
hin  und  her  schwanke;  also  ein  tatkräftiger  Wille  wird  gefordert 
Derselbe  setzt  aber  einen  Gedankenkreis  voraus,  wie  er  im  Vorher- 
gehenden gezeichnet  wurde;  denn  nur  bei  einem  solchen  ist  es 
möglich,  das  Ziel  schnell,  richtig  und  klar  zu  sehen  und  nicht  in 
Verlegenheit  zu  geraten  wegen  der  Wahl  der  geeigneten  Mittel  zur 
Erreidiung  des  Zieles.  GeseUt  sich  zu  diesem  Bewusstsetnsinbalt 
noch  ein  lebhaftes,  nachhaltiges  Gefühl,  so  erlangt  der  Wille  die 
erforderliche  Stärke.  Die  Vielseitigkeit  des  Lebens  und  die  mannig- 
faltigen \'erhältnisse  erfordern  einen  vielseitigen  Willen.  Die  Vor- 
bedingung eines  solchen  ist  wiederum  ein  reicher  VorsteUungskreis. 
Armut,  Ode  und  Leere  des  Geistes  und  Gemüts  werden  nie  zu 
einem  kraftigen  und  vielseitigen  Wollen  Veranlassung  geben.  — 
Ausser  den  hier  genannten  Anforderungen ,  welche  der  Begriff 
Bildiini;  an  den  Unterricht  stellt,  muss  noch  seines  Einflusses  auf 
die  Unterrichtsfächer  gedacht  werden.  Sic  erhalten  ihren  Platz  im 
Lehrplan  der  Schule  nur  mit  Rücksicht  auf  den  Bildungswert,  der 
ihnen  innewohnt  Nicht  nach  ihrer  materiellen  Rentabititat  fär  das 
Leben  ist  zu  fra^^^en,  wohl  aber  danach,  welchen  Beitrag  sie  zur 
Gewinnung  der  Bildung  liefern.  Doch  ist  hier  nicht  der  Ort,  näher 
auf  diesen  Wert  einzuj:(ehen.  Es  in^nüge  der  Hinweis,  dass  die 
einzelnen  Disziplinen,  wie  sie  gegenwärtig  in  der  Schule  vorhanden 
sind,  die  ScbiUer  allseitig  zu  bilden  vermögen,  dass  die  Schule  aber 
auch  die  Pflicht  hat,  dem  Einlass  begehrenden  Meuen  prüfend  ins 
Gesiciit  zn  schauen  und  ihm,  falls  es  der  Prüfung  standhält,  die 
Tore  weit  zu  öffnen,  umgekehrt  veraltete  Stoffe  ohne  Bedenken 
preiszugeben.  —  Was  die  Anordnung  der  einzelnen  Stoffe  betrifft, 
so  ist  es  nach  dem  oben  Gesagten  nicht  zweifelhaft,  dass  der 
Begriff  der  Bildung  eine  möglichst  vielseitige  Verknüpfung  veriangt 
Somit  müssen  die  verwandten,  gleichartigen  Stoffe  eines  L'nterrichts- 
gebietes  gleichzeitig  auftreten,  damit  die  ähnlichen  Vorstellungen 
sich  gegenseitig  fördern  und  zu  einer  grösseren  Klarheitsstufe  empor- 
heben, die  Verknüpfung  auch  leicht  und  sicher  erfolge.  Dasselbe 


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—   103  — 


auch  bezüglich  des  Gleichen  und  Ähnlichen  innerhalb  ver- 
dener Disziplinen.  Erreicht  wird  diese  Forderuno^,  wenn  einmal 
«ehrplan  mit  Rücksicht  darauf  autgcstellt  wird,  andrerseits  jede 
iofi  es  nicht  unterlässt»  das  Verwandte  aus  derselben  Disziplin 

aus  fremden  Unterrichtsstoffen  veifrleichend  und  verknüpfend 
izuziehen. 

\'on  ähnlicher  Bedcutun^f  ist  der  Begrifif  Bildung  für  die 
lerische  lätis^keit.  Auch  sie  knüpft,  gleich  dem  Unterrichte, 
cn  bereits  vorhandenen  Besitz  an.  Ausgangspunkt  ist  das  in 
n  keimartig  vorhandene  Ghite  und  werni  es  noch  so  winzig 
Von  ihm  die  häusliche  Zucht  «is;  die  Schule  hat  dann 
W'rk  des  Hauses  for/uführen  und  zu  cr^^änzcn.  Wie  wir  schon 
er  Entwicklung  des  Begriffes  Bildung  salien,  gilt  es,  die  Neigung 
Niedrigen  und  Bösen  zu  hemmen,  zu  unterdrücken,  gänzlich 
irotten,  das  Gute  aber  zu  pflegen,  zu  fördern,  dass  es  gedeihe 
fröhlich  wachse.  Zu  dem  Zwecke  muss  die  Unterordnung  des 
ngs  unter  den  Willen  des  Erziehers  der  erste  Zweck  aller 
iiichen  Arbeit  sein.  Die  unbedingte  Unterordnung  unter  die 
rität  des  Krziehers  ist  aus  dem  Grunde  so  streng  zu  verlangen, 
dem  Kinde  die  Einsicht  vollständig  mangelt  und  weil  es  infolge- 
n  nur  auf  Befriedigung  seiner  Begierden,  mögen  dieselben  noch 
>h  sein,  dringt  Lernt  das  Kind  dieses  früh  nicht,  so  wird 
rhin  Nci<.,ain'.^  zur  Willkür  immer  die  I"'olf^e  sein.  Selbst- 
tndlich  verwandelt  sich  der  unbedinf:,ne  Gehorsam  in  den 
Glichen,  sobald  die  Einsicht  bei  dem  ZögUnge  vorhanden  ist. 
auch  bei  dem  gesetzlichen  Gehorsam  darf  es  nicht  bewenden ; 
i  Legalität  ist  noch  keine  Sittlichkeit,  nur  eine  VorhaUe  zu  ihr. 
Erzieher  tritt  immer  mehr  zuräck;  die  attlichen  Grundsätze  im 
lg  erstarken  immer  mehr  und  werden  eine  solche  Macht,  dass 
ch  das  gesamte  Kinzelwolien  unterwerfen.  Dann  sprechen  wir 
einem  sittlichen  Charakter.  Also  auf  Abgewöhnuug  alles 
:hten  und  Unanständigen  zielt  die  Tätigkeit  des  Erziehers  vor 
zuerst  ab.  Zugleich  aber  ist  auf  gute  Gewöhnungen,  auch 
re,  hoher  Wert  zu  legen;  denn  .sie  bilden  dir  rrrundlage  aller 
hen  Lebensordnung.  Sorgt  der  Unterricht  lur  Feststellung 
nmter,  fester  Grundsätze,  so  hat  die  Erziehung  zu  bewirken, 
die  Theorie  in  Praxis  umgesetzt  wird,  dass  der  Same  der  Rede 
wehre  feste  Wurzeln  schlage.  Sie  muss  des  Zöglings  Crewissen 
en,  auf  dass  dasselbe  ihm  das  Rechte  vorhat  und  ihn  vor 
gen  eindringlich  warnt.  Die  Macht  der  Gewohnheit  muss  in 
3ienst  der  Zucht  gestellt,  und  durch  treues  Festhalten  am 
i  muss  die  Gewohnheit  eines  sittlichen  Wollens  erzeugt  werden; 
st  Grundbedingung  eines  sittlich-religiösen  Charakters.^)  Die 


<  Herbart  spricht  demgeraäss  von  <l<-ni  Gedächtnis  des  Willens  nnd  <eigt  flberall, 
.  Gcwonobeit  in  dca  Dienst  der  Zucht  gestellt  werden  soll. 


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—    I04  — 


bildende  Tätigkeit  kann,  wie  wir  Lieschen  haben,  nur  Gehilfin  der 
Sclbstbildiiiij^  sein.  Die  l^r/.iehung  lockt  die  Sclbsttati<;keit  des 
Zöglings  dadurch  hervor,  dass  sie  ihm  Charaktere,  abgerundete 
Lebenserscheinungen  entgegen  und  zur  Anschauung  bringt.  Vor« 
bilder  greifen  am  schäxften  ein.  —  Da  wird  uns  auch  der  Unter* 
schied  zwischen  Erziehung  und  Bildung  klar.  Erziehung  im  eigent* 
liehen  Sinne  erfolgt  immer  durch  Menschen  und  zwar  durch  solche, 
deren  Stellung  zum  Zö^^ling^e  ein  Autoritätsverhäknis  ergibt:  Bildung 
dagegen  ist  eine  Tätigkeit,  an  der  ausser  dem  Erzieher  noch  vieles 
teilnimmt,  vorzüglich  der  zu  Bildende  selbst.  ,,So  sind  Erzidiung 
und  Unterricht  zwar  Momente  der  Bildung,  geben  ihren  Beitrag 
dazu  von  aussen:  diese  selbst  aber  entsteht  erst  dadurch,  dass  das 
durch  jene  Gebotene  angeeignet,  inwendij.;  und  individuell  verarbeitet 
wird.  Jene  bilden  an  dem  Menschen,  sich  bilden  muss  jeder 
selbst"  (Hauber). 

Der  Zweck  aller  Schulen,  so  mannigfach  und  reich  gegliedert 
sie  auch  erscheinen  mögen,  ist  also  Eretrebung  der  BUdun;^.  Eine 
alleinige  Ausnahme  hiervon  machen  nur  diejenigen,  welche  eine 
ausgesprochene  Berufs-  oder  FachbikUiiif^  überliefern  wollen.  Jedoch 
die  Bildung  zur  Vollendung  zu  bringen,  das  liegt  nicht  in  der  Macht 
des  Lehrers  und  Erziehers,  am  wenigsten  kann  es  das  Ziel  der 
Volksschule  sein.  Mancherlei  Art  sind  die  Schranken.  Die  Jugend- 
bildun^^  darf  nicht  vom  allgemeinen  Hec^riffe  des  Menschen  aus- 
gehen, da  es  keinen  Menschen  in  abstracto  ^il)t.  Wie  weit  zu 
gehen  ist,  das  hängt  einmal  von  der  Individualität  ab.  Denn  die 
menschliche  Natur,  die  mit  ihren  besonderen  Anlagen  und  Kräften 
ausgestattet  ist,  lässt  sich  nicht  aufheben,  nicht  absolut  umändern. 
Bei  manchen  Menschen  findet  sich  vollständige  Unfähigkeit  zu  dieser 
oder  jener  Lebcnsäusserunpf.  Wollte  man  das  Versagte  gewaltsam 
herbeiziehen,  so  würde  man  nur  Missbildung  erlangen.  X^ielmchr 
gilt  es,  die  relativ  bestimmte  Natur  zu  pflegen  und  zu  gestalten.  — 
Liegt  hier  der  Grrund  in  der  Natur  des  zu  Bildenden,  so  sind 
andrerseits  auch  äussere  Verhältnisse  Ursache  davon,  dass  der 
BcL^HtT  der  al  1  seitit^cn  Bildun^^  begrenzt  werden  muss.  Wohl 
nicmantl  oder  docli  nur  sehr  wenig  Hochbeifabte,  vom  Glürk 
Begünstigte  können  zu  allseitiger  Bildung  gelangen.  Somit  ist  die 
Forderung  der  harmonischen  Ausbildung  nur  als  Ausgestaltung  des 
von  der  Natur  Gegebenen  zu  verstehen.  In  Ubereinstimmung  damit 
fordert  Herbart  vielseitiges  Interesse,  nicht  allseitiges.*)  Der  Volks- 
schule stellen  sich  ausserdem  oft  die  häuslichen .  örtlichen  und 
geselligen  Verhäitni.sse  entgegen,  welche  an  dem  Werke  der  Bildung 
als  verborgene  Mitbildner  teilhaben.  Weiter  ist  die  kurze  Spanne 
Zeit  zu  bedenken,  welche  dieser  Bildungsanstalt  zugemessen  ist 


')  Vergleiche  hierzu:  „Pädagogische  Studien"  1907,  Heft  I,  Seit;  4  oben  «od 
Seite  8—13. 


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—   I05  — 

so  die  Macht  der  Volksschule  besonders  beschränkt,  so  kann 
Forderung  von  keiner  Schule  erfüllt  werden,  nämHch  die,  die 
ktere  7Air  Reife  zu  bringen ;  denn  dieselben  bildcTi  sich,  wie 
)ichter  sagt,  „im  Strom  der  Welt".  Es  wird  also  klar,  dass 
ehrer  und  Erzieher  sich  für  seine  praktische  Tätigkeit  ein  eng 
nztes  und  erreichbares  Ziel  setzen  muss.  Gewiss  muss  auch 
/olksschule  die  leitenden  Gedanken  für  I'nterricht  und  Kr- 
i<jf  aus  dem  liilduni^siclcale  herleiten;  sie  hat  sich  aber  auf  die 
ge,  d.  h.  auf  die  Grundlegung  der  Bildung  zu  beschränken, 
löchste  erreichbare  Ziel  wäre  etwa  dieses«  dass  die  jungen 
:hen  dazu  befähigt  werden,  sich  nach  BedürTnis  und  mit 
enen  Mitteln  jede  Art  von  Bildung  aneignen  zu  können, 
irum  muss  auch  etwas  Abj^eschlossenes  verlan<^t  werden. 
Ibe  ist  geschehen,  indem  man  iijcfordcrt  hat,  „der  der  Schule 
chsenc  Mensch"  miisse  diejenigen  „Kenntnisse  und  Fertigkeiten 
en,  welche  ihn  befähigen,  sich  als  Glied  einer  grösseren 
inschaft  zu  behauj>ten".  Diese  Forderung  ist  etwa  gleich- 
lend  mit  „praktischer  Tüchtii^kcit".  Selh-^' verständlich  soll 
olksschule  nur  diejenigen  Kenntnisse  und  1*  crti^keitcn  über- 
n,  deren  jeder  ohne  Rücksicht  auf  einen  besondern  Beruf 
f;  denn  sie  ist  keine  Beniftschule.  Das  engere  Ziel  derselben 
so  „besondere  Berücksichtigung  derjenigen  Kenntnisse  und 
keiten,  deren  Besitz  das  Leben,  das  Fortkommen  in  der  Welt 
•incm  jeden  ^gebieterisch  fordert,  innerhalb  des  Rahmens  der 
leinen  Bildung".  Würde  sie  die  harinonische  Gestaltung  ver- 
issigen,  so  wäre  ihre  Arbeit  nicht  Bildung;  wenn  sie  aber  die 
fntsse  des  Lebens  nicht  beachtete»  so  wäre  sie  unpraktbch. 
idet  wird  die  Bildung  durch  das  Leben  mit  seinen  freudigen 
raun«^en  Schicksalen. 

)ie  Jet/t/eit  ist  der  Bildung  von  Charakteren,  wcnii^  ;::fiinstig. 
Verdunklung  der  Aufgabe,  Persönliclikeiten  herauszubilden, 
durch  die  Ansprüche  der  Berufsarten  ein.  Sie  fordern 
:erjsch  spezielle  Kenntnisse  und  Fertigkeiten.  Darum  geht 
trcbcn  der  meisten  Menschen  dahin,  sich  in  möglichst  kurzer 
dieselben  aus  dem  reichen  Schatze,  der  Überfülle  de^^  Wissens 
ignen.  Nach  umfassenden  Kenntnissen  und  Fertigkeiten  für 
erwählten  Beruf  drängt  alles.  Die  ruhige,  innere  Aneignung 
iusgestaltung  kommt  dabei  oft  zu  kurz.  Diesem  Zeichen  der 
gegenüber  cfarf  der  Lehrer  und  Erzieher  nie  vergessen,  dass 
Aufgabe  eine  höhere  ist  als  Dressur:  er  soll  Ju;;endbildner 
Nur  wenn  er  fest  im  Auge  behält,  dass  er  immer  Mitarbeiter 
/erke  der  Bildung  sein  soll,  kann  seine  Arbeit  wirkÜcii  von 
.  sein. 


—    I06  — 


m. 

Wie  hat  der  Unterricht  auf  den  kausalen  Zusammenhang 
kulturgeographischer  Stoffe  hinzuarbeiten? 

Von  N.  Roetttl,  WolUn  i/P. 

Scbluss. 

4»  Auf  der  Arbeit  des  Menschen  als  Ackerbauer,  Viehzüchter 
und  Ber^ann  beruhen  eine  grosse  Zahl  anderer  nicht  minder 

wichtigen  Tätigkeiten. 

Was  der  Landmann  auf  seinem  Acker  erntet,  nennen  wir  Roh- 
erzeugnisbc  oder  Rohprodukte  der  Landwirtschaft  Mast- 
vieh, Pferde,  die  Wolle  der  Schafe,  Milch  der  Kühe  sind  Roh> 
Produkte  der  Viehzucht;  Kohlen,  Erze,  Gesteine  die  des  Bergbaues. 

Manche  dieser  Rohprodukte  finden  unmittelbare  Verwertung 

(Beispiele  I),  andere  aber  werden  weiter  verarbeitet,  um  neue  Bedarfs- 
stoffe daraus  tu  gewinnen  (KartofTel-Brennerei-Spiritus,  Stärkefabrik, 
Stärke],  und  noch  andere  sind  überhaupt  als  Rohprodukte  gar  nicht 
zu  brauchen,  sie  müssen,  wenn  der  Mensch  sie  verwenden  will, 
erst  durdi  viele  Hände,  durch  zahlreiche  Maschinen  gehen,  ehe  sie 
zu  verwerten  sind.  (Erze,  Pochhämmer,  Schmelzhütten,  Giessereien, 
Eisen-  und  Stahlwerke,  Maschinenfabriken.) 

Die  Tätigkeit  des  Menschen,  durch  welche  Roli- 
produktc  weiter  verarbeitet  werden,  nennen  wir  Ge- 
werbetätigkcit  oder  Industrie. 

Sie  wurde  früher  ausschhesslich  durch  die  geschickte  Hand 
des  Meisters  ausgeführt,  war  also  Handwerk. 

In  dem  Masse  aber,  als  die  Bevölkenii^  zunahm,  die  BedOifnisse 

der  Menschen  grösser  und  vielseitiger  wurden,  reichte  die  Tätigkeit 
der  einzelnen  Handwerker  nicht  mehr  aus.  Man  musstc  schneller 
arbeiten,  auch  gab  es  Rohprodukte,  die  gar  nicht  durch  Menschen- 
hand verarbeitet  werden  konnten  (Erze).  Der  Menschengeist  erfand 
deshalb  Maschinen,  baute  Fabriken,  und  so  entwickelte  sich  die 
Grossindustrie  oder  Fabriktätlgkett 

a)  Die  Landwirtschaft  liefert  Kartoffeln  in  die  Brennereien  und 

Stärkefabriken,  das  Korn  in  die  Mühlen,  Rüben  in  die  Zucker- 
fabriken. Dabei  ist  zu  beachten,  dass  solche  Fabriken  in  den 
Gegenden  sind,  deren  Boden  für  den  Anbau  der  Rüben  geeignet 
ist,  ein  Beweis  dafür,  wie  die  Industrie  oft  örtlich  von  der 
Erzeugung  des  Rohproduktes  abhängig  ist.    Weitere  Beispiele  l 


.  ijui.  u  i.y  Google 


den  Wald  schlicsscn  sich  Sattem ühlcn,  Teer-  und  Pech- 
ercicn,  Spiclwarenindustrie,  Instrumentenfabhkation ,  Papier- 

ikation. 

Verarbeitung  von  Faserstoffen  des  Tier-  und  Pflanzen- 
hes  ist  Sache  der  Gewebe»  oder  Textilindustrie.    Die  in 

-acht  kommenden  Rohstoffe  sind:  Flachs,  Schafwolle,  Baum» 

!e,  Seide  und  eine  Art  Hanf  aus  Ostindien,  Jute  genannt. 

Aus  diesen  Faserstoffen  hat  die  Textilindustrie  Gewebe  her- 
ellcn.  Wenn  auch  die  deutsche  Industrie  in  Europa  näclist 
englischen  die  bedeutenste  ist,  so  bringt  sie  uns  doch  nicht 

Reingewinn,  den  die  Engfländer  erzielen,  weil  sie  z.  B.  ihre 
ifwoUe   aus   den  eigenen   Kolonien  beziehen,  während  wir 

f^Tt  ebenfalls;  kaufen  und  tlcn  hohen  Ausfuhr/o]]  entrichten 
5CU.  —  Die  verschiedenen  Gewebe  und  ihre  Haupterzeugnis* 

Bergbau  liefert  Erze.  Sie  sind  Grundlage  für  eine  viel- 
ge  hochentwickelte  Industrie  geworden,  deren  Einzelbetriebe 

h  nachstehende  industrielle  Anlagen  gekennzeichnet  werden: 
imühlcn,  Ilüttenbetrieb,  Eisengiesserei,  Maschinenfabriken, 
nkurzuarcnfabriken  (Schrauben,  Bohrer,  Zangen,  Nieten,  Nägel) 
Iwarcnfabriken,  F'abriken  für  Haus-  und  Wirtschaftsgeräte. 

Neben  der  MetaUindustrie  ist  aber  auch  die  Industrie  der 
le  und  Erden  vom  Bergbau  abhängig.  Riesengebirge,  Fichtd- 
rge,  Böhmerwald,  Erzgebirge  liefern  z.  B.  den  Granit  Er 

:  als  Fundamentstein  'Druckfestigkeit),  Trottoir-  und  Pflaster- 
( A!)nutzungsfestigkeit: ,  Grabstein  (Politurfähigkeit).  Die 
»Witterung  seines  Feldspates  und  anderer  fcUlspathaltis:Tcr 
eine  liefert  tonerdige  Massen  als  Gundlage  der  Tonvvaren- 
$trie  (Steingut,  Porzellan).  Bei  der  Verwitterunfr  des  Granits 
t  Quarz  übrig  (Glashütten).  Das  rheinische  Schiefergebirge 
das  Rohmaterial  für  Dachziegel,  Schiefertafeln,  Griffel, 
steinindustrie  —  Kaliwerke  von  Stassfurt;  künstliche  Dünge- 

Ein  ÜberbUck  über  die  Industrietätigkeit  Deutschlands  lehrt, 
h  ihre  wichtigsten  Hauptzweige  auf  bestimmte  Mittelpunkte 
.endriingen.  Dabei  kommt  es  auf  den  möglichst  billigen 
der  Rohstoffe  und  auf  billige  Arbeitskräfte  an,  seien  es 
anbände  oder  Naturkräftc.  Man  darf  behaupten ,  .,dass 
:rs  die  nördliche  und  nordöstliche  Abdachung  der  deutschen 
birgslandschaften  das  bevorzugte  deutsche  Industriegebiet 
tn".  Hier  liefern  Gebirge  und  Ebene  die  Rohstoffe  (Kohle, 
:e,  Wolle,  Machs)  und  die  Gewässer  bieten  mit  ihrem  starken 
billige  Betriebskrafi. 

2in  die  Entwickelung  der  Industrie  hängt  noch  von  andern 
n  ab;  zu  diesen  gehört  ein  reger  Einkauf  und  Verkauf. 


a)  Dass  ein  solcher  stattfiiulcn  muss,  lehrt  die  h  rtahning  im  kleinsten 
Orte.  Der  Landmanii  fährt  an  gewissen  ra;^^eri  in  die  Stadt,  um 
seine  Erzeugnisse  /u  verkaufen.  Der  Städter  ist  auf  sie  angewiesen, 
weil  er  selbst  nicht  Landwirtschaft  betreibt  Der  Landmann  ist, 
weil  er  landwirtschaftliche  Rohstoffe  erzeugt,  Produzent,  der 
Städter,  der  sie  braucht,  ist  Konsument.  Umgekehrt  kann 
aber  auch  der  Landmann  nicht  ohne  den  Städter  auskommen. 
(Beispiel.) 

Ks  findet  somit  ein  wechselseitiger  .-Xustausch  der  Erzeugnisse 
zwischen  Dorf  und  Stadt,  zwischen  Produzenten  und  Konsumenten 
sUtt. 

Da  aber  der  Produzent,  z.  B.  der  Tuchfabrikant  oder  Eisen- 

warenfabrikant,  nicht  immer  in  der  nächsten  Stadt  wohnt  und  selbst, 
wenn  es  der  Fall  wäre,  nicht  an  cin7,elne  Konsiimcnh-n  \erkaufen 
würde,  so  hat  sich  im  Laufe  der  Zeit  ein  besonderer  bland  von 
Leuten  gebildet,  die  die  Vcnnittlerroüe  übernommen  haben,  das 
sind  die  Kaufleute  und  Händler.  Mit  ihrer  Hilfe  gebt  der 
Austausch  von  Waren  vor  sich ;  früher  geschah  es  im  Tauschhandel 
(Beispiel:  Germanen,  Kolonien)  jetzt  mit  Hilfe  des  Geldes. 

Wie  im  kleinen  ein  solcher  Austniisch  7Avischcn  Produzenten 
und  Konsumenten  in  Stadt  und  Land  vor  sich  geht,  so  c^csrhicht 
es  auch  im  Grossen.  Norddeutsciiiand  z.  ß.  hat  keine  Steinkonle 
und  keine  Erze  (einige  Vorkommen  sind  belanglos),  seine  Fabriken 
sind  deshalb  auf  den  Bezug  aus  Gegenden  angewiesen,  die  dies 
Rohmaterial  produzieren.  Süddeutschland  wiederum  ist  Konsument 
für  landschaftliche  P>zeugnisse,  die  es  nicht  in  dem  Masse  pro- 
duzieren kann,  als  es  ihrer  benötigt  ist.  So  tauschen  Provinzen,  so 
tauschen  Lander  iiire  Erzeugnisse  wechselseitig  aus;  sie  sind  Kunden 
und  Lieferanten,  Konsumenten  und  Produzenten. 

Unsere  bedeutendsten  Lieferanten  sind  Russland,  Nordamerika, 

Grossbritannien,  unsere  hervorragendsten  Kunden  Grossbritannien, 
Österreich-Ungarn  und  Nordamerika. 

Ergebnis:  Die  für  die  Hedürfnise  des  Menschen  er- 
forderlichen Rohj)roduktc  und  Erzeugnisse  des  Kleini^cwerbes 
und  der  Industrie  sind  nicht  üljerall  in  ausreichender  Menge 
vorhanden.  Es  findet  deshalb  ein  wechselseitiger  .Austausch 
der  Erzeup;nisse  statt  Dieser  Warenaustausch  mit  Hilfe  des 
Geldes  heisst  Handel. 

Binnenhandel  —  Aussenhandel:  Ein>  und  Ausfuhrhandel 

6.  Wie  die  Entwickelung  des  industridlen  Lebens  hauptsadüich 

vom  Handel  abhängig  ist,  so  kann  auch  der  Handel  nur  unter 

gewissen  Bedingungen  gedeihen. 

Aus   der  Betrachtung:  der  heimatlichen  Verhältnisse  heraus 

gewinnen  wir  einen  Einblick  in  die  Sachlage. 


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/on  dem  Dorfe  A  fuhrt  eine  Landstrasse,  von  B  eine  Chaussee, 
Z  eine  Eisenbahn  und  von  D  führen  Land'  und  Wasserweg 

ladt. 

lat  es  längere  Zeil  j^eregtict.  ist  der  Landweg  durchgeweicht, 
'agengeleise  sind  tiei  ausi^^cfahren,  und  mancher  Bauer  besinnt 

ob  er  unler  diesen  Verhältnissen  in  die  Stadt  zum  Markte 
1  wird.  Besser  haben  es  die  Bewohner  von  B.;  des  guten 
s  wegen  werden  sie  wahrscheinlich  öfter  in  die  Stadt  kommen 
ie  von  A,  \im  zu  kaufen  und  zu  verkaufen.  Auch  die  C 
günstig  gestellt.    Sie  werden  schnell,  bequem  und  billig  in  die 

gebracht,  sind  freilich  auch  an  bestimmte  Zeiten  gebunden, 
gute  Lage  in  bezug  auf  den  Handel  hat  auch  D.  Der  Wasser* 
ist  billig  und  schont  die  Arbeitskraft  der  Pferde,  die  ander« 
•  benutzt  werden  kann. 

>  sind  also  verschiedene  Einrichtungen  vorhanden,  die  Dörfer 

er  Stadt  zu  verbinden. 

V'w  hei  uns,  so  ist's  auch  anderwärts. 

liie  Linririitun-^'en,  die  eine  denicindc,  ein  Kreis,  eine  Provinz, 
aat  gelroften  haben,  um  die  Verbindung  mit  anderen  möglichst 
id  schneU  herzustellen,  nenhen  wir  Verkehrseinrichtungen. 
)ie  Beispiele  zeigen,  dass,  wo  für  sie  ausreichend  gesorgt  ist, 

xuch  der  Handel  ^entwickelt  und  umgekehrt :  Wo  wir  einen 
iden  Handel  sehen,  wo  Einkauf  und  Verkauf  der  Waren 
von  statten  ^ehen,  da  sind  auch  -^ute  Vcrkehrscinrichtungen 
fcn  worden,  l^landel  und  \'crkchr  lassen  sich  also  gar  nicht 
landerzutrennen. 

r  Handel  wird  unterstützt  durch  gute  Strassen. 

ähere  Besprechung  der  Heimatschausseea 

r  Handel  wird  gefördert  durch  Eisenbahnen. 

isenbahnlinien  der  Heimat.  Ihre  Verbindung  mit  der  Provinzial- 
itadt  und  Berlin.  Die  wichtigsten  Orte  an  der  Bahnlinie. 
l  im  Lesen  von  Fahrplänen.  Die  PLiscnbahndirektion  stellt 
ahrpläne  unentgeltlich  zur  Verfügung.    Auch  Eisenbahakarten 

le  aus. 

ie  Gesamtlänge  der  deutschen  Eisenbahnen  (soocxj  km  1906) 
iron  keinem  europäischen  Staate  übertroffen.   Anders  ist  es, 
man  die  Dichtigkeit  des  Bahnnetzes  in  betracht  zieht,  also 

'crhältnis  der  Schienenlänge  zum  Flächeninhalt  des  Landes. 

steht  Bel|]^ien  an  der  Spitze,  wo  auf  100  qkm  18.4  km  Kisen- 
:oiiinien.  Rs  foli'en  ( rrossbritannien  mit  10,4,  dann  die  Schweiz 
und  jetzt  erst  Deutschland  mit  8,2  km.  — 

iscnbahnknotcnpunkte    sind    meist    auch   Mittelpunkte  des 
Is.   Das  gilt  insbesondere  von  Berlin,  von  wo  aus  strahlen« 
nach  allen  Richtungen  11  Linien  ausgehen;  doch  spricht  hier 


HO  — 


und  an  andern  Handels-  und  Eisenbahnknotenpunkten  der  Binnen- 
schififahrtsverkeiir  wesentlich  mit 

c)  Der  Handel  wird  unterstützt  durch  postalische  Ein- 
richtungen. 

Postkarten,  Briefbestellung,  Telegraphie,  Telephonte.  Gegensatz 

zu  früher. 

d)  Der   Handel    wird    unterstützt    durch  schiffbare 
Wasse  rstra  SS  c  n. 

Für  den  deutschen  Binnenhandel  kommen  Flüsse  und  Kanäle, 
für  den  Aussen»  oder  Welthandel  kommen  die  Meere  in  betracht 

aa)  Die  Karte  belehrt  uns,  dass  Deutschlands  Ströme  recht 

g  1  c  i  c  h  (n  ä  s  s  i  g  über  das  Land  verteilt  sind.  Das  ist  nicht 
Zufall,  sondern  hängt  von  der  Bodengestaltung  ab,  die  den 
Strömen  ihre  Bahnen  weist. 

Da  wir  ein  süd-  und  mitteldeutsches  Gebirgsiand  und  ein 
norddeutsches  Tiefland  haben,  so  erklärt  sich  der  meist  nach 
Norden  gerichtete  Lauf  der  $  Hauptströme.  Die  ver- 
hältnismässige grosse  Entfernung  des  Gebirgslandcs  von  dem 
Mündungsgebiet  bedingt,  dass  sich  der  Unterlauf  der  Ströme 
bedeutend  entwickeln  kann.  Je  länger  aber  der  Unterlauf 
eines  Stromes,  desto  ruhiger  fjliesst  sein  Wasser 
dabin,  eine  für  die  SchiiTahrt  günstige  Eischeinung. 

Neben  der  nach  Norden  gerichteten  Hauptabdachung  des 
deutschen  I  ieflandes  unterscheiden  wir  aber  noch  ein  nach 
Westen  hinweisendes  Gefalle.  Dies  zeigt  sich  einerseits  hei 
den  Flüssen  dadurch,  dass  sie  neben  der  Nord-  bezw.  Nord- 
west-Richtung alle  eine  oder  auch  mehrere  grosse  Strecken 
nach  Westen  fliessen:  die  Elbe  von  der  £uimündung  der 
schwarzen  Elster  bis  Magdeburg,  die  Oder  bei  Glogau,  Grüne- 
berg, Küstrin  usw.  Andrerseits  erklärt  sich  aus  der  West- 
abdachung, dass  die  grossen  Ströme  ihre  Hauptnebenflüsse 
von  rechts  iiijalten.  Beispiele! 

Ergebnis:  Die  Bodengestaltung  Deutschlands  bedingt 
die  gleichmässige  Verteilung,  den  nach  Norden  gerichteten 
Lauf  seiner  Haupt*  und  die  nach  Westen  oder  Nordwesten 
hinstrebende  Richtung  seiner  Nebenflüsse. 

bb)  Für  den  Verkehr  ist  das  aber  von  grosser  Bedeutung.  Die 
nördliche  Laufrichtung  stellt  eine  Verbindung  zwischen  dem 
Binnenlande  und  dem  Meere,  also  auch  eine  Verbindung 
zwischen  Binnen-  und  Welthandel  her. 

Durch  die  ost-westliche  Richtung  der  Nebenflüsse  aber 
werden  die  grossen  Flussläufe  einander  genähert.  Darum  hat 
man  nicht  nötig,  lange  Kanäle  zu  bauen,  um  den  landbau* 
treibenden  Osten  mit  dem  industriellen  Westen  zu  verbinden. 


Digitizeo  ^^OOgle 


Vuch  die  Herstellung  dieser  Kanäle  erfordert  keine  erheblichen 
>chwierigkeiten,  da  bedeutende  Bodenerhebungen  in  Nord- 
ieutschland  fehlen,  die  wenigen  Bodenanschwellungen  aber 
eicht  zu  durchstechen  sind.  (Beispiele!) 

Dass  die  Ost-West-Richtung  der  Flüsse  mit  der  Richtung 
ler  alten  Stromtäler  der  Eiszeit  zusammenhängt,  sei  hier  nur 
ingedeutet. 

Ergebnis:  Ks  ist  für  den  deutschen  Binnenhandel  von 
grosser  Bedeutung,  dass  die  Bodenbeschaffenheit  des  Landes 
iandelsverbindungen  zwischen  Süd  und  Nord,  zwischen  Ost 
md  West  begünstigt,  insbesondere  auch  die  Anlage  von 
Kanälen  erleichtert 

is  ist  der  Nachweis  zu  fuhren,  dass  die  Ströme  Deutschlands 
licht  alle  in  gleichem  Masse  für  den  Verkehr  in  betracht 
commen.   Die  Besprechung  führt  zu  folgendem: 

Ergebnis:  Die  Bedeutung  eines  Flusses  für  den  Handel 
längt  davon  ab,  ob  er  einen  ruhigen  l^uf,  weni^;  Krümmungen, 
genügende  Tiefe,  glcichmassigen  Wasserstand  hat,  ob  er  durch 
'ewerbreiche  oder  hochentwickelte  landwirtschaftliche  Gebiete 
liesst  oder  doch  mit  ihnen  durch  Kanäle  oder  schiffbare 
"Nebenflüsse  verbunden  ist,  ob  er  lange  Zeit  eisfrei  bleibt  und 
n  ein  offenes  Meer  mündet 

Um  sich  eine  Vorstellung  von  der  Menge  der  Waren  zu 
Hachen,  die  ein  Flussschiff  befördern  kann,  muss  man  es  mit 
ier  Ladefähigkeit  eines  pjsenbahnwagens  vergleichen. 

Jedes  Sciiiff  trägt  an  der  Seite  eine  Zahl,  die  die  Tonnen 
gezeichnet,  die  es  höchstens  laden  darf.  Fine  Tonne  — 
20  Zentner  =  lo  Doppelzentner  (Seeschiffe  recimen  nach 
Registertonns  =  2,8  Kubikmeter).  Die  grössten  Rheinschiffe 
aden  2400  Tonnen,  die  Elbschiffe  1 100  Ein  Güterwagen 
adet  10  Tonnen,  mithin  befördert  ein  Rheinschiff  soviel  wie  240, 
»in  F^lbschiff  soviel  wie  110  Eisenbahnwagen.  Jenes  schafft 
ilso  soviel  weg  wie  4  lange  Güterzüge  (a  60  Wg.}.  Spree- 
Icähne  leisten  soviel  wie  45  Eisenbahtiwagen.  Dazu  kommt, 
dass  die  Flüsse  und  Kanäle  die  bequemsten  und  billigsten 
Strassen  för  solche  Waren  ^d,  die  einen  grossen  Raum  ein- 
lehincn  und  bei  denen  es  auf  schnelle  Beförderung  nicht 
ankommt. 

•  r  Handel  wird  unterstützt  durch  die  günstige 
ge  eines  Landes  zu  den  Nachbarstaaten  und  dem 
lere. 

Mit  Recht  hat  man  Deutschland  das  Herz  Europas  genannt 
„Berlin  ist  vom  mittleren  Skandinavien  soweit  entfernt  wie 


—     112  — 


vom  mittleren  Italien,  von  üibraiiar  soweit  wie  von  der 
asiatischen  Grenze."  Sieben  Staaten  begrenzen  es  unmittdbar, 
drei  andere  sind  nach  kurzer  Seefahrt  zu  erreichen. 

Je  mehr  Nachbarn,  desto  leichter  lassen  .sich  Handels- 
verbindungen anknüpfen.  Dazu  kommt,  dass  Osterreich  und 
Russland  darauf  angewiesen  sind,  ihre  für  den  Welthandel 
bestimmten  Erzeugnisse  durch  Deutschland  zu  senden,  ihre 
Ein-  und  Ausfuhr  durch  Vermittclung  Deutschlands  zu  bewerk- 
stelligen. Der  Hauptteil  Österreichs  ist  von  seinem  Meere 
zu  weit  entfernt,  ebenso  liegen  die  russischen  Häfen  zu  weit 
vorn  Weltverkehre  ab.  Gehen  nun  fremde  Waren  durch 
Deutschland,  so  verdienen  unsere  Eisenbahnen  und  Schiffe  zu- 
nächst durch  die  Fracht,  dann  aber  erhebt  Deutschland  von 
diesen  durchgehenden  Waren  einen  Zoll,  TransitzolL 

Nicht  verschwiegen  darf  werden,  dass  die  zentrale  Lage 

Dcutchlands  auch  Gefahren  birgt.  Krieg,  grosses  stehendes 
Heer,  Festungen,  Flotte,  stete  Bereitschaft  zum  Kampf. 

Ergebnis:  Da  Deutschland  das  Herz  Europas  ist,  kann 
es  allseitigen  bequemen  Aussenhandcl  treiben  und  seine  Ein- 
nahmen durch  Transithandel  iiiui   Iransitzoll  erhohen. 

bb)  Günsti«^  ist  auch  die  I.a;^e  DeutschlatKls  zum  Meere;  nur  dies 
öflhet  ihm  die  Pforten  des  Weltverkehrs.  Freilich  haben  Nord- 
und  Ostsee  niicht  die  gleiche  Bedeutung.  Zur  Zeit  des  Hansa* 
bundes  hatte  die  Ostsee  die  Vorherrschaft,  jetzt  ist  es  um- 
gekehrt. Die  Nordsee  ist  unser  Eingangstor  zum  Atlantischen 
Ozean,  darum  müssen  Könip^ber^,  Danzic^,  Stettin  und  Lübeck 
weit  hinter  Bremen  und  iiamburi:;  zurückstehen.  Doch  hat 
der  Nord- Ostseekanal  schon  Wandel  geschaffen,  und  namentlich 
wird  der  Grossschiffahrtsweg  Berlin-Stettin  diesem  Hafen  grossen 
Vorteil  bringen.  Jetzt  ist  der  überseeische  Verkelir  von  Ham« 
bui^  und  Bremen  doppelt  so  <^ross  wie  der  der  Ostseeliäfen. 

Interessant  ist  ein  Vergleich  der  Krachtsätze.  die  im  See- 
verkehr erhoben  werden,  mit  denen  der  Eisenbahn,  der  Fluss- 
bezw.  Kanalschiffahrt.  Zunächst  ist  leicht  erklärlich,  dass 
Seegelschiffe  billiger  fahren  als  Ozeandampfer,  aber  auch  deren 
Preise  für  Frachten  sind  verhältnismässig  gering.  Sie  befördern 
im  Durchschnitt  den  Doppelzentner  lOO  km  weit  für  2  Pf. 
Die  Binnensciuffahrt  nimmt  etwa  40,  die  Eisenbahn  (X)  i'f. 
So  kostet  z.  B.  die  Fracht  für  den  Doppelzentner  Getreide  von 
Odessa  nach  Köln  i  Mk.,  von  Argentinien  nach  Hamburg  50  Pf. 

Ergebnis:  Deutschlands  Lage  an  der  Ost-  und  Nordsee 
hat  seine  Beteiligung  am  Welthandel  ermöglicht 

0  Der  Handel  wird  unterstützt  durch  entsprechende 
Eigenschaften  des  handeltreibenden  Volkes. 


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>ie  natürlichen  Verhaknisse  hätten  allein  nidit  genügt,  unser 

so  f^ross  und  mächtig  zu  machen.  Es  kommen  auch  geistige 
Schäften  hinzu,  die  es  befähigen,  aus  den  natürlichen  Ver* 
>sen  den  grössten  Nutzen  tu  ziehen. 

lan  muss  dabei  zunächst  an  den  hohen  Stand  der  allgemeinen 
:sbildung  denken.  Der  deutsche  Kaufmann  ist  wegen  seiner 
igf  besonders  seiner  Sprachkenntnisse  wegen,  überall  zu 

,  wo  CS  sich  auch  nur  einigermassen  lohnt,  Handelsverbindungen 
nüpfen.  Er  ist  klug,  die  Bedürfnisse  der  einzelnen  Völker 
hre  besonderen  Wünsche  bezügUch  des  Warenaustausches  zu 
en.  Dazu  gesellen  sich  Tatkraft,  Unternehmungsgeist, 
3r  keinen  Schwierigkeiten  zurückschrecken. 

Das  deutsche  Volk  ist  begabt  und  von  hoher  sittlicher  Kraft. 
Statur  des  Landes  und  des  Volkes  haben  zusammengewirkt, 
eutschland  zu  einem  ersten  Kulturstaat  der  Erde  zu  machen."  ^) 


IV. 

Die  Herbart-Forschung  im  Jahre  1908. 

Von  Dr.  HlM  ZlBMT. 

IS  wäre  undankbar,  diesen  zweiten  Bericht  (abgeschlossen  am 
ezember  1908)  anders  zu  beginnen  als  mit  Worten  der  Freude 
den  Anklang,  den  der  erste  gefunden  hat.   In  der  „Zeitschrift 

hilosophie  und  Pädagogik",  im  „Deutschen  Schulmann",  in  der 
isisciien  Schulzeilun^^",  auf  der  Magdeburger  Phngstversammlung 
v'^ereins  für  wissenschafthche  Pädagogik  und  anderwärts  ist  auf 
aingewiesen  worden,  und  private  Zuschriften  gaben  Zeugnis 

n,  dass  diese  Berichte  vielen  willkommen  sind.  Das  ist  mcht 
ein  scliöner  Lohn  für  meine  bescheidene  Arbeit,  sondern  vor 
i  auch  ein  gutes  Zeichen  dafür,  dass  nach  wie  vor  viele 
inen  sind,  sich  einem  ernstlichen  Herbart-Studium  zu  widmen. 

Das  Jahr  1908  ist  für  die  Herbart-Forschung  vielleicht  quantitativ 
ganz  so  erträgnisreich  gewesen  wie  das  Jahr  1907,  hat  uns 
besonders  in  den  unten  besprochenen  Schriften  von  Walther, 

iner  und  Dietering  qualitativ  höchst  beachtenswerte  Leistungen 
icht.  Und  sollte  mir  vielleicht  trotz  aller  eifrigen  Umschau,  die 
;u  halten  gewohnt  bin,  etwas  entgangen  sein?    Dieser  Verdacht 

*)  Literatur:  Dr.  Ernst  von  Halle,  Weltwirtschaft.  —  Harms,  Vaterländische 
nde.  —  Dr.  Christian  Gruber,  WimchoAsgeographif.  —  Tiscbendorf,  Präpaiationeo. 

dafogisobe  Studien.  XJUL.  8.  8 


Ieg[t  mir  au&  neue  die  eindrifigUche  Mahnung  in  den  Mund,  mir 
doch  ja  alle  Arbeiten  über  Herbart  und  seine  Lehre,  vor  allem  die 

Aufsätze,  zuzusenden  (Adro-^so :  Leipzig-Reudnitz,  Constnntin'^tr  ^  TIM 
Ich  muss  in  dieser  Bczieiiun^  noch  bittere  Klage  erh*  l>i  n.  Die 
neue  Auflage  von  Oslermann,  „Die  hauptbächlichslcii  intumer  in 
Herbarts  Psychologie"  habe  ich  z.  B.  trotz  BesteUung  nicht  erhalten: 
hatte  das  etwa  einen  besonderen  Grund,  auf  den  zu  raten  nahe 
liegt?  Und  eine  Anzahl  1907er  Arbeiten,  die  also  schon  in  meinen 
ersten  Hericht  gehört  hatten,  sind  mir  erst  im  Laufe  des  Jahres  1908 
zu  Gesicht  gekommen  ,  sie  müssen  nun  hier  mit  besprochen  werden 
und  wurden  durch  ein  Sternchen  kenntlich  gemacht 

I.  Geschichtliches. 

Zunächst  ein  Akt  schuldiger  Pietät!  Dem  am  3.  Juni  ver- 
storbenen bedeutendsten  \'crlegcr  von  Merbart-Literatur,  Friedrich 
Mann,  widmet  Theodor  Fritzsrh  in  den  „Mitteilungen  der 
Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte"  ^XVIII,  3) 
einen  Nachruf,  in  dem  die  mehr  als  dreissigj ährige  buchhlndlerisdu; 
und  schriftstellerische  Tätigkeit  des  Unermüdlichen  gewürdigt  wird. 
Wer  Kehrbachs  grosser  Herbart- Ausgabe  gedenkt,  darf  auch  ihres 
Verlegers  Friedrich  Mann  nicht  x  erf^^essen.  Ein  ausführlicheres  „Blatt 
der  Erinnerung"  an  den  Verstorbenen  aber  schrieb  Ernst  von 
Sallwürk  in  den  „Deutschen  Blätlera  für  erziehenden  Unterricht" 
pCXXVI,  10).  Er  gab  eine  warme  und  eingehende  Würdigung  des 
Jujrendiehrers,  Volkserziehers,  Geschäftsmannes,  Schriftstellers  und 
Menschen  Mann  und  zeigte  vor  allem  auch,  wieviel  die  Herbart* 
forschung  diesem  verdankt. 

Ein  zweiter  Verstorbener  sprach  noch  aus  dem  (irabe  heraus 
zu  der  grossen  lierbartgemeinde :  in  der  „Zeitschrift  für  riülosophie 
und  Pädagogik"  (XVI.  i)  kam  ein  nachgelassener  Memer  Aufsatz 
des  verstorbenen  Königsberger  Professors  Karl  Thomas  zum 
Abdruck:  ,,Uber  mein  Verhältnis  zur  Herbartschen  Philosophie". 
Der  Verfasser  hält  das  philosophische  Gedankensystem  Herbarls 
unbedingt  für  „die  grossartigste  Erscheinung,  von  welcher  die 
Geschichte  der  Philosophie  wird  jemals  zu  sprechen  haben",  und 
föhrt  genauer  aus,  warum  die  beiden  Punkte,  in  denen  er  „seiner 
ebenen  Überzeugung  zu  folgen  gewagt  hat",  keinen  „Konflikt"  mit 
der  Herbartschen  Philosophie  darstellen.  Diese  beiden  Punkte  sind 
Thomas'  Ansicht  über  die  Lehre  Spinozas  und  seine  „Reihe  der 
Scliät/ungsbegnile"  in  der  Ethik. 

Neben  den  Toten  ein  fast  Vergessener!  Uber  Herbarts  Ver- 
hältnis zu  Emst  Tillich  stellte  Theodor  Fr itzsch  in  einer  längeren, 
gründi;  hrn  Abhandlung  über  den  letzteren  („Deutsche  Blatter  för 
erziehenden  Unterricht"  $S.  Jahrg.,  Nr.  16 ff.;  S.  163  und  164;  auch 


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edrich  Manns  .^Pädagogischem  Magazin' ,  lieft  330,  ais  besondere 
t  erschienen)  das  Wenige  zusammen,  was  noch  bekannt  ist 
'gl  Tillich  als  günstigen,  aber  nicht  blindlobenden  Rezensenten 
Icrbarts  Schrift  „Pestalozzis  Idee  eines  ABC  der  Anschauung" 
Dcsteht  ferner  in  zwei  —  nicht  allzu  belangreichen  —  Brief- 
i  Herbarts  über  TilHch  aus  dem  Jahre  1806. 
MS  Gricpenkerb  äusserst  selten  gewordenen  .«Briefen  an  einen 
en  gelehrten  Freund  über  Philosophie  und  besonders  über 
rts  Lehren"  (1832)  teilt  derselbe  Theodor  Fritzsch  („Zeit- 
für  Philosophie  und  Pädagogik"  XV,  7)  die  Kpigrammc  mit, 
len  Griepcnkcrl  die  fünf  praktischen  Idccti  1  icrbarls  „in  einem 
:n,  etwas  trüberen  Lichte"  zu  zeigen  versuchte.  Die  kleinen 
hte  charakterisieren  die  Ideen  tatsachlich  recht  glücklich  und 
ohne  Reiz,  wenn  sie  ihren  Grehalt  auch  nicht  völlig  ausschöpfen 
n, 

I  einer  kleinen  Mitteilung  ,. Herbart  im  deutschen  Anticjuariats- 
andel"  in  der  „Zeitsclirift  für  Philosophie  und  Pädagogik" 
3,  S.  113  und  114)  gelangt  Hans  Zimmer  auf  Grund 
sehen  Materials,  das  ihm  eine  Inserat>Umfrage  bei  dem 
tcn  deutschen,  österreichisch  •  ungarischen  und  schweizer 
lariatsbuchhandel  zuführte,   /u  dem  Schluss,  „dass  Herbart 

zu  Lebzeiten  als  Etiiiker  und  Pädaf^oi^  eine  f^frössere  l^rliebt- 
enosscn,  eine  tiefere  Wirkung  ausgeübt  habe  als  mii  semem 
>logischen  und  metaphysischen  Schaffen".   Vor  allem  aber 

sich  auch  auf  diesem  Wege  die  Beobachtung,  „dass  das 
sc  an  Herbart  noch  keineswegs  abflaut":  aus  dem  reichen 
ot,  das  Zimmers  Inserate  veranlassten,  und  den  hohen 
i,  die  zum  Teil  angesetzt  wurden,  geht  deutUch  hervor,  dass 
-t  noch  stark  verlangt  werden  muss. 

inen  geschickten  Auszug  aus  B.  Tittmanns  Aufsatz  „Herbart 
nzösischcr  Beleuchtung"  im  40.  Jahrbuch  des  V^ereins  für 
«^chaftliche  Pädagogik  (vgl.  meinen  vorigen  Bcrichti  gibt  unter 
ung  der  Kritik,  die  seitens  der  Magdeburger  Pfingst- 
imlung  1 908  an  Gocklers  Werk  geübt  wurde,  Rektor  Schubert- 
urg  in  seinem  Artikel  „Das  40.  Jahrbuch  des  Vereins  för 
schaftliche  Pädagogik  und  die  Verhandlungen  darüber 
en  1908  in  Mac^deburi^"  („Zeitschrift  für  Philosophie  und 
>gik"  XV,  11).  \eben  dem  Scliuberts  ist  auch  il  ermann 
SS  umsichtig  zusammengestellter  „Bericht  über  die  40.  General* 
tmlung  des  Vereins  lur  wissenschaftliche  Pädagogik"  in  den 
chen  Blättern  für  erziehenden  Unterricht"  (XXXV,  49)  zu 
t,  in  dem  für  uns  besonders  die  Wiedergabe  der  Debatte 
ocklers  Buch  von  Interesse  i«;t.  Dasselije  ^ilt  von  Friedrich 
.<es  klarem  „Bericht  über  die  40.  Jahresversammlung  des 
3  för  wissenschaftliche  Pädagogik  in  Magdeburg"  in  den 
:ogischen  Studien"  PCXIX,  5  und  6).  Vgl  aber  vor  allem 

8» 


—    Il6  — 


das  stenographische  Protokoll  über  die  genannte  Versammlung  in 
der  „Zeitschrift  iur  Philosophie  und  Pädagogik"  (XVI,  i  ft). 

II.  ElnfBhrungMchrtflen  und  Nilffrailttel  zuin  Studium  Herbartt. 

Hier  gebührt  der  Vortritt  einem  längst  bewährten  Buche  eines 
vortrefflichen  Autors:  im  Berichtsjahr  ist  die  4.  verbesserte  Auflage 
erschienen  von  G.Voigts  auch  ihrer  vornehmen  Darstcllungsweisc 
wegen  rühmenswerter  Schrift  ,,Dic  Rcdeiitunf^  der  Herbartischen 
Pädagogik  für  die  Volksschule"  (Leipzig,  Durr.sche  Buchhandlung). 
Das  Werk  ist  herausgewachsen  aus  einem  Vortrag,  den  der  Ver- 
fasser vor  mehr  als  einem  Jahrzehnt  gehalten  hat,  aber  auch  die 
neue  Auflage  ist  nach  Form  und  Inhut  abermals  liebevoll  über* 
arbeitet  worden.  N'ielseiti:,^,  umsichlii;,  anrcf^end  und  selbständicf, 
ist  das  Buch  treftiich  geeiiaict,  die  hinsieht  in  den  wesentlichen 
Gehalt  der  grossen  pädagogischen  Bewegung,  die  sich  an  Herbarts 
Namen  knüpft,  zu  fördern.  Es  handelt  sich  nir  den  Verfasser  inuner 
nicht  sowohl  um  eine  einfache  Darlegung  der  Herbartschen  * 
Lehre,  sondern  um  eine  Klärung  des  Urteils  über  sie  ZU  dem 
Zweck,  das  herauszuheben,  was  ihre  bleibende  Bedeutung  für  die 
\'olksschule  der  (Tei^einvarl  ausmacht.  Dabei  geht  Voi^rt  bis  ins 
Einzelne,  bis  in  eine  Besprechung  der  verschiedenen  Unterrichts- 
facher, und  mit  besonderem  Glück  betrachtet  er  den  Stoff  von 
Seiten  und  in  Beziehungen,  die  man  anderwärts  in  der  Herbart- 
Literatur  wcnip^cr  berücksicluiort  findet.  Gerade  weil  er  zunächst 
unumwunden  die  mos^Hchen  Kinwände  gecjcn  die  Merl>artsche 
Philosophie  aufdeckt  und  dann  doch  die  bleibende  Bedeutung  der 
Herbartschen  Pädagogik  voll  anerkennen  muss,  kann  die  Lektüre 
seiner  Schrift  vor  allem  denen  empfohlen  werden,  die  Herbarts 
Pädagogik  für  die  Gegenwart  tot  und  unfruchtbar  nennen.  Denn: 
„Der  Wrfasser  der  vorliegenden  Schrift,  ein  weitblickender  und 
vorurteilsfreier  Mann,  weist  nach,  dass  auch  heute  noch  trotz  aller 
experimentellen  Didaktik,  trotz  aller  Persönlichkeitspädagogik  usw. 
in  der  Herbartschen  Pädagogik  so  grosse  Werte  liegen,  dass  sie 
auch  heute  noch  als  ein  zuverlässiger  Führer  gelten  kann.  Der 
Leser  muss  sich  nur  an  das  Ganze  und  das  Wesentliche  halten,  er 
muss  in  den  Geist  dieser  Pädagogik  eindringen  und  sich  nicht 
beirren  lassen  von  den  oberflächlichen  Stimmen,  die  da  meinen, 
in  der  Formalstufentheorie  sei  die  Summe  der  Herbartisdien 
Pädagogik  enthalten,  während  sie  in  der  Tat  an  der  Peripherie  des 
Systems  liegt"  (W.  Rein  in  der  „Zeitschrift  für  Philosophie  und 
P<ädan;ogik"  8.).  Die  kurzen  Inhaltsangaben  der  einzelnen  Ab- 
schnitte in  Form  von  Marginalien  erleichtern  die  Benutzung  des 
Buches  wesentUch. 

In  dem  —  durch  den  Mangel  eines  Sachregisters  neuerdings 
glücklicherweise  in  seiner  Brauchbarkeit  nicht  mehr  eingeschränkten  — 


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lorisch-pädagogischen  Literatur-Bericht  über  das  Jahr  1906",  den  die 
Uschaft  für  deutsche  Erzichungs-  und  Schulgeschichte  als  1 5.  Beiheft 
rcn  „Mitteilungen"  herausgegeben  hat  (Berlin,  A.  Hofmann  &  Co.), 
aul  S.  47  bis  50  Theodor  Fritzsch  eine  Zusammenstellung 
die  Herbait-Literatur  des  Jahres  1906,  die  als  eine  Ergänzung 
rückwärts  zu  meinem  Jahresbericht  über  die  Herbart-Forschung 
ahre  1907  gelten  kann,  obwohl  sie,  ganz  ohne  Schuld  des 
issers,  VoiIständij_;kcit  nicht  anstreben  durfte  (vgl.  V  orwort  S.  V). 
Fritzsch  wird  seine  entsagungsvolle  Arbeit  fortsetzen;  dass 
>art  in  dem  „Historisch-pädagogischen  Literatur-Bericht"  dauernd 
besonderer  Abschnitt  eingeräumt  wird,  verdient  unseren  Dank. 
Nach  Form  und  Anlage  ähnelt  Fritzsches  Bericht  dem  hier 
"f^rnden.  ein  Mitstrrbender,  kein  Konkurrent.  Etwas  andere 
:ke  verfolgt  dagegen  ein  weilerer,  der  gerade  deshalb  nicht 
llkommen  ist:  in  der  mit  vielen  anderen  von  E.  Clausnitzer 
Lisgegebenen  „Pädagogischen  Jahresschau  über  das  Volksschul» 
n"  (Bd.  T  Kx/),  Bd.  II  1907,  Verlag  von  B.  G.  Tcubner  in  Leipzig 
Berlin)  hat  Krnst  von  Sali  würk  in  den  von  ihm  bearbeiteten 
•hnitt  ,,All^rcmcine  h'rziehunp^-  ujid  Untcrrichtslchre"  beide  Male 
1  besonderen  Alisciinitt  über  „Herbartische  Pädagogik"  ^I,  2^—22 
U,  25 — 28)  aufgenommen.  Es  ist  ein  kritischer  Literaturbericht; 
ständigkeit  ist  nicht  beabsichtigt,  die  Auswahl  richtete  sich  nach 
Grundsätzen,  die  für  das  ganze  Werk  aufj^a-stellt  wurden  (vgl. 
tvort).  Dabei  beschränkt  sich  Sallw  ürk  nicht,  wie  unser  IJericht, 
Herl)art  selbst,  sondern  legt  fast  mehr  noch  Wert  auf  die  Ent- 
:elung  seiner  Lehre,  auf  die  Schicksale  ihrer  Weiterföhning  im 
e  ZiUers  und  Retns.  Er  veischafft  damit  seinem  Leser  die 
mntschaft  mit  einer  Reihe  von  Werken,  denen  man  es  nicht 
r  weiteres  ansehen  kann,  dass  sie  in  Beziehung  zu  Herbart 
sn,  und  er  hebt  dankenswerter  Weise  immer  die  Abweichunfj^en 
.\utoren  dieser  Werke  von  den  Lehren  Ilerbart-Zilleis  iiervor. 
Vorwurf  des  Intellektualismus  gegen  Herbart  kehrt  auch  hier 
1er;  anderseits  leitet  gleich  den  Anfang  des  ersten  Sallwürkschen 
chtes  der  Satz  ein  .  ,iHcrbart  steht  wieder  im  Vordergrund  des 
igogischcn  Interesses," 

In  der  von  Max  Reiniger  gescIiickL  zusammengcworbenen  und 
eitlich  gruppierten  Sammlung  „Pädagogischer  Abhandlungen^' 
le  a.S.,  Hermann  Gesenius)  macht  Hans  Zimmer  den  Beginn 
einem  30  Seiten  umfassenden  Aufsatz  über  „Herbarts  Pädagogik", 
geht  davon  ans,  dass  ,,einp  knappe  und  möglichst  schlichte 
Stellung"  von  Herbarts  j)kdagogischem  System,  „wie  sie  hier 
agt  wird",  „keineswegs  ein  blosser  Auszug  aus  Herbarts  Werken" 

kann,  vielmehr,  ,,so  eng  sie  sich  auch,  wo  immer  möglich,  an 
barts  Wortlaut  hdten  soll",  eine  Interpretation  sein  muss. 
s«,  diese,  wenn  sie  versucht,  kurz  und  verständlich  zu  sein,  einen 
:tilossenen,  leicht  zu  überblickenden  Zusammenhang  herzusteileni 


—  II«  — 


die  Architektonik  des  Lehrgebäudes  scharf  hervorspringen  /u  b<;sen, 
etwas  Sc  he  malisches  annehmen  muss,  ist  nicht  zu  vermeiden, 
gegenüber  Unklarheit,  Weitschweifigkeit  und  /Cusanmienlianglosigkeit 
aber  gewiss  das  kleinere  Übel."  Zur  weiteren  Charakterisierung  der 
Arbeit  seien  hier  nur  noch  folgende  Sätze  aus  den  „Schltiss> 
bemerkungen"  angeführt:  „Ihrer  Bestimmung,  eine  klare  und  ver- 
ständliche Kinführung  in  das  Studium  der  Herbartschen  Pädagogik, 
einen  leichten  Uberblick  über  seine  Erziehungslehre,  einen  bequem 
übersehbaren  Grundriss  seines  Systems  zu  bieten,  hat  unsere  Dar- 
stellung bei  der  Behandlung  jedes  einzelnen  Gegenstandes  immer 
auf  die  Weise  zu  entsprechen  gesucht,  die  gerade  von  Fall  zu  Fall 
am  besten  dazu  t^eeignet  schien.  Meist  Hessen  sich  Klarheit,  Ver- 
ständlichkeit und  Übersichtlichkeit  am  sichcr'^trn  durch  kurz  zu- 
sammenfassendes Herausheben  der  Hauptgedanken  erzielen,  gelegent- 
lich auch  durch  schematische  und  tabellenartige  Darstellung,  da  und 
dort  aber  war  eine  ausfuhrlichere  Darstell  ui^^  zugleich  die  schneller 
verständliche  und  darum  vorzuziehen.  Bald  schien  es  besser,  dass 
Mcrbart  selbst,  bald  dass  der  Verfasser  redete.  Stets  war  der 
praktische  Zweck  des  Aufsatzes  bestimmend :  um  ihn  zu  erreichen, 
wurde  selbst  der  Vorwurf  ungleichmässiger  Darstellungsweise  nicht 
gescheut." 

Drei  „Bibliographisch-kritische  Studien  zur  deutschen  Herbart- 
Literatur"  hat  Hans  Zimmer  auch  in  der  „Volksschule"  (fiüher 
„Dorfschule".  Herford,  F.  Kortkamp;  IV',  7,  13  und  17)  veröffentlicht. 
Es  sind  die  ersten  drei  Kapitel  eines  „I'ührers  durch  die  deulsciie 
Herbart-Literatur",  der  im  gleichen  Verlag  erscheinen  soll,  und  sie 
behandeln:  i.  Einführungsschriften,  Allgemeines,  Bibliographie,  2.  Aus- 
gaben  und  Antholoj^ien,  3.  Bioc^raphisches.  Die  p^anzc  .Arbeit  tritt 
höchst  bescheiden  auf:  sie  will  nichts  sein  als  ein  einfaches  H  i  1  fs- 
mittel,  sie  verfolgt  einen  rein  praktischen  Zweck.  „Die  wissen- 
schaftliche Beschäftigung  mit  Johann  Friedrich  Herbart,  dem  Philo- 
sophen und  dem  Pädagogen,  begann  vor  rund  sechzig  Jahren,  und 
in  diesem  Zeitraum  ist  eine  so  erstaunliche  Fülle  von  Literatur  über 
den  grossen  Denker  an^je wachsen,  dass  man  daraus  nicht  bloss  seine 
überragende  Bedeutung  und  seinen  weitreichenden  Einfluss  erkennt, 
sondern  dass  sich  der  Nicht-Spezialist  auch  schlechterdings  nicht 
mehr  allein  darin  zurechtfinden  kann.  Er  braucht  einen  »Führer* 
durch  das  I-abyrinth  der  Herbart-Literatur,  und  als  ein  solcher  bietet 
sich  ihm  diese  .Artikel-Reihe  an.  Ihrem  praktischen  Zweck  ent- 
sprechend durfte  die  Arbeit  keineswegs  vollständig  sein.  Sic  berück- 
sichtigt grundsätzlich  nur  Bücher,  und  zwar  nur  Bücher  in 
deutscher  Sprache.  Immer  will  sie  über  diese  viel  mehr 
orientieren  als  sie  kritisieren.  Prinzipidle  Gegner  Herbarts  kommen 
gar  nicht  /u  Worte:  die  Aufgabe  war,  zu  Herbart  zu  führen,  und 
weil  es  sich  stets  nur  um  diesen  selbst  handeln  sollte,  ist  auch  seine 
Schule  (die  Literatur  über  Ziller,  Stoy,  Strümpell  u.  s,  f.)  nicht  mit 


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ingezogen  worden.  Es  kam  eben  lediglich  darauf  an,  die  reine, 
äre  Lehre  Herbarts  für  Lehrer,  Lehrerinnen,  Seminaristen  und 
enten,  die  sich  mit  ihr  beschäftigen  wollen,  ins  Auge  zu  fassen 
Wege  zu  ihrem  Verständnis  zu  eröffnen  durch  Hinweis  auf  die 
ke,  die  darüber  von  den  verschiedensten  Seiten  aus  unterrichten, 
snbei  wird  vielleicht  für  den  tiefer  Blickenden  noch  ein  zweiter 
'k  erreicht  werden  können:  man  wird  zum  Teil  die  Lücken 
1.  ciie  in  der  Herbart-l*  orschung  noch  für  weitere  Arbeiten 
sind." 

III.  Der  Kampf  um  Herbart. 

In  meinem  vorjährigen  Bericht  hatte  ich  Faul  \atorps 
ammeite  Abhandlungen  zur  Sozialpädagogik"  (i.  Abteilung)  aus 
n  äusseren  Grunde  nur  im  Vorübergehen  erwähnen  können: 
widmete  ihnen  O.  Schmidt  in  seiner  Besprechung  von 
riilen  zur  theoretischen  Pädagogik"  im  März-Heft  des  „Deutschen 
Imanns"  eine  ausführliche  Besprechung,  die  für  die  Herbartianer 
;en  Wert  hat.  Denn  obwohl  er  der  scharfen  Denkkraft  und 
v.onsequenz  Natorps  alle  gebührende  Ehre  erweist,  und  obwohl 
vas  entscheidender  ist,  selbst  keineswegs  auf  Herbarts  Lehre 
'Oft,  ergreift  er  doch  im  Kampfe  Natorps  gegen  Herbart  mit 
chiedenhcit  für  letzteren  Partei  und  wirft  dem  erstcren  Härte, 
ischickliclikeit  und  Übertreibung  vor.  Er  sagt  u.  a. :  „Wenn 
rp  Herbart  verfolgt,  wenn  er  ihn  hasst  —  man  kann  es  nicht 
rs  nennen  —  so  ist  mir  das  unverständlich.  Ungerecht  ist  es 
,  wenn  er  ihn  so  weit  wie  möglich  von  Pestalozzi  abzudrängen 
t.  .  .  .  Und  doch  gehören  beide  zusammen,  wie  Herz  und  Kopf, 
üt  und  \>rstand  zusammengehören.  Der  eine  ist  ohne  den 
rcii  gar  nicht  zu  verstehen."  Weiter  unten  fährt  er  fort: 
rps  „Warnung  vor  Herbart,  vor  den  Gefahren  der  Verkümmerung, 
Schematismus,  des  Formalismus,  des  Intellektualismus,  die  der 
le  und  der  Wissenschaft  der  Fäd^ogik  von  ihm  und  seiner 
ile  drohen,  ist  völlig  unbegründet  Diese  Gefahren  bestehen 
in  dem  Geiste  des  Herrn  Natorp.  Seine  aprioristisch  überhitzte 
ttasie  malt  sie  ihm  aus.  Die  Wirklichkeit,  in  der  wir  leben, 
t  sie  nicht  Sie  kennt  aber  Segensströme,  die  auch  von  Herbart 
egangen  sind  und  noch  immer  von  ihm  ausgehea'^  . . .  „Übrigens 
et  sich  das  Wort  von  der  in  unseren  deutschen  Schulen 
•nden  und  geübten  Pädagogik  —  mit  der  Natorp  nur  die 
)artsche  verstehen  kann  — ,  die  an  aller  altklugen  Erzieher  Weisheit, 
aller  greisenhaften  Engherzigkeit  des  herrschenden  Systems 
Id  sein  soll,  dieses  Wort  richtet  ihn  selbst,  denn  es  entspricht 
t  den  Tatsachen,  es  beweist,  dass  der  Verfasser  die  deutschen 
ilen  nicht  kennt."  Herbarts  Art  soll  es  nach  Natorp  sein,  seine 
r  auf  ein  bestimmtes  Dogma  testzulegen.    „Wen",  fragt  Schmidt 


—     120  — 


dagegen,  „hat  er  festgcl  -  t"  Seine  grösstcn  Schülei :  Drobisch, 
Strümpell,  Wnitz,  Kern,  Ziller,  Sallwürk,  Rein,  Lotze,  Ziehen,  sind 
alle  ihre  eigenen  Wege  gcijan^en."  auch  Max  Schillings 

massvolle  Besprechung  von  Natorps  ..(  Gesammelten  Abhandlungen  zur 
Sozialpädagogik"  (i.  Abt)  in  den  „Pädagogischen  Studien"  PCXIX,  6); 
der  grundsätzliche  Unterschied  zwischen  Herbart  und  Natorp  ist  hier 
besonders  Idar  herausgearbeitet 

Zu  seinem  Aufsatz  „DarstcHnn.r  und  Beurtcihmpf  des  Gedanken- 
ganges von  Otto  Willmanns  Geschichte  des  Idealismus"  [..Deutsche 
Blätter  für  erziehenden  Unterricht"  XXXV,  25)  hat  Julius  lionke 
einen  bei  aller  Gedrängtheit  recht  inhaltreichen  und  dankenswerten 
Anhang  „Willmann  gegen  Herbart"  gegeben.  Er  geht  davon  aus» 
dass  Willmaiiii  bekanntlich  einst  ein  her\'orragendes  Tnterosse  an  der 
Philosophie  Herbarts  bekundet  hat,  und  dass  daher  jetzt  um  so 
mehr  in  Erstaunen  setzt,  was  er  seinen  Lesern  über  llcrbart  mitteilt. 
In  klarer,  ruhiger  Weise  halt  er  WUImann  an  einigen  wichtigen 
Punkten  der  Metaphjrsik  und  Ethik  vor,  Herbart  falsch  aufgeiasst 
oder  verstanden  zu  haben,  Behauptungen,  aber  keine  Beweise  zu 
brinfjcn,  aus  Mangel  an  scharfem  Denken  Herbart  Widersprüche 
zuzuschreiben,  die  keine  sind,  und,  verleitet  durch  seine  katholische 
Rechtgläubigkeit,  sehr  rückständig  eine  Rückkehr  zur  scholastischen 
Philosophie  zu  empfehlen.  Honke  selbst  fasst  seine  interessanten 
Ausfuhrungen  über  den  Gegensatz  zwischen  Herbart  und  Willmann 
in  die  Sät:'f*  zusammen:  „Herbart  geht  aus  von  den  ge<,'ebcnen 
Erfahrungen  und  versucht  durch  sorgfältige  Bearbeitung  dci  Rej^iifi'e 
eine  widerspruchsfreie  Erkenntnis  im  ganzen  Erfahrungsgebiete  zu 

gewinnen;  bei  der  Unrast  und  Begrenztheit  des  Wissens  bedarf  der 
[ensch  der  Ruhe  im  Glauben  an  Gott;  eine  direkte  Kinwirkung 
auf  die  menschlichen  Verhältnisse  ist  nicht  Sache  des  Philosophen, 
sondern  der  Männer,  die  ausser  ihren  speziellen  Berufen  auch  noch 
durch  philosophische  Studien  vorgebildet  sind;  diese  praktisch 
Tätigen  bedürfen  auch  später  der  Philosophie,  um  sich  die  Spann- 
kraft  des  Geistes  zu  bewahren.  Willmann  dagegen  glaubt,  durdi 
göttliche  Erleuchtung  sich  in  das  Zentrum  der  Welt  versetzen  zu 
können,  und  er  blickt  von  hier  aus  in  die  entleii^ensten  Zeiten  und 
in  die  lernste  Zukunft;  er  wirkt  für  eine  katholische  W'eltanschauung, 
nach  der  sich  das  Leben  der  Menschheit  gestalten  soll."  Übrigens 
ist  diese  Zusammenfassung,  wenn  auch  ganz  richtig,  das  am 
wenigsten  gelungene  Stück  des  ganzen  Aufsatzes:  er  geht,  wo  sich 
Honke  auf  metapi)\-sische  und  ethische  Einzelheiten  einlässt,  bei 
weitem  mehr  in  die  Tiefe. 

In  einer  „Zur  Herbartischen  Pädagogik"  betitelten  „kurzen  Be- 
trachtung an  der  Jahreswende''  stellt  Wilhelm  Rein  („Zeitschrift 
ftir  Philosophie  und  Pädagogik"  XV,  5)  dem  „Geschrei  des  Tages" 
und  dem  von  bekannten  Namen  bestätigten  Urteil  der  Menge,  die 
Herbartsche  Pädagogik  sei  tot  oder  wenigstens  so  arg  in  Mißkredit 


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nmen,  dass  man  lieber  davon  schweige,  die  Hoffnung  gegenüber, 
der  nach  Wahrheit  ringende  Geist  der  Deutschen  doch  bald 
Oberflächlichkeit  und  Seichtigkeit  Herr  werden  werde,  und 
dann  auch  die  absprechenden,  wegwerfenden  Urteile  über 
irts  Pädagogik  verstummen  dürften.  Die  Staatspädagogik, 
irbe  Pestalozzis,  die  evangelische  und  katholische  Pädagogik, 
txperimentalpädacropk  und  die  Pcrsönlichkeitspädagogik,  die 
)leiben  würden,  wenn  wir  die  Herbartsche  Pädagogik  leichthin 
alten  Plunder  würfen,  bieten  für  sie,  wie  Rein  im  einzelnen 

keinen  vollen  Ersatz.  Damm:  „Wer  sein  Volk  lieb  hat  und 
rzieher  liir  seine  Zukunft  mit  sorgen  will,  lasse  sich  von  der 
läftigung  mit  der  Herbartischen  Pädagogik  in  Theorie  und 
s  nicht  abschrecken.    So  reich  sind  wir  Deutsche  doch  nicht, 

wir  ein  Gedankenmaterial,  dessen  Fruchtbarkeit  tausendfach 
bt  ist,  auf  den  Index  setzen  dürften,  weil  die  Modernen  aller 
:tierungen  es  so  wollen."  Im  i.  Heft  des  i6.  Jahrgangs  derselben 
rhrift  gibt  Rein  dazu  unter  dem  Titel  „Ist  Herbart  veraltet?" 

Nachtrag.  „Das  bewahrte  Alte",  fuhrt  er  auch  hier  in  Heutig 
lerbarts  vielfach  erj^roblc  Lehre  aus,  „darf  nicht  eher  beiseite 
loben  werden,  bis  nicht  ein  vollgültiger  Ersatz  gefunden  ist", 
bewahrte,  Bleibende  liegt  bei  Herbart  vor  allem  in  der  Bestimmung 
irziehungszieles,  und  „eine  pädagogische  Lehre,  die  in  dem 
ff  der  Charaklcrbihhmg  gipfelt,  kann  überhaupt  nicht  veralten", 
'rs  v  erhält  es  sich  mit  den  BildunL^sidealen,  die  so  oft  \  on 
Sächlicher  Gedankenlosigkeit  mit  dem  Erziehungsziel  zusammen- 
>rfen  werden:  „wer  wollte  da  unbesehen  festhalten,  was  Herbart 
hundert  Jahren  geschrieben  hat?"  Aber  auch  hinsichtlich  der 
ingsideale  hat  sich  die  Herbartische  Pädagogik  lebensrähig 
isen,  denn  sie  zeigte  sich  „bieg«;am  und  aufnahmefähig:^  g^^T^n- 

aUeni,  was  als  Mittel  zur  Ver\virklichun{]^  des  Erziehungszieles 

und  im  Begriff  der  Bildung  eingeschlossen  ist".  Ahnliche 
len  verfolgt  Rein  auch  in  seinem  gedankenreichen  Aufsatz  „Das 
lelnde  Erziehungddeal  unserer  Zeit",  mit  dem  er  zu  dem  i.  Heft 
.Deutschen  Frühlings",  einer  neuen,  scheinbar  recht  gut  geleiteten 
monatsschrilt  lür  freies  deutsches  Volkstum,  Kulturwissenschaften 

Kulturpolitik  (Leipzig,  Verlag  Deutsche  Zukunft)  einen 
rzigenswerten  Beitrag  beigesteuert  hat 

Ein  in  ruhiger  Sachlichkeit  gehaltener  längerer  Aufsatz  „Herbart 
die  Modernen"  („Sächsische  Schulzeitung",  No.  18  -20;  Leipzig, 
s  Klinkhardt^  von  Max  Rrethfeld  spricht  ein  richtif^es  Wort 
Verständigung  über  Herbart  und  tritt  zugleich  den  Bestrebungen 
egen,  diesen  in  die  pädagogische  Rumpelkammer  zu  verweisen. 

Ansicht  der  meisten  „modernen"  Pädagogen,  dass  Herbart 
e  lebendige  Grösse  mehr,  sondern  nur  noch  eine  gesdnchtliche 
dass  er  dem  modernen  Lehrer  nichts  mehr  zu  geben  vermöge, 

Brethfeid  nicht,  findet  sie  aber  begreiflich  und  natürlich.  Die 


—     122  — 

Gründe  dafür  sieht  er  darin,  dass  der  Jalirclang  tobende  Kampf  lier 
Meinungen  um  Herbart  eine  ruhige,  sachliche  Stellungnahme  nur 
ganz  selten  zuliess,  zweitens  in  der  „unglückseligen  Verkoppelung 
Herbarts  mit  ZiUer**»  drittens  in  der  Überholung  Herbarts  duixrh  die 
Ergebnisse  der  modernen  Wissenschaft  Gleichwohl  ist  der  Schluss 
nicht  richtig,  eine  längere  Beschäftigung  mit  Herbarts  Pädagogik 
lohne  sich  nicht  mehr,  denn  hier  lehnt  sich  Rrethfcld  an  die  in 
unserem  \orjäiirigen  Bericht  besprochene  Schrift  von  K.  Häntsch 
über  „Herbarts  pädagogische  Kunst"  an  —  Herbarts  bleibende 
Bedeutung  liegt  nicht  in  seiner  Theorie,  in  seinem  wissenschaftlichen 
System,  sondern  in  den  Elementen  seiner  genialen  Lehr-  und  Ejr- 
ziehunf^skunst,  in  dem  Geist,  der  ihr  zugrunde  liegt,  in  den  ein/rlnen 
feinen,  treffenden  Gedanken,  die  auch  heute  noch  zu  befruchten 
vermögen.  Aber  auch  Herbarts  eigenartige,  ja  schwierige  Ausdrucks- 
weise ist  ein  Grrund  für  die  Abwendung  hastiger  L^er  von  ihm; 
dass  sie  indessen  keineswegs  reizlos  bt,  zeigt  Brethfeld  eingehend 
an  einer  Reihe  von  Proben,  mit  denen  er  den  Rat  verbindet,  das 
Studium  Herharts  nicht  mit  dessen  pädagogischen  Hauptwerken, 
sondern  mit  den  kleineren  pädagogischen  Schriften  (Berichte  an 
Herrn  von  Steiger,  Aphorismen,  Schriften  über  Pestalozzi  u.  s.  C)  zu 
beginnen.  Der  letzte  der  Gründe,  die  nach  Brethfelds  Ausföhrungen 
das  Loslösen  von  Herbart  begreiflich  erscheinen  lassen,  ist  ganz 
allgemeiner  Natur,  weil  er  sich  auf  alle  Pädagogen  der  Vergangen- 
heil  bezieht:  es  ist  die  vielfach  sich  zeigende  Abneigung  gegen  das 
Studiun)  der  Geschichte  der  Pädagogik  und  gegen  pädagogische 
„Autoritäten".  Bei  der  Besprechung  dieses  Punktes  findet  Brethfdd 
Gelegenheit,  den  ,JModernen"  mit  Recht  ein  Hinwegsetzen  über  die 
\'ergangcnhcit  der  pädagogischen  Wissenschaft  und  ihre  Grössen 
zum  Vorwurf  zu  machen. 

Und  die  Gegner  Herbarts?  Sie  haben  —  vielleicht  die  Ruhe 
vor  neuem  Sturm  —  im  Berichtsjahr  meines  Wissens  geschwiegen, 
und  mir  bleibt  nichts,  als  frier  zwei  kleine  Aufisätze  zu  nennen,  die 
mir  für  meinen  ersten  Bericht  entgangen  waren.  Vom  katholischen 
Standpunkt  aus  geschrieben,  nennt  *Dr.  Baiers  Artikel  „Die  fünf 
Musterideen  Herbarts  und  deren  Würdigung"  in  den  ..Katechetischen 
Blättern",  herausgegeben  von  A.  Weber  (1907,  ^left  4),  lierbarts 
Ethik  eine  naturalistisdie,  überkleistert  mit  dem  christlichen  Grund' 
prinzip  der  Sttlichkot  Eine  wahre  Etliik  im  katholischen  Sinne 
würde  sie  erst  werden,  wenn  man  die  fünf  Ideen  an  Gott  als  dessen 
Willen  anknüpfe.  Auch  die  Studie  ..Herbarts  Lehre  über  gute  und 
böse  Handlungen  in  ihrem  Widerstreite  mit  der  christlichen  Sitten- 
lehre" von  *J.  Pötsch  in  der  „Katechetischen  Monatsschrift",  heraus- 
gegeben von  F.  W.  Bürgel  (1907,  XDC,  2)  tritt  Herbart  nicht  frei 
und  unbefangen  gegenüber:  sie  versteht  unter  christlicher  Sittenlehre 
ein<;eitig  die  des  heil.  Thomas»  zitiert  übrigens  Herbart  nur  aus 
abgeleiteten  Quellen. 


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Untersuchungen  zu  HerbarU  Philosophie  unil  P&dagogilt. 

■rfreuKcherweise  kann  dieser  vierte  Abschnitt  meines  Berichtes 
dritten  an  Reichhaltigkeit  bei  weitem  überragen.  Ül>er 
Ottelins  akademische  Abhan(llun<^  „Herbartiansk  Historie- 
L-isninc;"  (Geschichtsunterricht  nach  Herbart;  Helsiii^^fors  igo^, 
rsität,  115  S.  kann  ich  freilich  leider,  obwohl  sie  mir  durch 
reundlichkeit  des  Verfassers  zugekommen  ist,  nicht  genauer 
ten,  da  CS  mir  in  der  kurzen  Zeit  nicht  möglich  war,  mich 
cmden  Idioms  mit  Hilfe  des  Wörterl)uches  ^cnüg;-cnd  zu  be- 
igen. Aber  so  viel  habe  ich  doch  gesehen,  dass  sie  sich 
eindringende  Gründlichkeit,  ernste  Wissenschaftlichkeit  sowie 
eine  gute  Kenntnis  auch  der  dnschlägigen  deutschen  Literatur 
chnet,  und  von  ihrem  Inhalt  kann  man  sich  mit  Hilfe  von 
rens  kurzem  Bericht  in  der  „Zeitschrift  för  Philosophie  und 
ogik"  (XV'I,  i)  ein  Bild  machen. 

.US  Dr.  Wellers  im  vorjährigen  Bericht  besprochenen 
,6,  „Locke,  Jeaa  Faul  und  Herbart  über  Jugendspiele"  in  den 
sehen  Blättern  für  erziehenden  Unterricht*'  ist  inzwischen  das 
::he  Buch  „Die  kindlichen  Spiele  in  ihrer  pädagogischen 
timrr  bei  Locke,  Jean  Paul  und  Herhart"  (Langensalza,  Herrn, 
und  Söhne;  „Pädagogisches  Magazin*  Nr.  320)  hervorgegangen, 
^handelt  das  gewählte  Thema  mit  grosser  Gründlichkeit  in 
;ter  Umfassung:  der  frühere  Aufsatz  erscheint  jetzt  nur  noch 
^  bescheidener  Ausschnitt  Um  erschöpfend  sein  zu  können, 
/eller  beispielsweise  bei  Jean  Paul  auch  seine  Dichtungen,  bei 
•  und  Herbart  nicht  bloss  die  pädagogischen,  sondern  auch 
lilosophischcn  und  besonders  die  psychologischen  Werke  mit 
gezogen,  und  es  genügte  ihm  nicht,  einfach  die  Ansichten  der 
*ädagogen  systematisch  darzulegen,  sondern  er  hat  auch  den 
gungen  nachgeforscht,  aus  denen  heraus  sie  erwachsen  sind 
ich  erklären,  ebenso  ihrem  Einfluss  und  ihrer  Einwirkut^i^^  bis 
lic  Gegenwart.  Gerade  aus  der  Parallele  zwischcii  den 
rungen  der  drei  Pädagogen  und  den  tatsächlichen  Ver- 
ssen  der  Jetztzeit  gewann  er  am  Schluss  seines  Werkes 
IC  beherzigenswerte  Winke  für  die  weitere  pädagogische 
idlung  der  Spiele  in  der  Zukunft,  nachdem  er  das  nicht  mehr 
»mässe  in  sachlicher  Beurteilung  von  dem  noch  heute  Brauch- 

und  Nachahmenswerten  geschieden  hatte.  In  der  Anordnung 
tofifes  hätte  es  sich  Weiler  viel  leichter  machen  können,  wenn 
len  der  drei  Pädagogen  nach  einander  fiir  sich  im  Zusammen- 
behandelt hätte;  aber  er  tat  sehr  recht  daran,  die  grössere 

nicht  zu  scheuen,  das  Ganze  nach  sachlichen  Gcsichts- 
en  zu  disponieren  und  stets  vergleichend  vorzugehen, 
irt,  der  sich  nirgends  im  Zubanmieniiang  über  die  Kmderspiele 


—    124  — 


geäussert  hat,  wird,  ebenso  wie  Locke  aus  demselben  Grunde,  bei 
jeder  Kinzclfrajijc  in  l'arallele  zu  Jean  Paul  besprochen,  der  von  den 
drei  Pädagogen  allein  ein  festgefügtes  Schema  über  die  Spiele  auf- 
gestellt hat. 

Eine  Untersuchung  über  „Die  pS3^hoIogische  Denkweise  Herbarts 
in  seiner  Schrift  »Briefe  über  die  Anwendung  der  Psychologie  auf 
die  Pädagogik'  im  Verhältnis  zu  der  modernen  physiologischen 
Psycholof^ie"  bietet  Franr.  Willcrs  in  der  Beilage  zum  Progranun 
Nr.  342  der  h-islebener  Übcrrealschule  i.  t.  Lr  gibt  zunächst  eine 
Charakterisierung  der  psychologischen  Denkweise  Herbarts  in  den 
,3riefen"  Schwieriger  war  die  hierauf  folgende  Charakterisierung 
der  modernen  physiologischen  Psychologie,  weil  hier  eine  ganze 
Reihe  Forscher  herangezos^en  und  in  Verbindung  gebracht  werden 
mussten,  während  für  den  einzigen  Herbart  eben  nur  die  „Briefe" 
systematisch  m  exzerpieren  waren.  Bei  der  das  dritte  Kapitel  aus- 
machenden Parallele  zwischen  Herbart  und  den  modernen  Physio- 
psychologcn  kommt  Willers  zu  dem  Ergebnis:  Herbarts  Psychologie 
in  den  „Hriefen**  ist  in  der  Hauptsache  physiolojü^ische  PsyclioloL^ic. 
Die  moderne  Lehre  dar!  keineswegs  die  Beziehungen  zu  PIcrbart 
ablehnen;  kann  dieser  auch  nicht  als  V^ater  der  physiologischen 
Psychologie  angesehen  werden,  so  ist  er  doch  deren  Vorläufer. 
Th.  Ziehen  ist  bekanntlich  in  seiner  Schrift  „Das  Verhältnis  der 
Herbart'schcn  Psychologie  zur  phx  siolog^isch-expcrimentellen  Psycho- 
lotTie"  (Berlin  1900)  zu  anderen  Ergebnissen  j^ekommen,  aber  es 
muss  betont  werden,  dass  Ziehen  gerade  die  „Briete  über  die  An- 
wendung der  Psydiologie  auf  die  Pädagu^^ik"  nicht  besonders 
untersucht  hat.  WtUers'  fleissige  und  ernste  Arbeit  ist  also  zum 
mindesten  eine  willkommene  Ergänzung  zu  Ziehens  Schrift.  Aber 
es  empfiehlt  sich ,  bei  Benutzung  von  Willers*  Arbeit  die  Be 
richtigungen  und  Kri^änzungen  nachzulesen,  die  Otto  Flügel  in 
seiner  Besprechung  des  auch  von  ihm  hoch  anerkannten  Werkchens 
gibt  („Zeitschrift  för  Philosophie  u.  Pädagogik"  XV,  10,  S.  489—493). 
Sie  sollen  vor  allem  zeigen,  in  welchen  Stöcken  Herbart  den  physio- 
lopschen  Psychologen  überlegen  ist. 

Eine  feinfühliije  Herbart-Studie  ist  auch  M.Schillings  Aufsatz 
„Willensbildurig  und  Interesse"  in  den  „Pädagogischen  Studien" 
(XXIX,  4).  Zwar  bewegt  er  sich  nicht  ausschliesslich  auf  rein 
Ilerbartischem  Boden,  sondern  enthält  auch  Vergleiche  (mit  Kant» 
Eichte .  Pestalf)/.ziV,  Aiiseinandersetznnf^cn  mit  anderen  Forschem 
fz.  n.  Xatorpf  und  praktische  Forderunt^en ,  die  der  kundige  Ver- 
fasser offenen  Auges  aus  den  Erfahrungen  seiner  Amtstätigkeit 
ableitete,  aber  im  wesentlichen  ist  die  Arbeit  doch  eine  sorgfältige 
Analyse  der  Gedanken  Herbarts  über  das  gewählte  Thema.  Das 
wichtigste  theoretische  Ergebnis  ist:  „Für  die  geistige  Regsamkeit, 
die  als  Streben  bezeichnet  wird.  Ijildet  das  Interesse  das  Anfangs- 
gUed  einer  Reihe,  deren  iindglied  der  Wille  ist    Der  Wille  cnt- 


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:  nicht  uniniudbar  aus  dem  Interesse.    Aus  dem  Interesse 
Isen  zunächst  Belehrungen.  Die  Begehnmgen  treiben  zur  Tat 
die  gelingende  und  oft  geübte  Tat  entsteht  das  Wissen 

lönnen.  Das  Wissen  vom  Können  erzeug  aus  der  Brj^rhtung 
/illen."  Ganz  von  selbst  wurde  Schilling;  zu  einer  Ausemander- 
j  mit  Ernst  von  Sallwurk  gciuiut,  der  in  der  „Deutschen 
"  (1906,  Heft  12;  vgl.  meinen  vorjährigen  Bericht)  den  Satz 
:ellt  hatte,  die  Aktivität  sei  ein  fremder  Gedanke  in  Herbarts 
Knk ,  diese  führe  vielmehr  zu  untäti|^er  Beschaulichkeit.  Es 
ir  erfreulicli ,  dass  aucli  liier  in  so  g^riindlicher  uud  wissen- 
ich  sachlicher  Weise  Sailwürks  „auffälliger  Behauptung"  mit 
lenswerter  Entschiedenheit  widersprochen  wird.  Nachdrucks- 
hliesst  der  Aufsatz:  „Die  Untersuchung  über  Willensbildung 
teresse  wird  gezeigt  haben,  dass  ein  Erziehungssystem,  in 
Mittelpunkte  die  Charakterbildung^  steht ,  nicht  zu  untätiger 
.uUchkeit  führen  kann.  Herbarts  Pädagogik  ist  eine  Fäda^c^k 
lt." 

it  einem  der  schwierigsten  philosophischen  Probleme,  aber 
heoretisch,  sondern  historisch-kritisch,  beschäftigt  sich  *Otto 

es   in   seiner    Rostorker    Dissertation    ,,Über   Fichtcs  und 
'ts  Lehre  vom  Ich  und  ihr  \'erhäitnis  zueinander".    Sie  ist 
e  wohlgelungene,  durch  Klarheit,  umsichtige  (Juelienbenutzung 
ihige  Sicherheit  der  Beweisführung  ausgezeichnete  Leistung  zu 
inen.    Bordes  hat  entschieden  Talent  zur  Darlegung  ge» 
lieber  Entwickelungsreihen ;  sehr  gut  ist  z.  B.  gleich  nach  der 
mung  Kants  als  gemeinsamen  Ausi^anj^punktes  P'ichtes  und 
ts  (Einleitung)  und  nach  der  Analyse  des  Kaatschen  Ichs 
,  l)  die  Entwickelung,  wie  Fichte,  der  ursprüngUch  stark  zum 
ismus  neigte  und  dann,  nach  eindringlicher  Beschäftigung  mit 
Philosophie,  deren  Lücken  zu  erkennen  und  sich  nur  die 
)e  gestellt  glaubte  ,  diese  Lücken  zu  ergänzen,  An^ifedeutetes 
ihren  und  noch   Unbewiesenes  auf  die  sicheren   l-'üsse  des 
logischen  Beweises  zu  stellen,  die  phüosophisclie  Betrachtung 
mehr  auf  die  Betrachtung  des  inneren  Lebens,  des  Ichs, 
und  schliessUch  alle  Erfahruni^^  aus  dem  Ich  als  obersten 
'  abzuleiten  suchte  (I,  2  und  3).    Inwieweit  ihn>  das  ^elunt^cn 
Cft  der  4.  Abschnitt  des  ersten  Teils.     Hier  fol^t  Bordes  mit 
Darstellung  des  Ich-Problems  bei  Fichte  nicht  Otto  GühlofT 
transscendente  Idealismus  J.  G.  Fichtes",  Halle  1888),  der  das 
r  ersten  Perk>de  vom  Ich  der  zweiten  Periode  trennt  und 
später  bei  Fichte  ein  ganz  neues  System  an  Stelle  des  alten 
sieht,  sondern  Kuno  Fischer,  der  in  den  Variationen  der  ver- 
=*ncn  Ausgaben  der  „Wissenschaftsichre"  nur  Lntwickelun;^  und 
hritt,    nicht   aber   Gesinnungsänderung    und    Leugiiung  der 
m  Denkart  erblickt  Im  2.  Teil  wird  zunächst  das  Verhältnis 
(ts  zu  Kant  noch  eingehender  bestimmt  (i),  dann  die  all- 


—     126  — 


mähliche  Abwendung  Herbarts  von  Fichte  geschildert  {2).  Ein- 
gehend behandelt  Bordes  hierauf  Herbarts  Kritik  des  Fichteschen 

Ichbegriffs  (3)  und  zeigt  im  4«  Abschnitt  ,  welche  neue  Lösung  des 
Ichproblems  Herbart  an  Stelle  der  Fichteschen  Analyse  des  Ich- 
be^riffs  scl/t.  Und  nun,  im  5.  Abschnitt,  ist  er  im  Stande,  die 
Parallele  zwischen  Fichte  und  Herbart  zu  ziehen.  Sein  Urteil  fallt 
weder  ganz  zu  gunsten  Herbarts  noch  ganz  zu  gunsten  Fichtes  aus: 
er  sdldnt  zwar  Herbarts  Verdienst  um  das  Ichproblem  höher  an- 
7Aischlagen  als  das  F'ichtcs,  hat  aber  doch  auch  ge^cn  Herbarts 
Fösung  Einwände  zu  erheben.  Wieweit  sie  berechtigt  sind  oder 
nicht,  kann  hier  nicht  entschieden  werden. 

Unter  dem  Titel  „Herbarts  Ästhetik  und  der  Kunstanschauungs- 
unterricht in  der  Volksschule"  hat  R.  Hahn  in  den  „Deutschen 
Blättern  für  erziehenden  Unterricht"  (XXXV,  45  und  46)  einen  durch 
geschickt  gewählte  Beispiele  und  das  Streben  nach  scharfer  Begrifis- 
Scheidung  ausgezeichneten  Aufsatz  erscheinen  lassen,  in  dem  er 
folgende  Sätze  zu  erhärten  sucht:  „i.  Herbarts  allgemeine  Ästhetik 
hat  nicht  nur  historische  Bedeutung,  sondern  darf  sich  als  Versuch, 
das  Wesen  des  Schönen  wissenschaftlich  zu  erfassen,  durchaus  neben 
den  modernen  Auffassunji^cn  sehen  lassen  und  ist  von  ihnen  keines- 
wegs überholt ;  2.  der  Kunstaiischauun^'sunterrirht  ist  eine  Forderung 
der  Herbartschen  allgemeinen  Pädagogik  und  iindet  seine  wissen- 
schaftliche Stütze  in  Herbarts  allgemeiner  Ästhetik."  Es  ergibt  sich 
in  der  Tat  aus  Hahns  Ausführungen  die  Richtigkeit  dieser  Sätze, 
doch  scheint  mir  der  letzte  Teil  der  zweiten  These,  dass  der  Kunst- 
anschauun^^sunterricht  seine  wissenschaftliche  Stütze  in  Herbarts  all- 
gemeiner Ästhetik  finde,  nicht  ausführlich  genug  begründet  zu  sein: 
im  Schlussabschnitt  redet  zu  viel  der  Verfasser  selbst,  wälirend 
man  vielmehr  die  Darlegung  Herbartscher  Gedanken  als  Beweis- 
mittel erwarten  sollte.  Hahns  Arbeit  ist  als  Heft  350  des  „Päda- 
gogischen Magazins"  von  Friedrich  Mann  bei  Beyer  und  Mann  in 
Langensalza  anch  ^^csondert  erschienen. 

Die  besten  wissenschaftlichen  Leistungen  des  Berichtsjahres  auf 
unserem  Gebiete  wurden  uns  im  bescheidenen  Rahmen  zweier 
Dissertationen  geboten,  gehen  aber  weit  über  das  Mittelmass 
derartic^cr  Arbeiten  hinaus,  ja  sind  zwei  der  lichtvollsten  Studien 
über  Ilerbart,  die  wir  je  erhalten  haben:  Alfred  Zicchncr,  „Herbarts 
Ästhetik",  und  Martin  Walt  her,  „J.  F.  Herbart  und  die  vor- 
sokratische  Philosophie"  (Halle  a.  S.,  Hofbuchdruckerd  vcmi 
C  A.  Kaemmerer  u.  Co.).  Wenn  auch  nicht  alle  Resultate  der 
äusserst  tief  eindringenden  Untersuchung  Walthers  neu  sind,  so 
gewinnt  doch  auch  das  Alte  in  dieser  Geschlossenheit  und  in  dieser 
reichen  Verbindung  mit  einer  Fülle  von  Neueni  eine  besondere 
Wirkung,  und  beides  zusammen  wird  zu  einem  Gewebe  von 
zwingenden  Schlüssen.  Je  sparsamer  sich  Herbart  selbst  über 
seinen  Entwickelungsgang  ausgesprochen  bat,  desto  dankenswerter 


—    127  — 

die  Bestrebungen,  die  Beweggründe  aufzudecken,  die  ihn  zum 
en  und  Suchen,  zum  Schwanken  und  schliessHchcn  Entscheiden 
ilasst  haben.  Welche  Rolle  hierbei  die  zu  Herbcirts  Frühzeit 
:r  ans  Licht  gezogenen  V'orsokraiiker  ^fcspiclt  haben,  ist  das 
la  Walthers.  Sein  Endergebnis  aber  ist  folgendes:  Die  Philo- 
e  bat  die  alten  An&ige  echter  Metaphysik,  wie  sie  bei  Heraklit, 
enideii,  Zeno  und  den  Atomikem  vorlagen,  die  Probleme,  die 
I  diese  frühen  Denker  erkannt  und  aufgeworfen  hatten,  ver- 
n.  Aber  diese  Fracken  warten  immer  noch  auf  Antwort,  uiui 
ifbeit  muss  wieder  N  on  vorn  an  beginnen .  wieder  genau  so 
3ei  den  Vorsokratikern.  Darum  schrieb  Herbart  der  vor- 
tischen Philosophie  für  die  akademische  Jugend  eine  ganz 
dere  Bedeutung  zu.  „Wenn  ein  Anlanger,"  sagt  er,  „heutigen 
;  die  Metaph^'sik  zuerst  aus  Rüchern  und  T.ehrvorträcijen  kennen 
wodurch  sie  ihm  als  historische  Tatsache  und  deshalb  un- 
ridlich  als  eine  gelehrte  historische  Masse  erscheint,  wenn  er 
Masse  nicht  auflösen,  sie  nicht  auf  Ihre  Elemente  zurück- 
ihren  Ursprung  nicht  begreifen  kann:  dann  helfen  ihm  die 
die  Anfange  der  Fäden  zu  finden,  aus  welchen  sich  später 
erworrcnste  Gewebe  erzeugt  hat  .  .  .  Sie  bekennen  ihm  ihre 
:n  Verlegenheiten  und  fordern  ihn  auf,  zu  überlegen,  was  sie 
für  einen  Gebrauch  von  heutiger  Naturkenntnis  würden 
:ht  haben,  wenn  ihr  Erfahrungskreis  auf  einmal  die  jetzige 
lerung  erhalten  hätte."  Demgemäss  musste  es  aber  auch, 
VValther  fort,  Merbarts  Forderung  für  die  Geschichte  der 
aphie  sein,  dass  sie  i>ragmatisch  dar<?telle  und  zei^e,  dass  und 
ie  wahren  metaphysischen  Probleme,  die  jedes  Denken  in 
ung  erhalten,  schon  die  alten  Jonier,  Eleaten,  Atomiker  he- 
gt haben;  dass  und  wie  diese  Probleme  aber  fernerhin  ver- 
worden sind;  weiter,  dass  und  wie  dieselben  Ar.triebe  des 
ns  heute  wie  damals  bestehen  urul  in  den  Kampf  hinein- 
i,  und  endlich,  dass  und  wie  die  alleräitesten  Versuche,  die 
me  zu  lösen,  schon  eine  betrachtliche  Annäherung  an  die 
.eit  enthalten. 

an  sieht,  Walthers  Arbeit  ist  zunächst  rein  historisch  orientiert, 
t  ein  starker  entwirkclungsgeschichtlicher  Zug  durch  sie  hin- 

der  genetische  Aufbau  der  Metapliysik  I  lerbarts  ist  uns  durch 
scntlich  bekannter  geworden,  ja  wir  müssen  hierin  in  mancher 
(vgl-  z.  B*  S.  64)  entsdüeden  umlernen.  Aber  sie  reicht 
h  weit  über  das  bloss  Geschichtliche  I^inaus,  sie  zeigt  am 
1  des  jungen,  suchenden  und  findenden  Herbart,  wie  Meta- 

überhaupt  getrieben  werden  soll,  wie  eng  sie  sich  an  die 
chtc  der  Philosophie  anzuschllesscn  hat.  Es  ist  geradezu  das 
:ste  Ergebnis  der  Arbeit,  dass  Walther  zeigt  (z.  B.  S.  40  f.  in 
Exkurs  über  das  ämigov  des  Anaximander),  Herbarts  Philo- 
verdiene  durchaus  nicht  den  ihr  oft  gemaditen  Vorwurf,  ein 


unhistorisches  Abspringen  vom  geschichtlichen  Verlauf  der  Philo- 
sophie zu  sein.  Im  Gegenteil  steht  keiner  unserer  grossen  Denker 
wie  Herbart  im  Strom  der  Geschichte  der  Philosophie,  keiner  hat 
diese  Geschichte  wie  er  verstanden  und  zu  benutzen  gewusst. 

Dass  Walther  von  einem  sehr  gründlichen  Herbartstudium  her- 
kommt, beweist  nicht  nur  die  Sicherheit,  mit  der  er  immer  mit 
wenigen  vür/.ÜL^lich  ausgewählten  HauptsteUen  den  Kern  der  Herbart- 
sehen  Gedanken  scharf  herauszuheben  versteht,  sondern  auch  der 
Umstand,  dass  er  nebenher  eine  ganze  Fülle  von  feinen  Kinzel- 
bemerkungen  hinschüttet,  die  er  nicht  ohne  weiteres  am  Wege  auf- 
lesen konnte.  So  wird  z.  B.  Herbarts  Verhaltnb  zu  Spinoza 
beleuchtet,  so  wird  gelegentlich  eine  falsche  Lesung  in  Kehrbacbs 
Ausgabe  von  Hcrbarts  ,, Sämtlichen  Werken"  berichtigt,  f?o  wider- 
s^)richt  Walther  aucli  Mcrbarts  eigenem  Zeugnis,  wenn  es  die 
Ergebnisse  seiner  üntersucliung  verlangen.  Zu  dem  reichhaltigen 
Literaturnachweis  ist  jetzt  anzumerken,  dass  von  Diels,  „Die  Frag- 
mente der  Vorsokratiker"  inzwischen  (Anfang  1908)  der  erste  Tai 
von  Bd.  n  erschienen  ist. 

Walthers  schöne  Arbeit  gewährt  einen  reizvollen  Einblick  in 
Hcrbarls  Werkstatt:  wie  er  bald  positiv  einen  Gedanken  aufnahm, 
bald  durch  Widerspruch  zu  Eigenem  gelangle,  bald  einen  fremden 
Gedanken  bis  in  seine  äussersten  Konsequenzen  verfolgte  u.  s.  £ 
Vielleicht  zeigt  nichts  die  geistige  Stärke  Herbarts  so  deutlich  wie 
die  gcwaltlL^rc  Kraft,  mit  der  er  die  Ideen  der  X'orsokratiker  kritisch 
und  selbständig  verarbeitete,  und  wenn  man's  nicht  schon  wüsste, 
SO  würde  die  Schrift  Walthers  auch  dartun,  wie  beharrlich  und  un- 
erbitdich  Herbart  jedem  Pit>b]em  auf  den  Grund  ging.  Für  manchen 
Leser  wird  sie  noch  eine  letzte  und  vielleicht  sehr  wichtige  Be- 
deutung haben:  sie  wird  ihm  die  Metaphysik  Herbarts  in  ihrem 
positiven  Wert  nahe  bringen,  deren  Durchschlagskraft  für  ihn 
wesentlich  erhöhen. 

Alfred  Ziechners  vollwertige  Leipziger  Dissertation  über 
„Herbarts  Ästhetik,  dargestellt  mit  besonderer  Rücksicht  auf  seine 
Pädagogik  und  im  Zusammenhange  mit  der  Entwickelung  der 
Ästhetik  an  der  Wende  des  18.  zum  19.  Jahrhundert  betrachtet" 
(Druck  von  Frankenstein  und  \VaL,mer  in  Lci|v/,icrl  hat  sich  im  Rerichts- 
jahr  beide  Preise  der  philosophischen  Eakuität  zu  Leipzig  errungen. 
Die  klar  und  in  sich  reich  gegliederte  Arbeit  schiclrt  dem  eigent> 
liehen  Thema  einen  Abschnitt  „Herbart  als  Schüler  Fichtes  und 
Schillers,  der  Vertreter  zweier  Geistesströmungen  und  Denkweisen'' 
voraus,  erörtert  dann  die  X^oraussetzungen  für  Herhart s  ästhetische 
Lebensanschauung,  hierauf  deren  Inhalt,  nänüich  erstens  die  all- 
gemeine Ästhetik,  das  Gefallen  einfachster  Verhältnisse,  das 
ästhetische  Urtdl,  zweitens  die  „Kunstlehren",  das  Gemessen  des 
Kunstschönen,  das  Kunsturteil,  endlich  das  Ästhetische  im  weiteren 
und  engeren  Sinne  im  Verhältnis  zur  Pädagogik.  Um  eine  Gesamt* 


129  — 


;  über  die  Arbeit  abzugeben,  genügt  es  vielleicht  zu  sagen, 
Hosdnskys  bekanntes  Buch  üba*  Herbarts  Ästhetik  weit  i£er- 

;ii  ist  Aber  das  wichtigste  Ergebnis  Ziechners  liegt  doch 
dem  Gebiete  einer  ganz  allgemeinen  Herbart-Frage:  was 
sch  (vgl  meinen  vorigen  Bericht)  und  andere  für  die 
gogik  nachgewiesen  haben,  beweist  hier  Ziechner  für  die 
etik,  nämlich  dass  Herbarts  Hauptbedeutung  nicht  im  Syste* 
ichen,  Schematischen,  Konstruktiveii  liegt,  sondern  in  der 
?n  lebensvollen  Weitanschauung  und  Persönlichkeit, 
Bei  Herbart  zeigt  sich  ein  Nebeneinander  zweier  verschiedener 
rweiseii :  es  spricht  einmal  der  empirisch  oder  durch  Gefühls- 
:  bestimmte  Mensch,  zum  andern  der  systematisierende 
soph.  Daher  ist  Herbarts  Lebensanschauung  „nicht  in  allen 
ten  der  Inhalt  seines  Systems;  seine  ästhetische  Lebens* 
lauung  ist   mehr  als  seine  philosophische  Ästhetik,  und  was 

in  ihr  gefunden  hat:  sie  ist  eine  Lcbensanschauung  im 
reten  Sinne  des  Wortes,  mit  dem  tiefinnersten  Wesen  seiner 
'  verknüpft,  sie  ist  nicht  ein  blosses  philosophisches  Sich- 
Trechen  über  Fragen  des  Ästhetischen".  Die  eigentliche  Auf- 
die  sich  Herbart  in  Bezug  auf  die  Ästhetik  zu  lösen  vor- 
•b,  war  die,  „einfachste  Prinzipien  objektiv  wissenschaftlicher 
•ufzustellen",  aber  er  ging  mit  einer  Fülle  von  feinsinnigen 
irungeii  über  ästhetische  Fragen  weit  über  diese  Aufgabe 
s.  „Herbarts  ästhetische  Lebensanscfaauung  ist  reicher  und 
svoller  als  der  Inhalt  der  Par^iaphen,  die  in  der  J'inlcitung 
ie  Philosophie'  der  Ästhetik  j^i^ewiffmet  sind.  Herb:irts 
tische  Lebensanscliauung  kann  nicht  erkannt  werden  bei 
rung  seiner  Urteile  über  Ästhetik  von  seiner  übrigen  Gedanken- 

sondem  nur  im  Ifinblick  auf  sein  vorB%lich  etlusch  inter« 
tes  Denken  und  seine  pädagogisch-psychologische  Denkweise 

nur  unter  steter  Vergegenwärtigung  seiner  individuellen 
art." 

)iese  ijanze  Gedankenreihe  greift  nun  auch  über  auf  das 
igogisclie  Gebiet.  „Nicht  Herbart  selbst,  wohl  aber  seine 
e  traf  es,  was  Schulze-Perghof  sagt:  es  güt  ,Lücken  Im  System 
irts  auszufüllen,  zu  ergänzen,  zu  erweitem',  nämlidl  durch  die 
ilsbildung  im  Ästhetischen.  In  Herbarts  System  ist  diese 
:  gar  nicht  vorhanden."  Denn  „die  Fliege  des  ästhetischen 
sses  hat  Herbart  ausdrücklich  hervorgehoben,  und  ihre  Aus- 
r  ergibt  sieb  aus  einer  tieferen  Duvclidringung  der  Ghrond- 
seiner  Pädagogik  mit  weit  grösserer  Notwendigkeit  als  etwa 
arre  Anwendung  der  fünf  Formalstufen". 

üechner  verrät  ausgeprägten  Sinn  für  geschichtliche  Zusammcn- 
■,  nimmt  stets  auf  die  Zeitströmungen  Rücksicht  und  geht  bei 
anzen  Untersuchung  aus  von  dem  Bdilieu,  in  das  Herbart  bei 
n  Eintritt  in  Jena  gestellt  wurde:  die  Welt  Fichtes  und  die 


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—    i30  — 


Wdt  Schillers.    Hochinteressant  ist  der  Beweis,  wie  eng  ach 

Herbart  an  die  ästhetischen  Anschauungen  des  letzteren  anschloss. 
Manche  feine,  trefTende  Bemerkung  fällt  nebenbei  ab,  i.  B.  die  über 
die  „glücklichen  Inkonsequenzen",  die  im  ,,Umriss '  die  strengen 
Folgerungen  aus  dem  „intellektualistischen"  Unterbau  durchbrechen. 
Den  Satz  (S.  40),  dass  geschichtlicher  Sinn  nicht  Herbarts  Stärke 
gewesen  sei,  wird  Ziechner  selbst  nicht  festhalten  wollen,  wenn  er 
Walthers  oben  besprochene  Arbeit  gelesen  haben  wird. 

Aus  demselben  Geiste  freiester,  weitester  IIcrbart-Betrachtung 
ist  endlich  auch  eine  schöne  Schrift  gewachsen ,  mit  der  wir  die?e 
Mitteilungen  voll  ausklingen  lassen  können.  Denn  wie  itn  vorigen 
Bericht  in  der  feinfühligen  Schrift  „Herbarts  pädagogische  Kunst^ 
von  Karl  Häntsch  ein  Buch  genannt  werden  konnte,  das  mitteo 
hinein  in  die  „modernen"  Versuche,  den  „ledernen"  Herbart  ,, endlich 
emmal"  abzutun,  den  Fanfarenruf  schickte:  ,,I''reudc  an  Herbart! 
Ihr  bekämpft  ja  nur  das  Gerippe;  sucht  doch  das  lebendige 
Fleisch;  Ihr  seht  ja  nur  das  Schema;  fasst  doch  endlich  den 
Geistl"  —  so  haben  wir  auch  dieses  Jahr  wieder  die  Freude,  in 
Paul  Dieterings  Werk  „Die  Herbartsche  Pädagogik,  vom  Stand- 
punkte moderner  Erziehiingsbestrebnni^^  n  gewürdigt"  (f^eipzig,  Fritz 
Eckardt)  ein  Buch  anführen  zu  können,  das  uns  die  Fülle  der 
Herbartschen  Gedankenwelt  nahebringt,  das  uns  zeigt,  wieviel 
immer  wieder  neu  zu  hebende»  nie  veraltende  Schätze  in  Herbarts 
Pädagogik  liegen,  wenn  man  nur  nicht  glaubt,  sie  erschöpfe  sich  in 
gewissen  didaktischen  Regeln  und  Rezepten.  Solche  Bücher  haben 
etwas  Beschämendes,  denn  sie  offenbaren,  wie  wenig  tief  das 
Herbart-Studium  von  Männern  gewesen  sein  muss,  die  in  rascher 
Verurteilung  dazu  kommen  konnten,  Herbart  „ledern"  zu  nennen, 
wie  wenig  historischer  Sinn  —  wenn  sie  auch  noch  so  viele  „Ge« 
schichten  der  Pädagogik"  geschrieben  hätten  —  in  ihnen  vorhanden 
sein  musste,  dass  sie  einen  solchen  Mark<;toin  in  der  Geschichte 
der  Pädagogik  einfach  überspringen  zu  können  glaubten,  wie 
äusserlich  aber  auch  noch  immer  bei  manchen  „Herbartianern"  die 
Kenntnis  ihres  Meisters  ist:  das  Schema  seiner  Lehre  kennen 
sie  genau,  der  reiche  Gedankenbom  dagegen,  der  seiner  lebens- 
vollen  Persönlichkeit  ent-si^rincrt,  floss  ihnen  noch  nicht. 

Die  Schrift  Dielerings  zeigt,  was  wir  freilich  schon  wussten, 
dass  man  mimcr  nur  gegen  euizelne,  teilweise  \\\  der  bekämpiica 
Passung  gar  nicht  einmal  auf  Herbart  selbst  zuruckzulUhrende, 
herau^egriffene  Bruchteile  seiner  Lehre  kämpfte,  dass  die  Bruchteile 
nichts  weniger  als  den  Kern  seiner  Lehre  ausmachen,  dass  die 
Kritik  also  mehr  oder  weniger  in  die  Luft  stiess,  dass  man  in 
diesem  Kampfe  gegen  Herbart  gar  nicht  den  wirklichen  Herbart 
bekämpfte  —  und  kannte,  kurz,  dass  die  Art  und  Weise,  wie  man 
Herbart  gegenwärtig  in  wissenschaftlich  und  vor  allem  pädagogbcb 
interessierten  Kreisen  behandelt,  seiner  Bedeutung  nicht  im  ge- 


.  ijui.  u  i.y  Google 


ten  gerecht  wird.   Das  zdgt  Dieterin^  —  und  hierin  liegt  das 

seines  Buches  nicht  in  negativer  Kritik,  sondern  er  erbrln<;![t, 
virkun^svoUcr ,  den  positiven  Beweis,  dass  Herbarts  Ideen 
unter  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  noch  vorzüglich  brauchbar 
Weder  die  „individualistische"  noch  die  „universalistische",  weder 
soziale"  noch  die  „autonomtstische",  weder  die  „künstlerische" 

die  „sittlich-religiöse"  Seite  der  Erziehung  vermag  sich  über 
ichlässigung  in  Herbarts  I'ädagogik  zu  beklagen,  und  nach 
ler  Richtung  die  modernen  Bestrebungen  nur  immer  den 
eipunkt  der  Jugendbildung  vorlegen:  nie  vermissen  wir  bei 
iTt  die  entspre^enden  Vordeutungen  und  Voraussetzungen, 
srsagt  die  Fülle  seiner  Anregungen  und  praktischen  Fii^r- 
Das  ist  für  Dictering  das  vielleicht  nur  gelegentlich  zu  un- 
gt  hingestellte  Ergebnis  seiner  ersten  fünf  Abschnitte.  Dass 
auch  der  Vorwurf,  Herbart  habe  über  der  Sorge  für  die  Seele 
[enschen  die  Pflege  seiner  ph>'sischen  Gesundheit  vernachlässigt^ 

Berechtigung  habe,  zeigt  der  Verfasser  in  seinem  6.  Abschnitt 
den  „hygienischen  Zug"  in  I  lerbarts  Pädagogik,  in  dem  vor 

die  „Mutterschaftsfrage"  Interesse  verdient,  und  der  sich 
lieh  auch  mit  Wellers  Buch  über  die  Spiele  bei  HerbarL  be- 
Nach  alledem  kommt  Dietering  zu  dem  Schlüsse,  dass 

allen  Gezeters  über  Herbarts  Pedanterie  und  sein  veraltetes 
erstarrtes  System  .  .  .  die  gesamte  moderne  Pädagogik  auf 
I  Schultern  ruht,  und  dass  die  .neuen  Lehren',  die  jetzt  häufig 
ai ktschrcicrisch  angepriesen  werden,  im  Grunde  docli  nichts 
es  sind  als  mehr  oder  weniger  glückliche  und  mehr  oder 
!r  einseitige  Ausprägungen  der  Ideen,  die  Herbart  schon  vor 
-  als  einem  halben  Jahrhundert  ausgesprochen  hat".  Das 
f)lle  Ruch  kann,  aufmerksam  gelesen,  in  hohem  Masse  der 
icfung  des  Studiums  der  Herbartschen  l^ädagogik  dienen: 
die  Methode  Dietcrings,  Einzclbcgriffe  (Individualität, 
sse  usw.)  genau  und  im  Zusammenhang  zu  analysieren,  wird 
ics  klarer,  als  wenn  man  es  —  bei  Herbart  selbst  —  bald  da, 
dort  an  getrennten  Stellen  liest.  Ein  vortreflTliches  Inhalts- 
chnis  mit  der  Reichhaltigkeit  eines  Sachregisters  gewährt 
istes  Zurechtfinden  in  dem  Werke,  das  freilich  ernst  mit- 
ende und  hingebende  Leser  voraussetzt,  wenn  es  den  vollen 
n  bringen  soll,  den  es  dank  seiner  Tüchtigkeit  bringen  kann. 


9» 


Die  vielklassige  Sehula, 
ihre  Vorteile  und  Nacliteile,  und  andere  Organfeationefragen. 


Die  Klasseneintcilunt;  ist  wie  der  Lelirplan ,  der  Stundenplan 
und  die  Schulordnung  ein  Stück  der  Schulorganisation.  Welcher 
von  diesen  Teilen  itir  den  ganzen  Schulorganismus  der  wichtigere 
ist,  dürfte  kaum  zu  sagen  sein;  fraglos  wächst  die  Bedeutung  jedes 
derselben  in  dem  Verhältnis,  wie  die  Teilung  der  Schule  zunimmt. 
Eine  Organisation  überhaupt  muss  sowohl  die  einklassige  wie  die 
32  klassige  Schule  haben.  Die  Organisationsfrage  der  Klassen- 
teilung darf  in  ihrer  Bedeutung  keineswegs  unterschätzt  werden, 
wenn  sie  auf  den  ersten  Blick  auch  nur  als  eine  Schulformfrage 
erscheint,  denn  „je  zweckmässiger  die  Form,  desto  vollkommener 
der  Inhalt".')  Ihr  ist  hi^  /um  Jahre  iSoo  weder  von  Pädagogen 
noch  von  Behörden  besondere  Aufmerksamkeit  zugewandt  worden, 
weil  man  einesteils  weitgehende  Erwägungen  über  Klassenteilung 
nicht  für  wichtig  genug  hielt,  weil  andemteils  die  äussere  Not« 
wendigkeit  grösserer  Klassenzahlen,  bewirkt  durch  grosse  Einwohner- 
und Srhiilerzahlen,  ni^ht  vorlag.  Hrst  das  19.  Jahrhundert  ha!  dio 
Frage  der  Klasseneinteilung  aufgerollt  und  sie  besonders  in  seinen 
letzten  Jahrzehnten  zur  Diskussion  gestellt  Ausserdem  zeigt  das 
19.  Jahrhundert  auch  in  praxi  die  Vergrössening  und  Teilung  der 
Volksunterrichtsanstalten  von  der  einstufigen  bis  zur  achtstufigen, 
von  der  cinklassigcn  bis  zur  vielklassigen  in  unbestimmter  Abgrenzung. 
—  In  Bezug  auf  unser  Thema  dürfte  eine  Unterscheidung  zwischen 
den  Begriffen  „vielstufig"  und  „vielklassig"  zu  machen  sein  —  eine 
Unterscheidung,  die  im  taglichen  Leben  wie  in  schriftlichen  Ab- 
handlungen in  der  Regel  nicht  eingehalten  wird.  Die  Zahl  der 
Stufen  einer  Schule  kann  u.  E.  ihre  Höchstgrenze  nur  in  der  Zahl 
der  Schulpflichtjahre  in  Preussen  z.  B.  8,  in  Bayern  7  *)  haben, 
während  die  Klassenzahl  durch  Parallel-,  Nachhilfe-,  Forder-,  gehobene, 
Oster-  und  Michaelisklassen  eine  beliebige,  nicht  allgemein  fest- 
zusetzende Zahl  erreichen  kann.  In  Rucläicht  auf  die  historische 
EntwickcU:ii[:(  ler  Klassenteilung  werden  wir  als  vielstufig  die 
sieben-  bis  achtstufige  anzusehen  haben ,  denn  die  allgemeinen 
Bestimmungen  von  I872  und  eine  Ministehai- Verfügung  vom  29. 1 1. 75 


Voo  0,  Hiarssymia»  Rektor  io  hcv. 


I. 


•)  Sdt  I.  September  1907  flir  Knaben  nneh  S  Fffidttjalue. 


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I  das  Sechsklassensystem  fiir  die  höchste  Entwickelungsfonn 
reiklassigen  Nonnakchule.    Als  viel  kl  assig  müsste  diejenige 

?  bezeichnet  werden,  <iic  durch  Teilung  der  Stufen  in  der 
jng  eines  der  vorgenannten  Gesichtspunkte  die  Zahl  der 
1  über  8  hinaus  unbeschränkt  vermehrt  hat 

II. 

ür  die  richtige  Beurteilung  und  Bewertung  der  vielstufigen 
elklassigen  Schulen  dürfte  die  Anführung  und  kurze  Beleuchtung 
ründe,  die  ihre  Einrichtung  erwünscht,  zum  Teil  notwendig 
:ht  habea,  nicht  zu  umgebeii  sein.  Sie  lassen  sich  unter 
ppen  bringen:  kulturdUe,  materielle  und  pädagogische. 

it  der  steigenden  Kultur  wachsen  auch  die  Anforderungen 

er  wie  innerer  Art,  die  an  die  Volksschule  gestellt  werden, 
r  und  Elektrizität,  Erfiiuiungen  und  Kntdeckungen,  die  wirt- 
ichen  Lebensverhältnisse  in  Familie  und  Staat  müssen  langsam 
iicher  die  Schule  zu  einer  Anpassung  nach  aussen  wie  innen 
;n.  So  behauptet  auch  Scherer  im  pädagogischen  Jahres« 
:  1902:  ..Die  Schulorganisation  folgt,  wie  uns  die  Geschichte 
hulwcsens  lehrt,  immer  der  fcntwickelung  des  kulturellen  und 
en  Lebens  eines  V^olkes  nach.  Das  Schulwesen  muss  sich 
leuen  daraus  hervorgehenden  Forderungen  anpassen.  £s 
ten  neue  Schularten,  welche  den  neuen  Bedürfoissen  Rechnung 

sollen."  Die  Statistik  zeigt  eine  rasche  Zunahme  vielklasstger 
smen.  Während  es  im  Jahre  1886  in  Preusscn  290  sicbcn- 
ehrkl assige  Schulen  gab,  steigt  deren  Zahl  m  10  Jahren  (i  896) 
33  und  nach  weiteren  5  Jahren,  nach  der  amtlichen 
k  von  1901  auf  16161  Dementsprechend  vermindert  sich  die 
der  wenigklassigen ,  namentlich  der  einklassigen  Schulen, 
tzteren  gehen  in  der  erstgenannten  Periode  um  14^/0  in  den 
1,  8'/4®/o  auf  dem  Lande  zurück  und  die  ersten  8  Jahre  unseres 
Jahrhunderts  zeigen  einen  rapiden  Fortschritt  in  der  Ver- 
lg  derStdeii  und  Klassen.  Nach  der  zuletzt  vereflTentHchten 
sehen  Statistik  vom  20,  Juni  1906  ist  die  Zahl  der  8  stufiges 
i  auf  544  gestiegen,  wovon  allein  auf  Berlin  282  =  S^^U 
n.  Das  .Warum"  dieser  Krscheinung  liegt  auf  der  Hand: 
rspricht  sich  von  einer  mehr  gegliederten  Schule  mehr  Erfolge, 
iweise  Unterrichtscrfolgc,  wie  überhaupt  in  der  gegenwärtigen 
reit  „die  Menge  des  Wissens  und  der  Fertigkeit  massgebend 
en  ist  für  die  Arbeit  der  Volksschule".*)    Ob  diese  Voraus- 

betrefis  des  grösseren  Erfolges  richtig  ist,  soll  nachher  vom 


n  den  früheren  Statistikea  ist  eine  zahlcnnüssige  Trennung  zwischen  7-  und 
Sjritemen  noeli  nicht  gctroffien. 
»ncltt.  Zur  Sclndfcfiinn. 


pädagogischen  Standpunkte  aus  untersucht  werden.  —  In  mindestens 
demselben  Masse  ist  das  oben  genannte  Klassenwachstum  durch 

materielle  Gründe  veranlasst,  von  denen  als  hauptsächlichster 
die  Schüler  zahl  zu  nennen  ist.  Denn  für  Vermehrung  der  Schul- 
klassen ist  in  den  allermeisten  P'iillen  das  Wachstum  der  Schülerzahl 
ausschlaggebend.  Die  letztere  führt  zunächst  zu  einer  Klasse n- 
vermehrung,  in  zweiter  Linie  bei  Vorhandensein  auch  anderer, 
namentlich  örtlicher  Rücksichten,  zur  Einrichtung  neuer  Schulen. 
Denn  nicht  minder  wichtig  und  cinfliissreich  ist  die  Geld-,  Platz- 
und  Zeitfrage.  In  «grösseren  Volkszcntrcn  ist  die  Vermehrung  der 
Schülcrzalü  oft  so  rapid,  dass  Schulgebäude  nicht  so  schnell  zu 
bescbafien  sind,  woför  unsere  Reichshauptstadt  mit  ihren  583  Klassen 
in  gemieteten  Räumen  und  28  Klassen  ohne  eigene  Klassenzimmer') 
einen  schlagenden  Beleg  bietet;  auch  kostet  eine  neue  Schule  mit 
neuer  Schulvcrwaltung  und  Einrichtung  viel  Geld.  Die  Vermehrung 
von  Klassen  an  vorhandenen  Schulen  lässt  sich  leichter  ermöglichen 
und  ist  nicht  so  kostspielig;  wie  ja  überhaupt  jeder  Grossbetrieb 
prozentuell  billiger  ist  als  der  Kleinbetrieb. 

Für  Lehrer  sind  die  pädagogischen  Gründe,  welche  für 
oder  wider  eine  Vermehrung  der  Stufen  und  Kiassrn  in  Betracht 
kommen  können,  die  wichtipi^stcn  und  ausschlaggebenden,  und  wir 
betrachten  es  als  die  Hauptaufgabe  unserer  Ausführungen,  diese 
eingehender  au&ufuhren  und  zu  beleuchten,  um  so  unter  Mas^abe 
allgemeiner  pädagogischer  Prinzipien  eine  feste  Grrundlage  für  die 
Org^anisationsfraf^e  zu  gewinnen.  Diese  Untersuchung  wird  uns 
Gelegenheit  ^eben,  die  Vor-  und  Nachteile  der  viclklassigen  gegen- 
über den  wenigklassigen  bis  hinab  zu  den  einklassigen  Schulen  auf- 
zusuchen und  zu  beurteilen.  Es  kommen  hier  3  Hauptfaktoren  in 
Frage:  Die  Schüler,  der  Lehrer,  der  ganze  Schulbetrieb. 

in. 

Bei  der  Sciiulcrzieiiung  pflegt  man  gemeinhin  die  uuternchtiiche 
und  erziehliche  Seite  zu  unterscheiden.  Alle  Schulen,  ohne  Rücksicht 
auf  ihre  Grrösse  und  Teilung,  verfolgen  das  gleiche  Ziel :  bei  einer 

möglichst  grossen  Anzahl  von  Schülern  möglichst  weitgehende 
Unterrichts-  und  Krzichungsrcsultate  zu  gewinnen.  Während  die 
Unterrichtsgegenstände  nach  Zahl  und  Art  bei  allen  im  wesent- 
lichen gleich  smd,  gehen  die  mehr-  oder  vidldassigen  Schulen  in 
der  Auswahl  und  N^nge  des  Stoffes,  in  der  Herausarbeitung  der 
Methode  und  der  Absteckung  der  Ziele  über  die  ein-  und  wenig" 
klassieren  hinaus.  Auf  erziehlichem  Gebiete  Vorteile  zu  haben,  wird 
in  Hinsicht  auf  das  vielklassige  System  nicht,  wohl  aber  bezüglich 
des  ein-  und  wenigklassigen  oft  betont    Die  öffenUichkeit  sucht. 


1)  Sutiitik  vom  ao.  Juni  1906. 


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—   13S  — 

wir  schon  ausführten,  die  Vorzüge,  besonders  auf  dem 
terrichtsgebiet  —  Diejenige  Unterrichtsanstalt  wird  nun 
emein  —  abgesehen  von  einzelnen  Ausnahmeleistungen  —  die 
;en  Erfolge  zeitigen  können,  bei  der  die  Unterrichtsbedingungen 
günstigsten  sind,  und  dies  ist  dann  der  Fall,  wenn  die  Schule 

hier  in  Betracht  kommenden  psychologischen  wie  technisch- 
ctischen  Anforderungen  möglichst  weitgehend  Rechnung  trägt 
iirend  in  der  ein-  und  wenigklassigen  Schule  sämtliche  oder 
trere-  Alters-  und  Bildungsstufen  zusammen  sind,  kann  mit  der 
:hoienden  Zahl  der  Klassen  eine  dem  geistigen  Stande  der 
Jer  entsprechende  Scheidung  und  eine  diesem  Geistesstnnde 
prcchende  bessere  methodische  Ausgestaltung  des  Unterrichts 
offen  werden.  Darnach  ist  fraglos  diejenige  Scliule  die  voU- 
imenste,  die  för  jedes  Schuljahr  eine  besondere  Stufe  und  dem- 
prechend  einen  besonderen  Stoff  und  eine  besondere  Methode 

Schülern  bieten  kann.  Damit  ist  keineswegs  gesagt,  dass  jede 
inde  Klasse  nur  neue  Stoffe  habe.  Im  Gegenteil  ist  für  die 
Uassige  Schule  eine  Gefahr  die  zu  weitgehende  Vermehrung  der 
fe,  wozu  einerseits  die  leichtere  und  grössere  Darbietungs- 
lichkeit,  andererseits  die  Forderungen  des  modernen  Lebens 
ihren  können.  Dadurch  würde  sie  sich  des  Vorzuges,  den  ae 
chtlich  des  Stoflfumfangcs  tatsächlich  hat,  begeben  und  den 
.vurf,  der  ihr  von  der  wenigklassigen  Schule  oft  gemacht  wird, 
chtigrt  erscheinen  lassen,  dass  sie  vieles  einpfropfe  nur  zum 
^ssen.  Es  wird  deshalb  in  dem  Lehrplan  der  vielldanigen 
ile  nur  das  eingefugt  werden  dürfen«  was  dem  kindlichen 
;issungs-  und  Begriffsvermögen  zugänglich  und  für  dir  Allgemein- 
ing,  die  das  heutige  Volks-  und  Kulturleben  fordert,  unentbehr- 
isL  —  Die  Individualität  der  iünder  ist  ausserordentlich 
Flieden,  und  der  Unterricht  wird  um  so  mannigfaltiger  sein, 
ehr  Altersstufen  in  einer  Klasse  vereinigt  sind.   Deshalb  dürften 

Fröhlich*)  „jedenfalls  nicht  mehr  als  zwei  verschiedene  Altcrs- 
n  gemeinschaftlich  unterrichtet  werden".  In  der  einklassigen 
en  z.  B.  in  der  Religion  in  der  Unterabteilung  drei,  in  der 
abteilung  fünf  Altersstufen  (Kinder  von  9 — 14  Jahren)  gemeinsam 
"richtet  —  ein  Notbehelf,  der  psychologisch  und  meth<raisch  nach 
rr  Seite  zu  rechtfertigen  ist,  denn  ein  grosser  Teil  des  Stoffes  der 
stufe,  noch  dazu  in  einer  der  Oberstufe  entsprechenden  metho- 
en  Behandlung,  stellt  für  die  Mittelstufe  den  nacktesten  didakti- 
1  Materialismus  dar.  Eine  beachtenswerte  Seite  der  Individualität 
eBegabung  der  Kinder.  Die  grössere  Klassenzahl  gestattet  es, 
der  Schwachbegabten  besonders  anzunehmen,  ihnen  ohne  Ver- 
ung  der  Dienststunden  des  Lehrers  NachhUfestunden  zu  geben, 
ventl.  in  besondere  Hilfsklassen  zu  schickeiL    Wenn  zwar  die 


-)  Die  Giundlehren  der  Schulorganiiation. 


Forderung  der  Gegenwartspädagogik,  wonach  die  Schülerzahl  einer 
Klasse  45  lücbt  übersteigen  soll,  auch  für  die  vielklassigen  Scliukn 
im  allgemelnea  nicht  entfernt  eHiittt  Ist,  so  haben  sie  doch  darch- 
schnitüich  eine  geringere  Klassenfrequenz  als  die  ein-  und  wenig- 
klassigen  Systeme,  an  denen  es  nach  der  Statistik  \'on  looi  in 
Preussen  noch  422  Klassen  mit  je  120  bis  über  210  Kindern  L,^ab. 
„So  nachdrücklich  normale  Frequenzverhältnisse  der  Vertiefung  des 
unterrichtfichen  und  erzieUichen  Einflusses  Vorschub  leisten,  so 
schwer  müssen  anormale  die  Erreichung  des  Zieles  schädigen  und 
bis  zu  einem  orewissen  Grade  in  Frage  stellen."*)  Ausgeglichen 
wird  die  grössere  Frequenz,  falls  sie  in  der  mehrklassigcn  Schule 
vorhanden  ist,  durch  die  psychologisch  gewährleistete  Gleichmässig- 
keit  des  gleichen  Alters  der  Kinder  in  derselben  Klasse.  Immerhin 
wird  ja  auch  eine  solche  Klasse  mit  emem  Durchschoittsmass  der 
Begabung  zu  recluien  haben ,  und  alle  Schüler  werden  auch  in  der 
Altersstuff  nklasse  das  Endziel  nicht  erreichen ,  welch  letzteres 
jedoch  die  ein-  und  weingkla^igen  von  sich  ebensowenig  behaupten 
können. 

Wenn  wir  oben  ausfiSirten,  dass  in  der  mehrklassigen  Schule 
die  Stoffgrenze  weiter  gesetzt  werden  könnte,  so  erscheint  es  fast 

als  ein  Widerspruch,  den  weiteren  Vorteil  anzuführen,  dass  die 
Stoffpensen  für  die  einzelnen  Klassen  kleiner  bemessen  und 
gleichmässiger  verteilt  sind.  Ein  einfaches  Divisionsexempel  be- 
stätigt aber,  diese  Behauptung:  je  grösser  der  Divisor,  desto  Idetner 
der  Quotient;  das  will  si^en:  je  grösser  die  Zahl  der  Stufen,  desto 
kleiner  der  auf  die  einzelne  entiallettde  Teil  des  Gesamtpensums 
setze  man  letzteres  nun  so  eng  oder  weit  wie  man  wolle  Die 
Kleinheit  des  Pensums  ist  aber  nicht  von  zu  unterschätzendem 
Wert,  denn  „je  kleiner  das  Pensum,  desto  grösser  die  Möglichkeit 
allseitiger  Bearbeitung  und  Befestigung".^  —  EKesen  letzten  I\nkt 
KU  betonen  ist  wichtig  wegen  der  von  den  Vertretern  der  ein-  und 
wenigklassigen  Schul rn  allgemein  nls  Vachteile  der  mehrklassigen 
Schule  ins  Feld  getuhrten  Behauptung:;«  n  und  Vorwürfe  folgender 
Art:  In  der  viclstufigen  Schule  bekommt  das  Kind  jedes  Jahr  ein 
neues  Pensum,  das  erledigt  werden  tnuss.  Die  Bearbeitung  steht 
unter  dem  Signum  der  i^e:  keine  Ruhe,  nur  Forteilen;  keine 
Schonzeit,  nur  Ausnutzung  —  kein  Festhalten  früherer  KapttafieOi 
nur  viele  Stoffe  verarbeiten,  um  sie  zu  —  vergessen.  Alles  wird 
mündlich  gemacht,  Griffel  und  F'eder  w^erden  wenig  gebraucht; 
durch  ständiges  Fragen  und  Mitarbeiten  des  Lehrers  kommen  die 
Kinder  vom  (j&ifribande  nicht  los;  zum  ebenen  and  selbstindigea 
Aibeiteii  und  Erarbeiten  bietet  sich  ihnen  nicht  Zeit  noch  Gelcgietiheit^ 

*)  Statistische  Beila^  mr  PSdago^scKen  Zeitung  1907,  No.  3. 
*)  Reiiikc,  Organisations*  und  Lehrplan. 

')  Stehe  bienctt  Oitinetiiches  Scbulblatt  1894,  lliciBa  <lcr  ostiriesiscbco  Haupt» 
Tenammliwg  in  Leer:  Wu  Itum  die  mMimmgt  von  der  diJJMijeea  Sctele  lenco' 


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—  Das  wären  in  Wirklichkeit  schwere  Mängel,  die  unverzüg^lich 
eine  Abstellung  erheischten,  die  unter  Umständen  schon  allein 
dixu  zwingen  könnteii,  das  gaiuee  Sj^tem  —  wenn  sie  in  dessen 
Organisation  begründet  lägen  —  zu  beseitigen.    Wir  müssen  diese 

ernsten  Vorwürfe  deshalb  etwas  auf  ihre  Stichhaltigkeit  untersuchen. 
Die  ein-  und  wenij^klassige  Schule  meint  nach  der  Behauptung  ihrer 
Vertreter,  dem  V^erg^ssen  dadurch  vorbeugen  zu  können,  dass  ein 
und  dasselbe  Kind  in  derselben  Abteilung  oder  Klasse  denselben 
Stoff  mehrere  Jahre  lang  bekonunt,  dass  femer  durch  Kombination 
mehrerer  Abteilungen  bei  einzelnen  Fächern  Stoff-  und  Unterrichts- 
gleichheit noch  verlängert  werden  kann.  Die  Sicherheit  des  Fort- 
schritts und  des  Erfolc^es  mubse  so  ohne  Zutun  schon  mit  jedem 
Jahre  waciisen.  linuu  käme  noch,  dass  durch  die  ständige 
Möglichkeit  einer  Bezugnahme  auf  das  in  früheren  Jahren  &' 
handelte  und  Gelernte  auch  dieses  Alte,  immer  erweitert  und 
vertieft  wird.  Zunächst  ist  zu  bemerken,  dass  in  der  mehrklassigen 
Schule  die  neue  Stufe  nicht  nur  neue  Stoffe  bringt,  sondern  auch 
die  in  der  Vorklasse  bereits  vorgekommenen  wieder  verwertet. 
Neben  und  mit  dem  Neuen  das  Altel  Der  Lehrer  an  der 
sBdvklassigen  Schule  baut  in  seiner  Klasse  also  keineswegs 
in  der  Luft,  ohne  die  Gmindlage  zu  halten  und  zu  beachten ;  er 
verschleudert  keineswegs  die  vorhandenen  Kapitalien.  Wenn  das 
mehrjähricrc  Beibehalten  prenau  desselben  Stoffes  zu  besonderer 
Sicherheit  und  Vertiefung  luhren  soll,  so  könnte  man  das  ebensogut 
als  Stagnation  bezeichnen,  und  wieviel  bei  der  sogen.  Kombination 
mehrerer  Jahrgänge  herauskommt,  das  hat  uns  das  Beispiel  aus  dem 
Rcli.7:onsuntcrricht  rj^czcigt.  Den  psychologischen  Nachweis  lassen 
wir  hier  folgen:  wenn  man  mit  vereinigter  Mittel-  und  Oberstufe 
einen  Unterrichtsstofl'  —  ganz  abgesehen  von  der  Auswahl  —  ge- 
meinsam zu  behandeln  genötigt  ist,  so  muss  auf  alle  Fälle  die  eine 
der  beiden  Stufen  zu  kurz  kommen.  Denn:  bei  Kindern  von 
8 — II  Jahren  (Mittelstufe)  ist  alle  Muhe  darauf  zu  verwenden,  dass 
sie  die  primitiv  (pcrzcptiv)  gewonnenen  Vorstellungen  auch  dem 
vorhandenen  Seelenleben  7Aiführen,  einordnen,  verdauen,  assimilieren. 
Bei  der  Oberstufe  muss  man  die  selbsttätige  Apperzeption  der 
meisten  Unterrichtsstoffe  als  bisheriges  Erziehungs-  und  Alters- 
resultat mehr  oder  weniger  voraussetzen  und  den  kindlichen  Geist 
weiterfuhren  zur  Reflexion,  zu  Begriff  und  Urteil,  l'ciclr'^  lässt  sich 
bei  Kindern  so  verschiedenen  Alters  nicht  vereinen.  Soll  der 
Unterricht  zu  klaren  VoreteUungen,  Begriffen  und  Urteilen  führen, 
soll  er  das  gleichschwebende  und  vielseitige  Interesse  aller  Schüler 
entwickeln  und  pflegen,  soll  er  zur  Selbsttätigkeit  anleiten  und  dem 
Wollen  Kraft  und  Konsequenz  verleihen  —  so  ist  nötig,  dass  der 
Lehrstoff  nicht  unter  oder  über  dem  geistigen  Horizont  der  einen 
Hälfte  der  Schüler  liegt,  und  dass  die  Vorstellungsma^en  eine  den 
psychologischen  Grundforderungen  entsprechende  Behandlui^  er- 


-   138  - 


fahren  können.  —  Übermässig  zu  hasten  und  zu  eilen  ist  schon 
deshalb  nicht  nötig,  weil,  wie  schon  erwähnt,  das  Pensum  kleiner, 
das  SchülemiateriaS  einheitlicher  ist  Entschieden  bessere  Chancen 
aber  hat  die  mehrklasage  in  Bezug  auf  die  der  Individualstufe  ent* 
sprechende  sorgsame  Verarbeitung^  und  Vertiefung  der  Unterrichts- 
stoffe. —  Die  Gefahr  des  einseitigen  mündlichen  Unterrichts,  der 
zu  geringen  schriftlichen  Betätigung,  des  zu  vielen  Gängeins  der 
lünder  liegt  f&r  die  vielklassigen  taääeUieh  n&her  als  för  die  wenig- 
klassigen,  denn  besonders  in  der  einklassigen  Schule  wird  in  dieser 
Hinsicht  bei  den  2 — 5  Abteilungen  die  Not  zur  Tugend.  Man  darf 
nur  das  sogen,  selbständige  Arbeiten  weder  in  seiner  Quantität 
noch  Qualität,  wie  bezüglich  seines  dauernden  Erfolges  nicht  über- 
schätzen j  auf  eine  kritische  Untersuchung  dieses  eigenen  Eraxbeitens 
wollen  wir  im  Rahmen  unserer  Art^t  jedoch  nicht  eingehen. 
Gesagt  sei  nur  nodi,  dass  der  in  der  mehrklassigen  Schule 
mögliche  Fehler  einer  zu  geringen  schriftlichen  Beschäftigung  eine 
gleich  bedenkliche  Parallele  hat  in  der  zu  geringen  mündlichen 
Beschäftigung,  die  der  Lehrer  der  ein*  und  wenigklassigen  Schule 
den  einzelnen  Kindern  und  Abteilungen  zuteil  werden  lassen  kann. 
Wenn  in  der  einklassigen  Schule  stets  2  oder  3  Abteilungen 
schriftlich  beschäftigt  sind,  so  muss  dem  Lehrer,  der  gleichzeitig 
mit  einer  andern  mündlich  arbeitet,  die  Überwachung  und  sorg« 
fältige  Korrektur  unmöglich  werden.  Gewiss  ist  auch  ein  stetes 
und  zu  langes  Gängeln  der  Entwickelung  zur  Selbsttätigkeit  und 
Selbständigkeit  hinderlich  —  man  fiihre  das  Kind  auf  allen  Stufen 
dahin,  möglichst  seine  eignen  Kräfte  zu  gebrauchen.  Man  ppSetze 
es  aufs  Pferd ,  so  wird  es  schon  reiten  können".  V^ergesse  man 
aber  doch  nicht,  dass  das  Kind  auch  bei  der  Selbstarbeit  der  sorg- 
Uchen  Beobachtung  und  mehr  im  Hintergrunde  stehenden  Leitung 
bedarf,  damit  es  nicht  —  die  Ge&hr  liegt  bei  seiner  Unreife  um  so 
näher,  als  es  an  Schuljahren  jünger  ist  —  in  falsche  Geleise  gerat 
In  der  Tat  vermag  der  Schüler  wenig  ganz  aus  sich  selbst  heraus 
zu  erarbeiten  —  wozu  wäre  denn  aber  auch  der  Lehrer  und  seine 
Methode  da?  Die  Probe  aufs  Exempel  bietet  ja  schliesslich  das 
Resultat.  Wären  die  oben  aufgeführten  schweren  Nachteile  der 
vielklassigen  Schule  tatsächlich  vorhanden,  so  müsste  am  Ende  der 
Schulzeit  die  schriftliche  Leistung  eines  Kindes  dieser  Anstalt  weit 
hinter  derjenigen  der  andern  zurückstehen  —  die  Wirldichkeit  redet 
aber  eine  andere  Sprache  und  beweist  das  Gegenteil! 

Nach  den  bisherigen  Untersuchungen  dürfen  wir  wohl  zunächst 
folgendes  feststellen:  Ein  Schulorganismus  ist  um  so  voll- 
kommener, je  mehr  er  sich  in  seiner  Stufenzahl  der 
Zahl  der  Schulpflichtjahre  nähert.  Die  grössere 
Klassenteilung  ermöglicht  eine  reichhaltigere  Auswahl  und  erfolg* 
reichere  Verarbeitung  der  Lehrstoffe. 

SchlnsB  folgt. 


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—    139  — 


B.  Kleinere  Beitrlge  und  Mitteilnngen. 


L 

Herbarts  Stellung  zun  Arbeiteunterrichto. 

Von     Witt  ig  in  BrlniuulorfL 


Die  „moderne  Pftdagogik"  beieheit  ans  fast  täglich  Den«  Werke;  wirklich 
gen»  indcnen  nur  wenige.  Was  uns  da  oft  mit  laotem  SdiaUe  als  Nenhelt 

angeprieND  wird,  zeigt  sich,  genan  besehen,  als  altes,  chnrürdiges  Erbetttck  Ton 
einem  nnjirer  piulfiL^^^ciMclien  Klassiker.    An^^h  in         räilasjoßrik  erkennen  wir, 
fast  wie  in  der  Mode,  die  Wahrheit  döä  Jsprnches  vom  Kreisläufe  der  l  'iiiL'^  '  und 
i'Jeeo.  £iue  Torheit  wäre  es  darum,   wenn  wir  über  der  muderueu  Pädagogik 
UMeier  Klaadker  vergenen  wollten.  Sie  kSnnen  nne  for  Hodunnt  bewahren, 
zugleich  aber  auch  vor  Oberflächlichkeit,  Flachheit:  wie  in  Stein  gemeisselti  tat, 
bestimmt,  klar,  tief  dnrchdiieht  .stehen  ihre  Werke  vor  nns.  vorbildlich  für  unsere 
gei.«»tiir»'  .Arbeit.    Sie  können  uns  aber  auch  ermuntern  zn  weiterem  Vordringen 
aof  beschrittener  Bahn,  wenn  wir  in  ihnen  onsre  Vorkämpfer  erblicken. 

Eker  wn  denen,  die  ao  ntanober  nModeme"  tftr  ttberwnnden  etaehtet  (weU 
er  eie  nieht  kennt),  iat  anaer  Jok.  Friedrich  Herbarl  Die  folgende  Zn- 
sammenstellting  Herbartischer  Worte  mOehto  mit  dazu  beitragen,  ihn  als  noch 
nicht  so  ^nnt  veraltet  zu  zeig-en.  Ans  zweien  seiner  bedeutenilsten  Werke  wollen 
wir  ihn  zu  uns  sprechen  laiiätin,  dem  „Umrii»ii  pädagogischer  Vuriesuugeu''  (1836)') 
und  der  „Allgemeinen  Pädagogik  ans  dem  Zweck  der  Erziehung  abgeleitet"  (1806).*) 
Als  Abkttranng  bei  Nennnng  beider  bedienen  wir  nna  für  eiatecea  «tf.",  für 
letstena  „A.  P.". 


Wir  glauben  Worte  eine«  nnfrer  Modernsten  zu  huren,  wenn  ITerhart  «prieht: 
„Mit  den  lifkariüten  Werkzeu^'eu  der  Ti.schler  sollte  jeder  heranwachsende  Knabe 
uud  Jüu^'-img  lungtsheu  lerueu,  ebeusowohi  aii>  mit  Lineal  und  Zirkel.  Mechaniitche 
Fertigkeiten  würden  oft  nOtslieher  aein  ala  Tonflbnngen.  Jene  dienm  dem  Geiate^ 
dieae  dem  Leibe.  Zn  Bflrgerschulen  gehören  Werkschulen,  die  nicht  gerade 
Gewerbschulen  zu  sein  brauchen.  Und  jeder  Mensch  soll  seine  Hilnde  gebrauchen 
erneu.  Die  Hand  hat  ihren  Ehrenplatz  neben  der  Sprache,  am  den  Henachea 
Iber  die  Tierheit  sa  erheben."   (U.  §  2bd.) 

Der  Hand  ihren  Eluani^ati  ndven  dar  Spraelnt  Dan  iat*^  nm  waa  wir  j^st 
.oeh  kttmpfen,  waa  man  in  der  Eraiehnng  Gdatig-Sehwacher  behentfgt.  In  der 
er  Geistig-Gesunden  aber  leider  venutchl&ssigt  oder  Überhaupt  nicht  fllr  nOtig 
ält.  Das  Schlagwort  von  der  harmonischen  Ausbildung  aller  KrHfte  und  Fahig- 
äiteu  braucht  man  Überreichlich;  dass  aber  die  Pflege  der  geiatigen  und  körper- 

Heclam-Ausgabe. 
*)  Pndag.  Sammelmappe,  Heft  159,  I^eipaig,  Siegiamund  &  Yolkening. 


I.  Die  Arbeit  im  Dieaate  der  Erziehung  im  allfleaieinen. 


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—    I40  — 


liehen  Arbeit  die  Hannonip  cr^t  herstellen  kann,  vergisst  man.  Herbart  belehrt 
uns  anch  darüber:  „Die  jL,'»nstige  Tätigkeit  ist  auch  gfestind!  sowohl  wie  <\\f 
Tätigkeit  der  Glieiliuasseu  und  der  iuuern  Or^uue^  ea  werde  alles  stuammea  m 
Bewegung  gewtst^  so  dtM  «s  leiste,  was  es  ktane,  ohne  irgend  eine  Kraft  n 
eisehöpfen.  Nur  was  ohne  Interesse  lange  fortgetrieben  wird,  das  verzehrt  Geist 
nnd  Körper;  doch  auch  dies  nicht  so  Hcbnell,  das?  man  die  ersten  Schwiericrkeiten 
dessen,  was  bald  interessieren  wird,  ta  tiberwinden  sich  »ebenen  dürfte.  Man 
gewöhne  au  Arbeitsamkeit  aller  Art."  (A.  P.  S.  127,  Abs.  2,  Z.  16.)  BUdang  und 
daraus  hervots^MBde  Getuidhelt  des  KOrpers  und  Oeistes  ist  ihm  das  evstrabcns- 
wflTM  Ziel  der  Endehmi^  im  besonderen  aach  Tom  Standpunkte  der  Idee  der 
T«llkoBinienheit  ans:  „Durcblänft  man  nun  die  übrigen  praküscben  Ideen, 
so  erinnert  die  Idee  der  Vollk  tniTiienheit  an  Gesundheit  des  Körpers  und  Geiste^ 
samt  der  Wertschätzung  beider  und  ihrer  absichtlichen  Knitnr."    (U.  g  10.) 

Ein  anderer  Gesichtspunkt  noch  lässt  Herbart  die  Arbeit  alü  Kreiehungsmittel 
iofdem:  nVen  Nator  kommt  dar  MenM^  lur  Erkenntnis  dnieii  Bifüining.''  (A.  P. 
8L  42.)  Mato^mä88  werden  es  für  das  Kind  zunächst  äussere  Erfahrungen  sein; 
sugleich  müssen  sie  an  Dingen  i^cinacht  wr  rden  die  des  Kim!^  Interesse  fesseln. 
Beidem  entspricht  die  Arbeit.  Darnm  Uerbart:  „Er  sei  wer  er  sei,  die  Bauern, 
Hirten,  Jäger,  die  Arbeiter  aller  Art,  und  ihre  Knaben  werden  ihm  in  friikhern 
Jaluren  der  treJDielists  Dmgang  sein;  wohin  sin  ihn  mitnehmen,  wird  er  fon  ihnM 
lamen  «nd  gewinnen.''  (A.  P.  S.  48,  Alis.  8;  Z.  6.)  Nvn  spiieht  er  aber  weiter: 
„Der  eigentliche  Kern  unseres  geistigen  Daseins  kann  durch  Erfahrung  und  üm> 
^ne^  nicht  mit  sicherm  Erfolge  gebildet  werden.  Tiefer  in  die  Werkstätte  der 
Gesinnungen  dringt  gewiss  der  Unterricht!"  (A.  P.  S.  4ü,  Ahn.  2.)  Scheidet  er 
damit  die  körpodiehe  Arbeit  fttr  die  Schule  ans?  Keineswegs.  Man  mnss  nur 
wissen,  dass  Harbart  unter  Untemoht  jede  abaiehtlielie^  bewnsste  bildende  Ein- 
wirkung auf  den  Zögling  versteht,  also  ebenso  die  planmissige  Arbeit  im  Werk- 
nnterricht  nnd  in  der  S(>hf)k'r Werkstatt.  Er  meint  also  nur  —  nnd  wir  mit  ihm: 
—  wir  können  «lit>  Bildung/  nicht  dem  Zufall  überlassen,  sondern  müssen  nach 
einem  festen  i'ian  bei  uuserm  „Gewübneu  an  Arbeitsamkeit  aller  Art''  vorgeben. 

Sebliesslieh  ünden  wir  bei  Herbert  anch  den  Hinweis  anf  die  sosiale 
Seite  des  Arbditsuntenicbtes:  ,J)m  Verwaltungssystem  hat  einen  wichtigen 
Bezug  auf  Pädagogik,  indem  jeder  Zögling,  ohne  Unterschied  des  Standes,  daran 
gewiJbnt  werden  muss,  sich  auzuscbliessen.  nm  für  ein  geselliges  Ganze  brauchbar 
zu  sein.  Diese  Forderung  kann  sehr  viele  verschiedene  Gestalten,  auch  in  Bezug 
anf  KSiperbildong  annehmen."  (U.  §  15.)  Wenn  aneh  das  Wort  j^rbeit**  hier 
feUt,  so  sehen  wir  doeh  eine  fierechtigiing  sn  nnserer  Annahme  in  den  Worten 
„auch  in  Bezug  auf  Körperbildung**. 

Bei  aller  Pfleg-e  nnd  Wert«' TiiUxung  der  Arbeit  dürfen  wir  aber  uiemal5 
Terg^sen,  dass  wir  durch  sie  erziehen  wollen.  Der  Alli::emeinbildung  wollen  wir 
dienen,  nicht  aber  auf  einen  besiiuimteu  Beruf  vorbereiten.  Letzteres  ist  Sache 
der  Fsdtsdinlea.  Httbart  UUt  die  Warnung  aneh  schon  fttr  nStig :  „Mit  einndnen 
Abnormititen,  welche  die  Natnr  in  der  Anlage  zuliess,  darf  die  Erddiiuig 
nimmermehr  gemeine  Sache  machen,  oder  der  Mensch  ist  zerrüttet.  Unter  dem 
Titel  bescheidn'^r  T  if^hhahereif^n  nn'.tren  sich  schöne  Talente  in  Nebf^i^tunden 
ausbilden  und  sehen,  wie  weit  sie  kommen  können.  £s  ist  die  Sache  d^ Individuums, 


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—    141  — 


•b  M  seinen  Beraf  danach  zu  bestimmen  wtg<e;  der  Sk^her  kann  lagleich  Ba^ 
geber  sein,  aber  di»  Anielnuig  «rbätet  nieht  Ittr  den  Beraf  !**  (A.  P.  &  96^ 

Abs.  2,  Z.  IT/i 

Die  bisher  aTi<:eführten  Aussprüche  bezogen  sich  auf  die  Fordenine:  der 
eniehlichen  Knabcnbandarbeit  im  allgemeinen.  Des  weiteren  werden  wir  darlegen, 
wift  HeriMurt  die  Axbeit  im  beioiidereB  im  IKcnfl  der  8  HeapttitigkfliteB  der 
Breieliniig  Ywwertet  wieeen  nfiebfte,  im  Dimutie  der  Regieruig,  dee  Unterriclitik 
der  Zadit. 

2.  Die  Arbeit  im  Dienste  der  Regierng. 

pDie  Grundlage  der  Regierunt?  besteht  darin,  die  Kinder  zn  beschäftigen. 
Dabei  wird  hier  noch  auf  keiueu  (iewinn  für  Geiätesbilihnif::  r^^srhen;  die  Zeit 
soU  jedenfalls  aa»gefUllt  sein,  wenn  auch  ohne  weitereu  Zweck  ak  nur  Unfug 
SU  vermeMeii.  ffierin  liegt  jededi  die  forderniig^  deie  dem  BedfliMe  UbiMilielier 
Bewegong,  insoweit  die  jedetmalige  AHenstnUe  ee  mit  eidi  Iringt,  Genüge 
geschehe,  scbou  nm  die  nattirliclie  Unruhe,  wekhe  daraus  entstdrt^  abmleiteB. 
Das  Bedürfnis  ist  nicht  bei  allen  gleich  gross;  ee  gibt  Individuen,  welche  un- 
bändig erächeiuen,  weil  man  »ie  zum  Sitzen  zwingt."  (U.  §  46.)  Unter  diesen 
Gesichtspunkt  fällt  zum  Teil  die  in  den  Knabenhorten  betriebene  Arbeit,  Auf 
dem  Lande  Imt  man  eolelie  Kiwbeiihorte  weniger  nOCig,  Imiieht  man  nidit  vm 
Beschäftigung  verlegen  zu  sein,  um  m  mehr  in  denStftdten.  Darum  begrOsetet 
H^r>i;\rt  an  anderer  Stelle,  dass  die  Erzieher  einen  Ausweg  geschaffen  haben  mit 
dl  r  Kuif  Uiruiiij  der  Arbeit-  Mit  dem  grOssten  Rechte  aber  liabon  die  Erzieher 
iaugät  daraut  gesonnen,  ilcn  üiudem  eine  Menge  angenehmer  und  unschädlicher 
Besoliiftigungea  danmUeten,  mn  dadurch  die  Dnnihe  abmleiten,  welche  ein»»- 
dämmen  sn  schwer  ist"  (A.  P.  S.  19,  Z.  10.)  Spiel  allein  lengweilt  mit  der 
Zeit;  angemessene,  den  Qeist  in  Anspruch  nehmende  Arbeit,  niemals.  Sie  ermfidet 
höchstens,  was  wiederum  vom  Standpunkte  der  Regierung  au.s  nicht  unerwünscht 
sein  kann.  Nun  besteht  die  Möglichkeit,  dass  der  Zögling  sich  die  Arbeit  selbst 
wihlt,  eiiA  Biso  Mdbst  beschäftigt,  oder  dass  ihm  eine  bestimmte  Aulgabe  gestellt 
wild.  Am  besten  ist  jedenfells  eine  Vereinigung  beider.  Und  so  sind  wohl  andi 
Herbarts  Worte  aufzufassen:  „Selbatgewählte  Beschäftigungen  haben  sw*r, 
wenn  allf^  ttbrige  gleich  ist,  den  Torzug;  allein  selten  weiss  die  htrrend  '«ich 
hinri^^u  liuüd  und  anhaltend  zu  be.sohäftigeu.  Bestimmte  .Aufgaben,  dies  oder  jenes 
2U  tuii,  bis  es  fertig  ist,  sichern  die  Ordnung  beä«»er,  als  regelloses  Spieleu,  welches 
in  Iiongeweile  sn  endigen  pflegt"  (U.  §  47.)  Bei  allem  Ftthrea  nnd  Regieren 
doch  dem  Wunsche  des  Zöglings  nach  Möglichkeit  entgegensokommen,  fordest 
auch  der  §  55  im  „Umris.s":  ..In  der  Regel  muss  man  darauf  gefasst  sein,  dass 
die  Jugend  versuchen  werde,  die  Sehr  inkr  n  zu  (irweiteru,  sobald  sie  dieselben 
empfindet.  Ist  sie  nach  Wunsch  besctiatiigi,  und  sind  die  Schranken  gleichförmig 
iM,  so  werdea  die  Yennidie  dagegen  «war  bald  an|gegeb«i,  aber  sie  enenem 


'  '  Ist  hier  nur  der  UMfntiTe  Zw  i  horont,  s->  wird  deswegen  der  positiTe, 
der  schon  in  Unterricht  uadZncht  hinübergreift,  nicht  verkannt  —  wie  ja  auch 
Herbert  mdnfseh  daianf  hinweist,  dass  dm  strenge  tbeoretisehe  Seheidnng  von 
BegieniBf  ,  Untssriehti  Zaebt  in  der  Fkaxis  sieht  bestehi 


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—     142  — 


rieh.  Bei  zanehraenden  Jahren  ändern  sich  die  BeachUtigiingMi,  und  die  Schranken 
müssen  allmählich  erweitert  werden.  Es  kommt  nun  daranf  an.  ob  iuz wischten 
die  Erziehnnf»-  weit  genug;  vorareschrittcii  sei,  damit  die  Rejneruncr  entbehrlicher 
werde.  Akdann  richten  »ich  die  gewünschten  Bescbäftignngeu  nach  den  Aoasichteo, 
dift  du  junger  Mensch  BCinem  Stuid  imd  VennCgen  gemäss,  in  VcrUadiuig  mit 
nntttrliehen  Eähigfceiten  uid  eiwoibeneu  Kenntnineiif  für  leine  Znkimft  gMuH 
findet.  Solche  fUr  ihn  zweckmässige  Beschäftigungen  zu  begünstigen,  hingegen 
die  blo5Sf:n  Liebhubercio'n  nnd  Hpnicssnnpcn  anf  das  ünsrbHdliche  zu  beschränken, 
bleibt  auch  jetzt  noch  das  Amt  der  Regierung,  die  nicht  zu  früh  ganz  darf  aus 
den  Händen  gegeben  werd^  bennden  dann  nicht,  wenn  die  Umgebung  so 
beediaffen  ist,  dan  fie  Verffllunmg  besorgen  lässt."  (U.  §  56.) 

KDnnte  ftim  jemand  einwenden,  dass  Herbart  in  den  angefahrten  Anasprilefaea 
doch  TOB  Arbeit  direkt  nicht  rede,  sondern  nur  von  Besi  häftigimg  im  allgemeiaen, 
es  also  zweifelhaft  sei,  ob  er  aw  h  nti-^r-  Knabenhandarbeit  im  Sinne  q;ehaM  habe, 
so  sei  der  §56  des  , .Umrisses"  noch  angeführt,  der  alle  Zweifel  zerstreuen  mus^: 
„Die  Kinder  miisäen  iu  jedem  Falle  be»chäftigt  sein,  weü  der  Müsäiggang  zum 
Unftag  und  der  ZflgeUosigkeit  flthrt  Besteht  ntm  die  BesebUtigung  in  nttts* 
lieber  Arbeit  (etwa  Handwerks-  od«r  Fddariieit),  desto  beeser.  Und  noch  besser, 
wenn  dnreh  die  Beschäftigung  etwas  gelehrt  und  gelernt  wird,  welches  znr 
Bildung  für  die  Zukunft  beiträgt.  Aber  nicht  alle  Beschäftigung  ist  Unterricht : 
und  wo  schon  die  Regierung  der  Kinder  schwierig  wird,  da  ist  nicht  immer  das 
Lernen  die  paasoidste  BeschKftignng.  Manche  heraniradisende  Knaben  kommen 
eher  in  Ordnung  beim  Handwerker  oder  beim  Kanimann  oder  beim  Ökonomen 
als  in  der  Scbnle."  (U.  §  66.) 

3.  Die  Arheit  im  Diwtto  das  Untarriobtna. 

Herbart  ist  mit  dem  Schnibetrieb  seiner  Zeit  dnrehans  nicht  ehiTerstandea. 

Er  sagt:  „Da»  Knabenalter  wird  durch  deu  tePs  nOtIgen,  teils  nützlichen  Unter- 
richt oftmals  auf  eine  Weise  gedrüekt.  die  mau  zwar  t  lehrten  Stande  sich 
zn  verhehlen  sucht,  die  aber  anderwiirtö  auffällt,  nnd  wobti  .Mut,  Entschlossenheit« 
Gewandtheit,  Eigentümlichkeit,  Körperbildung  und  geistige  Produktion  wesentlich 
leiden.  Einige  wenige  Standen  gymnastischer  Obung  sind  kein  dnrehgreifendes 
Oegramittel."  (U.  §  896.)  Als  Qegenmittel  achfttst  er  die  Famüieneniehmig; 
richerlich  nicht  zuletzt,  weil  sie  das  Kind  zur  .Arbeit  erzieht  und  damit  den 
ganzen  Menschen  bildet.  Die  Schnler2iehnn<3r  sollte  sich  nach  Krilften  bemühen, 
darin  ihrer  Partneiin,  der  Familienerziehung,  ähnlich  zu  werden:  „Dem erziehenden 
Unterridite  liegt  alles  an  der  geistigen  Tätigkeit,  die  er  yeranlasst  Diese  soll 
er  vermehren,  nicht  Termindem;  vered^,  nicht  Teradüeditem.  ^  Anmerknng. 
Vomindaning  entsteht,  wenn  unter  vielein  Lernen,  Sitzen  —  besondere  unter  dem 
oft  nnntitzcn  Schreiben  in  allerlei  Schnlhüchem  —  die  Köq  f  ildang  in  solcher 
Art  leidet,  da^s  früher  oder  später  Nachteile  für  die  (iesundheit  erfolgen  Daher 
neuerlich  eine  Begünstigung  gymnastischer  Übungen,  bei  denen  aber  die  Heftigkeit 
der  Bewegungen  kann  übertrieben  werden,  yerscbtechtemag  entifiehti  wenn  das 
Wissen  anr  Ostentation  nnd  xnr  Erlangung  nasserer  Vorteila  diant:  die  nafdhtsilige 
Seite  mandier  öffentlichen  Frftfongen.  Die  Scholen  aollten  nicht  genStigt  sein, 


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—   143  — 


all«  SU  Migfliif  WM  sie  Idaten.  ^  Wenn  der  Untenkfat  anf  solche  Weise  gegen 
seinen  Zweek  wiikt,  so  setst  er  sidi  ttberdies  mit  der  Zucht  in  Widenrfveity 
nelohe  für  die  gunze  Zukanft  des  Zöglings  dahin  zo  sehen  hat,  ut  sit  mens  sann 

in  corpore  sano."  (U.  §  59.)  Ganz  l»p«(<ii'!or«?  eife  rt  Ht^rbart  anch  gegen  die 
Ansicht,  dass  die  Schule  nur  Kenntnisse  zu  übermittelu  habe:  ..Inwiefern  durch 
den  Unterricht  bloss  Kenntnisse  dargeboten  werden,  insofern  läs^t  sich  anf  keine 
Weise  TerbOigen,  ob  dadwch  den  Fehlem  der  ladividnalitlt  und  den  Ton  jenem 
nnabhlngig  Tothandenen  Vorstellnngsmassen  ein  bedeutendes  Gegengewicht  kSnne 
g'Cgebcn  werden,  soirlem  auf  das  Einö:r('if"ii  in  die  letztem  kommt  es  an,  was 
und  wieviel  durch  den  Unterricht  für  die  Sittlidikeit  raiige  gewonnen  werden. 
.  .  .  Das  sittliche  Wirken  der  Kenntnisse  bleibt  immer  zweifelhaft,  so  lauge  sie 
ideht  entweder  das  Ksthetisefae  Urteil,  oder  des  Begehren  nnd  Handeln,  oder  bddcs 
hecicbtignn  hellen.  Und  anch  hierbd  nooh  sind  n&hcre  Bestimmungen  nfftig." 
(D.  §  Sa)  Herbart  gibt  zu  bedenken,  dass  „dasjeni^'e  Lernen,  das  bloss  znm 
Aufsahen  führt,  die  Kinder  frr?5g9tenteils  passiv  raaelit ;  denn  es  verdrängt,  so 
lange  es  dauert,  die  Ge<lanken,  welche  sie  suu^t  wütdea  gehabt  haben.  Im 
Phantasieren  nnd  Spielen  aber,  also  anch  in  demjenigen  Unterricht,  welcher  hier 
nachklingt,  ist  die  freie  Titigkeit  'verhemchend."  (V.  §71.)  Da  es  nnn  eher  so 
mancherlei  gibt,  wa.s  gelumt  werden  muss,  so  empftehlt  Herbart,  diet^CH  Ans> 
wenditriernen  durch  Beteilij^ung  der  SinnentiUigkeit  an  erieichtem.  (Siebe  A.P. 

S.  67  öW,  auch  S.  b2,  Abs.  H.l 

£8  iüt  oben  schon  darauf  hingewiesen  worden,  wie  sehr  Herbart  die  Erfahrung 
als  Gmndlange  aller  Erkenntnis  sdüttst  Dsss  er  sie  also  bei  seinen  Betrachtnngen 
Aber  den  Unterricht  nicht  ▼emachllsaigen  wird,  ist  selbetventtndlich.  „Der 

Unterricht  hat  Erfahrung  und  Umgang  zu  ergänzen:  diese  seine  Grundlat^en 
müssen  schon  vorhanden  sein;  wo  sie  es  nicht  sind,  müssen  sie  zuerst,  und  va 
gehöriger  Tüchtigkeit,  g^hafft  werden ;  was  daran  fehlt,  ist  ein  Verlust  für  üea 
Unterricht,  denn  es  fehlt  an  den  Gedanken,  welche  die  Lehrlinge  selbst  in  die 
Bede  des  Lehrers  hindnli^en  mOssen."  (U.  §  78.)  Fehlende  Erfahmngen  an 
erginnen,  vorhandene  sn  vertiefen,  das  kann  und  tut  unser  Arbeitsnuterricht  im 
höchsten  (irade.  Und  wenn  Herbart  in  der  A.  P.  sagt:  „Das  Auffinden  der 
Beziehun?r»>ii  oder  die  Synthe^si.s  a  priori,  setzt,  in  allen  Fftllen  von  Bedeutung, 
vorher  gutüuUe  Schwierigkeiten,  —  Vertiefung  in  spekulative  Probleme  voraus. 
Der  reelle  Boden  dieser  Ftobleme  aber  ist  die  Etfahmng,  die  ftnssere  nnd  innere; 
—  ihn  sollte  eigentlich  die  Jogendbildnng  als  solchen  in  Besitz  nehmen,  so 
breit  er  ist"  (A.  P.  S.  70,  Abs.  3},  so  kommt  es  uns  vor,  als  hätte  er  hier  nur  da.s 
eine  Wort  verffessen  „Arbeitiunterricht".  Dass  dies  nicht  nur  ein  in  die  Worte 
hineingetragener  Sinn  ist,  beweist  der  an  andrer  Stelle  betonte  Wert  des  „Ver- 
such«»" von  Seiten  der  Zttglinge.  Betborts  Gmndsatn  faintet  ja:  „Knaben  nnd 
jOiig^iiige  mttssen  gewagt  werden,  nm  Xlnner  an  werden."  Dem  Gedanken  ent* 
sprechend  „dass  jeder  nur  erfährt,  was  er  versucht"  (A.  P.  S.  ö,  Abs.  4),  redet 
er  dem  .  V tr.suchen"  stets  dn«.'  Wort  7nm;il  er  weis«,  dus.s  er  dem  Knaben 
damit  i  iitifef^fenkommt:  „Schon  der  Knabe,  wahrend  er  weuii^^er  fragt,  macht  desto 
mehr  Versuche,  die  Dinge  zu  behaudelu,  dadurch  im  stillen  zu  lernen  nnd  sich 
m  ttben."  (U.  §  86.)  Und  wanm  weiter  schAtat  er  dieses  Versnchen  so  hoch 
ein?  Weil  es  dem  ZSglinge  Bifahningen  bringt^  von  denen  er  sagt:  Jn,  der 


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Tat,  w«r  mflclite  firbliniiig  nnd  Umgang  bei  der  Enlebiing  entbdtieii?  Ii  ftt» 

als  ob  man  des  Tages  ^tbelureii,  und  sich  mit  KenenUcht  beg^Vgeii  sollte! 
Fülle,  Stärke,  individuelle  Bestimmtheit  für  alle  unsre  Vorstellungen,  —  Übung 
im  Anwenden  des  Allgemeinen,  Ansohliessen  ans  Wirkliche,  au  das  Land,  an  die 
Zeit,  Qedald  mit  den  Menschen  wie  sie  sind:  —  dies  alles  muss  aus  jenen  Ur- 
des  geistigen  X^bens  geschöpft  weiden."  (A.  P.  S.  48»  Abe.  2.) 
WdebeB  Unterriditesweigeii  will  nna  Herbert  dae  Tenndieii,  die  AiWt 
dienstbar  gemacht  wissen?  An  erster  Stelle  dem  ÄuschanungsmiteRiekte  ^ 
weitesten  Sinne).  So  vAvt  unserm  Werkunterricht  das  Wort,  indem  er  ?ftgt: 
^Das  Kombinieren  —  gememifirlich  i^ixuz  und  sehr  mit  Unrecht  vernachlässigt  — 
gehOrt  zu  den  alierleicktesteu  und  vieles  erieichterudeu  Übungen,  recht  eigentlich 
für  Kinder.  Daas  swei  Dinge  ihre  SteUnn^  rechts  nnd  links  (lünten  md  vea, 
oben  und  unten),  waehseln  kSnaen,  ist  der  Anfang.  Daas  drei  Dinge  sieh  seehsliMh 
(in  einer  Linie)  versetzen  lassen,  ist  die  nächste  Folge,  Wieviel  Paare  man  ans 
einer  Menge  vorliegender  Ding'e  nehmen  könne,  ist  eine  der  leichterten  Fragen. 
Wie  weit  man  fortzuschreiten  habe,  müssen  die  Umstände  bestimmen.  Nur  sind 
meht  Bnekstahai,  sondon  Dinge  nnd  die  Kinder  selbat  zu  Tcrsetico,  aa 
kombinierea  und  in  Taniezen.  So  etwaa  mnaa  man  anm  Teil  soheinbar  apieleai 
lehren.  —  Zn  den  ersten  Aaaehanuugsübungen  dienen  gerade  Linien,  soikredrt 
oder  Bchrrifr  aufeinander  geneichnpt  (auch  Stricknadeln  in  verschiedenen  Ijigm 
zusammengelegt  und  sich  kreuzend,  ferner  Dame nhret tisteine  und  ähnliche  Dinge), 
alsdann  der  Kreis  in  mumigf altigen  Ahteilungeu  und  Darstellung^"  (U.  g  215.) 
[Man  heacbte  in  diesem  Paragraphen  auch  daa  IVirdem  „sinnlidier  Dinge"  flis 
erste  Rechnen!]  Nach  seinen  Worten:  „Den  höchsten  Grad  des  (apperzipierenden) 
Merkens  bezeichnen  die  Worte  Schanen,  Spören,  Horchen,  Tasten"  {V .  ^  77)  und: 
^Das  Zeigen,  Benennen,  Betasten-  \ind  Bewegeiilasseu  der  Diuge  geht  allem 
voran"  [beim  analytischen  Unterrichte]  (A.  P.  S.  65,  Abs.  3)  därfen  wir  bestimmt 
annehmen,  daaa  er  hente  mcher  an  den  Anhisgeni  dea  „Ponnana  im  weitaam 
Binne  im  Ontenkdite*  gdiSren  wttrde.  „Der  ünterrieht  s|nuit  eioen  ianfint 
dünnen,  weichen  Faden ;  den  der  Glockenschlag  zerreisst,  und  wieder  knüpft,  der 
in  jedem  Ansfcnblick  die  eitnif  'teistesbeweernnK"  des  Lehrliups  bindet,  und,  indem 
er  sich  nach  seinem  Zeitmas.s  abwickelt,  ihr  Tempo  verwirrt,  ihren  itprüngen 
nicht  folgt,  tind  ihrem  Ausruhen  nicht  Zeit  lässt.  Wie  anders  die  Anschauung! 
Sie  legt  eine  hrette«  weite  FÜdie  anf  einmal  hin;  der  Bliokf  vom  ersten  Staanaa 
anrhckgekommen,  teilt,  verbindet,  läuft  hin  nnd  wieder,  verweilt,  ruht,  erhebt 
sich  von  neuem,  es  kommt  die  Betastung,  es  kommen  die  übrigen  Sinne  hinm. 
es  saiumeln  sich  die  Gedanken,  die  Versuche  beerinnen,  daraus  g^ehen  neue 
Gestalten  hervor  und  wecken  neue  Gedaukeu,  —  überall  ist  freies  und  volles 
Leben,  ttberall  Gennaa  der  dacgabatenen  FOile!  Dieae  FUle,  nnd  diaa  Darfaialai 
ahne  Anapmeh  nnd  Zwang,  wie  will  ea  der  Ontertieht  emichen!*  (A.  P.  8. 4SI 
Aba.  4,  Z.  3.) 

Fl\r  die  Verknüpfuni?  der  „Arbeit"  mit  dem  I'ntprrifhte  in  Ge o m *> t rie  hat 
Herbart  die  Anfange  erlebt  und  sich  sofort  daflir  begeisiert:  ,.Die  GeMmetne  hat 
andere  Vorteile  der  Anknüpfung,  die  man  erst  neuerlich  angefangen  hat  ernstlich 
an  benntaen.  Figuen  ans  Hob  nnd  Pappe,  Zeiohnnngeo,  Scifta,  8taag«a,  biagssma 
Drähte,  Ftden,  den  Gebrauch  des  Lineals,  daa  Zirkels,  dea  Winkshnesssw, 


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geiiUtM  Odd  in  Ungeren  nad  kttnerm,  panUcleB  aad  aishi  panlMen  Reihiii 

—  kann  man  beliebig  dem  Auge  darbieten  und  mit  anderen  anschaiilichen 
Gegenständen  in  Verbindung  setzen ;  man  kann  geordnete  Beschäftigungen  und 
Übungen  daraus  entnehme,  und  das  wird  mehr  und  mehr  geschehen,  wenn  man 
begreift,  dua  rinnlidw  yoratellongen  in  gehöriger  Stärke  die  eicherate  Omndlage 
für  einen  Unterrieht  aoBmaohen,  deeeen  guter  SrlUg  abhlngig  iet  von  der  Art, 
wie  der  ZOgling  die  VorateUnng  des  Räumlichen  innerlich  bildet."    (U.  §  102.) 

Am  unzweideutigsten  spricht  sjcfi  Ht^rHarr  "-^hlies.slich  für  die  Arbeit  im 
Dienste  lUr  Natnrlehre  ann:  ,,I)ahin  gcnurt  iiiit  <ier  einen  Seite;  Beachtung;  der 
Uiuimelsküiper  —  auf  der  anderen  Seite:  techuologiüche  Kenntnisse,  welche  teils 
darehs  eigne  Sehen,  teiia  in  Lehntnnden  der  Natorbeeehreilmng  mOgen  erworben 
we(rden.  Man  betrachte  die  Technologie  nicht  bloss  von  der  Seite  der  sogenannten 
materiellen  Interessen.  Sie  liefert  sehr  wichtii,'e  Mittelglieder  zwischen  den 
AaÜussun^,'en  der  Natur  und  der  uiensehlii heu  Zwecke."    (ü.  i?  2öy.)*) 

Besonders  wird  es  noch  interessieren,  wie  sich  Uerbart  zu  nnsem 
Beetrebnngen  der  Knnsteiiiebung  »teilt  Hohen  Wert  miiet  er  der  Bfldang  des 
iBthfitiidien  Urtdie  bei  (er  versteht  danuiter  dos  Jtni»  beg^erdtf  ose  Wohlgefiülea 
oder  Hissfolien,  sei  es  an  den  Yerhältiiissen  von  TOnen,  Formen,  Unien,  Farben, 
sei  es  an  Willeusverhftltnissen"),  also  würde  er  ein  Verfechter  nnsrer  hnutipen 
Ideen  sein.  Auch  in  dem  Punkte,  das»  wir  nicht  nur  das  Reden  über  die  Kunst, 
sondern  auch  Kunstbetätigung  verlangen?  Nach  seinen  Worten  ganz  gewiss: 
HFualiehe  Gegenstände  raflasen  dugeboten  sein;  snr  Betrsehtong  darf  nicht 
getrieben  werden.  .  .  .  Oft  ist  Nachahmung,  wenn  auch  anfangs  sehr  roh,  Nach- 
zeiclinen,  Nachsintjen,  lauten  Nachlesen,  späterhin  Übersetzen  ein  Zeichen  der 
Aufuierksaiukeit;  dies  Nachahmen  mau  bejarüustifift.  nur  nicht  gt^lobt  wenlen.'* 
(U.  §  93.)  —  „Das  Lehren  ästhetischer  Zerlegungen  nach  Kunstregeln  und  das 
PIdlosophieren  dartther  ist  mebtens  niselich"  (A.  P.  S.  6^  Abs.  8).  —  „So  weni^ 
gehlnÜB  philesopbisehe  Lektttre  Philosophen  bildet,  ebensowenig  ersengt  sieh 
Geschmack  aus  einem  Umhertanmeln  unter  allerlei  Kunstwerken,  selbst  wenn  die 
letztern  wirklich  klassisch  sind "  (A.  P.  S.  70,  Abs.  4.)  —  ..Kesjt  sich  der 
Geschujack,  so  mnss  man  die  Phantasie  zu  beobachten  suchen.  Dazu  hilft  ein 
TertrauUchee  Verhältnis.  FQr  seine  £r(JffnuQgeu  sei  der  Zögling  besonders  hier 
ein«r  gefiUligen  Anfasbme  gewias,  ohne  sehaifen  Tadd,  aber  aneh  ohne  lebhaftes 
Lob.  £r  dsif,  wenn  er  selbst  etwas  bildet,  nicht  vom  Reiz  überwältigt  werden, 
sich  nicht  erschöpfen,  nicht  sich  .«elher  g-efallen.  Dnrch  sanfte  Knnnerungen 
abgekühlt,  nicht  tjelienimt.  werde  er  vun  einer  l'mduktion  zur  andern  Inrtgelenkt. 

—  Auf  dass  er  nicht  zu  n  uh  lu  seinen  eignen  üaüchmack  verdiuke:  dazu  mögen 
ÜMsierwerke  venehiedener  Gattungen  aufgeboten  werden.  Die  nämlichen, 
periodindi  wieder  anügesodit^  leisten  der  eignen  Fortbildung  einen  Masaatab." 
(A.  F.  S.  74,  Abs.  4,  Z.  9)  Würde  Herbart  als  so  eifriger  Verfechter  einer 
Kunsterziehnn?  durch  die  Tnt  nicht  auch  nn^orn  heutigen  .^krheite- 
nnterricht  begrüsseu,  der  die  Kuui^trcgelu  zu  den  seinen  macht  bei  der  Wahl 
Ton  Form,  Farbe,  Schmuck,  der,  um  mit  Herbart  an  reden,  „die  Hanptaaehe  vom 
Sdnanek,  die  Idee  Ton  der  Diktion,  das  Sujet  Toa  der  Form  entUeidef*  (A.  P. 

»)  Siehe  oben  S.  139. 
PSdaaoflia«ha  StodtaB.  XXX.  8.  10 


—  146 


&  66,  Abs.  8,  Z.  26),  der  in  dem  „Hin-  und  Herrücken  di«  YerliUtnisse  veiiiidera 
IMt  imd  di«  finden  Utet^  die  dank  ihren  Sfinkt  die  Avteexkeemkeit  leeeela''? 

4.  Die  Arbeit  im  Dieoete  der  Zuobt 

Der  Zuo}iT  <iiul  leidenschaftliehe  Regruug'en  biinlrrlifh.  Wo  sie  ;\nftn>t"i!, 
müssen  sie  nnit-rdrückt  werden.  Als  Mittel  dazu  empriciiJt  Herbart  die  Aiim  it. 
,Zar  Ableitung  der  Gefahr,  welche  mit  leideuiichaftlicbeu  Kegungen  verbunden 
ie^  dient  foimgsweiee  dne  Erlernen  irgend  einer  edi9nen  Knnst,  wenn  waxk  wu 
mlidges  lUent  vorlianden  ist;  elio  Musik  und  Zeichnen  b  irgend  weldier 
beschränkten  Art  (nicht  mehrere  ninsikalisclie  Instminente  zugleich,  nicht  zer* 
streuende  Versuche  in  allftrlei  Art  von  Malerei  durcheinunder,  .sondern  Konsequenz 
im  Bemühen  um  eine  bestimmte  Fertigkeit).  —  Fehlt  da.H  Talent,  so  mögen  Lieb* 
habereieii,  PflnnienMmnMln,  Mneehehmnuneln,  Papparbdten,  aelbet  TiscUer-  eder 
Onrtenuheiten  usw.  sn  ffilte  genommen  wwden."  (U.  §  179.)  (Deae  hier 
Zeichnou  und  Pepp-,  bezw.  Holzarbeit  in  der  Bewertung  getrennt  sind,  scheint 
uns  belanglos  zu  sein.)  Di«-  Beschäftii^ang^en  an  sich  q-enütjen  aber  nirht;  ««ie 
fwllen  der  Willensbildmii,'  dienen  und  miiSöeii  deshalb  in  Einkhxng:  mit  dem 
Unterrichte  gesetzt  werden :  „Gesetzt  nun,  die  Leideuscbafteu  seien  fern  gehalten, 
■0  kommt  es  für  die  Begrttndnng  der  Vorelitlt  im  allgemeinen  dentnf  an,  wie 
mit  den  Beschäftigungen  <ler  TTnterrioht  ansammenwirke."  (U.  §  181.)  Hier  iät 
zugleich  d(>r  I  ntenichied  zwischen  der  Arbeit  im  Dienste  der  Zucht  und  der  in 
Dienste  der  Kegieruuf,'-  betont. 

War  biHber  mehr  die  i4*?de  davon,  dass  die  Arbeit  eine  vorben^ende 
Massregel  bedeutet,  so  haben  wir  jetzt  darzulegen,  wie  Herbart  der  Arbeit, 
der  Tat  eine  gnna  direkte  Wirkung  auf  die  Willensbildung  snadueibt, 
ao,  daas  ihm  WiUenabüdong  ohne  Tat  nnmffglidi  scheint.  „Die  Tat  also  etaeagt 
den  Willen  ans  der  Begierde.  -  Aber  zur  Tat  gehört  Fähigkeit  und  Gelegenheit 
—  Von  hier  aus  lässt  wh  übersehen,  was  zusamtnenkomme.  um  den  Charakter 
zu  bilden.''  (A.  P.  S.  1)4.  Abs.  8.)  Auf  diesen  Fuudameutalsatz  sich  gründend, 
spricht  er  wdter:  „ivi  grösser  alle  Art  von  Tätigkeit  und  vom  Bewusstsein  der 
Tatkraft:  desto  mehr  FKhigkeit  anm  eehteo,  entschlosaenen  Wollen.  (A.  P.  8. 132, 
Abs.  1,  Z.  18.) 

Wenn  der  Tat  eine  so  entscheidende  Bolle  aokommt,  ist  es  selbstverständlich, 

dass  sie  so  bnid  a!«^  möglich  L''"]>flefft  werden  mns!«.  Damm  spricht  Herhart: 
„Offenbar  gewinnt  die  *  harakterbilduni^  so  viel  iiu  Sicherheit  des  Erfol^•s,  wie  sie 
beschleunigt  und  in  die  Krziehuugsperiode  hineingezogen  wird.  Und  dien  ist 
nadi  dem  Vorigen  nnr  dadnrdi  m0(^ch,  daas  nmn  den  Jttngling,  ja  aehon  den 
Knaben  früh  in  Handlung  setze.*'  (A.  P.  S.  99.)  Freilich  eine  »ioaaere  Viel' 
geschRftiifkeit  ohne  tiefe,  beharrliihe  Xei^ttn?  nnd  l'berlegung,  worin  mehr 
körperliche  alf^  «rMiKtiffo  Anlage  sich  zeitrt,  t»rilndet  keinen  Charakter"  fA.  P. 
8.  115),  für  die  (  harakterhildimg  ist  vielmehr  nur  die  Tat  bedeutungsvoll,  die  ücli 
ans  einer  Beteiligung  des  Körpem  and  Geiatea  aoeammeasetat;  „Vor  allen  DingM 
nun  darf  nicht  Tergeasen  werden,  dasa  anm  Handeln  dea  Meaaehea  nicht  Hees 


0  Vgl.  Pidag.  Stadien  190^  Heft  4:  WillensbUdimg  and  Intereaae. 


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—   147  — 


^  in  die  Sine  lallende  Geidilftigkeit,  aondern  aueh  das  imere  VolUningai 
gdkOre;  vad  daai  nur  nns  mit  dem  andon  den  dunkket  grttndoi  ktane.  Die 

Vielgesi  häftigkeit  g^esander  Kinder,  welche  ihr  Bedttfiiis  nach  Bewegimg  auadrückt, 
die  bcfttändifTPii  I'mtriebe  flattersinniger  Naturen,  ja  selbst  dio  rohen  Ver- 
gnägnngen  di^rcr,  welche  eine  wilde  Männlichkeit  rerrateu,  —  alle  diese  scbein- 
baien  Aniteigun  eines  künftigen  Charakters  lehren  den  l^ieher  nicht  so  vielf 
ab  eine  etnsige,  itille,  übeili^e,  dnrchgeftthice  Handlunsr  eines  in  eicb  geaenkten 
Genfttes."    (A.  P.  S.  114.  Abs.  5,  Z.  1.) 

Herbart  würde  heute  -  \vi»*  «rhoT)  mphrfarb  gesagt  —  8ich<?r  p'u]  Anhänger 
tkr  KimbenhitTidarbpit  •«ein.  i'indeu  wir  ihn  doch  in  einer  crewisaen  Ratlosigkeit 
gegenüber  der  erkaunieu  Notwendigkeit  der  Tat  für  die  Charakterbildung: 
»Man  spricht  viel  von  den  Nntsen  cinw  abbtrtenden  Lebensart  für  die  Jugend. 
Ich  lasse  die  körperlichen  Abhärtnngen  in  ihren  Würden;  ich  bin  aber  ttber- 
zeugt.  dass  man  das  eii^entlicb  hilrtende  Prinzip  für  den  Menschen  —  der  nicht 
bloss  K'ii-|)er  ist  —  nicht  ehtr  findt!n  wird,  als  bi«  man  eine  Lebensart  f!lr  die 
Jugend  einrichten  lernt,  wobei  sie  nach  eignem,  und  zwar  nach  eignem  richtigen 
Sinn,  eiiM  in  ibieit  Augen  ernste  Wiifcsaakeit  beträben  kaiUL  Sehr  viel  würde 
das«  eine  gewisse  Öflenftichkeit  des  Lebens  beitrafen.  Aber  die^nigen  Oflent- 
liehen  Akte,  welche  bisher  gewöhnlich  sind,  dürften  die  Kritik  schlecht  bestehen. 
Penn  e««  fehlt  ihnen  meistens  da-  »^rst«  Erfordernis  eines  charakterbüdenden 
Handeln.«^;  sie  geschehen  nicht  au:^  eitrnem  Sinn,  sie  sind  nicht  die  Tat,  durch 
welche  da«  innere  Begelireu  sich  aih  Wille  entscheidet.  Man  bedenke  uusre  Examina, 
dnreh  alle  flehnlklassen  von  miten  an  bis  hinanf  rar  Doktordispntatlon!  Han 
nehme,  wenn  man  will,  die  Reden,  die  theatralisehra  Übungen  hinzu,  wodnroh 
zuweilen  junsrc  Leute  dreist  nnd  gewandt  gemacht  werden.  Künste,  de.s  Scheins 
können  gewinnen  durch  das  alles;  —  die  Kraft,  sich  selbst  darzustellen  und 
festzuhalten,  worauf  der  Charakter  beruht,  wird  der  künftige  Mann,  den  ihr  durch 
jene  Übiugen  ftthrtet,  Ti<dleidit  eannal  eben  so  sehmenlieh  als  Tergeblieh  in  sich 
soeben!  —  Prägt  suui  mich,  was  denn  fttr  bessre  Übungen  statt  jener  an  empfehlen 
wlren,  so  gestehe  ich,  die  Antwort  schuldig  zu  bleiben.  Ich  glaube  uicbt,  dass  in 
UDSrcr  jetziiren  Welt  bedcTitpnde  allgemeine  E'iiri  r  tnngen,  um  die  Jugend  zweck- 
raSssiiy  in  Handlung  zu  setzen,  getroffen  werden  können;  aber  ich  glaube,  dass 
destu  mehr  die  Einzelnen  alle  Bequemlichkeiten  ihrer  Lage  durchsuchen  sollten, 
um  dem  Bedürfnis  der  Ihrigen  sn  entspreehoi;  leb  glaabe,  dass  eben  in  dieser 
BSeksieht  Viter,  die  ihre  Söhne  seltig  an  Familienangelegenheiten  teilnehmen 
lassen,  sich  um  deren  Charakter  verdient  machen."  (A.  P.  S  9t)  100,  Abs.  6,) 
Die  Familie  ist  ihm  noch  der  einzige  Rettun^^rsanker.  Sie  Vonnte  es  xn  seiner  Zeit 
auch  noch  sein.  Wir  gehen  wohl  nicht  fehl,  wenn  wir  annehmen,  dass  Uerbart 
unter  den  Teilnebmenlaisen  an  Familienangelegenheiten  aneh  das  Helfen  des 
Kindes  bd  der  Beroftititigkeit  des  Vaters,  der  Kntter,  mitTwvtebt  FSagerseige, 
wie  dieses  Helfen  erziehlich  wirksam  gemacht  werden  kann,  sehen  wir  in  den 
Worten:  „Man  kann,  man  a*ill  die  frülieste  deschäftigkeit,  wozu  sich  das  Kind 
von  selbst  durch  die  umgebenden  Gegenstände  aufgefordert  zeigt,  nähren,  umher- 
ienken,  fortdauernd  beobachten,  gana  allm&hlich  und  sanft  zur  Stetigkeit,  snm 
Hagem  Anhalten  bei  demselben  Oegenstande,  mm  Veifblgen  derselben  Ab^t  an 
bringen  snehen.«  (A.P.  SL187,  Abs.  2.)  Herbart  hilt  dieses  Helfen  fOr  seh? 

10* 


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widitig,  geht  9og»r  «oweit,  dut  er  fordert:  „Kan  laue  Kinder  regelmäßig 
erwerben  *  (A.  P.  S.  196,  Z.  84.)  Sr  will  damit  den  Beütsgeiet  liildea  and  die 
Xtthe  ericouien  laaienf  dnreh  die  man  nt  Besits  fdangt  (cf.  Indnatriesehnla^ 

Wir  kennen  unsre  Ausführtiti<^en  wohl  «lahin  zusanmienfassen,  dass  Herban 
als  ein  VorkSnipfrr  für  die  Sache  w Ilan(larbeitsiiutorrichtc,>  hezeiolmct  wt-rden 
darf,  da^s  er  mit  meiner  hohen  Auitassung  der  „Handarbeit"  den  Srzieheru  unterer 
Zeit  noch  Wichtiges  zu  sagen  hat.  Sein  Besuch  hei  Pestalozzi  mag  ihm  manche 
Anregung  gegebmi  liaben;  deegMchen  FWbela  Wirken,  dessen  sdkriftsteUeiisehe 
Tätigkeit  ja  1820  begann  und  ihren  Höhepunkt  1826  in  dem  Werke  „Menschen- 
erziehnnjE:"  faml.  1835  erschien  Uerhart?!  „rinrifs  pädapotriTh'T  Vorlesongen^, 
in  dem  di«;  Bidentung  der  Handtätigkeit  tiir  die  Erziehung  weit  prägnantef 
ausgesprochen  ist  als  in  der  „Allgemeinen  P&dagugik". 


€.  Beartoilnngeik 


Emst  Heu  mann,  Vorlesungen  zur 
Einfuhr ung  in  die  experimen* 

teilte  Pädagogik  und  ihre  psy- 
cho lo^jischen  Grundlagen.  Leipzig 
1907  Entreimann.  Bd.I  (XII  u.  r)5ö  S.) 
n.  n  (VII  U.  464  S.).    Pr.  13,50  M. 

Verf.  legt  mit  Kecht  Wert  darauf, 
zu  betonen,  dass  er  lediglich  eine  Ein- 
flkkmng  in  die  empirisch-pädagogische 
Forschung  heabsii  "nri-re,  sein  Streben 
keineswegs  aber  darauf  gerichtet  .sei, 
anf  Grund  der  Torliegenden  Resultate 
enii)iris<-her  und  experimenteller  Be- 
handlung pädagogischer  Fragen,  ein 
Sjrstem  der  ganzen  Pädagogik  anfzu- 
hanen.  Das  wäre  heute  entschieden 
sehr  verfrüht.  Das  bedarf  noch  einer 
grossen  Zakl  grundlegender  Ssperi- 
mente.  >) 

Die  Arbeit  Heuraanns  bedeutet  für 
die  im  Entstehen  begriffene  experi- 
mentelle Pädagogik  ein  epochemachendes 
Werk.  Das  nächste  Verdienst  desselben 
ist,  dass  es  einen  Überblick  gewilurt 
über  die  zablr^^i^hen,  überHilliin  ver- 
streuten £iuzcluutersachuagcn ,  die 
direkt  oder  indirelrt  nur  wissenschaft- 
lirhf'n  GrandltH'-nnir  der  Pädagogik 
beitragen  küunen.  Kin  zweites  Verdienst 


ist,  daüä  die  Übersicht  mit  feinem 
kritiseken  Sinne  alles  ausgemerzt  hat, 
was  eine  willkürlii'ho  Dinitnntr  <ier 
Experimente  ver.-^ucliii;,  oder  gar  eint 
voreilige  Auwendung  unsicherer  Resol- 
tate  auf  die  pädagogische  Pmxis,  in 
der  richtigen  Erkenntnis,  dass  ein 
solches  Unterfangen  nur  geeignet  ut, 
der  ganzen  Wissenschaft  zu  schaden, 
zum  wenigsten  aber  keinerlei  positiren 
Gewinn  für  ihren  weitereu  Ausbau 
bringen  kann.  Als  ferneres  Verdienst 
sehe  ich  an,  dass  der  Vertamer  nirgends 
den  Blick  für  das  hij^torisoh  Gewordene 
verliert,  vielmehr  bei  aller  berechtigten 
Kritik,  dooh  immer,  sumal  im  8.  Bande, 
wieder  liinwPipt  auf  dir-  Arbeit  und  die 
Erfahrungen  der  grossen  Pädagogen  der 
Vergangenlieit,  die  swnr  weiter  n 
fiilirtn,  an  die  aber  anzuknüpfen  sei. 
wolle  mau  nicht  Gefahr  lauten,  ein 
wichtiges  pädagogisches  Erbgut  n 
verHeren  nnd  frilhiTf  Erf.ihnmeren  noch 
einmal  macheu  zu  uiUsseu.  Ein  femereii 
Yeidienst  ist,  dass  aufs  nachdrUcklidbate 
eine  Wissenschaft  dtr  Pädagogik  ge- 
fordert wird.  Diese  ist  in  methodischer 
Hinsicht  (Experiment,  statistisches  Ver> 
fahren  usw.)  zwar  eine  Tochter  der 
experimentellen  Psychologie,  in  mAte- 


*)  Wenn  IVof.  Menmanu  eine  Anzahl  grundlegen'l'  r  Exp 'rimt^nte,  die  ihn 
schon  seit  Jahren  beschäftü^en,  abgeschlossen  haben  wird,  dlirfen  wir  ron  ihm 
eine  sjatematiache  Ftdagoguc  erwarten. 


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—    149  — 


rieller  Hiusicht  verdankt  sie  Fünlenmp 
der  Logik  and  Methodeulehre ,  der 
BtUk,  der  Aitbetik,  den  SoxialwfMen- 

acbaften  nsw.  —  da«  hindert  aber  nicht, 
sie  als  selbständige  WiMenscbaft  zu 
reklamieren ;  denn  sie  gebt  nicht  restlos 
auf  iu  der  Anwendung  dieser  Dis- 
ziplinen, sie  ist  nicht  bloss  angewandte 
Psychologie.  TiOgik.  Ethik  xum.,  sondern 
sie  i«t  die  Wi^^'^enschaft  von  den 
Erziehung»  tut  machen,  und  unter 
diflfen  fttr  die  UilfrtwiHsenscnaften  völlig 
nenen  Gesichtspunkt  rUckt  sie  deren 
Probleme  und  Ergebnisse.  —  Auf  den 
reichen  Inhalt  des  Werkes  ansftthrlich 
einzugeben  verbietet  derRanm.  Henmann 
behandelt  in  18  Vorlesungen  (sie  sind 
hervor^-^eiLjanifen  ans  Vortrilgen,  die 
Verf.  hielt  in  den  Lebrervereinen  sn 
Königsberg,  Frankfurt  und  Bremen): 
formale  und  niatt  ri.ilr  B<  stiiiiinnntr  der 
Aufgabe  der  experimentellen  Pädagogik. 
BsperimenteUeUntennichangen  ttberdi« 
kiirji  rliche  nnd  trei^tii:''  Entwickelnng 
des  Kindes  und  ihre  pädagogische  £»- 
deatttnif.  Expeiinentelle  unteisnelniiig 
der  EntwickelnnpT  der  einzelnen  pei^tit^en 
Fähigkeiten  beim  Kinde  und  ihre 
pädagogische  Bedentong.  Experi- 
mentelle Untersuchnnir  der  kimllichen 
Individualitäten  un«  ihre  Analyse. 
Die  wi>8enschaftliche  Begabungslebre 
nnd  ihre  pädagogische  Redentnn^. 
Experini' ntelle  Untersuchung  der  gei- 
stigen Arbdt  des  Kinde-!.  Experimentelle 
Behandlung  spezieller  didaktischer 
Probleme.  Experimentelle  Analyse  de« 
Schreibens.  Das  Rechnen.  Das  Zeichnen. 
Ansblicke  auf  die  weitere  Entwickelung 
der  experimentellen  Didaktik.  Diese 
gewährt  einen  Ausblick  auf  die  Höp^lich- 
keit  einer  Aiudehnung  der  experimen- 
tellen Methoden  auf  die  höhere  Didaktik, 
insbesondere  auf  den  Sprachnnterricht 
nnd  die  Bealienj.  —  Die  U|»idtren 
Knpitdttberidiriften  Itssen  den  Beiebtnn 
neuer  Gesichtspunkte,  neuer  Fragen 
and  Probleme,  die  eine  experimentelle 
PIdagogik  sn  stellen  und  m  eneUiewen 
verniae:,  nicht  im  entferntesten  ahnen. 
Ich  bescheide  mich,  aus  den  Schloss- 
Muftthnini^  Menmanns  ein  knrses 
Wort  zn  zitieren,  das  kurz  nnd  treffend 
über  Sinn  und  Geist  der  neuen  päda- 
gogischen Wissenschaft  zn  belehren 
imstande  ist.  Die  allgemeinste 
Folgeinng,  die  er  ans  allen  seinen 


Betraclitunpeu  zieht,  ist  ili«^,  ..dass  von 
der  rechten  Pflege  des  Gemüts-  und 
Willenslebens  der  Kinder  ans  aUeia 
das  rechte  Erziehungssystem  gewonnen 
wird,  nnd  dass  der  Kern  der  rechten 
Gemüts»  nnd  Willenspflege  in  allen 
den  Massregeln  nnd  Verhaltnngsweisen 
des  Erziehers  liegt,  die  auf  Hebnng 
des  Selbstvertrauens  der  Kinder  abzideo, 
auf  rechte  Anleitnufr  dis  Kindes  zur 
Selbstschätzuiif;  seiner  Kräfte,  auf  die 
Entwickelung  einer  willentetarkes 
Persönlichkeit  ausdrehen.  .  .  .  Die 

ginze  Pädagogik  der  Demütigung,  der 
epression,  der  Schädigung  des  Selbst- 
bewnsstseins,  der  Unterdrückung  oder 
Nichtentwickelung  der  Selbsttätigkeit 
des  Kindes  ist  ein  Verbrechen  an  der 
Kiudesseele;  an  ihre  Stelle  mnss  die 
Pädagogik  des  Vertrauens,  der  Attf- 
raunteruni^.  der  Aufinnutening'  um  jeden 
Preis,  der  Belebung  der  Selbsttätigkeit 
und  Selbsttndifkeit,  des  grflIndlfebeB 
Eingehens  auf  die  Individualität  und 
Begabaug  der  Kinder,  der  iüniUhlang 
in  ibre  Entwiekehmgsstnfe  und  des 
vertieften  Verständnisses  der  gesamten 
kindlichen  Eigenart  treten".  (II.  420 f.) 

Adolf  Fuhlmann,  Experimentelle 
Beiträge  zur  Leüre  vom  Ge- 
dächtnis. Gerdes  &  Hödel,  Berlin 
1906.    r.ll  S.    Pr.  geh.  8  M. 

Die  Arbeit  zerfällt  in  drei  Uanpt- 
teile:  1.  Die  Methode  der  behaltenen 
Glieder.  2.  Einflnss  der  Lokalisation 
auf  ilas  Behalten.  3.  Kinflus«  des 
»ensorischen  Modns  der  Vorführung  anf 
das  I5ehalten.  Der  Zweck  des  1.  Teils 
ist,  ,.in  zusammenhängender,  bis  letzt 
noch  nicht  vorliegender  Behandlung 
die  Metbode  der  behaltenen  Glieder, 
die  bei  derselben  in  Präge  kommenden 
Versuchsmöglichkeiten  nml  Verfabmngs- 
weisen,  die  mit  ihr  gewonnenen  Besnl« 
täte  imd  deren  Bedentnng  und  endlieh 
die  Vorteile  und  Nachteile  ihrer  An- 
wendung auf  Grund  der  bisher  er- 
sebienenen  Literatur  und  eigener 
Beobachtungen  undVenncbe  zusammen- 
fassend und  kritisch  damatellen.''  Verf. 
kommt  sn  dem  Ergebnis:  diese  Metbode 
„hat  dieselbe  Berechtigung  wie  die 
andcni  Methoden  zur  experimentellen 
Untersuchung  des  Gedächtnisses  und  . .  . 
verdient  je  nach  den  Umständen  dieselbe 
Berücksichtigung  wie  jene".  —  Der 


i^iyui^ud  by  Google 


—    ISO  — 


«weite  Teil  zeitjl,  i1ans  die  Lokalisation 
(visuelle  wie  akustische  SteHeuassozia- 
tion)  filr  alles  Lernen  ▼(«  einffl]nieideB< 
der  Bedentnn^  int.  —  Der  dritte  Teil 
weist  nach :  die  Reprodaktiuuswerte  aof 
Gmnd  der  Darbietung  konkreter  Objekte 
tlberticfTeii  diejenigen  auf  Gnirid  ver- 
baler EinrIrMcke  betrBchtlic  h.  besonders 
Untichtlieh  der  (Tedächtiiistreue.  Da- 
nach zeigte  n\c\\  die  akustische  Vor- 
ftthnuig  bei  siuuvollen  Wörtern,  die 
visuelle  bei  sinnlosen  Silben  und  bei 
Zahlen  am  ^ttusti-^steu.  Die  kombinierte 
akustisch-visuelle  Metbode  erzielte  im 
allgeBMUMO  etwas  höhere  Werte  als  die 
elwn  genannten  EinzelvorfOhrnniren, 
während  die  kombinierte  akustisch- 
Tisuell-motorische  Methode  schlechtere 
Erfolge  zeitigte.  Doch  scheinen  Schul- 
art, soziales  Milieu,  kurz  derErziehnnurs- 
und  l'nterriL'htsbetrieb  un<l  <lie  Art  der 
Übung  and  Gewöhnung  in  Schule  und 
Hat»  auf  die  Gestaltung  der  Retoltate 
nielit  ohne  Einfluss  zn  sein.  —  Wieder- 
holt knüpft  Pohimaun,  durchww  in 
TorsiebtigerWeise,  pädago^ischeSöunaa- 
folgt>ningen  ein. 

Es  ist  bior  nicht  wohlpfetan,  in  eine 
urofftngiiche  Kritik  der  Poblmannächcu 
Arbeit  einzutreten :  ich  bescheide  mich, 
au  bemerken,  dass  er  den  aufmerksamen 
Leser  sehr  wohl  in  die  experimentelle 
Unter.suchun;^  des  Gedächtnisse;?  einzn- 
führen  vemagf  trotadem  seine  Kritik 
der  altierten  Antoren  (nnr  Ms  1905) 
keine.>iwegs  immer  Am  Puchtige  trifft  — 
ein  sorgsamer  Vergleich  ist  empfeblens- 
nnd  lohiieiiswert. 

Kiel.  Marx  Lobaien. 

Josef  Jäkel,  Die  Freiheit  des 
menschlichen  Willens.  Wien. 
K.  k.  Hof-VerlagB-BaeUiandliiBg  ton 
Carl  Promine.    1  M. 

Wie  sein  ganaes  Vermögen  hat  der 
hexmgegangene  (laterreieliisehe  Oym- 
nasialprofessor  auch  seinen  Schriften- 
nachiaas  dem  ^Dentachen  ächul  verein" 
vemaeht.  Nnn  gibt  die  nationale 
dentsche  Vereinigung  ihre  Freunde 
md  fiir  alle,  die  am  Thema  Interesse 
haben,  daa  vom  Verfasser  nieht  ab- 

gerundete  aber  doch  reclit  If  ^^  Mis werte 
ftchleln  heraus.  Es  mag  aus  der  alten 
Lehrerfrage  heran»  konzipiert  worden 
aein:  „Wie  ist  firziebaag  mOglich?** 


Jäkel  weiss,  daiss  „di*  üi  -isten  und 
konseqaentesten  Denker  den  menscb- 
liehan  Willen  fttrdetenBlnierterkMfM* 

(S.  66).  Er  hättf!  liinznfüs'en  kennet, 
dass  nach  weitverbreiteter  Ansicht  air 
darum  von  Freiheit  gesprochen  wird, 
weil  den  Menschen  meLst'^'n«  d'> 
Zwiscben^flieder  nicht  bewusst  werden, 
durch  deren  Kette  aein  Denken  und 
Tun  gehalten  und  gezogen  wird.  Trotz 
alledem  kommt  Jäkel  zu  dem  Resultate, 
daia  ^der  Drang  sich  zn  bajaben^  alA 
TXi  einem  eigenen  liCitcn  auszuleben, 
der  IndivKiuaiisierung.strie])'"  i,S.  71)  auf 
eine  ^wisse  Freiheit  des  Individuums 
hinweist.  Mit  recht  angenehmer  Bild- 
lichkeit Hucht  er  seinen  Lesern  nahe  zu 
Iringen,  dasi*  wir  gewiss  nicht*  .Neue« 
in  die  Welt  und  in  den  Intellekt  brin^ 
können,  dass  wir  aber  sehr  wohl  im- 
stande sind,  schon  v  iIkui  lene  Tatsachen 
and  Erkenntnisse  im  Sinne  einer  be- 
wnMrten  Leitung  der  Oeaehehniase  und 
Einsichten  zu  m  rwi  n  len.  In  der 
Leitung  der  zu  Bildenden  zeigt  siob 
eine  der  wiebtigsten  Bet&tigungen  dar 
Freiheit.  Bedingtheit  ist  noch  nicht 
Fatum.  Vielmehr  gehört  zu  all  den 
Keoeaaitierangen,  die  im  Menschen  ver- 
erbte um!  :mtrf»^nr,>no  Kiirentttmlich- 
kelteu  bewirkt  haben,  noch  der  er- 
zieherische Einfluss  als  wesentlicher 
und  oft  entscheidender  Faktor.  Glaube 
ans  Fatnm  lähmt  alles  Ringen,  er- 
achlafft  die  für  nene  Unternehmungen 
notwendige  Spannkraft.  „Freiheit  ist 
gleichbedeutend  mit  Herrentum,  weil 
sie  dazu  fuhrt"  (S.  24).  Ein  Erzieher, 
ein  Stand,  ein  Volk,  die  anf  !«ich  halten 
—  nach  Jilkel  lehrt's  der  ganze  Kampf 
ums  Da-sein  —  müssen  „eine  erkannte, 
mit  Absicht  gelenkte  uud  mit  dem 
vollen  Bewnsstsein  von  der  Erreichbar- 
keit eines  vorschwebenden  Zwecke» 
herbeigeftlhrte  Natomotwendigkeit''  als 
Ziel  ihrer  Huanalmen  m  aidi  hnbai, 
am  frei  an  aein. 

Pn»f.  Br.  «tter-ftonlib  Politik. 

Leipzig  19()7.  (^m  lle  dt  Meyer.  Gab. 

1  M.    Originaili  iiil>:ind  1.2.^  M. 

In  der  neuen  >ammlung  von  Moao- 

nhien  zur  ^Wissenschaft  and  BU- 
j"  stellt  Stier-Somlos  ^Politik"  das 
vierte  B&ndchen  dar.  Ausgesprochener- 
massen will  der  Verlader  die  Unwissea- 
beit,  die  maa  aalbst  in  Kieiaen  Qebil« 


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—    iSi  — 


deter  bei  Fratzen  der  theoretischen 
Politik  findet,  beaeitiffeu  helfen.  Denn 
es  erscheint  ihn  beoanerlich  and  ge- 
fährlich, dass  wir  Df-ntsrlien  in  |tre- 
rinsrcrem  Masse  als  Engländer,  Franzosen 
onil  Italiener  tun  politisch-geaalitiltM 
Volk  sind.  In  der  Tat  ist  kaum  sn 
leugnen,  dms  dem  Massengewicht,  wie 
es  bei  allgemeinen  gleichen  Wahlen  znin 
Ansdmck  kommt,  bei  wua  die  politische 
Massenbüduug  nicht  euutpricbt.  Fragt 
sich  nur,  ob  die  Mäng«!  nicht  dnrä 
anderweitige  Vorzttge ,  insbesondere 
eine  weitgehende  und  reichgegliederte 
Fachbildung,  kompensiert  werden! 
Immerhin  ist  die  Forderung  ver- 
stKndnisvolIer  politihcher  Mitarbeit 
möglichst  Vieler  zu  en<treben.  wo  ein 
Volk  durch  eine  Menge  tou  Institationen 
als  mtndig  anerkannt  wird.  —  8tier> 
8omlo  entwickelt  zunächf*t  den  BeerrifT 
der  Politik  und  grenzt  ihn  von  Ter- 
wandten  BtgrUfon  ab.  Naeh«i]idii]igtD> 
der  Gliederung  seinas  Gebiets  gebt  der 
Verfasser  auf  Weeea  und  Lebeuh 
ftusserung  des  Staates  ein,  nm  schliess- 
lich die  wichtip-iten  im  Reichstage 
vertretenen  Parteien  m  eharakterisieren. 
Es  fehlt  diibei  sieht  an  Wiederholungen 
und  Verweisungen,  doch  i.st  der  Vortrap 
lebhaft  uud  klar.  In  der  Geschicht.»- 
betrachtung  vermittelt  St.-S.  zwisehen 
dem  Persönlichkeitsknltu.s  dei  Kmke- 
Bchen  Schale  und  der  Massen wirkungj}- 
theorie  Lamprechts;  den  Parteien  gegen- 
über sacht  er  einen  objektiven  Stand- 

Sunkt  zu  wahren  — ,  freilich  nicht,  ohne 
as  Zentrum  liebevoll  ans  dessen 
eigenem  Programm,  die  Nationalliberalen 
ans  ihrer  wirtschaftlichen  Bedingtheit 
heraus  zu  char.ikterisiercn.  Mit  Recht 
wird  mehrfach  die  fast  ausecbliesslicbe 
Tertretnng  von  ErwertninteiesBen 
seitens  dt-r  politischen  Part-  it  u 
beklagt,  lllr  die  Wahlen  der  £inzel- 
landtage  ein  FlnraUtito^stem  enip* 
fohlen.  Kurz  und  bündig  geschrieben, 
kann  St.-S.s  Buch  wohl  helfen  zor 
Übenicht  nnd  ISnmeht:  nidit  smn 
mindesten  dem  Lehrer,  von  dem  man 
ja  in  kleinen  Orten  Auskunft  Qber  so 
ziemlich  alles,  was  in  der  Zeitung  steht 
UTifl  schwer  verständlich  ist,  verlanirt 
Keicblich  angefülirtes  nnd  kurz 
charakterisiertes  Quellen material  hilft 
rar  Weiterftihning.  Von  „Bürger- 
koiide"    für  FortbUduugsacholen  er- 


scheint St.-S.  die  Arbeit  von  Hoßmanu 
nnd  Groth  als  „einzig  brauchbar'.  Das 
deutet  auf  eine  nicht  ganz  extensive 
Kenntnis  der  reicUiohen  diesbestti^iGkeB 
Literatur. 

Dr.   A.  Neuland ,    I'  e  r  W  e  zur 

Universität.  Ratschläs^e  für  Volk.s- 
schullehrcr,  die  sich  dem  l'nivenjitÄts- 
stndium  widmen  wollen.  Aadien, 
Hans  Küsters  Verlag.   2  M. 

\Verdie  Universität  besuchen  möchte, 
soll  ein  selbstfindiger  Mensch  sein,  der 
nicht  ti^ar  so  viel  um  guten  Rat  herum- 
geht. Scharfäogige  Leute  finden  sudem 
anf  Umwegen  mehr  Intereseantee  als 
die  DuTchschnittiimeni^e  anf  der  ge- 
wohnten Landstrasse.  Die  individaelle 
Begabung  bedarf  sehr  oft  des  ganz 
selb.ständig  vnr[r^zri'MiTieten  Wrtfr-, 
Batschläge  aligemeiner  ^atur  lassen 
flieh  wnn  nicht  gnt  geben.  Dr. 
Neuland  ist  aber  auch  recht  vorsichtig 
und  sparsam  mit  Eigenem.  Prlifangs- 
ordnungen,  UniTerBitätsgesetze(die  doch 
kaum  einer  genan  hält!!.  Fromotions- 
bediugungen  füllen  den  weitaus  iTT'üssten 
Ten  106  bedruckten  Seiten:  hinzu- 
gekommen sind  bloss  reichliche  Druck- 
fehler ,  sinnentstellende  Zusammen- 
achiebungen  (8.  6i))  uud  ein  paar 
Bemerkungen  ztir  Geschichte  der  Uni- 
versität, über  die  Vorlesungen  und 
Institute  der  alma  mater.  Die  Kern- 
punkte, auf  die  es  gerade  dem  Lehrer 
ankommt,  sind  aber  doch  nicht  die 
Prüfungtn  nnd  äusseren  Ordnungen, 
sondern  die  Bildnn^möglichkeiten, 
welche  die  Universität  in  sich  schliesrt. 
Wie  diese  letzteren  dem  eigenartig 
vorgebildeten,  mit  ganz  bestimmten 
herantretenden  Lehrer 
zugangli(  li  l;i  [iiucht  werden  können, 
ist  Berufs-  und  Standeeft'age.  Nenlana 
empüelilt  In  sdnem  HefteMn  iweinud, 
der  Lehrer  möge  <h\-<  Zeugnis  einer 
Vollanst&it  nachträglich  erwerben.  Dass 
dadurch  aber  dem,  der  nicht  philologische 
Gaben  nnd  Nei^ngen  hat.  viel  Zeit 
und  Kraft  für  sein  Spezialfach  verloren 
gehen  würden,  ist  unleugbar.  Der 
Tiehrer  mit  wahrhaft  wissen.schnftlichen 
Interessen  wird  lieber  die  Annehmlich- 
keiten und  Vorteile  eine.s  Titels,  einer 
verbrieften  Anwartschaft  missen  wollen, 
als    dass  er  das  Liehlingsfach  ver- 


nacblässic'te ,  clesseThnlhtu]  ihm  der 
UniversitäUbtiüuch  wiinisclteuswert  ist. 
FIdagogik  und  deren  Hilfswinensehaften 
werden  snmeist  in  Fvasg  kommen.  Für 
die  biiÄen  die  nVoüanstaltcn"  nicht 
ffenngr.  Daram  wftte  et  kaum  unbillig, 
Lehrern,  die  vor  einer  —  etwa  von 
üniversitäuproteasoren  zu  bildenden  — 
Eommittdon  ausserordentliche  ftlhifi:- 
keittn  in  bestiniintt-n  (k'bieten  nacn- 
weiseu,  die  akademisehe  Forlarbeit  iu 
der  betreffendenRichtuni^  zu  ermöglichen, 
gleichviel  ob  der  in  Frage  Irammende 
Kandidat  auf  früherer  Alteratttfe  und 
der  einstii^'i'u  BildungsanKtalt  !«clton  jene 
BefKhigung  verriet,  oder  nicht. 

Dr.  AagQHt  Yopcl,  f'berhlick  Uber 
die  Geschichte  der  Philogoy  hie 
in  ihren  intereasanteeten  Pro- 
blemen [  T  il.  Die  griechische 
Philosophie.  Leipzig,  Brandsletter. 
M.  I,fl0« 

Fttr  Wcftsehfttsnng  und  Gedeihen 

der  Staaten  ist  die  Bflrse  der  feinste 
Oradmeiiser.  Wenu  man  sich  über 
Wirksamkeit  i^eistiger  Strömungen 
unterrichten  will,  kann  einem  der  Bnch- 
hftndlerkatalog  gute  Dienste  leisten. 
Da  zeigt  sicti  mit  einigen  Jahren  ein 
bedeutendes  Wachstum  «kr  philosophi- 
schen Verlag-swerke.  Nicht  bluss  die 
üuiinierendt'ii  Schriften  Nietzsche.')  und 
der  weil  links«  >tehenden  Natur- 
philosopheu ,  auch  uicht  nur  jene 
Materialisten,  die  sich  Okkultisten  und 
Spiritisten  nennen,  finden  weite  Leser- 
kreise: es  wird  auch  das  Altertum 
durrli  j,nit  übersetzte  Quellschriften  der 
modernen  Gesellschaft  nahe  gebracht, 
die  Romantiker  leben  auf,  KantaWerk 
findi^t  immer  neue  KommentatOiun. 
Ein  neaes  Buch  Wondt's  wird  —  trota 
der  snweileo  recht  schwierigen  Vortrags- 
weise mit  Heisshunger  genossen, 
and  eine  arbeitsfreudige  Gemeinde 
sammelt  aidi  unter  der  fUine  des  nun 
heimgetrang'eTieii  Eilnard  von  Uartmann. 
Dahn  darf  man  einen  Kückschlac"  ^egen 
die  Übermacht  der  wirtschaftlicnen 
Intere.isen  drrrilssen.  Was  den  Zufrang 
zur  Pbiiosopüie  erleichteit,  hilft  aber 
sogleich  Sjarbeit  bnogen  in  das 
ChftOJ5nnsererGedaukenondStimmnng'en. 
Auch  Vogels  pCherblick"*  wird  darum 
manches  Gut«  stiften.  Der  erste  Teil 
des  Weriichena  befaast  sich  mit  der 


griechischen  Philosophie.  Den  fn-rh  u, 
originellen  Ton,  den  z.  B.  Kalthelts 
Büchlein  über  die  grieokiaehen  Philo- 
sophen auszeichnet,  sucht  man  freilich 
vergeblich  drin.  Bei  allem  Streben, 
die  Alten  aus  unserer  Denkungsart 
heraus  zu  behandeln,  läuft  dem  Verf 
immer  wieder  ein  wenig  Schulaslik 
unter;  Darstellung  und  Benrteilung 
einzelner  Philosophen  und  Schulen  sina 
nicht  immer  scnarf  geschieden;  der 
Periodenbau  hat  zuweilen  etwas  Müdes. 
Trotzdem  ist  Vogels  Buch  zur  Ein- 
leitung in  die  Philosophie  (canz  nützlich. 
In  der  Art  der  (iliederuug,  bei  der 
ruhigen  Diktion,  trotz  der  Einseitigkeit 
mancher  Urteile  zeigt  sich  ein  Autor, 
der  Eii'fene*;  zu  bieten  hat  und  in 
schlichten  Worten  manches  dem  Ver- 
stlndnis  nahe  brinirt,  was  andeniorls 
aus  der  Fülle  den  Itetails  nicht  heraus- 
suerkennen  ist.  Kurz,  aber  meist  sehr 
treffend,  sind  die  Scnieksale  der 
dünken  zn  i^ni  Weltschicksalen  in  Be- 
ziehung gesetzt ;  ein  zusammenfassender 
Rückblick  deutet  zugleich  auf  die  neuere 
Philojicviliii  v.ir.  rl  r  »  in  zweites  BSnd- 
t  heu  ^'ewidmet  wird.  Dürftig  sind  die 
WorterklfimnpenimangefUgten  Register 
der  pliiloeophiscben  Ausdrücke. 

Dr.  A.  Gill«,  Philosophisches 

Lesebuch  in  systematischer 
Anordnung.  Halle,  Waisenhaus. 
2  H.,  geb.  8^  M. 

Gill*'  ^'eht  von  der  richtigen  Ansicht 
aus,  da^s  Philosophieren  am  besten  gegen 
blindes  Nachbeten  eines  Modephilosopben 
schützt.  Wie  nötig  solcher  Schutz  istj 
wird  jeder  erfahren,  der  mit  der  Jugend 
Ton  heute  zu  tun  hat.  Freilich  bedarf 
auch  die  beste  phih^sophii^chc  Blütenlese 
der  Hand  de«  Lehrers,  die  sie  zusammen* 
hftlt.  Wenn  GiUe,  nachdem  er  Zeller 
über  Anftrabc  und  Stellung  der  Philo- 
sophie hat  reden  lassen,  Abhandlungen 
cur  Logik  und  Brkenntuialehre,  aar 
Psychologie,  Rechts-  und  Staat.Hphilo- 
sophie,  eudlich  zur  Ethik  und  Religion^ 
Philosophie  bringt,  so  kann  man  dss 
im  Tntere-:r>  schneller  Orient  ierunc 
billigen,  trotzdem  findet  Referent  es 
bedaueilieh,  dassGilb*  nicht  wenigstens 
in  .Vnmcrknng:en  geschichtliche  Dar- 
bietungen zur  Philosophie  gegeben  hat. 
Im  Zusammenhange  mit  der  geringeren 
Beaditung  der  ^lilosophiegMcUohte 


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—    153  — 


steht  «5  wohl  aneh,  <\n»-<.  Gille  nirf^cndM 
die  kliissi^chfii  Dark^aiugen  Heijeli* 
herangezogen  hat.  Andrerseits  gibt 
Gille  freilich  manches  Nützliche  nnd 
Gnte,  was  nicht  innerhalb  philosophischer 
Fachgelehrsanikt'it  c^t'warhseii  ist.  Dahin 
gehören  die  reiddich  benutzten  Ab- 
■dnitte  ans  Pauls  „Prinzipien  der 
Sprachg^bichte"  und  aus  Jh^'rin^ 
„Zweck  im  Kechf^  tot  allem  aber  die 
gut  gewühlten  Diehterworte  die  in 
veikULrend'  i  F  nn  zusammenfassen,  was 
die  strenge  Deduktion  des  Philosophen 
eneUdflsen  hat  In  der  I^qrehou»gie 
kommen  die  Vertreter  verschiedenster 
fitchUingeo.  <lie  allerdings  nie  Uber  das 
^Mdie  Teilgebiet  befragt  werden,  zn 
Worte,  Aber  der  Zweck,  schärfer  hin- 
sehenden Augen  die  Hulutivitiit  unseres 
Wissens  kenntlich  zn  machen,  dürfte 
doch  erreicht  werden.  Um  den  Schüler 
zu  nötigen,  dort,  wo  er  Einzelfragen 
beantwortet  haben  mOohte,  die  näcbelen 
ZnsaTntnenhSnge  mit  zu  überblicken, 
verweiüi  das  Sachregister  nicht  anf  die 
entsprechende  Seite  sondern  jedesmal 
anf  die  .\bhandlung,  darin  sich  die 
gesuchte  Auskunft  tiudet.  So  blickt 
ein  praktischer  Schulmann  selbst  bei 
den  .\usKerlirhkeiten  aus  dem  Hnehe. 

£lsterberg.  Dr.  Grimm. 

Pf.  Lic.  Traub,  Die  Wunder  im 
neuen  Testament.  (BeUgions- 

Seschichtliehe  Vo]kabtteher  V.  2.) 
[alle  a.  S.,  Gebaner^e]iwet8clikel905. 

72  S.,  40  Pf. 

Der  Verf.  behandelt  das  schwierige 
TlMnia  nach  folgenden  Kapiteln :  Wnnder 

md  Mirakel.  Pauluf  luni  ■]{<■  W'mvh-r. 
Die  evangelischen  W  uniierbenchte. 
HeUnngserzählungm.  Die  Heilmefiiode 
Jesu.  Seeanekdoten.  Speisnnsrfcre- 
schicbteu.  Schon  ans  einigen  dieser 
Oberschriften  gebt  hervor,  dam  er 
Wnnder  im  lundliiufigen  Sinne  des 
Worte«  ablehnt.  Sie  sind  ihm  Mirakel. 
Darunter  versteht  er  „Vorgänge,  die 
einzig  deshalb  anf  Wundorcharakter 
Anspruch  machen .  weil  sie  dem 
verstÄndigen  Erkenn-ji  ins  Gesicht 
schlagen".  Das  Eine  Wnnder  de« 
Glaubens,  das  er  auerkennt,  ist  ihm  der 
lebendige  Gott.  „Gutt  sorgt  für  uns, 
wie  er  für  die  Sperlinge  sorgt''  —  das 
iit   der    Wnnderglanbe  oiriatUcher 


Frömmigkeit.  In  Kapitfd  2  Htellt  Traub 
iimächst  fest,  das»  Paulus  seine  Predigt 
von  der  Erling  nicht  auf  Wunder* 
erzählungen  aus  dem  Leben  Jesu  ge- 
stützt Imt.  und  beutet  diese  Tatsache 
in  einer  Weise  ans,  die  nii  ht  auf  der 
Linie  pauliniscber  Gedanken  üttgL 
Wfthrend  sonst  von  den  Modernen  Jesn 
Evangelium  gegen  Pauli  Theologie  aus- 
gespielt wird,  geschieht  hier  das  Um« 
gekehrte.  Die  Wnnderberichte  d« 
Apo»t*ilß-eschichte  werden,  trotzdem  der 
Verfasser  das  in  Abrede  stellt,  eben 
dodt  allegorisch  omgedentet  und  ab 
Wandere rl eb n iss e  aus  der  l'rr'ihrnng 
mit  und  Beeinflussung  durch  heidnischen 
Mytbrasdientterklftrt.  In  diesem  Kapitel 
begegnet  uns  eine  ansprechende  Aus- 
lassung über  das  Zuugenreden.  8. 20, 
al»er  auch  hier  wieder  ganz  religions- 
geschichtlich: ^Ähnliche  Erlebnisse 
ünden  wir  auf  allen  miiiflicheii  anderen 
BeligionsRtnfen."  In  Bezug  auf  die 
evangelischen  Wunderberichte,  Kap.  3, 

E'ebt  der  Verf.  zn:  „die  Schreiber  der 
rangclien  wollten  Mirakel  erzählen, 
»"^  \vr»r  ihnen  um  wirkliclip  Wunder 
zu  tun  '.  Aber  die  Wunder  haben  für 
ihn  keinen  .spezifischen  Wert,  sondern 
.,wir  haben  es  mit  einer  grossen  Wunder- 
atmosphäre in  der  ganzen  alten  Welt 
zu  tun,  die  nicht  an  den  (irenzen  einer 
bestimmten  Beligiousgemeiuschaft  halt 
macht,  sondern  Oemeingnt  relig^Qeen 
Erlebens  ist.**  Entschieden  anfechtbar 
ist  der  Gedanke:  Weil  das  dogmatische 
Meesiasbild  in  allen  Gtnndzttgen  (eet- 
stand ,  längst  ehe  Jesus  kam ,  nnd 
Wandertun  ein  Uanptzog  darin  war, 
dämm  rannten  diejenigen,  die  ihn  in 
ihren  Berichten  als  den  Erlöser  «  )iil  U  rn, 
gerade  diese  Wunderberichte  hervor- 
kehren. Das  wäre  doch  eine  tendensSae 
SchriftHrrllt  rri  ohne  Gleichen  gewesen! 
Aus  Kui).  4  ist  der  intereädante  Versuch 
einer  Erklärung  des  Krankheitsbildet 
Der  Dämonischen  S.  34  f.  hervorzuheben. 
Dagegen  werden  die  Heilungswunder 
Jesu  zu  einseitig  unter  den  relativ 
richtigen  Gesichtspunkt  gestellt,  dass 
allen  mittelbaren  und  uiiui ittelbaren 
Erscheinungen  der  hysterischen  Krank- 
heiten gegenüber  der  Wille  einer  über- 
mächtigen Person  heilende  Kraft  besitzt. 
Der  Abschnitt  über  die  Ileilmethode 
Jesu  gibt  mancherlei  AnregOAg  in 
Bezug  auf  das  Peripherische  niM  dMsan 


.  y  1.  ^  .  y  Google 


—   1S4  — 


Auffassnnp.  Die  beiden  letzten  Kapitel 
bringen  wenipr  neue  GesichtspnnKte : 
der  Verf.  umgeht  %.  T.  den  springenden 
Punkt.  Der  Ausdruck  „Seoanekdoten" 
für  die  Stillunja:  dts  Stumit.s  iiuf  dem 
Meer  nnd  das  Wandeln  Jesn  auf  den 
Wellen  ist  als  frivol  zn  beaustandeu, 
wenn  er  anch  nur  in  der  Überschrift 
begegrnet.  —  Im  allgemeinen  tVs.«ielt  die 
Schrift,  aber  der  aufg^ewendeto  kritüche 
Appftiftt  woss  Ldflong  iler  Wnndesfrai^ 
im  modern  religionsgeschichtlichen  Sinne 
steht  in  keinem  Verhältnis  zu  den  ge- 
wotmenen  fietuluten.  Wm  ist  damit 

gesagt,  daas  wir  hei  herangereiftem 
lanoen  ^avs  4er  eingebildeten  Welt 
der  Mirakel  in  dae  woUonraniäierte 
Reich  dps  vi"nn 'lorvollen  Scbalfena  und 
Wirkens  uoites  geführt  werden"!  Und 
wohl  ist  „Jesus  kein  WnmdenBUiiif 
souilem  der  Heiland'',  aber  von  seiner 
Erbcheinung  \*t  eben  das  Wunderbare 
tmaertieuulich  und  findet  nnsers  Er- 
achtens eine  befriedigende  Erklärun<>: 
nur  in  dem  einzigartigen  Verhältnis 
aeiner  QemeuiMliAft  mit  Gott 

Prof.  D.  Runkel,  Berlin,  Elias, 
.Iah  VC  und  Baal  (Religions- 
geschichtlii  h«  \  IksbUcher  II,  8). 
Tübingen,  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeek) 
1906.  76  S.  60  Pf. 

Die  zweite  Reibe  der  Belificins- 
gesohichtlichen  Volksbücher  behandelt 
die  Religion  dei  Alten  Teatameuts. 
■an  MA\X  irawillMiliali  «n  dleee  Be- 

handinng  mit  dem  Gedudren  heran: 
Wieviel  wird  erat  hier  a«f  aUteatament- 
Hehem  Bodens  wo  die  Urteile  der  Ter> 

«^'^hiedenen  Richtungen  von  jrher  am 
meisten  schwankten,  an  allen  Über- 
lieferungen und  Aneebannngen  im  Sieb 
der  Religionsgeschichte  ausscheiden, 
und  welche  Werte  werden  für  das 
Auseheidende  eingestellt  werden!  Bei 
solchen  Erwägungen  möchten  wir  es 
als  ein  Glück  bezeichnen,  Gankels  vor- 
Hegende  Schrift  in  die  Hand  %\\  be- 
kommen. Bei  aller  weit^henden  Kritik, 
die  er  übt,  bat  er  eine  feine  ernste 
Art,  die  versöhnend  wirkt.  Hier  redet 
zn  uns  »'in  M*'ister  auf  dem  Gebiete 
alttestaraeiiiiiclier  Forucbuug.  der  den 
Stoflf  in  souveräner  Weise  beherrscht, 
das  merkt  man  auf  jedem  Blatte;  und 
er  schreibt  fliessend  nnd  klar,  so  dass 


man  wirklich  weiss,  %vaf«  er  will.  — 
In  der  Enleitung  stellt  er  die  wissen- 
schaftliche Aufgabe.  Das  1.  Kapitet 
bringt  die  Erzählungen  von  läiss. 
ästhetisch  und  literatorgescbichtlich 
betrachtet,  das  zweite  die  Kritik  der 
Erzählungen  von  Elias  als  Quellen  der 
Geschichtschreibung,  und  das  dritte 
Kapitel  das  historische  Bild  des  Elia.s 
im  ZusammenliaDg  der  BeUgionsge- 
sehiefate  btaels.  —  Der  VerCteser  geht 
davon  ans.  da.s.s  nnter  den  Anklagen, 
die  gegen  die  gegenw&rtige  alt- 
testanentliebe  Forsebung  von  Hinnen 
der  Kiri'lu'  (•ilmh-ii  werden,  keine  m 
schwerwiegend  ist  wie  die,  dass  durch 
die  lüttestamentliehe  Kritik  der  Glanlie 
an  die  göttliche  nffcnhnmng  zerstört 
werde.  Er  gibt  auch  uime  weiteres 
zn,  dass  die  moderne  alttestaanatlkhe 
Wissenschaft  sich  wirklich  von  der 
bisher  in  der  Kirche  herrschenden  Über- 
lieferung aufs  stärkste  entfernt  und 
demnach  die  Frage  verständlich  ist. 
was  denn  eigentlich  noch  feststehe,  wo 
io  vieles  sehon  gefallen.  Auch  das  sei 
znriTre'ben.  dai«.'!  die  alttf^tam^^utliche 
Kniik  gelegentlich  ein  wciüti  zu  weit 
gegangen  sei  nnd  hie  und  da  ein  zer- 
setzender und  profaner  Geist  in  diese 
Wissenschaft  eingedrungen.  Besonders 
wertvoll  aber  ist  von  dieser  Seite  das 
Zugeständnis,  dass  vielleicht  in  Zukunft 
manche  biblische  tyberliefemng.  die 
gegenwärtig  verwf  rfi  ii  (hIit  li'ir  jung 
erklart  wird,  wieder  zu  Ehren  kununea 
mdebte.  —  Als  Probe  moderner  Selnift- 

forschung  will  Ounkel  dns  T'ild  lie- 
Propheten  Elias  naeh  den  Quellen 
seieimen,  aber  nicht  nnr  anf  Grand 

hi^t'^ri-ch  -  kritischer  Brtrn^htung.  son- 
dern zugleich  ästhetischer  Unter- 
snebang,  die  der  Bedentang  der  bibU- 
schen  Elias^rr^ühlnngen  als  religiöser 
Kunstwerke  gerecht  wird.  Da« 
Resultat  seiner  Kritik  ist  dieses:  In 
den  Eliaserzählungen  redet  _  nicht 
eigentliche  Geschichte  zu  uns,  aoch 
nicht  eine  mit  einzelnen  sagenhaften 
Zügen  vermischte  (^e^chichte.  sondera 
die  Sage,  die  ja  treüich  mancherlei 
historisches  Gut  enthalten  kann".  ^ 
sind  unbewQsste  Dichtungen  des  Volkes, 
ein  schönes  Zeogni.s  dafür,  dass  das 
Gedächtnis  des  Heros  nicht  unter- 
gegangen iKt,  dass  es  nach  seinem  IMe 
Menschen  gegeben  bat,  die  seine  öe- 


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—   155  — 


danken  verstanden,  die  ihn  verehrten 
nnd  bewanderten,"  ..ja  die  zn  ihm  auf- 
geblickt hab»"U  wif  zu  einem  der  Gottes- 
helden am  Himmel.''  —  Wie  gestaltet 
iich  aber  nnn  historisene  Bild 
des  Eli  t  Guiikel  sa^  u.  a. :  „Bei 
solchem  Qnellenbefande  ist  es  natttrlich 
unmöglich,  eine  Lebemgeeelilehte  des 
Elias  zu  zeichnen ;  und  utir  das  kann 
die  Auf^be  sein,  die  Ferson  und  vor 
dien  «e  Oedanken  des  Mannes  m 
erkennen"  und  „da.^  Typisch'  diran- 
zn  nehmen.**  ^enn  wir  za  beaiuimteu 
Zßgen  der  fliastradition  frappante 
Parallelen  in  weit  entfernten  und  litera- 
risch ganz  unahliänt^igen  historischen 
Qnollen  finden,  lürfen  wir  uns  wohl 
dem  Vertrauen  hingeben,  auf  festen 
geschichtlichen  Boden  gestosseu  zu 
ueiu."  „Elias  ist  ein  Prophet,  ein 
Nabi."  Er  eifert  „fflr  Jabves  alUinic:' 
Verehrung  in  Israel  gegen  den  hiuil- 
dieiist".  „Er  stellt  in  seiner  Person 
altisraelitisches  Wesen  dar:  sein  Ziel 
ist.  da«  Uuisraelitiscbe  aufzutreiben." 
Jniive  ist  dem  Propheten  mehr  als 
Israels  Nationalgott;  er  siebt  ihn  den 
Gott  der  ganzen  Welt  werden.  „So 
ist  Elias  eine  grosse  Weis.sagunir  für 
die  Zaknnft.  Sein  Kampf  gegQU  den 
Baal,  sein  ISfer  für  den  Qott  des  Rechts, 
der  mehr  ist  als  ein  Gott  Israel.'«,  sind 
nur  daä  Vorspiel  einer  gewaltigen  Be- 
wegung." „Kein  Prophet  erseheint  uns 
gewaltiger  als  der  Glanben.sheM  Elia.«." 

Auch  wer  zu  ganz  anderen  Boni- 
täten kommt,  als  Onnkel,  «dl  er  bei 
der  Srhriftforschung  von  anderen 
Voriuflsetzungen  ausgeht,  wird  da« 
Hu<  t]  mit  innerem  Gewinn  lesen:  £« 
führt  ein  Stiirk  i=ra(  Ii  tischer  Geschichte 
in  edler  Plastik  vor  unser  Auge,  es 
regt  zur  Prilftuig  der  eignen  Position 
energisch  an  und  bereichert  nach 
mancher  8eite  nicht  uuweüentitch  da» 
leligionsfesdiichüiche  Verständnie  im 
allgemeinen  Sinne  des  Wortes. 

BochlitB.  P.  Na n mann. 


B.  BesS;  Unsere  religiösen  £r- 
lieher.  Eine  Geschichte  des  Christen- 
tums iu  Lebensbildern.  Unter  Mit- 
wirkung einer  Beihe  von  Oelehrtea. 
Leipzig,  Quelle  Mm,  190B.  2  Bde. 
2YJ  n  2B6  S.  Je  8,80,  gthnndeii  je 
4,t}Ü  M. 


Es  ist  aicher  ein  glücklicher  Gedanke, 
statt  einer  vollständigen  Kirchen- 
geschichte, zn  deren  Durchlesen  sich 
viele  besonders  w^en  der  mannigfachen 
unerquicklichen  Partien  nicht  ent- 
schliesseu  werilen  und  di»'  von  einem 
JSinselnen  kaum  gleichm&ssig  vollendet 
ni  sehreibflii  ist,  eine  Sammlung  von 
Darstell  uncren  nur  der  hervorragen d.sten 
Persönlichkeiten  der  ohristlichen  Beli- 
gionegesehiehte  dnreh  anorkannte  Faeh- 
m&nner  zu  vr  ran  stalten  Au  eh  so  er- 
halten wir  ja,  wenn  die  Auswahl  tref- 
fend ist,  der  vemohiedenen  fiedentonr 
ilie  Betonung  entspricht  und  jedesmal 
einleitend  erweise  di»»  nötigen  Ver- 
hinduiig«linieu  ^^ezotjeii  werden,  ein 
Bild  von  der  Kiitwieklnng  nud  dem 
Wesen  des  Chrinteutums  überhaupt. 
Und  gewisMi  wird  dieses  Bild  um  so 
kriifticrer  relii^^iös  erzieherisch  wirken 
künneu.  ah  ..uicht.s  m  geeignet  ist, 
religiöse  Erkenntnis  nnznregeo  und 
relijriöses  Leben  zu  lordern,  als  die 
BerUhraug  mit  ^leichgearteteu  machte 
vollen  PenOnlichkeiten'*  (Vorwort). 

Ansj^ewählt  sind  „Moses  und  die 
Propheten"  von  Prof.  D.  Meinhold- 
Konii.  .Jesus  von  Prof.  D.  .\.  Meyer- 
Zürich,  Fanlu?-  von  Prof.  Lic.  Dr.  0. 
Clemen-Honu,  Or  igen  es  von  D. 
Preuschen-Hirschhorn,  August  in  von 
Prof.  IK  T)omer-König8b€rg.  Bernhard 
von  C  1  a  i  r  V  a  u  X  von  Prof.  D. 
Deutsch-Berlin,  Franz  von  Assisi 
vonProf,Dr.Wenck-Marbnrg,Hein  ri  ch 
Sense  (Sn.so)  von  Lic.  Dr.  0.  Clemen- 
Zwickau,  Wicl  if  u.  Hu«  von  f  D.  Dr. 
Bnddensieg-Dresden,  Luther  von  Prof. 
D.  Kolde-Erlanj,'en.  Zwingli  von  D. 
Baur-Weiusber!^,  Calvin  von  Prof. 
Lic.  Bess-Halle,  Spener  von  D.  Grttn- 
hfTg.  Schiller  n.  Goethe  von  Prof. 
D.  Sell-Bonn.  Schleiermacher  von 
Prof.  D.  Kim-Leipzig,  Bismarck  von 
Prof.  D.  Baiimg«rten*Kid.  Dam  ^ 
SeUnsswort  „Die  Religion  der  Erzieher" 
Ton  Prof.  D.  Hemuann-Marburg. 

Der  Auswahl  wird  in  der  Haupt- 
sache zuzustimmen  sein.  ObOrigenes, 
Ton  dem  Prenschen  schlicht  erzählt,  in 
seiner  Bedeutung  Nicht-Gelehrten  nahe- 
zubrinsren  ist.  scheint  mir  allerdings 
fraglich  i  nötiger  wäre  jedenfaUa  ein 
Abeehnitt  über  den  geistTollen  VerflMeer 
des  .Tohannesevangeliums,  der 
schon  lange  vor  Origenes  die  Gebildetem 


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-   156  - 


aeiner  Zeit  für  das  Chiistontum  sa 
Mwiimen  gvsndit  hat  und  desten  Jesna- 

nild,  wenn  es  -  vrie  meist  in  T'nter- 
richt  und  Fredigt  mit  dem  der  drei 
ersten  STangelien  vermeagt  wird,  viel 
Verwirrung  anriebt*  t  T^n«  von  Mys- 
tikern der  weniger  bekaunlc  Stiuse 
ansgewäblt  ist,  begründet  0.  Clemen, 
der  ihn  mit  viel  Sympathie  darstellt, 
damit,  dass  die  Eckhart-  und  Tanler- 
fondiailg  noch  zu  sehr  im  tagen 
liegen  um!  die  wohl  nicht  von  Thomas 
?ou  Kempen  stammende  „Nacblul^'u 
Christi'"  wenig  originell  ist,  während 
wir  Scuso.  den  liebenswürdigsten  und 
anKiehemlsten  aller  Mystiker",  „besser 
kennen  als  irgend  einen  Frommen  des 
Mittelalters"".  Das  sind  Gründe.  Ob 
es  nicht  glücklicher  gewesen  wBre,  nur 
einleitend  von  Spener,  dann  aber 
awuEtthrlkher  von  dem  tatenreicheren 
Franeke  mid  dem  gebitvoUeren  Zinseii- 
dorf  'in  erzählen,  will  ich  nur  friitr<?n. 
nicht  entscheiden.  £ic  fühlbarer  Hangel 
ist  das  Fehlen  von  Lessinflr.  dem 
neben,  ja  vor  (Goethe  nnil  Schiller  eut- 
üchicden  eine  Stelle  unter  unseru  reli- 
giOeen  Erriehem  gebttbit;  die  wenigen 
beiläufigen  Zeilen  Seils  erninsren  noch 
weniger  als  die  über  Herder.  Auch 
Kant  vermisst  man.  Ob  dagegen 
Bismarck,  noch  dazu  im  wesentlichen 
„bei»chränkt  auf  die  Zeit,  da  er  sich 
selbst  erzog  oder  erziehen  liess",  unter 
die  religiösen  Erzieher  gehört,  ist  wohl 
fraglich.  Freilich  kann  es  erziehlich 
wincen,  wenn  nnsem  Patrioten  gezeigt 
wird,  eine  wie  bedeutsame  Rolle  die 
IvcU^'iuu  doch  im  Leben  unsers  grüssten 
Staatsmannes  gespielt  hat.  Al^  dann 
müsste  doch  auch  die  Frage  —  und 
zwar  gründlich  —  erörtert  werden, 
wieweit  und  ob  überhaupt  seine  Politik 
dorcb  seine  persönliche  Frömmigkeit 
beeinllnsst  worden  ist  Endlich  ist  noch 
zu  beanstanden,  dass  keine  Zeugen  iler 
Innern  und  ^usaern  Mission  und 
des  socialen  Ohristentnnis  — 
etwa  "Wichern.  Livint^stone,  Kingllej, 
Werner   -  vertreten  sind. 

Der  Wert  der  eiuzelucu  Bei- 
träge ist  bei  einer  solehmi  Aniahl 

Gelehrter  niituri^^emäss  verschieden.  Vör- 
bereiteud  handelt  Meinhold  kui-z  und 
vorsichtig  von  den  mosaischen  Anfängen 
der  israelitischen  Rflit,'i<'n,  eini,'eliendcr 
von  den  grossen  Propheten  Arnos,  Hosea, 


Jesaja,  Jeremia,  zu  knaj^p  von  Deaten>> 
jesaja,  gar  ttidit  s.  B.  von  dem  be- 

dentsamen  Buche  Hiob.  Am  besten 
hat  mir  das  von  .\rnold  Heyer  auf 
50  Seiten  knapp  imd  doeb  inssent 
inhaltsreich  in  fris'-hei!  Farben  und 
kräftigen  Linien  eutwortöne  Lebens- 
nnd  Charakterbild  Jesu  gefallen.  Mag 
man  am-h  zu  so  und  so  vielen  Einz«»l- 
tragen  »ich  anders  stelicQ,  das  Ganze 
ist  eine  ebenso  warmherzige  wie  ge- 
schickte Darstellung  des  tferrlichstPB 
der  Menscbensöhne,  vuu  der  üich  m.  £. 
vielfach  sogar  ebenso  Altgläubige 
fweiiig'sten.s  Nithttlieologen)  wie  Un- 
kirchliche antre^jirochen  fühlen  könnten. 
Um  so  zweifeliiatt'M  ist  mir,  ob  viele 
Laien  mit  Freude  und  Gewinn 
C.  Clemens  Paulus  durchlesen  werden, 
der  durch  .stärkere  Betonuni:  <les  aus 
den  Briefen  sa  erbebenden  Biographi- 
sdien  rieber  lebendiger  nnd  plastischer 
hätte  werden  können :  nmn  denke  nur 
an  Weineis  Buch.  Auch  bei  Dorners 
Angnstin  bitte  der  enieberiseb  gewiss 
hedeutsame  Lebensgaiig  stärker  nnd 
zwar  in  Worten  der  „Bekenutnisse" 
aiiBgefllbrt  sein  sollen,  wihrend  sein 
Nchwierige?^  Gedankent^ehände  fWr  'iie 
doch  wohl  hHupt!»ik:hlich  als  Leser 
gewünschten  Nicbttheologen  kttrsar, 
vereinfachter  dargestellt  werden  rausste; 
der  Verf.  sclieint  da.-*  selbst  gefühlt  zu 
haben ,  wie  seine  Zusammenfassang 
S.  17'?  178  zeigt.  In  Deutschs  an- 
«precheuder  Schilderung  des  h.  Bern- 
hard ist  dieser  als  Gegner  Abälards 
rfii'b'i;  h  milde  beurteilt.  Aus  Wencks 
Frauziäkus  erwächst  einem  eineraeii« 
das  etwas  unbehagliche  Gefühl,  dass 
der  uns  durch  P.  Sabatiers  köstliches 
Buch  ans  Herz  gewachsene  Idealkatbolik 
von  Assisi  von  dem  französischen 
Gelehrten  doch  etwas  veneichnet  war; 
andrerseits  scheint  mir  auch  wieder 
Weuck  zu  weit  zu  Inn,  .t-)i);  -r  die 
parallele  jSntwickiung  der  —  im 
Kenne  doch  andersartigen  —  Fraitiis» 
kaner  mit  den  andern  Orden  für 
geschichtliche  Notwendigkeit  hält. 

Kol  de  aeichnet  ausführlich  leider 
nur  den  werdradeo  Luther  nnd  begnti|^ 
sich  dann,  wohl  ans  Plat/.mangrel,  damit, 
za  aeigen,  was  der  Keformator  der 
ObriBtenbeit  an  neuen  religi<leeo  Werten 
^tȣreben  hat.  .\her  in  einem  snlchf^n 
Buche  hätte  doch  in  erster  Linie  der 


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—  157  - 


Hdd  d«r  Eimsen  BeCnniittioiisjftliT«  in 

seinen  Taten  und  Worten  mirhlir^h 
geschildert  werden  and  dann  auch  (ier 
SchnuLken  des  gronen  Hannes  gedacht 
werden  müssen.  A.  Banrs  vnnirteils- 
freie  warme  Zwingli  -  Charakt^iri.stik 
wünschte  man  nur  länger;  der  Züricher 
Iif'fürmator  i<r  "crade  eine  Gestalt,  liii; 
auch  den  „Laierr  leicht  verätäudlich 
nnd  sympathisch  sein  dürfte  nnd  deren 
rPliofirwe  Tiefe  und  TIcrzlichkoit  dann 
um  sü  ergreifender  wirkt,  üm  so 
schwerer  ist  das  religiös  Erzieherische 
bei  dem  meist  düsteren,  strengen  Calvin 
zn  entdecken,  dem  der  Heransgeber 
Bess  eine  ausführliche  Darstellung 
widmet  Wert?oU  für  viele  Gebildete 
wird  Seils  Nachweis  sein,  dass  Qoethe 
und  Schiller  indirekt  die  Religion 
förderten,  indem  sie  den  übersinnlidien 
Mlehten  im  mensehlieheB  Lebm  «Inen 
Platz  anwiesen,  direkt  religiÖi  Iber 
wirkten  als  £rBieher  zu  einer  kaiwoni- 
9clMm  Sitttichkeit  besonders  dareb  die 
stetig    fe.stgehaltene    Richtung-  ihres 

fuuzeu  I^bens  anf  die  höchsten  Ideale, 
ndlich  laaeen  hoffentUeb  auch  recht 
viele  Hrs  von  Kirn  vortrefflich  i^e- 
zeichuete  Bild  bchieieraiacherü  auf  ^ich 
wirken,  des  geist-  und  gemütvollen 
Verfassers  derKeden  über  die  Kelicfion, 
der  Glaubenslehre  und  der  Monologen, 
des  Patrioten  nnd  Unionsfreundes,  des 
Versöhnen  fon  Christentum  und  Bil- 
dung. 

Trutx  einer  Reihe  vou  Ausstellungen, 
die  ich  zu  machen  hatte,  möchte  ich 
die  Lektüre  der  beiden  gut  gedruckten, 
weniger  gut  gehefteten  Bände  sehr 
empf  ehl  (-11,  da  ich  kt-in  besseres  Hnch 
dieser  Art  m  nenoeu  wto»te  und  ein 
solebes  doeb  ein  entschiedenes  Bedürfnis 
i«t.  Freilieh  könnte  ich  es  mir  in  der 
eanzen  Axt  der  DarsteUnng  noch  glUck- 
Beber  ansg«fBhrt  denken:  es  sollten 
d  u  r  c  h  g  e  h  e  n  d  s  v  i  el  r  e  i  h  e  r  die 
eigenen  Worte  dieser  religiösen 
Heroen  und  Virtnosen  der  mnuttig^ 
kl  it  inryeboten  nnd  nnr  mehr  mit  vor- 
bereitenden, erklärtiudeu,  Uberleiteudeu 
und  abschliessenden  Betrachtungen  ver- 
sehen sein.  Dadurch  l>rrinchte  die  Dar- 
äteiluug  formell  nicht  beeinträchtigt 
zu  werden,  inhaltlich  würde  sie  be- 
deutend Qn(MIfrische.  Originalität 
nnd  Objektivität  gewinnen.  Damit  aber 
wttre^  wie  woU  jedem  intereiiiexten 


Leser,  so  Insbesondere  dem  Lehrer  fttr 

die  Verwertung  im  ünteniöht  nooh 
weit  mehr  gedient. 

Zwickau  i.  S. 

Dr.  Hermann  Meitzer. 


Hr.  Uustav  Buttastein,  Oberlehrer  am 
Kgl.  Wilheimsgymnasinm  in  Berlin. 
U  n  t  e  r  r  i  c  h  t  i  m  ,\  1 1  e  n  T  e  s  t  a  rn  e  n  t. 
In  Verbindung  mit  Prof.  D.  theol. 
J.  W.  Rothstein  verfasst.  L  Teil, 
Hilfsbnch  für  den  Unterricht  im 
Alten  Testament.  X  nnd  230  S.. 
broch.  2  M.  40  Pf.  II.  T(>il,  Quellen- 
buch für  den  Unterricht  im  Alten 
Testament,  XII  nnd  216  8.,  broch. 
2  M.  00  Pf. 

Im  l.  Teil  inbt  der  Verfasser  einen 

Abrlss  der  Israelitischen  Volks-,  Reli- 

S'ons-  und  Literatargeschichte.  Diese 
ei  Oesicbtspnnkte  werdMi  aber  niebt 

nebenein;iiider ,  sondern  in-  und  mit- 
einander verfolgt.  Er  fnsst  in  allem 
anf  den  .\n8channngen  der  alttestament- 
lichen  Wissenschaft  der  Gegenwart. 
Dabei  neigt  er  nicht  nach  der  radikalen, 
sondern  nach  der  bedächtigen  Seite  bin. 
Abraham  ist  ihm  eine  geschichtliche 
Persönlichkeit,  der  Dekalog  geht  in 
seiner  Grundform  auf  Moses  zurück, 
yio^tA  ist  durch  eine  Offenbamnq:  Gotte? 
das  geworden,  was  er  iät.  Die  wisüen- 
schaftlichen  Angabeji  Aea  Baches  sind 
in  jeder  Hinsicht  zuverlässig. 

Das  Qnellenbnch  begleitet  den  ge- 
schichtlichen Anfriss  des  Uilfshuches 
durch  Qnellenstücke.  Diese  folgen  nicht 
dem  Gange  des  Alten  Testamentes, 
sondern  sind  ans  seinen  Zusammen- 
hängen herausgenommen  nn  1  entwick- 
Inngsgeschichtlich  anciuaudergereiht. 
Etwas  ganz  Neues  ist  es,  dass  anA 
aus-serbiblische    Quellen    nn    den  zu- 

gehörigen  ÖteUeu  eingefügt  sind,  so 
teilen  ausdenAmamabriefen,  Zeugnisse 
TUT  Königsgeschichte  aus  assynschcn 
und  babylonischen  Quellen,  Stelleu  aus 
Josephus,  der  babylonische  Schöpf nugs- 
mytbns,  die  Sintflutgescbichte  ans  dem 
Gilgamesch-EpoB  u.  a.  Dieses  Quellen- 
buch wisseuscbaftlich  höchst  wert- 
voll und  in  seiner  Art  und  Ausdehnung 
neiL 

Wenn  fceiUoli  der  Yerfamer  meinte 


-   IS»  - 


dMi  lein  Werk  Untertertiaaeni  nfttMn 

wird,  m  (Ittrfte  er  sich  H«hr  täuschen. 
£r  bietet  einen  exakten  Extrakt  der 
alttt'.stnineut lieben  WiBaenaehaft,  aber 
pädagogische  ErwilsriinifPn  treten  ganz 
zurück.  Dein  Religio  Uülebrei,  dem 
Laien,  der  sich  für  die  moderne  alt- 
testamentlit^b»*  \Vi?i>:enschaft  interessiert, 
dem  Stmieuteii  der  Theologie,  dem 
SchOler  der  letzten  2  oder  liQcbstens 
75  Klassen  der  hf'thfrt'u  Schalen  biet^'t 
er  eiueu  treffli«  heu  Wegweiser;  für 
SchOler  der  mittleren  Klassen  ist  seilt 
Werk  sn  bocb  und  m  nmfangreicb. 


Mehr  Frendi^keit,  mehr  Frei-> 

heitim  T\nli£:!ünHunterricht.  Vortrag 
von  PaHtor  priui.  Bode  in  Stade. 
Verlag  H.  Bargdorf-BMhholi  (Kr. 
Hftrlmrg)  1907.  16  & 

Der  Verfasser  geht  den  Mänifelü 
des  EeligiooMUiterncbt«  is  ftbiüich 
energisoher  Weite  m  Leibe  wie 
Baumgarten  in  den  1  kannten  Neuen 
Bahnen.  Auch  seine  1^'ordenui^ea  be- 
wegen flicli  naeh  deraelben  Etuhtna; 
hin. 

Pina.  Dr.  Ü.  TSgel. 


(Bespiechiiflg  vcxbehalten.) 

KrUtS,  Karl,  Prakliscli  crprobtr  Anfpihcnsammlung  für  den  ersten  rnterricht  in 
Rccht»chrciben,  Sprachlehre,  VVurtbiiduag  und  Aufsatz  auf  Grtindlagc  de»  Selbst- 
unterrichts im  Anschluss  an  die  Kibcl.   5.  Aull.   Giessen  1907.   Roth.  Pr.  $0  Pf. 

Huth,  C.  H.  A..  Kl'  lnrs  Wörterhurh.     Dresden  1907.  Fhlrrmnnn. 

Fischer,   P.,   liialührung   in   liic   clciitschc    Drucküthnlt.     Leipzig  190S.  Sicf^iamunfi 

&  Volkcning.    Pr.  30  I'f. 
Beyblf  Jakob,  Frieilc  auf  Erden.   Eine  deutsche  WeihDacbtsdichtvilg.   2.  Aufl.  Ebenda 

1907.    l'r.  60  Pf. 

Sebtlfer,  Pnif.  A.,  Peir<i^usriite.    i.  Heft.   Spanien  und  Portugal   Hannover  1907. 

^t<•v-•^      Vr    yh    hn  ]'>  _ 

Veibagen  &  Kiabingi»  Sammlung  deut&aher  Schulausgaben.  116.  Licferg. :  Porgcr, 
Moderne  erzählende  Prosa.  7  IM.  188.  I.icferg. :  I^öschhom,  Anthologie  mittel- 
alterlicher Gedichte,  iro  l  i  -ferg  .  Muckau,  iiilfsbuch  zu  Homer.  120.  Lieferg.: 
Wielands  Oberon,  hrruus^(^.  von  v.  SaUwOrk.   Pr.  i  M.,  1,10  M. 

DfOlSChe  Scbulausgaben,  herausgeg.  von  Ür.  j.  Ziehen.  Bd.  48:  Stutzer,  I.tsehuch 
zar  deutschen  Staatskunde.  Bd.  49:  Kiazel,  Ans  Goethes  Prosa.  Bd.  50: 
Ziehen,  Goethes  Ttalienlsche  Reise.  Dresden.  Eblermann.  Pr.  1,20,  145. 
[  ho  M. 

Anthee.  Otto,  Der  papiemc  Drache.  Vom  deutlichen  .Aufsatz.  Ltdpüg  1905.  Voigt- 
linder.   Pr.  0,80  M. 

Eomnd,  Das  siebenfache  Buch  der  Liebe.    I.  AttfUimiif  ?  Ljrräeher  Roman.  Dresda. 

Fienon.    l'r.  2  M. 

Hirdar,  Der  Cid.  Meransg.  Toa  K.  Janker.  Lcipiig.  Tenbncr.  Fr.  geh.  50 
BtrQer,  Gustav.  I>i'  \Vortv(>^>^tollungen  im  Deüttdien  Unlemcbitc  der  Vftlkwibnk. 

Leipzig  1907.  Klinkbardt. 
SohnMt,  Dr.,  Kunst  und  Gedichtsbebandinng  bn  Unterriditc.  Aitcnbwg  1906.  Unger. 

Pr.  4,80  M. 

Edert,  R.,  Gci*chäflüaufs&txe.  Ausg.  A.  i.  Urft.  Aull.  Hannover  1907,  Meyer. 
Pr,  60  Pf. 

Hayar,  JohaBnes,  Lehr-  und  Übungsbuch  für  den  ^r.^  rrlcht  in  dt  r  deutschen  Kechl« 

Schreibung.    Ausg.  B.    Heft  2.    3.  .\ufl.    Lbcnda  1907.    Pr.  50  Pf. 
Den.,  Dentsebe«  Spndibneb.  Abg.  B.  in  4  Heften,  H.  1—3.   Ebenda  1907.  Pr.  25, 

so,  75  Pf.,  I  M. 

Dcrs.,  kleines  deutsches  Sprachbuch.    Ausg.  B.  in  3  Heften,  II.  I — 3.    Ebenda  1907. 

Pr.  25.  40,  50  pr. 


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—   159  - 

8MM,  I.,  Drr  AiÜMiz  ia  der  Volks,  und  Mittdtcinde.    t.  Bd.  3.  Ana.  Halle  1906. 

Srhroodcl.    Pr.  1,50  M. 

Möller,  W.  H.,  rräparatiooen  tilr  dea  gnunmalischea  Unterricht  in  Volks»  und  Bürger- 
schulen.  Leipzig  1907.   KcMdringsche  HofbueMiMidhinK.   Pr.  geb.  2  M. 

Kitzntr,  Dr.  Adolf,  Praktische  .\nleitung  zur  Vermeidung  von  Fehlem  bei  der  AI)- 
fa&&ung  deutscher  Aufsätze.    4.  Aufl.    Neu  bcarb.  von  Prof.  Dr.  Lyon.  Leipzig 

1907.  Teubner.    Pr.  geh.  I  M. 

Wllgailto  Deutsche  \\  rtrrhuch,  5.  Aufl.,  neu  bcarb.  vüti  Karl  v.  Baader,  Hermann 
Hirt  und  Kart  Ku.nl.  Heraosgeg.  von  II.  >iirt.  i. — 5.  Liefcrg.  Vollstündig  in 
etwa  12  Uefenuigcn.  Gie«eB  1907/8.  Tflpdaaim.  Fir.  je  1*60  H 

SttOkel,  Brief«!  und  amtliche  Schriftstücke  im  bürgerlichen  Leben  tUld  Amttmlcelir  dcs 
I^hrcrs.    4.  .\ufl.    Halle  I908.    Schrocdel.    Pr.  1,40  M. 

8ner,  Prof.  Dr.  Aug..  Utenttargeaehidite  und  Volkskunde.  Rektomtsrede,  Png  1907. 
Calvc.    Pr.  1,20  M. 

Sfltterlin,  Prof.  Dr.  L.  Die  Lehre  von  .I  r  I.autbildiiag.  Leipzig  iqo8.  Quelle  &  Meyer. 
Pr.  1,25  M 

StlOkiQi,  E.,  Allgemeine  lleimatskunde  mit  BcnickNichtigaag  der  KoltargeKhichle  USW. 

3.  verb.  .\ufl.    Halle.    Schrocdel.    Pr.  2  M. 
TNliter,  W.,  .\llgemeine  Erdkunde.   Ein  HUfiboeli  Air  Lehreneniiutre  «ind  höhere 

Schulen.    Ebenda  I907.    Pr.  2, So  M. 
^isel,  J.,  Landschafts-,  Völker-  und  .^tädtcl)ilder.    3.  Aull.    Ebenda  1905.    Pr.  geb. 
2,20  M. 

HftMrath,  Prof.  Dr.  Hans,  l>er  deutche  Wald.    Leipzig  1907,  Teubner.  Pr.  geb.  1,25  M. 
StoUlOOlie,  Dr.  Viktor,    Landeskunde  der  Rheinprovinz.     I.eipzig   1907.  Göschen. 
Pr.  0,80  M. 

L  V.  Seydlitz,  Geographie,  Aasgabe  D,  bearb.  von  Fiof.  Dr.  Kohrmann,  3.  Heft, 

8.  Aufl.   5.  Heft,  7.  Aufl.  Breslau  1907.   Hirt   Pr.  85  Pf.,  90  Pf. 
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Wohn«  und  Scblafverhaitnissc  unserer  Schnlkinder.  Heft  3,  Glaser,  E.,  Die 
Beseitigung  des  Religionsunterrichts  nus  der  Schule.  —  Heft  4,  Helling.  Un- 
wichtiges und  Wichtiges  aus  der  Sprachlehre.  —  Meyer,  Sprachliche  Heimatkoodc. 
Bd.  17  Heft  5,  Von  einem  alten  Dentsch-Amerilcaner,  Die  Sciralstadt  Selbst- 
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Dnisk  Tsa  A.  Mala  4  Sohn  fn  Vwambng  a.  S. 


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A.  AbluuidliiiigQiL 

1 

Militärische  Jugenderzieiiung. 

Von  Generalmajor  Gradioger  in  München. 

fiDic  Blüte  eines  Kulturvolks  steht  und  fällt  mit  seiner  Wehrkraft" 
So  Dr.  Herrn,  Lorenz,  Direktor  der  Guts-Muths-Realschule  in 
Quedlinburg  in  der  Einführunf{  zu  dem  ,  Wehrkraft  durch  Erziehung" 
betitelten  Bande  der  Schrilten  des  Zcntraiausschusses  zur  Förderung 
der  Volks»  und  Jugenderziehung  in  Deutschland. 

Fasst  man  den  Begriff  „Wehrkraft"  als  die  Vereinigung  all  der 
ethischen,  intellektuellen  und  physischen  Eigenschaften,  welche  erforder- 
lich sind,  um  den  Einzelnen,  wie  die  gesamte  Nation  im  vollsten  Sinne  des 
Wortes  „wehrhaft"  zu  machen,  so  wird  an  der  Richtigkeit  des  an  die 
Spitze  gestellten  Aussprucltt  in  keiner  Weise  gedeutelt  werden  können. 
Nur  solange  die  Nation  in  ihrer  Masse  sieh  die  moralische,  geistige 
und  körperliche  Gesundheit  und  Tüchtigkeit  bewahrt,  durch  welche 
sie  innerlich  und  äusscrlich  wehrhaft  wird,  kann  sie  sich  auch  auf 
der  Höhe  wirklicher  Kultur  —  diese  recht  wohl  von  Zivilisation  zu 
unterscheiden  —  erhalten.  Hang  und  Streben  nach  kriegerischer 
Betätigung  bilden  kein  notwendiges  Korrelat  des  in  einer  Nation 
lebendigeti  Bewusstseins  der  Wehrfähigkeit.  Vidmebr  werden  die 
der  inneren  Wehrhaftigkcit,  wie  der  wirklichen  Kultur,  gemeinsamen 
sittlichen  Voraussetzungen  gerade  geeignet  sein,  ungesunde  Triebe 
nach  dieser  Richtung  einzudämmen.  Die  Erfassung  des  Begriffs 
der  Wdirkiaft  in  dem  ^nne  aber,  dass  sie  eine  Blüte  sitdicher  und 
körperlicher  Entwicklung  der  Nation  darstellt,  bei  den  heutigen 
Volksheeren  wirkliche  nationale  Kultur  zur  Voraussetzung  hat  und 
wieder  in  mannigfachsten  Beziehungen  auf  diese  zurücktritt,  muss 
die  Erhaltung  und  Pflege  der  Wehrhaftigkeit  auch  ohne  auf 
kriegerische  Betätigung  gerichtete  Tendenzen  —  geradezu  als  ein 
GetK)t  nationaler  Selb^edialtun^r  erscheinen  lassen.  Die  Pflege  der 
köiperlichen  und  moralischen  iixziefaung,  welche  das  äussere  Rüst- 


.  y  1.  ^  .  y  Google 


—    i62  — 


zeug  im  Kampfe  erst  zur  brauchbaren  und  vernichtenden  Waffe  zu 
gestalten  vermag,  behielte  darum  filr  die  Erhaltung  der  physischen 

und  sittlichen  Tüchtigkeit  der  Nation  gleich  hervorragende  Hcdcirtung, 
auch  wenn  der  phantastische  Traum  ewigen  und  aüj^emeinen  hriedeiis 
zur  Wirklichkeit  geworden  wäre.  Noch  sind  wir  aber  nicht  soweit; 
noch  hat  das  Getöne  der  Friedensschalmeien  nicht  die  Wirkung 
gehabt  den  Schritt  der  kriegerischen  Rüstungen  anzuhalten  oder 
zu  hemmen;  im  Gegenteil,  wir  sehen  überall  das  rastlose  Streben, 
nicht  nur  durch  Vermehrung  und  Vervollkommnung  der  äusseren 
Kampfmittel  die  Wehrkraft  zu  starken,  sondern  auch  militärische 
Schulung  und  Ausbildung  auf  möglichst  hohe  Stufe  zu  heben.  Und 
nicht  nur  auf  die  Armee  selbst  beschränken  sich  die  dahin  zielenden 
Bemühungen  und  Bestrebungen.  Vielfach  treffen  wir  auf  Einrichtungen 
und  Einführungen,  welche  schon  die  heran wa'-hscnde  Jugend  durch 
spezifisch  militärische  Unterweisung  und  Erziehung  für  den  späteren 
Watfendienst  vorbereiten  sollen.  Es  mag  auf  den  ersten  Blick 
befremdend  sein,  dass  gerade  in  Deutschland  —  dessen  Heeres- 
einrichtungen mit  Recht  als  vorbildlich  gelten  und  wo  den  Interessra 
der  Armee  durchwegs  weitgehendste  Fürsorge  und  Förderung 
gewidmet  wird  —  das  Gebiet  der  staadich  geregelten  militärischen 
Jugenderziehung  vernachlässigt  erscheint,  während  wir  es  vielfach 
anderwärts  durch  gesetzliche  Organisation  oder  doch  mehr  oder 
weniger  staatliche  Unterstützung  und  Aufmerksamkeit  gepflegt  sehen. 
Es  fehlt  ja  auch  bei  uns  nicht  an  Stimmen  —  und  besonders  in 
den  ]ri7tcn  Jahren  sind  solche  wiederholt  und  dringlich  laut 
geworden  —  welche  unter  dem  Hinweis  auf  das  Vorbild  anderer 
Staaten  die  Einführung  ahnlicher  Einrichtungen  in  Deutschland  als 
in  hohem  Giade  wünschenswert,  wenn  nicht  sogar  geboten  bezeichnen. 
Aber  die  Anläufe  und  Versuche  in  dieser  Richtung  sind  bis  jetzt 
vereinzelt  geblieben  und  fast  lediglich  privater  Initiative  entspningen. 

Ehe  auf  die  Erörterung  der  Frage  näher  eingeci^rincrpri  werden 
will,  ob  die  Einbeziehung  einer  spezifisch  militärischen  Vorschulung 
in  Unterricht  und  Erziehung  unserer  Jugend  wirklich  geboten  oder 
auch  nur  erstrebenswert  erscheint,  soll  in  Nachstehendem  eine  all* 
gemein  orientierende  Skizze  der  in  anderen  Staaten  auf  dem  Gebiete 
der  militärischen  Jugenderziehung  bestehenden  Einrichtungen  und 
Bestrebungen  versucht  wertien. 

Zunächst  sei  Japan  genannt,  schon  deshalb,  weil  es  sein  der 
kriegerischen  Erziehung  dienendes  System  auf  die  richtigsten  und 
verlässigsten  Grundlagen  stellt,  nämlich  auf  die  von  frühester  Jugend 
an  in  Familie  und  Schule,  wie  cfurch  den  Kultus  geübte  Pflege 
patriotischen  Sinnes,  auf  das  Gefühl  für  staatsbürgerliche  Pflichten, 
für  Selbstverleugnung  und  Aufopferungsfähigkeit,  auf  die  Begeisterung 
für  kriegerische  Tugenden,  auf  das  v  eistandnis  für  die  Bedeutung 
der  Armee  und  für  das  Ehrenvolle  des  Waffendienstes.  Auf  dieser 
Basis  bereiten  Gymnastik  und  müitariscfae  Exerzitien  von  den 


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niederen  Schulen  ab  bis  .rum  Austritt  aus  den  höheren,  in  den 
oberen  Kursen  ausserdem  Handhabung  des  Gewehres,  Felddienst 
und  Aufnahmeübungen ,  ferner  elementarer  mflitar- theoretischer 
Unterricht  für  den  Dienst  in  der  Armee  vor.  In  den  Unterrichts* 
pausen  regelmässig  abgehaltene  Tum-  und  Kampfspiele  auf  den 
jeder  Schule  zur  Verfügunj^  stehenden  «grossen  freien  Plätzen,  gemein- 
same Auszüge  ins  Freie,  sowie  Marschübungen  wecken  Gemein- 
samkeitsgefühl, Ehrgeiz  und  gesunden  Wetteifer,  stählen  die 
Willenskraft  und  erziehen  zu  Ausdauer  und  Überwindung  von 
Unbequemlichkeiten  und  Anstrengungen.  Ermöglicht  wird  die  in 
solchem  Umfange  geübte  körperliche  und  militärisch  vorbereitende 
Übunif  durch  eine  auf  unsere  Verhältnisse  nicht  übertragbare 
Beschrankung  der  für  die  eigentlichen  Schulzwecke  eingeräumten  Zeit 

Die  sträTste  und  um&ssendste  äussere  Organisation  der  nrili- 
tärischcn  Jugenderziehung  weist  Rumänien  auf.  Zum  Zwecke  ihrer 
Durchführung  ist  das  Königreich  in  fünf,  der  militärischen  Territorial- 
einteilung entsprechende  Bezirke  geteilt,  deren  jedem  ein  höherer 
Offizier  als  Inspekteur  für  Ueberwachung  des  militärischen  Unterrichts 
an  den  Schulen  vorsteht  Dieser  ist  obhgatorisch  für  alle  Schulen 
und  sein  Resultat  ebenso  ausübend  für  das  Vorröcken  in  die 
nächsthöheren  KlasseOp  wie  die  Leistungen  in  den  übrigen  Lehr* 
fächern.  Ein  eigenes,  ausschliesshch  zur  theoretischen  und  pmktischen 
militärischen  Ausbildung  bestimmtes  Lehrpersonal  —  Offiziere  zur 
Disposition  und  aktive  Unteroffiziere  —  erteilt  den  iniliiärischen 
Unterricht,  der  abgesehen  von  theoretischer  Unterweisung  Grymnastik, 
Exerzieren  und  Sauessübungen  umfasst. 

Breiten  Rnnm  gewähren  der  militärischen  Vorschulung  die 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  an  ihren  höheren  Schulen. 
Wenn  auch  nach  unseren  Anschauungen  nicht  durchwegs  den  An- 
forderungen des  praktischen  Bedürfnisses  entsprechend  —  6b,  die 
Gymnastik  anscheinend  vernachlässigt  ist  und  einzelne  theoretisdie 
Lehrgegenstände  zu  hoch  gegriffen  erscheinen  —  sind  die  getroffenen 
Einrichtungen  doch  in  Anbetracht  der  aligemeinen  dortigen  Heeres- 
organisation zweifellos  in  hohem  Grade  wertvoll.  Zur  Erteilung 
des  militärischen  Unterrichts,  welcher  von  den  höheren  staatlichen 
Lehranstalten  obligatorisch  ist,  werden  Offiziere  abkommandiert; 
den  privaten  Bildungsinstituten  können  solche  unter  gewissen  Voraus- 
setzungen gleichfalls  zujTeteilt  werden.  Je  nach  dem  speziellen 
Zwecke,  dem  die  einzelnen  Lehranstalten  dienen,  sind  sie  be.:üglich 
der  miiiiarischen  Vorschulung  in  drei  Klassen  eingeteilt,  für  welche 
veischiedene  Lehrprogramme  bestehen.  Im  allgemeinen  umfassen 
diese  Lehrpläne  so  ziemlich  alle  Gebiete  der  theoretischen,  wie 
praktischen  militärischen  Ausbildung;  auch  Hygiene  und  erste  Hilfe 
bei  Verwundungen  sind  in  sie  einbezogen.  Die  besonders  befähigten 
Schüler,  welche  im  Armeejournal  der  Vereinigten  Staaten  eingtragen 
werden,  haben  Bevorzugung  bei  der  Beförderung  zu  gewärtigen. 


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—    i64  — 


Unter  unsern  nächsten  Nachbarn  ist  die  Schweiz  durch  ver- 
schiedene Einfiahningea  bestrebt,  die  Wehrkraft  ihres  Milizheeres 
durch  Vorbereitung  der  heranwachsenden  Jugend  fiir  den  Waffen- 
idienst  zu  stützen  und  zu  heben.   Schon  in  der  Militäroi^^anisation 

von  1874  hatte  sie  den  Kantonen  die  Sorge  übertragen,  dass  die 
riKinahche  Jugend  vom  10.  Lebensjahre  ab  durch  angemessenen 
Turnunterricht  für  den  MiUtärdienst  vorbereitet  werden  für  die 
ältesten  Jahrgänge  sollten  ausserdem  durch  den  Bund  auch  Schiess> 
Übungen  angeordnet  werden  können.  Da  diese  Auflegung  jedoch 
vielfach  nicht  genügende  Durchführung'  gefunden  und  daher  nicht 
den  erhofften  Erfolg  hatte,  so  wurde  mit  Wirk  nnikcit  vom 
I.  Januar  1907  ein  neues  Programm  herausgegeben,  weiches  inten- 
sivere Förderung  des  Zweckes  mit  spezieller  Rücksichtnahme  auf 
Übungen  im  Marschieren,  Überwinden  von  Hindernissen  sowie  audi 
das  Schiessen  fordert.  Der  schon  im  schulpflichtigen  Alter  be- 
ginnende Turnunterricht  wird  im  Sinne  dieser  Forderung  unter 
sukzessiver  Steigerung  später  erweitert,  indem  zur  Gymnastik 
Soldatenschule  und  Zugschulc.  Gewchrkenntnis,  Schiesslehre,  Ent- 
fernungsschätzen, sowie  grössere  Obungsmärsche  zu  treten  haben. 
Der  Bund  unterstützt  ausserdem  Vereine  und  Bestrebungen,  welche 
sich  die  körperliche  Ausbildung  und  die  Vorbildurp;  fiir  den  Wehr- 
dienst nach  dem  Austritte  aus  der  Schule  bis  zum  i  iF.tiiitc  in  das 


den  Turnvereinen,  welche  nicht  alte  die  gleiche  Tendenz  verfolgen 

und  in  ihrem  Betriebe  teils  mehr  allgemein  gymnastische  und  sport* 
Hebe  Ausbildung,  teils  mehr  militärischer  Vorschulung  ins  Auge 
fassen,  vornehmlich  die  Kadettenabteilungen  zu  zählen.  Diese, 
welche  hauptsächlich  in  der  Oslschweiz  weite  Verbreitung  gefunden 
haben  und  sich  uns  freiwilligen  Schülern  der  Mittelschulen  vom 
13.  Lebensjahre  ab  rekrutieren,  haben  es  ^ch  zur  Aufgabe  gemacht, 
die  jungen  Leute  auf  der  Grundlage  eines,  dem  militärischen  nach* 
gebildeten  Reglements  für  den  späteren  Waffendienst  vorzubereiten. 
Unter  fxitung  von  Offizieren  der  Milizarmee  finden  an  je  cmem 
Nachmittage  des  Sommerhalbjahres  Übungen  im  Exerzieren, 
Marschieren,  Schiessen  und  Entfernungsschätzen  statt,  deren  An- 
fordern ngen  in  den  einzelnen  Kursen  der  körperlichen  Leistungs- 
fähigkeit der  Teilnehmer  entsprechend  bemessen  werden.  Aus- 
märsche in  das  Gelände  und  Manöver  in  zwei  Parteien  gegeneinander 
schliessen  die  Ausbildungszeit.  Die  Anforderungen  in  Bezug  auf 
Marschleistungen,  Überwinden  von  Anstrengungen  und  Entbehrungen 
sind  in  anbetracht  des  jugendlichen  Alters  ganz  beträchtlich.  Nach> 
dem  die  Mehrzahl  der  Schüler  aber  nach  drei  Jahren  wieder  die 
Kadettenabtcilungen  verlässt  und  die  Vorbereitung  für  den  Waffen- 
dienst also  bis  zum  Eintritt  in  die  Rekrutenschule  eine  nieliriahriiie 
Unterbrechung  erleidet,  in  welcher  vieles  wieder  vergessen  und 
verlernt  wird,  so  ist  der  positive  Wert  dieser  Anst^ten  lUr  die 


machen.    Zu  diesen  suid  ausser 


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-   i65  - 


militärtechnische  Vorschulung  nicht  allzuhoch  anzuschhc^en.  Desto 
mehr  wird  ihre  moralische  und  er/icficrische  Bedeutung,  die 
Wertung  und  Hebung  des  Interesses  lur  das  Wehrwesen,  des 
Unterordniif^issinns  und  Korp^dstes,  Kräftigung  der  Willensstärke 
und  Ausdauer,  Anspomung  zum  Ehrgeize  durch  infolge  guter 
Lcistunp^cn   er\vorbene  Verleihung  höherer  Grade  hervorgehoben. 

In  Kngland  ist  nach  dem  südafrikanischen  Kriege  der  Bezwinger 
der  Buren,  Feldmarschall  Roberts,  im  Hinblick  auf  die  Mängel  des 
Heerwesens  des  Inselreiches  energisch  für  Einiuhning  einer  all- 
gemeinen militärischen  Jugendvorl^reitung  eingetreten,  welche  In 
beschranktem  Masse  schon  in  den  Volksschulen  beginne  und  später 
durch  rcgelmässi'^e  Übungen  im  Turnen,  Schwimmen,  Exenriercn 
und  Schiessen  tongesetzt  werden  sollte.  Neben  solch  praktischer 
V^orschuiung  forderte  Roberts  auch  Unterricht  über  die  militärischen 
Pflichten,  sowie  die  wichtigsten  militärischen  Einrichtungen,  ausserdem 
Pflege  des  patriotischen  Sinnes  durch  Belehrung  und  Erziehung.  Für 
die  oberen  Klassen  der  höheren  Lehranstalten  verlangte  er  ähnliche 
Ausbildung,  wie  an  den  Kadettenanstaltcn ;  die  Zöglinge  dieser 
höheren  Lehranstalten  sollten  in  einer  Schlussprüfung  den  Nachweis 
ihrer  militirischen  Befähigung  ilihren  und  durch  diese  Anwartschaft 
auf  spätere  Beförderung  bei  der  Miliz  oder  den  Freiwilligen  erhalten. 
Roberts  Anregungen,  in  welchen  er  bis  zur  Einführung  der  all- 
gemeinen Wehrpflicht  das  einzige  Mittel  erblickt,  Englands  Wehr- 
kraft auf  gesunde  Basis  zu  stellen,  fielen  auf  wenig  empfänglichen 
Boden.  Nur  das  Turnen  soll  künftig  etwas  lebhafter  betrieben, 
die  Einführung  exerziermässiger  Obungen  aber  —  als  nicht  zweck« 
dienlich  —  ausgeschaltet  bleibea  Die  für  die  Volksschule  in 
Bashey  und  dann  auch  für  andere  versuchsweise  erteilte  Erlaubnis 
zur  Vornahme  von  Schiessübungen  für  Knaben  ulx  r  1 2  Jahre  erwies 
sich  —  nachdem  einige  kleinere  Unglücksfalle  vorgekommen  —  als 
unpopulär  und  wurde  wieder  zurückgenommen. 

Solche  sollen  dagegen,  sofern  die  Kachrichten  hierüber  zutrefTen, 
in  Norwegen  in  den  beiden  oberen  Klassen  der  Volksschulen,  in 
den  zwei  obersten  Klassen  der  Mittelschulen  und  in  den  höheren 
Lehranstalten  eingeführt  sein  und  in  den  Volksschulen  auf  dem 
Lande,  wo  diese  EinRihrung  sich  am  schwierigsten  gestaltet,  durch 
SchOtzenveretne  in  besonderen  Knabenidassen  gepflegt  werden. 
Die  Übungen  zerfallen  in  vorbereitende  und  Scharfschiessübungen. 

Auch  in  Schweden  finden  wir  rege  Beteiligung  der  Jur^end, 
vom  14.  Lebensjahre  ab,  an  den  Schiessiihungen  der  freiwilligen 
Schützenverbände,  welche  in  jeder  Landsclialt  oder  Provinz  unter 
Leitung  von  Offizieren  feldmässiges  Scfaiessen  mit  angeblich  bestem 
Erfolge  betreiben. 

Die  in  Frankreich  bald  nach  dem  Kriege  1870/71  eingeführten 
Schulkadettenkorps  (Schülerbataillone)  wurden  auf  Betreiben  von 
Pädagogen    und    Militärs   als    nach  Einrichtung    und  Leistungen 


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zweck-  und  nutzlose  Soldatcnspielerei  wieder  aufgegcL)en  und 
erst  in  neuerer  Zeit  ist  man  der  Idee  des  militärischen  VoruiiLerrichts 
der  Jugend  wieder  nahe  getreten.  Speziell  der  derzeitige  Kriegs» 
minister  Picquart  steht  dieser  Idee  sehr  sympathisch  gegenüber. 
Nachdem  Artikel  94  des  Gesetzes  vom  21.  März  1905  spätere 
Bestimmungen  für  eine  auf  den  Waffendienst  vorbereitende  Unter- 
weisung in  Schulen  usw.  in  Aussicht  gestellt  hatte,  ist  —  wohl  mit 
Rücicsicht  auf  die  inzwischen  allgemein  eingeführte  zweijährige 
Dienstzeit  —  die  Angelegenheit  in  die  Anfangstation  praktischer 
Verwirklichung  getreten.  Durch  eine  aus  Delegierten  der  Ministerien 
des  Kriegs  und  des  öflTentlichen  Unterrichts,  sowie  der  Union  des 
Societes  de  g\'mnnstique  gebildete  Kommission  wurde  zunächst  ein 
Reglement  für  den  einheitlichen  Betrieb  der  Gymnastik  in  Armee, 
Schulen  und  Turnvereinen  bearbeitet  und  zur  £inföhrung  ausgewichen. 
Eine  weitere  Förderung  der  speziell  militärischen  Ausbildung  er« 
wartet  man  sich  von  den  Sorit^tcs  de  tir  scolaire  (Gescllsrhaften  für 
Schulschiessen).  Solche  sind  für  alle  Garnisonsorte,  an  denen  sich 
Lyceen  oder  Kollegs  *  befinden  vorgesehen.  Zur  Teilnahme  soUen 
alle  jungen  Leute  vom  15.  Lebensjadire  ab  berechtigt  sein,  welche 
hierzu  die  elterliche  Erlaubnis  erhalten.  Da  die  Leistungen  im 
Schiessen  zugleich  mit  denen  in  der  Gymnastik  den  Zöglingen 
dieser  Anstalten  besondere  Begünstigungen  bei  Erfüllung  ihrer 
militärdienstlichen  Verpflichtungen  gewähren,  verspricht  man  sich 
stetig  zunehmende  Beteiligung.  Die  Einführung  von  besonderen 
Unterrichtskursen  an  der  Normal-Tum-  und  Fechtschule  von  Joinville 
für  in  Erfüllung  ihrer  gesetzlichen  Dienstpflicht  stehende  Lehrer 
bezweckt  ferner  die  Heranziehung  eines  für  Leitung  der  körpcrischrn 
Ausbildung  an  den  Schulen  -ccigiieten  Personals.  (Auch  in  l'reus-.en 
bestehen  müitarisch  akademische  Winterkurse  zur  Ausbildung  von 
Turnlehreni»  und  soll  'das  Kultusmimsterium  einer  Mitteilung  der 
„Nationalzeitung"  zufolge  beabsichtigen,  diese  durch'  etwa  4  wöchige 
Sommerkurse  zu  ergänzen,  welche  zur  Ausbildung  für  die  Leitung 
von  Spielen  und  volkstümlichen  Übungen  dienen  sollen.)  Vor  längerer 
Zeit  ging  durch  die  Presse  die  Nachricht,  dass  in  Frankreich  ein  Gesetz- 
entwurf eingebracht  worden  sei,  welcher  die  körperliche  Vorbereitung 
auf  den  Bwitärdienst  för  die  gesamte  nicht  mehr  schulpflichtige 
Jugend  obligatorisch  machen  soll  und  den  mit  guten  Zeugnissen  in 
dieser  Richtung  Au^estatteten  nennenswerte  Begünstigungen  für 
die  Militärdienstzeit  zugestehen  will. 

In  Österreich  begegnen  wir  ersten  Anfingen  einer  militärischen 
Jugcnderriehung  in  seit  einigen  Jahren  errichteten  Knabenhorten,  deren 
Programm  sich  in  mäsagen  Grenzen  hält,  innerhalb  welcher  wirklich 
Gutes  erzielt  werden  kann.  Durch  nach  den  vSchulstunden  und  an 
den  Feiertagen  stattfindende  Jugcndspiele,  Turn-  und  Fechtübuni^cn, 
Exerzitien,  Marschübungen  und  anregende  AusHüge  ins  Freie  soll 
die  geistige  und  körperliche  Entwicklung  der  Jugend  gefördert  und 


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—   i67  — 


diese  zugleich  den  moralisch  und  physisch  schädigenden  Einflüssen 
des  grossstädtischen  Lebens  möglichst  ferne  gehalten  werden. 

In  Ungarn  ist  durch  die  Initiative  des  denettigen  Honvedp 
ministers  die  militärische  Jugenderziehung  auf  eine  breite  Basis 

gestellt  worden.    Zahlreichen  Mittelschuwn,  Ji]^endvereinen  und 

Sportvereinigungen  werden  Gewehre,  Mvinition  und  Ausrüstungs- 
stucke zur  Verfügung-  gestellt  und  ist  den  Kommandanten  der 
Honvedtruppen  die  Unterstützung  dieser  Schulen  und  Vereine  bei 
Einführung  des  militärischen  und  des  Scfaiessunterrichts  zur  Pflicht 
gemacht. 

Ihr  V<  irhild  haben  diese  Knabenhorte  wohl  in  der  seit  längerrr 
Zeit  in  Berün  bestehenden  Jugend  wehr  gehabt.  Als  Verein  für 
müitansches  Turnen,  Exerzieren  und  Schwimmen  der  Jugend  er- 
richtet, beabsichtigt  diese,  junge  Leute  zwisdien  14  und  20  Jahren 
in  den  freien  Abendstunden  und  an  Sonntagen  zweckmässig  zu 
beschäftigen,  den  schlechten  Wohnungsverhältnissen  und  den  Gefahren 
der  Grossstadt  zu  entziehen  und  so  auf  Körper  und  Geist  günstig 
zu  wirken.  Unter  Leitung  und  Beaufsichtigung  durch  inaktive 
Offiziere  werden  Frei-  und  Gewehrübungen,  Geräteturnen,  Fechten, 
Marsch-  und  Exerzierbewegungen  gepflegt;  auch  militär-theoretischer 
und  Krankeatrager-Unterricht  findet  statt.  Für  Zöglinge,  welche 
zur  Marine  zu  gehen  beabsichtii^^en,  ist  durch  Ucbungen  im  Rudenii 
Mastklettcrnunddgl.speziclleV^orbcreitung  vorgesehen.  Abgesehen  von 
den  Bestrebungen  dieser  Jugend  wehr  sind  in  Deutschland  —  wie 
schon  bemerkt  —  auch  sonst  mancherlei  Venuche  und  Anlaufe  in 
Richtung  einer  militärischen  Jugenderziehung  wahrzunehmen,  und 
sicher  arl)eitet  die  seit  einer  Reihe  von  Jahren  in  steter  Zunahme 
begriffene  Pflege  von  Turn-  und  Jugendspielen,  von  Wanderungen 
und  Turnmärschen  usw.  der  späteren  militärischen  Ausbildung  ebenso 
in  die  Hände,  wie  die  da  und  dort  in  kleineren  Städten  und  Land- 
gemeinden bestehende  Einrichtung  von  Jugendkompagnien  f&r 
Sanitäts*  und  Feuerwehezwecke.  Jedeofalls  vermögen  all  diese  Ein- 
fuhrungen und  Finrichtungen,  wenn  zugleich  in  (ien  Dienst  der  Fr- 
ziehung  allgemein  bürgerlicher  Jugrndcn  gestellt,  auch  für  den 
Waffendienst  wertvolle  moralische  Grundlagen  zu  schaffen.  Aber 
SO  günstig  diese  Bestrebungen  im  einzelnen  sich  äussern  mögen, 
sie  werden  doch  nur  in  beschränktem  Umfange  wirksam  und  ent* 
behren  der  einheitlichen,  nach  gleichem  Ziele  gerichteten  Regelung. 

Besteht  nun  wohl  auch  in  d  e  m  Punkte  volle  Ubereinstimmung, 
dass  mit  Einfuhrung  der  verkürzten  Dienstzeit  bei  gleichzeitiger 
fortwährender  Steigerung  die  Anforderungen  der  militärischen  Aus- 
bildung in  ganz  eilieblichem  Masse  gewachsen  sind,  so  gehen  doch 
die  Ansichten  über  Notwendigkeit  und  Umfang  einer,  die  speziellen 
Anforderungen  des  späteren  Wehrdienstes  berücksichtigenden,  also 
ausgesprochen  militärischen"  Jugenderziehung  weit  aus- 
einander.  Neben  mässigen,  auf  der  Grundlage  unseres  gegenwärtigen 


—   i68  — 


Bildungs-  und  Krziehun^ssystems  recht  wohl  7!i  \'(»rwirkHrhrndrn 
Anregungen  gcbjcii  extremste  Fordcruü^rii  mihcr,  welche  tiefgehende 
Reformen  der  derzeitigen  Organisation  unseres  Schulwesens  bedingen 
würden.  So  wird  beispiebweise  u.  a.  gefordert,  dass  als  Lehramts- 
kandidaten nur  völlig  militSrdiensttaugliche  Persönlichkeiten  tugelassen 
werden,  dass  diese  an  den  Lehrerbildungsanstalten  eine  der  mili- 
tärischen konforme  g}'mnastische  Ausbildung  erhalten,  dass  an  diesen 
Anstalten  neben  Bürgerrecht  und  Burgerpflicht  auch  die  haupt- 
sächlichsten militärischen  Einrichtungen  Gegenstand  des  Unterrichts 
werden,  dass  an  den  Fortbildungsschulen  militärische  Unterweisung 
durch  ausgediente  befähigte  Unteroffiziere,  an  den  höheren  Lehr- 
anstalten aber  Vorbereitung  der  PVequentanten  zu  militärischen 
Vorgesetzten  des  aktiven  und  Bcurlaubtenstandes  durch  geeignete 
verabschiedete  Offiziere  Platz  zu  greifen  habe.  Die  Beaufsichtigung 
der  so  gedachten  militärischen  Jugenderziehung  soll  den  Bczirks- 
kommandeuren  und  deren  Organen  übertragen  werden. 

Fester  gesunder  Boden  kann  im  Widerstreit  der  so  weit  aus- 
einandergehenden Anschauungen,  Vorschläge  und  Forderungen  wohl 
nur  gewonnen  werden,  wenn  man  sich  darüber  klar  macht,  was 
eigentlichster  Zweck  der  Schule  —  im  weitesten  Sinne  —  ist  und 
bleiben  muss,  ob  von  Einbeziehung  militärischer  Lehr-  und  Aus- 
bildungsgegenstände  in  den  Lehrplan  der  Schule  wirklidi  ein 
wesentlicher  positiver  Nutzen  für  die  militärische  Dienstzeit  zu  er- 
warten ist,  ob  denn  Schule  und  Erziehung,  sofern  sie  ihr  vor- 
nelimstcs  Ziel  „Heranbildung  gesunder  kräftiger  Menschen  und 
tüchtiger  brauchbarer  Staatsbürger"  überhaupt  erreichen  wollen,  mit 
der  ernsten  Hinarbeit  auf  dieses  Ziel  nicht  schon  gleichzeitig  die 
wesentlichsten  Grundlagen  für  Erhaltung  und  Stärkung  der  Wehr- 
kraft zu  schaffen  vermögen;  und  endlich,  inwieweit  nach  dieser 
Richtung  dermalen  noch  Mängel  und  Lücken  bestehen,  und  in 
welcher  Weise  hier  zunächst  Hebel  zu  einer  ins  Grrosse  gehenden 
Wirkung  anzusetzen  wären. 

Die  Tatsache,  dass  ein  verhältnismässig  hoher  Prozentsatz  der 
ins  militärpflichtige  Alter  tretenden  Jugend  —  namentlich  der  von 
den  Mittelschulen  abgehenden  —  durch  körperliche  Untauglichkeit 
für  den  Wehrdienst  verloren  gelit,  iüL  ebenso  allgemein  bekannt, 
wie  die  bedenkliche  Erscheinung,  dass  auch  ein  nicht  geringer 
Bruchteil  des  jährlichen  Hecresersatzes  infolge  der  Einwirkung  von 
Mängeln  der  Erziehung,  von  Verhältnissen  aller  Art,  von  Umgang 
und  Umgebung,  sowie  Beeinflussung  durch  destruktive  Propaganda 
keinen  moralisch  intakten  und  für  die  Erziehung  in  der  Schule  des 
Waffendienstes  empfani^chen  Boden  darstellt  Es  kommen  also 
nidit  nur  Fragen  der  sozusagen  militärtechntschen  Ausbildung, 
sondern  auch  in  eminentem  Sinne  pädagogische  in  Betracht. 
Gerade  diese  sind  in  höchstem  Masse  aktuell  geworden  angesichts 
der  so  intensiven  Bestrebungen  der  Sozialdemokratie,  die  heran- 


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—    i69.  — 


wachsende  Jugend  durch  Wort  und  Schrift  fiir  ihre  Grrundsätze  und 

Zwecke  zu  gewinnen  Aus  der  Erkenntnis  der  gerade  in  dieser 
Richtung  drohenden  (Tclahr  ist  ja  auch  der  Ruf  nach  Einführung 
sozialpolitischer  Aufklarung  und  Belehrung  durch  geeigneten  Unter- 
richt an  die  unter  den  Fahnen  stehenden  Mannschaften  entstanden. 
Man  wird  sich  vielleicht  erinnern,  da^  der  Versuch  solcher  Einführun^f 
vereinzelt  bereits  angebahnt  war,  durch  kaiserliche  Willenskundgebung 
aber  wieder  unterbunden  wurde.  Diese  Allerhöchste  Willens- 
äusserung  ist  jedenfalls  nur  dankbarst  zu  begrüssen.  Abgesehen 
von  den  Bedenken,  welche  der  Hereinzichung  der  Politik  in  die 
Armee  immer  anhaften  werden,  wäre  ihre  Wirkung  im  beabsichtigten 
Sinne  voraussichtich  recht  fraglich  und  nach  anderer  Richtung  wohl 
mehr  schädlich  als  nützlich  geworden. 

Treten  wir  zunächt  der  Frage  naher,  ob  in  Bezug  auf  körperliche 
Heranbildung  in  der  Schule  —  diese  im  allgenneinen  Sinne  gefasst  — 
gegenwärtig  durchwegs  das  angestrebt  und  geleistet  wird,  was  sie, 
ganz  abgesehen  von  militärischen  Zwecken,  nach  ihrer  allgemeinen 
nationalen,  volkswirtschaftlichen  Aufgabe  leisten  sollte  und  könnte. 

Da  muss  denn  wohl  zugestanden  werden  —  und  gerade  ein- 
sichtige Schulmänner  weisen  immer  nachdrücklicher  auf  diesen 
Mangel  hin  ^  dass  unser  gesamtes  Schulwesen  der  körpertichen 
Entwicklung  und  Ausbildung  noch  immer  nicht  durchwegs  jene 
Aufmerksamkeit  und  Pflege  angedeihen  lässt,  welche  ihr  unbeschadet 
der  Leistungen  auf  dem  Gebiete  des  Wissens  eingeräumt  werden 
könnte.  Zweifellos  ist  hierin  gegen  früher  schon  manches  gebessert, 
und  ebenso  wenig  ist  zu  verkennen,  dass  das  in  den  letzten 
Dezennien  so  sehr  gewachsene  Interesse  für  Sport  aller  Art  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  ausgleichend,  ergänzend  und  nachhelfend 
wirkt.  Aber  abge^^chen  davon,  dass  Auswfirh^r  im  Sportbetrieb 
auch  vielfach  wieder  schädigende  Folgen  zeitigen,  vermag  der  Sport 
nie  vollen  Ersatz  zu  bilden  für  jene  harmonische  Körperdurchbildung, 
wdche  der  spatere  WalTencUenst  bedarf  und  welche  nur  durdi 
konsequente  und  geregelte  körperliche  Erziehung  erzielt  werden 
kann.  Nicht  nur  aber,  dass  die  an  den  Schulen  für  Gymnastik, 
Turn-  und  Jngcndspiele  eingeräumte  Zeit  eine  verhältnismässig  zu 
gering  bemessene  ist  und  die  für  deren  Betrieb  bestehenden  Ein- 
richtungen vielfach  noch  recht  mangelhaft  und  unzureichend  sind, 
es  besteht  auch  noch  su  viel  Willkür  in  der  Beteiligung  am  obligaten 
Turnen.  „Das  Turnen  an  den  Schulen  muss  den  obligaten  Charakter, 
den  das  Gesetz  ihm  rmff^rprn^n  hnt  endlich  auch  wirklich  erhalten, 
im  Betrieb  sowohl  als  in  der  Beteiligung"  spricht  sich  der  bayrische 
Generalstabsarzt  Dr.  von  Vogi  in  einer  Abhandlung  „Das  Schul- 
turnen und  der  Waffendienst*'  aus,  indem  er  auf  seine  in  einem  früheren 
Aufsatze  erhobene  Klage  zurückkommt,  dass  „in  den  Mittelschulen 
(in  Preussen  höhere  Schulen  genannt)  jedes  Wahlfach  strenger 
t>etriel>en  wird,  als  das  obligate  Turnen"  und  „dass  es  dem  jungen 


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Menschen  nicht  schwer  fällt ,  durch  gänzliche  Vernachlässi^riing 
seiner  körperlichen  Ausbilduni;  sich  als  untauglich  der  Wehrptiicht 
zu  entziehen."  Die  in  erwaiuitcr  Abhandlung  gegebenen  Daten 
lassen  erkennen,  welch  verhältnismässig  hoher  Frozentsatz  der 
Schüler  auf  Grund  ärztlicher  Grutachten  vom  obligaten  Turnen  fern- 
bleibt und  zwar  nicht  durchwegs  wegen  körperlicher  Mängel  oder 
Gebrechen  (was  häufige  Beteiligung  der  Dispensierten  am  Sport 
aller  Art  beweist),  sondern  aus  Abneigung  gegen  den  Turnzwang 
und  Widerwillen  gegen  ernste  Anstrengung.  «J^iese  Unlust  steigcit 
sich"  aaglt  Vogl  ebenda,  „mit  dem  Vorrucken  in  die  höheren 
Klassen  bis  zur  Blasiertheit;  sie  drücken  sich  vom  Turnen  zum 
Vergnügen  und  zur  Geselligkeit;  dies  finden  sie  am  Tennisplatz, 
der  sich  sofort  leeren  wird,  wenn  man  ihn  dieser  Xaziehung 
beraubt.  Die  Eltern  gewähren  gerne  diese  Lrholuag  von  der 
„Überbürdung";  sie  leiten  die Tumbefrdung  der  Söhne  ein  und  die 
Schule  bereitet  dieser  keine  zu  grosse  Schwierigkeit;  ...schliesslich 
findet  der  Hausarzt  sich  nicht  berufen,  der  ungeteilten  Stimmung 
mit  besonderer  Strenge  entgegenzutreten  .  .  .  um  so  weniger,  als 
Nachteile  einer  Befreiung  vom  Turnen  bei  dessen  gegenwärtigem 
Betriebe  nicht  gar  zu  hodi  anzusdilagen  nnd."  Die  Schidd  an 
dieser  in  dem  ganzlichen  Verkennen  seines  körperlich  und  sittlich 
erziehenden  Wertes  wurzelnden  Abneigung  gegen  das  Turnen  fallt 
somit  nicht  auf  d\c  Schule  allein,  wie  so  gerne  behauptet  wird, 
sondern  j^anz  vorzugsweise  auf  Schüler  und  Eltern.  Mit  Grund  hat 
Generalstabsarzt  Dr.  von  V  ogl  hier  den  Finger  auf  einen  wunden 
Punkt  gerade  in  der  Erziehung  im  Hause  geltet,  und  auf  die  Fest* 
Setzung  hingewiesen,  dass  in  einer  ganzen  Reme  von  Fällen  die  in 
der  Schule  '-om  Turnrn  Dispensierten  sich  später  sehr  wohl  für 
den  Waffendienst  gcei^^net  erwiesen. 

Und  voll  beistimmen  wird  man  ihm  darin,  dass  es  Aufgabe 
der  Zukunft  ist,  den  physischen  Wert  der  studierenden  Jugend  in 
toto  zu  heben  durch  methodische  körperliche  Jugenderziehung 
unter  sachkundiger  Leitung  in  unerbittlichem  Festhalten  an  dem 
Satze:  „Jeden  Tag  eine  Stunde  körperlicher  Übung,  so  dass 
2  VVochenstunden  (bei  richtiger  und  unbeschränkter  Verwendung 
genügend),  dem  obligaten  Turnen  und  4  Wochenstunden  den 
obligaten  Jugendspielen,  den  Märschen,  dem  Schwimmen  usw. 
gehören." 

Noch  allzusehr  herrscht  die  einseitige  Auffassung  vor,  -welche 
in  der  Gymnastik  nur  ein  Mittel  der  SchuIhvLTicne  erblickt,  be- 
stimmt die  gesundheitschädlichen  Erwirkungen  des  Schulbesuchs 
einigermassen  zu  paralysieren.  Die  hohen  erzieherischen  Ideale, 
welche  Männer  wie  Stein,  Fichte,  Gneisenau,  Jahn  usw.  von  der 
Pflege  der  Ixibcsübungen  erreicht  sehen  wollten,  sind  allzulange  in 
Vergessenheit  versunken  «gewesen  und  unseren  Schulen  haftet  noch 
ZU  viel  von  dem  ihrem  kirchlichen  Ursprünge  gemassen  Charakter 


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ausschliesslicher  Unterrichtsanstalten  an.  Diese  Exklusivität  konnte 
zu  Recht  bestehen,  so  lange  Leben  und  Erziehung  ausserhalb  der 
Schule  für  körperliche  Entwicklung  genügend  sorgten,  ist  aber  jetzt 
ohne  bedenkliche  Benachteiligung  dieser  nicht  mehr  aufrecht  zu 
erhalten.  Für  die  Überwiegend  grosse  Menge  unserer  männlidien 
Jugend,  welche  nicht  auf  dem  Wege  durch  die  Mittelschulen  in  das 
wehrpflichtige  Alter  eintritt,  gilt  es,  in  der  körperlichen  Ausbildung 
aber  auch  die  Lücke  zu  füllen,  welche  zwischen  Entlassung  aus  der 
Volksschule  und  Dienstantritt  besteht;  so  trefTlich  unsere  Fort- 
bildungsschulen im  al^meinen  sind,  tritt  die  körperliche  Weiter- 
bildung doch  vielfoch  an  ihnen  zurück^  was  um  so  mehr  zu  be- 
dauern ist,  als  ^cr.ide  in  den  Jahren  ihres  Besuches  die  physische 
Entwicklung  am  lebhaftesten  vor  sich  geht  und  daher  die  körper- 
liche Erziehung  am  meisten  wünschenswert  und  förderlich  wäre. 
Was  in  der  Schule  an  körperlicher  Ausbildung  errungen  wurde, 
geht  also  zum  grössten  Tdle  bis  zum  Diensteintritt  wieder  ver- 
loren, soweit  nicht  Vereinsturnen  hier  erhaltend  und  fördernd  ein- 
tritt. Nicht  nur  im  militärischen  Interesse,  sondern  im  allgemeinen 
nationalen  und  volkswirtschaftlichen  gelegen  wäre  es,  wenn  die 
Fortbildungsschulen  etc.  auch  nach  Richtung  der  systematischen 
körperlichen  Ausbildung  die  ununterbrochene  Kontinuität  in  der 
gesamten  Eruehung  des  jungen  Mannes  vermitteln  würden. 

Dass  die-  neueste  Zeit  wieHer  auf  die  Ideen  Fichtes  zurück- 
zugreifen beginnt,  welcher  die  Leibesübungen  fordert  im  Hinblick 
auf  die  Pflichten,  welche  der  Einzelne  seinem  Volke  schuldet,  und 
es  zum  sittlichen  Grebot  macht,  den  Körper  nicht  unverständlich  zu 
schadigen  und  zu  schwächen,  sondern  um  höherer  Ziele  willen  zu 
stählen  und  tüchtig  zu  machen,  ist  ein  erfreuliches  Zeichen. 

Hervorragendes  Verdienst  kommt  in  dieser  Richtung  wohl  in 
erster  Linie  der  langjährigen  unermudhchen  Tätigkeit  des  Zentral- 
ausschusses zur  Förderung  der  Volks-  und  Jugendspiele  in  Deutsch- 
land zu,  in  dessen  Bestre&ngen  die  Anschauungen  und  Erfahrungen 
bewährter  Pädagogen,  Schulmänner,  Offiziere,  Arzte  etc.  zum 
Ausdruck  gelangen. 

P'ür  die  in  den  von  (genanntem  Zentralausschuss  im  Verein  n\it 
der  Organisation  der  iurnerschaft  und  der  Turnlehrerschaft  im 
Februar  1908  in  Beriin  gefassten  Beschlüssen  u.  a.  aufgestellte 
Forderung  der  Fortsetzung  der  Körperpflege  der  gesamten  Jugend 
über  die  Volksschule  hinaus,  also  in  mittleren,  höheren,  den  Fach- 
und  Fortbildungsschulen,  hat  sich  schon  triihcr  Schulrat  Kerschcn- 
steiner  in  seinen  Grundfragen  der  Schulorganisation  ausgesprochen. 
Er  erkennt  in  regelmässigem,  systematischem  Turnen  etc.  nicht  nur 
ein  Stärkungsmittel  för  den  Körper,  sondern  auch  ein  ausgezeich- 
netes Zuchtmittel  für  den  Willen  und  weist  darauf  hin,  wie  gerade 
zwischen  dem  14.  und  18.  Lebensjahre  Herz  und  Lunge  eine 
Wacbstumsperiode  haben,  wie  weder  vor  noch  nachher.   An  den 


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seiner  Leitung  unterstehenden  obligatorischen  allrff^meinpn  Fort- 
bildungsschulen, wie  auch  den  besonderer  Turnhygicnc  bedürfenden 
fachlichen  Fortbildungsschulen  und  bachschulen  hat  er  auch  diesen 
Gesichtspunkten  gemäss  obligatorisches,  an  den  übrigen  Fach*  und 
fachlichen  Fortbildungsschulen  einstweilen  fakultatives  Turnen  und 
Turn  spiele  eingeführt. 

Eine  über  das  Ziel  kontinuierlicher,  systematischer,  geregelter 
Körperpflege  hinausgehende  Aufgabe  braucht  der  körperlichen  Er- 
ziehung vor  dem  Eintritt  in  den  Militärdienst  im  biteresse  der 
Wehrkraft  gar  nicht  gestellt  zu  werden  und  soll  ihr,  allen  g<^en- 
teiligen  Anschauungen  zum  Trotz,  auch  nicht  gesetzt  werden.  Die 
Hereinnahme  speziell  militärischer  Vorübungen  in  die  Schule,  so- 
zusagen eine  Verteilung  des  militärischen  Übungsstoffes  zwischen 
Knaben-  und  Jüngiingsjahren  einerseits  und  der  Dienstzeit  in  der 
Armee  anderseits  ist  überflüssig,  sofern  die  letztere  nur  einen 
durchwegs  allgemein  körperlich  tauglichen  und  vorgebildeten  Ersatz 
erhält.  'Übrigens  enthalten  ja  alle  Ordnungs-  und  Freiübungen  an 
der  Schule  an  sich  schon  mannigfache  Elemente  des  militärischen 
Unterrichts,}  Mit  solchem  Ersatz  wird  die  Armee  trotz  der  ver- 
kürzten Dienstzeit  in  intensiver  Arbeit,  wie  bisher,  alle  ihr  zu- 
fallenden Aufgaben  der  technischen  Schulung  zu  bewältigen  wissea 
Ernstzunehmende,  die  spätere  militärische  Ausbildung  wirklich  ent- 
lastende Leistungen  würden  an  Zeit  und  Kraft  unserer  Jugend 
Ansprüche  machen,  wie  sie  nur  nebenbei,  gleichsam  zu  einer  Art 
körperlicher  Erholung,  nicht  befriedigt  werden  können,  sie  würden 
aber  auch  straffste  militärische  Disziplin  zur  Voraussetzung  haben 
müssen,  wie  sie  an  der  Schule  oder  in  freiwilligen  Vereinigungen 
aus  naheliegende!]  Griinclrn  nicht  durchführbar  ist.  Es  ist  in  dieser 
Beziehung  schon  früher  auf  den  problematischen  positiven  Wert 
der  Schweizer  Kadettenabteilungen  hingewiesen  worden.  Was  aber 
das  mit  der  körperlichen  AusbUdung  unzertrennlich  zu  verbindende 
erzieherische  Moment  anbelangt,  so  ist  es  nebensächlich,  ob  der 
Grrund  für  die  dem  Soldaten  nötigen  moralischen  Eigenschaften 
gerade  durch  militärische  Übungen  oder  auf  anderem  Wege  in  die 
Jugend  gelegt  und  in  ihr  gefestigt  wird ,  wenn  diese  Eigenschaften 
nur  überhaupt  geweckt  und  grossgezogen  werden.  Und  nach  dieser 
Richtung  kann  das  Turnen,  können  Jugendspiele  usw.,  Ausserordent- 
liches  leisten.  Die  ethische  Bedeutung  ernst  und  systematisch 
betriebener  körperlicher  Übungen  ist  nicht  hoch  genug  zu  ver- 
anschlagen. Sie  fördern  die  Willenskraft  durch  Überwindung  der 
Zaghaftigkeit  und  Becjuemlichkeit  und  führen  durch  Steigerung  der 
Forderungen  zur  vollen  Selbstbeherrschung,  zu  Selbstüberwindung, 
Mut  und  Ausdauer,  zu  Selbstvertrauen  und  Kraftbewusstsein.  Uiä 
wenn  die  gesamte  Erziehung  —  in  Schule,  Haus  usw.  —  über- 
haupt in  richtigem  Sinne  aufgefasst  und  geleitet  wird,  wenn  sie 
auf  Bildung  charaktervollen  Willens,  auf  Selbstzucht  und  Einsicht 


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—   173  — 


in  die  Au%aben  und  das  Wesen  des  Staates  hinarbeitet,  wie  dies 
ihr  Ziel  sein  muss,  so  schafft  sie  auch  ohne  weiteres  die  wert- 
vollsten ethischen  Grundlagren  fär  den  spateren  militärischen  Beruf. 

Was  endlich  die  vielfach  vertretene  Forderung  anbelangt,  in 
Nachahmung  ausserdeutscher  Einführungen,  Gegenstände  des  militär- 
theoretischen Unlerrichts  in  den  Lehrplan  der  Schulen  einzufügen, 
so  muss  dieser  Folgendes  entgegengehalten  werden.  Aufgabe  der 
Schule  ist  es  zunächst,  für  die  Masse  der  Jugend  eine  allgemeine 
Bildungsgrundlage  zu  schaffen  und  in  möglichster  Beschränkung  des 
Lehrstoffes  die  Basis  zu  festigen,  auf  welcher  die  spätere  spezielle 
Berufsbildung  verlässig  fussen  kann.  Schon  jetzt  ist  das  zu  be- 
wältigende Wissensgebiet  gross  genug,  dass  nicht  die  Gefahr 
bestünde,  die  Ergebnisse  des  Schulunterrichts  würden  durch  Bei* 
nähme  militärischer  Lehrßcher  noch  mehr  geschmälert  und  statt 
gediegener  positiver  Leistungen  auf  einem  Gebiete  Halbheiten  in 
der  einen,  wie  der  anderen  Richtung  gezeitigt  werden.  Was  im 
militärischen  Unterrichte  reine  Gedächtnisarbeit  fordert  (Ken[iinis 
militärischer  Einrichtungen,  Formen,  Vorschriften  usw.)  ist  nicht 
allzuviel  und  nicht  das  Schwierigste. 

Das  Wesentlichste  und  Schwerste  ist  die  Umsetzung  jener 
Unterrichtsstoffe  in  Leisten  und  Können,  welche  nur  in  der  prak- 
tischen Anwcnduni^  ihre  Bedeutung  erlangen.  Hier  bedarf  es  der 
in  die  Augen  fallenden  Anschauung,  der  Verbindung  mit  der  prak- 
tischen Obnng.  Ohne  beträchtüchen,  den  allgemeinen,  oder 
speziellen  Zweck  der  einzelnen  BUdungsanstalten  empfindlich  be- 
einträchtigenden Zeitaufwand  wird  sich  aber  solche  Theorie  und 
Praxis  verbindende  Unterweisung  nicht  mit  einem  Erfolge  durch- 
führen lassen,  welcher  das  spätere  Arbeitspensum  in  der  Arnue 
wirklich  entlasten  würde.  „Der  militärische  Lehrstofif  wird  nirgends 
besser,  energischer  und  gewiss  auch  nirgends  in  verhältnismassig 
kürzerer  Zeit  angeeignet,  als  im  Heere  selbst." 

Mögen  anderwärts  Verhältnisse  und  Besonderheiten  der  Heeres- 
organisation die  Einfügung'  militärischer  Unterrichtsgegenstände  in 
die  Lehrpiane  der  Schulen  und  Lehranstalten  zweckdienlich  oder 
geboten  erscheinen  lassen,  eine  Übertragung  solcher  Einflihrungen 
in  unseren  Schulbetrieb  kann  daher  nicht  befürwortet  werden,  so- 
lange noch  erst  die  Erfahrung  aussteht,  ob  die  anderen  —  von 
militärischen  Beimengungen  freien  —  Wege  nicht  ebenso  zum  er- 
strebten Ziele  führen.  Was  hingegen  im  Bildungs-  und  Erzieiiungs- 
system  unserer  Schulen  entschieden  mehr  als  bisher  berücksichtigt 
und  gepflegt  werden  müsste,  ist  die  Entwicklung  der  Einsicht  in  die 
Grundlagen  und  Aufgaben  des  Staates,  sowie  in  die  Rechte  und 
Pflichten  des  Stantshürnrers.  Dieser  Punkt  berührt  aber  nicht  nur 
eine  Frage  der  Unterrichtsmethode,  sondern  der  Organisation  unseres 
Schulwesens  überhaupt;  denn  hier  macht  sich  —  gleich  wie  in 
der  körperiichen  Ausbildung  —  wieder  die  Lücke  empfindlich 


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—   174  — 


fühlbar,  welche  dermalen  noch  in  der  Erziehung  breiter  Massen 
unserer  Jugend  besteht  Die  elementare  Volksschule  vermag  diese 
Aufgaben,  die  eine  gewisse  Reife  der  Auffassung  und  des  Verstandes 

bedingen,  selbstredend  nicht  zu  erfüllen.  Mit  dem  Austritte  aus 
dieser  ist  aber  für  einen  grossen  Teil  der  heranwachsenden  Jugend 
die  öffentliche  Erziehung  abgeschlossen;  in  völhger  Unreife  ist  dieser 
nun  den  Kindrücken  und  Einflüssen  des  öffentlichen  Lebens  preis- 
gegeben, gerade  in  den  Jahren,  in  welchen  Herz,  Gemüt  und  Charakter 
am  emp^nglichsten  und  bildsamsten  sind.  Dass  von  Seite  des 
Staats  die  Hand  auf  die  Erziehung  möglichst  der  Gcs:imtheit  der 
Jugend  gelegt  werde  ist  daher  direkt  ein  Gebot  der  h.rhaitung  des 
bestehenden  staatlichen  Organismus,  wie  der  naüonaicn  Wehrkraft, 
eine  Forderung,  welcher  sich  eine  weitschauende  Erziehungspolitik 
trotz  aller  entgegenstehenden  Schwierigkeiten  auf  die  Dauer  nicht 
wird  entschlagen  können. 

Auf  welche  Weise  dieser  notwendige  Ausbau  unseres  Schul- 
wesens am  zweckmässigsten  zu  geschehen  hätte,  ob  —  wie 
Kerschensteiner  überzeugend  ausführt  —  durch  Fffichtfortbildungs* 
oder  Fachschulen,  oder  in  welch  anderer  Art,  ist  eine  Fraise,  deren 
Lösung  der  Einsicht  Berufener  bei  ernstem  Willen  nidit  unmöglich 
sein  wird. 

Ihr  gegenüber  erscheint  die  Hercuiiiaiifiie  soldatischen  Drills, 
militärischer  Dienstfonnen  und  Unternchtsgcgenstände  in  den  Lchr- 
plan  der  Schule  unter  Zurückdrängung  der  eigentlichen  BÜdungs- 
ziele  dieser  als  schwacher,  bedeutuf^[sloser  Behelf.  Ein  Behelf, 
dessen  beabsichtigte  Wirkung  zudem  —  wie  nachzuweisen  versucht 
wurde  -  schon  jetzt  durch  Zusammenarbeit  von  Haus  und  Schule 
erzielt  werden  kann,  sofern  nur  regerer  Sinn  für  verständnisvolle 
Körperpik'ge  und  die  ihr  innewohnende  erzieherische  Bedeutung, 
und  im  Zusammenhange  damit  intensivere  Verwertung  aller  hier 
zu  Gebote  stehenden  Mittel  Platz  greift.  Als  solche  Mittel  bieten 
sich  neben  dem  eigentlichen  Turnen  die  Jugend-Tum-  und  Wett- 
spiele aller  Art,  Kislauf  und  Schwimmübungen.  Schüler-  und  Turner- 
Wanderungen  usw.  Dass  sich  der  geregelte  Betrieb  solch  in  manmg- 
fachster  Richtung  sich  betätigender  Körperpflege  sehr  wohl  ohne 
Benachteiligung  der  wissenschaftlichen  oder  technischen  Leistungen 
in  die  Schulpläne  einfügen  lässt,  wie  günstig  durch  sie  die  körper- 
liche und  geistige  Entwicklung  breinflusst  w'ird  und  wie  sehr  sie 
geeignet  ist,  die  sittliche  und  Charaktererziehung  zu  fordern,  beweist 
die  Erfahrung  an  all  den  Lehranstalten,  wo  solche  KnAihruneen 
über  das  bisherige  allgemeine  normale  Mass  hinaus  durchgegriffen 
haben. 

Und  nicht  genug  Anerkennung  und  Förderung  kann  all  den 
Männern  und  Vereinen  gezollt  werden,  welche  durch  Hebung  des 
Sinnes  für  freiwillige  Beteiligung  der  Jugend  an  diesen  Zwecken 
dienenden   Übungen    und  Einrichtungen  bemüht  und  bestrebt 


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—   175  — 


sind,  die  jungea  Leute  in  den  Jahren  zwischen  Schul-  und  Dienst- 
antritt möglichst  körperiich  und  sittlieh  schädiffenden  Einflüssen 

Mögen   in  der  einen  oder  anderen  derartigen  Vereinigung^ 

immerhin  militärische  Ausserlichkeiten  ohne  tieferen  Wert  mit 
unterlaufen;  in  Anbetracht  des  verfolgten  und  in  der  Hauptsache 
auch  wohl  erreichten  Zwecks  kann  darüber  ruhig  hinweggesehen 
werden,  sofern  sie  nicht  in  zwecklose  Soldatenspiderei  ausarten. 
Vor  solcher  kann  allerdings  nicht  nachdrücklich  genug  gewarnt 
werden.  Die  Grundlage  all  dieser  Bestrebungen  muss  der  Gedanke 
des  erzieherischen  Zwecks,  der  Charakter  ihres  Betriebs  erzieherischer 
Emst  und  ihr  Ziel  Vorbereitung  auf  den  Emst  des  militärischen 
Berufs,  wie  auf  die  cmsten  Forderungen  des  Lebens  überhaupt  sein. 

Treffender  und  trcttiicher  kann  auf  diesen  notwendigen  Ernst 
ludit  hingewiesen  werden,  als  es  in  der  Vorrede  zu  dem  an  früherer 
Stelle  erwähnten  französischen  Reglement  (Ür  den  Turnunterricht 
durch  folgenden  Appel  an  die  Jugend  geschieht:  „Vergesst  nichts 
dass  im  Leben  der  Erfolg  im  Verhältnis  zur  Anstrengung  steht; 
arbeitet,  strengt  Euch  an,  sucht  nicht  hastig  zu  ernten,  ehe  Ihr 
genügend  gesät  habt;  denn  die  Zeit  zerstört,  was  ohne  Zeitaufwand 
geschehen  tet  Seien  wir  ausdauernd  und  wir  werden  reiche  Ernten 
heranrücken  sehen,  welche  die  französische  Jugend  durch  physische 
und  moralische  Tüchtigkeit  der  Armee,  des  Vatcrirtndes  und  der 
Republik  würdig  erweisen  wird."  Und  ebenso  treffend  ist  an 
gleichem  Orte  das  auch  in  der  körperlichen  Ausbildung  gleichzeitig 
anzustrebende  erdeherische  Ziel  bezeichnet:  „Achtung  vor  den 
Staatsgesetzen,  Vaterlandsliebe  und  Heilighaltui^  der  nationalen 
Fahne." 

Möge  auch  bei  uns  das  Verständnis  für  diesen  vornehmsten 
Gesichtspunkt  der  gesamten  Erziehung  und  für  die  Notwendigkeit 
ergänzenden  Zusammenwirkens  von  Haus,  Schule  und  Armee  all  die 
Kreise  durchdringen,  denen  das  Wohl  des  Staates  und  des  Heeres 
am  Herzen  liegt  Wenn  dieses  Verständnis  in  unserer  ganzen 
Erziehungsmethode  durdigreifende  praktische  Betätigung  findet,  sa 
wird  damit  auch  den  an  eine  militärische  Jugenderziehung  zu 
stellenden  Forderungen  vollauf  Genüge  getan.  Nicht  darum  handelt 
es  sich,  in  der  heranwachsenden  Jugend  der  Armee  halbiertige 
Soldaten  zuzuführen,  sondern  mehr  —  neben  Entwicklung  und 
Stahlung  der  körperlichen  Kräfte  —  diejenigen  Eigenschaften  und 
Tugenden  heranzubilden,  welche  auch  die  Grundlagen  aller  mili- 
tärischen inneren  Tüchtigkeit  sind.  Und  vor  allem,  lasst  uns 
Sorge  tragen,  dass  die  Überzeugung  mehr  und  mehr  bei  Eltern  und 
Söhnen  sich  befestige,  dass  der  Wäcndienst  liir  das  Vaterland  eine 
ehrenvolle  Pflicht,  nicht  aber  eine  widerwillig  zu  ertragende  Last  seit 

Trelfen  wir  doch  noch  allzuhäufig  —  und  nicht  am  seltensten 


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—    1/6  — 


gerade  in  den  oberen  Gesellschaftsschichten  —  auf  die  bedauertiche 
Erscheinung,  dass  die  Befreiung  des  militärpflichtig  gewordenen 

Sohnes  vom  Waffendienste  als  ein  GlücksfaH  betrachtet  wird;  dass 
weichliche  Besorgtheit,  Scheu  vor  Unbequemlichkeit,  harter  An- 
sucnj:^iui^  und  stren^'cr  Zucht  das  niederdrückende  Gefühl  körper- 
licher Minderwertigkeit  vollständig  zurückdrängen,  dass  Schwächlich- 
keit, Kränklichkeit  oder  körperliches  Gebrechen  freudiger  getragen 
werden f  als  die  der  Erfüllung  einer  der  vornehmsten  nationalea 
Pflichten  zu  bringenden  Opfer. 

„Welch'  Gerat  berühren 

Er  noch  son&t  mag  klag, 

Ob  di«>  Feder  rühren 

Oder  ob  den  Pflup; 

Fuhrt  er  nicht  auch  Pfeil  und  Bogen 

Gut  genuK, 

I*t  das  Vaterland  um  ihn  betrogen" 

singt   eine    dem    altchinesisrhert  nationalen  Liederschatse ,  dem 

„Schi-King",  nn-^ehörende  Dichtung. 

So  versöhnend  der  Gedanke  ist,  dass  im  heutigen  staatlichen 
und  gesellschaftlichen  Organismus  auch  der  nicht  Waffendienstfahige 
Gelegenheit  hat,  seine  Kräfte  in  den  Dienst  des  nationalen  WoUs 
zu  stellen  und  in  jeder  Betätigung  voll  gewürdigt  wird,  die  höchste 

Entwicklung  der  Wehrhaftigkeit  ist  nach  wie  vor  eine  unveräusser- 
liche Pflicht  der  staatlichen  Fürsorg^c,  der  Erziehunrr  in  Schule  und 
Haus  gcbUeben;  sie  bildet  nach  wie  vor  das  Fundament»  mit  dessen 
Erhaltung  oder  Abbröckeluog  Selbständigkeit  und  Tüchtigkeit  der 
Nation  steht  oder  fallt 


IL 

Zur  Psychohigie  des  Kinderspiels. 

Von  Lsmterd  Sdirstitiwayr. 

ScUnw. 

Während  sich  das  Vorstellungsleben  im  wesentlichen  als  pro- 
duktive Aktion  äussert  ht  die  Seele  des  Kindes  beim  Spiele  von 
einem  Komplex  froher  (Tcfuliie  erfüllt. 

Das  Kijid  charakterisiert  sich  ja  immer  durch  sein  starkes 
Gefühlsleben.  Es  steht  der  Wirklichkeit  schon  immer  mit 
anderen  GefUMen  gegenüber  als  der  Erwachsene.  Wo  wir  in  einem 
FaUe  das  leidenschaftslose  und  kühle  Verhalten  eines  Mannes  etwa 


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—  i;7  — 


seinem  Charakter  zugute  schreiben,  heisscn  wir  ein  unter  ahnlichen 
Umstanden  sich  ebenso  benehmendes  Kiod  schon  pathologisch. 
Vollends  beim  Spiele  fiihlt  das  Kind  sich  selbst  und  verspürt  die 
ganze  Wonne  seines  inneres  ZuStandes. 

Dieses  Gefühl  ist  keineswegs  einfacher  Natur,  aber  es  geht  ein 
gleichartiger  Charakter  durch  den  ganzen  Komplex,  und  das  ist  die 
Lust.  Ein  Spiel  ohne  Lust  kann  gar  nicht  vollbracht  werden,  und 
gesetzt  den  Fall,  es  würde  ein  Kind  gegen  seinen  Eigenwillen,  also 
zu  seiner  Unlust,  gezwungen,  an  cinenn  Spiele  tdkunebmen,  wie  es 
ja  wohl  in  einem  iCindergarten  oder  in  einer  Schulstube  vorkommen 
könnte,  so  würde  vieüeirbt  das  Kind  äusserlich  den  Schein  zu 
spielen  wahren  können,  innerlich  aber  würden  ihm  alle  Beginguogen 
zum  Spiele  fehlen,  d.  h.  es  wurde  in  der  Tat  nicht  spielen. 

Dieses  Geföhl  der  Lust  gründet  sich  augenscheinlidi  auf  die 
ganz  natürliche  Befriedigung  eines  Lebensbedürfnisses.  Es  gehört 
mit  zur  Natur  des  Lebens,  dass  eine  Bejahung  ihrer  ureigenen 
Bedürfnisse  Lust  erweckt,  und  das  Gefühl  der  Lust  verrät  wohl  in 
der  Regel  irgend  eine  Erhöhung  und  Bejahung  des  Lebenscharakters. 
Auch  die  Seele  fiihrt  ein  Bedürfnisdasein.  Die  geistigen  Kräfte 
verlangen  fflbh  Befriedigung.  Es  ist,  im  allgemeinen  gesagt,  ein 
Verlangen  na.  |i  Selbstdarstellung  und  Welterfassung  in  der  Menschen- 
seele. Einerseits  will  der  Mensch  mit  allen  seinen  Kräften  aus  sich 
heraus,  um  in  der  Welt  als  Wirkender  aufzutreten,  anderseits 
will  er  die  ganze  Welt  in  ihren  viciLausendialtigen  Formen  in  sich 
hinein  ziehen.  Jeder  Augenblick  des  Lebens,  in  dem  die  Bahn  fiir 
beides  frei  liegt,  trägt  Lustcharakter  an  sich.  Dieser  Vorgang  offen- 
bart sich  auch  im  Spiele,  wenngleich  eine  freiwillige  Verwechslung 
zwischen  der  wirklichen  und  einer  nur  um  das  Kind  herumgedachten 
Welt  mit  unterläuft.  Es  ist  zunächst  ein  Genügen  der  Seele  am 
Schein.  Jedoch  funktionell  ist  der  Prozess  derselbe. 

Und  gerade  das  Genügen  am  Schein  kann  seinerseits  auch  noch 
mit  Ursache  der  Lust  sein  oder  doch  zur  Lusterhöhung  beitragen. 
Denn  das  Genügen  ist  im  Spiele  weniger  passiver  als  aktiver  Natur. 
Handelt  es  sn  h  dabei  um  Vcrschicbvmgen  zwischen  Wirklichkeiten 
und  wirkliciikcitsfcrncn  Vorstellungen,  so  ist  der  Spielende  Ursache 
der  Verschiebung.  Dieses  Ursachsdns  ist  sich  das  Kind  in  seiner 
Weise  wohl  bewusst  und  es  hat  Freude  an  einem  derartigen 
Schü j>rL'i-akt.  Das  Kind  sieht  sich  durch  den  Austausch  zudem  in 
eine  angenehme  Situation  gerückt:  die  Umwelt  ist  ihm  mit  euiem 
Schlage  nicht  mehr  Willenshemmnis,  sondern  geradezu  Gleitbahn 
seiner  versteckten  Wünwfae.  Und  das  ist  lustig  an  sich.  Sodann 
gibt  das  Kind  sein  inneres  Leben  als  den  Zusammenhang  zu  den 
Bildern,  Handlungen  und  Manieren,  die  stückweise,  abgerissen  und 
un^efüf^t  in  seine  Seele  gekommen  sind.  Diesen  Zusammenhang 
geben,  das  heisst  leben  und  erleben,  und  dieses  Erleben  ist  not- 
wendig Freude. 

ntUgoftook*  SMka.  ZXZ.  %.  U 


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-   178  - 

Der  Psychologie  könnte  es  zum  Bedürfnis  weiden,  das  spezielle 
Gcfiibl  des  Kindes  beim  Spiele  näher  zu  bezdchnen.  Denn  schliesslich 
tragen  auch  andere  spezielle  Gefühle  den  Lustcharakter  an  sich  und 

entsprechen  diorh  nir}-it  dem  Komfilexe,  an  den  wir  hier  denken, 
und  der  bei  aller  elementaren  Mannigfaltigkeit  doch  ein  Gefühlseinklang 
und  eine  Gefuhlseinheit  für  sich  ist.  Und  da  werden  wir  nicht  ohne 
weiteres  diesen  GefÜhlseinklang  mit  einem  andern  decken  dürfen. 

Die  Lehre  von  den  speziellen  Gefühlen  hat  mannigfache  Komplexe 
und  Gefuhlseinidänge  unterschieden.   Um  an  die  bekanntesten  zu 

erinnern,  sei  nur  der  sozialen,  moralischen,  religiösen,  ästhetischen 
und  intellektuellen  Gefühle  gedacht  Und  da  taucht  die  Frape  auf: 
Wird  eine  dieser  Arten  aber  das  spezielle  Gefühl  des  Kindes  in 
seinem  Spielzustande  auch  nur  annähernd  richtig  bezeichnen? 

Wohl  nicht  I  Denn,  wenngleich  das  Kinderspiel  seiner  Natur 
nadi  mit  Rd^on  und  Kunst  (im  ästhetischen  Sinne)  verwandt  sein 
dürfte»  so  werden  wir  beim  spielenden  Kinde  doch  nur  mit  unseren 
Augen  die  Keime  des  Religiösen,  des  Sozialen  und  Ästhetischen 
herauslesen,  soweit  wir  den  (Testaltun<;^sprozcss  im  Spiele  beobachten. 
Ob  aber  das  Kind  auch  die  religiösen  und  ästhetischen  Gefühle  hat, 
die  wir  Erwachsene  ihm  zumuten,  das  scheint  mir  zum  mindesten 
zweifelhaft.^)  In  der  Regel  wird  dabei  übersehen,  dass  wir  die 
he-^ondcre  Gestaltun«:^  unserer  ästhetischen  und  religiösen  Gefühle 
zum  grossen  Teile  jahrzehntelanger  Arbeit,  einseitiger  Beschäftigung 
und  Pflege  oder  tief  in  unser  Leben  einschneidenden  Erfahrungen 
verdanken.  Das  Gefühl  des  Erwachsenen  ist  auch  ein  historisches 
Erzeugnis  seines  individuellen  Lebens.  Diese  individuell>historische 
Einseitigkeit  und  Betonung  fehlt  beim  Kinde. 

Sodann  ist  gerade  das  Charakteristische  unserer  höheren 
Gefühle,  dass  sie  sich  in  ihrem  vollen  Umfange  nicht  mehr  an 
Spielobjekten,  sondern  in  der  grossen  Wirklichkeit,  in  des  Lebens 
Ernst  und  Würde  und  Freude  zeigen.  Und  es  wird  für  uns  immer 
schwer  sein,  das  hinwegzudenken,  um  möglichst  wenig  in  das  Kind 
htneinzumystifizieren.  Beim  Kinde  gibt  es  nur  Gefuhlszustande,  auf 
Grund  ricrer  man  die  Ausdruck c  Kunst,  Ästhetik,  Religion  und 
Ethik  sehr  vorsichtig  anwenden  sollte. 

Der  Gefühlszustand  des  spielend;  ii  Kindes  ist  daher  als  ein 
Phänomen  für  sich  zu  betrachten.  Wir  hadcn  die  eine  *\.usserung 
des  Gefühls  oder  dne  Fonn  des  Fühlens»  die  speziell  nur  bdm 
spielenden  Kinde  vorliegt 

Das  Kind  fühlt  sich  spielend.    Und  das  lässt  sich  gar  nicht 

anders  sagen.  Es  ist  eben  die  besondere  Freude  an  dem  Hingleiten 
wertL'chaltcner  Vorstellungen,  die  Lust  an  dem  inneren  Wachstum 
una  der  Eigenproduktion,  das  frohe  Empfinden  souveräner  Stellung 

0  Vgl.  SebUHng,  Ober  Eegriff  und  Bedeuttug  der  FhutMie,  «.«.O.  5.  jfo. 


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—   179  — 


in  einer  für  sich  begrenzten  und  abgeschlossenen  Welt  und  das 
Gefühl  der  unbedingten  Wertschätzung  dieser  Welt.  Ks  ist  kein 
ausschUessUcb  ästhetisches  und  kein  eigentlich  soziales  Geitihl;  es 
ist  nur  das  Geiiihl  des  Spieles.  Wir  könnten  es  Spielgeftihi  nennen. 

Ja,  wir  müssen  es  so  nennen,  wenn  wir  es  in  seinem  besonderen 
Charakter  mit  den  speziellen  Gefühlszuständen  Erwachsener  ver- 
gleichen wollen. 

Nur  das  Kind  erlebt  dieses  Gefühl  in  seiner  ganzen  Tiefe  und 
zwar  eben  ab  spielendes  Kiad.  Es  mag  später  zu  einem  neuartigen 
—  wie  wir  von  unserm  firwachsenen-Standpunkt  aus  sagen  — 

geistig  höheren  Leben  emporsteigen»  aber  es  wird  auf  diesem 
Gebiete  niemals  die  gleiche  Lust,  die  selijre  Spannun^^,  das  glühende 
Sich-Einleben  in  dieser  psychischen  Zusammenstellung  wieder  hndcn. 

Das  Spielgefühl  ist  das  vollendetste  und  reinste  Gefühl  des 
kindlichen  Alters,  und  seine  Intensität  bringt  es  mit  sich,  dass  das 
Spiel  nicht  bloss  die  vollendetste  Lebensform  fiir  das  Kindesalter, 
sondern  an  sich  eine  Lebensform  ist,  über  die  das  Leben  in  seiner 
Fortsetzung  wohl  hinausschreitet,  die  es  aber  in  seiner  spezifischen 
Konstellation  auch  nie  wieder  erreicht. 

Eben  weil  das  Kind  infolge  der  ni  mi^elnden  Lebenserfahrung 
und  Lebensreife  der  höheren  Gefühle  im  ausgedehnten  Masse  ent- 
behrt, freuen  wir  uns,  dass  es  in  seinem  Sinne  so  schön  entschädigt 
ist.  Und  wir  messen  dem  Kinde  eben  um  seines  intensiven  Spiel- 
gefühles  willen  rein  menschliche  Qualitäten  bei.  Instinktiv  ist  uns 
ein  Kind  unsympathisch,  das  nicht  spielen  mag,  oder  das  bei 
gelegentlichem  Spiel  nicht  die  Hingabe  eines  andern  verrät,  eines 
solchen,  das  in  seinen  kindlichen  Gefühlen  schwelgt  Wir  schätzen 
das  spielleidige  Kind  nicht  hoch  ein  und  versprechen  uns  wenig 
von  seiner  Entwicklung. 

Gefühle  zu  haben  ist  des  Menschen  Reichtum;  auch  beim  Kinde 
schon.  Das  Spielgcfühl  geht  den  Gefühlen  höherer  Art  in  der 
Entwicklung  voraus  und  es  ist  wohl  bei  jedem  Menschen  fiir  die 
Ausbildung  der  sozialen,  ästhetischen  religiösen  und  ethischen  Gefühle 
von  grösster  Bedeutung.  Wenn  wir  der  natürlichen  Entwicklung 
des  Kindes  folgen,  werden  wir  von  ihm  nicht  schon  streng  ästhetische 
und  technische  Produktionen  verlangen,  wenn  ihm  noch  nicht  hin- 
reichende Gelegenheit  gegeben  worden  ist,  rein  spielend  zu  produ- 
zieren. Im  Spiele  möge  sich  das  reine  Lustgefühl  am  Dasein  und 
an  der  Lebensgestaltung  im  Menschen  entwickeln! 

Weil  die  Tiefe  und  Stärke  des  Spidgeföhles  gerade  mit  der 
Reife  des  Menschen  schwindet  und  ausgesprochen  höheren»  differen- 
zierten Gefühlen  den  Platz  einräumt,  so  werden  wir  es  —  gleich 
dem  Kinderspiele  —  wenity^tcns  in  seinem  vollen  Umfange  und  in 
seiner  tief  eingreifenden  Wirkung  —  als  eine  psychische  Temporai- 
erscheinung ansehen  müssen. 


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Das  Spielgefühl  kann  viel  weniger  als  jedes  andere  Gefühl 
anerzogen  und  angelernt  werden.  Es  ist  eine  innenständige  oder 
seelische  Regung  und  kann  nur  durch  günstige  Umstände  und  durch 
sweckmäange  Spie%el^enhett  unterstüzt  werden. 

Die  grosse  Herrschaft  des  Spielgefüliles  zeigt  sich  vor  allem 
darin,  dass  das  Kind  zum  Spiele  immer  Zeit  hat.  Es  bringt  vielfach 
keine  Zeit  zu  etwas  anderem  heraus.  Der  Erwachsene  dagegen 
muss  in  ganz  besonderen  Verhältnissen  stehen,  wenn  er  wie  das 
Kind  zu  spielen  anfangt.  Besonders  viel  2^it  hat  6r  nicht  dazu. 
Zum  andern  finden  wir  aber  beim  Erwachsenen  auch  nicht  die 
leidenschaftliche  Gereiztheit  wie  bei  Kindern,  wenn  er  so  wie  dieses 
einmal  plötzlich  aus  seinem  Spiele  herau«;geri?sen,  bezw.  gestört 
wird.  Alle  I.ust  des  KinrJcs  schlägt  bei  der  Störung  seines  Spieles 
in  der  Regel  in  die  denkbar  grösste  Unlust  um,  die  sich  nicht  selten 
durch  ungebührliches  Weinen,  Schlagen,  Stessen  oder  unwilliges 
Stampfen  auf  den  Fussboden  äussert.  Der  Spielverderber  ist  in  den 
Augen  des  Kindes  schon  ein  ganz  nichtswürdiges  Subjekt  Es  mag 
bei  dieser  Gelegenheit  auch  gesagt  sein,  dass  Erwachsene  m  diesem 
Punkte  vielfach  ungezogener  gegen  das  Kind  sind,  als  die  Kinder 
untereinander.  Wenn  Eltern  ihre  Kinder  jeden  Augenblick  und  ohne 
zwingenden  Grund  vom  Spiele  aufjagen,  so  halte  ich  das  nicht  bloss 
för  eine  Rücksichtslosigkeit,  die  einen  Vater  und  eine  Mutter  wenig 
ziert,  sondern  für  eine  psychische  Schädigui^  des  Kindes. 


Nun  haben  wir  wohl  das  Vorstellungs«  und  Gefühlsleben  im 
Spiele  ausgeforscht,  die  Wille nsersch einungen  aber  kaum  mit 
einem  Worte  erwühnt. 

Unter  Willenserscheinung  sind  jene  psychologischen  Formen 

zu  verstehen,  die  uns  das  Innenleben  als  ein  bewusst  aktives  zeigen. 
Die  Aufmerksamkeit,  das  Handeln  nach  Ideen  und  Zwecken,  das 
alles  zeigt  uns  die  Seele  wahrhaft  wollend.  Der  Wille  steiit  seinem 
Charakter  nach  aUer  Passivität  und  allem  psychisch  Mechanischen 
gegenüber.  Wir  haben  auf  dem  Gebiete  des  Vorstellun^ebcns 
und  der  Gefühle  im  Spiclzustande  des  Kindes  grossen  Reichtum 
und  grosse  Intensität  gefunden.  Da  ist  die  Frage,  wie  es  um  den 
Willen  steht,  selbstverständlich. 

Sic  kann  aber  keineswegs  ebenso  günstig  beantwortet  werden. 
Das  Kmd  wird  im  Spiele  von  der  Art  seiner  Natur  mehr  gelebt, 
als  dass  es  selber  lebt.  Alles  hat  mehr  nur  die  Form  der  Aktivität, 
als  dass  es  bewusste,  überlegte  Aktivität  wäre.    Es  formt  und  schafft 

in  dem  Kinde,  aber  dem  Willensträger  selber  sind  die  regulierenden 
Gewalten  und  Rechte  nahezu  entrissen.  Der  an  das  Zweckbewusst- 
sein  der  Handlungen  geknüpfte  Wille  fehlt  Das  Kind  ist  im  Spiele 
wie  ein  Junge,  der  vom  Berge  kollert   Dieser  hat  seinen  Willen 


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—   i8i  — 


ausgeschaltet  und  trotzdem  erlebt  er  die  Bewegung,  fcr  nützt  bei 
seiner  Bewegung  nichts  aus  als  die  Energie  seiner  Lage.  Die  Hohe 
des  Berges  hat  ihm  Potensen  gegeben.  So  ist  auch  das  spielende 
Kind  auf  der  Höhe  von  Potenzen  zu  denicen,  von  denen  aus  es 
leben  und  erleben  kann,  ohne  impulsiv  zu  wollen.  Es  verfallt  in 
einen  willenlos  aktiven  Zustand  —  nicht  ganz  so,  aber  doch  ähnlich 
wie  der  Schläfer  in  einen  lebhaften  Traum  gerät  und  ohne  scm 
Zutun  darin  lebt 

Ein  Impuls,  eine  Gmindidee  genügt  im  grossen  und  ganzen,  um 
alle  Neigungen  aussutösen.  Gleichwie  der  eilende  Bote  nicht  jeden 
seiner  Schritte  aufs  neue  wollen  muss,  so  entfaltet  sich  in  der  Seele 
des  Kindes  der  grosse  psychische  Mechanismus  oder  vielmehr  der 
lebenskräftige  Org^anismus  der  Vorstellungswelt  nahezu  von  selbst 
Es  ist  in  erster  Unie  nicht  eine  Willensproduktion,  wenn  das  Kind 
spielt,  sondern  eine  Produktion  der  Vorstellungen,  die  sich  bieten, 
weil  sie  leben.  Nur  dann  und  wann  wird  ihr  Verlauf  durch 
Willensmomcntc  geregelt,  wie  sie  in  zeitweiliger  Aufmerksamkeit,  in 
zweckmässiger  Anordnung  oder  bewusst  konstruktiven  Eingriffen 
notwendig  werden.  Aber  diese  Eingriffe  gehören  nicht  unbedingt 
zum  Wesen  des  Spieles.  Daher  dan  man  im  aUgemeinen  sagen: 
Ohne  das  absichtliche  persönliche  Zutun  spielt  sich  das  Leben  wie 
ein  Schauspiel  mit  allen  Details  im  Kinde  auf  Nicht  der  mensch- 
liche Wille  spielt,  sondern  die  Natur.  Wenn  das  bpiel  Dichtung 
ist,  so  ist  die  Natur  der  Dichter. 

Auch  wir  haben  glücldiche  Stunden,  in  denen  wir  selbst 
willenlos  auf  die  innere  Sprache  unserer  Seele  horchen  oder  in 
denen  uns  durch  günstige  leiblii  Iie  und  seelische  Dispositionen  jedes 
Wort,  das  wir  sprechen  müssen,  unc^e%vohnt  leicht  über  die  Lippen 
fliesst,  jede  Bewegung  mit  Chik  und  iiieganz  gelingt,  als  ob  ein- 
gelernt worden  wäre.  Nicht  unser  WiUe  ist  es,  der  das  vermag. 
Es  ist  der  Ablauf  selbsttätiger  Kräfte. .  In  diesem  glücklichen  Zu- 
stande ist  das  spielende  Kind.  Es  lebt  und  hat  den  Willen  dazu 
kaum  nötig.  Es  iiberlässt  sich  mehr  dem  psychischen  Mechanismus 
seiner  Vorstellungen,  als  es  regulierend  mit  Überlegung  in  denselben 
eingreift.  Daher  akzeptiert  es  das  wunderlichste  Material,  das  ihm 
dieser  zufährt  In  Willenszuständen,  wie  wir  sie  an  Erwachsenen 
beobachten,  wäre  bei  dem  kindlichen  Mangel  an  realer  Gestaltungs- 
kraft diese  Assoziationshast  und  die  unbändige  Phantasie  des  Spiele;, 
aber  auch  die  totale  Einfühlung  unmögUch.  Und  die  Lustgefühle 
könnten  nicht  ihre  ungestörte  Macht  bewahren. 

Das  von  der  Willenlosigkeit  beim  Spielzustand  Gesagte  ^t  in 
der  extremen  Form  natürlich  nicht  von  allen  Spielarten  im  gleichen 
Sinne.  Gerade  die  reifere  Jugend,  die  ihre  „Soldaten"  und 
(Jläuber"  im  Freien  spielt,  löst  sich  von  dem  ausgesprochenen 
VorstcUungsspiele,  wenn  auch  nicht  vom  lUusionsspiele,  insofern 
mehr  ab,  als  die  körperlichen  Bewegungen  in  ihrer  Tüchtigkeit, 


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—     I82  — 


Schnelle  und  Ausdauer,  das  Sprincren,  Laufen,  Hüpfen,  Klettern, 
Stessen  und  Stürmen,  neben  den  Vorstellungen  in  den  Vordergrund 
treten,  als  solche  viellach  bewuseter  WiUensantriebe  bedürfen  und 
nahezu  einen  Obergang  von  der  Spielhandlong  zur  zweclcmissigen 
Handlung,  zur  bewussten,  beabsichtigten  Produktion  und  zur 
gewollten  Arbeit  herstellen.  Vielfach  aber  tragen  selbst  diese  an- 
gestrengten Versuche  zur  Verwirklichung-  der  Spieldarstellung  nicht 
streng  psychologischen  Willenscharakter.  Die  Inipulse  zur  Aus- 
lösung und  Leistung  der  Arbeit  werden  oft  nur  von  dem  lebendigen 
Vorstellungsverlaufe  in  mehr  oder  weniger  automatischer  Weise 
gegeben. 

Man  hat  spielende  Kinder  wohl  auch  schon  mit  Myj)aotisicrten 
und  Suggerierten  verglichen.  Dieser  Vergleich  dürfte  zutreffend 
sein.  Denn  auch  wer  unter  dem  Einfluss  der  Suggestion  steht, 
charakterisiert  sich  pS3rchologisch  durch  seine  eigene  Willenslostgkeit, 
wenngleich  in  ihm  wie  beim  spielenden  Kinde  die  Formen  des 
Willens  vollführt  und  der  Ablauf  seiner  Vorstellungen  und  Gefühle 
bekanntlicii  ein  vom  eigenen  Willen  unabhängiger  und  auch  nur 
von  aussen  her  zu  behindernder  ist.  Das  Kind  ist  aber  sein  eigener 
Hypnotiseur.  Es  hypnotisiert  sich  selbst  —  natürlich  ist  das  nur 
ein  Vergleich  —  indem  es  eine  dazu  günstige  seelische  Disposition 
ausnützt,  seine  Ich-Vorstelhmg  oder  sein  Ichbewusstsein  kurz  und 
bündig  mit  einem  ganz  fremden  Inhalte  zu  erfüllen.  Gelingt  ihm 
das  ganz,  so  wird  es  von  dem  dem  Inhalte  hinzugedachten  Willen 
abhängig,  und  entwindet  sich  so  seines  eigenen  Wollens.  d.  h.  es 
überlässt  sich  dem  organisch  strebenden  Willen  der  Natur. 

Das  kann,  wie  Ludw.  Strümpell  (vgl.  seine  Päd.  Pathologie, 
Leipzig  1899,  S.  142)  meint,  soweit  kommen,  dass  das  Kind  während 
der  Zeit  eines  solchen  Spieles  vollständig  dem  erwachsenen  Irren 
gleicht,  der  an  einer  fixen  Idee  leidet  und  aus  dieser  heraus  handeltt 
Wenn  es  freiwillig  diesem  fremden,  leitenden  Willen  folgt,  so 
ist  erldSilich,  dass  alle  dementsprechend  en  Vorstellungen  ohne 
weiteres  auffaurhrn  Es  genügen  einleitend  oder  »^on-^twie  geringe 
sinnliche  Andeutuiv^eii  dazu  von  aussen,  genau  wie  beim  Hypnoti- 
sierten, der  durch  eine  geringfügige  Beeinflussung  von  aussen  so 
sdir  in  einen  Ablauf  von  Vorstellungen  geraten  kann,  dass  er  damit 
gleich  einem  ^mulanten  oder  Schauspieler  ein  ganzes  Auditorium 
unterhalten  kann. 

Dass  der  Zusammenhang  des  Spielzustandes  mit  dem  der 
Hypnose  sehr  nahe  liegt,  geht  schon  aus  der  allgemein  anerkannten 
Tatsache  hervor,  daä  Kindern  am  leichtesten  irgend  welche 
Gedanken  suggeriert  werden  können. 

Der  Wille  tritt  beim  Kinde  auf  die  geringste  ihm  Zutrauen 
erweckende  Vorstellung  hin  zurück.  Was  ihm  Autoritäten  sagen, 
ist  ihm  jahrelang  Kvangrlium.  Je  mehr  das  Kind  zum  Erwachsenen 
wird,  desto  nieiu  Lnlt  dicker  Zustand  bei  ihm  zurück.  Zunächst 


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ist  das  Kind  nun  einmal  so.  Wenn  wir  hei  ihm  über  den  Mangel 
an  Überlegung,  an  sittlichem  Ernst,  an  Aufmerksamkeit,  Ausdauer 
und  Konzentration  Klagen  fuhren  müssen,  so  hängt  das  damit  zu- 
sammen und  ist  durchaus  nicht  in  demselben  Masse  bedauerlich» 
als  wenn  eben  der  sittliche  Emst  und  die  Willenskraft  und  der 
Mut  zur  Überlegung  beim  Erwachsenen  fehlt.  Durch  den  Mangel 
an  praktischem  Bestreben  bleibt  das  Bewusstsein  den  traumhaften 
Kräften  und  dem  Vorstellungsicbcn  zugewandt.  Beim  Spiele  haben 
wir  nahezu  eine  Erlösung  von  dem  Eigenwillen  des  Menschen. 
Der  Zustand  wird  dadurch  zur  völligen  Kontemplation,  zum  Zustande 
des  inneren  Schauens,  des  Lebens  ohne  Leid,  des  Handdns  ohne 
Zweck,  der  Arbeit  ohne  Ermüdung.  Indem  das  Kind  von  aller 
Not  und  Härte,  von  allem  Bedürfnis  und  Übel  der  Welt  vorüber- 
gehend erlöst  wird,  bleibt  es  für  seine  Entwicklung  geschmeidig  und 
seine  schwachen  Schultern  werden  von  der  fortwärend  drückenden 
Last  des  realen  Lebens  —  dem  sich  unser  Wille  entgegenstemmen 
muss  —  nicht  vorzeitig  gebeugt. 

Indem  man  so  das  Kind  im  Spiele  ganz  frei  von  allen  Zwecken 
des  Menschenlebens  einem  ergötzlichen  Scheine  nachgehen  sieht, 
wird  man  unwillkürlich  an  Schopenhauer  erinnert  und  an  seine  Lehre 
von  der  Verneinung  des  Willens,  iittbesondere  in  der  Stellungnahme 
zu  den  Problemen  der  Kunst  und  der  Religion.  Schliesslich  hat  ja 
Schopenhauers  Lehre  einen  metaphysischen  Charakter,  und  wir 
wollen  uns  frei  halten  von  Metaphysik,  aber  Schopenhauer  hat  doch 
gerade  durch  seine  meisterhafte  Behandlung  aller  Problenie,  bei 
seinem  Scharfblick  und  seiner  Menschenkenntnis  auch  der  Psycho- 
logie indirekt  grosse  Dienste  erwiesen.  Er  hat  sich  auch  zum  Spiele 
dahingehend  geäussert,  dass  hier  der  Wille  schweigt.  Das  ist  fnst 
wörtlich  psychologisch  zu  nehmen.  Ich  will  seine  Ansicht  nach 
Kuno  Fischer  zitieren:  „Mit  grossen,  erstaunten  Augen  bhckt  das 
Kind  in  die  ihm  fremde  WdL  Alle  Gregenst&ide  sind  ihm  neu. 
Und  es  kann  sich  daran  nicht  satt  sehen.  Welche  Lust  gewahrt 
ihm  sein  Bilderbuch,  worin  es  die  gesehenen  Dinge  wieder- 
erkennt. .  .  .  Mit  welcher  Lust  hört  das  Kind  Geschichten,  die  man 
ihm  erzählt  und  kann  nicht  genug  davon  hören.  Die  wirklichen 
Gegenstände,  das  Bilderbuch,  die  Geschichten  von  Menschen  und 
Dingen,  lauter  blosse  Vorstellungen  und  Bilder  der  Welt  sind  das 
Thema  und  die  Lust  des  Kindes.  Noch  unverfälscht  und  unver« 
kümmert  durch  den  Willen,  seine  Begierden  und  Interessen,  die  ihm 
noch  nichts  anhaben.  Noch  schweigt  die  heftigste  aller  Begierden.  . . . 
In  di^er  reinen  Vorstellungslust  besteht  die  Unschuld  und  das 
Paradies  der  Kindheit.  Die  Welt  erscheint  diesem  Lebensalter  im 
frischen  Morgentau,  im  Zauber  des  Morgenlichtes."  Wir  können 
diese  Ansicht,  wenn  sie  auch  andere  als  rein  psychologische  Grund> 
lagen  hat,  alaeptieren. 


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—    l84  — 


Nach  der  neueren  Psychologie  werden  im  Zusammenhang  mit 
den  Wiliensproblemen  in  der  Regel  auch  die  Ausdrucks- 
bewegungren behandelt,  insofern  der  Wille  sich,  physiologisch 
gedacht,  auf  den  motorischen  Bahnen  nach  aussen  wendet  und  die 
Ausdrucksbewegungen  eine  natürliche  Folge  der  motorischen  Ver* 
aolagung  des  Menschen  sind. 

Die  Ausdrucksbewegungen  mit  dem  Wiüensleben  in  psycho- 
logischen Zusammenhang  su  bringen,  ist  aber  nur  zur  Hälfte  richtig. 
Es  gibt  alle  Ausdrucksbew^^ungen  auch  in  der  Art,  dass  sie  mit 
dem  persönlichen  Wollen  oder  Nichtwollen  nur  in  ganz  fernem, 
lebensgeschichtlichem  Zusammenhang  stehen.  Wären  die  Ausdrucks- 
bewegungen immer  VVillcnsäusserungen  gleich  zu  erachten,  so  wäre 
das  Kinderspiel  entweder  die  an  Ausdrucksbewegungen  ärmste 
Erscheinung  oder  die  an  Willensversuchen  reichste  Lebensform« 
Das  wideispricht  der  Tatsache. 

Das  Kind  hat  im  Spiele  mehr  als  zu  irgend  einer  andern  T  ehens- 
zeit  mannigfaltige  und  zahlreiche  Ausdrucksbewegungen  und  erreicht 
in  denselben  sogar  eine  Vollkommenheit,  die  es  im  späteren  Leben 
oft  nicht  mehr  hat  Als  Ausdnicksbewegungen  des  Willens  gelten 
nur  die  mit  bewusster  Absicht  und  Aufmerksamkeit  zweckdienlich 
vollzogenen  Äusserungen.  Daneben  g^bt  es  viele  anders  geartete, 
wie  Schlaf-  und  Traumbewcf^unt^en,  automatische  und  suggerierte, 
die  sich  gerade  durch  den  Mangel  an  Zweckmässigkeit  und  i^ewusst- 
sein  charakterisieren  können.  Möglich  sind  sie  nur  durch  die 
natürliche  Bildungskraft  der  Organe  usw.  Als  solche  haben  wir 
auch  die  Ausdnicksbewegungen  im  Spiele  zu  nehmen.  Sie  ver- 
laufe zum  grossen  Teile  frei  vom  persönlichen  Willcnseinflusse. 

Das  Hauptaugenmerk  mag  dabei  auf  sprachliche,  mimische  und 
pantomische  Ausdrucksformen  gelenkt  sein.  Alle  drei  Formen 
kommen  beim  Spiele  in  einer  dem  jeweiligen  Kindesalter  ent- 
sprechenden grössten  Vollkommenheit  vor.  In  der  Schule  etwa 
hat  ein  Kind,  selbst  wenn  der  Lehrer  für  eine  zwanglose  Stimmun^^ 
im  Unterrichte  besorgt  ist,  immer  eine  leere,  tote,  karge,  schema- 
tische Sprache.  Seiten,  dass  des  Schülers  Naturell  einmal  ganz  zum 
Durchbruch  kommt.  Tonlos  spricht  er  seine  Sätze;  einförmig  ist 
sein  Leseton,  sein  Lied  und  der  Vortrag  seiner  Gedichte.  Auch 
sonst  bei  ernsten  Anlässen,  etwa  in  fremden  Häusern,  ^a  selbst  ia 
der  eigenen  Familie  gebricht  es  ihm  oft  an  euier  der  Situation  an- 
gepassten  Sprache. 

Ganz  anders  im  Spiele:  eine  fabciiiailc  Akkommodation  seiner 
Ausdnicksbewegungen  an  die  gegebene  und  gebildete  Situation 
zeichnet  das  Kind  aus.  „Ganz  wie  die  Alten !"  kann  man  dann  und  wann 
hören.  Die  Sprache  ist  ausdnicksrähig,  rhythmisch,  melodisch  Die 
Sätze  fliessen,  der  Akzent  sitzt  an  seinem  rechten  Platze.  Dir  1  ra^x, 
der  Ausruf,  die  Verwunderung,  der  Befehl  und  die  trzahiweise,  alle 
kommen  in  ihrem  spezifischen  Charakter  und  in  ihren  sahllosen 


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Schattierungen  wie  zum  .Schai!«;piel  eingelernt  hervor.  Mit  iiinereiD 
Triumphe  sieht  sich  das  Kind  in  seiner  Vollendung^. 

Wie  mit  der  Sprache,  so  geht  es  mit  der  Mimik  des  Kindes. 
Das  kindliche  Gesiebt  hat  ja  keine  reiche  LinienlÜhning;  der  Mangel 
an  Falten  und  Zügen  macht  es  wenig  ausdrucksföhig.  Und  doch 
hinterlassen  uns  die  Gesichter  spielender  Kinder  ganz  eigentümliche 
Kindrüc  kc  in  der  Seele.  Die  Formen  des  Ernstes,  des  Zornes,  der 
Freude,  des  Unbehagens,  der  Grossmut,  der  Würde  und  Demut, 
der  Frömmigkeit  und  viele  andere  beherrschen  sie,  es  scheint,  je 
nach  der  Art  ihrer  Spiele  in  grosser  Vollkommenheit.  Das  Aller* 
weltsgesicht  des  Durchschnitts  Schulkindes,  das  zwischen  geheucheltem 
Interesse  und  offenbarer  Gleichgjultigkeit  schwankt  und  dem  Lehrer 
aus  Schulen  und  Schülerphotographieen  nur  zu  bekannt  ist,  fehlt 
hier  vollständig.    In  freier  Selbstbestimmung  formt  die  freudige  Seele. 

Zu  wahrer  Virtuosität  gesteigert  aber  sind  die  pantomimischen 
Ausdrucksbewegungen  des  spielenden  Kindes.  Das  Mädchen,  das 
„Puppenmama"  spielt,  ist  schon  oft  bewundert  worden.  Der  Knabe, 
der  als  Indianer  oder  als  Räuber  und  Dieb  durch  den  Wald  schleicht, 
der  junge,  der  an  der  Spitze  seiner  Schar  den  Feldherrn  markiert, 
und  das  Kind,  das  vor  seinem  SpieDaden  mit  regelrechtem  Geschäfts- 
gebaren seine  Blechmünzenware  anpreist,  verdienen  dasselbe  Lob. 
Die  gravitätischen  Schritte  der  Kinder,  wenn  sie  Hochzeit  halten, 
sind  bekannt.  Ihre  Gewandtheit  beim  Laufe  erhöht  sich  im  Spiele. 
Selbst  Komplimente,  die  im  Leben,  wenigstens  bei  ungeübten,  nicht 
dressierten  Kindern  immer  mi^ngen,  glücken  ihnen  in  aller  Anmut 
und  Zierlichkeit,  wenn  sie  Besuche  und  Gratulation  spielen.  Hundert 
ähnliche  FäUe  wären  wohl  noch  anzuführen;  scharfe  Beobachter 
kindlicher  Spiele  könnten  wohl  ein  ganzes  Reglement  für  Schau- 
spieler danach  zusamniL^stell!'!: 

Der  Schritt  vom  Spiele  bis  zum  kmdcrtumlichen  oder  natür- 
lichen Drama  scheint  mir  übrigens  auch  nur  ein  ganz  kleiner  zu  sein. 
In  der  Schule  habe  ich  Spiel  und  Drama  oft  ineinander  übergehen 
sehen,  z.  B.  wenn  sie  Nikolaus  sfdelcn  oder  Kasperlthcater.  Das 
Dramatisieren  irgend  eines  Stoffes  macht  auch  in  der  Schule  den 
meisten  Spass  und  wird  immer  als  „Spiel"  angesehen.  An  dieser 
Steile  hätte  wohl,  pädagogisch  gedacht,  die  Erziehung  des  Kindes 
iiir  den  Sinn  und  Genuss  des  Dramas  einzusetzen.  Der  Sinn  fUr 
theatralische  Darstellung  ist  ein  tiefgehender  menschlicher  Zug.  Den 
vernachlässigen  wir  offiziell  in  den  bildsamsten  Jahren  und  Llatiben, 
vor  Torschluss  im  8.  Schuljahre,  also  knapp  vor  der  Schulentlassung, 
rasch  alles  noch  retten  zu  können,  wenn  wir  den  klassischen  „Teil" 
ab  Lektüre  in  den  Lehrplan  einsetzen.  —  Das  ist  natürlich  eine 
AufpHanzung  und  keine  Ejuipflanzung! 

Bei  den  Ausdriirksbcv.'e(^uni:yen  kommen  wir  notgedrnnr^en  nuch 
noch  auf  die  Nachahmung  zu  sprechen,  weil  für  gewöhnhch  alle 
Erscheinungen  im  Kinderspiele  als  Nachahmung  —  oder  wie  eine 


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—   i«6  — 


schreckliche  Phrase  heisst  —  als  Belric(lij:^ung  des  Nachahmungs- 
triebes hingestellt  werden.  Von  einer  Nachaiimung  oder  Nachbildung 
kann  im  Spiele  wohl  gesprochen  werden,  aber  doch  nur  insofern, 
als  die  Elemente  von  Eindrücken  und  Erlebnissen  im  Spiele  zu 
Gcstaltung^s-  und  Illusionszwcckcn  wiederkehren.  Platte,  sklavische 
Nachahmung  ist  das  Spiel  nie,  weil  damit  das  Spiel  sofort  zum 
geistlosesten  und  verbildendsten  Zeitvertreib  heruntersinken  würde. 
Im  Menschen  liegt  viel  weniger  der  Trieb  zur  Nachahmung  als  viel- 
mehr der  Trieb  zur  Umgestaltung,  zur  Neugestaltung  und  zur  Eigen- 
darstellung.  Ich  halte  es  für  falsch  und  für  sinnentstellend,  wenn 
man  in  dieser  Auffassung  soweit  geht  wie  selbst  Wundt,  dass  er  in 
seinen  Voriesunc^en  über  Menschen-  und  Tierseele  (III.  Aufl.  S.  403) 
die  Nachahmung  geradezu  als  ein  Kriterium  des  Spieles  hingestellt 
sehen  will 

Gerade  für  den  Psychologen  ist  diese  I'assung  falsch,  weil 
psychologisch  der  Begrift  der  Nachahmung  die  volle  Aufmerksamkeit 
und  den  zweckdienlichen  Willen  zur  Handlung  voraussetzt.  Beides 
tritt  aber  um  so  mehr  zurück,  je  vollkommener  sich  das  Kind  im 
Medium  des  Spieles  bewegt,  d.  h.  je  vollkommener  es  scheinbar  » 
oder  nach  der  landläufigen  Bezeichnung  —  nachahmt  Sodann 
kommt  hin/!],  dass  das  Spiel  in  der  Regel  von  vorne  herein  eine 
natürliche  Konstruktion,  ein  Wachstum  ist,  in  ch  ni  das  Kind  rein 
für  sich  und  mciit  etwa  für  andere  zum  Zuscliauen  oder  zur  er- 
götzlichen Unterhaltung  auf  dem  VorsteUungswege  das  in  eine 
Lebenseinheit  vereinigen  will,  was  es  da  und  dort  bruchstückweise 
gesehen  hat.  Darum  läuft  die  Nachahmun;^»^  mit  Heziif^  auf  das 
Wesen  des  Spiels  fast  auf  einen  Widerspruch  m  sich  selbst  hinaus. 
Auch  bei  weiser  Beschränkung  ist  es  gefahrlich,  das  Wort  Nach- 
ahmung beim  Kinde  immer  wieder  anzuwenden,  weil  das  Wort 
nicht  ganz  frei  von  vidfadien  Deutungsmöglichkeiten  ist  und  deshalb 
ohne  nähere  Bezeichnung  dessen,  was  man  meint,  den  wahren  Sach- 
verhalt leicht  entstellen  kann.  Wir  halten  vieles  mehr  für  platte 
Nachahmung,  als  es  tatsachlich  Nachahmung  ist  Nachahmungen 
gelingen  selten  in  der  Vollkommenheit,  in  der  uns  die  Ausdrucks- 
bewegungen des  Spides  entgegentreten. 

Der  Glaube  an  die  Nachahmung  wird  hier  erweckt,  weil  der 
Anstoss  zum  Spiele  retrelrecht  das  der  Welt  abgeguckte  Bruch- 
stück irgend  einer  Lebensersclieinung  ist.  Dieses  Stück  ist  aber  tot 
und  muss  unter  der  Beteiligung  des  Kindes  lebendig  gemacht 
werden. 

Die  Erinnerungsbilder  tauchen  wohl  auf,  aber  das  Kind  ist  es,  das 
sich  daran  entfaltet.  An  den  Erinnerungsbildern  wird  das  spielende 
Kind  produktiv'.  Was  wir  also  für  Nachahmung  halten,  ist  vielfach 
ein  neues  Wachstum  der  Natur.  Psychologisch  indiskutabel  bleibt 
dabei  natürlich  die  Ansicht  oder  doch  die  These,  die  möglicher- 
weise ein  Lebenshistoriker  aufstellen  könnte,  dass  gerade  alles  neue 


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Wachstum  der  Natur  Nachahmung  sei,  insofern  sich  die  Natur 
jeweils  selbst  nachahmt.  Dieser  Nachahmungsbegriff  gehört  ent- 
weder in  die  Naturgeschichte  oder  in  die  Metaphysik;  die  Psycho- 
logie hat  damit  nichts  zu  tun. 


Wie  der  Zustand  des  Spieles  Änderungen  in  den  Ausdrucks^ 
bewegungen    hervorruft,    so  hat  er  noch  mannigfaltige  andere 

Wirkungen  auf  die  Kinder.  Besonders  zwei  verdienen  hier  hervor- 
gehoben zu  werden:  dio  K  m p  fänglichkeit  des  Kindes  im 
Spiele  und  die  Heilwiikung  des  Spieles. 

Die  ümp fänglichkeit  beruht  teils  auf  einer  erhöhten  Sensi- 
bilität teils  auf  einer  gesteigerten  Eindrucksiahkrkeit  des  ganzen 
Gemütes.    Wie  die  motorischen  Bahnen  des  Körpers  technisch 

besser  funktionieren,  so  scheint  es  auch  Ijei  den  sensorischen  zu 
sein.  So  stumpf  sonst  die  Kinder  bisweilen  der  Welt  und  ihren 
Eigentümlichkeiten  gegenüber  stehen,  im  Spiele  macht  alles  mehr 
Eindruck  auf  »e.  Das  Unscheinbarste  fallt  ihnen  auf,  fesselt  und 
sammelt  sie.  Ks  ist  als  würden  die  Farben,  das  Licht,  die  Töne 
und  die  Berührungen  in  feineren  .Abstufungen  unterschieden,  als 
wären  die  Haut,  das  Ohr,  das  Auge  reizbarer.  Mir  hat  es  oft 
geschienen,  als  ob  spielende  Kinder,  wenn  sie  z.  B.  als  Indianer  oder 
Rauber  den  Wald  durchziehen,  ein  schärferes  Gesicht  und  ein 
schärferes  Gehör  bekommen  hätten.  Es  ist  das  natürlich  nicht 
einer  absoluten  Zunahme  der  Sinnesqualitäten  zuzuschreiben,  sondern 
vielmehr  der  generellen  Lebendigkeit,  in  der  sie  sich  befinden,  so 
dass  sie  hierdurch  wie  etwa  ein  Kranker  dann  und  wann  sensibler 
werden. 

Die  Empfänglichkeit  für  das  Schöne  und  Ghite  hebt  sich  im 

Spiele  nicht  Uoas  durch  das  gesteigerte  Gefühls-  und  VorstellungSp 
leben,  sondern  vor  allem  dadurch,  dass  der  Wille  allen  äusseren 
Zwecken  abgewandt  ist.  Ein  Kind,  das  äussere,  reale  Zwecke  ver- 
folgt, ist  dabei  meist  so  eigenwillig,  dass  es  idealen  Einflüssen  nur 
zugänglich  ist,  wenn  sie  seinen  Absichten  nicht  entgegenwirken. 
Im  Spide  fehlt  der  starre  Eigenwille.  Bei  dem  Hang,  den  die  Vor- 
stellungen haben,  bewusst  zu  werden  und  sich  orj:'nnisrh  mit  anderen 
zu  \'erbinden,  werden  sie  diirrli  Kleinigkeiten  ungernein  stark  betont, 
ixn  Kinde  ruhen  die  Dispositionen  zu  den  Ideen  des  Guten  und  des 
Schönen,  die  in  der  Menschheit  nie  gefehlt  haben.  Es  ist  nur 
schwierig,  sie  im  geeigneten  Momente  zu  dem  auszubilden,  was  sie 
sein  sollten.  Im  Spiele  reicht  oft  ein  Wort,  eine  Situation  hin, 
solche  Dispositionen  zu  starken  und  zu  erweitern.  Das  spielende 
Kind  spielt  eben  auch  mit  Ideen  und  Gefühlen:  mit  Liebe,  Freund- 
schaft, Edelmut,  Tapfericeit,  mit  Lust,  Schmerz,  Güte,  Grausamkeit, 
Stolz  und  Verachtung. 


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—   i88  — 


Allerdings,  wenn  das  Kind  spielt,  sind  das  durchaus  keine  echten 
Tugenden  oder  Laster  —  es  ist  kein  Mord,  wenn  der  Knabe  im 
Spide  Soldaten  umscbiesst,  wie  einmal  ein  ängstlicher  Pädagoge 
gemeint  hat,  so  wenig  es  Religion  'ist,  wenn  Kinder  mit  Heiligen- 
bildclicn  spielen,  wie  die  Klosterfrauen  und  Schulschwestern  meinen. 
Aber  es  entstehen  im  Spiele  immerhin  JVozesse  des  inneren  Lebens, 
und  zustimmende  oder  verwerfende  Gefühle  für  alles  Lieben  und 
Hassen  werden  wach  und  verbinden  sich  mit  den  Lebensvorgängeo. 
Im  Interesse  höherer  Lebensgüter  ist  das  Spiel  an  sich  selbst 
pädagogisch.  Das  Kind  empfangt  im  Spiele  verständnisvoll  jeden 
rechtlichen  und  sittlichen  Einwurf  von  Spielkameraden  oder  Zu- 
schauern, wofern  er  das  Spiel  betrifft,  und  reagiert  darauf  stets  in 
der  entsprechenden  Weise.  Daran  sind  die  Wertgefuhle  schuld,  die 
das  Kind  im  Spiele  mehr  als  im  realen  Leben  bächleichen. 

Die  Heilwirkungen  des  Spieles  können  mit  den  Heil' 
Wirkungen  oder  doch  mit  den  gesundheitlichen  Kinflüssen  des 
Schlafes  und  der  Hypnose  verglichen  werden.  Das  erste  ist  die 
Aubbpaaauiig  der  aktiven  Kräfte,  mithin  eine  Erholung,  geringer 
zwar  als  im  Schlaf,  doch  diesem  analog,  besonders  wenn  das  Spiel 
ntdit  zu  lange  dauert  und  so  die  Schädigungen  langer  Auto- 
suggestionen zur  Geltung  kommen.  Dem  Blutkreislauf  aber  scheint 
die  Verfassung  des  Kindes  im  Spiele  sehr  zu  Dienste  zu  kommen. 
Spielende  Kinder  haben  für  gewöhnlich  rosigrote  Wangen,  warme 
Hände  und  FQsse  und  ihr  Befinden  ist  meist  nur  allen  Wünschen 
entsprechend.  Ob  die  Wirkungen  der  inneren  seelischen  Verfassung 
entstammen  oder  ob  die  grosse  äussere  Beweglichkeit  daran  vor- 
wie(^end  schuld  ist.  lässt  sich  wohl  kaum  genau  bestimmeo.  Offenbar 
hat  beides  daran  teil 

Tatsache  ist  audi,  dass  die  Kinder  im  Spiele  leibliches  Übel- 
befinden vergessen:  Hunger  und  Müdigkeit  entschwindet  ihnen,  Kälte, 
Hitze,  Nässe,  Anstrengungen  und  Gefahren  schrecken  sie  gar  nicht 
ab.  Das  geht  teilweise  beim  blossen  Vorerzählen  schon  so,  wenn 
das  Kind  davon  ebenso  erfasst  wird,  wie  vom  Spiel.  Da  kannte 
idh  ein  Kind,  das  durch  frühzeitige  tdlweise  Lahmung  an  einem 
Fusse  im  Gehen  sehr  beschweilich  vorwärts  kam.  Um  es  zu 
kräftl^n,  nahmen  wir  es  wiederholt  mit  zu  einem  Spaziergange  auf 
einen  Hü^el,  der  in  Stunde  zu  erreichen  war.  Beim  Heimweg 
blieb  das  Kind  mehrmals  vor  Ermüdung  und  Anstrengung  unwillig 
zurück.  Wir  hätten  uns  vielfach  genötigt  gesehen,  das  Kind  heim- 
zutragen. Die  Mutter  des  Kindes  aber  beuss  eine  treffliche  Gabe, 
dem  Kinde  allerlei  zu  erzählen.  Kaum  hatte  die  Mutter  begonnen, 
so  licss  dns  Kind  vom  Weinen  und  von  seiner  grämlichen  Miene, 
richtete  sich  empor  und  Hess  sich  an  der  Hand  führen.  Der  VV'echsel 
der  Vorstellungen  erfasste  das  Kind,  es  vergass  seine  Müdigkeit 
vollständig  und  kam  ganz  gut  mit  nach  Hause.  Ja,  mit  Ausdrücken 
der  Freude  begleitete  es  die  Erzählungen  der  Mutter. 


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-   189  - 


Ganz  ähnlich  ^eht  es  im  Spiele.  Da  will  ich  ein  paar  Knaben 
zitieren,  die  ich  beobachten  konnte.  Sie  waren  nervös  und  blutarm 
und  sollten  sich  auf  dem  Lande  nach  und  nach  durch  Spaziergänge 
wieder  an  Anstrengungen  gewöhnen.  Das  hielt  schwer,  weil  sie  in 
der  Sommerhitze  schon  in  der  ersten  Viertelstunde  ermatteten  und 
nicht  weiter  wollten.  Der  Hanp  zum  Spiele  half.  Wir  sammelten 
noch  einige  Kameraden  um  uns,  fingen  an,  Spere,  Helme  aus  Fapier, 
Holzsabel  und  Gewehre  zu  machen,  rüsteten  uns  mit  Beilen,  Hämmern» 
Stricken  und  andern  Gerätschaften  aus  und  zogen  einmal  als 
Soldaten,  das  andere  Mal  als  Entdecker  in  die  Wälder  und  Felder 
hinaus.  Die  Wälder  des  Ortes  wurden  in  unserer  Phantasie  zu 
Urwäldern  Südamerikas.  Wir  suchten  nach  fremden  Tieren,  feind- 
lichen Urvölkern,  friedlichen  Farmern,  sahen  alle  Pflanzungen  und 
Tiere  der  heissen  Zone:  Palmen,  Brotfruchtbaume,  Leoparden,  Ttgtr, 
Jaguare,  Paradiesvögel  und  Kondore  ohne  Rücksicht  auf  geographische 
Genauigkeiten,  erschlugen  Löwen  und  fin-^pn  Affen,  bauten  Hütten, 
gruben  Höhlen  und  übf^rfielcn  im  Geiste  die  I.apferstätten  der 
Indiajicr.  Die  Kombinaliuaca  und  Variationen  wuciisen  niü  JindlüJ>e. 
Langeweile  und  Müdigkeit  gab  es  kaum  wieder.  Wir  liumten  der 
Vorstellung  ihr  Recht  ein.  Und  bis  zu  drei,  vier  Stunden  blieben 
die  Knaben  in  der  Sommerhitze  auf  den  Beinen  und  schleppten 
obendrein  ihre  Waffen  und  Beutestücke  mit  sich  herum. 

Ähnliche  Beobachtungen  wird  jeder  schon  gemacht  haben. 
Ich  betone  aber  an  dieser  Stelle,  dass  es  sidi  bei  der  Erhöhung 
der  Leistungsfähigkeit  nicht  um  eine  Stärkung  und  Stählung  des 
Willens  in  eigener  Funktion  gehandelt  hat,  sondern  lediglich  um 
eine  gesundheitliche  Forderung.  Dass  der  Junge  durch  das  Spiel 
körperlich  widerstandsfähiger  und  nebenzu  wülenskräftiger  wird,  das 
ist  eine  Sache  (Qr  sich  und  ist  mdir  den  Nebenumständen  als  dem 
Wesen  des  Spieles  zuzuschreiben.  So  glaube  ich,  dass  der  Kraft* 
Zuwachs  dem  Willen  nur  indirekt  oder  auf  Umwegen  zugute  kommt, 
vor  allem  durch  die  Stärkung  und  Gesunder^tung  des  freien 
Vorstellungswachstums. 

Soweit  diese  Wirkung  in  Betracht  kommt,  lässt  sich  allgemein 
behaupten,  dass  das  Spiel  zur  leiblichen  und  geistigen  Gesundung 
oder  Gesunderhaltung  und  Lebensfrische  unserer  Jugend  Wesent- 
liches  beiträgt,  und  dass  das  Spiel  im  Prinzip  dazu  geeignet  ist,  die 
Kräfte  des  Individuums  soweit  zu  üben  und  zu  vermehren,  dass  sie 
dann  noch  unverdorben  und  unverkrüppelt  sind,  wenn  so  nach  und 
nach  das  Stadium  der  Kindheit  übergehen  muss  in  das  Stadium 
einer  sittlich  freien  und  zweckmässigen  Selbstbestimmung. 


*)  Vgl.  Schilliag.  WUleosbUdong  tmd  Intereue  .  l'id.  btudiea  1908,  H«ft  4, 

a  «45  ff* 


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—   190  — 


Wir  werden  als  Pä(Ja<,'Oj^tii  zwar  das  Spiel  nicht  zum  all- 
gemeinen Zweck  des  Lebens  erheben  können;  doch  es  hat  seine 
Bedeutung,  und  allem  Anscheine  nach  ist  die  Pädagogik  eben  wieder 
in  ein  Stadium  eingetreten,  in  dem  man  auf  Grund  psychologischer 
Einsichten  dem  Kinderspiele  wieder  eine  grössere  pädagogische  Rolle 
zuweist  als  etwa  die  eines  ergötzlichen  Zeitvertreibes.  Und  wenn 
ich  mich  nach  dem  Prinzipe  frage,  um  deswillen  man  das  Spiel 
selbst  vom  Standpunkt  der  Schule  aus  wieder  wertet,  derselben 
Schule,  die  sich  früher  das  Kinderspielzeug  wie  Gift  vom  Leibe 
gehalten  hat,  so  komme  ich  auf  kein  anderes  als  auf  das  der  freien 
Produktion.  ^) 

Das  Kinderspiel  ist  eben  heute  schon  dem  wahren  Pädagogen 
nicht  mehr  platte  Nachahmung,  sondern  freie  Gestaltung,  freie 
Produktion.   Wir  in  München  verstehen  ja,  was  das  zu  bedeuten 

hat,    wenigstens   zunächst    in  dem  Sinne,    wie  unser  Schulrat 

Dr.  Kerschenstelner  etwa  die  produktive  Arbeit  auf  dem  Ticbiete 
des  Zeichenunterrichtes  erforscht,  gewertet  und  verwertet  hat.  Die 
kindhche  Produktion  ist  ein  Naturphänomen,  dem  die  Pädagogik 
m^r  als  bisher  Rechnung  tragen  muss. 

Schulrat  Dr.  Kerschensteiner  hat  kurzlich  in  dem  Vorworte  zu 

Reymund  Fischers  Elementar-Laboratorium  die  Aufgabe  der  Er- 
ziehung dahingehend  präzisiert,  dass  die  geistige  Entwicklung  des 
Kindes  nicht  auf  Zuschauen  und  Auswendiglernen,  sondern  auf 
produktive  Arbeit  gesteilt  werden  müsse.  Das  ist  die  Kenn- 
zeichnung eines  ganz  allgemein  gewordenen  pädagogischen  Strebens 
unserer  Zeit.  Heute  Hegt  überaU  der  Versuch  vor,  dem  alten 
Grundsatz  der  „Betätigung*'  einmal  sein  volles  Recht  einzuräumen. 

Die  produktive  Leistung  ist  in  erster  Linie  —  also  beim  Kinde  — 
eine  Selbstproduktion,  d.  h.  ein  psychisches  Wachstum,  das  ohne 
Rücksicht  auf  den  realen  Zweck  der  Sache  zur  Äusserung  und 
Gestaltung  drängt;  es  ist  eine  freie  Produktion;  es  ist  ein  Spiel  im 
weiteren  Sinne.  Wir  haben  kein  Recht  und  keine  Ursache,  diese 
freie  Produktion  zu  unterbinden  oder  vorzeitig  um  der  Durchftihrung 
systematischer  Lehrpläne  willen  abzubrechen.  In  gewissem  Sinne 
wird  das  Leben  erst  Leben  aus  dem  Spiel,  und  die  zweck- 
mässige Produktion  wird  ohne  die  freie  Produktion  ihrer  Grundlage 
entbehren. 


BetStiKiuic  de*  QomitleltMreB  InteKwe. 


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—   191  — 


m. 

Die  vielklassige  Schule, 
Nire  Vorteile  und  Nachteile,  und  andere  Organisationsfragen. 

Von  D.  HlaraiyMn,  Reklor  m  Lev, 
ScUnu. 

IV. 

Wenn  wir  der  ersiehlichen  Seite  der  Schularbeit  unsere 
Aufmerksamkeit  zuwenden,  so  tritt  uns  da  in  der  einklassigen 

Schule  ein  Faktor  entgegen,  der  anstandslos  als  ein  grosser  Vorzug 
bezeichnet  werden  muss,  den  aber  auch  nur  die  einkiassii^e  Schule 
für  sich  in  Anspruch  nchmea  kaiui:  es  ist  der  eine  Lehrer.  Ein 
WiUe  regiert,  ein  Vorbild  leitet  und  stützt  das  gesamte  Tun  und 
Werden  der  Schüler,  prägt  sich  ihnen  in  Lebensansichten,  ja,  in 
äusseren  Lebensformen  auf,  überschaut  ihr  Werden  von  Anfang  bis 
zu  Ende,  begleitet  sie  womöp^lich  noch  ins  Liternhaus  und  Leben 
hinein.  In  dieser  Ausprägung  kann  ein  Lehrerkollegium  auf  den 
einzelnen  Schüler  nicht  wirken,  da  muss  die  mehr*  und  vidklassige 
Schule  einen  Ausgleich  suchen  durch  eine  wohlgelugte  einheitliche 
Schulordnung,  die  nicht  nur  jedem  Lehrer,  sondern  auch  jedem 
Kinde  durch  Ge<vohnheit  sich  einprägt,  denn,  was  für  die  Einheit 
des  Unterrichts  der  Lehrplan,  das  ist  für  die  Einheitlichkeit  der 
Zucht  die  Schulordnung.  Das  längere  Zusammensein  mit  dem 
Kinde  erweckt  ohne  weiteres  Interesse  für  seine  Person,  seine 
Lebensfragen,  sein  Vorwärtskommen.  Diese  Möglichkeit  ist  auch 
dem  Lehrer  der  vielkJassigcn  Schule  dadurch  geboten ,  dass  er 
dieselben  Kinder  2,  3,  4  Jahre  und  länger  weiterführt.  Die  Durch- 
führung der  Schulklassen,  auf  die  wir  im  nächsten  Teil  zurück* 
kommen,  ist  keine  System-,  sondern  eine  Lehrplanfrage,  tmd  Vor- 
würfe in  dieser  Hinsiel) t  können  dem  vielklassigen  System  nicht 
aufgebürdet  werden.  Die  eingehende  Beschäftigung  mit  dem 
einzelnen  Kinde,  mit  seinem  P>gehcn  ausserhalb  der  Schule  hat 
stets  —  das  darf  nicht  vergessen  werden  —  eine  geringe  Schüler- 
und  Eltemzahl  auch  bei  der  einklassigfen  Schule  zur  schweigenden 
Voraussetzung,  und  bezüglich  des  Verkehrs  mit  dem  Elternhause 
kommen  manche  Momente  in  Frage,  wobei  das  System  der  Schule 
nicht  ausschlaggebend  ist.  —  Von  grosser  Br  d(  utniij:;  für  die 
Charakterent Wickelung  des  Kindes  ist  der  tagliche  Umgang  mit 
seinen  Mitschülern.  Iiütschüler  sind  verborgene  Miterzieher  1 
In  dieser  Hinsidit  ist,  theoretisch  betrachtet,  die  vielklassige  Schule 
im  Nachteil  gegen  die  wenigklassige.  Wo  3 — 600  Kinder  auf  einem 


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—    192  — 

Schulhofe  verkehren,  da  ist  das  Vorkommen  zweifelhafter  und 
schlechter  Elemente  prozentuell  {prösser,  die  Möglichkeit  des  bösen 

Vorbildes  in  Wort  und  Tat  naheliegender,  als  auf  dem  Schulplatze 
eines  friedlichen  weltfernen  Dorfes  mit  20— 6o  Kindern.  Es  ist  aber 
andererseits  keineswegs  ausgeschlossen,  dass  von  einem  cin/ip^en 
rohen  und  boshaften  Buben  bei  kleinerer  Kinderzahl  ein  weiter- 
gehender und  nachhaltigerer  Einfluss  ausgeht,  als  von  mehreren 
Taugenichtsen  auf  dem  Massenspielplatz,  deren  gefahrliches  Beispid 
leichter  in  der  Menge  untergeht  Für  die  Charakterbeeinflussung 
kommt  überhaupt  nicht  so  sehr  der  Spielplatz,  als  vielmehr  der 
Wohnort  in  Frage,  und  die  Gefahren  wachsen  mit  der  zunehmenden 
Grösse,  Volkszahl  und  industriellen  Entwickelung  d^  Schulbezirics. 
Die  mehrklassige  Schule  wbd,  soweit  ihre  Pmchten  in  Betracht 
kommen,  durch  eine  gute  Schulordnung  und  sorgfältige  pers&iliche 
Bcaufsichticrunp^  vollen  Ausgleich  schaffen  können.  —  Der  negativai 
Seite  der  Beeinflussung  ist  die  positive  zuzugesellen,  die  sich  in  dem 
freundlichen  Verkehr  der  Älteren  mit  den  Jüngeren,  in  der  Ueb- 
reichen  StQtze  der  Schwächeren  durch  die  Stärkeren,  besonders  in 
der  ein-  und  wenigklassigen  Schule  zu  äussern  die  Möglichkeit  hat 
Wie  im  Unterricht  das  ältere  Kind  als  Helfer  t'it\<^  ist,  so  wird  es 
auch  zu  Hause  seinen  jüngeren  Geschwistern  mit  Rat  und  Tat  zur 
Seite  stehen.  —  Wenn  die  hier  beschriebene  Art  des  Umganges 
der  Kinder,  soweit  es  den  Spielplatz,  die  Strasse  und  das  Hat» 
betrifft,  ein  besonderer  Vorteil  der  wenigklassigen  Schule  sein  soll, 
so  wäre  das  ein  Irrtum.  Uber  die  Hilfe  hinsichtlich  der  Schul- 
arbeiten kann  man  vom  pädagogischrn  Standpunkte  aus  aber 
durchaus  gegenteiüger  Ansicht  sein.  Man  darf  um  ethischer  Gesichts- 
punkte wUlen  nicht  loben,  was  man  von  pädagogischen  aus  tadeln 
muss:  die  Hilfe  bei  den  häuslichen  Aufgaben.  Zudem  lassen  wir 
dahingestellt,  wie  weit  ethische  Motive  die  Geschwister  zu  dieser 
Hilfe  treiben.  Berechtigtere  Frfolge  werden  durch  angemessene 
Wahl  und  Vorbereitung  der  Hausaufgaben  in  der  Schule  herbei- 
geführt. Was  endlich  das  Helfersystem  anbelangt,  so  wird  der 
Lehrer  der  mehrklassigen  Schule  gerne  auf  seuie  Anwendung  ver> 
ziehten,  da  das  eine  Schuljahr  seiner  Klasse  ihm  die  Möglichkdl 
der  eigenen  Hilfe  gestattet,  die  derjenige  mit  2 — S  Abteilungen 
durch  Kinder  ersetzen  muss.  Wir  dürfen  demnach  zusammen- 
fassend behaupten:  Die  vielklassige  Schule  bietet  für  die  Charakter- 
entwickelung der  Kinder  keine  besonderen  Gefahren  und  Schwierig» 
keiten;  sie  pflegt  und  fordert  die  erziehliche  Seite  der  Schularbeit 
in  demselben  l^mfange  und  in  der  gleichen  Art  wie  die  ein>  und 
wenigklassigen  Schulen. 

T. 

Mit  der  Zahl  der  Klassen  einer  Schule  muss  die  Zahl  der 
Lehrer  steigen.  Während  in  der  einklassigen  Schule  der  doe 


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—    193  — 


Lehrer  der  alles  Tuende,  Übersehende,  Leitende  und  Anordnende 
ist,  findet  sich  an  der  mehrklassigen  Schule  ein  Lehrerkollegiiini, 

das  um  so  zahlreicher  i^t,  als  die  Klassenzahl  der  Schule  grösser. 
Je  grösser  irgend  ein  Betrieb  ist,  desto  schwirrieyer  gestaltet  sich 
die  Übersicht  und  Durchsicht  betreffs  des  Ganzen,  während  ja  im 
einzelnen  das  Ganze  durch  Arbeitsteilung  in  Arbeitsgebiete  von 
beliebiger  Grösse  verkleinert  werden  kann.  Diese  Arbeitsteilung, 
d.  h.  Beschränkung  der  Arbeit  auf  ein  bestimmtes  Gebiet,  bringt  der 
vielkla-^sigcn  Schule  nun  —  so  wird  wenigstens  behauptet  —  den 
Nachteil,  dass  der  einzelne  Arbeiter  —  der  Lehrer  —  zwar  seine 
Klasse  individuell  behandeln  und  weiterführen  kann,  dem  ganzen 
Schulbetriebe  aber  ohnmächtig;  nichtwissend  und  deshalb  interesselos, 
bUnd  gegenüber  stehe  —  ja,  dass  diese  Interesselosigkeit  auch 
gegenüber  seinen  Klassenschülem,  die  nur  ein  Jahr  bei  ihm  durch- 
laufen, sich  ausprägen  müsse.  Diese  Behauptunt^^en  konnten ,  vom 
grünen  Tisch  aus  und  allgemein  betrachtet,  ja  richtig  sein,  aber 
ttire  Chrundlage  wird  ihnen  in  der  wirklichen  Praxis  entzogen. 
Tatsächlich  ist  es  in  den  meisten  Fällen  so,  dass  jeder  einzdne 
Lehrer  des  Knllpjrhims  teil  hat  an  der  Entwickelung  und  dem 
Betriebe  des  i^anzcn  Systems  durch  die  Ausarbeitung  des  Lehifilans, 
die  Konferenzen  und  den  täglichen  Umgang  mit  dem  Kollegium 
und  dem  kollegial  gesinnten  Schulleiter.  Femer  laufen  durchweg 
die  Schüler  nicht  nur  ein  Jahr  bei  ihm  durch,  sondern  er  kann  seine 
Jahresklasse  3,  4  und  mehr  Jahre  fortführen,  sodass  die  Möglichkeit  des 
Ansherzwachsens  gegeben  ist.  Andere  Formen  erfordern  andere 
Normen  1  und  notwendig  ist  allerdings,  dass  alle  mehr-  und  viel- 
Idassigen  Schulen  nch  die  vorgenannten  Nonnen  zur  Regel  machen. 
Notwendig  ist  die  Durchführung  der  Schulklassen  sowohl 
im  Interesse  des  I. ehrers  wie  der  Kinder,  wie  oben  gezeigt.  Über 
den  Umfang  der  Durchführung  gehen  die  Meinungen  noch  aus- 
einander; man  wünscht  sie:  für  je  2  Jahre;  für  3,  3  und  2  Jahre; 
lur  4  und  4  Jahre;  fiir  4,  2  und  2  Jahre;  für  alle  8  Jahre  usw. 

Unseres  Erachtens  muss  die  DurchAihrung  der  einseinen  Schule 
und  ihrem  System  individuell  angepasst  werden  unter  der  grund- 
sätzlichen Bedingung,  dass  die  Unter-,  Mittel-  und  Oberstufe 
mindestens  für  sich  durch  denselben  Lehrer  geführt  werden;  (t runde 
besonders  erziehlicher  Art  erheischen  aber  dringend,  dass  die 
Weiterfährung  auf  Unter-  und  Mittelstufe  ausgedeluit  wird.  Wenn 
wir  sonach  einer  Durchführung  bis  zu  5  Schuljahren  das  Wort 
reden,  so  erscheint  uns  die  Forderung:  bis  ans  Ende  hinauf,  zu  weit- 
gehend und  weder  im  Interesse  der  Kinder  noch  des  Lehrers  zu  liegen. 
Hier  reden  persönliche  Fragen  z.  B.  das  Alter  der  Lehrer,  der 
Lehrerwechsel,  die  Schulzucht,  femer  audh  sachliche  Erwägungen: 
Lebensverhältnisse  der  Kinder.  Ausbildungsziel,  Lehrplan-Übersicht 
und  -Durchsicht,  methodische  Sicherheit  und  pädagogische  Erfahrung 
eine  gegenteilige  Sprache,  des  Inhalts:  Die  Oberstufe  braucht  fiS 

FMacogiaebe  8iudi«ii.  XXX.  S.  13 


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—    194  — 


steh  eine  besondere  Durchfuhrung.  —  Notwendig  ist  in  erster  Uaie 
auch,  dass  die  volle  Selbständigkeit  des  Lehrers  in  setner  Klasse 

gewsihrt  und  seine  Selbständigkeit  im  Kollf^f^inm  nur  «owcit  ein- 
geschränkt wird,  als  sich  aus  der  ZuLjehori^^kcu  eines  einzelnen  zu 
einem  Gau/xa  iiaLur^euiäss  und  notwendig  crgibi. 

Die  vorerwähnte  Möglichkeit  der  Arbeitsteilung  bietet  aber 
auch  mancherlei  Vorteile,  die  die  wenigklassige  Schule  nicht  hat, 
sich  auch  nicht  zu  eigen  machen  kann,  die  sowohl  den  Schülern 
wie  den  Lehrern  selbst  zugute  kommen.  In  der  einklnssi^en  Schule 
muss  der  Lehrer  —  wie  oben  ausgeführt  —  allen  alles  sein.  N''.;n 
ist  aber  das  Mass  und  die  Richtung  unserer  Anlagen  und  Kiaiie 
sehr  verschieden:  der  eine  hat  besondere  Begabung  und  dem« 
entsprechend  Erfolge  hinsichtlich  der  Unterstufe,  ein  anderer  auf 
dem  Gebiete  eines  Unterrichtsfaches,  ein  dritter  im  Rat,  rin  vierter 
in  der  Tat.  Mrin  sieht  auch  ohne  nähere  Ausführung  dieser  Punkte 
und  ihrer  Konsequenzen  für  die  Einrichtung  des  Lehrpians«  dass 
ans  der  verschiedenen  Kräfte  vereintem  Streben  blühendes  Leben 
erwachsen  kann  und  dass  im  freudigen  Bewegen  alle  Kräfte  kund 
werden.  Sodann  bietet  das  vielklassige  System  die  Möglichkeit, 
die  Arbeit  des  pin/.elnen  Lehrers  zu  erleichtern,  einesteils  in  und 
bei  der  Arbeit  selbst,  andererseits  durch  Einschränkung  der  Stunden- 
zahl. Wie  aufreibend  ist  doch  die  Arbeit  in  der  einklassigen 
Schule,  wo  der  Lehrer  seine  Kräfte  nicht  auf  einen  Punkt  und  eine 
Abteilung  konzentrieren  kann,  sondern  sie  auf  2 — 5  Grruppen  gleich» 
zeitig  richten,  an  2—5  Materien  und  Gedankengängen  sie  zersplittern 
muss.  „Je  ungleichmässigcr  das  Schülermaterial  ist,  desto  schwieriger 
wird  der  Unterricht,  desto  problematischer  der  Erfolg,  desto  grösser 
die  Anstrengung  des  Lehrers."^)  Durch  eine  grössere  2UiM  von 
Unterklassen  mit  geringer  Stundenzahl  werden  mehr  oder  weniger 
Unterrichtsstunden  frei,  die  abzüglich  den  Lehrern  als  Freistunden, 
teilweise  aber  auch  den  Schülern  als  Nachhilfestunden  zugute 
kommen.  Der  Lehrer  an  der  einklassigen  Schule  wird  seine  volle 
Pftichtstundenzahl  bis  an  das  Ende  seiner  Dienstjahre  nicht  los. 
Und  noch  eins:  wenn  er  krank  ist,  so  kann  sich  niemand  der  ver- 
waisten Kinder  annehmen  in  der  mehr-  und  vielklassigen  Schulf« 
greift  ein  anderer  7.u,  entsprechend  dem  Motto:  heute  dir  morgen 
mir.  —  Und  wenn  es  nun  auch  Lehrer  geben  soll,  —  es  gibt  solche 
bei  uns  wie  in  jedem  Stande  —  die  ärer  Pflicht  in  vorbildlicher 
wie  unterrichtlicher  Beziehung  nicht  oder  nidit  genügend  nach» 
kommen,  so  sind  in  der  einklassigen  Schule  ganze  Generationen 
von  diesem  Einen  abhängig.  Die  mehrklassigc  Schule  hat  mehr 
Mittel,  den  Müssiggänger  anzuspornen,  den  Untüchtigen  dahin  zu 
stellen,  wo  er  am  wenigsten  schaden  kann.   Endlich  hat  die  viel- 


0  Pidacpciidie  Zditang  190$,  No.  4$,  NadoUe,  Zur  Oisramtion  pona  Sdu]- 
tjMtmt, 


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—    195  — 


Massige  Schule  weniger  unter  Lebrervakanzen  zu  leiden,  und  auch 
bei  Eintritt  solcher  braucht  der  Unterricht  nicht  wesentlich  gekürzt 

oder  gar  unterbrochen  zu  werden.  Wir  sehen  nach  allem,  dass  in 
der  mehr-  und  vielklassigen  Schule  die  den  Lehrer  betreffenden 
persönlichen  Verhältnisse  für  ihn  selbst  wie  lur  die  Schüler 
und  Schule  eine  günstige  und  befriedigende  Lösung  finden,  ja 
mancherlei  Vorteile  bieten,  die  die  ein-  und  wenigldassige  nicht 
hat  und  auch  nicht  erlangen  kann. 

Tl. 

Wenn  wir  nun  dem  Schulbetriebe  in  seiner  Gesamt- 
heit unsere  Aufmerksamkeit  zuwenden,  so  müssen  wir  daran  er- 
innern, dass  die  heutige  Kuiturwelt  mit  ihren  Anforderungen  und 
die  heutige  Volkszahl  mit  iliren  wachsenden  Kinderzahlcn  die  viei- 
klasstge  Sdiule  gezeitigt,  gefordert,  ja  aufgezwungen  hat,  sowohl 
in  Hohen-  als  Hori/.ontalgliederung.  Der  gegenwärtige  Schulbetrieb 
zeigt  je  nach  dem  Teilungsprinzip  alle  möglichen  Schulgattungen, 
Schulstufen  und  Schulklassen.  Man  teilt  die  Kinder  in  Rücksicht 
auf  die  mancherlei  physischen  und  psychischen  Mängel  und 
Gebrechen,  man  bat  reine  Knaben-  oder  Mädchenschulen,  nach 
Geschlechtem  gemischte  Schulen.  Immer  mehr  Gründe  und  Formeln 
findet  man  auf;  nach  denen  die  Schule  noch  zu  teilen  wäre  —  zur 
Zeit  handelt  sich's  vor  allem  um  die  Frage  der  Begabung.  Die 
Teilung  „schwach-"  —  „normalbegabt"  ist  nicht  minutiös  genug  — 
dazwischen  muss  liegen  „minderbegabt";  und  hierfür  die  neue 
Teüungsldasse  oder  Klassengruppe:  Förderldassen.  Ohne  auf  das 
psychologisdie  Mittelding  „Minderbegabung",  dessen  Grenzlinien 
nach  oben  und  unten  sich  schwerlich  sicher  abstecken  lassen,  und 
auf  die  aus  seiner  Aufstelhing  als  Klassenprinzip  sich  ergebenden, 
in  manchen  Orten  im  praktischen  durchgeiuiirlen  Konsequenzen 
naher  einzugdien,  möchten  wir  nur  im  Interesse  der  Kinder  den  Wunsch 
verlautbaren,  dass  die  Schulteilung  sich  nicht  weiter  in  der  Richtung 
ängstlicher  Gristrsmikroskopie  fortbewege.  Es  gelangen  die  Schulen 
in  konsequentem  Fortgang  auch  noch  zu  Hegabungs-Klassen  für 
Realien^  Zeichnen,  Rechnen-  überhaupt  für  sämtliche  Unterrichts- 
fächer, femer  zu  Fleiss-  und  Faulheitsklassen,  endlich  zum  Einzel- 
unterricht als  einzig  vollberechtigter  Unterrichtsform.  Richte  man 
lieber  alle  Kräfte  zu  dem  Ziele  hin,  die  Xormalklassen,  d,  h.  die 
Klassen  für  das  durchgängige  Gros  der  Kinder,  in  Schülerzahl, 
Stoff,  Methode  und  Technik  so  einzurichten,  dass  Sonderklassen  für 
kleinere  seetische  VerKhiedenheiten  keine  Berechtigung  haben. 

Eine  andere  der  Überlegung  werte  Frage  der  Gesamt- 
organisation ist  in  neuerer  Zeit  aufgetaucht,  dahingehend,  ob  Zwei - 
oder  Dreiteilung  dem  Stufensystem  zugrunde  zu  legen  sei.  Die 
Dreiteilung  ist  die  zur  Zeit  historisch  gewordene  und  berechtigte, 


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-   196  - 


die  behördlich  anerkannte  der  AÜfremeinen  Bestimmungen:  Unter-, 
Mittel-  und  Oberstufe  oder  nach  herkömmlicher  Unterscheidung 

die  Anschauungs-,  Übun^^-  und  Anwendun^sstufe.  ^)  Auf  lücses 
Teilungsprinzip  sind  sämtliche  heutigen  Lehr-  und  Stundenpläne  in 
Bezug  auf  Methode,  Stoff  und  Stundenzahl  zugeschnitten.  Daran 
zu  rütteln  wird  nicht  leicht  sdn.  Dennoch  sprechen  gewichtige 
Gründe  namentlich  psychologischer  Natur  für  eine  prinzipielle 
Zweiteilung  als  Grundlage,  nämlich  unter  Fortfall  der  Mittelstufe  nur 
eine  Unterstufe  als  Stufe  der  auf  Anschauung  beruhenden,  vorwiPt^'^nd 
gedachtnismässigen  Aufnahme  (Schuljahr  l — 4)  und  eine  Oberstufe 
als  Stufe  der  grösseren  Selbständigkeit  und  des  eigenen  Denkens 
In  Verarbeitung  und  Wiedergabe  (Schuljahr  $—8).  Die  Zweiteilung 
würde  zu  einer  wesentlichen  Veränderung  des  heutigen  Lehrplans 
fuhren,  würde  z.  B.  fordern,  dass  für  die  Unterstufe  (auch  3.,  4.  Schul- 
jahr: jetzige  Mittelstufe  b)  der  Katechismusunterricht,  der  syste- 
matisch getrennte  Geschichts-,  Geographie-  und  naturkundliche 
Unterricht  fortfiele  —  dafür  mehr  Stunden  auf  die  fundamentalen 
Fächer:  Lesen,  Schreiben,  deutsche  Sprache,  Rechnen  und  heimat- 
kundlichen Anschauungsunterricht  verwendet  würden.  Die  Frage 
ist  der  allseitigen  Durchleuchtung  und  Prüfung  wert  und  es  scheint, 
als  sei  die  Zeit,  in  der  man  in  behördhchen  und  parlamentarischen 
Kreisen  Über  die  Resultate  der  Volksschuleniehung  in  Zweifel  gerät, 
reif  iiir  ein  Aufrollen  derselben. 

Stellen  wir  nun  noch  die  Zahl  der  Klassen  in  den  Mittel- 
punkt der  Erwägungen,  denn  gerade  nach  dieser  Richtung  will  man 
mancherlei  Übclstände  als  Req^lcitcrscheinun^en  finden.  In  grossen 
Zentren,  wie  z.  B.  in  Berlm,  hat  man  die  Zahl  der  Klassen  an  einer 
Schule  durchschnittlich  auf  16,  in  vielen  Fällen  aber  auf  20,  24 
bis  32  vermehrt.  Da  redet  man  mit  Recht  von  Schulkasemen,  die 
eine  kasernenmässlj^^c  Systematik  Her  Gesamt-  und  Ivinzclnfbcit,  einen 
gewissen  Bürokratismus  in  Verwaltung  und  Leitung  naturgcniäss  nach 
sich  ziehen.  Noch  im  Jahre  1860  schrieb  Karl  Schmidt  in  seiner 
Enzyklopädie,  ^  dass  eine  Dorfschule  unter  keinen  Umständen  mehr  als 
3  Klassen  haben  dürfte.  „Die  grossartigeren  Schulanstalten",  sagte  s.  Z. 
Dörpfeld,  dessen  Schulideal  das  4  Klassensystem  war,  „mit  5,  8  und 
noch  mehr  Klassen,  die  wohl  gar  in  öfTentUchen  Blättern  als  deutsche 
Mustervoiksschulcn  gepriesen  und  von  ausländischen  Schulreisenden 
besucht  zu  werden  pflegen,  sind  in  meinen  Augen  leibhaftige  Schul- 
ungeheuer, oäds^rogische  Kasernen,  Bildungs&briken,  über  die  man 
nur  fragen  leann:  was  hindern  sie  das  Land?"  An  die  Notwendig- 
keit einer  so  weit  gehenden  Klassenbeschränkung  glaubt  heute 
wohl  kein  Mensch  mehr,  vielmehr  halten  die  meisten  Tädagogoi 


^)  Auf  jeder  dieser  Stufen  muss  angeschaut,  geübt,  angewendet  werden.  Diese 
Untencheidung  ist  durchaus  nicht  zutreffend.    D.  R. 

*j  finqrUopidie  des  geMuniDtcn  Ernehimgs»  and  Uoterrichtiwcieiii.   1859  bit  1S75. 


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—   197  — 


das  8  klassige  System  ab  die  voUkommenste  Schuloi^nisation* 

Ein  dahinlautender  Beschluss  wurde  zuerst  1878  auf  der  deutschen 
Lehrcrversammlung  in  Frankfurt  a.  M.  und  bis  heute  zuletzt  1907 
auf  der  hannoverschen  Frovinzial- Versammlung  in  Goslar  gefasst 
und  hier  folgendes  zum  Audruck  gebracht:  »Die  AufgaM  der 
Volksschule  kann  am  besten  in  den  Schulanstalten  gelöst  werden, 
in  denen,  der  geistigen  Entwickelung  des  normalen  Kindes  ent- 
sprechend, die  Zahl  der  aufsteigenden  Klassen  der  Zahl  der  Schul- 
jahre gleicht*'  Der  Beschluss  entspricht  ganz  den  psychologischen 
Grundlinien,  die  wir  anfangs  für  die  relativ  vollkommenste  Schul- 
teilung')  aufteilten.  Dem  zunächst  mit  dem  8  stufigen  System 
rivalisierenden  78tufigen  rühmt  man  besonders  eine  grössere 
MöMirhkeit  zur  Erreichung  der  I.  Klasse  und  bessere,  wiederholende 
Festlegung  des  Schulpensums  in  der  zwei  Schuljahre  fassenden 
Schlussklasse  nach.  Nach  eigenen  Berechnungen  gingen  beim 
7  stufigen  System  aus  Klasse  I  ab  1903  85^/0.  1904  8o°/o.  19^5  8o**/o» 
1906  83°/o,  1907  84°/4>,  1908  82%  aller  Vierzehnjährigen.  Das 
S\"^.tcm  i'^t  aber  allein  nicht  nus^rhlaggebcnd ;  es  können  hier  die 
mannigfachsten  hintlüsse:  Lehrerwechsel,  Systemänderung,  durch- 
schnittliche Gesamtbegabung  ganzer  Jahrgänge  mitreden.  Das 
letzte  Jahr  ist  nicht  nur  Repetitionsjahr,  sondern  hat  noch  manche 
wichtige  neue  Aufgaben  iiir  sich  zu  erHUlen.  U.  E.  kann  und  muss 
zu  den  8  Stufenklassen,  die  als  Systemzahl  gelten  sollen,  bei  Vor- 
hanHcnsein  gewisser  Notwendigkeiten,  wie  Überfüllung  einzelner 
Klassen,  Sonderpflege  der  Schwachen,  die  Möglichkeit  gegeben 
sein,  die  Stufenklassen  durdi  Einrichtung  von  ParaUdldassen  zu 
vermehren.  Doch  sollte  auch  mit  diesen  Nebenklassen  eine  Schule 
nicht  über  12 — 16  Klassen  als  Höchstmass  hinausgehen,  wenn  die 
Lehr-  und  Schülerinteressen  nach  allen  Richtungen  hin  gewahrt  und 
die  Ü  beistände  der  Schulkasernen  vermindert  werden  sollen.  Eine 
solche  Schule  würde  jedem  Schüler  die  Möglichkeit  bieten,  soweit 
zu  kommen,  wie  es  ihm  nach  seinen  Kräften  und  seinem  Wollen 
möglich  ist  Ein  solche  Schulbetrieb  gewährt  auch  sonst  mancherlei 
Vorzüge  sowohl  nach  aussen  wie  nach  innen. 

Nach  aussen:  Die  heutige  Zeit  fordert  schon  des  Ansehens 
wegen  ein  imposantes  Schulgebäude,  und  wenn  auch  die  Hülle 
nicht  der  Kern  ist,  so  sieht  man  doch  in  grosser  Klassenzahl  mit 
Recht  eine  Anwartschaft  auf  intensivere  und  weitere  Bitdung.  So 
beugt  auch  die  /irl klassige  Schule  in  den  Städten  der  Snrichtung 
besonderer  Vorschulklassen  für  die  höheren  Schulen  vor  und  rückt 
die  allgemeine  Volksschule  näher.  Erfahrungsgemäss  werden  die 
Oberklassen  vielklassiger  Schulen  von  manchen  Kindern  über  14  Jahre 
hinaus  besucht,  selbst  von  Freiwilligen  aus  benachbarten  Orten. 
Es  bricht  «ch  im  Volke  eine  Erkenntnis  des  Wertes  der  Volks* 


1)  Seile  137. 


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—    19«  — 


Schulbildung  Bahn,  die  vor  Opfern  an  Greld  und  Zeit  nicht  zurück- 
schreckt. Ein  grosses  Schulsystem  ist  stets  und  das  ist  ^on 
ausserordentlicher  Wichtigkeit  für  die  innere  Schularbeit  —  mit 
mehr  und  wertvolleren  Lehr-  und  Lernmitteln  ausgestattet.  Wie 
ausserordentlich  dürftig,  ja  traurig,  sieht  es  in  dieser  Beziehung  noch 
heute  in  vielen  ein-  und  wenigklassigen  Schulen  aus!  Überhaupt 
bedingt  es  die  (jrösse  des  Systems,  dass  der  panze  Beirieb  in  die 
Hände  von  Pädagogen  ^rlmgen  muss  und  von  andern,  ausserhalb 
der  Schule  und  des  Lehrerstandes  stehenden  Personen  nicht  mehr 
überschaut  und  dirigiert  werden  kann.  Vit  mehr-  und  vielklassige 
Schule  bringt  das  Prinzip  zur  Durchführung:  die  Schule  den  Päda- 
gogen! In  Betrachtung  dieser  Vorzüge  ruft  auch  ein  prinzipieller 
Vertreter  der  ein-  und  wenigklassigen  Schule  aus:*)  Die  mchr- 
klassige  Schule  überragt  nach  dieser  Seite  hin  weit  die  einkiassige, 
und  wir  dürfen  zusammefassen :  Der  Gesamtbetrieb  der  mehr- 
klassigen  Schule  dient,  wenn  eine  zu  grosse  Klassenzahl  vermieden 
wird,  zur  Hebung  der  Schularbeit  nach  aussen  und  nach  innen  und 
fördert  die  Selbständkeit  der  Vollcsschuie. 

Scblttss. 

Unsere  ganze  Abhandlung  hat  gezeigt,  dass  an  der  mehr-  und 
^nelklassigen  Schule  gewisse  Nachteile  gegenüber  der  wenigklassif^en 
prinzipiell  vorhanden  sind  und  in  praxi  vorhanden  sein  können, 
dass  sie  aber  keineswegs  vorhanden  sein  müssen  oder  im  System 
notwendig  begründet  sind,  sondern  ^etmelir  durch  pädagogische 
und  methodische  Massnahmen  vermieden  und  abgestellt  werden 
können.  Andererseits  ist  unbestreitbar  und  bewiesen,  dass  sie  \'ic!e 
und  bedeutsame  Vorzüge  besitzt,  zu  deren  Genuss  und  Verwertung 
die  ein*  und  wenigklassige  nie  kommen  kann.  Um  schöner 
Theorien  willen  darf  man  jedenfalls  die  Wirklichkeit  nicht  vericennen, 
und  man  muss  sich  der  Entscheidung  zuwenden,  weldie  die  grössten 
Wirklichkeitserfolge  gewährleistet.  Ks  wäre  gewagt,  nun  überhaupt 
heute  ein  für  alle  Mal  sagen  zu  wollen,  welches  Schulsystem  das 
absolut  ideale  und  beste  wäre,  und  welchem  sich  die  Zukunft  zu- 
wenden wird.  Die  Frage  der  Schulorganisation  wird  Lehrer,  wie 
Land  und  Leute  noch  lange  beschäftigen  1  Für  sie  passt  aber  auicb 
so  recht  das  Wort  des  Reichskanzlers  Fürst  Bülow:  „Es  kommt  in 
letzter  T  inie  weniger,  auf  Einrichtungen  und  Massregeln  an  als  auf 
Persönlichkeiten  1" 


0  Siehe  FoAHiote  3,  S.  136. 


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—   199  — 


IV. 

Moderne  Erziehungsroimuie. 

Von  M.  Sobeffel,  Dresden. 

„Das  zu  entwickelo,  was  Gott  in  den  Keim  gdq^ 
Ist  des  Endehe»  Amt,  WoU,  «cnn  er*«  iceht  erwi(t.'* 

Wahre  Kunst  muss  ihren  Inhalt  immer  in  ihrer  Zeit  finden, 
und  ein  wahrer  Künstler  schafft  niemals  losgelöst  von  seiner  Zeit. 
Er  spricht  zuerst  nur  das  aus,  was  unbewusst  in  der  Volksseele 
lebt  und  ans  Licht  drängt.    Biegsam  und  eindrucksvoll,  ein  Echo 

für  jede  Stimme,  fühlt  er  sich  leichter  hinein  in  das  äussere  und 
innere  Leben  eines  Volkes,  und  dann  kommt  ihm  das  Bedürfnis, 
aus  dem  Lmpiindcn  des  Volkes  zu  gestalten.  Alle  Gedanken  und 
Träume,  die  durch  die  Volksseele  ziehen,  werden  von  Künstler* 
herzen  aufgegriffen  und  von  Künstlerhänden  gestaltet.  So  hilft 
dann  der  Künstler,  dass  durch  seine  Darstellung  auch  in  den  Kreisen 
der  Nichtkünstler  das  dunkle  Empfinden  zu  immer  klarerem 
Erkennen  wird.  Das  gilt  von  der  bildenden  Kunst,  wie  von  der 
Dichtkunst 

Was  uns  Menschen  von  heute  bewegt,  die  grossen  Probleme 
und  die  kleinen  Sorgen,  die  Leiden  der  Menschheit  und  des  eigenen 
Herzens,  alles  verwebt  der  Dichter  in  seinen  Schöpfungen. 

Auch  der  Roman  soll  ein  Spiegelbild  seiner  Zeit  sein.  Er  soll 
die  Fragen,  die  ein  Volk  bewegen,  die  Aufgaben,  an  deren  Lösung 
es  arbeitet,  die  Schwächen  und  Mängel,  die  einer  Zeit  besonders 
eigen  sind,  zur  Darstellung  bringen  und  so  an  seinem  Teile  mit 
zum  Kulturfortschritt  seiner  Zeil  beitragen 

Zu  den  wichtigsten  Fragen  eines  Volkes  gehören  Bildungs-  und 
Erziehungsfragen,  die  darum  auch  zu  allen  Zeiten  im  Romane 
behandelt  worden  sind.  Von  den  bedeutendsten  älteren  Erziehungs- 
romanen erwähne  ich  nur  Rousseaus  „Emil",  Goethes  „Wilhelm 
Meister"  und  Kellers  Grüner  Heinrich",  Werke,  die  nicht  bloss 
hterarischen  Wert  haben,  sondern  auch  für  ihre  Zeit  wichtig  sind. 
Rousseaus  ».Kmil"  erschien  1762,  Goethes  „Wilhelm  Meister"  (I)  1795, 
Kellers  „Grüner  Heinrich"  1854.  Wie  Rousseau,  zu  dessen  Zeit  die 
Unnatur  in  jeder  Beziehung  herrschte,  in  seinem  „Emil"  das  Natur- 
evangelium der  Kr/iehung  predigt,  so  fordert  Goethe,  als  am  Aus- 
gang des  t8.  Jalirhunderts  die  innere  Hohlht  it  und  Haltlosit^keit 
der  damaligen  Kultur  erschreckend  klar  iiulage  trat,  als  das  alte 
Haus  zusammenstürzte  und  man  die  ersten  Steine  zum  Neubau 
zusammentrug,  eine  geschlossene,  im  Dienste  des  Ganzen  tätig« 


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—    200  — 


Persönlichkeit,  in  der  neben  dem  Lichte  des  Verstandes  besonders 
die  Fülle  des  Herzens  den  Ausschlag  gibt  und  den  Wert  bestimmt, 
und  so  zeidmet  Kdter  in  der  Bfitte  des  19.  Jahrhunderts,  als  nach 
den  Frühlingsstürmen  des  Jahres  1848  eine  starke  Emüchterungr 
und  Enttäuschung  eingetreten  war,  ein  Bild  jugendlicher  deutscher 
Welt-  und  Lebensauffassung,  in  dem  ungebrochenes  realistisches 
Lebensbegehren  mit  der  idealen  Anforderung  des  deutschen  Gemüu 
zu  innerer  Versöhnung  gebracht  ist 

Un  nun  zu  den  modernen  Erziehungsromanen!  Das  Wort 
„modern"  wird  in  sehr  verschiedener  Bedeutung  gebraucht  Modem 
ist  ein  Kleid,  eine  Frisur,  ein  Hut;  man  spricht  aber  auch  von 
moderner  Wissenschaft,  Kunst  und  Dichtuno;,  von  modcrricn 
Geschäftseinrichtungen  usw.  In  der  ersteren  Anwendung  ist  „modern" 
f^eichbedeutend  mit  „modisch",  ein  modernes  Kleid  ist  ein  modisches; 
in  der  letzteren  Anwendung  bezeichnet  modern  aber  alles  das,  was 
zeitgemäss  ist,  was  dem  Geiste  und  den  Anforderung"en  der  Gegen- 
wart entspricht,  was  von  dem  Überlebten  entschlossen  sich  ab- 
wendet und  den  Bedürfnissen  der  Gegenwart  gerecht  wird.  In  der 
letzteren  Bedeutung  haben  wir  unser  Thema  aufeufa^en  und  zu 
behandeln. 

Nicht  umsonst  nannte  Ellen  Key,  die  bekannte  Frauenrechtlerin 
und  schwedische  Soziologin,  die  zur  Krziehungs-  und  Schulreform 
energisch  Stellung  genommen  und  ihre  Ansichten  darüber  in  einem 
Buche  niedergelegt  hat,  das  infolge  der  radikalen  Anschauungen, 
die  es  vertritt,  das  höchste  Aufsehen  erregte,  unser  2^italter  das 
„Jahrhundert  des  Kindes".  Wieder  wie  in  den  Tagen  der  Herder, 
Goethe,  Schiller,  Kant,  Humboldt,  Fichte,  Arndt,  Pestalozzi,  Freiherr 
von  Stein,  Schleiermacher  wird  die  Erziehungstrage  zur  Sache  aller 
Volkskreise.  Da  treten  Männer  und  Frauen  auf  den  Kunsterziehungs- 
tagen zu  Dresden,  Weimar,  Hamburg  zusammen,  um  durch  die 
Erziehung  der  Jugend  neues  Leben  heraufführen  zu  helfen.  Aus 
allen  Teilen  des  Reiches  strömen  Laien  und  Fachleute  herbei  zu 
den  Tagen  für  deutsche  Erziehung,  um  in  der  Stadt  der  Klassiker 
mit  herzerfrischender  Begeisterung,  OfieiiheiL  und  Einmütigkeit  das 
Ideal  einer  deutschen,  uideutschen  Schule  zu  verkündigen.  Gelehrte 
und  Laien  beider  Geschlechter  vereinigen  sich  und  suchen  in  allen 
Schichtrn  der  Bevölkerung  die  Frkrnntnis  zu  verbreiten,  dnss  das 
Kind  ein  Gegenstand  höchster  Aufmerksamkeit,  liebevollster  hursorge, 
zärtlichster  Liebe  sein  muss.  Diese  Erkenntnis  hatte  zur  Folge, 
dass  man  der  Psyche  des  Kindes,  der  Psychologie  des  Einzelmenschen 
erhöhteres,  stärkeres  Interesse  zuwandte.  Mit  ehrfürchtiger  Andacht 
betrachten  wir  heute  die  ersten  leisen  Schritte,  das  frühe  Werden 
und  Wachsen  einer  Kindcrseele  —  auch  darin  spiegelt  sich  nur 
eine  Sehnsucht  unserer  vom  Hasten  und  Jagen  übermüdeten  und 
deshalb  wieder  nach  dem  Einfisidien  und  Ursprünglichen  sich 
sehnenden  Zeit 


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—  aoi  — 


Und  so  darf  es  nicht  Wunder  nehmen,  dass  auch  eine  neue 
pädagogische  Literatur  ihren  Platz  an  der  Sonne  sucht  in  Werken, 
Broschüren,  Zeitschriften  und  Reden,  in  Dramen,  namentlich  auch 
in  Erziehungsromanen  emster  Schriftsteller.  Der  moderne  Roman 
beginnt  wiraer,  nach  dem  Vorbilde  unserer  grossen  Toten,  die 
Darstelliinp^  seelischer  Entv/icklnnj;^  7a\  werden.  Wie  der  junge 
Mensch  m  die  Welt  tritt,  wie  er  mit  ihr  im  Guten  und  Bösen  fertig 
wird,  wie  ganze  Geschlechter  wachsen  oder  vergehen,  das  ist  das 
Thema  einer  ganzen  Reihe  neuer  und  neuester  Romane,  die  man 
mit  dem  Namen  „Entwicklungs-  und  Erziehungsroman"  zu  bezeichnen  . 
pflegt.  In  dieser  modernen  Romanliteratur,  macht  sich  wieder  eine 
stark  subjektive  Strömung  geltend.  Daher  blüht  der  bior:raphisch- 
individualistische  Roman,  in  dem  der  Verfasser  ein  Stuck  seines 
eigenen  persönlichen  Lebens  vor  uns  entrollt,  sei  es  direkt  in  der 
Ichform,  sei  es  unter  der  Masice  irgend  einer  erfundenen  Gestalt, 
eines  ,JH[elden".  Die  Erzähler  versenken  sich  mit  Andacht  in  die 
Erinnerung  an  ihre  Kinder-  und  Jugendjahre,  wandeln  mit  ver- 
träumten und  verzückten  Sinnen  in  diesem  Paradiese  und  können 
es  doch  nicht  verbergen,  dass  sie  nichts  weniger  als  seine  Wieder» 
kehr  wünschten.  Ja,  zwischen  den  Zeilen  dieser  Idyllen  blitzen 
nicht  selten  heftig  und  leidenschaftlich  vorgetragene  Reformgedanken 
fiir  die  Jugenderziehung  nuf  Icr  ['r/ähler  verwandelt  sich  in  einen 
Prediger  und  Agitator,  drr  mit  sciiu-n  ri:_;crH-a  Wunden  und  Beulen 
warnen  möchte,  die  kommende  Generation  denselben  dornigen  Weg 
gehen  zu  lassen,  den  er  selbst  hat  schreiten  müssen. 

Zweifellos  bt  das  schön  an  dieser  Bewegung,  dass  sie  Fragen, 
die  früher  nur  nls  ,,Fachfraf::;cn"  ?::-nlten,  in  ihrer  allgemeinen  Be- 
deutung erkennen  hilft.  Wenn  nun  auch  die  Dichter  der  praktischen 
Erziehung  im  allgemeinen  fernstehen  und  eigentlich  keine  „Fach- 
männer" sind,  also  Personen,  deren  Urteil  von  Fachkenntnis  nicht 
getrübt  ist,  so  sind  sie  doch,  gleich  den  Philosophen,  Seisucher 
und  Pfadfinder  der  Menschheit.  Auch  von  ihnen  kann  man  sagen: 
,J>er  Menschheit  Würde  ist  in  eure  Hand  p^'  j^cben."  Und  so  stellen 
sich  Aussprüche  oder  Darlegungen  über  Erziehung  aus  den  Tiefen 
gdstvoller  Nichtp&dagogen,  obgleich  sie  kein  pädagogisdies  System 
enthalten,  den  beruflichen  wissenschaftlichen  Erziehungsschriften 
doch  ergänzend  zur  Seite.  Manch  richtigem  Gedanken  wird  auf 
diese  Weise  die  Teilnahme  der  Allr^emeinheit  und  damit  der  Weg 
zur  Verwirklichung  eröffnet.  Wenn  aber  Erziehungsangelegenheiten 
in  Romanen  besprochen  werden,  so  ist  damit  noch  nicht  gesagt, 
dass  die  dort  vorgetragenen  Grundsätze  nun  auch  iicfatig  sind. 
Zweifelloa  müssen  die  belletristischen  Schriften,  die  Erziehungs- 
romane für  psychologische  Erkenntnis  niedriger  eingeschätzt  werden 
als  die  Beobachtungen  der  psychologischen  Vorgänge  durch  Männer 
wie  I  iedemann,  Sigismund,  Preyer,  i  crez,  SuUy,  Tracy  u.  a, ;  ihre 
Lektüre  ist  abor  d^  vieUach  anregend,  sei  es,  dass  man  den  oft 


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—  ao2  — 

unerwartet  scharfen  Blick  des  Verfassers  für  sreli^rhe  X'np.Tänj^c 
bewundern  kann,  sei  es,  dass  man  im  Cjcgensatzc  hierzu  erkennt, 
wie  leicht  gerade  auf  diesem  Gebiete  falsche  Beobachtungen 
gemacht  oder  aus  richtigen  Beobachtungen  falsche  Schlüsse  gezogen 
werden. 

\^on  bedeutenden  Entwicklunc^s  und  Kr/iehungsromanen,  an 
denen  man  nicht  achtlos  voriiherp^f  lu  n  kann,  nenne  ich:  J.  C.  Heer, 
Joggell,  H e r m a n n  Wette,  Krauskopi,  Otto  Ernst,  Asmus Sempers 
Jugendland,  Hermann  Anders  Krüger,  Gottfried  Kämpfer,  Emil 
Strauss,  Freund  Hein,  Hermann  Hesse,  Unterm  Rad,  Clara 
Viebi}:^,  Einer  Mutter  Sohn. 

„Joggeli"  ist  ein  Buch,  das  man  in  einem  Zuge  von  Anfang 
bis  zu  Ende  lesen  möchte,  so  spannend  ist  die  Schilderung,  so 
reizend  und  natürlich  seine  Sprache.  Zwar  Leser,  welche  grosse, 
absonderlich  verschlungene,  ungewöhnliche  Schicksale,  erschütternde 
oder  rührende  Begebenheiten,  effektvolle  äussere  Handlungen  er- 
warten, werden  wahrscheinlich  enttäuscht  sein  über  die  äusserlich 
harmlosen  und  unwichtigen  Ereignisse  und  Dinge,  die  sie  in  dem 
Buche  erzählt  finden.  Was  jedoch  in  den  Augen  dieser  Art  Leser 
als  ein  Nachteil  erscheint,  bildet  gerade  den  Vorzug  der  Selbst- 
biographie. Wohl  siii  i  <  s  kleine  Schicksale  und  Geschiditen,  wie 
sie  jedes  Kind  etwa  erlebt,  die  J.  C.  Heer  erzählt,  aber  er  stellt  sie 
dar  mit  einer  IJebe,  Gegenständlichkeit  und  .Anschaulichkeit,  mit 
einer  feinen  Beobachtungsgabe  für  kindliches  Wesen  und  kindliches 
Seelenleben,  mit  einer  reichen  Kenntnis  der  Kindes-  und  Jünglings- 
seele; über  den  Dingen  liegt  ein  solch  frischer  Glanz  der  Jugend- 
erinneninfT  dass  die  scheinbar  unbedeutenden  Geschichten  und 
Schilderungen  den  selbständigen  Reiz  fesselnder  künstlerischer  Dar- 
stellung erhalten  und  in  Tiefen  blicken  lassen,  die  dem  Menschen 
nicht  oft  erschlossen  zu  werden  pflegen.  .Joggeli"  ist  ein  Roman, 
den  jeder  Lehrer  mit  besonderem  Grenuss  und,  vom  psychologisch- 
pädagogischen Standpunkte  betrachtet,  auch  mit  Nutzen  lesen  wird; 
CS  ist  auch  ein  Ruch  für  Eltern  wie  kein  zweites,  und  die  Väter 
und  die  Mütter,  die  sich  nüt  schwer  zu  behandelnden  Kinder- 
charakteren abquälen  und  verzagen  möchten,  sollen  es  getrost  in 
die  Hand  nehmen;  sie  werden  Trost  und  Leliren  daraus  sdien. 
Das  Schlusswort:  „O  Heimat,  o  Jugend,  x>  Liebet"  konnte  man  über 
das  £;:anze  Buch  schreiben. 

In  „JoggeU"  hat  J.  C.  Heer,  der  gemütreiche  und  liebenswürdige 
Schweizer  Erzähler,  die  Geschichte  einer  Jugend,  seiner  Jugend, 
die  Erlebnisse  und  die  äussere  und  innere  Entwicklui^  seiner 
Innenwelt  in  Kindheit  und  Jugend  xom  Gegenstande  eines  fesselnden 
Romanes  gemacht.  Er  schildert  in  ergreifender  Weise  die  „Irrungen 
und  Wirrun^en  eines  befangenen  Menschenkindes,  das,  nur  dem 
Zuge  der  eigenen  Seele  folgend,  durch  seine  Tage  ging",  die  ganze 
Sturm-  und  Drangperiode  &es  schöpferischen  Talentes»  den  Werde- 


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—    203  — 


gang  eines  Dichters  vom  ersten  Dämmern  dieser  seiner  Bestimmung 
an  bis  zur  immer  deutlicher  werdenden  „Zielstrebigkeit",  ja  bis 
dahin,  wo  er  sich  siegreich,  wenn  auch  mit  schmerzlichen  Wunden 
bedeckt,  zur  Höhe  seines  aufwärts  führenden  Lebensweges  hindurch- 

fekämpft  hat.  Wir  erfahren,  wie  Joggeli  in  dem  wohlhabenden 
chweizerdorfeKrug(=Töss)  in  trauhchem  Heim  bei  guten  Menschen 
aufwächst.  P'in  frohes  Kind,  schweift  er  tiurrh  \V'.ild  und  Feld, 
lernt  das  Leben  der  Pflanzen  und  Tiere  kennen  und  beobachten 
und  speiät  so  seinen  Geist  mit  den  iiuidrücken  der  hcnnaüichen 
Natur  und  des  dörflichen  Lebens.  Aber  er  ist  ein  Kind,  das  seinen 
£ltem  schwere  Sorgen  macht.  Er  ist  ein  Tor,  ein  Träumer  und 
Phantast,  und  sein  in  sich  gekehrtes,  unbeholfenes  We-cn  trä^'t  ihm 
VcrkennuHj^',  Spott  und  Hohn,  wohl  auch  Mitleid  bei  Kameraden 
und  Dorfbewohnern  ein.  Für  das  praktische  Leben  von  vornherein 
als  untauglich  erachtet,  wird  er  auf  das  Gymna»um  der  benachbarten 
Stadt  —  Winterthur  —  geschickt.  Aber  er  ist  ein  seltsamer 
Gymnasiast,  von  allen  Seiten  drohen  ihm  Missverständnissc.  Selbst 
der  wackere  Vater  verzweifelt  schliesslich.  Und  doch  ist  Joggeli 
klug,  durstig  nach  Schönheit  und  hungrig  nach  Licht.  Aber  für  die 
Schablone  der  Schule  ist  er  schlecht  gemacht.  Dichter  zu  werden, 
war  seine  dumpfe  Sehnsucht;  über  dem  Reimschmieden  verpasste 
er  das  Lernen.  Vor  abgeschlossener  Studienzeit  vom  Gymnasium 
geschickt,  flieht  er  aus  dem  Elternhause,  so  dass  auch  in  Joggeiis 
Leben  nicht  ein  Kapitel  vom  „verlorenen  Sohne"  fehlt.  Der  Vater 
will  ihn  schon  preisgeben,  aber  die  Mutter,  die  ihr  Kind  noch  immer 
am  besten  verstanden,  rettet  ihn  und  bringt  ihn  auf  den  rechten 
Weg,  der  ins  Lehrerseminar  Kuosen  (=  Küssnacht)  am  Züriclisee 
mündet.  Zwar  «spinnt  er  auch  hier,  weil  der  Dichter  oft  hinderlich 
im  Wege  steht,  lucht  eitel  Seide,  findet  aber  doch  endlich  teil- 
nehmende Freunde  und  Lehrer,  ja,  einer  derselben,  der  selbst 
schriftstellerisch  tatig  ist,  erfasst  des  jungen  Mannes  dichterisches 
Talent  und  ermuntert  ihn  zu  fernerem  Schaffen.  Eine  stille,  feine 
KinderÜehe  spielt  hinein,  eine  Liebe,  so  still  und  fein  und  keusch, 
wie  dir  des  ,,(irünen  Heinrich"  7u  'icni  iioldscligen  Schulmeister- 
töchlcricm.  Joggeiis  Lehrcrcxamca  lallt  so  massig  aus,  da^  sein 
Vater  nicht  den  Mut  findet,  den  jungen  Mann,  wie  dieser  wünschte, 
auf  die  Universität  ziehen  zu  lassen.  In  einem  Bergdorf  beginnt  er 
seine  Laufbahn  als  vSchul!c!>rpr,  hat  aber  unter  c!cn  ktiOtigen  Ochsen- 
bauern bei  wachsenden  hntbehrungen  und  Demütigungen  einen 
recht  schweren  Stand.  Schliesslich  findet  er  den  Weg  zur  Freiheit. 
Krankheit  und  Mittellosigkeit  brechen  über  ihn  herein.  Ein  Aufent- 
halt bd  Verwandten  am  Adriatischen  Meere  gibt  dem  Halb- 
versicgten  die  Lebenslust  wieder,  gibt  ihm  Gesundheit  und  Tatkraft 
zurück.  Seine  Erholungszeit  benutzt  er  zu  fcuilletonistischen  .^.rbciten, 
die  ihm  den  Weg  in  eine  angesehene  Redaktionsstube  bahnen. 
Aus  einer  Reiseennnerung  von  früher  entsteht  der  Roman  „An 


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heiligen  Wassern".  Glücklich,  über  den  Pass  des  Journalismus  den 
Weg  zur  freien  Schriftstellerci  c^cfunden  zu  haben,  gedenkt  Joggeli 
an  diesem  Ziele  voller  Dankbarkeit  aller  derer,  die  ihm  geholfea 
und  ihm  in  schweren  Stunden  Beistand  und  Ermunterung  geschenkt 
haben. 

Das  Buch  enthält  so  recht  eine  praktische  Pädagogik,  eine 
echte  Laicnpädapof^ik.  Wenn  irgend  ein  Buch,  so  macht  dieses 
auf  das  schlagendste  anschaulich,  was  eigentlich  Heimatkunst 
ist  Alle  die  prächtigen  Menschen,  die  Joggeli  umgeben,  wandeln 
in  diesen  mit  dem  Herzen  geschriebenen  Blittem  aum  Greifen  nahe 
vor  uns:  die  Eltern,  denen  der  Verfasser  sein  Buch  in  liebevoller 
Pietät  gewidmet  hat,  und  sodann  die  vielen  Geheimerziehcr  Joggeiis. 
Die  Umgebung  des  Kindes,  die  persönliche  wie  die  unpersönliche, 
die  bcwusst  erziehende  wie  die  verborgen  mit  einwirkende,  sie  ist 
der  Schlüssel  für  viele  Erscheinungen  im  Charakter  joggeUs,  die 
ohne  Berücksichtigung  derselben  unerklärlich  sein  würden. 

Zunächst  ein  Wort  über  Jnrrrrelis  Erziehung  im  Eltern- 
hause! Da  ';ehcn  wir  die  Kcrngestalt  des  V'aters.  Der  kluge, 
tatkräftige,  charakterfeste,  helläugige  Vater,  der  aufrecht  durchs 
Leben  geht,  aber  vielfach,  durch  Bttufsgcsch&fte  gezwungen,  in  der 
Fremde  ..weilt,  greift  erst  später  in  Joggeiis  Leben  ein.  Er  ist  um 
seinen  Altesten  schwer  bekümmert  und  spricht  in  sorgenvoller 
Stunde  zu  ihm:  „Du  bist  ein  rechter  Exzenter,  ein  Rad,  dass  seine 
Achse  nicht  in  der  Mitte  hat  Gewiss,  es  braucht  Exzenter  in  der 
Industrie  und  im  Leben,  aber  noch  viel  mdir  nindlaufende  Rader; 
jener  hat  man  bald  genug,  und  nur  die  stärksten  Stücke  taugen, 
die  andern  kommen  in  den  Abfall,  grad  wie  die  meisten  Menschen, 
die  sich  fiir  etwas  Besonderes  halten  und  sich  nicht  in  das  schlichte 
Räderwerk  nützlicher  1  atigkeit  fügen  wollen.  Darum  wäre  es  besser, 
du  würdest  trachten,  kein  Exzenter  zu  sein."  Ein  Freudenstrahl 
bricht  aber  aus  seinen  blauen,  leuchtenden  Augen,  wenn  er  von  den 
Dichtungen  seines  Sohnes  sagt:  „Sie  gefallen  auch  mir,  sie  sind 
gesund  und  zeugen  von  Lebensverstand.  Ich  bin  überrascht,  wie 
du  ihn  dir  erworben  hast." 

Auf  die  Jugend  hat  niemand  grösseren  Einfluss  als  die  Mutter. 
Es  ist  kein  Zufsdl,  dass  fast  alle  grossen  Männer  mit  schwärmerischer 
Liebe  und  Verehrung  ihrer  Mutter  gedenken,  dass  sie  die  tiefsten 
Quellen  ihres  Seins  als  ein  mütterliches  Erbteil  betrachten.  Auch 
in  Joggeiis  Leben  war  die  Mutter,  die  strenge  und  doch  so  zart- 
fühlende Mutter,  eine  gar  tüchtige  Frau  von  peinlicher  Pflichtcrlullung 
und  grosser  Liebe,  der  weitaus  wichtigste  Erziehunesfaktor.  JoggeU 
selbst  schildert  uns  seine  Mutter  als  eine  Frau,  in  die  er  von  Anfang 
an  wegen  ihrer  unendlich  sonnigen,  braunen  Augen  verliebt  war, 
als  eine  Frau,  die  viel  dachte,  aber  wenig  sprach,  die  bei  aller 
Arbeit,  die  auf  ihr  lastete,  der  unerschütterliche  Vorsatz  beseelte, 
Joggeli  zu  einem  Jungen  zu  erziehen,  an  dem  Gott  und  die  Menschen 


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—    20S  — 


ein  Wohlgefallen  haben  können.  Höchst  einfach  waren  die  Mittd 
der  Emehung,  besonders  in  den  ersten  Lebensjahren:  Gewöhnung, 

Gewöhnung  und  abermals  Gewöhnung,  vor  allem  an  unbedingten 
Gehorsam.  JoggeHs  Mutter  zeigte  in  der  Forderung  des  Gehorsams 
eine  Ausdauer,  eine  Festigkeit,  wie  sie  die  Mütter  und  wohl  auch 
die  Väter  nidit  allzuhäuHg  besitzen.  Diese  Matter  zog  aber  im 
Kampfe  mit  ihrem  Kinde  nicht,  wie  es  so  oft  der  Fdl  ist,  den 
kürzeren;  sie  blieb  auch  gegen  die  Tränen  im  Auge  ihres  Kindes, 
gegen  die  das  vernünftigste  Herz  oft  nicht  gewappnet  Ist,  doch 
Sieger;  sie  konnte  aber  auch,  als  Joggeli  ungehorsam  gewesen,  so 
innig  beten:  „Lieber  Gott,  du  weisst,  wieviel  Hoffnungen  ich  auf 
meinen  Joggeli  s^ze.  Werni  andere  einen  Narren  aus  ihm  machen 
wollen,  so  lulf  du  mir,  dass  ich  ihn  zu  einem  rechten  Burschen  und 
Manne  erziehe,  meinem  fernen  Christoph  und  mir  zur  Freude. 
Amen."    Doch  hat  er  noch  viel  Herzeleid  über  seine  Mutter  gebracht 

Woher  steigen  die  ^ueiieu  des  Schicksals?  Die  Tiefen  sind 
unerfoischlich.  Niemand  kann  sagen,  warum  Joggeli  ein  Sonderling 
wurde  und  über  seine  Mutter  mehr  Sorge  und  Kummer  brachte 
als  seine  Brüder,  die  so  brav  geartet  waren  das-;  über  sie  kaum 
etwas  zu  melden  ist  Die  Mutter  aber  verlor  j  ie  den  Glauben  an 
ihren  Sohn,  so  dass  sie,  als  er  ans  Ziel  gekommen,  die  Hände 
faltete  und  sagte:  „Ich  wusste  es  ja  schon  als  junge,  glücldidie 
Mutter,  dass  mein  Joggeli  einmal  etwas  Rechtes  würde.'* 

Vielleicht  finden  wnr  einen  Schlüssel  für  Joggeiis  Jugendwesen 
auch  in  den  geheimen  Miterziehern,  die  auf  ihn  einwirkten.  Neben 
den  Brüdern,  dem  Onkel,  der  sich  am  liebsten  Vetter  „TeigafT' 
nennen  liess,  war  es  dn  Vierfolatt:  die  blonde,  weichherzige  Ms^ap 
lena,  <£e  Schwester  des  Vaters,  die  dunkle,  feurige  Susanna,  die 
Schwester  der  Mutter,  und  zwei  muntere,  liebliche  Bäschen,  die 
sich  darum  stritten  wer  dem  Kleinen  die  Liebesdienste  erweisen 
dürfe,  die  em  Bublein  in  den  ersten  Jahren  notwendig  hat,  die  ihm 
so  viel  Volkslieder  vorsangen,  als  er  sich  wünschte,  und  sich 
bemühten,  von  der  ganzen  Verwandtschaft  unterstützt,  ihn  aufs 
redlichste  zu  verziehen. 

Auch  im  grosselterlichen  Hause  finden  wir  einen  Schlüssel  für 
Joggeiis  träumerisches,   grübelndes  Wesen.    Da  grüssen  wir  eine 


lichte,  doch  auch  geheimnisreiche  Gestalt:  die  Grossmuttcr.  Die 
Grossmutter  ist  eine  schlichte  Bauerin,  zugleich  aber  eine  gedanken- 
reiche, biedere  und  sagenkundige  Frau;  sie  ist  die  tiefinnnige 
Philosophin  im  Bauemdorfc,  die  Gottes  Frieden  im  Herzen  am 
höchsten  hält.  Das  Bild  der  Grossmutler  mit  ihrem  geheimnisvollen 
Wesen  und  ihren  bedeutungsvollen  Liedern,  deren  tiefen  Sinn  unser 
Dichter  sp&ter  an  sich  selbst  erfahren,  hat  er  mit  besonderen  Augen 
der  Lid>e  entworfen.  Die  seltene  Frau  mit  jenem  sonnigen  Humor» 
der  :!uweilen  ihr  run/liches  Gesicht  verklärte,  umgab  stets  ein 
„Sonntag  von  eigenartigen,  schönen  und  grossen  Gedanken",  aus 


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deren  Fülle  sie  Joggeli  gerne  schenkte.  Besonders  gern  lauschte 
er  den  Erzählungen,  Bauernregeln,  Sinnsprüchen,  religiösen  und 
weltlichen  Liedern,  mit  denen  die  alte  Frau  ihre  Hantierungen 
umgab.  In  den  Kammern  des  ^rosselterlichen  traulichen  Heims 
hatte  sich  ein  Arsenal  merkwürciiger  Dinge  aufgespeichert.  Da 
standen  grosse,  blumig  bemalte  Schränke,  in  denen  verblichene 
Uniformstückc  und  al^elegte  Trachten  hingen,  alte  Wehr  und  Waffen 
lagen,  in  denen  es  aber  auch  allerlei  Gedrucktes  und  Geschriebenes 
gab,  alte  Schul-  und  Gesanj^bücher,  Pergamente,  wohl  meist  Kauf- 
verträge, aus  vergangenen  Jahrhunderten,  mit  kunstvollen,  fast 
handgrossen  Staatssiegeln  und  angehängten  Urkundenkapsdn,  dazu 
Hefte  und  Examenschriften  mit  altvaterischen  Zierbuchstaben  und 
die  Liebesbriefe  verschiedener  Geschlechtsfolgen.  Während  die 
jüngeren  Brüder  sich  besonders  erfreuten  an  dem,  was  von  Metal! 
war  oder  als  Werkzeug  dienen  konnte,  wandte  Joggeli  seine  Neigung 
namentlich  den  alten  Pergamenten  und  Papieren  zu.  Von  den 
Urkunden  riss  er  die  schönen  roten  Siegel,  die  auf  einer  zierlich 
gepackt*™n  Pnpierunterlap^e  ruhten  und  in  ifirem  Geprä<^e  die 
Gestalten  dic;ri  Heiligen  wiesen,  die  ihre  abgeschnittenen  Kopfe 
auf  den  Händen  trugen.  Er  betrachtete  die  Heiligen  mit  ehr- 
fürchtigem Staunen.  Doch  einer  der  stärksten  Ströme  ^ing  von 
dem  geheimnisvollen  Wesen  der  Grossmutter  auf  den  Enkel  über, 
aus  ihren  Worten  und  Liedern  entwickelte  sich  in  ihni  ein  bohrender 
Forschertrieb,  und  wie  weit  sie  ihm  auch  mit  Scherzrede  und 
freundlichem  Ernst  entgegenkam,  so  war  ihm  doch,  die  Dcnkerm 
gebe  sich  nicht  aus,  sondern  behalte  viele  grosse  und  schöne 
Geheimnisse  für  sich.  Damm  suchte  er  den  Zusammenhang  der 
Dinge,  die  in  seinem  Sehbereiche  lagen,  auf  eigene  Faust  zu  er- 
gründen, und  da  er  die  Gedanken  der  Grossmutter  oft  zu  wörtlich, 
Scherz  für  Ernst,  dichterische  Bilder  für  Wirkiichkeitsmünze  nahm, 
fiel  er,  ein  kindlicher  Tor  oder  kleiner  Philosoph  —  wie  man  grad 
min  —  auf  die  absonderlichsten  Vorstellungen. 

Der  Grossvater  war  eine  gedrungene,  zahkräftige»  sdiweigsamc 
Ge<=ti!t  Bei  ihm  war  für  einen  neugierigen  Buben  nicht  viel  mehr 
zu  iiolcn,  als  ein  freundliches  Gewähretilassen  in  allen  Dingen.  So 
durite  sich  der  unverstandige  Joggeli  sogar  an  alten  staatsmässigen 
Kanzleibogen,  an  den  zierlich  veischnörkelten  Examenschriften  und 
an  den  Liebesbriefen  steinalt  gewordener  Basen,  wie  er  die  Papier» 
schätze  eben  grad  in  den  alten  Kammern  aufstöberte,  vergreifen. 
Auf  die  nicht  beschriebenen  Stellen  malte  er  wintertagelang  mit 
dem  Bleistift,  was  ihm  einfiel,  mit  Vorliebe  krumme,  in  sich 
geschlossene  Linie. 

Zu  den  geheimen  Miterziehern  Joggeiis  gehören  auch  die 
interessanten  fahrenden  I-eute.  durch  deren  Erzählen  das  Kind 
zuerst  zum  Fabulieren  angeregt  wird,  gehört  auch  der  geschichten- 
reiche Samenmann  aus  Schwabenland,  der  aus  des  kleinen  Joggeiis 


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—  2o; 


wahren  aufleuchtenden  Augen  dessen  Dichterzukunft  liest  und  die 

schicksalsschwere  Prophezeihung  ausspricht:  der  wird  ein  Geschichts- 
schreiber und  Ticderflichter,  und  wenn  cr's  net  wird,  Will  i  nct  der 
Samenhändler  Schuhmacher  aus  Göppinp^en  sein!" 

Und  unter  Joggclis  Jugendji^espiclcn  begegnen  wir  jener  lichten, 
lieblichen  Mädchengcstait  der  FriedH  und  mit  ihr  der  Geschichte 
einer  keimenden  Jugendliebe,  die  Joggeli  auch  in  die  Lehijahre 
hinein  begleitet  Friedli  glaubt  an  ihn  und  hält  treu  an  ihm,  bis 
dem  Finden  ein  Verlieren  folgt:  das  süsse  Friedli  stirbt,  und 
Joggeiis  Schmerz  wandelt  sich  in  eine  Menge  Lieder  auf  der 
Geliebten  Tod.  An  dem  Grabe  der  unvergessenen,  früh  von  dieser 
Erde  abberufenen  JugendgelielHien  hat  Joggeli  sich  geschworen,  «n 
fiir  das  Schöne  ringender  Mann  zu  werden. 

Aber  auch  in  das  Idyll  dieses  Jugendlebens  ragten  Schatten 

hinein,  die  so  manches  andere  schon  verdunkelten,  Beklemmungen 
aller  Art,  die  beispielsweise  dem  jugendlichen  Träumer  aus  schlechten 
Schriften  erwuchsen  und  ihn  in  den  Bann  einer  Phantastin,  der 
Kartenschlägerin  Lu  Teifelein  fiihrten. 

Das  waren  die  Eindrücke,  die  Joggeli  aus  dem  nächsten  Kreise 

seiner  Umgebung  empfing  und  die  geeignet  waren,  griiblerische 
Gedanken  in  ihm  zu  wecken  und  ihn  ZU  einem  Träumer,  einem 
Narren,  wie  viele  meinten,  zu  machen. 

VV'eiter  empfing;  Joggeli  die  ersten  Eindrücke,  die  immer  neue 
Interessen  und  Schanenstriebe  in  ihm  weckten  und  wach  erhielten,, 
in  der  Natur.  „Der  Müssiggang  ist  aller  Laster  Anfang",  vielleicht 
aber  auch  der  Anfang  aller  Kunst  Wenigstens  hatte  Joggeli  das 
Bcwusstscin,  sein  Lieblingszeitvertrcib ,  das  Spazierengehen  und 
Flanieren,  fördere  ihn  in  allerlei  Wissenswertem.  Auf  seinen  ein- 
samen Gängen  betrachtete  er  tiefsinnig  das  Wurmmehl,  das  aus 
hohlen  Bäumen  rieselt,  den  grünen  Mistelbusch  mit  weissen  Beeren, 
der  auf  alten  Obst>  und  Waldbäumen  wuchert,  die  Quelle,  die  aus 
dem  Tufstein  weint,  die  Maililie  und  den  Frauenschuh  in  ihrem 
Schweigen,  die  Tollkirsche  in  ihrem  falschen  Glänze  die  am  Himmel 
stehenden  Sterne,  und  alles  sprach  wunderbar  zu  semer  Träumer- 
seelc." 

Was  will  uns  Lehrern  das  sagen?  Es  ist  eine  der  erfreulichsten 
Wirkungen  der  neuen  pädagogischen  Bestrebungen,  dass  sie  uns 

zwingen,  dem  Kinde  klarere,  reichere  Naturanschauungen  zu  ver- 
mitteln. Alle  grossen  Dichter  und  Künstler  stehen  in  engster  Ver- 
bindung mit  der  Natur;  sie  ist  die  Quelle,  aus  der  sie  immer  wieder 
Frische  und  Kraft  trinken.  Alle  echte  Kunst  geht  von  der  An- 
schauuf^,  von  sinnfichen  Vorstellungen,  von  anschauender  Erfahrung 
aus.  J.  C  Heer,  der  Schriftsteller  und  Dichter,  wäre  das  nicht 
geworden,  was  er  tnts^rhlich  ist,  hätte  er  nicht  in  seiner  Kindheit 
und  Jugend  seinen  Geist  genährt  im  Anschauen  der  Natur.    £r  gibt 


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uns  nicht  etwas  ganz  Neues;  was  er  gibt,  rückt  er  nur  aus  dem 

Dämmer  seiner  Seele  ins  helle  Licht  des  Bewusstseins. 

Verleg^en  wir  darum  die  Schule  so  viel  wie  möglich  aus  den 
vier  Mauern  hinaus  in  den  Garten,  auf  die  Strasse,  in  Wald  und 
Feld,  ins  Freie!  Ks  ist  ein  Unterschied,  ob  ich  dem  Kinde  den 
blühenden  Apfelbaumzweig  zur  Betrachtung  in  die  Hand  geb^  oder 
ob  es  von  Tag  zu  1  ag  sieht,  wie  die  kleine  dunkle  Winterknospe 
schwillt  und  schwillt,  sich  bäumt  und  weitet,  und  eines  Morgens  im 
Sonnenschein  die  schimmernde  Blüte  die  Hülle  sprengt.  Welch 
ein  Unterschied,  ob  ich  dem  Kmdc  ein  Vogelnest  in  der  Klasse 
zeige,  oder  ob  es  an  einem  Busche  steht,  vorsichtig  leise  die 
Zweige  zurückschlägt  und  nun  mit  pochendem  Herzchen  in  das 
lebendige  Wunder  schaut!  Wie  und  wo  sich  die  Dinge  in  der 
Natur  vorfinden,  wie  sie  werden  und  wachsen,  wie  sie  leben,  das 
muss  das  Kind  sehen.  Der  natürliche  Zusammenhang  der  Dinge 
ergreift  den  mensdilidien  Geist  und  das  menschliche  Herz  gewaltiger 
und  nachhaltiger,  als  irgend  ein  menschlicher  Gedankenbau,  als 
irgend  ein  aufgebautes  System.  Der  Lehrer  der,  mit  seinen  Schülern 
eine  Pflanze  im  Garten  umstehend,  an  der  Hand  dieser  Pflanze  und 
im  innigen  Zusammenhange  mit  ilir  eine  chemische,  eine  physikalische, 
eine  meteorologische,  eine  geographische,  eine  gärtnerische  Unter- 
weisung erteilt,  gibt  seinen  Zöglingen  ein  Eilebnis,  das  sich  mit 
mancherlei  Wuizeln  in  die  Seele  gHLbt;  derjenige  Lehrer  dagegen, 
der  heute  von  der  Haarröhrchenanziehung  und  ein  anderes  Mai, 
ohne  inneren  Zusammenhang  damit,  von  ihrer  He  Icutung  für  das 
Pflanzenleben  spricht,  gibt  im  besten  Falle  Lehren.  Darum  hinaus 
ins  Freie l  —  Das  bt  das  ganze  Geheimnis  der  pädagogischen 
Erneuerung.  Eine  Wiese,  ein  Gehöft,  ein  Acker,  an  dem  ein  Strom 
oder  ein  Bach  vorübcrflicsst,  umschliessen  so  vieles,  was  ein  Mensch 
leinen,  wissen  und  brauchen  kann,  und  lehren  dieses  Wissen  und 
Können  durch  die  Tat. 

Auch  ein  solcher  Unterricht  wird  vom  Schüler  Anstrengung 
und  Ausdauer  verlangen.  Man  kann  nicht  „alles  spielend  lernen", 
wie  Erziehungsanarchisten  und  philanthropische  Schwarmgeister 
uns  glauben  machen  wollen;  lernen  und  sich  vollenden  wird  niemals 
ohne  Mühe  und  oft  nicht  ohne  harte  Muhe  sein.  Aber  Mühe  schliesst 
Freude  nicht  aus,  im  Gegenteil:  aus  der  Mühe  erblüht  sie  in  den 
reimten  und  kräftigsten  Farben.  Sollen  die  Mühen  unserer  Kinder 
aber  frohe  Mühen  werden,  so  müssen  sie  minder  erzwungen  sein. 
Die  Zukunft  unserer  Erziehung  liegt  im  Freien  und  in  der  Freiheit, 
im  Schauen  und  in  der  Tat  Die  Anschauung,  die  hier  gewonnen 
wird,  ist  nicht  eine  papierene  Anschauung,  die  statt  der  Gegen- 
stände nur  Bilder  gibt  Verlassen  wir  doch  nicht  zu  früh  die  An- 
schauung um  der  abstrakten  Lehre  willen  1  Wo  aber  keine  An- 
schauungen sind,  da  ist  keine  Klarheit,  und  wo  keine  Klarheit  ist, 
da  ist  weder  Freude  noch  Freiheit  des  Geistes. 


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—    209  — 


Und  noch  ein  Gedanke,  der  sich  beim  Lesen  dieses  Romanes 
aufdrängt!   Mit  der  Schulseik  beginnt  Joggdis  Leidenszeit  —  er 

wird  nicht  verstanden  von  seinen  Lehrern  Wahrlich  wenn  man 
die  Schul-  und  Lernzeit  Jo^g^elis  in  der  I Dorfschule,  im  Gymnasium 
und  im  Seminare  überbUckt,  dann  fällt  einem  das  Wort  schwer 
auf  das  Gewissen:  „Kinder  sind  Rätsel  von  Gott  und  schwerer 
als  alle  zu  lösen;  aber  der  Liebe  gelinget 's,  wenn  sie  sich  selber 
bczwing-t."  Ein  wunderbarer  Zauber  liegt  über  dem  Gchrimnis  der 
Kindesnatur,  der  immer  aufs  neue  anlockt,  dieses  (jeheimnis  zu 
ergründen.  Seit  i'lato  und  Aristoteles,  Locke  und  Leibniz,  Hegel 
und  Herbart,  Fechner  und  Lotze  haben  die  Philosophen  sich  redlich 
abgemüht,  dieses  Greheimnis  zu  enthüllen,  den  Inhalt  desselben  in 
eine  präzise  Form  zu  fassen;  aber  wie  interessante  Aufschlüsse  sie 
uns  auch  dargeboten,  der  innerste  Kern  jenes  Geheimnisses  ruht 
noch  immer  im  magischen  Dunkel  wie  zuvor.  Wie  verschieden  an 
Art  und  Fülle  der  Gaben,  der  Neigungen  und  Abneigungen,  der 
Tugenden  und  Untugenden  zeigen  sich  nicht  oft,  wie  wir  im  Eltern- 
hause  Joggeiis  sehen,  die  Kinder  eines  Elternpaares!  Daher  nahe 
sich  der  Erzieher  dem  Kinde  als  einem  Rätsel  mit  Respekt  vor  der 
geheimnisvoll  waltenden  und  sich  bezeugenden  Kraft  und  studiere 
mit  heiligem  Ernste  an  der  Lösung  dieses  fleischgewordenen  Rätsels. 
Die  Kenntnis  einiger  allgemeiner  Erfahrungssätze,  einiger  pada« 
gogischer  Prinzipien  und  Maximen  reicht  nicht  aus,  jedes  beliebige 
Kind  danach  beurteilen  und  damit  erfolgreich  leiten  zu  können. 
Nur  bei  gründlicher  und  ausdauernder  Erforschung  jeder  einzelnen 
Kindesindividualität  wird  der  Lehrer  in  das  Geheimnis  jedes  einzelnen 
dieser  Rätsel  nach  und  nach  einzudringen  vermögen  und  das 
Gemeinsame  und  Verwandte  dieser  Einzelrätsel  erkennen  können, 
ai!s  beiden  aber  Mittel  und  Wege  zu  einer  fruchtbringenden 
Erziehung  gewinnen  lernen. 

Für  die  Eltern  aber  birgt  das  Buch  „Joggeli"  den  Trost,  an 
einem  Kinde,  das  ihnen  in  der  S<^ule  Soige  macht,  nicht  zu  ver- 
zweifeln. Nicht  jeder  Primus  in  der  Schule  zeigt  sich  als  Primus 
im  Lehen,  und  manche  von  denen,  die  oft  auf  der  Schulbank  uns 
wie  em  Rätsel  angestarrt,  das  all  unsere  pädagogis  he  Kunst  nicht 
lösen  konnte,  manche,  die  nicht  auf  den  ersten,  sondern  nicht  selten 
sogar  auf  den  bescheidensten  Plätzen  gesessen  haben,  erweisen  sich 
im  Leben  als  die  tüchtigsten  Menschen. 


Als  einen  weiteren  Erziehungsroman,  der  zugleich  kultur- 
historische Bedeutung  hat,  ziehe  ich  in  Betracht  Hermann  Wettes 
Krauskopf. 

Hermann  Wette  —  praktischer  Arzt  in  Köln  —  ist  Münster- 
länder, gehört  also  einem  Menschenschlag  an,  der  durch  seine 
Urwüchsigkeit    und    Bodenstandigkcit   seinesgleichen    in  unserm 

Pidagogwobe  äMidi<>ii.   JLXX.   S.  14 


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210 


deutschen  Vaterlande  sucht.  Damit  ist  von  vornherein  schon  eine 
Kratt  und  Naturwuchsigkeit  gewährleistet,  die  erquickt  wie  eines 
Quelles  frischer  Labetrunk.  Wette  ist,  das  gilt  besonders  vom 
I.  Teile,  ein  Meister  der  Daistdlungskunst;  seine  Sprache  ist  glodisam 
ein  Idarer,  sprudelnder  Bach.  Und  so  haben  wir  vor  uns  ein  Buch, 
das  ernste  Gedanken  anregt  und  doch  das  Herz,  das  ohne  Hinterhalt 
mitgeniesst,  fröhlich  macht  {„Ja,  beim  Krauskopf  kann  man  lachen, 
wenn  man  das  Lachen  noch  nicht  ganz  verlernt  hat  Und  reine 
Luft  weht  dort  Reine  Luft  aber  und  herzliches  Lachen,  sie  tun 
dem  Menschen  gut,  sie  sind  ihm  gesund'*);  es  ist  ein  Buch,  das 
verstandige  Eltern  nicht  anders  als  mit  Gewinn  und  Dank  lesen 
können.  Krauskopf  ist  ein  deutsches  Buch,  ein  Buch  der  echtesten 
Heimatkunst  —  Land  und  Leute,  Volksglaube  und  Volksbrauch  des 
eigenartigen  westfälischen  Gaues  sind  mit  offenbarer  Liebe  gezeichnet 
—  ein  Buch,  das  auch  umstrahlt  ist  von  dem  Sonnenscheine  dnes 
herzwarmen,  tiefen,  sprühenden  Humors,  eines  oft  derben,  aber  nie 
verletzenden  Humors,  eines  Humors,  der  darum  jeder  Bitterkeit 
und  Schärfe  entbehrt,  weil  er  auf  innigem  Ernste  ruht  und  uberall 
vom  Geiste  der  Liebe  durchwaitet  ist^  es  ist  ein  iiucii  vüü  freier, 
frommer  Gedanken,  in  seiner  Gesamtwirkung  manchmal  geradezu 
erbaulich  im  besten  Sinne. 

Das  ganze  Werk  stellt  eine  Lebensgeschichte  dar,  und  in  der 
Entwicklungsgeschichte  dieses  Sprösslings  aus  Westfalenland,  dem 
katholischsten  Teile  Deutschlands,  wo  man  auf  die  „luttersken 
Dicidcöpfe  und  auf  Bismarck  schimpft'*  erleben  wir  zugleich  auf 
kulturhistorischem  Hintergrunde  die  Neubegründung  und  Entwidduog 
des  jungen  Deutschen  Reiches  mit,  spiegelt  sich  die  Ära  Bismarcks 
ab,  soweit  sie  die  Ära  des  Kulturkampfes  war. 

Der  erste  Teil,  den  ich  hier  lediglich  ins  Auge  fassen  will, 
erzählt  uns  die  lündhcitsgeschidite,  das  erste  Jahrzehnt  des  Knaben, 
also  die  Zeit  bis  zu  seinem  Eintritte  ins  Gymnasium.  Es  ist  die 
Geschichte  eines  Knaben,  der  freilich  ein  echter  Krauskopf  ist  Der 
Schauplatz  ist  ein  grosses  katholisches  Dorf  auf  westfälischem  Boden, 
im  heiligen  Münsterlande,  in  der  Zeit  vom  Ende  der  Fünfziger  bis 
in  die  Neunzig  des  vorigen  Jahrhunderts.  Hier  spielt  sich  die  Ent- 
wicklurig  des  Knaben,  eines  frischen,  phantasierdcnen,  warmherzigen, 
dichteräch  beanlagten,  aus  dem  Dunklen  ins  Helle  strebenden 
Burschen  ab,  um  dessen  Seele  sich  die  katholische  Kirche  in  den 
verschiedensten  Vertretern  besondere  Mühe  gibt.  Eine  Reihe,  ja, 
ein  Reichtum  von  lebendigen,  originellen,  eigenartigen  Gestalten 
tritt  auC  Menschen  von  Fleisch  und  Blut,  vmI  Leidenschaft  und 
Tugend,  voll  Grott vertrauen  und  —  Aberglauben,  echte  Kinder  der 
roten  Erde,  lauter  zähe  westfälische  Dickköpfe,  kirchenfromme 
Katholiken,  denen  aber  Kirr  ficnstreit  und  Reijgionshader  fremd 
sind,  Leute,  wie  sie  der  nur  zeichnen  kann,  der  unter  ihnen  lebt 
«md  webt,  mit  ihnen  denkt  und  fühlt 


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211 


Und  alle  diese  lebendigen  Gestalten  greifen  ein  in  das  geistige 
Leben  des  Kindes.  Die  Umgebun'4^  in  die  unser  Krauskopf  hinein- 
wächst, ist  die  Welt  der  deutschen  Ratholiken  in  Rheinland  und 
Westfalen,  sie  ist  der  Boden,  in  dem  die  Wurzeln  liegen,  durch  die 
eine  junge  Menschcnpflaose  ihie  erste  Gebtesnahning  zieht  Da  ist 
der  Vater,  schlecht  und  rech^  wissbegieri^  launig  und  behag^ch, 
ein  bürgerücher  Ehrenmann,  der,  als  Kaufrnann  des  Dorfes,  mit 
Gutmütigkeit,  aber  noch  mehr  mit  bäuerhcher  Srhlanlu-it  nicht  bloss 
für  sein  ewiges,  sondern  aucli  für  sein  zeithchei  Wohl  zu  sorgen 
weiss.  Weit  starker  als  der  Vater  tritt  die  Mutter  in  den  Vorder« 
(^nd,  eine  Frau  von  leidenschaftlich-nervösem  Temperament»  eine 
kraftstrotzende  Natur  und,  wie  im  Schimpfen,  masslos  in  allem :  im 
Beten  und  im  Arbeiten  nicht  minder  als  im  Hassen  und  l  ieben. 
Abhängig  von  ihren  Stimmungen,  rasch  wechselnd  in  dem,  was  sie 
bewegt,  ist  sie  namentlich  ihren  Kindern  gegenüber  ein  edites 
„Donnerwettermütterchen".  Ausdrücke  wie:  Jung,  it  drech  di  den 
Hals  üm!  oder:  ,,Pass  op,  gliks  pack  di  de  Düwcl!"  sind  bei  ihr 
stehende  Redensarten,  denen  j^ecfenüber  da<^  Trommelfell  der  Kinder 
freilich  mit  der  Zeit  verhärtet  wurde.  „Viel  hüft  viell"  das  gilt  ihr 
auch  beim  Beten.  Der  Rosenkranz  üt  ihr  ein  und  alles.  Das 
Kaupterziehungsmittel  in  ihrer  mütterlichen  Hand  bleibt:  in  die 
Ecke  mit  dem  Jungen  und  eine  gute  Anzahl  Vaterunser  gebetet! 
Eine  grundehrliche  Natur,  aber  völlig  ungebändi^t,  kirchlich  korrekt, 
aber  dabei  voll  heidnischen  Aberglaubens  und  unserer  evangelischen 
Empfindung  nach  ohne  irgend  welches  tiefere  religiöse  Gefühl  1 

Einen  besonderen  Einfhiss  auf  Krauskopf  übt  seine  erste 
Lehrerin  aus,  „Stöfiferken",  die  zwar  femer  nicht  Lehrerin  bldbm 
kann,  auch  nicht  Mitglied  des  Jungfrauenvereins,  von  der  wir  aber 
doch  als  dem  herzigen  AßC-Buchbengel  mit  dem  Pfarrer  sagen 
müssen:  „Sie  war  mit  all  ihren  kleinen  Fehlern  eine  vortreffliche 
Lehrerin  von  nicht  gewöhnUcher  Begabung.  Und  sie  hatte  die 
natürliche  und  walirhaftige  Liebe  zu  den  Kindern"  —  sie  hatte,  voU 
Fröhlichkeit  als  der  .leibhaftige  Lachtri]!er"  Verständnis  für  die 
Kindesseele,  sie  hatte  ein  Herz  fiir  die  Kinder,  Von  Krauskopfs 
ReUgionslehrern  lernen  wir  kennen  den  mehr  m  i  eufclsvorsteiiungen 
ab  in  Gottemdanken  lebenden  strengen  Lehrer  Ross,  den  Pfarrer 
Wiemer  voll  Rottes-  und  Menschenliebe,  den  eifr^en  Kaplan  Sauvage, 
der  weder  ein  rechter  Lehrer  noch  ein  Seelsorger  ist,  voll  geistÜrhen 
Dünkels  auf  Min  Amt,  das  er  in  mechanischer,  toter  Weise  fuhrt, 
die  Religion  zur  Zuchtrute  und  den  Beichtstuhl  zur  Folterkammer 
macht  Von  allen  Lehrern  hören  wir  eine  ausgeführte  Katechese 
über  irgend  ein  Lehrstück,  oft  in  Fragen  und  Antworten,  die,  obwohl 
immer  orin;inelI,  auch  für  den  röinischrn  Unterricht  gani  charak- 
tcristisch,  doch  entschieden  des  Guten  zu  viel  sind 

Weiter  greift  in  Krauskopfs  Entwicklung  em  lügenhafter  Oheim 
ein  mit  seinier  plumpen  Vcrstindnialotii^^  fir  &  Kindesseele. 


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—    212  — 


Die  weitaus  bedeutendste  Gestalt,  vor  allem  bestimmend  für  Kraus- 
kopfs jungen  Geist,  ist  sein  Pate,  der  aufgeklärte,  freigeistige  und 
—  trinkfeste  „Ohm  Doktor" .  der  Schutzgeist  des  Knaben,  ein 
Mensch  voll  tiefer,  eigener  Gedanken,  die  er  am  rechten  und  un- 
rechten Orte  in  begeisterter  Rede  auszuströmen  liebt,  ein  treuer 
Katholik  von  tiefer  Religiosität,  aber  doch  die  Geheimnisse  des 
Glaubens  sicli  in  seiner  Weise  zurechtlegend,  ein  Mann,  der  seiner 
Kirciie,  die  er  hebt  und  ehrt,  zwar  den  vollen  Respekt  eines 
Gebildeten  zeigt,  dem  sich  aber  Gottesdienst  und  helle  Weltfröhlichkeit, 
Geradheit  und  Demut,  Vaterlandsliebe  und  Treue  gegen  das  Ober» 
haupt  der  Kirche  gern  wohl  zu  vertragen  scheinen  und  der  den 
verschiedensten  Vertretern  der  Kirche  entgegentritt,  ein  Mann  endlich, 
der  in  seinem  Patenkind  ein  Genie  wittert. 

Unter  so  mannigfachen  Eindüssen  entwickelt  sich  der  junge, 
unbefangene  Detmar.  Treulich  macht  er  alle  Andachtsübungen 
mit,  setzt  aber  immer  wieder  die  Mutter  mit  allerlei  Fragen  in 
Verlegenheit.  Seine  Seele  ist  Eindrücken  weit  geöffnet,  die  Phantasie 
ist  rege  -  ein  Künstler,  ein  Dichter  steckt  in  ihm,  und  einseitige 
Erziehung  bildet  reicher  sein  I  räumen  und  Fühlen  aus  als  An- 
schauung und  Verstand. 

Da  fuhrt  ihn  ein  günstiges  Geschick  auf  einige  Wochen  nach 
Münster  in  die  Familie  eines  Augenarztes,  der  evangelisch  ist  — 
„luterske  Dickköppe"  nennt  man  solche  im  Dorfe  und  denkt  dabei 
unwillkürlich  an  das  höllische  Feuer  — ,  und  eine  Flut  kräftiger  und 
frischer  Eindrücke  von  modernem  Geiste,  religiöser  Freiheit  und 
Vaterlandsliebe  dringt  auf  den  Knaben  herein,  besonders  durch  die 
Schwester  des  Arztes,  die  „dem  Knaben  eine  mütterliche  Freundin 
wurde,  die  hernach  dem  JüngHnge  mit  Rat  und  Tat  ver'^tändig  zur 
Seite  stand".  Soweit  der  i.  Band.  Der  2.  Band,  der  die  Entwicklung 
des  Knaben  zum  Jünglinge  behandelt  und  ihn  durch  die 
Biekkestedter  Rektoratsschule,  die  Gaisfurter  Klosterschule  und  das 
Gjnnnasium  zu  Münster  fuhrt,  zeigt  hauptsächlich  Krauskopfs  Kampf 
um  seinen  Gottcsglauben,  und  der  3.  Band  umfasst  die  bewegte;, 
nicht  einwandfreie  Studienzeit  Krauskopfs.  Der  erste  Tei!  ist  ein 
feines,  in  seiner  Schlichtheit  prächtiges  Werk,  geschöpft  aus  dem 
Borne  reicher  Lebenserfahrungen,  dais  Werk  eines  echten  Kindel^ 
freundes  und  'kenners,  eines  feinsinnigen  Pädagogen  voll  sitUicb- 
religiöser  Lebensanschauung,  und  es  ist  in  der  Tat,  um  mit  dem 
Verfasser  zu  reden,  „ein  volkstümliches  Buch";  denn  was  es  enthält, 
es  wurzelt  im  ureigenen  Wesen  des  deutschen  Volkes.  Was  dem 
Werke  aber  noch  besonderen  Wert  verleiht,  ist  der  von  tief 
religiösen  Empfinden  getragene  (rnindgedanke,  die  Gottinnigkeit, 
die  so  warm  und  üb^zeugcnd  aus  jeder  Zeile  spricht  und  es  bei 
aller  gesunden,  derben  Natürlichkeit  in  eine  höhere  Sphäre  hebt 
Der  religiöse  Gedanke  gewtntu  Gestalt  und  Leben  in  mancherlei 
Menschen.    Der  Protestant  kann  au^  dem  Buche  lernen,  wie  wahre 


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—    213  — 


und  schlichte  Frömmigkeit,  wenn  auch  in  anderen  Formen,  auch  auf 

katholischem  Boden  gedeiht.  Nicht  will  ich  darauf  eingehen,  wie 
sich  die  grosse  Zeit,  in  die  uns  „Krauskopf  versetzt,  in  dem  inneren 
und  äusseren  i.ebensgange  des  Helden  wiedergespiegelt  hat;  ich 
will  nur  aus  der  Fülle  der  pädagogischen  Gedanken  des 
Buches  mit  wenigen  Worten  das  pädagogische  Problem  hervorheben, 
das  auch  in  der  Gegenwart  besonders  stark  in  den  Vordergrund 
tritt:  die  religiöse  Erziehung,  bezüglich  derselben  die  Aufmerksam- 
keit aber  nur  darauf  lenken,  wie  die  kindliche  Gottesvorstellung 
Detmars  an  Sinnliches  anknüpft.  Ich  weise  diesbezüglich  hin  auf 
Seite  Ii6  des  ersten  Bandes:  „Das  erste  Bild,  das  sich  Krauskopf 
von  Grott  machte,  ging  aus  von  einem  glanzenden  Punkte,  der  für 
ihn  und  die  älteren  Geschwister  eine  grosse  Rolle  spielte.  Dieser 
glänzende  Punkt  war  ein  schönes,  gelbes  Bernsteinstück  von  der 
Form  und  der  Grösse  eines  kleinen  Hühnereies,  das,  sehr  sauber 
und  glatt  geschliffen,  im  Innern  ein  grün  schillerndes  Käferlein  barg. 
Es  gehörte  dem  Grossvater  und  war  von  ihm  als  einziges  Erbstüdc 
aus  dem  Elternhause  mitgenommen  worden.  Herstammen  sollte  es 
vom  alten  Bliicher,  der  es  des  Grossvaters  Vater  für  eine  kurze 
Meerschaumpfcife  geschenkt  habe. 

Den  VVeckingkindern  wurde  es  immer  gelb  und  grün  vor 
Augen,  wenn  der  Grossvater  von  seinem  Schatze  sprach  oder  ihn 
gar  zeigte  und  in  ferne  Zukunft  dem  verhiess,  der  der  Tüchtigste 
würde  Das  mochte  denn  wohl  den  älteren  Geschwistern  ein 
kräftiger  Sporn  sein  zu  Fleiss  und  Artigkeit. 

Krauskopf  jedoch,  obwohl  der  jüngste  und  nach  ihrer  Meinung 
nichtsnutzigste,  schlug  ihn  allen  ein  Schnippchen,  und  zwar  mit 
einem  Nervenfieber,  das  den  Fünfjährigen  jählings  packte  und  in 
kurzer  Zeit  zu  einem  so  elend  magern  Bürschlein  abzehrte ,  dass 
der  Ohm  Doktor  immer  bedenklicher  den  Kopf  schüttelte.  Da 
aber  sagte  eines  Tages,  als  der  kleine  Eigensinn  die  schlecht 
mundende  Arznei  nicht  nehmen  wollte,  der  Grossvater  zu  ihm:  Det, 
wenn  du  machst,  dass  du  wieder  dick  und  gesund  wirst,  dann  kriegst 
du  das  Rlüchcrei  I  Und  siehst  du  mich,  kriegst  du  mich!  schluckte 
Det  Arznei  und  frische  Eier,  soviel  der  (jrossvater  wollte,  und  schnitt 
also  dem  Tod  eine  lange  Nase  und  bekam  zum  Lohne  dafür  das 
herrliche  Tauschstück  des  alten  Marschalls  Vorwärts  zu  eigen. 

Da  jammerten  zwar  die  Geschwister  bei  der  Mutter,  um  solchen 
Preis  hätten  sie  auch  das  Nervenfieber  haben  mögen.  Und  unter 
sich  schimpften  sie.  der  dumme  Junge  habe  das  gar  nicht  verdient; 
der  Grossvater  habe  ihm  das  Geschenk  auch  nur  gemacht,  damit 
ihm  Krauskopf  desto  öfter  auf  die  Knie  klettern,  um  ihm  die  Beine 
und  den  Magen  zu  wärmen.  Im  Geheimen  jedoch  suchte  jedes  von 
ihnen  dem  Bruder  das  Prachtstück  abzukungeln,  und  der  eine  bot 
ihm  eine  Mundharmonika,  der  andere  sogar  einen  FUtzenbogen 
dafür. 


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Krauskopf  aber  hielt  seinen  Schatz  und  hütete  Ihn  wie  seinea 
Augapfel.   Tagsüber  trug  er  ihn  in  der  Hosentasdie»  die  er  mit 

einem  von  der  Mutter  dazu  eigens  ring^cnähtcn  Knopf  verschliesscn 
konnte.  Abends  aber  nahm  er  ihn  mit  ins  Bett  und  schlief  mit 
ihm  ein  und  wachte  mit  ihm  auf.  In  seinen  Träumen  aber  sah  er 
alles  gelb;  Häuser,  Bäume,  Wasser,  Himmel  und  Wolken,  alles 
leuchtete  wie  durch  den  Bernstein  gesehen,  wenn  er  ihn  gegen  das 
Licht  hielt 

Aus  solchem  gelbglitzrigen  Traumwerk  wurde  er  in  einer 
Nacht  jählings  empor^crissen  von  einem  fremden  Menschen,  der 
ihn  samt  Ober-  und  Unterbett  grill  und  eiligst  aus  dem  Hause  trug. 
Als  er  zur  Besinnung  kam,  sass  er  in  seinen  Kissen  auf  der  Strane 
vor  dem  Amtshause.  Nicht  weit  von  ihm  kniete  Pastor  Wiemer 
und  betete  mit  lauter  Stimme  um  Beschwichtigung  der  Feuersbruns^ 
die  im  Weckinghause  ausgebrochen  war. 

Krauskopfs  erster  Gedanke  war  sein  Bernstein.  Er  war  nicht 
in  seinen  Händen  und  auch  nicht  in  seinen  Kissen.  So  fin^  er  denn 
kläglich  an  zu  schreien:  Mein  Bernstein!  Mein  Bernstein!  Da  aber 
niemand  darauf  hörte,  und  sich  auch  der  Pastor,  der  seiner  Gewöhn* 
heit  gemäss  beim  Beten  die  Ohren  mit  den  Fingern  zuhielt,  nicht 
um  ihn  kümmerte,  so  schlich  er  in  seinem  Nachtkittel  bis  an  die 
Treppe  des  Hauses,  um  ins  Schlafzimmer  zu  seinem  Bettchen  zu 
gelangen,  worin  er  den  Bernstein  liegen  wusste. 

Aus  dem  Hause  aber  stürzte  ihm  in  grösster  Aufregung  Mutter 
Nettchen  entgegen,  über  und  über  beladen  mit  Gegenständen,  die 

sie  vor  den  Flammen  zu  retten  suchte.  Da  schrie  denn  Detmar 
wiederum:  Mein  Bernstein  1  Mein  Bernstein  !  Mutter  Nettchen  aber, 
in  der  An^^st.  er  möchte  in  das  brennende  Haus  gehen,  schrie 
dagegen:  Juagc,  ich  dreh  dir  den  Hais  um!  und  trieb  ihn  zu  seinen 
Ki»en  zurüclc 

Dort  fand  den  Jammernden  Schwester  Katharina,  die  ihn 

beschwichtigte  und  ihm  zuredete,  ruhig  zu  sein,  sonst  könne  der 
Herr  Pastor  das  Feuer  nicht  besprechen.  Er  selber  solle  flcissijj 
mitbeten,  damit  der  liebe  Gott  alles  zum  Guten  führe  und  ihm  auch 
seinen  Bernstein  wiederschenke.  Das  tat  Detmar  denn  auch,  bis 
er  einschlieC 

Mit  einem  seligen  Gefühl,  das  er  bis  dahin  nicht  gekannt  hatte, 
wacht  er  andern  Morgens  in  einem  fremden  Hause  auf.  Er  hatte 
die  ganze  Nacht  den  lieben  Gott  gesehen,  wie  er  als  feuriCT^frelb- 
glänzender  Bernsteinmann  mit  dem  Kopf  und  dem  Gesicht  Meister 
Rohrs  —  des  Schreiners  des  Dorfes,  bei  dem  Krauskopf  besonders 
gern  war  und  der  im  Volksmund  Mester  Härgott  genannt  wurde  ^ 
auf  einem  bernsteinernen  Throne  sass  und  ihm  sein  Blücherei  ent- 
gegenhielt. Wirklich  hatte  Krauskopf  beim  Fnvachen  sein  Kleinod 
in  der  Hand,  das  sich  in  seinem  aus  dem  Brande  geretteten  Bettchen 


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—    215  — 


wiedergefunden  hatte  und  dem  Schlaleiiden  von  Katharina  in  die 

Rechte  gedrückt  worden  war. 

Da  betete  denn  der  Knabe  zum  erstenmal  das  „Vaterunser, 
der  du  bist  in  den  Himmeln"  mit  lebendiger  Vorstellung  und 
wirklichem  Dankgefiihl  gegen  Gott,  der  ihm  über  Nacht  persönlich 
geworden  war. 

Diese  erste  Vorstellung  von  Gott  als  einem  schönen  Bernstein» 

mann  mit  Meister  Röhrs  lockigem  Haar  und  Bart  hat  sich  so  lange 
bei  Krauskopf  erhalten,  wenn  <=i\rh  auch  dessen  Starre,  unbewegliche 
Ruhe  bald  in  lebendige  Tätigkeit  verwandelte. 

Diese  Verwandlung  hing  zusammen  mit  dem  Baumeister  des 
neuen  Hauses,  Fritz  Surholt 

Als  dieser  mm  den  Bauplan  bradite,  auf  dem  nacb.  Doktor 
Weckings  Angabe  im  Stil  des  westfälischen  Bauernhauses  das  neue 

Weckinghaus  gezeichnet  stand,  wünschte  Vater  Hermann  manches 
daran  geändert,  und  vor  allem  statt  des  einstöckigen  ein  zwei- 
stöckiges (lebäude,  das  weniger  Bodenftächc  einnehme  und  doch 
mit  dem  Laden  und  der  Wohnung  des  Kaufmanns  die  Räumlich- 
keiten des  Ackerbau  treibenden  Landmanns  in  sich  vereine.  Und 
sofort  setzte  sich  Meister  Surholt  an  den  Tisch  und  entwarf  in 
kunrer  Zeit  eine  neue  Zeichnung.  Dabei  sah  Krauskopf  zu,  und 
sein  Erstaunen  wuchs  mit  jedem  Striche  des  Bleistifts,  den  er  auf 
dem  Papiere  entstehen  sah.  Das  hatte  er  noch  nie  gesehen,  und 
er  (ragte  deshalb  ein  über  das  andremal:  Meister,  wie  machst  du 
das?  Der  aber  deutete  weiterzeichnend  zur  Antwort  mit  dem 
Zeipefinr^'er  der  linken  Hand  nach  seiner  Stirn  und  von  dort  nach 
oben  himtneiwärts.  Und  sofort  war  Krauskopf  klar,  dass  der  liebe 
Gott,  droben  auf  dem  Throne  zitzend,  Häuser,  Schlösser,  Kirchen 
entwiirfe»  die  dann  nach  seinem  VfJUHea  auf  £rden  von  den  Menschen 
ausgefiihrt  würden. 

So  entstand  aus  dem  ersten,  in  starr  ruhiger  Majestät  thronenden 
Gotte  in  Krauskopfs  Vorstellunc^  ein  tätiger  Weltbaumeister,  der 
ganz  nach  Wunsch  alles  aus  der  Erde  hervorzauberte,  was  er  nur 

wollte." 

Warum  ich  gerade  diesen  Gedanken  herausgreife?  WeU  in 
unserer  Zeit,  in  der  uns  an  nichts  mehr  liegt,  als  den  Faktor  genau 

zu  kennen,  der  Zentral-  und  Brennpunkt  alles  Unterrichts,  aller 
Erziehung  ist:  das  Kind,  die  gesicherten  Ergebnisse  der  Psychologie 
auch  bestimmend  werden  müssen  für  die  religiöse  Erziehung  des 
Kindes.  Art  und  Wesen  unseres  Refigionsunterridits  stammen  aus 
einer  Zeit,  wo  kein  Erzieher  daran  dachte,  das  Kind  als  die  Haupt- 
person bei  der  Erziehung  anzusehen,  sich  also  auch  nicht  gedrängt 
fühlte,  über  die  Natur  und  die  P'ähigkeiten  des  Kindes  sich  genauen 
Aufschluss  zu  verschaffen.  Dagegen  geht  man  jetzt  mit  einer 
gewissen  Spannung  an  die  Untersuchung  der  Frage:  In  welchem 


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—    2l6  — 


Verhältnis  steht  der  heutige  Religionsunterricht  zu  der  von  der 
Psychologie  aufgewiesenen  Beschaffenheit  der  Kindesnatur? 

In  Bezug  auf  die  Entwicklung  des  religiösen  Gefühls  im  Menschen 
Stellt  die  Fäychologie  den  fundamentalen  Satz  auf:  der  religiöse 
Standpunkt  des  gebildeten  Erwachsenen  ist  durch 
eine  lange  Entwicklung';  von  r^em  des  Kindes  getrennt 
Darum  kann  ein  Krwachsener  sicli  nicht  darüber  wundern,  dass 
seine  Religion  von  einem  Kinde"  nicht  begriffen  wird,  oder,  anders 
ausgedrückt,  dass  an  dem  psychologischen  Unvermögen  des  Kindes 
alle  Bemühungen  der  Erwachsenen  scheitern  müssen,  die  darauf 
abzielen,  dass  dem  Kinde  beizubringen,  was  sie  selbst  bewegt. 

Wenn  nach  einem  biologischen  (  icsetz  der  neueren  Naturwissen- 
schaft die  Entwicklung  des  Ein/.ciwcsens  in  einem  gewissen 
Parallelismus  steht  zur  Entwicklung  seiner  Gattung,  so  wird  es  uns 
um  so  glaubwürdiger  erscheinen,  wenn  die  Psychologie  behauptet, 
dass  die  ReHgion,  besser  die  Gottesvorstellung,  des  Kindes  so  sinn- 
fälliger Art  ist,  wie  die  der  Menschheit  in  ihren  ersten  Anfängen 
oder  wie  die  der  jetzt  lebendigen  Völker,  die  sich  noch  auf  den 
ersten  Stufen  der  Kultur  befinden.  Darum  hat  des  Kindes  Gott 
denselben  Namen  wie  der,  den  die  Erwachsenen  im  Herzen  tragen, 
aber  er  sieht  dennoch  ganz  anders  aus  als  dieser.  Das  Kind  denkt 
sich  Gott  unter  dem  Bilde  eines  Menschen  mit  Vorzügen  und 
Fehlern  rein  menschlicher  Art,  Gott  weiss  alles,  sieht  alles,  kann 
alles,  Gott  vcrgisst,  er  trägt  ein  schönes  Kleid,  er  ist  gerade  nicht 
zu  Hause,  isst  und  trinkt  Es  geht  dem  Kinde  wie  dem  Krauskopf 
mit  dem  lieben  Gott,  es  geht  ihm  auch  wie  Asmus  Semper,  von 
dem  Otto  Ernst  erzählt  :  ,,Sein  Vater  war  doch  ^^cnau  wie  der  liebe 
Gott  .  .  .  dieselbe  breite  Stirn  mit  einem  hcnUcii  vollen  Kranz  von 
grauen  Haaren  darum,  dieselbe  kräftige  Nase,  derselbe  grosse  Bart  ' 
usw.  Wird  es  uns  da  nicht  ohne  weiteres  klar,  wie  das,  was  das 
Kind  vom  höchsten  Wesen  in  Haus  und  Schule  horti  ihm  zu  leer, 
zu  tot  ist  und  wie  sein  frisches  (Tcfuhls-  und  Sinnenleben  es  daher 
ausschmückt;  wie  uinnöglich  es  dem  Kandc  und  gar  erst  dem 
kleinen  Kinde  ist,  sich  in  die  geistige  Religiosität  eines  Chrislen- 
menschen  hineinzufinden,  wie  eine  tiefe  Klmt  gähnt  zwischen  der 
herkömmlichen  religiösen  Unterweisung  und  den  Anlagen  und 
Kräften  der  Kindessecle?  Will  man  diese  Kluft  überbrücken,  so 
heisst  es  einfach,  sich  der  Natur  des  Kindes  anpassen,  sich  herab- 
lassen zum  Kinde.  Rudolf  iiildebrand  kannte  daher  die  Kinder- 
seeien  genau,  als  er  schrieb:  „Dieses  stille  Gemütsleben,  das  cBe 
leeren  Hälsen  ausfüllt,  das  wäre  eigentlich  der  HauptarbeitsstofT  des 
Lehrers,  ich  meine,  in  dem  und  mit  dem  er  zu  arlieiten  hätte." 

Darum  werden  wir  auf  der  Unterstufe  dem  Kinde  nur  solche 
Stoffe  bieten,  die  seiner  Gottesauffassung  Rechnung  tragen.  Hier 
erzählen  wir  ihnen  von  dem  lieben  Gott,  der  im  Himmel  wohnt, 
der  nicht  selten  auf  die  Erde  steigt,  um  die  Guten  zu  belohnen  und 


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—    217  — 


die  Bösen  zu  bestrafen  oder  die  Menschen  zu  prüfen,  der  mit 
Abraham  im  Schatten  vor  seiner  Hütte  zu  Mittag  isst,  zu  dem 
hinauf  in  den  Himmel  eine  lange,  lange  Leiter  führt,  auf  der  seine 
Englein  auf>  und  niedersteigen.  In  diesen  Geschichten  lebt  ein  Gott» 
den  ein  Kind  begreift  und  versteht,  den  es  sich  vorstellt  als  einen 
Mann  mit  weissem  Haar  und  gütigen  Augen.  Und  solche  Grcschichteo 
finden  wir  in  den  Geschichten  des  Alten  Testamentes. 

So  lernen  wir  also  für  unsern  ersten  Religionsunterricht  aus 
„Krauskopf",  was  Rückcrt  in  die  Worte  gefasst  hat: 

„Des  Kiodes  erster  Trieb  ist  sinnliches  Bedürfen; 
Eni  «pitcr  widut  die  Kmft  «a  geiitisen  Entwflrfm." 

SeUttM  folgt. 


B.  Kleinere  Beiirige  und  Mitteilaiigen. 

L 

Die  Bedeutung  Montaignes  für  die  Pädagogik  unserer  Zeit. 

Von  Dr.  Heinricb  Pador. 

Michel  Sdgneur  d«  Hontugne  ftanuDt  «u  «inem  ütbaaMMsm  Adels- 
geschlecht, aher  sein  Erzieher  war  ein  DeQt.schcr,  der  sehr  gut  lateinisch,  aber 
k*»in  Wort  franzöfich  sprechen  konnte,  und  Montaigne  selbst  bezeichnet  lateinisch 
als  seine  Mattersprache.  Und  in  der  Tat  erinnern  seine  Erziehongsgrands&tse 
in  ihrer  litttiAhaa  -Strenge  en  tlttfitniidM  Voiiiilcler,  ud  in  der  Art»  wie  sie  die 
BUdaag  des  QewisMis  vor  allem  entnben,  an  deatsehe  Nationaleigenachstteo. 

Wenn  msn  die  Montaignescbe  Erziehongslehre  liest,  so  glaubt  man  manch- 
mal, sie  sei  in  unserer  Zeit  für  nnsere  Zeit  geschrieben  «o  «flir  trifft  ^^io  nft  den 
Nagel  aaf  den  Kopf  bei  der  Geisseiung  von  Erziehangasciitideu.  Vieilach  freüich 
sagen  wir  uns  auch,  dtm  wir  über  solche  barbarische  Zeiten  hinaas  sind,  dass  es 
■It  der  Bnriehong  besser  gworden  ist  Wenigstens  sind  seit  MentaigM  eine  gaase 
stattliche  Reihe  von  bedeutenden  Pädagogen  aufgetreten ;  ob  aidit  nur  die  Lehre 
der  Erziehung  sondern  auch  die  Praxis  d^r  Frziehung  besser  g:eworclen  ist 
freilich  eine  andere  Frage.  Besonders  aber,  iusoferu  Montaigne  einer  der  ersten, 
wenn  nicht  der  erste  war  (seine  Essajs  [im  erste  Buche  das  Kapitel  „Dit  Er- 
debvBg  der  Kinder]  evsehienen  bereits  im  Jahn  ISBO^  weleher  die  nenaeitliehen 
pldagogischeii  Qinndsltse  «ngespnwheii  hat,  lohnt  es  sieh,  auf  ihn  inriick- 
ngnifen. 

In  den  letzten  Jahren  hat  man  der  Pädagogik  wieder  einmal  vorereworfen, 
da^is  sie  bei  dem  Unterricht  einen  zu  grossen  Nachdruck  auf  das  Gramatikaiische 
ucl  Phüolegisehe  lege,  dass  sie  den  SchtUer  mit  einem  Wort  —  WiaMn  be- 


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—    3I8  — 


reichere,  statt  das  sie  ihn  erziehe  nm^  hüde.  das«  »ie  einseitig  das  GedAThtni";  fibe. 
Hört-n  wir,  waH  Montaigfi''  im  .lahrr  loH)  darüber  safft:  „Vier  oder  füui  Jahre 
lehrt  mau  um  Worte  venüeiieu  uud  zu  batzen  verbiuden;  uugefälir  ebensovi«! 
Zeit  ▼eibringOD  wir  damit,  «in  grttaMVM  GaniM  io  vier  oder  Anf  proportiowle 
Teile  zu  teilen,  nnd  aUMMdin  mlndesteas  noch  aadere  fünf  Jahro,  vm  n  leriM, 
wie  sich  die  Worte  kurz  ordnen  und  in  apitafindi^^er  Weise  versetzen  lassen  .  . . 
In  der  Tfit,  die  Sort^j^falt  unserer  Eltern  zielen  nnr  darauf  hin,  uns  den  Kopf  mit 
Wissen  auszuäiaiüereui  ob  wir  auch  Urteilsluaft  und  Tugend  erlangen,  darnach 
frm^  man  wenig.  Wir  arbeiten  nur  daranf  hin,  dai  Godiehtnie  so  tttllen,  snl 
lassen  dabei  Verstand  und  Gewissen  leer  ausgeben.  Wir  sind  gewOhnt  ra  fragen: 
Versteht  er  Griechisch  uud  Lateinisch?  Schreibt  er  in  Versen  oder  in  Prosa?  Ob 
er  jedoch  besser  uud  verständiger  geworden  sei,  was  doch  wohl  die  Han|itaache 
wäre,  danim  kümmern  wir  uns  nicht." 

Montaigne  gibt  vni  hier  nicht  nur  etwas  Negativeii  soiidani  aneh  etwas 
FotttiTes;  er  tagt  oas  niebt  nnr,  was  wir  an  miterlaaeea,  aendein  au^  wai  wir 
zu  tun  haben,  and  darin  rnht  der  besondere  Wert  seiner  Gedanken  Uber  Ernehong. 
]Bs  ist  ja  klar,  dass  nns  das  Wissen  an  und  für  Hieb  nirhts  ni^tsdi  kann,  wenn 
wir  es  nicht  in  unser  Fleisch  nnd  Blut  übergehen  lassen,  für  unser  Leben  nuti- 
nieasen  nnd  edtor  nnd  toUkommener  werden.  80  kann  s.  B.  die  Lektttre  von 
„De  ottciit**  Ton  CHcero  dodi  mir  den  Zweeit  haben,  dem  Scbfiler  Fttditbogriii 
nicht  nnr  beizubringen,  sondern  ihn  anntstacbeln,  diesen  Pflichten  gem&ss  la 
leben.  Andernfalls  haben  wir  nur  Unterricht  und  Lehre,  aber  Veiue  Erziehung 
nnd  Bildung.  Deshalb  führt  Montaigne  an:  „Zenxidamns  antwortete  jtimandein, 
der  ihn  fragte,  warum  die  Lakedftmonier  ihre  Vorschriften  der  Tapferkeit  nicht 
aduiftlich  abfaiaten  nnd  der  Jngend  an  leaen  giben,  ee  geoehebe,  um  letstei«  an 
Taten  niebt  an  Worten  an  gewöhnen."  Das  ist  wie  für  nnsera  Zdt  geschrieben, 
die  viel  zu  sehr  sich  um  Worte  kümmert  nnd  riel  «n  wenijr  nm  d^s  Handeln, 
Tun  nnd  Leben.  , .Erkenne  dich  selbst  lernt  der  Schüler:  aber  dieses  W^ort  sa 
kennen  nutzt  nichts,  sonderu  nur  das,  was  es  sagen  soll,  zu  können  hat  den 
Wert  Wenn  ea  nnn  Saeba  dea  blooMn  Unteiriehti  ist,  daa  ,  JLenaen**  m  labien, 
•0  iat  ei  Sache  der  wahren  finiehang,  znm  „Können'*  anzuregen:  „Wir  könnea 
wohl  sagen,  so  spricht  Cicero;  so  handfltn  Pinto  da<i  «irid  Worte  de«;  Arist^jtels; 
allein,  wa«  sagen  wir  seiht?  Was  urteilen  wir?  Was  tun  wirr  Jeuee  konnte 
ein  Papagei  ebensogut  uachsagen  wie  wir."  £s  mag  wohl  beute  Lehrer  geben, 
weieba  bei  dar  Iiektttf*  der  Platoniadian  Dialoge  in  der  flobolatabe  den  Weit 
darauf  legen,  dem  Sehttler  Sitae  Iflr  dae  Leben  mitaageben,  lenchtende  Toibüd« 
edler  Gesinnungen  zu  dem  Zwecke,  dass  der  Schüler  diesen  Vorbildern  nacheifert 
und  nachlebt,  aber  im  allgemeinen  tut  man  das  nirht  Man  lässt  vielmehr  die 
Platonischen  Dialoge  nnr  Tom  philologischen  äundpunkt  aus  lesen.  Natftrli^ 
nmaa  man,  aba  man  na  feien  kann,  dia  Wdrtar  nnd  dia  Oiammstlk  dar  Skinebi^ 
in  der  lia  geaebrieben  aind,  gelernt  Imben:  diea  aber  betrifft  nnr  dia  Ventnib 
and  die  Vorfaedingang.  Der  Zweck  der  Lektttre  aber  ist,  die  hohe  Moral  und  t 
Philosopliie,  wHohp  jene  Dialofr^'  darstellen,  für  das  eigene  Leben  za  verwertea. 
Bieranf  —  das  kann  ganz  unumwunden  ausgesprochen  werden  —  wird  in  der 
Sniehnng  zn  wenig  Nachdruck  gelegt  Wenn  man  einwenden  Wirde,  dass  jene 
Koni  flr  uaeta  Zeit  niebt  mehr  paaaa^  ao  wllxda  man  damit  aagmi,  daaa  dima 


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ganiA  Lektflre  imd  folg'lidi  «aeh  die  Erlennug  der  griechischen  Spnehe  —  denn 

fflr  grammatikalischen  nnd  formellen  Unterricht  würde  die  Mntlenpnuhe  Andl 
grattgen  —  unnütz  sei.    Dies  ist  aber  durchaus  nicht  der  Fall. 

Ähnlich  ist  es  Übrigens  auch  mit  dem  archäologieokeu  Unterrieht  in  der 
grieeUieheB  Kiiiiit.  Dereelbe  nMe  gntwtder  des  Zwmk  habm,  dea 
SehtUar  kBniUeilieh  und  iathetiaeli  oder  aiittel1»r  eCUieb  uunngan  und  m 
WIden.  Statt  dessen  ist  aber  auch  hier  der  philologische  Masaetab  fast  allein 
mas.<)gebend.  Es  kann  nns  wenig  nützen,  die  Statne  der  Venns  von  Hilo  sn 
kennen,  wenn  wir  nicht  durch  ihren  Anblick  zu  den  gleichen  oder  ähnlichen 
Snipflndmigea  augeregt  weiden,  wie  «ie  der  SdiÖpfer  hatte,  wenn 
uuer  ScbOnheitflsinn  gebildet  wird  und  wir  telbet  dadoreh  ms  imieilioh  w- 
edeln. 

Dieser  Ansifht  i^t  Mnntnif^Tif» ,  nnd  sein  Tdoal  igt  daher  ein*»  Frziehnng, 
welche  nicht  durch  Worte,  sondern  durch  Handlangen  eraieht,  welche  nicht  nur 
sn  Worten,  sondern  znm  Leben  erzieht.  In  diesem  Sinne  sagt  er:  „Es  ist  sehr 
bemerkenewevt,  due  die  TortreflU«^  und  in  der  T^t  Uniieht]ieh  ihrer  Ycdl- 
kommenheit  auf^serordentliche  Gesetzgebung  des  Lykurg,  welche  doch  die  Sorge 
für  die  Erziehung  der  Kinder  als  ihre  wichtigste  Auferabe  betrachtet,  der  Ge- 
lehrsanikeit  so  wenitr  gedenkt,  gleichsam  als  ob  diese  hochherzitje  Jagend  sich 
nur  der  Tugend  hätte  uut«irwerfeu  und  statt  unserer  Lehrer  der  Wissenschaften 
nnr  Lehter  der  Ta]»fer1ieit,  Klngbeil  nnd  Oereehtiglteit  bitte  exlialten  nrileB, 
welchem  Beispiele  auch  Plate  in  seinen  Oesetzen  gefolgt  ist  Ihre  Methode  be» 
stand  darin,  den  Schülern  Fragen  Ober  die  Urteile  und  Handinngen  der  Menschen 
zu  ütellen  und  sie  die  Gründe  augeben  zu  lassen,  weshalb  sie  eine  Person  nnd 
Handlung  verurteilten  und  lobten.  Sie  haben  den  kürzesten  Weg  einschlagen 
woUen,  und  dm  die  WieMUchaften,  Mlbst  wenn  man  aie  rieh  nnf  geradem  Weg 
angoeignet  hat,  nns  doeh  nnr  Klngheit,  Bedlidikeit  nnd  SntsdilotMaihdt  Mtren 
können,  haben  sie  ihren  Kindern  von  vom  herein  Vorteile  verschafft  und  sie  nicht 
durch  Hörensagen,  sondern  dadurch  iks«  «jp  dieselben  selbstfindig  im  Handeln 
sich  versuchen  lieesen,  belehren  wollen,  und  aie  nicht  allein  dorch  Vorschriften 
vid  Worte^  aondem  hnnptalehlieh  dnreh  ihre  Bei^ele  nnd  fhi»  Werke  gebildet 
nnd  für  das  Onte  gewonnen,  damit  dasoeHie  bei  ihnen  nioht  blom  dn  Wiiseft 
wbe,  sondern  ihnen  zur  Natur  und  zur  Oewohnheit  würde,  damit  es  nicht  ein 
enTorbener,  sondern  ein  natürlicher  Besitz  w-firp  Als  mau  in  bezncr  hiemnf  (?inst 
den  AgeaiiaoB  fragte,  was  nach  seiner  Meinung  die  Rinder  lernen  n]üf:sten,  war 
seine  Antwort:  „Was  sie  tun  sollen,  wenn  sie  erwachsen  sind."  Ich  denke  diese 
herrtichen  Worte  kOnnen  noch  snf  fBnfsig  Jahre  hinaus  nns  Anregong  svr  Yer» 
bessernn^  unsefer  Erziebunt^smethoden  geben.  Im  reinen  Unterricht  werden  sie 
sich  ja  «iliwerpr  <lnrr!:führen  lassen  und  sind  'Ii  nn^h  gar  nicht  am  Plrtt^p.  aber 
überall,  wt»  laau  Erziehung,  nicht  nur  Unterricht  erstrebt,  vor  allem  in  allen 
Pensionaten  und  Erziehungsanstalten,  welche  ihre  Zdglinge  in  Pension  haben. 
Gerade  fttr  nnsere  Zdt,  welche,  wie  man  sehen  oft  mit  Beoht  betont  hat,  grosse 
nnd  feste  Charaktere  braucht,  gilt  dies,  eine  Zeit,  in  «eleher  anderseits  es  doppdt 
schwer  ist  sich  zum  Charakter  zn  bilden  Wenn  es  nnumstfisslich  ist,  dass  den 
Wert  des  Menschen  nicht  das  Kennen  «^(uidtTii  dm  Können  bestimmt,  SO  haben 
jene  Grundsätze  für  unsere  Erziehung  Cieitung  zu  beanspruchen. 


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—    220  — 


Montaigne  berührt  an  jenen  Stellen  auch,  wie  wesentlich  in  der  Brnehimg 
das  Beispiel  des  Erziehers  ht.  Und  in  der  Tat  erzieht  nicht  dieser  nd»»r  jener 
GegenAtaud,  die»  oder  jenes  Bnch,  Kunderu  der  Lehrer,  welcher  es  bcnaudelt.  Das 
lebeude  Beispiel  ist  in  der  Enadiang  beinahe  alles.  Davon  wissen  alle  filtern 
ein  Lied  m  singen;  das  Kind  ikhtet  ridi  niolit  daaneli,  ob  es  iliin  genfiik  wird 
oder  nicht,  das  es  nicht  lUgen  soll,  sondern  danach,  ob  seine  Eltern  lügen  oder 
nicht  lügen.  In  (liesem  Sinne  sagt  ppÄt«r  Locke  in  seinen  .  ^Tedanken  über  Er- 
ziehung'' (§  90):  „Es  kommi  darauf  an,  div^ä  der  Erzieher  seinem  Schüler  ein 
beständiges  Vorbild  gibt  and,  was  dieser  zu  erstreben  und  zu  werden  hat,  ihm 
nieht  bloee  lehrt»  mideni  in  seiner  gansoi  PenSnIiehkeit  s^eiehsem  vorlebt/*  Dieiet 
Ansicht  ist  auch  der  deutsche  Pädago^'^  Dieisterwe^^,  der  aus  eben  diesem  Grunde 
empfiehlt,  dass  als  Grundlage  des  Religi« n^uuterrichte:«  ein  Buch  dienen  .'■oll, 
welches  die  Darstellung'  des  Lebens  Jesu  mit  allen  praktischen  Momenten  erhiilt. 
Selbst  der  Religionsunterricht  rerfulgt  ja  heute  vielfach  nur  den  Zweck,  dea 
SehlUer  mit  Wiesen  vollsnetopfen,  etotl  iluk  rittlich  in  veredeln:  „Ee  gelt  nnd 
gilt  noch  bis  in  die  neuste  Zeit  hinein,  du  Gedlchtnie  mit  dem  Katechismus  m 
n&hren.  Diesen  Kaiechisnma  lässt  man  nnn  auswendig  lernen  nnd  herplappem 
,auf8Rß:en",  wie  es,  zur  Schande  der  Pädagogik,  noch  in  uiauchen  Schulen 
Katcchisierstubeu  und  Kirchen  zu  hören  ist  Wer  dieses  Schnattern  mit  den 
Lippen  einmal  gehört  het»  vrird  ee  «ein  Leben  lang  nieht  wieder  vergeeeen.  Wae 
fttr  ein  Werk  ist  das?  Sisn>l>ws'belt  nnd  Tantalnaqnal  —  daa  anigeanehte  Mittel, 
den  Kindern,  und  namentlich  den  besten,  Schule,  Kirche  nnd  Rcli^rion  nach  Wahr- 
scheinlichkeit auf  ewig  zu  verleiden  Es  ist  nnd  bleibt  ein  nni^eheurer  Wahn, 
den  Beligionsnnterhcht  an  den  Katecausnui::»  zu  knüpfen"  usw.  (Die^terweg).  Hier 
kann  man  Dieoterweg  dnndi  Montaigne  erg&uzen:  „Beim  Religionanntenieht 
darf  daa  Fhilologiicbe  keinen  Banm  einnehmen,  der  Bdigionsnntenieht  mnm 
Sittenunteriiebt  sein  mit  dem  aUeinigai  Zweck,  den  Sehttler  anm  Leben  an  er> 
aiehen." 

Auch  den  Gedanken,  der  sich  durch  die  neuen  pädagogitichen  Systeme  wie 
ein  roter  Faden  zieht,  den  Oedanken  der  Individnalität,  findet  man  aobon  bei 
Montaigne  nnd  awar  gana  klar  anagesprochen.   Znm  Teil  war  daa  achon  ana 

den  oben  angeführten  Stellen  erkennbar.  Man  aber  erst  das  Folgende:  „Ich 
stelle  meine  Einfälle  nnd  MHinnntreTi  nh  das  hin  wn«  ir-h  für  \v:\hr  halte,  nicht 
als  das,  was  überhaupt  fiir  wahr  geuiiltcn  iüt.  Ich  beabsichtigte,  mich  selbst  ztt 
zeigen,  wie  ich  bin,  morgen  bin  ich  vielleicht  ein  anderer,  weuu  neue  Belehrung 
mi^  indert"  Woin  aomit  Montaigne  daa  Becht  der  Individvalitit  fttr  aieh  adbet 
in  Anspruch  nimmt,  verlangt  er  auch  die  Währung  desselben  bei  der  Sraidrang: 
„Ich  wünschte,  dass  der  Lehrer  von  Anfang  an  den  Zögling,  den  er  zu  bilden 
hat.  seine  Kraft  nach  seiner  Befuhi{*itnq:  selbst  erproben  lasse  Er  wirke  zu 
diesem  Zweck  darauf  hin,  da^ts  derselbe  selbst  Geschmack  an  den  Dingen  hude, 
lie  aelbtt  wKhle  nnd  vernttnftig  nntencheide;  bald  aeige  er  ihm  den  Weg,  bald 
lasse  er  ihn  denadben  adbat  rachen.  Wir  sind  alle  viel  reieher  ala  wir  glimbea. 
Allein,  man  ^cwtihnt  uns  an  Boffzen  nnd  Betteln,  man  leitet  uns  an,  uns  mehr 
der  Kräfte  anderer  als  unserer  eigenen  zu  bedienen."  —  Auch  hierhin  berühren 
sich  spätere  Erziehuugalehrer,  wie  Kousseau,  Locke,  Fröbel,  Herbart,  P^talozzi, 
Comenina,  Lagarde,  Kliuggräf,  mit  Montaigne.  Bei  Locke  im  besonderen,  dem 


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—    221  — 


Philogopbeil  derjeni^n  Nation,  welche  das  grOwt»  fodiTidllAlität.sbcv^nisgtsein  htt^ 
bildet  die  Entwicklang  der  Intüvidualität  das  Hauy)tt1i»'?na  der  Erziehiin^r^lehre. 

Ich  erwähne  endlich  noch  das,  was  Montaiefne  über  die  körperliche  Erziehung' 
der  Jugend,  die  ja  beute  so  in  den  Vurdergruud  tritt,  »lagi.  Auch  hierin  lassen 
mIm  Aniiehteii  nicht  den  Fmuioaeii  v«nftt«ii,  «ie  eriimen  dtnOf  dus  ihm  das 
Altrömiscbe  sozusagen  mit  der  Muttermilch  eingeflößt  wurde:  „Man  ersieht  nicht 
ein<^  Seele,  nicht  einen  Leih,  poudern  einen  Men.schen.  .  .  .  Lehrt  euren  Zögling 
Aiistrenffuu^en,  Kälte,  Wind  und  iSonue  ertrajfeu  und  Gefahren  verachten.  Ent- 
wübnt  ihn  aller  Weichlichkeit  und  Verzärtelung  in  der  Kleidung,  im  Schlafen, 
im  Eigen  nnd  Trinken;  gewMmt  ihn  an  nllei^  «r  tei  nidit  du  aufgeputzter, 
geckenhafter  Knabe,  sondern  er  aei  ein  Mecber,  kiiftiger  Junge.  So  habe  ich 
in  der  Jagend  als  Mann  nnd  Oreis  gedacht  nnd  gearteilt.  Anf  die  Spiele  und 
Leibesübnnsren,  das  Laufen,  das  Ringen,  die  Musik,  der  Tanz,  die  Jagd,  das 
Reiten  und  die  Führung  der  Waffen,  werden  wir  grossen  FM»s  verwenden.  Es 
iit  bewondcnmgvwttrdig,  wie  wAs  ekdi  Plate  in  Minen  Qewtien  mit  den  Wett- 
llnfen,  Spielen,  OeiSngen  nnd  Urnen  beeohiftii^  von  denen  er  lagt^  die  Altertum 
habe  sie  der  Obhut  und  dem  Schutze  der  Götter  selbst,  des  Apollo  nnd  Minerya, 
riht^rtreben.  Er  verbn-it^r  "ich  in  tausendfachen  Vorschriften  über  die  pyronastischen 
Lbuugeu;  bei  den  \Viiisen:jchaiteu  hält  er  sich  nicht  lange  auf,  und  besondera 
scheint  er  die  Dichtkunst  nur  wegen  der  Musik  an  preisen."  < 

Nnn,  heute  nimmt  ja  die  Spielbewegung  in  Deutiehland  einen  teit  ungeehnten 
Raum  im  OfientUclMn  Leben  sowohl  wie  auch  schon  in  der  Praxis  der  Erziehung 
ein.  dank  dem  uuermüdlichen  Wirken  «les  Zeutralausschnsses  für  Ju)?eud-  nnd 
Volkstf])ieIe,  und  seit  einigen  Jahren  sind  auch  an  den  meisten  Uniyersitftten  Kurse 
für  Volksüpiele  eingerichtet 

Alle«  in  allem  kann  man  nnr  das  «inganga  Gesagte  wiedetholen,  daw 
Montaigne  wie  ein  Mann  encheint.  als  g^cht  fttr  unsere  Zelt.  Der  Glaube  an 
Autoritäten  einer  vergangenen  Zeit  darf  zwar  ein  gHwiH«*^"  Ma«s  Tiicbt  überschreiten, 
aber  doch  tut  man  gut,  wenn  mau  seine  eigeneu  Ansichten  luir  dtnen  von 
M&anem,  deren  Ruhm  Jahrhunderte  überdauert,  belegt  und  stützt,  und  anderer- 
leite  mnn  man  sich  heecbimend  M^en,  daaa  eoriet  von  dem,  was  edion  im  Jahre 
1660  gedacht,  geurtflUt  und  gefordert  wurde,  auch  heute  noch  nnr  in  Bflchem 
8t«-'hr  Wir  ,, wissen"  es,  wir  sehen  die  Berechtigung  ein,  wir  fordern  es  sogar,  — 
aber  wir  tun  es  uir  bt  ,.Wer  meinen  Annichteu  gemftm  bandelt,"  sagt  Montaigne, 
„hat  mehr  Vorteil  davon,  als  wer  sie  bloss  weiss." 


n. 

OigM  «•  SdMHMHHMrahr.') 

Ein  nenes  Mittel  im  Kaii^pfe  g^en  die  ächundiittiratur  wüi  die  Deutsche 
Okhter-Oedftchtnis-Stiftnng  in  Hamhnrg-Groesboffltel  anwenden.  Wer  die  Snt- 

<^  Auf  Ersuchen  des  L  Vonitienden  der  DentBchen  Dichter-GedAcbtnie- 

suitung  autgenommen. 


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wicklnn?  nTisrer  kultnrellen  Verhältnisse  mit  Aufmerksamkeit  verfolget,  wird  mit 
wachsendem  Sebreckea  bemerkt  haben,  daas  die  Schundliteratur  immer  weitere 
Yerbreitaog  gewinnt.  Durch  Tausende  von  Kanälen  wird  sie  dem  Volke  zo- 
gddtet  Iii  lUiiiUigen  Papi«rwftraiibtadliiiigw  und  kleiMB  Zig»miilid«ii,  donh 
fliegende  Händler  auf  deu  5f!entlich«li  PUtetti  nnsrer  QnMMtidte  und  Kleinstädt« 
werden  die  „Detektiv"  }! .fte,  die  ^Intimen  Geschichten"  und  wie  alle  di»!8e 
Sammluntjen  beissen,  zu  iO  oder  2Ü  Pfennigen  das  Heft  verkauft,  um  dann  ihren 
vergiiteuden  £inüns8  in  der  Seele  des  Volkes  aussuüben.  Die  Behörden  and  die 
XOrpMidiAftai,  di«  lioli  die  Vertmitnng  guter  Uteratnr  n»  ZIaI«  ««Mtak  kAtm, 
können  gtgm  ümt  Pett  einstweilen  nnr  weni^r  anaridrtfln.  Um  to  mehr  aber  teilte 
die  gute  Literatur  ein  Anreizmittel  benutzen,  das  von  der  Schundliteratur  mit 
dem  grö88ten  Erfolge  angewandt  wird:  die  Illustrierung.  Unser  Volk  hungert 
nach  bildlicher  Darstellung  der  geschilderten  Vorgänge.  Wenn  ein  Heft  schon 
nnf  dem  UnechUg  ein  dumetiseb  bewegtet  Bild  trägt,  so  itt  et  niiienden  Abtetaet 
nna»  iiebrer.  Hier  will  die  Dentiebe  Diehtar^iediditnit-Stlftnng  eineetien.  Se 
hat  es  bisher  ans  künstlerischen  Bedenken  meistens  vermieden,  ihre  Bücher 
illnstrieren  sa  lassen,  abor  «ie  bar  »ich  damit  ganis  ebenso  wie  die  ^W!»'!»bftdener 
YoUubttcher",  die  „Rbeiniäche  Hauübücherei^  und  andere  billige  Sammlungen 
einet  fcxlftigea  Zugmittels  beraobt«  deeten  eie  «vf  die  Daner  im  Kampfe  gegen 
die  Sebnndliteratnr  nieht  entbebran  kann.  Jetat  hat  die  Dentidie  IXebtei^ 
Gedächtnis-Stiftung  beaeblossen,  nm  anch  dieeea  Mittel  gegen  die  Schnndliteratar 
in  Anwendiini,'  zn  bring-f^n  einige  neu»'  Reft^  ihrer  „Volksbürhf'r"'  von  Könttkr- 
hand  illustrieren  zu  iaasen.  Das  preui^sii^ctie  Lnterrichts-Ministenum  hat  diesen 
Versuch  in  dankenswertester  Weise  durch  Zuwendung  einer  Geldunterstütsung 
ennOgliebt, 

So  werden  denn  zwei  „VolksbQcber"  der  Deutschen  Didlter-Oediebtnit-Stiftun£r 
erschoiiipn,  die  literarisch  wertvolle  Erzählungen  in  gediegener  Aumtattusg  und 
von  Kuustlerhand  illu-striert,  dennoch  aber  zu  billic^sten  Preisen  darbieten.  De« 
im  Jahre  1^07  verbturbtiuen  Adolf  Schmitthenner  dramatisch  bewegte  Novelle 
„Die  FrllbgloQke«,  die  in  Heidelberg  im  16.  Jabibnndert  spielt«  ist  von  Prot 
Wilhelm  Schulz  in  München  illustriert  worden.  Die  Bilder  sind  dem  Text  ein- 
gegliedert, riiicH  wird  ausserdem  al.s  Titelbild  den  üm.schlag  schmücken.  Da« 
andre  mue  Hett  der  „Volksbücher"  der  Stiftung  enthält  eine  launige  Erzählung 
von  Jb^rust  Joh.  Groth,  nDia  Kuhhaut",  die  eine  heitere  Episode  aus  dem 
dentechen  Militirleben  im  Kriege  1810/71  nnd  naeb  dem  Kriege  mit  ktatliebam 
Hnmor  schildert  Dieees  Heft  ist  von  dem  Maler  Og.  0.  Srier  illnstriert  nnd 
wird  ebenfalls  mit  einem  üm^chlagbilde  versehen  sein.  Die  Schmitthennentche 
Erzählung  wird  geheftet  nur  20  Ff.,  gebunden  60  Pf.  kosten,  die  Grothsche 
Krz&hlung  geheftet  16  PI,  gebunden  40  Pf.  Die  Bücher  sind  durch  jede  Buch- 
btadlong  oder  gegen  BSnsendnng  des  Betrages  an  ^e  DentadM  Diohter-Oedlebtais- 
Stiftung,  Hambnig4}i«etbertM,  nm  ditttr  edbit  M  bemeben.  Jeder  Feind  der 
Schundliteratur  mag  dazu  beitragen,  dietet  neof  Vitlei  im  Xaa^  gegen  die 
üble  Literatur  nach  Kräften  an  benntien. 


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—    223  — 

G.  BeurteUmigeii* 


FrlBkel,  EraityÜberVorstelliings- 
elemen  le  und  Auf  merk  lam  keil. 
Ein  Beitrag  snr  experimenteUen 
P8ycholo(rie.   Inaag.-IMaMrt.  Aogl- 

burg  1906.   246  S. 

Der  Verf.  stellt  sich  die  Aufgabe, 
flzpefhnentell  d6f  Ffagc  iriUier  bq  treten, 

ob  die  fandacnentalen  EiiTf^nsi  haften 
der  Aafmerksamkeit  and  der  .neusorielle 
Grandebarakter  in  engren  Beziehnngen 
zneinander  stehen,  sich  vielleicht  :^ar 
gegenseitig  bedingen.  —  Seinen  Ver- 
■nehen  unterwarf  er  10  Persoiwil: 
ß  normale,  3  debile  nnd  1  erwachsene. 
Er  unterwirft  sie  verschiedenen  Unter- 
su  Imngsmethoden  der  neueren  Psydio- 
iogie:  Methode  der  Stömngen,  der 
Hilfen,  des  Silben-  nnd  Wortlemens, 
des  Zählens  nnd  Dorcbstreichens  von 
Silben  and  Buchstaben,  tachisto- 
ikopischerÜBtersacbvngen  OberFization , 
Flnktuation  der  .\ufnierksamkeit  n.  a. 
▲nf  Grand  soner  aasserordentUch  la* 
wllMigoB  and  vnftkngniQlMii  Be* 
obachtniigen  charakterisiert  der  Verf. 
dann  die  typischsten  Versnchspersonen 
hilrichtfich  ihrer  Vorstellnngseiemente, 
Utter  Aufmerksamkpit  nn  l  beider  Be- 
liehangea  ontereiuauder  uud  knüpft 
daran  didaktische  Folgeningra.  Die 
Kardinalfrage  seiner  Arbeit:  I^t  die 
Anfmerksamkeit  das  PrimiLre  uud  sind 
die  Vorstellnngselemente  das  SeknndAre, 
oder,  sind  umgekehrt  die  dominierenden 
Gesichte  und  Gehürsbilder  uud  die  ihnen 
eigenen  Gefühle  für  die  AnfmerkBani- 
keit  bedingoid?  erfolgt  auf  der  Grund- 
la^  Mesmuin'Layscner  Anfmerksam- 
keitstheorie  die  Antwort:  Das  eine 
Sind  fasst  vor  aUea  Dingen  da« 
AlHMtiMhe,  das  aadm«  dts  Optiiehe 
auf^  weil  diese  Eindrücke  leichter  in 
sein  Bewosstaein  eingehen  nnd  lebendiger 
iarii  haften.  Ihircli  diese  Leiehtigkait 
des  Eindringens  in  das  Bewusstsein 
entsteht  natnrgemäss  eine  Lnstempftn- 
icBmgt  M  oft  die  vorhandenen  IHe- 
positionen  nnd  Neigongen  der  inneren 
Begabang  durch  die  ihnen  entsprechen- 
den Funktionen  anpreregt  und  bereichert 
werden.  Durch  diese  Funktionen  und 
ibre  L'buag  entwickeln  sich  dann  die 


natfliiichen  Anlagen,  das  Talent  immer 
mehr,  welch  letzteres  aber  nie  und 
nimmer  aus  der  „Schärfe  der  Sinne'* 
nud  der  „Unterschiedsempfindlichkeit  ' 
allein  sa  erklären  ist.  Erste  Bedingang 
ist  nnd  hleibt  die  lebendige  nnd  be- 
wtrjliche,  intensive  Anschauungsvor- 
8tellun(r,  die  sich  als  treues  Gedächtnis 
nnd  leichte  Beprodolrtion»-  und 
Eombinationsfähigkeit  für  beitinnnte 
Sinnesgebiete  äussert. 

Fränkels  Untersnchnngen  ^ben 
auf  ein  psychologisch  -  pädagogisches 
Kapitel  von  grösster  Bedeutung:  die 
Typenunterschiede  des  Anschanens  und 
des  (ledächtniHfes.  Ibr  Hanptverdienst 
i»t,  dass  sie  eine  Reihe  von  Beobachtungs- 
metboden  aui  eine  geschlossene  Gmppe 
von  Versuchspersonen  vereinigen  und 
sorgsam  durchführen.  Die  Resultate 
zeigen  vorzügliche  Übereinstimmung 
und  bilden  eine  Bewähnmg  der 
Xekhoden. 

Dr.  Joh'8  Köhler,  Zur  Einführang 
in  dieezperimentell«  Peyeho- 

logie.  Zwei  Vorträge.  Gerde«  und 
Hödel,  Berlin  Ibüö.    32  S.   U,6U  M. 

Verf.  zeigt  in  seinen  Vorträgen,  die 
er  im  Fortoildungskuraus  der  Lehrer 
des  östlichen  Odenwaldes  gehalten  hat, 
Wesen  und  Bedeutung  der  experimen- 
tellen P^jehologie  für  den  praktischen 
Pädagogen.  Er  geht  von  konkreten 
Beispielen  aus,  im  1.  Vortrage  von  den 
Wundtschen  Komplikationsversuchen 
QLompUlEationfabr)  nnd  den  tachiato- 
nopisoben  Beobaehtnngen  der  Wundt- 
schen Schule,  im  zweiten  von  dem 
Weberschen  Gesets.  —  Die  klare  Schrift 
kann  dem  Stodinm  warm  empfohlen 
werden. 

Kiel.  M nrx  Lohiiea. 

FlUgel,  0.9  Moniimns  nnd  Theo- 
logie. Dritte,  nmgearbeitete  Aufl. 
der  spekulativen  Theologie  der  Gegen- 
wart.   XV  u.  413  S.    CSthen  1906^ 

0.  Schulae.   Pr.  7  M. 

Flügels  Buch  ist  nicht  minder  fUr 
den  Pi4agogen,  wie  für  den  Theologen 


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—    224  — 


Ton  ^'To^^^em  Interesse.  Ts  Im  leuchtet 
die  Kernfraffen  der  Theologie,  Philo- 
flophie  und  Ethik  und  flllirt  mitten  fai 
die  Bewegnnpcn  der  Gei^^enwart,  die 
in  ihrer  Mannigfaltigkeit  uud  Tragweite 
leicht  Terwirren.  von  festem  Stand« 
punkte  ans  prüft  der  Verf.  die  ver- 
schiedenen Richtiiuijen.  Er  weist  nach, 
wie  weit  der  Monismus  verbreitet  ist, 
indem  er  die  Gedankengäiiirp  der 
firefeiertsteu  Theologen,  Philusopheu  uud 
Natarwi8«enßchafüer  klarlegt,  und  zu 
Avokhen  Eonsequenzen  der  weithin 
herrschende  Moniamiis  führt.  „Es  gibt 
nur  das  Entweder-oder :  Tlieisnius  oder 
Atheismos.  Was  dazwischen  liegt,  ist 
dan  unklare,  traninhafte  Denken  des 
Pantheismus  oder  Monismus"  (S.  VI). 
Der  Verf.  kommt  in  seinen  Darlekttogen 
auch  anf  Peyeholngisehes  und  EtAiseliee 
fz.  B.  in  den  Kninteln  ,,Gliinben  und 
FUrwahrhalten"  —  „Religion  und  Sitt- 
lichkeit"), an  dem  pftdagogische  Rich- 
tungen der  Gegenwart  .'»ich  scharf 
echeiden.  ,.Gehen  Glauben  uud  Wissen 
nebeneinander  her?"  Es  wird  betont, 
dasf  HiT'h  rf>li,'7i'<')e  Gefühle  von  relitjiüser 
Erkenutnis  uhnaugig  sind;  üassKeligiuu 
nicht  nur  Sache  des  tnbjdttiven  Ge- 
nusses sein  darf,  wenn  sie  einen  festen 
Halt  bieten  soll,  oft  den  einzitren  Halt 
im  Leben  und  im  Sterben.  Der  Verf. 
erweist  die  Unvertrftglichkeit  des 
Monisrnns  mit  dem  Olanben  an  einen 
persönlichen  Gott,  an  persQnlicbe  Ub> 
sterhiichkeit,  an  einselbständiffeaSeelen« 
weeen.  Ja  ruhiger,  klater  Oedanken- 
fUhninp:  tr*^t  -  :  len  Widersprächen 
nach,  zu  denen  der  Monismus  führt,  und 
kommt  zu  dem  ErgebuisAe :  „Wire  das 
AIl-Eine  wirklich  vorhanden,  dann  wftre 
es  ein  iogiücheü  und  moralisches  Un- 
geheuer. Jeder  moralische  Meaadl 
müsste  sich  hfUen.  demselben  zu  dieBen, 
oder  es  zn  verehren"  fS.  148). 

Das  Studium  des  Buches  ist  aufs 
wftnnite  so  empfeklea. 

Im  Änschlusfi  an  Flüprels  Buch 
möchte  ich  eines  vor  mehreren  Jahren 
erschienenen  Bnehes  gedenk<m.  Et  Ist 
ein  Band  der  unter  dem  Sammeltitel 
„Lebensfragen"  von  H.  Weinel  heraus- 
gegebenen SchriftMi  and  Beden: 

Otto,R.,  Prlvatdozent  Llc,  Natura- 
listische und  religiöse  Welt- 


ansicht.   Tübingen  1901.  Mokr. 

Pr.  g-eb.  4  M. 

Der  Verf.  i.st  bestrebt  zu  erweisen, 
dass  die  Forschungsmethode  und  die 
Gesetze  der  Natnrwi.'*«en«ch!ift  nicht 
auf  das  Gebiet  der  GeisteHwisseuächaiieo, 
insbeaondere  das  Gebiet  des  Relisriöasn 
tibertragen  werden  dürfen  und  kr.nn»»n. 
Er  tut  das  mit  einem  Aufwände  gr*».<*er, 
aber  nicht  nngeniessbarer  Gelehrsamkeit 
Das  Stndium  des  Buches  setzt  einen 
nicht  unbedentenden  Grad  philosophi- 
scher Bildung vorau.*^.  .\nc:eiiehui  bf-rührt 
die  ruhige  objektive  Betrachtungsweise 
des  Yerf 

Rein ,  Prof.  Dr.  W. ,  G  r  u  n  d  r  i  s  s 
der  Ethik  mit  Bezieliuug  auf 
das  Leben  der  Gegenwart. 
2.  Aufl.  Osterwieck  1906,  Zickfeldt. 
Pr.  geb.  3,80  M. 

Wenn  man  vom  Monismus  ans  nicht 

zu  dem  (Thmben  nn  einen  persönlichen 
Üott  gelangen  kann,  so  muss  auch  eise 
auf  den  Moniimus  begründete  Ethik 
der  Peieönlichkeitsbildung  hinderlich 
sein.  Die  Sittlichkeit  darf  man  nicht 
aus  deneelben  Prinzipien  ablöten,  wie 
die  theoretische  Weltanf>chanung :  Ronst 
tfelangt  man  znm  sittlichen  Evolutionis- 
muH.  T)arüber  anr  Klarheit  zu  gelangen, 
ist  eine  der  vornehmsten  Pflichten  de« 
Lehrers  und  Erziehers.  Die  Bildung 
der  sittlich-religiösen  PeraSnlicbkeit  als 
Erziehnn<>:sziel  anerkennen  und  dem 
sittlichen  Evolutionisuius  hnldifiren.  ist 
ein  Widerspruch.  Eis  scheint,  ddps  in 
der  Berufsbildung  der  Lehrer  die  Ein- 
führung in  die  Grundfragen  der  Etbik 
noch  nicht  die  notwen  1 " l."^'  Berflrk- 
sichtignng  erfährt.  Ein  Maugel  in 
dieser  Benehunr  mura  dnreh  PriTst- 
studium  ansge^glichen  r  1  u.  Diesem 
Zwecke  su  dienen ,  ist  das  oben  an- 

fezeifirte  Buch  Heins  wobl  veagnet. 
)cr  Vrrf  vertritt  den  Standpunkt  der 
idealistischen  Ethik  Herbarls.  Diese 
Ethik  steht  nicht  in  einem  Gegensatn 
cur  christlichen  Ethik,  vielmehr  kann 
durch  sie  der  Religionsunterricht  wie 
tberbaupt  aller  Gesinnnngsunterricht 
an  Klarheit  und  Wirksamkeit  nar 
gewinnen. 

EncyklopSdischesHandbucb  der 
Pädagogik,  her.  von  Prof.  I>r. 


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—    225  — 


W.  1t«iii,  8.  Aufl.,  6.  Ba.  8.  HMfte, 

6.  u.  7.  HJ.  Lan(?:'nsa];':a,  Beyer  u. 
Söhue.    Pr.  des  HaJubaiides  7,öU  M. 

Der  2.  U&lbband  des  ö.  Bandes  bietet 
irertvolle  Artikel  (Lehrerinnenverdne 
bis  Mondart  in  der  Volksschule).  Ohne 
Nachteil  könnte  jedoch  auch  dieser 
Band  durch  Wegfall  «ner  Reihe  von 
Artikeln  entlastet  werden  (Leichtsinn, 
LiebentiM  ürdigkeit,  Linkisch ,  Listig, 
Lttmmel,  Lustigkeit.  Luxus,  Mftkel- 
sncht).  Der.  Artikel  „Liebe"  trüge 
besser  die  Überschrift:  „Geschlechts- 
liebe'. Von  den  wertvollen  Arbeiten 
seien  besonders  genannt:  Lotze  (von 
Schwertfeger),  Löge  (von  Trflper), 
Luther  ivm  Kefcrsttiu  ,  Mager  (von 
Bliedner),  Mitgefühl,  Mitfreude,  Mitleid 
fwn  Flügel) ,  MoxialmitMri«ht  {Ton 
Temming;).  Mundart  in  der  Volkucniile 
(von  Meuges). 

Auch  folgende  Artikel  des  1.  Halb- 
bandes d>^s  f).  Banil»  H  bieten  dem  Päda- 

Sogen  wenig:  Mutwille,  Neckerei, 
iederträchtig,  Nachgiebig,  Naseweis,  • 
Oberflächlich.  Unter  dem  Stichworte 
„Naturerziehung''  tindet  sich  sehr  Ver- 
schiedenartiges beisammen.  Es  er- 
scheint nicht  zweckmässig,  der  Knnst- 
miebnug  die  Naturerziehung  gegen- 
überzustellen. Einen  wertvollen  Be- 
standteil dieses  Bandes  bilden  die 
Artlltel  von  Dr.  Th.  Ziehen:  Knnkliafte 
Muskelunnihe.  Mntacisnius,  Nächtliches 
Aafüchrecken ,  Nahrungsverweigerung, 
üerfmsjstem,  Nenrasthenie.  Ont  unter- 
richten  über  ausländisches  .Schulwesen 
die  Artikel:  Neugriechit^ches  Schul- 
wesen (von  Oikonomos).  Niederländisches 
Schulwesen  (von  Bos),  Norwegisches 
3chulwe8en  (von  fünf  Verfassern), 
Osterreieh.  Sclmlwesen  (von  Homich). 
Willkommen  anch  sind  die  Biographien 
von  B.  Ch.  L.  Natorp  {von  P.  Natorp), 
Joh.  Fr.  Oberlin  (von  Eugenie  Oberlin], 
Aug.  H.  Niemeyer  (von  Bein),  Fr.  W, 
Nietzsche  (von  Weoer).  Interessante 
Versuche,  den  Lehrgang  auf  geschicht- 
licher Grundlage  aufsubaoen,  bieten: 
Kieniti-OeiloffT  „Natnrfesehiehtlioher 
Unterricht  nach  historischeu  Gesichts- 
punkten"; Albrich  u.  Capesios:  Natur- 
jehre  anf  geschichtlieker  Orandlagfe. 

Beicheren  pädagopi^-rhen  Inhalts  ist 
der  2.  Ualbband  z.  B.  in  den  Artikeln: 
Philosophische  Pädagogik  (W.  ReinX 
P&dagogik  und  Medizin  (  Koch  u.TräperX 
PMagOfiMlM  Studleo.  ZXX.  S. 


FIdagogische  Presse  (Eillmaan,  HOhene 

Schulwesen,  Zieg^lcr,  Volksschulwesen)^ 
Parallelgrammatik  (Homemann),  Panp 
noia  (Ziehen).  PersSnIichkeit  des  Ldiren 

(Lan::  I'estalozzis  Pädagogik  (NatorpjL 
Feätulozziä  Psychologie  und  Etmk 
(Uphues),  Pflanzenphjsiologie  in  dar 
Schale  (Schleichert),  Phouetik  (W.Victor), 
Phonetik  beim  Lesenlemen  fSpieserj, 
Physiologie  und  Pädagogik  f Schaf erj, 
Physiologische  Psychologie  (Th.  Ziehen). 
Weshalb  aber  die  Artikel:  Parteiisch, 
Patzig,  Pedantisch,  Pfiffig,  Plump, 
Possierlich  Aufnahme  in  das  Handbuch 
gefunden  haben,  ist  nicht  recht  ein- 
zusehen. 

Anf  folgende  Artikel  des  7.  Bandes  sei 
hiernoeh  Imigewlesett :  Prinxenersiehiing 

(E.  Meyer),  Privatlektihe  rWolgust), 
Pubert&tsirresein  (Th.  Ziehen),  Psycbo- 
mthisches  in  lundesleben  (TrUper), 
RettungsanRtalten  (v.  Rhoden),  Rezen- 
sententum  in  der  P&dagogik  (VV.  Bein), 
A.  RitBchl  und  seine  Schule  in  ihrer 
Bedeutung  für  die  chri.siliche  religiOse 
Erziehung  (Katzer),  B4>uiiseau  (£.  v. 
Sallwürk),  Schopenhauer  (0.  FlttgelX 
Bochow  iKlähri,  Schularzt (Borg^rstelll)^ 
Schulanfsicht  ^Hiutner). 

Oh  sich  der  Gedanke  wohl  tsp- 
wirklicheu  Hesse,  neben  dem  viel- 
bändigen Encyklopädischen  Handbnche 
eins  zu  schaffen,  das  im  Unifan^re  etwa 
dem  .^dneu  Meyer"  oder  dem  „Kleinen 
Broekhans"  entspricht?  Ee  wllrde  airf 
alles  mehr  nur  Historische  Terzichten 
und  das  die  Q^cnwart  besonders 
Bewegende  in  den  Tordeigrand  stellen 
müssen. 

Barthf  Dr.  Fral,  Die  Elemente  der 

Erziehungs-  und  Unterrichts- 
lehre.  Auf  Grund  der  Psychologie 
und  der  Philosophie  der  Gegenwart 
darge.siellt.  2,  durchffesehene  und  er- 
weiterte Auflage.  Leipzig  Ibüö.  Joh. 
Ambr.  Barth.  Ar.  ?^  M. 

Die  1.  Auflage  dieses  Buches  ist  in 
den  Päd.  Studien  1906,  S.  869-878  be- 
sproeben  worden.  Dort  wnrde  n.  n. 
bemerkt,  dass  die  I^ar  t*  uuiig  des  Ver- 
fassen weniger  den  Eindruck  des  Ver- 
saefas,  ein  nenes  Sjwtom  antenstelleit, 
macfif.  vielmehr  den  Eindruck  einer 
gründlichen  und  besonnenen  Revision 
hBVvtslehlieher  Leistungen  und  Be- 
•tremmgen  «af  dem  Gebiete  der  Pida^ 

16 


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—    226  — 


^ü^'ik  in  der  Vergaugenheil  min  in  der 
(iejfenwart.  Im  folgenden  »oll  nur  auf 
die  Ürandlage  des  neuen  pftdag<i«i«chen 
Systems  hingewiesen  werden,  un  Vor> 
Worte  zur  2.  Aufliii:'  ij^  der  Verf., 
du«  er  nach  seb&rferer  Srotematisie- 
nm^dmOansafn  gMtrebt  hsoe.  „Ferner 
sollte  die  Philosophie,  auf  der  dieses 
(ianze  rab^  klarer  hervortreten.  £^  iat 
die«  in  der  firkeontnistheorie  der  Neil' 
k^Mitianisrnns  A.  Riehls,  der  dorn 
i'ositivismns  sehr  »ahe  kommt,  in  der 
allgemeinen  Weltanschauung  die  Ent- 
wicklungslehre, wie  sie  nach  manchen 
Vorg&ngem  für  die  Natnr  und  die  Natur- 
epocneu  der  Geschichte  von  H.Spencer, 
für  die  Natur  und  für  die  Geisteawelt 
Tou  W.  Wuüdt  heraiLsgearbeitet,  und 
wie  sie  mir  durch  meine  soziologischen 
Studien  bestätigt  worden  ist."  Daher 
auch  die  Erweiterung  des  Tltds  durch 
die  Worte:  „und  der  Philoiophie." 

Wie  schon  in  der  ersten,  so  sind 
auch  in  der  zweiten  Auflage  Begriff 
und  Ziel  der  Erziehung  nicht  scharf 
auseinander  gehalten;  in  dem  Kapitel 
aber  letzteres  wird  nur  eine  Definition 
der  Erziehung  gegeben:  sie  ist  die 
„Fortpfiaazaaff  derOeselUohaft". 
Damnen  nram  siäi  das  Ziel  der  Ent- 
wicklung der  fiesellst'liaft  mit  dem  Er- 
siebun£»ziele  decken.  Dieses  Ziel  er- 
bttokt  der  Verf.  „in  den  Idealen  der  in 
einer  Gesellschaft  herrschenden  nrin- 
dpielien  Sittücbkeit „Solche  Ideale 
mttnm  anch  des  Eniehers  nnwandel« 
bare  Überzeugung  sein,  denn  sie  bilden 

i'a  das  Ziel  der  Erziehung.  Und  ein 
iiel,  das  sich  stets  veiindert,  kann 
nicht  We^rweiser  sein.  .  ,  .  Welche 
Tugendeu  der  Mensch  erwerben  soll, 
das  weiss  jeder  (?).  Denn  die  mensch- 
lichen Tugenden  sind  in  unserer  west- 
eurooäischen  und  in  der  amerikanischen 
Gesellschaft  allgemein  anerkannt;  nur 
die  BegründoDg  ist  in  den  ethischen 
Systemen  yerscneden."  Als  die  Ideale 
der  in  einer  Gesellschaft  iierrschenden 
nrinsipielleu  Sittlichkeit  werden  die 
beiden  obersten,  „von  allen  Biehtmigen 
der  wishenschaftlichen  Ethik  ■  an- 
erkannten Zwecke  (S.  14^,  deueu  der 
Kenseh nachstreben  soll:  Eigene  Voll- 
k'MPrnenheit  und  fremde  6lllok<- 
Seligkeit  (S.  9),  bezeiotmet 

Hit  dieser  Oedankeueibe  ist  sehwer 
in  Einklang  m  bringen,  was  8.  6  ge- 


sagt ist:  „Wie  sehr  auch  die  Moral- 
systeme der  Menschheit  gewechselt 
haben,  neben  dem  variablen  Elemente 
bt  es  ein  konstantes,  nämlich  die 
ingehung  au  die  Zwecke  der  (teuu-ia- 
schaft,  deren  kein  wirksames  Moral* 
System  entbehren  kann.  —  Die  Zwecke 
seihst  wechseln  und  ergeben  das  variable 
Element  Die  Hingebung  an  diese 
Zwecke  bleibt  konstant,  nnd  aus  ihr 
folgen  gewisse  Tugenden,  die,  weil  all- 
^meingültig  und  allgtiiuunn)enschlicb, 
in  jedem  pädagogischen  Systeme  wieder^ 
kehren."  Wie  kann  die  Hingebung  an 
wechselnde  Zwecke  (Ideale)  allgemciu- 
gültige  und  allgemeinmenschliche 
Tugenden  hervorbringen?  Tugend  ist 
hiernach,  wu.h  der  Fürt^Üauzuug  der 
Gesellschaft  dient:  sie  wird  einer  bloss 
relativen  Wertschätxung  nnteraogen. 
Im  übrigen  wird  man  nicht  scbon  deshalb, 
weil  {gewisse  Tugenden  in  der  w<■^t- 
earonttischen  and  in  der  amerikanischea 
Geidlsehaft  anerkannt  sind,  diese 
Tugenden  allgemeinmrnsi  hliche  nennen 
dürfen.  Nach  Spencer  ist  die  Gesell- 
sehaft  ein  Organurana,  der  einem  bar> 
monischen  Gleichgewichte  aller  seiner 
Teile  zustrebt;  das  Endziel:  Sicherung 
der  Erhaltung  des  Individuums  nnd  der 
Gattung.  Selbstverständlich  muss  die 
Erhaltung  des  Tndividnaras  gesichert 
werden,  denn  wo  bliebe  sonst  die 
Oattuni:?  Was  aber  könnte  uns  ver- 
anlassen, die  Gattung  zu  erhalten  r  Er- 
haltung der  Gattung  ist  an  sich  etwas 
Sittlich-Indifferentes.  Sie  erfordert  in 
der  weetenropttisehen  Gesellschaft  ge- 
wisse Tugenden.  Demnach  andere  in 
der  Süd-  and  osteuropäischen,  andere  in 
den  aeiatlschen  Oeeellfchaften.  Vgl. 
wdter  &  458. 

Wie  in  der  monistischen  Wpltnnschan- 
uiig  die  Persönliebkeit  Gottes  sich  ver- 
fluchtet, so  gelangt  der  ethische  Evolu- 
tionismus auch  nicht  im  Bunde  mit 
der  Soziologie  zu  einem  sittlich-reli- 
gifisen  Persünlichkeitsifhale.  ErbUckt 
man  das  Ziel  der  Erziehung  im  Ideal 
der  Persönlichkeit,  die  nicht  nur  als 
Mittel  zu  einem  Zwecke,  z.  B.  der  Er- 
haltung der  Gattung,  bewertet  wird, 
dann  kann  fttr  sie  nur  eine  Ethik  ziel- 
setzend sein,  die  auf  dem  Satze  bembt: 
.fis  ist  ttberall  nicht»  in  der  Welt,  ja 
flberfaaapt  anch  ausser  dendben  sn 
denken  mdglich,  waaekneSinaebiiakoiig 


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—    227  — 


fOr  gut  künute  ^'ehalten  werden,  als 
allein  ein  guter  Wille."  £iue  Pftdagogik 
mit  dieMm  Zid  kann  als  höchstes  Gvt 

nur  die  sittliche  Persönlichkeit  an- 
erkennen j  sie  wird  aacb  der  Gesell- 
•dbafl  am  besten  dienen,  die  doeh  das 

Ziel  ihrer  Entwicklung  nicht  in  sich 
trägt,  wie  ein  physischer  Organismus. 
Herbarts  idealistische  (absolute)  Ethik, 
die  nicht  nur  individnal,  sondern  auch 
sozial  gerichtet  ist,  >)  schliesst  eine  Ent- 
wicklung nicht  aus,  aber  das  Konstante 
liegt  bei  ihr  nicht  in  der  Hingebung 
an  gewisse  Zwecke  der  Geselkchaft, 
an  das  Interesse  der  Gemeinschaft,  in 
der  der  Mensch  lebt"  (S.  88)^  sondern 
in  den  sittlichen  Ideen;  die  Hingebung 
dagegen  ist  das  Variable,  das  der  Ent- 
wicklung Unterworfene.  DieHingebnng 
•oU  sieh  freilich  anr  Vollkomnienheit, 
Bestäudiijkeit  und  Harmonie  den  ein- 
seinen sittlichen  Forderungen  gegen- 
flber  entwickeln.  Die  Sittliehkeit,  d.  i. 
der  Grad  der  Annäherung  an  die  sitt- 
lichen Ideen,  entwickelt  sich  im  In- 
difidnnni  wie  in  der  Gesellschaft  Wenn 
der  ethische  Evolutionismns  nichts 
anderes  meinte,  dann  brauchte  man 
aiehts  gegen  ihn  einzuwenden.  Aber 
er  erkennt  allgemein- und  dauerndgültige 
sittliche  Forderungen  im  Sinne  der 
Herbartschen  Ethik  nicht  an.  Daher 
auch  der  Satz:  „So  er^ribt  sich,  streng 

genommen,  dass  die  Erziehungs-  und 
nterrichtslehre  nicht  alli;<iriLin  sein, 
dass  sie  vielmehr  immer  nur  für  eine 
bestimmte  Oesdisehaft  gelten  kSmie'' 
(S.  5  Bi.  Diejit-m  Satze  widerspricht 
freilich  die  ikhauptung  auf  S.  äU,  dass 
für  die  Sndehungslehre  das  Ziel  ein 
allge-meingültiges  .sein  kann,  während 
nur  für  die  U nterrichtslehre  ein  all- 
gemeingtlltiges  Ziel  in  Abrede  gestellt 
wird.  In  einer  Fufsnote  auf  8,  6  wird 
bemerkt:  „Die  moderne  Ethik  neigt 
vifllbudi  mm  Relativismus.  Diesem 
segenllber  wird  die  Beständigkeit  der 
formalen  Seite  der  Ethik,  d.  h.  des  Ge- 
dankens der  Verpflichtung  und  .sogar 
gewisser  mateiialer  Gebote  mit  Becht 
betont  von  A.  FoniUfe.  Unter  den 
materialen  Gehoten  hitte  Fonillte  a.  B. 


das  der  Wahrhaftigkeit  gegen  den  Volka- 
ffeiiQiiea  anftthxen  kOnnen."  Gilt  diesea 
Gebot  nur  dem  Yolksgenossen  gegen- 

über?  Der  Verf.  empfindet  die  Not- 
wendigkeit eines  iülgemeingültigea 
Ziels*);  aher  sein  philosophischer  Stand- 
punkt scheint  ihn  zu  einem  solchen 
nicht  gelangen  zu  la^üen.  Mau  gewinnt 
öfter  den  Eindruck  eines  Hin-  und  Hef^ 
Schwankens  zwißchoii  unvereinbaren 
Grundanschauungen.  Ob  dabei  eine 
scharfe  Systematlsierung  der  Elemente 
der  Erziebungs-  und  UnterrichtHlehre 
müglicb  ist?  Der  Versuch,  auf  einer  au 
den  Positivismus  grenzenden  Philo.sophie 
und  einer  evolutionistischen  Ethik,  die 
die  Willensmotive  eudämonistisehen 
und  utilitarischen  Systemen  entlehnt 
und  die  Wirksamkeit  der  ethischen 
VotiTe  Ton  ihrer  psjehologisehen  Be> 
grQndnng  abhängig  sein  lässt  (vgl. 
a.  88  ff.),  ein  pädagogisches  System  aof- 
inbaneiL  mnas  den  rdigiteen  nnd  etld- 
schen  Werten  gegenüber,  die  anderen 
Ursprungs,  als  die  empirischen  Gesetze 
sind,  in  Bediftnguisse  ftthren.  Eine  Zeit 
des  Ringens  zwischen  mechanistischer 
und  teleologischer  Weltanschauung  er- 
scheint übrigens  Ar  den  Aufbau  eines 
solchen  Systems  wenig  günstig.  Der 
Mensch  kann  sich  bei  bloss  mecha- 
nistischer Erklärung  der  Erscheinungen 
in  Natur  und  Geisteswelt  nie  befriedigt 
fühlen.  Trotzdem  sind  derartige  Er- 
klär ui>  es  versuche  sehr  wertvoll:  sie 
führen  za  tieferem  Maturerkennen  und 
leisten  Endes  snr  Yerfeinerung  des 
religiösen  und  sittlichen  Empfindens. 
Auch  die  Pädagogik  wird  nicht  un- 
berührt davon  Dl«Den;  doch  wird  sie 
sich  hüten  ratts.Hen,  ihr  System  dem 
schwankendem  Grunde  eine.s  ethischen 
Relativismus  anzuvertrauen,  und  sieh 
der  Beschränkung  eines  Positivismus 
zu  unterwerfen,  de.s8en  naturwissen- 
.«rhaftliche  Methoden  auf  den  Gebieten 
des  Psychischen,  Ethischen  untl  Reli- 
giösen versagen,  oder  zu  bedenklichen 
Ergebnissen  führen  müssen. 

Der  erkenntnistheoretische  nnd 
ethische  Standpunkt  des  Verfossen 
wdcht  wesentlich  von  dem  eines  Festa- 


*)  Louis  Gockler  (La  Pedagogie  de  Herbart)  nennt  Herbart  sogar  den 
Begründer  der  Sosidpuafogik. 

^)  Was  der  Verf.  S.  iCü  m  über  die  ideale  Gesellaehaft  sagt,  erinnert  an 

Herbartsche  Idee  der  beseelten  Gesellschaft. 

15* 


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—    228  — 


lozzi,  Herbart  a.  a.  ab.  Trotzdem  will 
er  deujenigen  Erwerb  der  Vergan^eu- 
beit,  der  bleibende  Oeltnnif  hat,  nicht 
nn^'onntzt  laspon  ('Vorwort  zur  1.  .\ufl.). 
üb  sic  h  dieser  Erwerb  aber  ohne  Zwang 
und  innere  Widerspruche  in  ein  System 
einfügen  lässt,  das  anf  gans  anderen 
Orondlagen  sich  anf  baut?  Ob  da  nicht 
die  Gefahr  nahe  liegt,  in  Eklekti/ismus 
m  Terfftllen,  der  aller  Systembüdung 
widerstreht? 

Im  Ubrii,'cn  mü^e  gestattet  nein  zu 
wiederholen,  was  am  Schluss  der  Be- 
fprechmig  der  1.  Auflage  gesagt  ist: 
^Das  Buch  bietet  viel  Gutes  und  viel 
Anregung  zur  Vertiefung  in  wichtige 
pädagogische  Fragen;  ei  ist  einem  sorg- 
fältigen Studium  zu  empfehlen.  Auch 
wer  in  wesentlichen  Funkten  abweichen- 
der Meinung  ist,  wird  oft  Gelegenheit 
haben,  zu  dem  gnt  orientierenden  Buche 
zurückzukehren.  Wohltuend  berührt 
das  Bemühen  des  Verfassers,  den  An- 
sichten und  dem  Standpunkte  anderer 
in  Vergangenheit  und  Gegenwart  ge- 
recht zu  wi'iilen."  -  Auch  der  Wuuj<ch 
wird  wiederholt,  daas  dem  reichen  In- 
halte des  Bodtes  «in  Saduregister  bei- 
gefflgt  werden  mSdite. 

Beeti.  K.  0..  EinfOhrnng  in  die 

moderne  Psychologie.  2.  völlig 
nragearb.  and  erweiterte  Aufl.  SBU  S. 
Osterwieck  1907,  Zickfeldt.  Pr.  g«b. 

9,60  M. 

Da.i  vorliegende  Buch  ist  die  2.  Aufl. 
de.s  1.  Teils  eines  unter  gleichem  Titel 
i.  .T.  1900  enchienen  Büches.  Der  Ver- 
fasser hat.  wie  er  im  Vorworte  bemerkt, 
von  der  Herausgabe  des  seinerzeit  in 
Aussicht  gestellten  2.  (bi  j^nndcrt-n)  Teils 
abgesehen,  dafttr  aber  eine  bedeutende 
Erweitemng  jenes  1.  Teils  (Allgemeine 
Grundlegung)  eintreten  lassen.  Die  .Zu- 
lage der  auf  S&ü  Seiten  angewachsenen 
Menanflage  nntetaeliddet  neh  von  der 
1.  Auflage  nicht.  Die  1.  Abt.  (Ge- 
schichtliche Grundlage  der  Psychologie) 
ist  als  besonderer  Band  und  .\bt.  2—4 
(Begriffliche  Einleitung ;  Psychophysische 
Grundlinien  der  Psychologie;  Psycho- 
logiseher  Anfriss)  als  Band  für  sich 
mrschienen.  In  der  4.  Abt.  sind  nnr 
2  Kapitel  neu  eingefügt:  Die  (Jrund- 
züge  des  pHsischen  Vorgangs  (Kap.  2), 
und:  Der  Zusammenhang  des  Psychi- 
schen (Kap.  8),  susammen  166  Seiten. 


Die  ursprünglichen  Abteilnnyren  sind 
demnach  um  2^  Seiten  gewachsen;  die 
2.  Auflage  bat  also  im  ganzen  eine 
Erweiterung  um  46n  S.  erfahren  Zn 
welchem  Zwecke ?  ^Nur  einführen 
wollte  ich",  heisst  es  am  Schlosse  d» 
Vorworts,  „und  zwar  vor  allem  in  solche 
Gebiete,  die  für  Erziehung  und  Unter- 
richt von  besonderem  Interesse  sind. 
Daneben  m(>chte  ich  allerdings  boSeo, 
aneh  etliche  Anregung  und  Beihilfe 
zum  verständig-»'!!  Studium  scbwcrersr 
psychologischer  Werke,  insonderheit  eine 
Dranchbare  Handreichnng  bei  psycho- 
logischen Sonderxtndium  für  Lehrer- 
prtlfungen  gegeben  zu  haben."  Das 
gaUBO  Buch  ist  die  Frucht  eines  weit 
auHg^'delintcn  Studiums.  E«  :,nbt  einen 
Überblick  über  gesammelte  Lesefrüchte 
und  die  Gedanken,  die  der  Verfasser 
sich  über  die  verschiedensten  Wissen- 
schaft liehen  Kichtiuitren  und  .\n.Hichtea 
gemacht  hat.  Das  Buch  kann  für  jemand, 
der  schon  einen  Standpunkt  gewonnen 
hat,  interessant  werden ;  aber  zur  ^Ein- 
führung"' in  die  moderne  Psychologie 
erscheint  es  schwerlich  geeignet.  Es 
(tthit  den  Anf&nger  nnd  mebenden  so 
wmiig  in  die  Psychologie  ein.  wie  ein 
Uteiatnrgeschichtlicher  Leitfaden  voU 
Namen,  Jahrescablen,  Titeln,  Bibalta- 
angaben  und  Urteilen  im.stande  ist,  fai 
poetische  Stimmung  zu  versetzen.  Im 
Übrigen  darf  ich  wohl  auf  die  Be- 
sprechung der  1  Aufl.  iPüd.  Studien 
1902,  S.  282)  verweisen;  das  dort  Ge- 
sagt» kann  auch  auf  die  neue  Auflage 
angewendet  werden,  die  sich  wie  schon 
bemerkt,  in  der  Anlage  und  Metbode 
nicht  Ton  der  frftberen  nntersdieidst 

BoehUtn.        Dr.  M.  Schilling. 

Dr.  QBftaT Herberieh.  £atwttrfsa 
einem  Lebrplan  ffir  die  Ober- 

realschnlc.  Nürnberg  und  Leipzig, 

U.  E.  Sebald.    1907.    Preis  1  M. 

Die  Errichtung  von  Oberrealschiüea 
in  Sachsen  und  Bayern  hat  ra  lebhaften 

Erörterungen  in  Fachkreisen  .\nla.>»8  ge- 
geben. In  diese  greift  die  vorliegende 
Schrift  ein.  Verfasser,  ein  bayrischer 
Schulmann,  hat  nämlich  vor  allem  die 
bayrischen  Verhältiii>*sc  im  Auge,  do^ 
ist  die  Schrift  von  allgemeinem  Interesse. 
Ich  halte  seine  Ausführungen  für  vor- 
trefflich. Sie  beweisen  eine  umfassende 


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9 


—    229  — 


Bildooff  und  ein  feinet  Ventindiiui  für 

die  Benürfiiisse  iiuserer  Zeit.  Für  «las 
Hauptproblem  bei  der  Aafittellttug  ded 
Lebrplans  der  OherrealHchule  hält  er 
die  Vf-rmeidiintr  'If  r  UberbUrdung,  Ober 
die  ja  an  den  Oberrealechalen  besonders 
Ti«l  gtikiiBgt  wird.  Der  Verfasser  stellt 
darTim  einen  Lehrplaii  auf,  der  auch  für 
die  Oberklasitu  nur  30  Pflichtstnudeii 
wöchentlich  enthält,  in  den  Unterklassen 
bis  U  UI  27  bis  28  Stnnden.  Nattirlich 
ist  eine  solche  im  Vergleich  mit  anderen 
böluren  Schnlen  geringe  StnniUiizfilil 
nur  möglich,  wenn  f«s(  jedem  Fache 
IFewiase  Opfer  stBierenratet  werden.  Zur 
fliitla^ttunL'  «ItT  SrliüUr  hält  der  Ver- 
fasser aosserdem  lUr  nötig,  daes  im 
GefrenBats  sn  dem  bisherigen  Verftthren 
die  einzelnen  Fiii'her  sUmrliih  in  eine 
innere  Verbindung  ge.ietzt  werden,  um 
•0  der  ZneAmmettDeDirlociirkeit  der  Biv 
kenntnisse  zu  ftenem  nnd  die  hete- 
rogenen ßildnngselcuRiite  im  Geist  des 
Schülers  zur  höheren  Einheit  zu  ver- 
sc>niirlzen.  Eine  besondere  Wichtigkeit 
winl  dabei  der  Geschichte  zuerkannt. 
Wie  sic  h  der  Verfasser  die  Beachrftnknng 
des  Stoffes  and  die  Erreicbmie  wert- 
voller Unterrichtsziele  denkt,  ist  sehr 
l«»en«'\\ »Tt.  n.ilH'i  wenlcn  iibcr  «lic  (mii- 
lelnen  Fäclier  treffeude  und  feine  Be- 
merkungen gemacht.  Anf  die  Wichtig- 
ki'it  lifr  Biologie  und  Grnlogie,  der 
Wirtschafts-  und  Verkehrsgeographie 
wird  hingewiesen  nnd  aneh  die  xün- 
fnhmnß  dprphilo«ophir«'hfn  PropSilenlik, 
weoit  anrli  iii'^lit  als  bt'soinK're«  Fach, 
empfohlen.  Besonders  sympathisch  be- 
rührt mich,  dass  der  Verfasser,  selbst 
ein  Nenphilolotre,  der  Überschätzung 
der  neuem  Spra«  hi  q  entipegentritt  und 
bei  aller  Vorliebe  für  zeitgemässe  Um- 
gestaltung des  Sprachunterrichts  doch 
Ziele  ablehnt,  die  nnn  einmal  imKliMen- 
nntexricht  nnerndcbbar  sind. 

Prof.  Dr.  Piiul  Förster,  Anti- 
£oethe!  Eine  Streitschrift.  An  die 
Frennde  des  hnaMmstHcheii  Gym- 
naHiums    TeatonSa-yerli^.  Leipnig 

iy07.   60  Pf. 

Diese  Schrift  ist  gtgeu  die  Pro- 
fessoren Hamack  (Theolog)  und  Roethe 
^i"^ rtnanist)  gerichtet,  die  wann  für  die 
humanistische  Bildung  uiugetreten  sind, 
und  vertritt  im  schroffen  Gegenaats 
dun  ein  rein  deotedies  Enidinng»* 


nnd  BildvngiddeaL  —  Die  Weise,  in 

der  die  Polemik  geführt  wird,  beröhrt 
nicht  gerade  sympathisch.  Schon  die 
Überschriften  ^Enr  Hamack";  „Herr 
Hoethe"  muten  seltsam  an.  Am  n  das 
Herausbeben  einzelner  Worte,  die  mit 
KiiudbeiDMrknngen  und  Fragezeichen 
ver^rlien  werden,  besonders  in  der  Po- 
leuiik  gegen  Ilarnack,  macht  eiueu 
kleinlichen  Eindrtuk  Auch  lässt  der 
Verfasser  überall  durchblicken,  dass  er 
seine  Gegner  für  unklare,  beschränkte 
und  verranntt'  Meiis(;h(-n  hält.  Trotz- 
dem finden  sich  bei  Förster  auch  viele 
richtige  nnd  treffende  BenHsrknngen,  be> 
sonders  wo  er  auf  die  Notwendigkeit 
und  Wichtigkeit  einer  Bildung,  die  auf 
unserer  dentsehen  Sprache,  Geeehiehte, 
r*i -l.tung,  Kunst  nnd  Gejiittnng  beruht, 
hinweist.  Obgleich  ich  die  humanistische 
Bildung,  wie  sie  aus  der  Beschäftigung 
mit  dem  klas^ischrn  Altertum  erw£>h8t, 
nicht  so  gering  s<  hftrze  wie  der  Ver- 
fasser, so  erkenne  ich  doch  einen  be- 
rechtigten Kern  in  dem  "Rcstrebcn, 
unsere  Jugendbilduug  mehr  auf  die 
deutsche  Sprache  und  gerraaniBOhes 
Wesen  zn  begründen. 

Dresden-Räcknitz.     K.  Needon. 

Hölzels  Wandbilder  fUr  den  AiiBchan- 
ungs-  und  Sprachunterricht.  Fünfte 
Serie:  Blatt  XV III:  Rom.  Nachdem 
Original- Aquarell  von  Adolf  Kauf- 
m au u  u.  A n  t  nn  Piukawa.  Hfacher 
Farbendruck.  141;  92  cm.  Prei^  mit 
Leinenrand  tind  Ösen  7,20  M.,  aof 
Leinwand  6,60  M.,  anf  Leinwand  mit 
Stilben  10,20  M. 

Die  neueste  P*ublikation  der  Hölzei- 
schen \Vandbilder  stellt  sich  den  voran- 
gegangenen würdig  an  die  Seite.  Das 
Torliegende  Bild  hält  in  geschmack- 
voller Farbengebung  den  mächtigen 
Eindrnck  fc-it,  den  jeder  Besochti-r  dur 
.Ewigen  Stadt"*  gewinnt,  wenn  er  von 
dem  tm  8  gelegenen  Aventinns  ans  das 
gewaltige  Hiln.sf  rmeer  und  seine  wunder- 
volle landschaftliche  Umrahmaug  auf 
sich  wirken  iftsst.  Ss  ist  selbstventtnd- 
lieh,  dass  bei  der  Entwirklnng  der 
modernen  Grossstadt  Rom  eiu  grosserer 
der  Stadt  nicht  mit  zur  Darstellung 
gelangen  konnte.  Das  antike  Rom  aber, 
das  6chule  und  Besucher  am  meiste 
interessiert,  tritt  ans  dem  Hinseigewirr 
plastisch  hermr. 


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—  230  — 


Die  Hauptgliederung  des  Bildes  wird 
(Inrcli  die  3  charaktcriHtisrhen  Win- 
dungeu  des  Tibtirü  gegebeu,  die  dic^r 
Terkebrsgeograpbicb  beute  vigentlicb 
recht  unbedenlfude  Fluss  in  uord-siUl- 
licher  Kicbliiug  iiiuerfaalb  des  Stadt- 
gebiet« eeigt.  Auf  dem  linken  Tiber- 
ufer,  also  auf  der  Ostseite  der  ätadt 
fallen  aas  der  klassiscben  Periode  auf 
der  Riesenbau  des  KnlossenniH .  der 
Trinmpfbogeu  KoiMtastias,  das  j^onim 
Bomannni ,  die  Tmjenmtnle ,  dai 
Pantheon  nsw  ,  Ton  Moiiuinentalbauten 
der  Gegenwart  ganz  besonden  der 
Qnirintf,  der  «eit  1870  die  Kesidens 
de^i  italienisrlien  KOnigs  bildet,  die 
recbte  Tiberseite  wird  durch  das 
Leoninische  Stadtviertel  mit  dem 
Vatikiin  nnd  der  Peterskirebe  beherrscht, 
Ton  wo  aus  ein  laniror  Arkadengang 
ta  der  ebenfalle  imponierend  in  die 
Atitren  fallenden  fingelabiurg  hinttbei^ 
füLrt. 

Dem  Bilde  ist  ein  gfuter  Situations- 
plan im  gleichen  Massstabe  beigegeben, 
der  eine  unmittelbare  Orientierung  er- 
laubt. Das  von  rn<f.  Dr.  Fr.  T  ni  la  u  f  t 
?erf aaste  Begleitwort  ist  knapp,  aber 
Tentlndlioli  und  relatiT  wUeOndig. 

Loediwiti  b.  Dresden. 

Dr.  Smil  Sehftne. 

Dr.  fcarl  Flötz,  Auszug  ans  der 
alten,  mittleren  und  neueren 
Geschichte.  Leipzig,  Q.  A. Pldts. 
440  S.   Pr.  geb.  3  M. 

Ein  alter,  bewährter  Freund,  der 
•rine  15.  Auflage  erlebt.  Schon  das 
spricht  für  die  Oflte  des  Buches.  Es 
ist  nichts  weniger  als  ein  Tabellarium, 
vielmehr,  wie  der  Heraut^tjeber  itn 
Vorwort  bemerkt,  ein  Leitfaden  für  den 
Unterricht  in  den  oberen  Klassen 
hifherer  Lehranstalten.  .\ber  nicht  nur 
fftr  Scholen,  auch  für  Lehrer,  die  Oe- 
aehiehtinintenrieht  erteilen  oder  sieb  aal 
eine  Prüfung:  vorbereiten,  i.-^t  da«  Werk 
ein  zuverlässiger,  ja  uueutbehrlicher 
Fttlirer.  In  denkbar  knappster,  aber 
dennnrh  eingehendster  Weise  fBhrt  es 
als  wirklicher  „Leitfaden"  durch  die 
Staaten- ,  Dynastien-  und  Kriegs* 
gescliichte.  Kunst  und  Wis~rrri«rhaft, 
Koloniaigeiicbichte  und  die  sozialen 
Bestrebungen,  die  neueste  Geschichte  des 
Oetena  nnd  gebUuend  beiflcluielitigt. 


Alfons  Bock,  Hellas  und  Rom. 
Kleines  Lehr-  nnd  Lesebuch  für  den 
Unterricht  in  der  griechischen  nnd 
römischen  Geschichte.  Erlangen  und 
Leipzi^r.  A.  Deichert,  178  8.  Pr. 
bn.oh.  2,20  M. 

Dag  Buch  ist  ausdrücklicii  für 
bayerische  Seminare  resp.  Präparandien 
bestimmt.  Die  betr.  Bestimmungen 
sind  mir  nicht  bekannt,  aber  man  dkrf 
wohl  annehmen,  dass  die  Ziele  dort 
nicht  niedriger  wie  in  Preussen  sind. 
Das  Bneh  yon  diesem  Standpunkte  aus 
betracht  t  r'  hrf»  i  tigt  es  den  alten 
Spruch:  Zweeu  Herren  kann  man  nicht 
dienen.  Es  ist  dem  Verfasser  mcht 
gelungen,  den  beiden  Auf^'^nben,  dn 
Lehr-  und  Lesebuch  zu  schaffen,  in 
gleicher  Weise  gerecht  zu  werden.  — 
Der  Gedanke,  auch  (h  u  I  nterricht  in 
der  alten  Geschichte  durcij  <^ueUenstücke 
zu  beleben  und  dem  Schüler  damit  die 
Kuntit  der  Meister  der  alten  (iescbicht- 
sehreibung  zu  erschlii^seu,  verdient 
volle  Anerkennung;  ebenso  die  reich- 
haltige und  sorgfältige  Auswahl.  Anefa 
die  steten  Hinweise  auf  Meisterwerke 
der  redenden  r.ntl  bildenden  Kun.-'t. 
deren  Stoffe  der  antiken  Geschichte 
entnommen  sind,  sind  dankenswot.  — 

Lfn'',(T  Ftt  ht  iler  lehrhafte  Ti-il  ni-ht 
auf  derüelbeu  Üühe.  Auch  die  knappste 
Form  rechtfertigt  nicht  den  Mangel  an 
Tirfe  Die  inneren  Zusammenhänge 
BUid  nicht  immer  aufgedeckt.  Der 
Persönlichkeit  der  grossen  Miiuner  ist 
nirgends  die  gebührende  Aulmerkh^aiB- 
keit  geschenkt  (Lamprecht?).  Aus  der 
Ansanl  von  Heisjiielen  nur  zw«i 
Peisistratos  und  Kleisthenes  sind  knapp 
12  Zeilen  gewidmet.  Von  der  hervor- 
ragenden I'ersönlichkeit  de.s  en*t»-ren 
nnd  den  wirtschaftlichen  Kämpfen,  die 
ihn  in  den  Vordergmnd  der  Oeschickte 

festellt  haben ,  Kein  Wort.  Non, 
eisistratos  and  seine  Tjraunis  bedeuten 
fttr  die  grosse  Verfaasnngsgeschichte 
dn,}i  r{\K.\<  mehr  als  eine  Episode. 
2.  Das  erste  Triumvirat.  Cra&»us  in 
charakterisiert  und  eingeführt.  Cäsar 
nnd  Poinpejii^  ^ind  auf  eirun^l  'h 
Woher  sie  kommeui'  Ihr  Charakter.' 
Keine  Silbe!  Und  doch  ist  das  eigen- 
tümliche  \'erhalten  des  Pompeju»  gegeti 
Cäsar  nur  ans  seinem  Charakter  zu  er- 
klären. Hier  wtren  Mommsens  treffende 
Cbamkteristikeu  am  flatse  gewesen. 


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—  Vielleicht  entscbli^t  sich  der 
Verfasser,  beide  Teil«  bei  einer  Neu- 
aufläge  fretreniit  herau8«ngeben.  Da- 
durch lies.se  sich  das  Lesebach  erheblich 
verbilligen  und  sein  Gebrauch  auch 
in  aasserbayerischen  Seminaren  und  als 
Ergänxong  zu  jedem  beliebigen  LehxbQOii 
der  Geechiehte^  ennOgtieben. 

Aus  der  Sammlung  Nfttur  vitd 
Qeisteswelt  (Teubner.  Leipiig,  Pr. 

Jro  Bindehen  geb.  1,25  M.)  liegen  vier 
istorische  Neuerscheinungen  vor. 

Zwei   von  ihnen  führen  in  das 
XnlCitriebeB  der  alten  Welt  ein: 
Ziebarth ,    Kulturbilder  ans 
griechischen  8  tädten(l20S.)and 
F.  T.  Dahn,  Pompeji,  eine  helle* 
uistische    Stadt   in  ItftHea 
(llö  S.). 

In  fesselnder  Darstellung,  unterstttzt 
▼ou  z  Ahlreich  en  gel  ung  e  n  e  n  A  b  b  i  1  d  u  n  12:  e  n . 
entwerfen  die  Verfasser  ein  anschauliches 
Bild  vom  öffentlichen  nnd  privaten 
Leben  in  den  Knltnrzentren  des  grossen 
Altertums.  Zur  Belebung  nnd  £r- 
glnsung  dee  Oeechiehteiintttxiehte 
können  die  beiden  Schriften  gute 
Dienste  leisten. 

Mit  der  neueren  Qeschidite  beschäftigen 
sich   Daenell,  Oesehiohte  der 

Vereinigten  Staat  en  von 
Amerika  (170  S.)    und    M.  Ü. 
Sehnldt,  Oese  hie  hte  dee  Welt- 
handel'* fUO  S). 
Trotz  der  knappen  Form,  die  sich 
Daenell  zur  Aufgabe  uremacht  hat,  gibt 
das  Werkchen  einen  tieferen  Einblick 
in  die  Entstehungsgeschichte  der  Ver- 
einigten Staaten.  Wleeicb  geographische, 

Sditische,  kommerziell«  mil  kulturelle 
omentegegenaeitiflr  betiiutlimen,  ist  in 
trefllifherill^eesarDarstellnng  gelangt. 
Schmidts  Geschichte  des  Welthandels 
♦  schildert  die  Entwicklung  des  Welt- 
handel, TOD  den  Handelsberiehnngen 
der  Sltesteii  Kulturvölker  ausgehend 
bis  zur  Aera  der  Dampfmaschine.  Trotz- 
dem das  Werk  aus  Vorträgen  ent- 
ftnii'V  n  ist,  fehlt  ihm  nicht  der  innere 
Zusammenhang.  Jenem  Umstände  ist 
wohl  auch  die  Frische  und  Anschaulich- 
keit der  Sprache  zu  verdanken. 

Ans  der  Sammlung  (jöscben  (Pr. 
pro  Bd.  0^  M.)  liegen  swei  mne 
liadchen  vor: 


Dr.  B.  Roth,   Oeeehiehtt  der 
christliehen  Balfcanetaftten. 

(153  ä.) 

Das  Buch  geht  von  dem  Eindringen 
der  Slaven  in  den  europäischen  Wetter- 
winkel ans  und  zeichnet  dann  in  Um- 
riäiJieu  die  ewii^eu  Kämpfe  der  Bulgaren. 
Serben,  Rumänen,  ^rnutenegriner  und 
Griechen  um  ihre  nationale  und  staat- 
liche Selbständigkeit  TOitereinander  nnd 
mit  den  Vormiu  I  ti n  des  Ostens.  Auch 
die  Kulturgeschichte  ist  nicht  vernach- 
lässigt. 

Dr.  Jftelnhold  OOnther,  Deutsche 
Knltnrgeiehiehte.  (182  S.) 

Erscheint  in  2.  völlig:  umgearbeiteter 
Auflage.  Die  Meubearbeitnng  nimmt 
überall  auf  die  Ergebnitie  der  neneren 
Forschungen  Rücksirlit  Paf^rirnn  ist 
dieKttrzung  um  43  Seiten  kein  dewiun 
für  dae  Bimi.  In  der  Kulturgeschichte 
■Ind  auch  Sinidsttge  von  Wichtigkeit. 

Dr.  Fr«  Henbauer,  Geschichta- 
Atlas  zu  dem  Lehrbuch  der  Ge- 
achichte  für  höhere  Lehran- 
stalten (QuartabisSekunda).  5.  Avil. 
Halle,  Waisenhans.   Pr.  0,60  M. 
Als  Ergänzung  zum  entsprechenden 
Lebrbneh  notwendig,   kann  aber  im 
übrigen  durch  die  aen  andren  Lehr- 
büchern gewöhnlieh  beigefügten  Karten 
ToUatändig  ersetzt  werden. 

Tanowits  O/SchL      H.  SterD. 

S.  baptnaBBf  Nationale  Erd- 
kunde. Strassburg  i.  E.  Friedrich 
Bull.  1907.  206  S.  4  M.  2.  Teü 
(Eniepa)  1906.  00  S.  1^  IL 

Ein  gana  neuartiges  Hilfsmittel  für 
den  geographischen  'Unterricht.  Der 
Verfasser  will  kein  voUständigeB  geo- 
graphisches Lehrbuch  geben,  sondern 
eine  Ubersicht  über  die  für  Deutsch- 
land wichtigen  geographischen  Gesidite- 
punkte  in  der  Geographie  der  ausser- 
deutscheu  Länder.  Der  1.  Teil  ist 
dazu  bestimmt,  das  heute  noeh  so  viel- 
fach mangelnde  Verstiindnis  für  Deutsrh- 
lands  übeneeische  Interessen  im  Unter- 
ridite  sa  wecken.  Es  ist  kein  Ldt- 
faden  für  die  Hand  der  Schüler,  sondern 
in  erster  Linie  ein  Uil&buch  für  die 
Hand  dea  Ldirers:  aber  es  sollte  auch 
ia  keiner  Bibliothak  fttr  gtHmvn  flehttter 


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—    232  — 


fehlen.  Der  Verfasser  behaudelt  zu- 
nftcbst  in  einem  einleitenden  Abschnitt 
Deatsctüaads  iiberaeelBche  Interessen. 
Ben  Haaptinbalt  bildet  die  Behandlung 
<ler  ausserearopäischen  ErdieiU'.  Hier- 
bei wird  die  WirtaohaftsgeoerApliie  der 
ttbefseeiedieii  Linder  TerDimden  mit  der 
Darsielluiit^  der  deutscheu  Interessen 
Ein  Btüäpiel  wird  dies  am  besten  er- 
läntenL  Den  Anfang  mneben  die  Ver- 
einicrten  Staaten  vnn  N  irdarnerika.  Be- 
handelt werden  zuiiächät  der  Boden  und 
seine  Frlielite,  dum  die  ndnemlieehen 
Bodenschätze ,  hieranf  Peut.<'chlands 
Handel  mit  den  Vereinigten  Staaten, 
endlich  das  Dentachturo  in  den  Ver- 
einigten Staaten.  In  entsprechender 
Weise  wird  mit  allen  wichtigeren  anderen 
Ländern  Aussereuropas  verfahren.  Be- 
sonders eingehende  Darstellung  finden 
natttrlich  die  deutschen  Kolonien.  Auch 
die  Behandlung  der  deat«chen  Inter- 
essen in  der^  auatieehen  Türkei  wird 
man  kanm  in  einem  geographischen 
Lehrbuch  in  dieser  Ausführlichkeil  tin  den. 
Den  Schluss  des  1.  Teiles  bildet  eine 
Bttsasimenfasaende  wirtsehaftsgeogra- 
phiacbe  Cbereicht  in  F  :ii  ii  i  dl 
gemeinen  Wiederholung.  Hierbei  kommen 
die  wicbti^ten  Rohprodukte  und  Li- 
dnstriezweige  nach  ihrer  Verbreitung 
Uber  die  ganze  Erde  iiml  ihrer  Bedeutung 
Ittr  DentschJand  in  i:i:eilrängter  Übersicht 
zur  Darstellnng.  Zum  .Sehlu'^s  sind 
eine  Au2uihl  wichtiger  (Quellenschriften 
angefügt.  Hauptmanns  «»Nationale  Erd- 
konde"  ist  jedem  Lehrer  angelegent- 
lichst zu  empfehlen,  der  mit  grösseren 
Sehülem  die  überseei.schen  L&nder  zn 
behandeln  hat.  Das  Buch  ist  sorgfältig 

r batet  nnd  sttitet  sich  überall  auf 
neuesten  Er£rehni<»se  Der  2.  Teil 
behandelt  die  auaserdeatschen  Länder 
Sluropae  nach  densdben  Oeeiehtspnnkten, 
^r  leider  nicht  ebenso  ausführlich  ini  l 
Itlckeulos  wie  der  1.  Teil.  Bei  einer 
Neoanflag«  wird  der  2.  Tbil  entejtrachend 
ra  erweitem  sein. 

Sehmelile,  l>r.  K.,  Deutschland 
Bach  nenen  methodischen  Qe- 

8ichti?p  unkten  für  Schüler 
höherer  Lehranstalten.  Leipzii|^ 
und  Berlin.  B.  Q.  Ttolner,  1906. 
64  Seiten.   80  Pf. 

in  dieiem  Wiedailiolimgaliaeli  fttr 


Schüler  hat  der  Verfasser  die  jetzt  so 
vielfach  verlangte  Frage  als  Wieder- 
holungsmittel eingeführt  und  zwingt 
dadurch  den  Schüler,  die  Karte  zu 
studieren  und  selbst  nachzudenken. 
Alles,  was  nicht  aus  der  Karte  heran«» 
gelesen  irerden  kann,  wird  in  besonderes 

\ h.schnittfii  /.\'^ischeu  den  Fnii,'eu  in 
zuHammenhängeudcr  Darstellong  ge- 
geben. An  der  Spitrn  stehen  einure 
einleitende  Abschnitte  aus  der  all- 
gemeinen Erdkunde  über  die  Mond- 
phasen und  Finsternisse,  die  mittct- 
enmpRische  Zeit,  die  BiMuut:  der  festen 
Erdrinde,  die  Gletscher  und  die  Gezeiten, 
um  das  znm  Ve^^4tändnio  der  physischen 
rtcoq-raphie  Nötiijste  r.n  rennitteln.  Es 
folgen  dauu  Fragen  über  Deutschlands 
Lage,  (tr(>8se,  Grenzen,  Aufhau,  Klima, 
Pflanzenwelt  und  Bevölkerung  im  An- 
schluss  an  die  entsprechenden  all- 
gemeinen Kiirten  im  Atlas.  Der  Haupt- 
teil  des  Buches  ist  der  Betrachtong 
Dentseblandt  nacli  nattlrlieb«!  huii- 
.Schäften  l;-  widmet,  wobei  Oberflächen- 

S estalt,  Be«iedelaug,  Verkehr  usw.  auf 
M  encsteuiteinander  verknüpft  werden. 
\  m  Ende  der  Hanptabschnittf'  sind 
Kuck  blicke  eingefügt,  die  in  zusammen- 
fassenden Fraien  nnd  Aufgaben  den 
SchHler  veranlassen,  sich  über  dag 
Wesentliche  des  Gelernten  nochmals 
Rechenschaft  zu  geben.  Das  Buch  ist 
sorgfältig  gearbeitet  nnd  wird  manchem 
ein  willkommenes  UUfämittel  für  den 
Unterrieht  bieten. 

Planen.  Dr.  Zemmrieh. 

Olsevins,  Prof.  Dr.  Paul,  Die  land- 

wirtschaftliche  Naturkunde. 
Ein  Leitfaden  für  Lehrer  an  Uindlichen 
Fortbiblunü^sschulcn,  sowie  zum  Selbst- 
unterricht. Oieasen  1S0&  £.  Both, 
Pr.  2,40  M. 

Der  Verfasser  ist  der  Leiter  von 
Kursen  zur  Vorbildung  von  bri  -äft  a 
in  laadwirtschaftlicher  Naturiiuade  tur 
heniiehe  FortbildnnipBechnlen.  Der 
Kursus  ii'u\g  davon  «m«,  dass  landwirt- 
Hchaftiiche  Naturkunde  streng  ant  die 
Anschauung  gegründet  werden  mOaete, 
drtss  die  Anschauungsmittel  nur  an«  den 
in  jeder  Landgemeinde  ernichbarea 
Gegenständen  au.szuwiiiileu  seien,  wie 
wir  sie  in  Feld,  Wies^  Wald  nnd  im 
Haashalte  koatealM  mr  Verfügung 
haben. 


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—   «33  — 


Das  Bnoh  s;\ht  die  Lehre  vom  Boden 
in  klarer  anschaulicher  Darstellung.  Die 
Tierkunde  ist  nicht  so  ausführlich  be- 
handelt wie  die  Lehre  vom  Boden :  von 
den  Bestandteilen  desselben,  von  der 
Entstehung,  von  der  Bearbeitung, 
Düngtmg  desselben,  und  die  landwirt- 
schaftliche Pflanzenkunde.  Das  ist  das 
Einzige,  wag  wir  an  dem  sonst  vor- 
Efiglicben  Buche  aussosetsen  haben.  Es 
kann  jedem  Lehrer  nnd  Schüler  an 
landwirtschaftlichen  Schulen,  wie  auch 
Fortbüduigsschnlen ,  aufs  wärmste 
empfohlen  werden. 

0.  Ran. 

A.  Pabet,  Praktisehe  Eraiehiin^. 

Verlag  von  Quelle  und  Mever.  Leipzig 
laOB  (Nr.  28  von  „Wissenschaft  und 
Bildnng").    Preis  geb.  1  H.,  geb. 

L25  M. 

Von  jeher  war  das  Bestreben  aller 
Pidagogen.  Sebnle  nnd  Leben  in  Be- 

ziehnnir  zu  einander  zu  setzen.  In  der 
Gegenwart  ist  dieses  Bestreben  besonders 
stark  nnd  findet  seinen  Ausdruck  in 
der  Fordenme;-  einer  ^praktischen  Er- 
liehnng-.  An  Sti  lle  dts  Buchwis-sens 
wflnscbt  man  das  Erfahrnugswipen, 
eintrcvlfiik  der  Wahrheit,  dass  ^.einzig 
die  Kraft  da^t  Leben  zu  meistern  ver- 
mag, das  Wissen  nur  dann,  wenn  es 
im  Dienste  der  Kraft  steht".  —  In  vor- 
liegendem Buche  entwickelt  Dr.  Pabst 
ein  Programm  der  praktischen  Erziehung 
mit  einer  iüarheit  und  Gründlichkeit, 
dass  dieses  Buch  allen  Freunden  nnsers 
Volkes.  Berufserziehem  und  Eltern  aufs 
w&rmste  empfohlen  werden  kann.  In 
8  Abschnitten  (1.  die  ersten  Anfänge, 
Ziel,  Macht  und  (ircnzen  der  Erziehung 

—  2.  Zögling  und  Erzieher  —  3.  £r- 
aiehnng  vor  und  wHbiend  der  ersten 
Schulzeit  —  4.  Naturgemässe  Erziehung 

—  5.  Psychologische  und  päilag.  Be- 
^iindnng  der  Notwendigkeit  des  prak- 
tischen Unterrichts  —  ß.  Zeichnen,  Hand- 
arbeit und  Beobachtungsunterricht  — 
7.  Erweiterung  der  .Aufgabe  der  Schnle 

—  8.  Schule  und  Leben)  findet  man 
eine  reiche  Fülle  guter  Gedanken. 

Brinnsdorf.  K.  Wittig. 

Dr.  Albin  Pabst,  Heminardirektor, 

Die  Knabenhandarbeit  in  der 
heutigen  Erziehung.  112S.Text 
mit  21  Abbildungen.   140.  Bändchen 


„Aus  Natur  u.  Geisteswelt",  Ldprig*, 
B.  G.  Teubner.   Pr.  1,25  M. 

Der  Direktor  des  Leipziger  Lehrer- 
seminars für  Knabenhandarbeit,  den 
Neigung,  Beruf,  Mose  und  Stadium  der 
Frage  in  den  wichtigsten  Knltnrilndem 
in  iswm  besonderen  Grade  für  die  Be- 
handlung obigen  Themas  befähigen, 
bietet  uns  bier  eine  Arbeit,  an  der 
weder  Eltern  noch  Lehrer  der  niederen 
und  höheren  Schulen  und  Vorsteher 
privater  Erziehungsanstalten  vorüber- 
gehen dürfen.  Er  begründet  die  Knaben- 
handarbeit aus  der  Kulturgeschichte, 
ans  der  Seelen-  und  Unternchtslehre, 
geht  auf  ihre  Geschichte  ein  und  fixiert 
ihreu  gegenwärtigen  Stand  in  den 
wichtigsten  Kulturländern,  den  er  aus 
eigener  Anschauung  kennt.  Dann  geht 
Verf.  auf  die  Bedeutung  des  Hand- 
arbeit-.unterrichtes  für  das  private  und 
öfientlicheErziehungsweseu  ein,  nament- 
lieb  finden  HillBsebnlen,  WaisenbSnser, 
ferner  Lehrerseminare  und  andere  höhere 
Schulen  besondere  Berücksichtigung. 
Dttfl  letite  Kapitel  beltott  sieb  besonders 
mit  dem  Knabenhandarheitsunterri'ht 
in  den  Ländern,  die  unsere  Konkurrenten 
anf  dem  Weltmarkte  rind. 

In  meisterhaft  knapper  und  doch  für 
die  Beurteilung  völlig  ausreichender 
Weise  werden  ans  bier  alle  Tatsachen 
unterbreitet,  die  uns  zu  einem  richtigen 
Urteile  Uber  den  wichtigen  Gegenstaud 
beföhigen,  den  man  sonderbarer  Weise 
besonders  in  nuinchen  Kreisen  der 
Lehrerwelt  noch  als  nebensächlich  an- 
sieht und  so  lange  so  beurteilen  wird, 
bis  uns  die  Überlegenheit  anderer  Völker 
begreiflich  BiadiC^  dass  wir  einen  Ast 
verkümmern  lienen,  auf  dem  anch  wir 
sitzen. 

SaehHeb  ist  m   erfflnsen,  dass 

Clausen  -  Kaas  ausser  dem  Emdener 
Kursus  1880  einen  von  64  Teiluehmern 
besnebten  Kniens  in  Dresden  abhielt, 
der  von  den  spÄteren  Gründern  der 
meisten  sächsischen  Haudfertigkeits- 
schulen  besoeht  wurde,  nnd  dass  derselbe 
als  Lehrer  am  Blindeninstitnt  in 
Dresden  auch  den  rein  erziehlichen 
Handfertigkeitsnnterricht  pflegte.  Im 
Interesse  der  häuslichen  una  öffenUicben 
Ersiehnng  unserer  Jugend  rouss  man 
dem  kleinen  Buche  ue  grOsste  Ve|w 
breitung  wünschen. 

Zwickau  i.  S.       Franz  UerteL 


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—    234  — 


Meumanii)  Prof.  Dr.  E.^  Intelli- 
Keuz  nnd  Wille.  Leipzig  19Ü8, 
Quelle  Q.  Meyer.    Fr.  geb.  4,40  M. 

Nach  HemnannB  Untenachnng^n  ist 

die  Atifmerksanikeit  die  elementare 
Vorbedingung  aller  Intelligenz  ^S.  lö). 
Sr  entteheicltt  sich  fttr  den  Primat  der 
Intellifjonz  gegenüber  dem  Willen. 
Wille  ist  ibm  nichts  anderes,  als  „ein 
ffidunBMtsen  de»  intell^tndlen  Seelen- 
lebens in  eine  Wirkung  nach  aussen". 
„Er  ist  der  Inbegrifl"  der  Vorgänge, 
durch  welche  das  innere  Seelenleben 
aus  »ich  heraustritt,  seine  Innerlichkeit 
▼erl&sst,  bei  welcher  es  nnr  ein  ruhiger 
Spiegel  der  äusseren  Reize  war.  Erst 
indem  sieb  Vorstellungen  und  später 
Yorttdlangen  und  Urfcefle  mit  notori- 
schen Vorgängen  und  aii'-filhi  ■  nden 
Handlungen  verbinden,  und  diese  dann 
«pKter  wieder  reprodutieres  kSnnen, 
tritt  die  reine  Innerlichkeit  unserer 
Empäuduugtiu  und  Vorsteilungeu  über 
«icb  hinaus  nnd  wird  zu  einer  nach 
aufsen  wirkenden  nnd  handelnden 
MucLt"  {S.  21b).  Wenn  Meumann  be- 
hauptet: „Es  gibt  kein  Wollen  ohne 
Können"  (S.  214).  so  steht  er  anf 
Herbarts  Staudpuukte;  „Die  Tat  erzeugt 
den  Willen  aus  der  Begierde."  Er 
stellt  ferner  neben  das  bloss  äussere 
Handeln  die  innere  Willeushandlung 
(S.  200  ff.).  Unter  diesen  Begriff  fällt 
aas  „phantasierte"  Handeln  Herbarte, 
dessen  Bedeutung  noch  häufig  miee- 
verstiinden  wird.  Was  über  Charakter- 
bildung gesagt  wird,  kann  in  wesent- 
lichen Puikten  anch  Tom  Herbartechen 
Standpunkte  aus  angenommen  werden, 
nnr  scheint  die  Bedentung  der  Vielseitig- 
keit im  .<inne  des  gleldluehwebwd 
Tielseitigen  Interesse  nicht  zu  ihron 
Hechte  zu  kummen  (S.  259  ff.). 

Diese  Ergebnisse  stimmen  in  wesent- 
lichen Stttcken  ttberein  mit  tai  Br* 

gebnissen  der  Untersuchung  Über 
,. Willensbildung  und  Interesse"  im 
2^.  Jahrtr.  (1908)  der  Pidag.  Stndien, 
8. 1^41  ff.  Die  letztgenannte  Abhaiuilnng 
erhebt  den  Anspruch,  d&a.  Verhältnis 
zwischen  Interesse  und  Wille  im 
Berbartscben  Sinne  bestimmt  zu  haben. 
Die  Ergebnisse  von  Menmanns  Unter- 
suchung wiliden  daher  als  ein  weiterer 
Beweis  dafür  gelten  könnexu  dass  die 
gnodlegeiiden  Gedanken  der  FIdagogik 


Herbarts  noch  nicht  überholt  sind  nnd 
nicht  als  veraltet  bezeichnet  werden 
dflrfen.  Wenn  diese  Auffassung  richtig 
isfe  —  Qud  man  kann  dtirch  <ms  Buch 
selbst  sdiwerlich  zn  einer  anderen 
geführt  werden  —  dami  u  .irr  -  -  v.  r- 
dienstlicb  gewesen,  wenn  der  Veri 
atieh  atif  Heibart  hingewiesen  hitte 
Ein  zust  imui- ri  les  Urteil  von  dieser 
Seite  würde  rielleicht  manchen  ver- 
anlasst haben,  in  seinen  Änsserangei 
über  die  Pädagogik  Herbarts  vor- 
sichtiger zu  sein,  anderseits  würde 
damit  anch  dem  gesehiehtüohen  Zq- 
eammenhange  der  pädai^ojEri  sehen 
Forschung  ein  Dienst  erwiebcu  wordtfu 
sein. 

Mit  Meumanns  Buche  erfährt  die 
pädagogische  Literatur  eine  wertvolle 
Bereicherung?.  Indern  die  Darstellung 
sich  Irei  hält  von  Uberfl&migeu  philo- 
sophisehen  mid  wSIkttrlidi  geprägten 
KunstansdrUcken  und  in  einfachen, 
klaren  Gedankengängen  sich  bewest, 
gewinnt  sie  den  seltenen  Vomg  der 
UemeinTentiBdUehkeit. 

Förster,  I>r.   Fr.  W.y  Schale 
und  Charakter.     Zürich  1907. 

Schulthess  u.  Co. 

Dieses  Buch  ist  zum  Gegenstand 
eingehender  Beratung  in  einer  Lehrer- 
Vereinigung  gemacht  worden,  worüber 
ein  ausfilhrlidier  Bericht  von  Fr.fYanke 
im  t.  Hefte  der  Ptd.  Studien  1908, 

r>3-  r>5  veroffentlirtit  wurrl--  Da* 
Buch  wird  hier  als  eine  sehr  erfreuliche 
Endieinmig  beieiehnet.  Anf  diesen 
Bericht,  der,  w  im  ri  h  tiirht  zu  allen 
Kinzelbeiteu.  so  doch  zu  wesentücbea 
Punkten  kntiseh  fiteOinf  nimmt,  sei 
hiennit  verwiesen. 

BochUU.       Dr.  H.  Schilling. 


Karl  Hemprlch,  Otto  Fl&gel« 
Leben  und  Schriften.  Langen- 
salze 1908.   Beyer  u.  S.   Fr.  0,76  M. 

Am  1.  Oktober  d.  J.  ist  Pastor  Otto 
Flügel  zu  VVauzleben  bei  Halle  nach 
vierzigjähriger  Amtstätigkeit  in  den 
Ruhestand  getreten.  Das  hat  den  Ver- 
fasser des  vorliegenden  Bflchleins  mt- 
anlasst,  ausführlich  anf  die  wisiien- 
scbaftliche  Bedeutung  Fiagels  hiasa* 
weisen.  Wir  sind  dartbnr  sehr  «rfmt 


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—  235  — 


nd  hoffen,  dM  die  U^m  Biofrraphie 
BOeh  viele  dazu  anrept.  sirh  mit  Flügels 
Schriften  zu  bescbäftigeD.  Heiuprich 
hat  in  Reiner  Broschüre  aller  Liebe  und 
Verehrung  Ausdruck  g'cc:ebpn,  die  ihm 
der  langjährige  Umgang  mit  dem 
Wanzlebener  Philosophen  eingeflMtt 
hat.  Das  gibt  der  Darstellung  grosse 
Wärme  uml  Innigkeit.  <lie  auch  dem 
Fernstehenden  eine  Ahnung  von  der 
ttberaos  sympatliischen  Persönlichkeit 
des  Oefeierten  gewihrt.  Der  Hauptteil 
des  Schriftchen»  gibt  einen  ausgezeich- 
neten ÜberiiUck  über  die  umfangreiche 
litemifdM  Tätigkeit  Flilgels.  Dabei 
wird  TCMl  jedem  Buche  der  Hiiuptinhalt 
knn.  fthttr  treffend  angegeben.  Folgende 
^^enn  wenden  beRproehen :  1 . 

und  Theoloyip"  "1  iiinircarbfitete  Aufl. 
„der  speknlativeu  Theologie  der  üegen- 
wart"),  2.  „Der  ewige  Gehalt  de« 
rhristentums  und  der  iiiDderne  Mensch", 
3.  „Der  Kationali»ujus  in  Uerbarts 
Pldagogik",  4.  „Rit«chls  philosophische 
und  tlipojogische  Ausichten",  ö.  ^Daa 
Wunder  und  die  Erkenuburkeit  (»otte»'', 
6.  pDieReligionspbilosophieinder  Schule 
fierbarts".  7.  ^Falsche  und  walire 
Apologetik**,  8.  „Kant  und  der  Prote- 
stuntifmii.«",  9.  ,.Zur  Philosophie  des 
Christentum«'',  10.  -Idealismus  und 
MateriaUtmiis  der  Oesemehte*,  11.  „Die 
Bedentung  der  Metaphysik  Herbarts 
für  die  Gegenwart",  12.  »Die  Seelen- 
frage mit  Rttekiiebt  auf  die  neueren 
Wandlungen  gnwi.<t8ernatnrwiss!en!«chaft- 
licher  Begriffe".  13.  Über  die  persön- 
liche Unsterbiichkeit^  14.  „Die  Sitten- 
lehre Jesu".  1\  Das  Ich  nnd  die 
sittlichen  Ideen  im  I^ben  der  Völker"', 
16.  „Über  das  Selbstgefühl",  17.  „Über 
das  Absolute  in  den  ästhetischen  Ur- 
teilen", 18.  Schiifi  und  gut  nach  Herbart", 
19.  „Über  Aas  Verhlltnis  des  OefOhls 
nun  Intellekt  in  der  Kindheit  des 
iBdividnnms  und  der  Völker",  20.  „Das 
Seelenleben  (h'v  Tiere".  21.  ..Die  Pro- 
bleme der  Philosophie  und  ihre  Lösungen" 
und  88.  „Abrln  der  L^k".  AnMerdera 
we  rden  die  kleinen  n  Abhandlungen 
Flügels  nnd  seine  beiden  Herbarts- 
biographien  angeführt.  Hempridi  Ittt 
es  verstanden,  das  wissenschaftliche 
Charakterbild  seines  berühmten  Meisters 
in  kursen  aber  treffenden  Strichen  zu 
aeichnen.  Wir  wünschen  mit  ihm.  dfiHH 
ei  der  Lehre  Uerbarts,  die  ja  in  Flügel 


gegenwartig  ihren  bedentenditen  Ver- 
treter hat,  neue  Freunde  znführe. 

Naamborg  a.  S.  Blftthgen. 

Jnriatiseh-paycbiatriecheGrens- 

fragen,  herausgeg.  von  Prof.  Dr. 
jur.  Finger,  Prot.  Dr.  med.  Uoche, 
Oberarzt  Dr.  med.  Bresler.  3.  Band, 
Heft  8  Die  Zwang.s-{ Fürsorge )-Er- 
ziehaug.  Halle,  Verl.  v.  C.  Marhold. 
Fr.  I,ft0  M. 

Da.H  Heft  enthält  3  Vorträge,  ge- 
halten in  der  Vereinigang  für  gericht- 
Hebe  Peyehiatrie  mid  Psychologie  im 
Grossherzogtura  Hessen.  1.  Privat- 
dozent Dr.  Dannemanu  in  Uiessei^ 
Flkrsorge-{Zwang8-)Ersiehnng.  —  Verf. 
weist  hin  auf  das  au.ssergewöhnliche 
Anschwellen  der  Bestrafungsziffer 
Jugendlicher.  Er  ibidet  eine  Erkl&rung 
in  den  ungünstigen  sozialen  Ver- 
hältnissen, in  dem  scharfen  Kampf  ums 
Dasein,  in  den  gesteigerten  Bedflrndaeeii 
und  in  dem  hantigeren  Auftreten  von 
Psychopathen  und  nervös  Veranlagten, 
die  ihr  Dasein  durch  oben  genannte 
Ursachen  defekt  gewordeneu  Eltern  zu 
verdanken  haben.  Prophylaktische  Er- 
wägungen haben  in  verschiedenen 
Staaten  (PreuBsen,  Hessen)  lur  Schaffang 
von  FBiaorge-  nnd  Zwangsendehtuigs- 
gesetzen  geführt.  Dr.  Daunemann 
onteracheidet  2  Hauptgruppen  der  Für- 
aofgeaSgUnge:  1.  (Mistig  nonnale, 
2.  geistig  abnorme.  Er  wendet  sich 
als  Psychiater  besonders  den  letzteren 
SU  und  verlangt,  dass  besonders  Hin 
ihretwillen  dem  Arzt  ein  viel  errösserer 
Einriuss  eingeräumt  werden  mnss  als 
bisher,  da  aer  Pädagog  die  Führung 
hatte.  Einige  Sätze  dürften  den  BeifaU 
der  Leiter  und  Lehrer  der  Erziehung 
anstalten  nicht  finden,  so  wenn  D. 
Seite  18  sagt:  «Das  psychisch  Abnorme 
nnd  oft  du  direkt  Krankhafte  spielen 
dabei  eine  so  eminent  wichtige  Rolle^ 
dass  es  undenkbar  ist,  wie  man  het 
einer  grossen  Anialil  von  Flllen  den 
ri(  btii,^en  Behandlungsmodus  finden  will 
ohne  den  psvchiatnsch  gebildeten  Artt," 
Eine  psychiatrische  Bildung  des  Ptd»* 
gogen  scheint  sich  der  Verfasser  nicht 
denken  zu  können.  Die  Leiter  und 
Lehrer  der  Erziehnngsanstalten  kOnnen 
ihre  Zöglinge  nicht  handwerksmässig 
nach  einer  Schablone  behandeln.  Ein 


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236  — 


jeder  von  ihnen  ist  veq)flirhtf't.  sich 

egrcbiatriscJi  auwsubildeu,  sei  es  durch 
üfM  (wie  im  Banbett  Hatts-Hamburg 

unter  Leitung  Dr.  Dannemanns),  sei  es 
durch  Selbststudium.  Die  Hauptsache 
ist  aber  die  Praxis.  Die  Beobachtnngs» 
gäbe  „des  Erziehers  wird  durch  t&g- 
Uche  Übuüg  i^eschärft,  der  steto  Um- 
gang mit  PUraorgecQgliugeu  lehrt  die 
Eigentilmlichkeircn ,  nucE  die  krank- 
hatten, schnell  erkennen  und  die  Be- 
li&ndlung  darnach  einrichten.  Mnn 
diese  doch  bei  gleichen  Äuswernniren 
der  Abnormität  verschieden  sein.  Kami 
dies  der  Arzt,  der  das  Individuum  doch 
nur  flüchtig  beobachten  kuaUf  beuer 
tanwiederPHdagog?  Da«sTiiiachnnfi[«i 
vorkoinmeu  ist  beim  Arzt  ebenso  leicht 
möglich  (cL  ä.  26),  wenn  es  sich  um 
knrae  Beobachtnngsseit  handelt,  wie 
beim  Pftda£r<^sren.  Der  Verf.  spricht 
einmal  von  psychiatri»4ch  gebildeten 
Anten  uud  dann  von  psychiatrisch  nH' 
enOgend  ije.sehulten  Erziehern,  ebenso 
Önnte  man  den  uiugtkehrteu  Füll 
konstruieren.  Kiue  Trennung  der 
psychopathifchen  Zöglinge,  bei  d^nen 
die  krankhafte  Entartung  besonders 
hervortritt,  von  den  Qbrigen  Züglingen 
ist  mit  dem  Verfasser  zn  wünsclien. 
Auf  dem  deutschen  Fürsorgetag  zu 
ßrexlau  1906  fand  dieser  Oedauke 
warme  UnteisttttEang.  —  Der  Vor- 
schlag einer  psychopathischen  Be- 
obaehMini,'.sstation  hat  sicher  etwas  Ke- 
stechendes,  meines  Wissens  besitzt 
Fjrattkfnrt  a.  M.  eine  solche  (vgl.  aaeb 
S.  66).  Allein  ob  in  11  kurze  Be- 
obacbtungszeit  (Verl,  spricht  von 
1—3  Wochen)  genUgt,  mCchte  ich 
dahin  frestellt  sein  lassen.  Die  Erzieher 
an  Erziehungsanstalten  brauchen  oft 
Monate,  ehe  sie  ttber  einzelne  Charaktere 
ein  abschliessendes  Urteil  gelien  kfmnen, 
obgleich  sie  viel  mehr  mit  dem  Zögling 
in  Ber  ii innig  kommen  als  der  Ant  in 
der  Beuliachtnnß'astfttion.  Bei  dieser 
kurzen  Beobachtnugszeit  bilden  die 
neue  Umgebung,  das  beobachtende 
Interesse,  in  &asen  Mittelpunkt  die 
Kinder  stehen,  so  viele  Hindernisse, 
dass  auch  dor  >r»  sehickteste  Psychiater 
TftnschaDgen  nicht  ent^ben  wird.  In 
der  Aprilnnmmer  der^Kinderfehler^lflO?, 
ht  rau.stri'ir.  von  Trtiper  u.  a  .  hat 
ein  Praktiker,  Oberregiemngsrat  Müller» 
Chemaita,  lelir  beaditliehe  Sfttie  Aller 


die  Behandluntr  psychopathischer  Kinder 

Seschriebeni  die  vollen  Beifall  finden 
ttrften.  Im  ttbrigen  ist  dieaer  Vortrag 
ebenso  wie  r1ie  f  Tirenden  allen  sirh  für 
das  Erziehuufi;swe&eu  sittlich  gefährdeter 
und  verwahrloster  Kinder  inte^asaieren- 
den  Kreisen  wann  zu  empfehlen. 

2.  Die  Zwaugserzieli  u  uL-^  vt/o 
Rechtsanwalt  Dr.  Fuld-Mun/  Der 
Verf.  beleuchtet  denselben  Stoff  von  der 
inristiächeu  Seite.  Er  weist  d^ranf 
llin,  dass  unter  Zwangaeraiehnng  nicht 
nur  Atistalt.s-.  sondern  auch  Familien- 
erziebuiig  zu  verateheu  sei  und  redet 
letzterer  besonders  das  Wort  Er 
spricht  ans,  dass  Zwangaeraiehong  für 
das  betr.  Kind  keine  Strafe  ist  nnd 
sf>in  soll.  In  dankenswerter  Weise  er- 
innert er  die  in  Frage  kommenden 
Personen  nnd  Behörden  daran,  daas  das 
Kind  recht z  ititj  der  verderblich en 
Umgebnug  entrissen  werde.  Eine 
Forderung,  der  nnr  zu  weni^  eot* 
sprochen  wird!  Beizupflichten  ist  be- 
sonders dem  Satz:  „Es  bt^tehi  heute 
kein  Zweifel,  dass  der  Staat  das  Ver- 
brechen am  wirksnm.'sten  bek.impft.  in 
desÄuii  Gebiet  »ier  Umfang  dtr  Fürsorge- 
erziehung dem  tatsächlichen  Bednrfnil 
entspricht."  Eine  ernste  Mahnung  an 
die  Staaten,  denen  ein  ausreichendes 
Fürsorge  •  Eniehni^  •  Gcaets  noch 
mangelt. 

S.  Zur  Zwangserziehnngs- 
praxi  s  von  Mediziiialrat  Kreisarzt 
Dr.  Balser-Mainx.  Der  Verf.  venpricht 
am  Anfang,  sich  mit  der  Frage  m 
beschäftigen:  Welche  Erfolire  haben 
wir  mit  der  Durchführung  des  Gesetzes 
ttber  die  Zwangserziehung  Minder- 
jähriger  erreicht?  Obgleicli  er  zur 
Beantwortung  dieser  Frage  gar  nicbt 
kommt,  lassen  seine  beachtenswerten 
Ansfübmngen  diesen  Mangel  vers^rsjen. 
Er  sieht  mit  offenem  Auge,  wo  zu 
baaaem  gibt,  ohne  sich  von  den 
modernen  Sttirinern  nnd  Drangern  ins 
Schlepptau  uebnien  zu  lat»«en.  Dies 
gilt  besonders  auch  vom  seiner  SteUnag 
anr  Arbeit. 

Von  dennachfolgenden  Bemerkungen 
zur  Zwaufserziehnny^  von  Ministerialrat 
Dr.  Best-Darmstadt  und  Dr.  £lamke^ 
Frankfurt  sei  ein  Hinweis  des  letntersn 
hervorirehoben,  nämlich,  die  öffentliche 
Kinderfttrsorge  den  kleinen  Armen- 
Terfataiden  abnuiebnieii  und  hxeiteiea 


S 


* 


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—  237  — 


Schnlteni  (Becirksverbftnde,  Landarmen- 
verbände)  zu  übertragen,  um  zu  ver- 
maiden,  das»  aus  pekuniären  Gr&aden 
mit  der  Unterbringung  ron  Fttnoig«- 
züelin^cn  g«i5gert  wird,  bis  es  in 
spät  ist 

Bräiinsdorf  i.  S.  Pietzsch. 

Karl  EoUery  Haasaufgaben  uud 
b9here  Scbnlen,  Leipzig,  Verlag 
von  Quelle  u.  Mever,  19Ö7,  geh. 
M,  2.H(J;  t:eb.  M.  3,20.    142  S. 

Die  hüchst  beacUieuswerte  Arbeit 
behandelt  die  verschiedenen  Probleme 
Ober  die  Uausauf gaben  und  utellt  die 
Frage  der  Hausaufgaben  anf  eine  reine 
wisseiiscliiiftliclie  Basis.  In  einem  ersteu 
Abschnitte  geht  der  Verf.  auf  die 
pädagogischen  Erwftgnngen  ein,  die 
Li.sber  über  die  so  wi('btis,'e  Frage 
gemacht  worden  sind,  und  hebt  neben 
dem  untenricbtlidien  und  erziebUehen 
Momente  auch  das  hygienische  hervor. 
Der  2.  Abschnitt  „Die  Berechtigung 
der  Hausaiifgabeai'*  briiiLct  die  Äusse- 
rungen der  i  Vi»'r«t*M!  Schulbehörden  der 
deutschen  Buudeb.staateu  iu  der  Haus- 
anf^abenfrage,  betrachtet  das  Verhältnis 
der  Hausaufgaben  zum  TTntorrichte  und 
ihre  Bedeutung  im  ScUulleben.  Der 
3.  Abschnitt  behandelt  die  äusserst 
wichtige  Frage  ttber  ^die  Hygiene  der 
Hamaifgaben**.  Znm  Schloss  bringt 
der  Verf.  die  gesamte  Literatur  und 
zur  raacheu  Orientienmg  ttber  die 
einzelnen  bei  den  Haoeanf^nben  in 
Betracht  kommenden  Fragen  ein 
Naiueu-  uuü  Sachregister. 

Die  Uberaus  fleissige  Arbeit,  die 
anch  andere  wichti«-e  pildapogisohe 
tragen  berührt,  sei  aufs  wäruiiite  alleu 
Kolletjen,  an  welcher  Schule  sie  auch 
unterrichten,  empfohlen.  Sie  bietet  An 
reguiig  uud  forderte  zum  Nachdenken 
anf  Uber  eine  Frage,  zu  deren  Lösung 
es  in  der  Zukunft  noch  anssprordentlich 
viel  zu  tun  gibt.  .\ucn  der  erfahrene 
Kollege  winf  die  Arbeit  nicht  ohne 
Segen  fttr  seine  Zöglinge  studieren. 

Die  ausländischen  Kla.ssiker, 
■rlJuitert  und  gewilrdxgi  für  höhere 
Lehranstalten  von  Dr.  Hau,  Prof.  Dr. 

H.  Wolf  und  einigten  Mitarbeitern. 
Verlag  von  Heinrich  Bredt  in  Leipzig. 

7.  B&ndchen:  Ascbylus'  Prome- 
thens-Trilogie  wn  Donner.  Nen 


bearbeitet  nnd  mit  Erlftnterungen 

versehen  von  Prof.  Dr.  Heintidi  Ytw£, 
1907.   111  R.    1.25  M. 

Das  Bändchen  bringt  zuerst  die 
Übersetzung  von  Donner  mit  kurzen 

Fussnoten.  In  rim-m  zweiten  Teile, 
den  „Erläuteruii^'en  ■,  behandelt  der 
Herausgeber  zuer.st  in  knapp«  n  Umrissen 
die  geschichtliche  Entwickehmg  der 
attischen  Tragödie  und  daä  griechische 
Theater,  bringt  dann  eine  kurze  Bio- 
graphie de.s  Äschylus  und  den  Sang 
undAufbaiidcä  „^efe.^selteuPrumetheus"*. 
Ausführlicher  wird  die  Prometheus-Sage 
behandelt  und  die  Zens-Beligion,  nnd 
zwar  mit  Becht;  denn  wir  mtlssen  die 
Ä.schylns-Trilogie  als  einen  Versuch 
betrachten,  eine  erliabeue  Anffaasnng 
▼Ott  der  alles  flberragenden  Stellung 
des  OStterkÖnigs  Zeus  zu  verkündigen. 
In  der  weiteren  Geschichte  der 
Promethena-Sage  kommt  der  Herans- 
geber auch  auf  Goethes  Prometheus  zn 
sprechen.  Zum  Schlüsse  geht  der 
Heransg^ernoch  auf  die  geographischen 
Vorstellnngen  des  Aschylns  ein  nnd 
bringt  schliesslich  eine  alphabetisch 
geordnete  Erkläning  der  wichtigsten 
Namen.  ist  ein»*  Ht'issigfi  .\rbeit, 
die   dem  Verf.  alle  £kre  macht  und 

gewiss    den    benbsielitlgten  Zweek 
erreicht 

8  Bftndebent    Enripides'  Medea 

übersetzt  von  Donner.  Neu  bearbeitet 
and  mit  Erläuterungen  versehen  von 
Ptof.  Dr.  H.  Woli  1907.  109  & 
lß&  M. 

.\nch  dieses  Bändchen  brin^.:!  zuerst 
die  Übersttzuug  voa  Donner  mit  kurzen 
erläuternden  Fussnoteu  Danu  folgt 
,.Euripides'  Leben  und  Wirken",  und 
zwar  1.  sein  äusseres  Leben,  2.  £uri- 
pidesals  philosophischer  Dichter,  3.  Euri- 
pides  als  Realist  nnd  Naturalist,  der 
Wettkampf  zwischen  Äschylus  uud 
Euripides  in  Aristophanes  FrOschen, 
5l  ^Nachwirkungen  des  Euripides.  Ein 
weiterer  Abschnitt  behandelt  die  Sage 
von  Jason  und  Medea.  Recht  an  fülii- 
lich  wird  die  dramatische  Bearbeitung 
des  Stoffes  dvreb  Buripides  ertrtert  nna 
das  Stflck  ■ist)irfiMh  gewOrdiirt  Tn 
einem  Znsatae  werden  kurz  die  Nach-  • 
dlehtangen  der  Sntipides'scben  Meden 
erwthnt.   Aneh  dieses  Bttndohen  wA 


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—   23«  — 


aufs  wftnnsto  empfohlen«  da  et  nun 

Verständnis  der  interes<tantea  TngMie 
den  gewünschten  Aufschlass  gewfthrt. 
Hoffentlich  besclienkt  uns  der  Heraus* 

feber  auch  mit  deu  Tragödien  des 
opbokles,  die  ja  auf  deu  böber§n  Lebr- 
anstAlU'u  noch  mehr  als  die  deeAsefayloa 
und  Euripidee  geleien  weiden. 

Die  deutschen  Klassiker, erläutert 
und  gewürdigt  für  höhere  Lehr- 
anstalten, sowie  zum  Selbststudium 
voll  Kneneii  und  Evers  und  eiui;,'eu 
Mitarbeitern.  Verlag  von  Heinnch 
Bredt  in  Leipzig. 

9.  Btndehen:    Schillers  Oloeke. 

Nene  Textau^sirabe  mit  veranschau- 
lichender Erklärung ,  eingeheuUer 
Siiinternng  und  umfassender  Würdi- 

fung,  von  T'rnf  A.  Evers.  Direktor 
es  G^'mnabiuui»  zu  Barmen.  3.  ver- 
besserte Auflage.  1908.  844  S. 
1,50  M. 

■pie  erstft  Anfln^,^'  dipser  vnrtreff- 
Ucheu  Arbeit  erschien  IbüH,  eine  zweite 
folgte  1902.  Der  Verfasser  ist  am 
24.  August  1906  gestorben  und  hat  uns 
noch  eine  3.  Aufl.  dieser  ausgezeichneten 
Arbeit  hinterlassen.  Was  den  beiden 
eisten  Auflagen  nachgerühmt  werden 
konnte,  gilt  besonden  auch  für  die 
letzte  verbes.-^erte  Auflage.  Es  erübrigt 
daher  nur  auf  diese  biosuweisen.  Wer 
flieh  mit  Schulen  Glocke  beschäftigt» 
nun»  dies  Werk  kennen  und  studieren. 

10.  Btndehen:  Das  Nibelungenlied 

erläutert  tmd  gewürdigt  mit  einem 
Überblick  über  die  Sage  und  die 
neuere  Nibelungeudicbtung.  Dritte, 
neu  bearbeitete  und  erweiterte  Auf- 
lage von  Lic.  Hans  Vollmer,  Ober- 
lehrer an  der  Gelehrtenschule  des 
Johanneums  sn  Hamburg.  1906. 20i  S., 
1,25  M. 

Die  erste  Attllai^  diese«  BSndchen 

erschien  1894,  beurbeitet  von  Prüf.  Dr. 
Friedrich  Vollmer  iu  München.  Die 
dritte  Auflage  hat  der  Bruder  besorgt. 
Sie  hat  starke  Ändernnj^en  und  Er- 
weiterungen erfahren,  die  Kritik  bat 
besonders  ein^eeetst,  mit  Literatnr- 
angaben  int  nicht  »re^part.  Die?  ist 
•  zu  btgrüHHt-n,  da  wir  mit  der  ueuuu 
Auflage  eine  ToUstindise  Übersicht 
Uber  das  KibelungenimUeni  erhalten. 


Es  ist  eine  vortreffliche  Arbeit,  die  dei 
Deutschlehrer  in  den  Oberklasseu  nicht 
im  Stieb  lässt.  Das  Bändchen  bringt 
zuerst  den  Inhalt  des  Epos  nach  den 
einzelnen  VbpTitenem.  Vielleicht  konnte 
auf  deu  (irainatiächeu  Aufbau  des 
Stückes  grösserer  Wert  geleiert  weidn. 
Der  Konunentar  nnifiusst  die  «^anze 
Dichtung  und  dient  dem  tieferen  Ver- 
ständnis deslubalts. — Ausführlich  werden 
der  Ursprung  und  die  Entwickeluug 
der  Sage  behandelt,  die  Auffassungen 
über  die  Enti^tehunif  des  Nibehuifii  n- 
liedes  erörtert,  Metrisches  und  die  Uaud- 
Schriften  besprochen.  JBn  Kafrftd 
handelt  über  „die  Klage*'.  Nachdem 
der  Verf.  noch  einen  Blick  auf  die 
Mittel  der  Dichtung,  Idee  und  Tragik 
geworfen  hat,  die  Chaniktere  im 
Nibelungenliede  betrachtet  hat,  be- 
schäftigt sich  der  letzte  Teil  mit  der 
Wiedererweckung  des  Nibelungen- 
liedeji"  und  der  „neueren  Nibelungeo- 
dichtung".  Gerade  dieser  letste  Teil 
erhüht  den  Wert  des  Bündchens,  wenn 
mau  auch  etwa  nicht  ganz  damit  eiu« 
verstanden  ist.  Z.  B.  die  vorzügliche 
Übersetzung  des  NibelungoiUedes  von 
Gustav  Legerlotz  findet  keine  Er- 
wähnnnsr.  Wer  das  Vergnügen  hat, 
mit  seinen  Schülern  das  Nibelungwüied 
SU  lesen,  wird  gern  ans  diesen 
Bändchen  nent-  Anretriii'C  schupfen. 
£s  steht  auf  der  Höhe  der  Zeit  tuid 
▼erdient  mehr  als  blosse  Beachtung. 

26.  Bändcheu:  Gudrun,  erläutert  und 
gewttrdigt  für  höhere  Lehranstalten 
sowie  zum  Selh.ststudiain  von  Rudolf 
Peters,  Überlubrer  au»  Köuigl.  Hoben- 
zollem -  Gvninasiuro  zu  uüsseldort 
1906.    123  S.,  k'eh.  1.21)  Mk. 

Die  vorliegende  Bearbeitung  stellt 
aus  den  kritischen  Ausgaben  und  den 
literarischen  Besprechungen  das  zu- 
sammen, was  fttr  den  Unterricht  oder 
das  Sdbststudium  Bum  VerstSndnis  der 
Dichtung  notwendig  und  wertvoll  er- 
schien. Sie  bringt  „Inhalt  und  Auf  baa 
des  Epos",  dann  einen  Kommentar,  der 
in  seiner  Anlai^e  von  dem  obiiren  zum 
Nibelungenliede  abweicht.  Der  Kom- 
mentar sucht  spraeUiehe  Schwierige 
keiten  ans  dem  Wes:e  zu  räumen  tmd 
bringt  kurze  Erklärungen,  könnte  viel- 
leicht auf  ein  tieferes  Verständnis  des 
Inhnlta  nftber  «^wg«*»«»,  da  ja  gerade 


—  239  — 


für  eine  Muftthrlichere  Beliandlaflg  des 
Geiliehtei  In  Mar  Selmle  kmnni  Zeit 

übrig:  bleibt.  Danu  orientiert  nnr  die 
Arbeit  über  „£ut«tehang  und  Über^ 
liefemng  des  Oedicbtes"  und  „die 
Quellen  ,  brinert  cina  Charakteristik 
der  Personen,  gibt  einen  Beitrag  „zor 
Wttrdigang  des  Gedichtes*  rnid  führt 
zum  Scbluss  „Übersetzuugen  und  Be- 
arbeitungen des  Stoffe***  an.  Die  vor- 
liegende tSchrifr  uDterstQtzt  und  er- 
f^fiiizt  den  T'Titerrirhf  iiiifl  dient  als 
wilü&üiaiueuer  \VegweiiM;r.  Wir  kCnuen 
ne  nur  anfi  wirmste  empfehlen. 

Erfurt  G.  Deile. 


Paul  F.  F.  Schall,  Un.«w>re  Zierpflanzen, 
uiuti  zwanglose  Auswahl  biologi^ber 
Betrachtungen  ton  Qarten-  und 
Zimmerpflanzen  sowie  von  Purk- 
gehölzen,  mit  ö  farbigen  Tafclu  nach 
Aquarellen  von  Wolff-Maage,  4  Tafeln 
von  Georg  £.  F.  Schulz  uaw.  Verlag 
von  QtteUe  iL  Heyer,  Leipzig  1909. 
216  S.  8». 

Das  Ganze  gliedert  sich  in  vier 
Teile:  Sporeup&uizen,  JSadelbölzer, 
Monokotylen  nnd  Dikotylen.  In  amelian- 
lieber,  gründlicher  Darutellnng  werden 
die  häuptsächlichen  Zierpflanzen  nach 
Berkunft,  Gestalt,  pbysiologisi  heu  Be- 
sonderheiten myr.  oescbrieben.  Da  hört 
mau  von  der  giftigen  £ibe,  deren 
Bluter  lieh  adtwirte  itellen,  um  der 


gegenseitigen  Beschattung  zu  entgehen, 
mia  stMint  über  die  fArsorgende  Weie- 

heit  der  Natur.  Tnd  liat  der  Text 
nnser  lebhaftes  Intereese  erregt,  so 
kommt  die  Abbildung  ni  GKue  nnd 

vervol]stän'1i::t  die  ent-^tandenc  Vor- 
stellung. HöchHt  lehrreicli  nnd  fesselnd 
iet  die  Schilderung  der  Pla.sina- 
strSmungen  bei  der  virginiscbenTrades- 
kantie  (S.  48).  Sehr  fasslich  werden 
auch  die  eigenartigen  Belebangs- 
erscheinunffpn  an  der  fopf.  .\uffT^t'^bnnq's- 

{>flanze  beschrieben  und  diuth  Blilz- 
ichtaufnahmen  demonstriert  (S.  14). 
Anmutig  ist  femer.  die  Beschreibong 
der  MondvioU'.  „0  wie  die  Nachtviolen 
lieblii  h  duften !"  ruft  Kleists  Prinz  von 
Homburg,  er  meint  die  stiUe  Pflanze, 
die  tagsüber  nieht  doftet,  bei  Naeht 
jedoch  einen  k?).stlichen  Wohly-eruch 
ausströmt,  wie  denn  die  Natur  selbst 
immer  weit  poetiaeher  iat,  ala  ihre 
verHeschraiedendenLobrediier!  So  vertieft 
man  sich  gern  in  die^e  freundlichen 
Naturbilder  und  dankt  dem  knndigen 
Führer  und  Schilderer  für  willkommene 
Itelehrung  und  Anregung.  Der  Text 
wir]  durch  eine  gros.se  Zahl  von 
Illustrationen  belebt ,  besonders  die 
kolorierten  sind  vuu  j^ru-sser  Feinheit 
und  Farbenpracht.  Die  ganze  .Aus- 
stattung des  Werks  ist  prJl(hti£r  und 

Sediegen  und  des  schönen,  gelehrten 
inehea  dnrehana  würdig. 

Berlin.  Oberlehrer  Dr.  C.  Friea. 


Eingegangene  Bttcher. 

(Besprechung  ▼orbehalten.) 
Hietariacb-pidagogiecher  Literaturbericht  über  das  Jahr  1906  u.  1907.  hmus^rg. 

von  der  Gcsellj>cb.iÜ  fiir  dcuUchc  Erzichungs-  und  .Scbulgcscbichtfj.  Berlin  I908. 
Hofmann  &  Comp.    Pr.  je  3  M. 

Pidagogische  Jahreaachau  über  daa  Volkaaobalweaen  im  Jahre  1907.  in  (Gemein- 
schaft mit  hervorragenden  Fachmännern  herausgeg.  von  Dr.  Clsuisnitzcr. 
Lclym^  190S.    Teubncr.    Pr.  geb.  7  M. 

RadC2Wiil,  Minna,  Reigcn-äammlong.   Ebenda  1908.   Pr.  kart.  2,40  M. 

Mever,  Gertrud,  Tanz&piele  und  Siogtinte.    3.  A«fl,  Ebenda  1908.  Pr.  kart.  l  M. 

Bluter  für  deutsche  Erziehung,  h>  ^ausg•^^  von  Arthur  Schulz.  10.  Jahrgg.  Heftön.?., 
Leipzig.    Fcrnau,    Pr.  vicndj.  1,60  M, 

A|aM,  KMnMl,  Soli  die  LehrenchUt  in  Jugendflinorge-Orgaoisatioiicn  mitarbeiten  ^ 
Halle.  Schrocdcl. 

Dehrn,  Or.  Karl,  Über  die  geschlechUicbe  Aufklänmg  der  Jugend.  Ebenda  I908. 
Pr.  30  Pf. 


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—    240  — 


RMMkraiZ,  C,  über  flcaraeUe  Belehronftcn  der  Jugend.  Ebenda  1908.  Pr.  50  Pt 
AgaM,  Konrad,   tM  cr  <1ic  so/^i  ilc  Bedeutung  des  hauswirtsdudUichca  UntenidllS  vaA 

seine  EinHihrung  in  alle  iirläUchcnschuleD.    Ebenda  I908.    Pr.  50  Pf. 
Stinqifl,  Dr.  Jotepb,  Der  Wert  der  Kinderpsyehologie  für  den  Lehrer,   s.  Aufl. 

Gotha  1908.    Th;  i-r.mnn.    Pr,  80  Pf. 

Freiherr  V.  Zedlitz  U.  NeukirOh,  Die  wichtig:»tca  Aufgabcs  der  preussiscbcn  Schul- 
politik    Leipzig  I908.    KJinkhardt.    Pr.  60  Pf. 

Stidinnann.  P.  Heinr.,  Das  mod* mr-  Junt^niannorproblem  und  seine  Ldeang.  Bannen 
\f)o6,  \crb.  des  Westd.  Jüngiingsbundes,    Pr.  80  Pf. 

WiMMttlR»  Fr.  Wilhelm  Dörpfcid.    Sein  Leben  und  seine  Schriften.    HaUe  I907. 

Schrorfiel      Pr.  1,25  M, 
Compayre,  Gabriei,  L'Education  intellectuelle  et  morale.    Paris  1908.  Delaplane. 
Oiirr,  Prof.  Dr.  L,  Rinfühning  in  die  Pidagogik.  Leipcig  I9C^.  Quelle  Meyer. 

Fr.  geb.  4.40  M. 

iMlf  Dr.  W.,  Experimentelle  ndagogik.    Leipzig  1908.  Tenbner.  Pr.  geb.  1,25  M, 

SfMfBliier,   H.,    nie   rLlit:iosc   Erziehung   des   Mcrl^ch(.•n   im   Lichte  seiner  rdigidten 

Entwicklung.    Leipzig  1908.    Qudlc  &  Meyer.    Pr.  geb.  3,40  M. 
ErNtataniDieil  zmi  Jahrbaoll  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Pidagogik  (39  Jahrgg.  1906) 

nebst  Mittcilun^"-n    an   scim-   Mitglieder,  herausgeg.  von  Ptof.  Dr.  K.  Jwtt 

Dresden  1907.    Ülcyl  &  Kacmmcrer.    Pr.  l  M. 
Soherer,  H.,  Lehrerbildung  nnd  LehrerfortMIdong.   Giessen  1908.   Roth.    Pr.  1,20  M. 
JtiOrrlt  Or.  phil.  Theodor,  Welche  BcJcutunir  hnt  die  philosophische  Propädeutik  für 

die  Hildnnp  und  insbesondere  für  die  Lehr'  rliildung.    Gotha  I907.  Tbicnemann. 

Pr.  l'i, 

RShlnann,  Dr.  F.,  Politische  Bildung,  ihr  Wesen  und  ihre  Bedeutung  «sw.  Letpog 

1908.    Quelle  &  Meyer.    Pr.  geh,  2,Ko  M 
UniWreität  und  Schule.    Vorträge  auf  der   Vers  Linmlun»;   Jeutscher  Philologen  oad 

Schulmänner  am  25.  September  I907  ZU  Basel  gehalten.    Leipdg  I907.  Tenbner. 

Pr.  geh.  1,50  M. 

Wtttkamp,  Prof.  W.,  Selbstbetätigung  und  Schaffensfreude  hi  Eniehnng  und  UntcrtiebL 

Ebenda  1908.   Pr.  kart.  1,80  M. 
Obfert,  Arnold,  Abbrach  und  Aufbau  des  ünteiiichUaysienis.    i.  Bd.  rar  Löxang  des 

■'i'i' ,:.i,'s;)rol)!eni      Hannover  I908.    Meyer.    Pr.  f^eh.  1.50  ^^ 
V.  Wettsteia,  Pr.  Or.  fL,  Der  naturwissenschaftliche  Unterricht  an  den  österreicluschen 

Mitlclscholen.   Wien  1908.   Teropsky.    Pr.  3  M. 
Torimlll  Md  Sohule,   Beiträge  /um   (^csiimlen  Unterricht  an  technischen  I^hraoStnltca, 

herausgeg.  von  Prof.  M.  Gimdt.    1.  Bd.,  4.  u.  5.  Hefl.    Leipzig  1907.  Tenbner. 

Pr.  geh.  je  1,60  M. 

BiMTOke,  H.,  Das  deutsche  Fortbildunp'^srbulw-scn  nach  seiner  gcschicKllichen  Ent- 
wicklung und  in  seiner  gegenw:au^in  (lestall.  Leipzig  I90S.  Goschen, 
Pr.  0,80  .M. 

SollWOOhow,  H.,  Methodik  des  Volksschulunterrichts.   7.  Aufl.  Leipodg  1907.  Teuboer. 

Pr.  geb.  6  M. 

ONShtTfl,  Ew.,  Die  Organisation  von  hauswirtschaftlichen  und  knufinlnnitchen  Middiea* 

Fortbildungsschulen.    Ebenda  I908.    Pr.  geh.  tfio  M. 
£aoken.  Prof.  Dr.  Rudolf,  Der  Sinn  und  Wert  des  Lebem.   Leipzig  1908.  Qudle 

&  Meyer.    Pr.  g.  2,8o  M. 
Ders.,  Einführung  in  eine  Philosophie  des  Geisteslebens.    Ebenda.    Pr,  geb.  4,60  M. 
MMMr,  Prof.  Dr.  AUfltt,  Empfindung  nnd  E)en1cen.   Eben<b.   Pr.  geb.  4,40  H. 
Meumann,  Prof.  Dr.  E.,  Inttllij,'en/  und  Wille.    Ebenda.    Pr   peb.  4,40  M. 
Ders.,  Ökonomie    und  Technik   des   Gedächtnisses.     Leipzig   1908.  Klinkbardt. 
ShlNR,  MIL  Watllblini,  Notes  on  the  Development  of  a  Ckdd,  II.  Berkeley,  The 

University  Press  1907.    Pr.  2,50  M. 
Muazyaalü,  Franz,  Die  Temperamente.    Paderborn  1907.  Schöningh. 


Dnwk  TOB  A.  BiMs  A  Botaa  ia  Mauiabnif  a.  8. 


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A.  Abhandlangeiu 


L 

Da8  geographische  Individuum. 

Von  Rektor  tL  Ehrhardt,  in  Köoigsee  (Thüringen). 

I.  Www  4m  iMgripbMei  toilvldiini 

Seit  den  Zeiten  des  klassischen  Altertums  ist  die  Kenntnis  der 
verschiedenen  Erdräume  die  Aufgabe  der  Geographie  gewesea  Es 
ist  ein  weites  und  reiches  Arbeitsfeld,  das  sich  dem  Gec^raphen 

darbietet,  die  P"rde  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinunji^en  und 
Gestaltungen  kennen  zu  lernen,  sie  vom  Nordpol  bis  zum  Südpol, 
von  Osten  nach  Westen  zu  erforschen.  Ein  ausgedehntes  Gebiet 
liegt  vor  der  Wissenschaft,  und  je  nach  der  Verschiedenartigkeit 
der  Gesichtspunkte,  mit  denen  der  Geograph  an  die  Lösung  seiner 
Aufgabe  herantritt,  ist  die  Geschichte  der  Methodik  dieses  Farhcs 
nach  und  nach  entstanden.  Zwei  Hauptrichtungen  sind  es,  die  seit 
den  ältesten  Zeiten  deutlich  und  klar  zur  Erscheinung  gelangen; 
die  eine  sucht  den  Ehrgeiz  darin,  möglichst  viele  Gegenden  und 
Lander  kennen  zu  lernen  und  zu  beschreiben,  der  anderen  kommt 
CS  besonders  darauf  an,  die  kausalen  Verhältnisse  zu  erforschen, 
die  Wirkungen,  welciie  die  Objekte  auf  den  Menschen  ausüben, 
kennen  zu  lernen.  Die  Wissenschaft  häuft  nicht  «bloss  Stoff  an,  sie 
sammelt  nicht  alletn  fleissig  Material,  sondern  ihr  Hauptwert  Üegt 
in  1(  I  geistigen  Verarbeitung  des  dai^ebotenen  Stoffes,  in  dem 
durch  Vergkichung  gewonnenen  Einblick  in  den  Zusammenhang 
der  Objekte,  in  dem  Nachweis  einer  die  Verhältnisse  beherrschenden 
Gesetzmässigkeit  Schon  Herodot  von  Halikarnass  meinte,  dass 
sich  die  Verschiedenheit  der  Völker  auf  die  Verschiedenheit  der 
physikalischen  Verhältnisse  des  Erdballs  zurückfuhren  lasse,  und 
Strabo  wusste  wohl  schon,  dass  die  Erde  ein  grosser  Organismus 
ist,  ein  Erziehungshaus  drr  Menschheit.  Die  weiteste  Berücksichti- 
gung der  kausalen  Veriiaitnisse  erfolgte  aber  erst,  nachdem  eine 
ausreichende  Sammelarbeit  vollbracht  war,  dann  begann  die  Durch- 
dringung und  geistige  Verarbeitung  des  Stoffes  durch  Ritter,  der 
in  der  vorrede  zu  seinem  Werke  f3dndbach  von  Europa"  sdireibt: 


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—    242  — 

„Mein  Zweck  war,  den  Leser  zu  einer  lebendigen  Ansicht  des 
ganzen  Landes,  seiner  Natur-  und  seiner  Kunstprodukte,  der  Menschen- 
und  Naturwdt  zu  erheben  und  dieses  alles  als  ein  zusammen- 
hangendes Ganze  so  vorzustellen,  dass  sich  die  wichü^ten  Resultate 
über  die  Natur  und  den  Menschen  von  selbst,  zumal  durch  die 
gegenseitige  Vergleichung  entwickelten.  Die  i. nie  und  ihre  Bewohner 
stehen  in  der  genauesten  VVechselverbindung,  das  Land  wirkt  auf 
die  Bewohner  und  die  Bewohner  auf  das  L^nd  ein."  seinen 
Grundgedanken:  die  Grundlage  alles  erdkundlichen  Unterrichts  ist 
die  physische  Geographie,  die  geoc^rnpliischen  Elemente  stehen  im 
organischen  Zusammenhang  und  in  innerer  Wechselbeziehung,  und 
die  Elrde  übt  auf  ihre  Bewohner  einen  bedeutenden  Einlluss  aus, 
die  durchaus  nicht  neu  waren,  sondern  die  er  zur  allgemeinen  An- 
erkennung brachte,  schuf  er  den  Begriff  des  geographischen  Indi- 
viduums. Jedes  Glied  ist  ein  integrierender  Bestandteil  des  Ganzen, 
das  geographische  Individuum  lässt  sich  niclit  teilen,  es  lässt  sich 
davon  kein  Glied  wegnehmen  oder  vertauschen,  ohne  dass  das 
Ganze  aufhört  das  zu  sein,  was  es  war.  Diese  einzelnen  Glieder 
des  geographischen  Individuums  sind  von  einander  abhängig,  jedes 
folgende  Element  setzt  das  vorhergehende  voraus,  und  alle  zu- 
sammen bilden  eine  fortlaufende  Reihe  von  Abhängigkeiten.  Jedes 
geographische  Individuum  kann  nach  Lage,  wagrechter  Gliederung, 
senkrechter  Gliederung,  Boden,  Wasser,  Klima,  Pflanzen,  Tieren  uad 
Menschen  betrachtet  werden.  Wie  im  Pflanzen-  und  Tierreiche  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  gesonderte  Organe  unterschieden  werden, 
welche  den  ganzen  Körper  zusammensetzen  und  durch  ihr  Zu- 
sammentreten die  Einheit  des  Individuums  au.smachcn,  so  stellen 
auch  die  einzelnen  geographischen  Elemente  im  inneren  Zusammen- 
hang und  bauen  durch  ihr  ZusammentrefFen  die  Einheit  des  geo- 
graphischen Individuums  auf.  „Man  kann  keinen  Faktor,  auch  nicht 
den  kleinsten,  in  dem  einen  Glied  verändern,  ohne  die  Gleichung 
zu  zerstören."  Die  Krde  bildet  eine  Vereinigung  einer  Anzahl 
einzelner  geographischer  Individuen,  die  durcii  die  Entwicklung  der 
Volkswirtschaft  zur  Welt^Knrtschaft  zum  Teil  in  Verbindung  stehen, 
auch  von  der  Natur  aus  schon  durch  mannigfache  Fäden  verbunden 
sind.  Sind  diese  vorangestellten  Sätze  richtig,  so  muss  durch  eine 
gründliche  Kenntnis  einer  bestimmten  Anzahl  solcher  Individuen  aus 
den  verschiedenen  Zonen  und  Erdteilen  am  besten  Zweck  und 
Aufgabe  des  erdkundlichen  Unterrichts  erreicht  werden.  Die  Natur- 
gesdiichte,  welche  nach  Stoff  und  Methode  die  der  Geographie  am 
nächsten  verwandte  Wissenschaft  ist,  führt  der  Schule  auch  nicht 
die  Fülle  der  Einzelwesen  ihrer  Reiche  zu,  sondern  die  Kinder  sollen 
durch  die  unterrichtliche  Behandlung  einer  Anzahl  von  Naturkörpem, 
insbesondere  derjenigen  der  Umgebung,  „dieselben  denkend  betrachten, 
kennen,  achten  und  lieben  lernen".  Immer  and  es  Einzelobjekte, 
Individuen,  welche  behandelt  werden,  die  Zahl  derselben  richtet 


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—   243  — 


sich  nach  dem  Schulsystem,  und  nicht  in  der  Menge,  sondern  in 
der  Tiefe  des  Stoffes  Kegt  die  Wirkung.  Damit  die  geisttötende 
Nomenklatur  vermieden  wird,  behandeln  wir  immer  einen  Natur- 
körper  nach  biologischen  Gesichtspunkten  ausführlich  und  schliessen 
auf  der  Oberstufe  an  einen  oder  an  mehrere  Repräsentanten  die 
Gattung  oder  Familie  an.  Dasselbe  möchte  ich  auch  von  dem 
geographischen  Unterricht  verlangen,  nicht  mehr  Behandlung  der 
^nzen,  weiten  Länder,  der  fernen  und  fernsten  Gegenden  unseres 
Planeten,  sondern  Auswahl  einer  bestimmter!  Anzahl  von  geo- 
graphischen Individuen,  diese  seien  Vctir  t*  r  der  Landschaftsformen 
und  werden  aus  den  hohen,  mittleren  und  niederen  Breiten  je  nach 
ihrer  Bedeutung  itir  unser  Volks-  und  Wirtschaftsleben  ausgewählt 
Für  den  Unterricht  habe  ich  deshalb  schon  früher  eine  kur- 
sorische und  statarische  Behandlung  der  Gebiete  in  Vorschlag 
gebracht.  Diese  verschiedene  Art  der  Behandlung  ist  eine  praktische 
Notwendigkeit,  und  die  Unterschiede  hegen  nicht  in  der  yuaiität, 
sondern  in  der  Quantität;  die  Grundaufgabe  ist  dahin  modifisiert, 
dass  sich  die  mehr  vorwärts  eilende,  übersichtliche,  kurze  Belehrung 
zu  einer  ausführlichen,  verweilenden  Besprechung  umwandelt.  Die 
kursorische  Betrachtung  eines  geographischen  Individuums  dient  der 
fortlaufenden  Übung  im  Kartenlesen,  im  Auffassen  geographischer 
Verhältnisse,  sie  sorgt  för  eine  Bereicherung  des  Wissens,  für  eine 
Ergänzung  bereits  gewonnener  Unterrichtsresultate.  Für  die  kur- 
sorische Behandlung  werden  sich  besonders  solche  geographische 
Individuen  eignen ,  welche  in  bereits  unterrichüich  angeeigneten 
Gedankengruppen  eine  Stütze  finden,  für  deren  Verständnis  keine 
Schwierigkeiten  vorHegen,  für  deren  Aufnahme  der  Boden  schon 
bereitet  ist.  Die  statarische  Behandlung  geht  mehr  in  die  Tiefe, 
der  gesamte  Inhalt,  die  ganzen  Verhältnisse  des  Individuums  sollen 
nach  Möglichkeit  in  dem  Geiste  Aufnahme  finden,  Bildung  klarer 
Begriffe,  Verständnis  der  geographischen  Verhältnisse,  Erfassung  des 
Unterrichtsmaterials  nach  allen  Seiten  wird  angestrebt.  Aus  dem 
gesamten  Komplex  der  so  behandelten  geographischen  Individuen 
soll  das  richtige  Verständnis  für  die  ueographie,  für  die  erd- 
kundUchen  Verhältnisse  und  Fragen  hervorwachsen.  Die  Erde  soll 
als  Naturkörper  vorgeführt  werden,  auf  dessen  weiter  und  formen- 
reicher Oberfläche  durch  das  feststehende,  gesetzmässige  Ineinander- 
greifen der  Naturerscheinungen  eine  grosse  Anzahl  von  Lebewesen 
ihr  Dasein  fristet,  die  der  Wohnplatz  eines  hochstehenden,  von  den 
Naturgewalten  sich  immer  mehr  befreienden  Lebewesens,  des 
Menschen,  ist.  Bei  der  Behandhing  ist  für  den  Krfolg  der  Stunde 
die  richtige  Herbeischaftung  des  Anschauungsmaterials  von  besonderer 
Wichtigkeit  Ist  dieses  in  genügender  lüarheit  und  ausreichender 
Menge  vorhanden,  so  können  die  Sdiüler  für  die  Mitarbeit  gewonnen 
werden,  ihr  Interesse  wird  geweckt  und  dauernd  lebendig  erhalten. 
Der  immer  reichlich   vorhandene  geographische  Stoff  entbehrt 

16* 


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meistens  die  Kraft  der  vollen  Anschaulichkeit  Das  Anschauungs* 
material  soll  der  Unterricht  in  der  Heimatkunde,  die  fortgesetzte 

Bc obnrhtiirr^y  der  Natur,  die  Karte,  das  Bild  und  das  Wort  des 
Lehrers  luirM,  Das  in  der  Wirklichkeit  geschaute  Objekt  ist  für 
den  Erwerb  klarer  Vorstellungen  von  höchster  Bedeutung,  jedoch 
nur  in  der  Heimatkunde  lässt  sich  diese  unmittelbare  Anschauung 
durchführen;  der  weitere  erdkundliche  Unterricht  muss  auf  die  Vor- 
führung der  Gegenstände  in  der  Wirkhchkeit  Ver/.iclu  leisten,  er 
wendet  heimatliche  Vorstellungen,  an  der  Heimat  erworbene  Gesetze 
auf  die  fremde  Scholle  an.  Nur  die  Sachen  haben  den  höchsten 
Wert,  die  sich  der  Schüler  auf  Grrund  der  Betrachtung  von  Er- 
scheinungen, von  natürlichen  Formen  in  der  umgebenden  Natur  selbst 
erarbeitet  hat,  alles  andere  sind  nur  Glaubenssätze,  von  denen  er 
nicht  den  Wahrheitsgehalt  abzuschätzen  vermag.  Der  Schwerpunkt 
liegt  nicht  in  den  abstrahierten  Sätzen,  sondern  in  den  ihnen  zugrunde 
li^enden  Tatsachen. 

Die  unmittelbare  Anschauung  der  Natur  und  die  Betrachtui^ 
von  Bildern  macht  die  Landkarte  nicht  überflüssig.  Der  Tourist 
kauft  auf  seiner  Wanderung  die  Ansichtskarte  um  eine  Seite,  um 
ein  Bild  aus  der  Landschaft  zu  besitzen,  die  Karte  ist  ihm  aber 
doch  noch  ganz  unentbehrlich  zur  richtigen  Auffassung  der  Gegend 
nach  Lage  und  Gestaltung  der  Verhältnisse,  sie  gibt  ihm  ein  Bild 
der  ganzen  I^ndschaft  Die  Landkarte  will  die  gegenseitige 
horizontale  Entfernnn'j;^  der  einzelnen  Punkte  auf  der  Erde  neben 
den  vertikalen  Entfernungen  veranschaulichen,  ersteres  ist  Auf'^abc 
des  Situationsplanes,  letzteres  des  Reliefs  oder  der  Tcrraindarstcliuag, 
sie  will  eine  Darstellung  von  der  Landschaft  geben,  wie  SIC  den 
Auge  aus  der  Vc^elschau  erscheine!.  \' ürde.  Die  vollkommenste 
Karte  müsste  in  dem  Re«;chauer  den  Lindruck  hervorrufen,  als  ob 
sie  en  relief  gearbeitet  wäre.  Die  Teriaindarstellung  ist  der 
schwierigste  und  wichtigste  Teil  der  Landkarte,  von  der  Darstellung 
der  dritten  Dimension  hängt  Wert  und  Brauchbarkdt  der  Scbid* 
karten  ab. 

Die  zwei  Ilauptmcthodcn  der  Terraindarstellung,  das  hypso- 
graphische  und  das  orographische  System,  wurden  vereinigt  zur 
Darstellung  des  Geländes  durch  Höhenschichten  verbunden  mit 
SchraiTen  besw.  mit  Schummerung  oder  durch  Höhenlinien  mit 
SchralTen  oder  Schummerung.  Da  auch  diese  Darstellung  noch 
nicht  genug  Plastizität  erzielt,  wird  die  senkrechte  oder  schräge 
Keleuchtung  angewandt.  Bei  der  schrägen  Beleuchtung  muss 
natürlich  durch  die  Lichtquellen  aus  verschiedener  Richtung  stets 
ein  anderes  Bild  erzeugt  werden,  das  von  so  beträchtlicher  Ab- 
weichung sein  kann,  dass  ein  Wiedererkennen  derselben  Landsdiaft 
zur  Unmöglichkeit  wird;  bei  der  senkrechten  Beleuchtung  wird  das 
Terrain  nicht  reliefartig  genug.  Die  Plastizität  der  Karte  muss  alle 
Formen  des  Geländes  klar  und  wirkungsvoll  zur  Anschauung  bringen, 


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—   245  — 


dabei  aber  die  Einzelheiten  der  Höhenstufen  deutlich  und  leicht 

crkentien  lassen,  alle  konventionellen  Zeichen  m{i-^?^cn,  wenigstens 
auf  tlcn  Karten  für  den  ersten  erdkundlichen  Unterricht,  zurück- 
gedrängt werden,  so  dass  die  Scliulkarten  nicht  mehr  so  viele 
Rätsel  aufgeben,  sondern  leichter  gelesen  und  verstanden  werden 
können.  Für  die  Schule  ist  es  sicherlich  von  gfrossem  Gewinn  und 
eine  Erleichterung^  der  Arbeit,  wenn  bei  der  Darstelhmg  der  Karten 
die  Objekte  nirht  sinnbildlich,  sondern  mehr  bildlich  ani^egeben 
werden,  wenn  auf  dem  Situationsplan  die  künstlerische  Darstellung 
das  Gelände  aufbaut  Erst  dann  werden  die  Karten  allgemein 
brauchbarer,  es  bedarf  nicht  mehr  der  vielen  Vorarbeiten  zum 
Kartenverständnis,  sie  werden  das  richtige  Anschauungsmittel  für 
den  erdkundlichen  Unterricht,  ein  geographisches  Lesebuch.  Von 
allen  Anschauungsmitteln  verlangen  wir  neben  ausreichender  Grösse 
und  notwendiger  Beschrankung  der  dargestellten  Gegenstände 
Naturtreue  und  künstlerische  Darstellung,  ßir  die  Schullcarten,  als 
wichtigstes  Anschauungsmittel  des  geographischen  Unterrichts,  müssen 
diese  Forderungen  auch  massgebend  sein.  Die  Schulkarte  muss 
immer  mehr  an  Naturtreue  und  Lebendigkeit  gewinnen,  an  Sinn- 
bildlichkeit abnehmen,  erst  dann  wird  sie  ein  pädagogisch  wertvolles 
Lehrmittel  werden,  welches  das  volle  Interesse  der  Kinder  erweckt 
Die  Handkarten  dienen  durch  ihren  besonderen  und  reicheren 
Inhalt  einem  bestimnUcn  Studium. 

Soll  das  geographische  Individuuni  fruchtbar  behandelt  werden, 
sollen  alle  seine  Elemente  die  nötige  Beachtung  erfahren,  so  muss 
der  Schüler  einen  Atlas  in  den  Händen  haben,  der  eine  weite 
Selbsttätigkeit  ermöglicht  und  allen  Anforderungen  entspricht.  Die 
Karten  sollen  mir  eine  Verkleinerung  der  Wandkarte  sein,  in  dem 
Entwurf,  der  1  erraindarstellung ,  der  Stnffrinswahl,  kurz  in  ihrer 
gesamten  Darstellungsweise  mit  der  Wandkarte  Ubereinstimmung 
zeigen.  Der  erste  Atlas,  den  die  Schüler  in  den  Händen  haben, 
enthalte  die  Karte  des  Heimatlandes  bezw.  der  Heimatprovinz, 
Deutschland  in  \lcr  Abteilungskarten,  als  Nordwest-,  Mittel-  und 
Nord-.  Nordost-  und  Süddeutschland  und  endlich  noch  eine  Über- 
sichtskarte von  Deutschland,  alle  sind  orohydrographische  Karten 
mit  eingezeichneter  roter  Grenzmarkierung.  Diese  sechs  Karten 
enthalten  den  ArbeitsstofT  für  das  4.  und  5.  Schuljahr.  Die  Kärtchen 
zur  Einführung  in  das  Kartenverständnis  sind  für  die  Unterrichts- 
praxis absolut  wertlos. 

In  der  beschränkten  Kartenzahl  ist  die  Möglichkeit  gegeben, 
die  Wünsche  in  bezug  auf  Format,  Inhalt  und  Darstellung  zu  erfüllen. 
Das  Format  kann  gross  genug  gewählt  werden,  um  die  Darstellung 
in  dem  Massstabe  von  i  :  500000  für  die  Heimatkarte,  von 
1  :  2  500(XX)  für  die  Teilkarten  von  Deutschland  und  von  i  :  5000000 
für  die  Übersichtskarte  zu  ermöglichen.  Der  erste  Atlas  braucht 
gar  nicht  reichhaltig  zu  sein,  das  Hauptgewicht  muss  auf  gute  und 


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246  — 


gediegene  AusÜihrung  der  Kartea  gelegt  werden,  Inhalt  und  Dar- 
stellung^ müssen  eine  Zufuhrung  von  geographischen  Vorstellungen 
im  wohlg^eordneten  Zusammenhang  ermöglichen.  Das  Papier  ist 
unbedingt  nur  einseitig  zu  bedrucken,  denn  das  Streben  nach 
äusserster  Verbilligung,  das  wohl  Aaerkennung  verdient,  darf  nicht 
den  Ausschlag  bei  der  Anfertigung  geben,  sondern  Gediegenheit, 
D^iierliaftigkeit  und  Schönheit  müssen  dieses  Lehrmittel  in  allen 
seinen  Teilen  auszeichnen. 

Für  das  6.  bis  8.  Schuljahr  ist  die  Anschaffung  eines  weiteren 
Lesebuches  für  den  erdkundlichen  Unterricht  nötig,  den  Inhalt  bilden 
die  übrigen  zur  Besprechung  gelangenden  £rdräume  und  eine  Karte 
mit  den  nötigen  Darstellungen  aus  der  mathematischen  Geographie» 
Für  die  Beiehrungen  in  Her  Wirtschaftsgeographie,  die  immer  mehr 
an  Ausbau  und  Bedeutung  zunimmt,  sollte  wenigstens  eine  Karte 
über  Weltverkehr  und  Kolonialbesitz  Aufnahme  hnden.  Die  Länder 
Europas  sind  im  Massstabe  von  i  :  5  000000  dargestellt,  nur  Russ* 
land  im  Massstabe  von  i  :  looooooo^  Europa  I  :  20000000,  die 
übrigen  Frdteile  im  Massstabe  von  1  :  40000000.  Für  einfache 
Schulvcrhältnisse  können  die  Erdteile  auf  einer  Karte  von  der 
östlichen  und  auf  einer  zweiten  Karte  von  der  westlichen  Halbkugel 
dargestellt  werden.  Das  Verjüngungsverhältnis  ist  fiir  die  Karten- 
frage  ein  wichtiger  Punkt,  und  die  angeführten  Massstabe  sollen  nur 
darlegen,  dass  leichte  Vergleichbarkeit  unbedingt  erforderlich  ist. 
die  Karten  selbst  müssen  /.um  Vergleich  der  einzelnen  Grössen  und 
Entfernungsverhältnisse  drängen.  Für  die  statarische  Behandlung 
einzelner  geographischer  Individuen  aus  den  aussereuropäischen 
Ländern  reichen  jene  Karten  kaum  aus,  es  sind  besondere  Karten 
des  Individuums  im  grösseren  Massstabe  wünschenswert;  sie  allein 
ermöglichen  unter  Selbsttätigkeit  der  Schüler  Entwicklung  und  klare 
Darstellung  der  geographischen  Elemente. 

Soll  der  geographische  Unterricht  die  Schüler  dahin  fuhren, 
die  Ewigkeit  zu  erlangen,  im  späteren  Leben  ohne  Antrieb  von 
Seiten  eines  Lehrers  ihr  Geiste^eben  weiter  zu  entwickeln,  die  un» 

bewussten  Bildungsmächte  auf  sich  wirken  zu  lassen  und  in  ihrer 
Tätigkeit  zu  unterstützen,  so  ist  es  nötig,  durch  die  Kunst  des 
Kartenlescns  die  Kenntnis  der  Elemente  des  geographischen  Indi- 
viduums auf  die  höchste  und  vollkommenste  Weise  zu  entwickeln 
und  auszubilden.  Alle  Kenntnisse  von  Namen  und  Zahlen  gehen 
nach  der  Schulzeit  gar  bald  verloren,  die  schönste  Schilderung  wird 
durch  neue  Eindrücke  bald  wieder  verlöscht,  aber  die  Fertigkeit 
des  Kartenlesens  gibt  die  Möglichkeit,  in  bisher  ufibekaniiien  Land- 
schaften das  Entdeckte  wieder  zu  entdecken,  die  Kenntnisse  zu 
erweitem  und  aufzufrischen. 


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—  247  — 


2.  Die  Eiemente  des  geograiiliisohen  Individuums. 

Die  Hrde  yr'hjt  uns  in  ihren  einzelnen  Teilen  und  Weiten  von 
der  Natur  aufj^efuhrte  Bauwerke,  einheitliche,  in  sich  geschlossene 
Gebiete,  in  denen  die  besonderen  Teile  nicht  regellos  zusaramen- 
gehäuft  sind,  sondern  eine  gewisse  Verbindung  und  geistige  Ver- 
knüpfung besitzen,  durdi  nvelche  das  Gesamtergebnis,  das  geo- 
graphischr  !iidi\  idinim,  erzeugt  wird.  Die  Wechselbeziehungen  der 
erdkundlichen  Kiemente  sind  so  mannigfach  und  zahlreich,  dass 
durch  die  Veränderung  eines  Gliedes  notwendig  die  ganze  Harmonie, 
das  ganze  Gleicligewicht  zerstört  würde.  Die  feststehenden  Tat« 
Sachen,  die  unwiderleglichen  Ergebnisse  der  W^issenschaft,  durch 
welche  eine  Krkcnntnis  der  Kausalität  der  Elemente  möglich  ist, 
muss  der  Unterricht  verwerten  und  ausnutzen. 

Von  den  einzelnen  Teücn  des  geographischen  Individuums 
kommt  zunächst  die  Lage  in  Betraditj  die  erste  Frage:  „Wo  liegt 
das  Land?"  muss  beantwortet  werden,  ehe  zu  den  weiteren 
Elementen  fortgeschritten  werden  kann.  Zeige  ich  den  Induktions- 
^lobus  mit  dem  aufgezeichneten  Heimatsort  vor,  so  erkennen  die 
Schüler  bei  der  Drehung  desselben,  dass  zwei  Punkte,  der  Nordpol 
und  der  Südpol,  ihre  Lage  nicht  verändern  sondern  feststehen,  sie 
wissen  aber  noch  nicht  die  einzelnen  LagevertöltnisBe  zu  anderen 
Punkten  auf  der  Kugel  festzustellen.  Durch  eine  Reihe  von  Be- 
obachtungen  haben  sie  die  Entstehung  von  Tag  und  Nacht  erkannt, 
und  diese  Erfahrungstatsache  führt  zum  Verständnis  der  geo- 
graphischen Länge.  Die  Kenntnis  der  Erdgestalt  ermöglicht  die 
Auffassung  der  geographischen  Breite.  Der  heimatkundliche  Unter^ 
rieht  hat  für  die  nötigen  Beobachtungen,  die  bei  der  Erklärung  der 
geographischen  Länge  und  Breite  gebraucht  werden,  schon  früh- 
zeilig  Sorge  zu  tragen,  sonst  schweben  diese  Erkenntnisse  in  der 
Luft,  das  Wissen  kann  nicht  auf  die  Erfahrungstatsachen  zurück- 
geführt werden. 

Die  Länge  und  Breite  jedes  Individuums  wird  im  Unterricbt 
bestimmt,  natürlich  nicht  durch  trockene  Zahlenangaben,  sondern 
durch  genaue  Erklärung  der  Bedeutung  jener  Zahlen,  indem  die 
Schüler  reden:  Kamerun  wird  durchschnitten  vom  5^  n.  Br.,  d.h. 
es  liegt  auf  der  nördlichen  Halbkugel;  s  mal  1$  Meilen  nördlich 
vom  Äquator;  wir  liegen  $1  mal  i$  Meilen  nördlich  vom  Äquator; 
das  Land  ist  also  46  mal  15  Meilen  südlich  von  uns  auf  der  nörd- 
lichen Halbkugel  gelegen.  85  mal  15  Meilen  südlich  vom  Nordpol; 
wir  liegen  nur  39  mal  15  Meüen  südhch  vom  Nordpol.  Es  wird 
ferner  durchnitten  vom  lO**  ö.  L.  v.  Gr.  £s  liegt  also  auf  der  öst- 
lichen Halbkugel.  Wir  wohnen  auf  dem  ii^  ö.  L.;  dort  geht  die 
Sonne  um  4  Minuten  später  durch  den  Meridian.  Es  liegt  unter 
demselben  Meridian  wie  Hamburg,  dort  ist  zu  derselben  Zeit  Mittag. 


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Aus  der  geographischen  Breitenlage  wird  erkannt,  dass  dieses 
Land  jährlich  zwcnoial  von  der  Sonne  senkrecht  zur  Mittagszeit 
bestrahlt  wird,  dass  die  Dämmerung  fast  fehlt,  dass  es  für  die 

Bewohner  eine  Zu-  und  Abnahme  der  Tage  nicht  rvht.  dass  es 
endlich  nur  zwei  Jahreszeiten  hat.  Ein  BHck  auf  die  Karte  belehrt 
ferner  über  folgende  Punkte :  das  Land  ist  von  den  europäischen 
Kulturstätten  im  Norden  durch  die  grosse  Wüste  abgeschlossen. 
Die  Bewohner  waren  auf  sich  angewiesen,  erst  durch  die  Ver- 
besserung^ der  Verkehrsmittel  zur  See  riirktr  drin  Weltverkehr 
näher,  auch  die  benachbarten  Landschaften  konnten  keinen  fördern- 
den EinAuss  ausüben,  da  sie  nach  ihrer  Lage  unter  denselben  Ver- 
hältnissen stehen.  Von  der  geographischen  Lage  können  vide 
Fragen  über  die  Bedeutung  des  Landes  in  der  Welt,  über  die 
StellunjT  zu  den  Nachbargebieten  und  zur  f^eimat,  in  Bezug  auf 
Wirtschaft  und  Kultur,  auf  Handel  und  Verkehr  beantwortet  werden. 
Reizten  in  der  Ferne  herrliche,  reiche  Eilande  zum  Verkehr  auf  dem 
Wasser,  oder  lockten  in  der  Nachbarschaft  fruchtbare  Landschaften 
zu  friedlichen  Handelsbeziehungen  oder  zu  kriegerischen  Eroberungen, 
aus  der  L^e  erldaren  sich  vide  geschichtliche  Ereignis  des 
Landes. 

Bei  der  insularen  Lage  ist  es  wichtig,  ob  wir  kontinentale  oder 
ursprüngliche  Inseln  vor  uns  haben.  Die  KontinentaUnseln  verraten 
meistens  ihre  Verwandtschaft  mit  dem  Festlande  sofort,  ehe  man 
überhaupt  ihre  mit  der  benachbarten  Festlandsküste  in  geologischer 
Beziehung  übereinstimmende  Beschaffenheit  erkannt  hat.  Die 
Pflanzen-  und  Tierwelt  zeigt  bis  zu  einem  gewissen  Grade  eine 
überwiegende  Mcxirzahl  von  Organismen,  die  mit  denen  des  Fest- 
landes Obereinstimmung  aufweisen.  Neuseeland,  die  einsamste  aller 
Kontinentaltnseln,  konnte  eigentümliche  Lebewesen  bewahren,  sie 
konnte  durch  die  Abwesenheit  von  mcächtigen  Tierformen,  den 
grossen,  flügellosen  Vögeln  eine  Zufluchtsstätte  gewähren,  aber  durch 
das  iiindringeb  neuer  Feinde  war  für  diese  der  Untergang  unaus- 
bleiblich. Die  ursprünglichen  Inseln  zeigen  in  der  Flora  und  Fauna 
eine  dürftigere  Ausstattung,  denn  nur  durch  die  Einwanderung  oder 
Einschleppung  von  Organismen  kann  eine  Bcsiedelung  erfolgen. 
Vor  allen  ist  es  der  Mensch,  der  Nutztiere  und  Nutzpflanzen  ein- 
führt, ihnen  folgen  allerlei  andere  Tiere  und  Unkräuter,  und  alle 
stören  den  stiHen  InsdfHeden  and  schaflen  ein  neues  Bild  der  Flora 
und  Fauna.  Die  insulare  Lage  sondert  die  Bewohner  zunächst  von 
den  Nachbarvölkern  ab,  dadurch  werden  sie  aber  auch  vor  fremden 
Eroberern  geschützt. 

Nach  den  Lagebestimmungen  ist  die  wagrechte  Gliederung, 
Fläche  und  Ausdehnung  des  geographischen  Individuums  zu 
betrachten  und  durch  Aufwerfen  von  Fragen  nach  Grund  und  Folge 
zur  Erkenntnis  der  verschiedenen  Verhältnisse  zu  fuhren.  Die 
Heimatkunde  befähigt  die  Schüler,  mit  Hilfe  des  Massstabes  Ent- 


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fernungen  und  Flächen  wieder  m  die  Wirklichkeit  umzusetzen,  diese 
Fertigkeit  wird  in  der  richtigen  Weise  fortdauernd  angewendet, 
wenn  der  Schüler  auf  der  Karte  die  Entfernungen  mit  dem  Zirkel 
abmisstp  die  gefundenen  Grössen  auf  das  Millimetermass  überträgt 
und  die  f^^efiindene  Zahl  mit  dem  Massstabe  der  Karte  multipliziert. 
Diese  Arbeit  muss  immer  wieder  eintreten,  damit  Gründlichkeit  in 
der  Kenntnis  des  Massstabes  die  Folge  ist,  und  eine  klare  Vor- 
stellung der  verschiedenen  Massstabe  fOr  das  spatere  Leben 
gewonnen  vnrd.  Diesdben  Entfernungen  werden  auf  verschiedenen 
Kartenblättern  abgemessen  und  berechnet,  an  bekannten  Strecken 
der  Heimat  im  Räume  veranschaulicht  und  endlich  wird  auch 
berechnet,  welche  Zahl  von  T  ageswanderungen  von  etwa  30  km 
nötig  sind,  jene  Entfernungen  zu  durchreisen.  Ist  der  Gradbogen 
zwischen  zwei  benachbarten  Parallelkreisen  bekannt,  so  wird  auch 
mit  Graden  gerechnet. 

Von  einem  cliarakteristischen  Punkte  ist  es  g^t  in  der  Form 
einer  Windrose  Richtungslinien  zu  ziehen  und  nun  die  Lage- 
beziehungen einiger  wichtiger  Punkte  bestimmen  zu  lassen.  Die 
Linien  in  ihren  Ejnden  miteinander  verbunden  ergeben  die  erfordere 
liehen  Punkte  fiir  die  Grundgestalt  des  geographischen  Sonder- 
^ebietes,  die  Gestalten  können  die  Schüler  selbständig;  berechnen, 
falls  sie  in  den  Flächenberechnunc^en  zur  Genüge  f^eübt  sind.  Die 
Karten  der  aussereuropäischen  Länder  müssen  auf  einem  kleinen 
Nebenkärtchen  stets  Deutschland  in  genau  demselben  Massstabe 
dai^estellt  enthalten.  Dieses  Kartchen  soll  Anregung  zu  Vergleichen 
von  Entfernungen  und  Grössen  geben  und  die  Klarheit  in  der 
Auffasstm^^  von  Massverhältnissen  fördern. 

Von  der  Grösse  des  Ländergebietes  werden  verschiedene 
Schlüsse  auf  Reichtum  und  Mannigfaltigkeit  der  Pflanzen  und  Tiere, 
auf  Leben  und  Arbeiten  der  Menschen  gemacht,  das  kleine  Gebiet 
wird  von  den  Bewohnern  nach  allen  Richtung^cn  rascher  durch- 
wandert, nach  seinen  natürlichen  Hilfsquellen  schneller  erschlossen, 
die  Menschen  selbst  wohnen  näher  beieinander  und  treten  in  engere 
Verbindung,  der  weite  Raum  dagegen  wird  langsamer  erobert  und 
erforscht.  Von  der  Ausdehnung  der  Länge  und  Breite  ist  das 
Klima  abhängig;  bei  diesem  Element  des  geographischen  Indivi- 
duums ist  Kenntnis  der  senkrechten  und  waj^echten  Gliedenin^^ 
nötig,  denn  die  Verschiedenheit  der  Klimate  beeinflusst  die  Pflanzen- 
und  Tierwelt  und  endlich  die  Besiedelung  durch  den  Menschen. 

Während  die  angeführten  Punkte  nur  die  Umrisse,  die  Grund« 
rüge  des  Individuums  darstellten,  tritt  nun  durch  die  Betrachtung 
des  Bodens  nach  Höhe,  (jestalt  und  Stoff  eine  tiefere  Durchdringung 
ein,  die  Betrachtung  schreitet  mehr  in  das  Einzelne,  in  das  Resondere 
fort.  Die  richtige  Auffassung  der  Bodenerhebungen  kann  nur  durch 
die  in  der  Heimat  gewonnenen  Vorstellungen  vennittelt  werden, 
die  Heimatkunde  soll  zur  Auffassung  der  Höhen  fremder  Land* 


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Schäften  nach  der  Karte  befähigen.  Es  wäre  für  den  gesamten 
geographischen  Unterricht  ein  grosser  Gewinn,  wenn  für  die  Hand 
der  Schüler  einige  billige  und  leichte  Reliefkarten  aus  Papier  gepresst 
angefertigt  würden,  wie  sie  schon  Atlanten  für  die  erste  Stufe  des 
Unterrichts  in  der  Erdkunde  in  früheren  Jahren  enthielten.  Eine 
Karte  von  Deutschland  könnte  wenigstens  hergestellt  werden.  Unter 
allen  Anschauungsmitteln  nimmt  dasjenige,  welches  die  Boden- 
erhebungen  körperlich  wiedergibt,  entschieden  die  erste  Stelle  ein, 
es  gelangen  da  alle  drei  Dimensionen  zur  Darstellung,  während  die 
Landkarten  die  Bodenerhebungen  nur  durch  Farben  und  Striche 
andeuten,  bieten  die  RcUetkarten  dagegen  wirkliche  Erhebungen. 
Die  plastische  Darstellung  wird  von  dem  Schüler  mit  grösserer 
Freude  betrachtet,  sie  vermittelt  durch  die  volle  Körperlichkeit 
klare  Begriffe  von  den  Arten  der  Gebirge  und  Täler,  von  den  Tief- 
und Hochländern,  von  den  Quellen  und  Flusssystemen.  Eine  solche 
Reliefkarte  von  genügender  Grösse  wird  eine  ganz  andere  Vor- 
stellung von  der  tellurischen  Plastik  erzeugen,  einen  erfolgreicheren, 
anschaulicheren  Unterricht  ermöglichen  und  för  die  Kartenbenutzungf 
ein  nicht  zu  unterschätzendes  Hilfemittel  abgeben. 

Die  Bcfähir^ung  zur  Auffassung  der  Höhen  fremder  Länder 
erfahrt  durch  die  selbständige  Anfertigung  von  Profilen  Im  deutende 
Förderung.  Das  Prohi  niuss  im  Unterricht  öfters  Verwendung  finden, 
denn  die  Bodenformen  vieler  Landschaften,  Gebirge  und  Täler  lassen 
sich  mit  wenigen  Strichen  rasch  und  klar  darstellen.  Natürlich  darf 
•auch  hier  die  Reduktion  der  Länge  die  der  Höhe  nicht  in  einem 
solchen  Grade  übersteigen,  dass  Zerrbilder  entstehen  und  falsche 
Vorstellungen  von  Höhen  und  Böschungswinkeln  gebildet  werden, 
l^fach  darzustellen  und  unterrichttich  wertvoll  sind  die  klemen 
Profile  von  Tälern  und  einzelnen  Gebirgsformen,  als  am  lehrreichsten 
müssen  die  durch  ganze  Landschaften  bezeichnet  werden,  denn  durch 
diese  wird  der  Unterschied  zwischen  den  Höhen  und  Tiefen,  der 
Aufbau  des  Landes  am  besten  zur  Anschauung  gebracht.  Das 
Gelände  ist  in  unsern  Schulatlanten  und  auf  den  Wandkarten  meistens 
durch  farbige  Hohenschichten  dargestellt,  dadurch  wird  die  An- 
fertigung der  Profile  ganz  bedeutend  erleichtert,  denn  auf  den 
Karten  sind  die  Höhen  messbar. 

Der  Wiedergabe  der  Höhen  in  der  Wirklichkeit  dient  auch 
das  Bilden.  Es  ist  ein  die  Selbsttätigkeit  ganz  besonders  anregendes 
didaktisches  Hilfsmittel,  das  immer  mehr  in  den  Schulen  Einzug 
hält  und  ein  reiches  Arbeitsfeld  (tir  die  Tätigkeit  des  Schülers  dar- 
stellt. Besonders  sind  es  Bergformen,  Vulkane,  Gebirge.  Gletscher, 
Felsschluchten,  Flusstäler,  landschaftlich  schöne  und  geof^raphisch 
besonders  wichtige  Orte,  welche  sich  ganz  gut  in  Sand  odw 
Plastilina  nachbilden  lassen.  Es  kommt  beim  Bilden  nicht  auf 
Naturtreue  an,  sondern  auf  allgemeine  Charakterisierung  der  Formen. 
Die  Wirkung  der  Gebirge  auf  die  benachbarten  Landschaften  ist 


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—    251  — 


XU  bedeutend,  als  dass  wir  auf  völlige  Klarheit  Verzicht  leisten 

können-  Die  Art  des  Anstieges,  des  Abfalls,  der  Erhebung  beeinflusst 
Wärme  und  Kälte,  Häufigkeit  und  Menge  der  Niederschläge, 
Richtung  und  Stärke  des  Windes,  der  Boden  schreibt  den  Flüssen 
die  Richtung  ihres  Laufes  vor,  er  bestimmt  Wasserreichtum  und 
Gefalle.  Weiteriiin  ist  von  der  vertikalen  Gliederung  der  Oberfläche 
der  Reichtum  und  die  Verbreitung  der  Organismen  abhängig,  Ver- 
kehr und  Arbeit,  Körper  und  Geist  der  Bewohner  werden  beeinflusst. 
Durch  die  Erkenntnis  dieser  Zusammenhänge  tritt  an  die  Stelle  der 
blossen  Beschreibung  und  Au&ählung  wirldiches  Verständnis  der 
geographischen  Elemente. 

Beim  Boden  muss  unbedingt  noch  der  Stoß*  interessieren,  da 
von  hier  aus  wieder  eine  grosse  Zahl  von  Schlüssen  möglich  wird. 
Basalte  und  Phonolithe  zeigen  meistens  Kuppen-  oder  Kegelformen, 
Porphyre  bilden  scharfe,  steile  Felspartien  mit  grotesken  Zerklüftungen 
und  scharfen  Gebilden,  Granite  haben  mehr  abgerundete,  welSge 
Oberflächen,  Quadersandsteine  zeigen  senkrechte  Felswände, 
machtige,  wagrecht  zerschnittene  Schirhtrti,  und  der  Kalk  bildet 
lange  Bergketten  und  Hochflächen.  Die  Kr  mit  ms  der  wichtigsten 
Gesteinsarten,  welche  den  Grundstock  der  äusseren  iirdhnde  auf- 
bauen, ermöglicht  die  Gestalt  der  Berge  und  Täler  und  die  Ober- 
flächenformen  wenigstens  teilweise  zu  erklären.  Auch  Reichtum 
und  Verteilung  an  stehendem  und  flicssendem  Gewässer  n'<"rden 
bedingt  durch  den  geologischen  Aufbau.  Die  Pflanzen  bilden  nach 
und  nach  ihre  Organe  unter  Mithilfe  der  Sonnenstrahlen  aus  den 
StoiTen,  die  sie  aus  der  Luft  und  aus  dem  Boden  ihres  Standortes 
entnehmen,  durch  die  Venritterung  des  Grundgesteins  wird  der 
für  die  Kultur  mehr  oder  weniger  fruchtbare  Roden  gebildet,  und 
aus  der  Zusammensetzung  des  Bodens,  aus  dem  Reichtum  seiner 
Schätze  kann  auf  die  Ansiedelung  und  Bauart  der  Wohnungen,  auf 
die  Beschäftigung  und  die  Lebensverhältnisse,  wohl  auch  auf  den 
Gesundheitszustand  und  die  Bildung  der  Bewohner  geschlossen 
werden.  Die  Oberfläche  allein  ist  ein  Individuum  mit  eigenen 
Zügen  nach  äusserer  Erscheinung,  nach  Höhenlage  und  Entstehung. 
Alle  Veränderungen  am  Relief  des  Landes  zwingen  zu  einer  kurzen 
Erklärung  einiger  Mittel  der  Gebirgsbildung;  Hebung  und  Senkung, 
Auffaltung  und  Ausnagung  werden  durch  anscbauHdie  Betrachtung 
leicht  zum  Verständnis  gebracht  Die  heutigen  Bewegungen  der 
Erdrinde  müssen  auch  in  ihren  Grundzügen  Beachtung  erfahren, 
schon  allein  um  die  landläufige  Vorstellung,  welche  das  Festland 
als  für  das  Unbewegliche  hält,  zu  berichtigen.  Für  die  tektonischen 
Beben,  welche  an  den  Bruchlinien  der  Erde  vorkommen  und  von 
der  stetigen  Verschiebung  der  Erdrinde  Zeugnis  geben,  hat  unser 
Vaterland  auch  Gebiete  aufzuweisen.  Die  Einsturz-  und  die 
vulkanischen  Beben  haben  meist  lokalen  Charakter,  Die  Seebeben 
und  die  grossartigen  und  in  ihren  zerstörenden  Wirkungen  gewaltigen 


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Erdbebenfluten  lassen  erkennen,  dass  die  Erschütterungen  auch  auf 
dem  Meeresboden  an  manchen  Orten  vorkommen. 

Von  dem  Wasser,  das  als  fliessendes,  stehendes,  gefrorenes  und 
als  Meer  erscheint,  wird  ebenfalls  der  Zusammenhang  mit  den 
anderen  Elementen  aufgedeckt.  Die  allgemein  gültigen,  durch  An- 
schauung in  der  Heimat  gewonnenen  Satze  über  das  fliessende 
Wasser  ^cben  an,  dass  zunächst  von  der  Nci<:^ung  des  Bodens  Fluss- 
richtung und  Geschwindigkeit,  von  der  Bodenbcschafl"cnheit  die 
Form  des  Laufes  abhängig  sind.  Die  Wasserführung,  welche  mit 
der  jahreszeitlichen  Verteilung  undMeni;e  der  Niederschläge  wechselt, 
beeinflusst  die  Geschwindigkeit,  von  dieser  ist  Kraft  und  Arbeits- 
leistung abhängi<^.  Der  Fluss  ist  in  der  Erosion  ein  flcissigcr  und 
selbständiger  Arbeiter  und  in  der  F'ortschaffung  des  ihm  zugeführten 
Verwitterungsschuttes  ein  Diener  fremder  Kräfte.  Es  ist  nicht 
genug  festzustellen,  wie  hier  ein  Fluss  sich  entwickelt,  ausbreitet, 
zerspaltet,  sondern  die  Neugierde  richtet  sich  auf  die  Fragen  warum 
die  Richtung,  die  Form  des  Laufes,  die  Geschwindigkeit,  die 
Wassermenge  gerade  so  hervortreten,  auf  seine  mechanischen  und 
chemischen  Wirkungen,  auf  die  Bedeutung  für  Pflanzen  und  Tiere, 
auf  den  Einfluss  im  Leben  der  Menschen;  wie  die  Mensdien  sich 
am  Flusse  ansiedeln,  da  er  ihre  Arbeit  unterstützt,  ganze  Betriebe 
erst  ermöglicht,  den  Verkehrsweg  vorzeichnet  oder  bei  genügender 
Grösse  selbst  zur  Verkehrsstrassc  wird.  Von  der  Karte  kann  neben 
Namen,  Quelle,  Mündung,  Richtung,  Gestalt  und  Länge  des  Laufes, 
Gefalle  und  Wassermenge  auch  die  Geschwindigkeit  und  die 
Bedeutung  abgelesen  werden. 

Das  stehende  und  das  gefrorene  W^'lsscr  wirkt  in  vieler 
Bezichun^^  auf  den  Charakter  der  Landschaft  und  auf  die  wirtschaft- 
liche Entwicklung  der  Bewohner.  Durch  die  Berechnung  der 
LängS'  und  Breitenausdehnung  einige  stehender  Gewässer*  wira  eine 
Vorstellung  von  der  Grösse  gewonnen.  Dass  der  Viktoriasee  in 
Afrika  und  der  obere  See  in  Amerika  an  Grösse  dem  Königreich 
Bayern  vergleichbar  sind,  wnrd  nicht  genug  hervorgehoben.  Meist 
sind  die  Vorstellungen  über  die  Grössen  der  Seen  falsch  und  daher 
auch  die  weiteren  Schlösse  über  die  Bedeutung  in  dem  geo- 
graphischen Individuum  unrichtig.  Vom  Meere  interessiert  die  Arbeit, 
welche  es  am  Lande  verrichtet,  der  Einfluss  auf  das  Klima  in  Bezug 
auf  Feuchtigkeit  und  Wärme,  die  Bedeutung  für  die  Pflanzen  und 
Tiere,  die  Wichtigkeit  für  den  Verkehr,  der  Einfluss  auf  den  Charakter 
und  auf  die  Beschäftigung  der  Küstenvölker. 

Das  Klima,  nämlich  der  mittlere  Zustand  der  Atmosphäre  dar* 
gestellt  durch  langjährige  meteorologische  Durchschnittswerte,  hat 
als  direkte  I laiiptfaktoren  Wärme  und  Niederschläge,  als  indirekte 
Winde  und  orographische  Verhältnisse.  Die  Wirksamkeit  aller  vier 
Faktoren  wird  durch  die  Beobachtung  des  Klimas  der  Heimat  ver- 
standen; Wärme,  Wind,  Niederschläge,  Luftdruck,  Himmd  und 


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—  253  — 

besondere  Frscheinungen  werden  im  Wechsel  der  Jahreszeiten 
verfolgt,  danuL  die  erforderlichen  Sätze  und  Gesetze  auf  Grund  der 
Anschauung  abstrahiert  werden  können.  Die  Festlegung  des 
Gesetzes,  die  Wärme  nimmt  mit  der  Höhe  ai?,  erfolgt  nach  einer 
Anzahl  von  Temperaturmessuntfen  auf  den  Ausflügen,  nach  der 
Beobachtung  der  benachbarten  Höhen,  welche  die  Schneedecke  im 
Frühling  etwas  länger  tragen,  deren  Vegetation  sich  später  ent- 
wickelt, und  die  sich  im  Winter  zuerst  mit  einem  weissen  Kleide 
schmücken.  Für  die  Kenntnisse,  dass  die  Eurwärmung  der  Hrd* 
Oberfläche  nach  dem  Winkel  der  Bestrahlung  verschieden  stark  ist, 
dass  die  Intensität  der  Erwärmung  von  der  Erwärm ungsfahigkeit 
der  bestrahlten  Fläche  abhängig  ist,  also  das  Land  sich  stärker  er- 
wärmt aber  auch  stärker  erkaltet  ab  das  Wasser,  dass  die  erwärmte 
Luft:  in  die  Höhe  steigt  und  dass  die  Luft  bei  grösrorer  Erwärmung 
eine  höhere  Dampfmenge  festhalten  kann,  bietet  die  Natur  and  die 
Umgebung  dem  Schüler  reichlich  Gelegenheit  zur  fleissigen  Be- 
obachtung. Die  Klarheit  über  die  Neigung  und  stete  (ileichrichtung 
der  Erdachse  während  der  Bewegung  um  die  Sonne  bringt  den 
Unterschied  in  der  Mittagshöhe  der  Sonne,  die  Läi^  von  Tag  und 
Nacht,  die  Entstehung  der  Jahreszeiten  und  die  Entstehung  der 
Zonen  zum  Verständnis.  Wie  sich  Wärmezonen  unterscheiden  lassen, 
so  ist  auch  Festlegung  von  Wind-  und  Niedcrschlags/.onen  möglich. 
Durch  das  besondere  Zusammentreten  der  angefülirten  Faktoren 
unterscheiden  wir  auf  der  Erde  KUmaprovinsen,  die  bei  der 
Besprechung  eines  Landes  eine  kurze  Schilderung  nötig  machen. 
Alle  Ursachen  müssen  aufgehellt  werden  um  die  Tatsachen  zu 
erfassen. 

Die  Witterungserscheinungen  haben  für  alle  Menschen  Interesse, 
alle  beobachten  den  Himmel,  alle  schauen  nach  der  Wetterfahne, 
alle  sehen  nach  dem  Stande  des  oft  dürftigen  Barometers  und 

Thermometers,  wenn  es  auch  nur  7,11  dem  Zwecke  sein  sollte,  sich 
über  die  Wetteraussichten  für  einen  geplanten  Ausflug  zu  unterrichten. 
Das  Kimia  wirkt  auf  die  religiösen  Vorstellungen  der  Völker,  auf 
Geistes-  und  Gemütszustand  der  Menschen  ein,  selbst  in  der  Literatur 
zeigt  sich  ein  gewisser  Zusammenhang  mit  den  meteorologisdien 
Erscheinungen  des  Wohnsitzes. 

Die  Physiognomie  eines  gengraphischen  Individuums  ist  nicht 
bloss  von  den  i'errainverhältnisscn  und  von  dem  Wasser  abhängig, 
sondern  vor  allem  ist  es  die  Vegetation,  welche  besonders  dem 
Auge  bemerkbar  hervortritt  und  der  Landschaft  ein  bestimmtes 
Aussehen  und  besonderes  Gepräge  verleiht.  Die  Pflanzen  snd 
abhängig  vom  Boden  und  vom  Klima,  dem  Boden  entnehmen  sie 
wichtige  Xahrungsbestandteile,  er  übt  durch  Dichtigkeit  und  Wärme- 
kapazität und  VVasserdurchlässigkeit  einen  bedeutenden  Einfluss  auf 
sie  aus,  und  Wärme,  Licht  und  Feuchtigkeit  sind  Grrundbedingungen 
für  das  Gedeihen  der  Pflanzendecke.  Für  uns  hat  eine  Pflanzenform 


—   254  — 


nur  dann  Bedeutung,  wenn  sie  das  Bild  der  Landschaft  in  besonders 
charakteristischer  Weise  bestimmt,  sonst  kommen  nur  die  \  c^c 
tationsformen  in  Betracht,  da  sie  ein  eigenartiges  LandscfaaftsUld 

vor  dein  Auge  entstdien  lassen  und  ausierdem  noch  die  Folge  von 
den  lokalen  Boden-  und  Klimaverhältnissen  darstellen. 

Schon  frühzeitig  lernt  das  Kind  die  Vegetationsformen  der 
Heimat  kennen,  es  besucht  Buscii-  und  VValdland,  auf  der  Wiese  und 
im  Riede  ist  es  tatig,  das  Ödland  tritt  an  irgend  einer  Stelle  deutlich 
hervor,  auch  das  Kulturland  wird  in  den  Formen  als  Feld,  Garten 
und  Weinberg  als  eigener  Typus  beachtet  Die  Bedeutung^  der 
Pflanzen  für  die  Neubildung  des  Bodens  führt  das  Moor  und  der 
Humus,  ihren  Wert  für  die  Erhaltung  der  festen  Erdrinde  jedes  mit 
Weiden  bewachsene  Bachufer,  jeder  beraste  Eisenbahndamm,  jeder 
au^eforstete  Berghang  vor,  und  der  Einfluss  des  Waldes  auf  das 
Klimr\  ^vird  in  der  Heimatkunde  durch  Erfahrung  zur  Klarheit 
gebracht,  denn  auf  den  Wanderungen  wurde  im  heisscn  Sommer 
die  angenehme  Waldkuiiie  empfunden;  das  Aufsteigen  des  Wasser- 
dampfes konnte  an  zahlreichen  Tagen  deutlich  beobaätet  werden,  und 
im  Walde  suditen  undfandendie  KinderoftgenugSchutz  vordem  Winde. 
Die  Veränderungen,  welche  die  Vegetationsformen  durch  die  Arbeit 
des  Menschen  oft  genug  erfahren  mussten,  sind  so  bedeutend,  dass 
die  Physiognomie  der  ganzen  Landschaft  dadurch  eine  gründhche 
Umgestaltung  erfahren  hat  Waldland  und  waldlose  Gebiete,  die 
beiden  Hauptt)q>en  der  Vegetation,  haben  auf  die  meoscfalklie 
Arbeit  einen  verschiedenen  Einfluss.  Die  undurcbdrin^chen  und 
weiten  Wälder  der  troj  ischen  und  gemässigten  Zonen,  besonders 
aber  die  tropischen  L  rualder,  in  denen  sich  die  Lianen  von  Baum 
zu  Baum  schwingen  und  ein  dichtes  rilanzcngewebe  bilden  und  dem 
Urwalde  hauptsächlich  die  Unwegsamkeit  verleiben,  scheiden  die 
Menschen  voneinander  und  hindern  den  Verkehr,  ja  sie  verleiben 
ihren  ständigen  Bewohnern  ein  besonderes  Gepräge.  Das  Eukalypten- 
und  Akaziengestrüpp  in  Australien  hat  durch  seine  harten  und 
Steifen  Formen  die  Erforschung  des  linieren  aufgelialten.  Anders 
sind  die  Wirkungen  der  waldlosen  Gegenden,  der  Wüsten  und  der 
Grassteppen.  Die  Haupteigentümlichkeit  der  Steppen  liegt  darin, 
dass  sie  immerwährende  Wanderungen  den  Bewohnern  gestatten, 
Steppenvölker  brachen  zur  Zeit  der  Völkerwanderung  in  Mittel- 
europa ein  und  überfluteten  das  Land.  Der  Ackerbau  führte  zur 
Sesshaftigkeit  der  Bewohner  und  zur  dichteren  Besledelung  des 
Landes,  er  förderte  die  Kulturentwicklung  der  Menschheit.  Um 
Raum  für  den  Anbau  der  Kulturpflanzen  zu  gewinnen,  mussten 
natürlich  durch  den  Menschen  die  Vegetationsformationen  vprandert 
werden.  So  zeigen  nun  die  alten  Kulturländer  China,  Hindostan 
und  Ägypten  ein  eigenartiges  Landschaftsbild,  und  durch  dk 
energisäe  Arbeit  der  Ansiedler  wurde  in  Nordamerika  und  in  aOeo 
jüngeren  KulturUuidem  die  Landschaft  mit  einem  anderen  PBanxen- 


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.    —  255  — 


klt'idc  ;in;j^rtan.  Unter  der  I'tlcL^c  und  Tätii^keit  des  Menschen  ent- 
wickeilcn  sich  die  NahrungsauLtei  und  i^liaiuenfasern,  Heil-  und 
Genussmittel  liefernden  Pflanzen  zu  ertragreichen  Formen,  und  um- 
gekehrt wifkten  die  Pflanzen  auf  die  Kultureotwicidung  und  Gesittung 
ihrer  Pfleger  und  Anbauer  wieder  segensreich  ein. 

Viel  weniger  als  fiie  Pflanzenwelt  bestimmt  die  Tierwelt  den 
Charakter  des  geographischen  Individuums.  Wenn  auch  die  Faunen 
getrennter  Gebtete  mehr  oder  weniger  bestimmte  Sonderformen 
besitzen,  so  treten  sie  doch  nicht  sofort  in  dem  Landschaftsbilde 
hervor,  sondern  sie  wollen  erst  gesucht  und  entdeckt  sein.  Die 
Unterschiede  der  tiergeographischen  Verhältnisse  sind  im  wesent- 
lichen ein  Produkt  des  Klimas,  ein  Ergebnis  der  wecliselnden  Ober- 
flachenverhältnisse  unseres  Planeten.  Der  Einfluss  der  Tierwelt  auf 
die  Physiognomie  der  Landschaft  erstreckt  sich  nur  auf  wenige 
Fälle.  Zunächst  sind  es  einige  Angehörige  der  niederen  Tierwelt, 
besonders  Vertreter  der  Anthozoen,  welche  auf  den  unterseeischen 
Erhebungen  des  Meeresbodens  ihre  Bauten  bis  zur  Überfläche  empor- 
fuhren. Die  Schalen  einiger  Rhizopoden  bauten  in  früheren  Epochen 
die  Kalk-  und  Kreidefelsen  auf,  und  von  den  höheren  Tieren  sind 
es  nur  wenige,  die  zerstörend  in  die  Pflanzendecke  eingreifen  und 
das  Büd  des  Landes  auf  die  Dauer  verändern.  Die  Umgestaltung 
der  vegetativen  Decke  in  vielen  Ländern  musste  natürlich  auch  zu 
einer  Änderung  der  tierischen  Bewohner  fuhren.  Für  den  Menschen 
haben  die  Tiere  Bedeutung:,  welche  entweder  wichtige  N^nings« 
mittel  liefern  oder  Kleidung  spenden  oder  eine  gesuchte  Handels- 
ware fir^r'^tcllcn  oder  als  treue  (ichilfcn  bei  dem  Kainjjfc  ums  Dasein 
für  iliTi  i;tit/h"ir  sind  oder  auch  als  Feinde  sein  Leben,  seine 
Gesundheit,  semc  .*\rDeit  bedrohen.  In  das  Verbreitungsgebiet  der 
höheren  Herwelt  hat  der  Mensdi  machtvoll  eingegriflen ;  die  schfid« 
liehen  Raubtiere  hat  er  aus  den  Kulturlandschaften  vertrieben, 
wertvolle  Pelztiere  hat  er  fast  ausgerottet,  und  die  riesenhaften 
Säuger,  Klefant  und  Wal,  hat  er  in  wenigen  Jahrzehnten  nus 
weiten  Gebieten  gedrängt  Den  grosstcn  Nutzen  und  die  sicherste 
Einnahmequelle  bilden  die  einzelnen  Organismen  nur  dann,  wenn 
der  Mensch  die  Nutztiere  in  seine  Pflege,  in  seinen  Schutz,  in  seine 
Kultur  nimmt,  dann  erst  sind  für  ihn  die  Hilfsquellen  der  Landschaft, 
welche  sich  ihm  in  der  Tierwelt  öffnen,  weniger  den  Zufälligkeiten 
und  Schwankungen  ausgesetzt  Die  für  die  I^ndschaften  charakte- 
ristischen Individuen  aus  dem  Tierreich,  welche  durch  ihre  körper- 
lichen Einrichtungen  und  durch  ihre  Färbung  ganz  und  gar  ein 
Ergebnis  der  geographischen  Verhältnisse  sind,  werden  in  der 
Naturgeschichtsstunde  oder  auch  in  der  Geographie  so  weit  als 
notig  behandelt,  erst  jetzt  sind  die  Bedingungen  erfüllt,  welche  ein 
volles  Verständnis  ihrer  Lebensweise  ermögUchen. 

Von  allen  Beziehungen  sind  die  auf  den  Menschen  die  wichtigsten ; 
er  ist  abhängig  von  einer  grossen  Anzahl  von  Erschemungen,  ein 


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Glied  in  der  langen  Kette  von  Abiiaugigkeiten,  das  iindglicu  und 
hervorragendste  Wesen  im  geographischenlndividuum.  Die  Menschen 
zeigen  als  Naturvölker  die  grösstc  Abhängigkeit  von  den  geo- 
graphischen Verhältnissen.  Obgleich  wohl  heute  kaum  norh  ein 
Volk  zu  finden  ist,  das  gar  keinen  Kulturbesitz  aufweist,  denn  überall 
berichten  uns  die  Reisenden  von  Waricnsclimuck,  von  einfachsten 
Gerätschaften,  von  rd^iösen  Anschauungen,  so  soU  doch  durch  die 
Bezeichnung  Naturvolk  ausgedrückt  werden,  dass  jene  Völkerschaften 
noch  wenige  oder  gar  nicht  sich  der  Beeinflussung  durch  die  Natur- 
mächte  entzogen  iiaben.  Die  Völker,  welche  dagegen  auf  den 
höchsten  Stufen  der  Kultur  stehen,  haben  jene  Abhängigkeit  von 
den  geographischen  Verhältnissen  ihrer  Heimat  immer  m^ur  Über* 
wunden,  ja  sie  wirken  sogar  umgestaltend  und  behenschend  auf 
jene  Verhältnisse  ein,  sie  entwickeln  und  bilden  die  unabhängige 
Stellung  immer  mehr  aus.  Die  Arbeit  des  IMcnschcn  zum  Zwecke 
der  Veredelung  und  Vervollkommnung  des  materiellen  und  geistigen 
Besitzstandes  interessiert  uns  nur  nach  der  räumlichen  Seite,  soweit 
Nahrung,  Kleidung  und  Wohnung  in  Frage  kommen.  Die  Er> 
zeu  1  1 :  und  Steigerung  des  Vermögens  an  Gütern  setzt  verschiedene 
technische  Verbesserungen  voraus  und  die  Ausbildung  eines  Güter- 
austausches, eines  V^crkchrs,  der  sicii  mit  der  Weiterentwicklung; 
zum  Weltverkehr  ausgebildet  liat.  Aüe  Anteiinalune  eines  immer 
g^sseren  Kreises  der  Gesamtbevölkerung  der  Landschaft  an  den 
Erzeugnissen  der  einheimischen  wie  der  fremden  Gebiete  fuhrt  zur 
höheren  Kulturstufe  empor,  zur  Verallgemeinerung  aller  wirtschaft- 
lichen und  geistigen  Errungenschaften.  Die  natürlichen  Hilfsquellen 
werden  geöft'net,  die  Gewerbtätigkeit  wird  in  verschiedenen  Staaten 
durch  das  Volk  gehoben,  entwickelt  und  erweitert,  mit  den  Nachbar^ 
Völkern  beginnt  ftir  die  Herbeischaffung  der  erforderlichen  Rohstoffe 
oder  für  den  notwendigen  Umsatz  der  heimischen  Erzeugnisse  die 
.Anknüpfung  von  Handelsbeziehungen,  die  Interessen  des  Volkes 
werden  durch  die  Gründung  von  Kolonien  auf  grössere  Gebiete 
ausgedehnt  Ciütererzeugung  und'  Güterumsatz  sind  die  beiden 
Hauptseiten  jener  Wirtschaftspolitik,  die  sich  heute  über  die  ganse 
Erde  erstreckt  und  stets  für  das  materielle  Wohl  des  eigenen  Volkes 
Sorge  trägt. 

Das  wirtschafthche  Leben  der  europäischen  Kulturvölker  hat 
sich  von  der  Volkswirtschaft  zur  Weltwirtschaft  entwickelt,  iur  diese 
Tatsache  gibt  das  tagliche  Leben  die  zahlreichsten  Beweise.  Die 
Bevölkerung  der  Kulturkreise  ist  abhängig  von  der  Arbeit  zahl» 
reicher,  weitentfernter  Gebiete,  entweder  werden  zur  Befriedigung 
der  Bedürfnisse  an  Nahrungsmitteln  die  heimischen  Ernten  aus  den 
Erträgen  fremder  Gegenden  ergänzt,  oder  die  Erzeugnisse  des 
Gewerbfleisses  müssen  im  Auslande  abgesetzt  werden.  Die  vielen 
Fortschritte  der  menschlichen  Kultur  gerade  in  den  letzten  Jahr- 
zehnten machten  die  Menschheit  selfc^tändiger  und  unabhängiger 


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—   257  — 

von  den  geographischen  Faktoren.  Dabei  wurden  auch  immer 
mehr  die  Gaben  der  Natur  für  den  Menschen  verwendbar  gemacht 

Das  Volk  verwächst  durch  die  Kulturarbeit  fester  mit  seinem  Wohn- 
sitze, das  Antlitr  des  ^geographischen  Individuums  wird  durch  die 
Urbarmachung  des  Bodens,  durch  die  Abiiolzung  und  Anpflanzung, 
durch  die  Regelung  und  Änderung  der  Flussläufe,  durch  die  Anlage 
von  Strassen,  Brücken  und  Dämmen,  durch  Eisenbahnen  und  Kanäle 
so  beträchtlich  verändert,  dass  dieses  und  jenes  erdkundliche  Element 
in  seinen  Wirkuniren  auf  die  anderen  Glieder  und  in  seiner 
Bedeutung  tur  das  Ganze  eine  Abänderung  erfahren  hat  Alle  jene 
Arbeiten  haben  nur  den  einen  Zweck,  Nutzbarmachung  för  den 
Bewohner.  Jede  Überwindung  eines  Widerstandes,  den  die  Natur 
der  Arbeit  des  Menschen  entgegensetzt,  bedeutet  für  die  Menschheit 
einen  Kulturtortsciiritt,  einen  Schritt  zu  grösserer  Selbständigkeit 
und  Unabhängigkeit. 

Durch  den  grössten  Aufwand  an  Geld  und  Arbeit  vergrössert 
der  Niederländer  den  Raum  seines  kösüichen  Weide-  und  Frucht* 
bodens,  ein  Viertel  des  ganzen  Landes,  das  tiefer  liegt  als  der 
Meeresspiegel,  besonders  die  grosse  Flärlie  von  der  Zuidersee  nach 
SW  hin,  beschützt  er  durch  hohe,  unabsehbar  lange  Deiche  an  den 
Küsten  und  Flüssen  gegen  die  Überflutungen ;  das  Haarlemer  Meer, 
i8o  qkm,  wird  bereits  von  iScxx>  Mens(äen  bewohnt  Auch  die 
geographische  Lage  hat  durch  die  Bauten  \on  Verkehrswegen  eine 
Veränderung  und  durch  die  Entwicklung  der  modernen  Verkehrs- 
mittel eine  andere  Bedeutung  erhalten.  Die  Verbindung  der  Aus- 
gangs- und  Endpunkte  auf  dem  kürzesten  Wege  wird  durch  Kanal- 
bauten für  den  Seeverkehr  angestrebt,  und  durch  die  Dampfkraft 
können  die  Fahrzeuge  die  kürzesten  Wege  einhalten,  sie  sind  un- 
abhängig von  Wind  und  Strömung  geworden.  Raumüberwindung 
ist  das  Ziel  jedes  V^erkehrs,  Verbindung  der  getrennt  lebenden 
Menschen  un  J  VV  irtsciiaftsformen.  An  der  Veränderung  der  vertikalen 
Bodengliederung  hat  neben  dem  Bergbau  noch  die  Anlage  von 
Verkehrswegen,  welche  Abtragung  von  Höhen,  Ausfüllung  von 
Tälern,  !)t?rrhbrechung  der  voi^lagerten  Höhen  nötig  macht, 
besonder  rn  Xnteil. 

Das  stehende  und  fliessende  Gewässer  des  Binnenlandes  erfahrt 
die  Macht  der  menschlichen  Arbeitskraft  Hier  weist  er  den  Flüren 
ein  anderes  Bett  an.  dort  entwässert  er  Seen  und  Sümpfe.  Vor 
allen  Dingen  ist  es  das  Flachland,  wo  das  geringe  Gefälle  der  Flüsse 
die  Schiffahrt  gestattet,  wo  keine  Stromschnellen  und  Felsenriffe 
hindernd  entgegentreten.  Aber  auch  die  Stromschnellen  überwindet 
der  Mensch  durch  Sprengungen  und  die  fladien  Wasserschriden 
durch  die  Anlage  von  Kanälen;  durch  die  Kammerschleusen  werden 
selbst  beträchtliche  Höhen  überschritten.  Die  Ströme  trennen  die 
Menschen  nicht  mehr  voneinander,  da  gewaltige  Brückenbauten 
ein  Ufer  mit  dem  andern  verbinden.   Die  East  Kiverbrücke,  1827  m 

PMafOfuclMs  äUHU«n,  XXX.  i.  17 


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—   2S8  — 


lang,  26  m  breit  und  41  m  über  dem  Wasserspiegel,  bietet  Raum 
für  2  Eisenbahnwege,  für  2  Fahrstrassen  mit  elektrischen  Bahnen, 

für  einen  Fussweg  und  wird  täglich  im  Durchschnitt  von  rund 
I15CXX)  Menschen  überschritten.  Die  Williamsburgbrücke  ist  ^o^st 
2200  m  lang  und  bietet  Platz  für  2  Hochbahnen,  4  Strassenbaiiu- 

S leise,  2  Fahrstrassen,  2  Radfahrer-  und  2  Fussgängerwege.  Soldie 
'beiten  zeigen  deutlich,  dass  die  Flüsse  die  Menschen  nicht  mehr 
voneinander  trennen  können.  Die  Bedeutung  der  Flüsse  als  Wasser- 
wege zeigt  ihren  Wert  für  die  Verbindung  der  Länder  untereinander. 

Die  Arbeit  des  Menschen  beeinflusst  auch  die  Vegetationsformen 
der  Landschaft,  dadurch  hat  er  an  vielen  Orten  dne  merkfiche 
Veränderung  der  klimatischen  Verhältnisse  herbeigeführt  Der  Mensch 
hat  durch  seine  Arbeit  im  Laufe  der  historischen  Zeit  in  auffallender 
Weise  die  Verbreitung  der  Pflanzen  verändert.  Jene  Veränderung 
des  Landschaftsbildes  der  älteren  Kulturländer  ist  ein  Werk  des 
Menschen  und  durch  seine  energische  Arbeit  haben  auch  die  jüngeren 
Kulturländer  eine  neue  Physiognomie  erhalten.  Überall  begann 
zunächst  seine  Arbeit  mit  der  Ausrodung  der  Wälder,  Kultur-  und 
Odhnd  trat  an  die  Stelle.  Die  Vermischung  der  Floren  ist  eine 
Fül^e  der  menschlichen  Kulturarbeit,  absichtlich  verbreitet  er  die 
Kulturpflanzen,  aber  auch  gegen  seinen  Willen  folgen  viele  fremde 
Grewädise  seinen  Spuren,  Unkräuter  werden  mit  den  Kulturgewächsen 
verbreitet.  Besonders  ist  es  der  Verkehr  der  Neuzeit,  welcher  die 
Pflanzen  in  ferne  Gegenden  trägt  und  die  Floren  vermischt.  Kirchhoff 
führt  an,  „dass  auf  der  Strecke  .•Xupfsburg-Haspclmoor  gelegentlich 
der  Getreidetransporte  1868  bis  1880  44  neue  Phanerogamen  in 
die  Flora  eingeführt  wurden".  Der  Botaniker  findet  gerade  an  den 
Etsenbahndämmen  gar  manchen  Fremdling  in  der  heimischen  Flora. 

In  derselben  Weise  widmete  der  Mensch  den  Tieren  seine 
Aufmerksamkeit,  indem  er  einit^e  :'n  Xutztieren  heran/.og,  verfolgte 
er  andere  des  Pelzes  oder  Fleisches  oder  einer  anderen  Beute  wegen, 
die  gefahrfidien  verdrängte  er,  oder  er  rottete  sie  gans  und  gar 
aus.  Bei  dieser  Tätigkeit  sind  auch  die  Naturvölker  beteiligt,  wenn 
auch  ihre  Arbeit  nicht  so  intensiv  geschieht.  Zuerst  fallen  die 
wenig  geschützten,  grossen  Tiere  dem  Kampfe  zum  Opfer,  während 
die  am  besten  geschützten  Individuen  am  leichtesten  den  drohenden 
Gefahren  entgehen.  Ebenso  wie  die  Pflanzen,  verbreitet  er  absichtlich 
oder  unabsichtlich  manche  Tierformen,  besonders  sind  es  kleinere 
Tiere,  Parasiten  und  Ungeaefer,  welche  dem  Menschen  in  die  ent- 
legensten Erdräume  folgen.  Der  Mensch  verbreitet  Tiere,  welche 
durch  natürliche,  schwer  überschrcitbare  Grenzen,  durch  grosse 
Meere,  hohe  Gebirge,  ausgedehnte  Wüsten  von  einer  Gegend  auS' 
geschlossen  werden.  In  Nordamerika  führte  er  den  Spetüng  ein, 
der  sich  so  vermehrte,  dass  er  zur  Landplage  geworden  ist,  auch 
das  in  Australien  von  Europäern  eingeführte  Kaninchen  hat  sich  zu 
Millionen  vermehrt.   Dadurch,  dass  der  Mensch  verschiedene,  einer 


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bestimmten  Tiergruppe  zur  Nahrung  dienende  Fflanzenformen  einer 
Gegend  vernichtet»  nimmt  er  zugleich  auch  hemmten  Tierformen 

die  Möglichkeit  ihrer  Existenz.  So  liebt  das  Auerwild,  das  rechte 
Bild  des  Urwaldes,  den  primitiven  Waldzustand,  von  Schluchten, 
Gehängen,  Felsen,  zerrissene  Waldstrecken,  unregelmässige  Bestände, 
es  hasst  die  Kulturarbeit  des  Menschen.  Durch  die  mehr  oder 
minder  bewusste  Beeinflussung  von  den  Menschen  sind  die  meisten 
unserer  Haustiere  ohne  jeden  Zweifel  von  wildlebenden  Arten  ent- 
standen. Durch  die  ständige  Auswahl  und  durch  die  planmässige 
Wiederholung  der  Ausle-sr  erreicht  er  nach  und  na'^h  rias  Ziel;  zahl- 
reiche Arten  von  Pferden,  Rindern,  Hunden,  iiuhiicrn  und  Tauben 
hat  er  seinen  besonderen  Zwecken  entsprechend  gezüchtet.  Wie 
schon  angegeben,  tritt  die  Fauna  stets  in  dem  Landschaftsbilde 
zurück,  das  Auge  des  Geographen  muss  erst  die  Tierformen  Stichen, 
während  die  Vegetationsformen  sich  dem  beobachtenden  Auge  von 
selbst  darbieten,  doch  darf  die  Betrachtung  des  geographischen 
Iiidiwdoams  deshalb  nicht  an  wichtigen,  durch  die  Menschen  herbei* 
geföhrten  Veränderungen  in  der  Tierwdt  vorübergehen. 

3i  Dar  aslarrlolitildis  Wart  das  gsaf  raplilaelmi  ladtvldanm. 

An  erster  Stelle  erfordert  die  fruchtbare  Behandlung  eines 
geographischen  Individuums  die  Bildung  deutlicher  und  klarer 
Anschauungen  als  Grundlage  der  richtigen  Vorstellungen  und  Begriffe. 
Dieser  Erwerb  von  Anschauungen  wird  dadurch  erleichtert,  dass 
ein  gründlicher,  sorgfältiger  Unterricht  in  der  Heimatkunde  erteilt 
wird,  der  sowohl  in  materieller  als  auch  in  formeller  Hinsicht  seine 
Aufgaben  kennt  und  auch  zu  erreichen  weiss;  der  also  den  Heimats- 
ort und  dessen  Umgebung  nach  allen  Seiten  betrachtet,  Tier-  und 
Pflanzenwelt  beobachtet,  Wetter-  und  Himmelsbeobachtungen  anstellt, 
die  einfachsten  wirtschaftlichen  und  gewerblichen  \'<  i  .lalttiisse 
berücksichtigt  und  den  Sinn  tur  die  Geschichte  der  Heimat  weckt, 
auf  der  anderen  Seite  aber  auch  den  geograi)htschefi  B^priü&schatz 
erweitert,  allgemeine  erdkundliche  Gesetze  ableitet  und  in  das  Ver- 
ständnis der  Karte  de^^  I Heimatlandes  einführt,  überhaupt  den  Sinn 
und  das  Verständnis  für  geographische  Verhältnisse  und  Dinge 
erweckt  und  i)ildet.  Den  besten  Schutz  gegen  allen  geisttötenden 
Verbalismus  gewährt  die  Anschauung  der  Natur  in  ihrer  eigenen 
Werkstatt,  hier  zeigen  sich  die  geographischen  Elemente  in  absoluter 
Vollkommenheit.  Diese  unmittelbare  Anschauung  schärft  in  den 
Schülern  die  Aufmerksamkeit  und  berichtigt,  vermehrt  und  verstärkt 
die  Vorstellungen.  Selbst  die  besten  Bilder  sind  Surrogat,  Notbehelf, 
didaktische  Hilfsmittel,  die  immerhin  der  kindlichen  Fassungskraft 
einen  gewissen  Widerstand  entgegensetzen,  aber  ein  notwendiges 
und  nützliches  Unterrichtsmittel  geworden  sind,  ja  bei  vorzüglicher, 
künstlerischer  Ausfiihruog  der  äsüietischen  Bildung  dienen,  die  Teil- 

17» 


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—    26o  — 


nähme  der  Kinder  wecken  und  erhalten  können.  Femer  müsseo 
gute  Karten  und  geschickt  gegliederte  und  tüchtig  zu  Ende  geführte 

Unterrichtsstunden  klare  Vorstellungen  von  der  Gegend  erzeugen, 

die  nicht  mehr  direkt  an^^eschaut  werden  kann. 

Von  dem  zu  behandelnden  geographischen  Individuum  wird 
erst  durch  den  Totaieindruck  eine  Übersicht  von  dem  Ganzen 
gewonnen.  Diese  unvollkommene,  lückenhafte,  von  Irrtümern 
erfüllte  Anschauung  wird  dann  durch  Besprccliuni^  in  das  Einzelne 
berichtigt,  vertieft  und  ausgefüllt,  ausserhalb  des  Anschanungskreiscs 
liegende  Dinge  werden  soweit  als  möglich  durch  die  Heimat  ver- 
anschaulicht Im  Anschauen  wird  die  Richtung  der  Aufmerksamkeit 
Stetig  verändert,  es  tritt  ein  Analysieren,  ein  Auflösen  der  Totalitat, 
ein  Zerlegen  des  ganzen  Bildes  in  die  einzelnen  Teilinhalte  eiq, 
dadurch  werden  die  einzelnen  Glieder  zu  deutlicherem  und  klarerem 
Bewusstsein  gebracht.  „Die  Anschauung  legt  eine  breite,  weite 
Fläche  auf  einmal  hin;  der  Bhck,  vom  ersten  Staunen  zurück- 
gekommen, teilt,  vetbindet,  lauft  hin  und  wieder,  verweilt,  ruht, 
erhebt  sich  von  neuem,  —  es  kommt  die  Betastung,  es  kommen 
die  übrigen  Sinne  hinzu,  es  sammeln  sich  die  Gedanken,  die  Versuche 
beginnen,  daraus  gehen  neue  Gestalten  hervor  und  wecken  neue 
Gedanken,  —  überall  ist  freies  und  volles  Leben,  überall  Genuss  der 
dargebotenen  Fülle."*)  Das  geographische  Individuum  bietet  ein 
neues  Bild,  das  von  den  Kindern  jedoch  nur  soweit  erfasst  werden 
kann,  als  verbindende  Fäden  zwischen  demselben  und  den  früher 
erworbenen  Vorstellungen  entdeckt  werden.  ., (gelingt  es  ihm,  die 
an  dem  Gegenstande  gemachten  neuen  Beobachtungen  und 
Erfahrungen  mit  früher  erworbenen  Teilvorstellungen  zu  einem  Ganzen 
zusammenzufassen,  so  hat  es  neue  Anschauung  erworbea"^ 

Von  der  richtigen  Auffa^^sung  des  besprochenen  Landes  über* 
zeugt  sich  der  Untf-rricht  dadurch,  dass  er  eine  Zusammenfassung 
durch  den  Schüler  in  der  b'orm  einer  klaren  Beschreibung  Verlanen. 
Wenn  in  früherer  Zeit  die  Beschreibung  einen  Hauptteil  des  erd- 
kundlichen Unterrichtes  ausmachte,  so  möchte  ich  sie  jetzt  entweder 
soweit  ausgedehnt  oder  soweit  eingeschränkt  sehen,  als  es  zum 
V^erständnis  der  ganzen  kausalen  Verhältnisse  nötig  ist.  Sie  soll 
demnach  nicht  eine  Darlegung  aller  möglichen  Kleinigkeiten  sein, 
sondern  sie  soll  die  geographischen  Elemente  nur  in  dem  Masse  in 
Betracht  ziehen,  nur  sofern  ihre  Bedeutung  und  ihre  Wirkungen  ver* 
folgen,  als  sie  der  Beantwortung  von  Fragen  nach  dem  kausalen 
Zusammenhange  dienen  können.  Das  geographische  Individuum 
verlangt  zu  seiner  Charakterisierung  ein  Darlegen  aller  wesentlichen 
und  ausserweseatlichen  Merkmale,  diese  Beschreibung  erstreckt  sich 
in  einer  gewissen  Ordnung  auf  die  einzelnen  Teile,  gerade  die  feste 


1)  Herbart,  Allgemeine  P&dago^k.    Buch  IL    Kapitel  IV. 
•)  Fldagogische  Studien.  XXVII.  JalvKai«.  I.  Heft.  &  9. 


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—    26l  — 


Reihenfolge    erzeugt    grössere   Durchsichtigkeit,    Klarheit  und 

Deutlichkeit. 

Hat  der  Schüler  das  Objekt  mit  der  nötigen  Klarheit  angeschaut, 
ist  ein  t^anzcs  i[^eisti{:^es  Leben  dal  t  i  in  rätic^keit  [besetzt  worden, 
hat  der  Geist  die  Dinge  richtig  cr(abi>t,  so  bringt  er  sie  seinem 
Wesen  nach  miteinander  in  Verbindung,  er  muss  das  Verhältnis  der 
Teile  feststellen,  er  muss  unter  den  einzelnen  Bewusstseinsinha1tet\ 
Beziehunpf^n  aufdecken.  Dann  wird  ein  tiefes  Verständnis  für  die 
Teile  uml  lur  ihre  Bedeutung  im  ganzen  Unterricht  erreicht,  das 
Interesse  wird  grösser,  da  der  Schüler  weiss,  warum  er  zur  Bcaclitung 
der  Teile  venmlasst  wurde.  Wie  weit  die  Berücksichtigung  der 
Beziehungen  der  Elemente  untereinander  und  zum  Ganzen  möglich 
ist  und  in  dem  Unterricht  geschehen  kann,  dafür  kann  der  geistige 
Standpunkt  der  Schüler  zunächst  den  Massstab  und  Ausschlag 
geben.  „Die  Verknüpfung  von  Sein  und  (ieschehen  ist  ein 
Qiarakteristikum  des  geistigen  Lebens,  über  jedem  seelischen  Akt 
schwebt  der  Kausalitätsgedanke."  Da  sich  das  Denken  inrnier- 
während  auf  die  Erfassung  der  kausalen  Verhältnisse  richtet,  so 
muss  der  geographische  Unterricht  überall  nach  dieser  Richtung 
hinarbeiten.  Bisher  hatte  mit  dem  Aufzählen  und  Nennen  der 
Merkmale  des  Landes  der  Unterricht  den  Hauptteil  seiner  Arbeit 
getan.  Man  wanderte  mit  den  Schülern  in  der  Welt  umher,  von 
dem  einen  Land  ging  die  Reise  in  das  andere,  rastlos  und  immer 
weiter  strebte  man  vorwärts,  von  den  Höhen  hinunter  in  die  Täler 
und  dann  wieder  hinauf  auf  die  Höhen,  die  Kinder  waren  überall 
und  doch  nirgends  daheim.  Wir  durchwandern  nun  ein  bestimmtes, 
in  sich  abgeschlossenes  Gebiet  nach  verschiedener  Richtung,  so  dass 
sich  die  wege  kreuzen,  dass  wir  an  bekannten  Orten  wieder 
vorüberkommen,  '.vir  verweilen  niif  dt-n  Höhen  um  uns  zu  besinnen, 
um  die  Natur  zu  gcnicssrn  und  üiren  ewigen,  unwandelbaren  Gesetzen 
zu  lauschen,  um  Eindrucke  zu  sammeln  und  Erfahrungen  zu  machen 
und  inomer  geschickter  zu  werden  för  eine  erfolgreiche  Reise  in  ein 
neues,  unbekanntes  Land.  Benennen  und  Aufzählen  erzeugt  kein 
vollständiges  Wissen,  in  der  Erkenntnis  der  kausalen  Faktoren  Hegt 
der  Wert  der  Krdkunde.  Die  Wissenschaft  verlangt  systematischen 
Zusammenhang  ihres  Inhaltes,  eine  einstimmige  Erkenntnis  der 
einzelnen  Objekte.  „Jede  Wissenschaft  soB  eine  klare  und  deutliche, 
geordnete  und  möglichst  vollständige,  zusammenhängende  und  in 
sich  einstimmige  Erkenntnis  ihres  Gegenstandes  geben."*)  Das 
Wesen  des  geographischen  Individuums  erfordert  schon  allein  eine 
Darlegung  der  Abhängigkeiten,  eine  innere  Verknüpfung  der  vor- 
liegenden Teilvorstellungen.  „In  dem  Gesetzmässigen  wird  Not- 
wendigkeit erkannt  oder  doch  vorausgesetzt;  die  Unmöglichkeit  des 
Gegenteils  also  ist  gefunden  oder  angenommen;  das  Gegebene  zer- 

Drobisch,  Nene  Daratdlucg  der  Logik.  §114. 


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—    262  — 


föllt  io  üfaterie  und  Form,  und  die  Form  zum  Versuch  un^^ormt: 

nur  so  konnte  der  Zusammenhang  als  gegeben  und  dann  weiter 

als  notwendig  hervortreten." 

Wollen  wir  die  Dinge  erkennen,  so  suchen  wir  über  die 
Bedingungen  des  Entstehens,  über  den  Ursprung,  über  den  ursäch- 
lichen Zusammenhang  zwischen  Gestaltungen  und  Erscheinungen 
nachzudenken.  Dahin  soll  audi  der  Schüler  durch  die  Betrachtung 
des  ffeo.'rriphischcn  Individuums  {jefiihrt  werden,  durch  Selbsttätigkeit 
und  ei^M  Tie  Beobachtungen  soll  er  die  Verhältnisse  aufdecken,  die 
in  der  Hciinai  erworbene  Schulung  des  Geistes  soll  er  auf  fremde 
Gegenden  anwenden.  Die  Fragen  nach  den  kausalen  Verhältnissen 
drangen  sich  dem  denkenden  Freund  der  Geographie  und  dem 
ernsten  Beobachter  der  Erde  g^anz  von  selbst  auf,  diese  Fragen 
sollen  auch  die  Schüler  zum  genauen  Beobachten  der  Heimat  und 
dann  der  Karten  führen,  sie  müssen  die  Kunst  des  Beobachtens 
lernen.  Das  Beobachten  ist  nicht  bloss  einfaches  Sehen,  sondern 
verweilendes,  reflektierendes  Sehen,  das  schon  im  Anschauungs- 
unterricht gelehrt,  dann  aber  immer  weiter  entwickelt  und  gebildet 
werden  muss,  denn  das  Kind  betrachtet  die  Natur  nur  soweit,  als 
ein  Anreiz  dazu  vorliegt.  Diesen  Anreiz  g^bt  die  Schule  im  Unter- 
richt, indem  sie  die  heimatliche  Scholle  im  Wechsel  der  Jahreszeiten 
beobachtet 

Das  geographische  Individuum  kann  auch  nicht  losgelöst  von 
der  Umgebung,  für  sich  allein,  sondern  nur  in  Beziehung  zu  den 
anderen  betrachtet  werden,  das  Verhältnis  zur  Heimat,  zum  Wohnort, 
zum  Vaterland,  zu  anderen  Gebieten  muss  aufgedeckt  werden.  Es 
wird  dai^esteUt»  wie  das  EinzelgUed  einen  Teil  in  dem  grossen 
Weltall  bildet,  ein  Glied  in  dem  Gesamtorganismus  von  \ielen 
anderen  abhängig  ist,  durch  diese  Betrachtung  bleiben  die  Einzel- 
vorsteliungen  nicht  isoliert,  sondern  sie  treten  miteinander  in 
Beziehung,  das  stets  weiter  geführte  Verknüpfen  fuhrt  zu  einer 
höheren  Erkenntnis.  Mit  dem  Auffassen  der  Formen  ist  die  Tätigkeit 
des  Geistes  noch  nicht  beendet,  das  Wesen  des  Geistes  verlangt, 
zu  höheren  Erkenntnissen  aufzusteigen.  So  führt  der  weitere  Akt 
des  Unterrichtes  den  Schüler  dahin,  aus  den  Formanschauungen  und 
konkreten  Ergebnissen,  aus  der  Fülle  der  Vergleiche  das  Gemeinsame 
herauszuheben  und  zusammen  zu  fassen,  den  Begriff*  abzuleiten; 
es  wird  nach  der  Betrachtung  mehrerer  Individuen  aus  den  vielen 
Merkmalen  das  Gemeinsame  abgesondert  und  vereinigt.  Diese 
Arbeit  ist  ganz  natürlich  und  erwächst  aus  dem  Bedürfnis  des 
menschlichen  Geistes,  Ordnung,  Übersicht  und  Klarheit  in  die  vielen 
isoliert  nebeneüiander  lagernden  Vorstellungen  zu  bringen,  damit 
durch  die  Er£usung  und  Festlegung  der  wesentlichen  Teile  der 
Dinge  eine  sichere  Erkenntnis  erlangt  wird.  So  luhrt  nun  der  Weg 


*)  Herbart,  AUgemciae  Pädagogik.    2.  Buch.   J.  Kap.  II. 


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263  — 


zu  Obemchten,  Gruppen,  Zusatnmenstellüngen,  Oberblicken,  zum 
System.  Das  System  ist  jetzt  nicht  mehr  das  Unterrichtsziel,  sondern 

eine  äusserst  notwendige  Verrichtung  des  aus  der  Psychologie 
abgeleiteten  Lehr-  und  Lernprozesses.  Der  Schüler  gewinnt  durch 
diese  Zusammenstellungen  an  Übersicht,  er  baut  üich  selbst  die 
Gruppen  auf,  damit  in  seinem  gesamten  Wissen  Ordnung  gebildet 
wird  und  eine  bessere  Unterscheidung  möglich  wird.  Der  ganze 
Gang  der  Behandlung  soll  den  Schüler  zum  Denken  nötigen,  er  soll 
die  Voraussetzungen  erkennen,  von  denen  die  Richtigkeit  seines 
Schlusses  abhängig  ist.  Die  Betrachtung  muss  sich  auf  diejenigen 
Tatsachen  erstrecken,  die  ihren  Grund  in  festen,  unanfechtbaren, 
wisseoschafUichen  Ergeboissen  haben;  mit  Preisgabe  der  Richtigkeit 
darf  auf  keinen  Fall  auch  nur  ein  einziges  Mal  der  kausale  Zusammen- 
hang nnrb  gewiesen  werden. 

Die  Bedeutung  dieser  auf  klaren  und  deutlichen  Anschauungen 
sich  erhebenden  Betrachtung  für  die  Bildung  der  Phantasie  muss 
auch  hervorgehoben  werden.  Nur  an  sinnlichen  Vorstellungen,  nur 
an  einem  reichen  Vorrat  von  in  der  umgebenden  Natur  gewonnenen 
Anschauungen  kann  sie  sich  entwickeln,  kann  sie  neue  Verbindungen 
hervorbringen.  „Die  Phantasie  ist  wie  das  Gedächtnis  einseitig  und 
richtet  sich  nach  dem  herrschenden  Vorsteliungskreise  eines  jeden."  *) 
Selbst  die  kühnste  Phantasie  kann  keine  neuen  Vorstellungen  hervor- 
bringen, alles  Neue  sind  nur  neue  Verbindungen,  Umbildungen  nach 
dieser  oder  jener  Seite  der  bereits  vorhandenen  Vorsteliungskreise. 
Der  Phantasie  darf  der  geographische  Untcrni  !it  nicht  zu  viel 
zumuten,  sie  kann  bei  dem  ganzen  Aufbau  nur  wenig  tun,  ihre 
Arbeit  ist,  Kleinigkeiten  zu  gestalten  und  auszumalen,  aber  auch 
hier  sind  ihr  durch  die  Bilder  die  Wege  vorgeschrieben,  das  äussere 
Anschauen  der  Bilder  soll  das  innere  Anschauen  und  produzierende 
Bilden  unterstützen.  Der  grösste  Wert  der  Anschauung  liegt  dort, 
wo  die  Kinder  die  Sache  in  der  Wirklichkeit  sehen,  in  ihr  leben 
und  sie  selbst  anschaulich  machen  durch  die  Nachbildung.  Zeichnen, 
BUden  und  Messen  sind  wesentliche  Bildungsfaktoren,  wdche  die 
Anschauungen  überwachen,  beaufeichtigen  und  berichtigen.  Die 
Grenzlinien  der  besprochenen  geographischen  Objekte,  die  Lage- 
verhältnisse der  angeschauten  Formen  werden  gezeichnet.  Das 
Messen  bereitet  das  Verständnis  des  verjüngten  Massstabes  in  bester 
und  gründlichster  Weise  vor,  es  befähigt  auf  die  teichteste  Art  zur 
Zeichnung  von  Landschaften  im  verkleinerten  Maasstabe  und  lernt 
£atfemungen  und  Flächen  richtig  abschätzen  Das  Bilden  bietet 
die  Möglichkeit  der  plastischen  Wicdcii^alfc  von  J^ergen  und  Tälern 
und  fördert  so  die  köruerliciic  Auilassung  der  Objekte,  die  Karte 
gibt  in  der  Terrainzeidinung  die  Richtlinien  an  ftir  die  Art  und 
Weise  jener  plastischen  Darstellung.  Deshalb  ist  es  gerade  die 


>)  Herbwt,  Uhrb.  der  Ps.   g  93  f. 


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—    204  — 


Heimatlcunde,  in  welcher  das  Beobachtungsvermögen  geschärft  werden 
kann,  die  charakteristischen  Formen  der  Berge  und  Täler,  der  Flüsse 
und  Bäche,  der  Dörfer  und  Häuser  erfasst  werden,  die  Zeichen  der 
Karte  ihre  Realität  finden.  Der  Sinn  für  die  Erfassung  der  Formen, 
für  das  Verständnis  der  Kartenzeichen  muss  gebildet  werden,  damit 
der  Phantasie  ein  Schatz  von  Vorstellungen  zur  Verfügung  gestellt 
wird,  dass  sie  später  im  eigentlichen  geographischen  UnterriGht  eine 
wirksame  und  erfolgrciclic  Tätigkeit  entfalten  kann,  wenn  es  gilt, 
ferne  Länder  und  fremde  Verhältmsse  dem  geistigen  Auge  vor- 
zuführen. 

Der  sprachliche  Ausdruck  wird  dadurch  gepflegt,  dass  wir  von 
dem  Schüler  nach  beendigter  Anschauung  verlangen,  sich  in  klarer, 

treffender  und  richtiger  Weise  über  das  Geschaute  auszusprechen, 
das  durch  die  Anschauung  gewonnene  iMaterial  in  bestimmte 
sprachhche  Form  zu  bringen.  In  dem  Verlaufe  der  Betrachtung 
wurden  schon  an  verschiäenen  Stellen  Vergleiche  angestellt,  Ur» 
teile  gefällt,  Schlüsse  gezogen,  in  der  Folge  soUen  die  erworbenen 
Vorstellungen  logisch  miteinander  verbunden  werden.  Die  richtige 
Beschreibung  des  geographischen  FJemcnts  erhöht  die  iClarheit  der 
gewonnenen  Anschauungen,  das  geographische  Individuum  wird  in 
allen  Teilen  und  nach  allen  Seiten  bestimmter  aufgefasst,  und  die 
wichtige  Grundlage  ftir  den  weiteren  Fortschritt  des  Unterrichtes 
ist  gegeben.  Der  sprachliche  Ausdruck  wird  durch  jede  Bereicherung, 
Vertiefung  und  Stärkung  der  geistigen  Funktionen  vervollkommnet, 
alle  Geistesbildung  fördert  zugleich  die  sprachliche  Bildung.  Deshalb 
muss  verlangt  werden,  alles  Angeschaute  in  vollständigen  und 
treffenden  Sätzen  aussprechen  zu  lassen,  auch  die  geographische 
Stunde  Uefert  zum  Wachstum  des  Sprachvermögens  einen  Beitrag. 

Der  tfent^raphische  Unterricht  blieb  in  früherer  Zeit  in  einem 
geistlosen,  gewöhnlichen  und  platten  Benennen  und  Aufzählen  einer 
zusammenhanglosen  Reihe  von  Objekten  stecken,  durch  die  Wieder- 
kehr derselben  Redewendungen  wurde  gar  bald  Langeweile  erzeugt, 
das  Fach  stand  deshalb  im  geringen  Ansehen,  es  war  immer  ein 
Fach  unter  den  anderen,  brachte  es  aber  noch  nicht  zum  Hauptfach. 
So  wertvoll  und  unentbehrlich  auch  das  Betrachten  der  Formen, 
das  Benennen  und  Beschreiben  derselben  ist,  so  wird  doch  durch 
die  Betonung  der  Wechselwirkung  und  Verknüpfung  der  geo- 
graphischen Elemente  ein  Ausblick  fiir  den  Schüler  angebahnt,  der 
sich  auf  die  Erkenntnis  der  inneren  Verhältnisse  nach  Grund  und 
Ursache  richtet,  und  damit  ist  der  hohe  formale  Kildungswert  des 
Faches  dargelegt  Die  Fragen  nach  dem  kausalen  Zusammenhang, 
nach  der  Verkrttung  der  Tatsachen,  nadi  dem  inhaltsrdcben,  wert- 
vollen  und  anregenden  „Warum"  regen  zu  einer  denkenden  Erfassung 
des  Stoffes,  zu  einer  Vertiefung  an,  die  Vorstellungen  werden  durch 
zahlreichere  Fäden  fester  miteinander  verbunden,  und  die  Aneignung 
wird  erleichtert   Gelangen  wir  zur  tieferen  Erkenntnis  der  ein- 


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—   265  — 

lachen,  gemeinaamen  Ursachen  fUr  die  vielen,  zahlreichen  und 
komplizierten  Erscheinungen,  ¥ne  sie  uns  die  Erde  in  ihren  ver- 

schiedenen  Gegenden  vor  die  Aup^en  führt,  so  erreirhen  wir  das 
gesteckte  Ziel,  nämlich  Vertiefung  und  damit  V^ereiniachung  des 
Wissens  und  der  Bildung.  Erst  die  Aufdeckung  des  ursächlichen 
2Uisammenhangs  verwandelt  das  Fossil  in  ein  lebendes  Wesen,  das 
tote  Wissen  in  lebendige  Wissenschaft.  Auch  das  zunächst  ver- 
wandte Unterrichtsfach,  die  Naturgeschichte,  verdankt  seine  Wert- 
schätzung für  die  Bildung  der  Bchandluncr  von  Einzelwesen  nach 
biologischen  Gesichtspunkten,  durch  weiche  der  Zusammenhang 
zwischen  Bau  und  Lebensäusserung  in  den  Vordergrund  gestellt 
wird.  Früher  suchte  der  Unterricht  in  der  Naturgesdüchte 
Beobachtungstatsachen  aneinander  zu  reihen,  jetzt  werden  die 
einzelnen  Tatsachen  nach  dem  ursächlichen  Zusammenhang,  nach 
den  Gesetzen  von  Ursache  und  Wirkung,  nach  Grund  und  Folge 
verbunden.  So  ist  auch  die  Betrachtung  des  geographischen  Indi- 
vidtnims  nicht  bloss  eine  Beschreibung  zum  Zwecke  der  Kenntnb 
der  Länder,  sondern  eine  Erklärung  zum  Zwecke  der  Erkenntnis 
der  geographischen  Verhältnisse,  Die  Schüler  sollen  geographisch 
denken  lernen.  „Nichts  ist  besser  geeignet,  den  gesunden  Menschen- 
verstand zu  wecken  ais  die  Geographie",  sagt  Kant.  Gerade  die 
eingehende,  verweilende  Behandlung  eines  einzelnen  geographischen 
Individuums  besitzt  einen  grösseren  Bildungswert  als  das  blosse 
Beschreiben   und   oberflächliche  Betrachten   einer  i^rosscn  Anzahl. 

Dadurch,  dass  der  Unterricht  der  Schüler  stets  zum  Nachdenken 
anregt,  kann  es  auch  nicht  ausbleiben,  dass  der  Schüler  zur  eigenen 
Beobuhtung  und  Selbsthilfe  greift,  dass  er  aus  eigenem  Antriebe 
den  geographischen  Verhältnissen  nachforscht,  dass  er  in  seinem 
Atlas  die  Beschaffenheit  anderer  Gebiete  abliest.  So  kann  er  sich 
auf  Grund  der  einzelnen  früher  erworbenen  Anschauungen  ein  un- 
gefähres, in  den  Hauptzügen  richtiges  Bild  von  dem  Lande  entwerfen, 
die  Karte  wird  ihm  zur  Wirkliclikeit,  er  sieht  Höhen,  Gebirge, 
Flüsse,  Seen  und  Buchten,  er  kann  auf  Grund  der  Lage,  Grösse, 
oro-  und  hydrographischen  Verhältnisse  in  bezug  auf  Klima, 
Beschaffenheit.  Fruchtbarkeit,  Besicdclung  und  Beschäftigung  der 
Bewohner  Schlüsse  bilden.  Der  gute  Unterricht,  der  die  Schüler 
zur  fleissigen  Beschäftigung  und  zur  stetigen  Mitarbeit  nötigt,  übt 
einen  bedeutenden  Eiiäuss  auf  die  sittliche  Erziehung  aus  und  ist 
darum  ein  wichtiger  Faktor  in  der  Willensbildung.  Um  aber  einen 
guten  erfolgreichen  Unterricht  erteilen  7,t:  können,  muss  sich  der 
Geographielehrer  des  zu  behandelnden  Gel  n  et  es  [:^riindli:h  bt  is  lärhtic^en, 
er  muss  in  die  Verhältnisse  eines  Landes  einzudringen  und  darin 
zu  leben  versuchen,  damit  er  seine  Schüler  bei  der  Wanderung 
durch  die  fremden  Fluren  zielbewusst  und  sicher  leiten  und  iiihren 
kann 

Neben  dem  empirischen  und  spekulativen  Interesse  erfahrt 


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—    266  — * 

durcil  die  Betrachtung  des  geographischen  Individuums  das  ästhetische 

Interesse  eine  bedeutende  Förderung.  Die  Freude  an  der  Natur 
gehört  zum  Ästhetischen,  auf  das  ästhetische  Gefühl  wirkt  die  Natur 
ganz  allein  schon  durch  ihre  Mannigfaltigkeit  der  Gestalten  und 
Formen.  Die  ästhetische  Wirkung  wird  aber  gesteigert,  wenn  die 
Gestalten  durch  einen  Inhalt  belebt  werden,  wenn  der  ursächliche 
Zusammenhang  der  Erscheinungen  erkannt  wird,  wenn  die  Formen 
nicht  mehr  leer  und  zwecklos,  sondern  von  tiefen  Gedanken  erfüllt 
und  belebt  erscheinen.  Das  kann  aber  nur  durch  eingehende,  unter- 
riciiüiche  Behandlung,  einer  bestimmten  Zahl  von  Individuen  er- 
möglicht werden,  denn  diese  bringt  erst  die  ästhetische  M^kung 
der  Elemente  dem  Schüler  zum  völligen  Bewusstsein.  Empfänglich 
machen  für  das  Grosse  und  Krhabcne,  für  über  alles  Menschliche 
hinausgehende  Gestalten  und  Formen,  ist  der  Zweck.  Hier  gibt 
die  Betrachtung  der  Heimat  Gelegenheit,  die  Kinder  zu  veranlassen, 
zu  dem  weiten  Himmelsraum  mit  seinen  strahlenden  Lichtem,  die 
seit  Jahrtausenden  in  jeder  klaren  Nacht  auf  uns  herniederbfinken, 
aufzuschauen.  Die  Heimat  bietet  so  dem  Blick  das  Erhabenste  und 
Schönste  dar,  was  überhaupt  das  irdische  Auge  schauen  kann;  selbst 
das  unermesslich  weite  Meer,  der  feuerspeiende  Berg,  das  von 
Stürmen  und  Wolkoi  umbrauste  Gebirge  sind  kleine  Dinge  im 
Verhältnis  zur  Grösse  des  Himmels.  Die  Kindesnatur  zeigt  schon 
frühzeitig  eine  gewisse  Teilnahme  für  Erscheinungen  am  Himmels- 
gewölbe, und  die  Sterne  begleiten  als  einzige  Genossen  den 
Scheidenden  in  ferne  Länder.  Das  Anschauen  der  erhabenen  und 
mannig  i  dl  Ligen  Formen,  die  Kenntnis  der  inneren,  einheitUchen  Ver- 
kettung der  Erscheinungen  lasst  das  Herz  aufsteigen  zu  Gott,  aus 
dem  Werke  wird  der  Meister  erkannt,  ftir  das  innere  und  äussere 
Leben,  für  die  zeitliche  v.nd  ewige  Bestimmung  wird  der  Zögling 
geschickt.  Das  intellektuelle  Gefühl  sucht  auf  die  vielen,  ungelösten 
Rätsel  eine  Antwort,  das  ästhetische  bewundert  die  Grösse,  Schön- 
heit, Vielheit  und  Mannigfaltigkeit  in  der  Welt,  und  beide  erblicken 
darin  die  Wirkung  einer  unsichtbaren,  geheimnisvollen  Macht,  die 
Weisheit  und  Allmacht  Gottes.  Je  mehr  durch  die  Betrachtung 
einzelner  Individuen  der  geographische  Unterricht  die  Erkenntnis 
der  kausalen  Beziehungen  der  erdkundlichen  Elemente  übermittelt, 
je  mehr  er  das  intellektuelle,  sittliche  und  ästhetische  Interesse 
fordert,  desto  mehr  steht  er  auch  im  Dienste  der  religiösen  Erziehung. 
Der  Schüler  erkennt  die  Wahrheit  der  Worte  des  Geographen 
Ritter:  „Die  Welt  ist  überall  erfüllt  von  der  Herrlichkeit  des 
Schöpfers." 

Die  Behandlung  des  geographischen  Individuums  hat  auch  einen 
praktischen  Wert,  der  kurz  angegeben  werden  soll.  Er  liegt  nicht 
darin,  durch  einen  Uberblick  über  die  verschiedenen  Gebirge,  Flüsse, 
Städte  und  Länder  der  Erde  die  Kenntnis  der  beim  Lesen  von 
Büchern  und  Zeitungen  etwa  vorkommenden  Namen  zu  übermittein, 


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—  26;  — 


sondern  er  liegt  in  dem  freien  Bewusstsein  der  Grösse  und  Bedeutung 
seines  Volkes  und  Landes»  in  der  Hochschätzung  des  deutsdien 

Landes  und  der  deutsdien  Arbeit  fremden  Ländern  gegenüber. 
Der  praktische  Wert,  welcher  die  Ausgestaltung  der  Wirtschafts- 
und Verkehrsgeographie  und  der  Handclsgcographie  herbeiführte, 
kann  durch  die  Betrachtung  einzelner  Individuen  vollkommener  und 
letchter  erreicht  werden,  weil  cüe  eini^ehende  Behandlung  sich  not- 
wendig auch  auf  die  wirtschaftlichen  Fragen  erstrecken  muss. 
Unsere  Beziehungen  zu  den  anderen  Kulturvölkern  haben  sich  in 
den  letzten  Jahrzehnten  so  erweitert,  dass  das  Wirken,  Arbeiten 
und  Schaffen  der  fremden  Nationen  ein  wesentlicher  l^aktor  in 
unserer  Entwicklung  geworden  ist.  Für  das  ökonomische  Denken 
und  Handeln  werden  wertvolle  Erkenntnisse  herbeigeführt»  wenn 
neben  Boden  und  Bewässerung,  Bergen  und  Tälern  die  wirtschaft- 
lichen Hilfsquellen  im  Vergleich  mit  denen  des  deutschen  Landes 
betrachtet  werden.  Die  Behandlung  verfolgt  den  Zweck,  den 
Schüler  mit  den  Bestrebungen  der  Nation,  wie  sie  in  der  derzeitigen 
Untemehmungskraft,  in  Handel  und  Industrie,  in  den  augenblicldicfaen 
kolonialen  Bestrebungen  hervortreten,  bekannt  zu  machen,  die 
Bedeutung,  die  Weltstellung  und  dm  Wert  der  anderen  Staaten 
richtig  7u  würdigen,  das  geographische  Wissen  zu  einer  Weitmacht 
zu  erheben. 

„tin  kUrcr  Vfrstand,  ein  warnu-s  (iemüt  uml  inii  kräftiger  Wille  siad  unter  aJleo 
Umständen  mehr  wert,  als  ein  Kupf  vuli  toter  Kenntnisse/'  Kehr. 


II. 

Moderne  Erziebongeremane. 

Von  M.  Scheffel,  Dresden. 
SchloM. 

Ein  Roman,  der  die  grössten  Ersiehungs-  und  Unterrrichts- 

fragen  streift,  ohne  sie  zu  erschöpfen,  der  neuzeitlichen  Anschauungen 
und  oft  überraschende  Beobachtungen  der  Kindesseele  ausspricht, 
ist  das  Buch  von  Otto  Krnst,  Asmus  Sempers  Jugendland. 

Otto  Krnst  ist  in  f  chrerkreisen  wohl  meist  als  Dramatiker 
bekannt  durcii  seine  „jagend  von  heute",  besonders  auch  durch 
seinen  „Fladumann  als  &zieher'',  der  ja  seiner  Zeit  die  deutsche 
Bühne  erobert  und  auch,  da  er  nicht  frei  ist  von  Übertreibungen 
und  Verzerrungen,  zu  Erörterungen  in  pädagogischen  Fachblättem 


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—   268  — 


vielfach  Veranlassung  gegeben  hat   Doch  neben  dem  Dramatiker 

hat  sich  der  fleissige  Otto  Ernst  auch  als  Romanschriftsteller  ent- 
wickelt, der  in  dem  Buche  „Asmus  Sempers  Jugendland"  die 
Geschichte  eines  Kindes  aus  den  Sechziger-  und  Siebzigerjahren 
des  vorigen  Jahrhunderts,  des  Sohnes  eines  armen  Zigarrenarbeiters 
aus  einem  Vorort  Hamburgs,  trotz  einer  gewissen  Eintönif^keit  und 
Einförmigkeit  der  Vorgänge  mit  SO  viel  Wärme  und  Innigkdt 
erzählt,  dass  er  sich  in  das  Herz  eines  jeden  Lehrers  einschleichen 
wird.  Der  Knabe  arbeitet  sich  trotz  widriger  äusserer  Umstände, 
trotz  einer  an  geistigen  und  materiellen  Genüssen  recht  bescheidenen 
Kindheit,  trotz  einer  seltsamen  verworrenen  Schulzeit  bei  seinem 
offenen  Kopfe,  seiner  lebhaften  Auffassung^,  nicht  zuletzt  auch  durch 
die  Einflüsse  eines  edelgesinnten  Vaters  und  durch  die  selbstlose 
Verwendung  eines  braven  Schulmeisters,  zu  der  ersehnten  Stellung 
eines  Lehrers  empor.  Dass  das  Buch  keinerlei  spannend  geschürzte, 
starke  Handlung  oder  gar  aufregende  Verwicklungen  enthält,  nimmt 
ihm  wohl  den  strengen  Romancharakter,  aber  ninunt  ihm  nichts 
von  seinem  Werte. 

hs  ist  wohl  unverkennbar,  dass  der  Junge,  den  wir  da  von 
der  Geburt  in  der  armen  Zigarrenarbeiterstube  bis  zum  Eintritte  in 
das  Lehrerseminar  begleiten,  im  Leben  nicht  Asmus  Semper,  sondern 
Otto  Emst  geheissen  hat,  dass  der  Dichter  uns  also  zumeist  sein 
eigenes  Jugendleben,  seine  geistige  und  sittliche  Entwicklung 
schildert,  denn  der,  der  das  geschrieben  hat,  fühlt  noch  heute  f^^m 
genau,  wie  es  in  einem  zwar  blutarmen,  aber  auch  kerngesunden 
Jungen  ausschaut  Die  Lebenswahrheit,  die  Scharfe  der 
Chvakteristik  und  die  Kraft  der  Darstellung,  die  der  Roman 
offenbart,  halten  den  Leser  von  Anfang  bis  zu  Ende  in  Atem. 
Asmus  ist  wie  aus  einem  Gusse  geschrieben,  alles  ist  rein  und  echt, 
wirkliches,  wahres  Leben,  aus  dem  Spiegel  der  Poesie  angesehen. 
Für  den  Lehrer  insonderheit  ist  das  Buch  eine  praktische  Kinder- 
]>S3rchologie  ersten  Ranges,  ähnlich  dem  Heerschen  Romane 
„Joggeli".  Hier  wie  dort  läuft  der  Held  nach  langer,  klippenreicher 
Fahrt  endlich  in  den  ersehnten  Hafen  ein  —  in  die  Laufbahn  eines 
Volksschullchrers.  Aber  während  bei  Heer  alles  etwas  gedämpfter, 
emster,  innerUcher  dargestellt  wird,  hnden  wir  bei  Otto  Ernst 
frische  Farben,  herzhaften  Humor,  sonnige  Heiterkeit  vorwalten. 

Wenn  wir  die  pädagogische  Seite  des  Romans,  bei  dem 
es  sich  um  das  Buch  eines  Mannes  handelt,  der  seinen  früheren 
Beruf  als  Lehrer  nie  verleugnet  hat,  ins  rechte  Licht  /.u  stellen 
suchen,  so  muss  anerkannt  werden,  dass  Otto  Ernst,  wenn  er  auch 
in  der  scheinlMU-  ganz  losen  und  zufälligen  Aneinanderreicfaung  der 
kleinen  Ereignisse  seine  dichterisch  ordnende  Hand  und  seine  ver- 
knüpfende, belebende  und  verklärende  Phantasie  walten  lässt.  doch 
nirgends  seine  Darstellung  am  bloss  ÄusserHchen,  bloss  Wirklichen 
und  Tatsächliclien  haften  lässtj  nein,  überall  behält  er  die  innere, 


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—  269  — 


die  seelische  Entwicklung  Asmus  Sempers  im  Auge.  Das  Innen- 
leben des  Knaben,  die  wechselnden  Lebenserscheinungen,  die  es 
vom  ersten  Augenblick   des  dämmernden  Bewusstseins  erregen, 

Vater  und  Mutter,  die  Familie,  die  Nachbarn,  die  Nachbarskinder, 
die  häusliche  und  dörfliche  Umgebung,  die  alltäj^lichen  Kinder- 
streiche, die  ersten  Kindrücke  der  Natur,  der  Kunst,  der  Schule, 
das  erste  Empfinden  der  Todesfurcht,  die  Eindrücke  der  Bibel,  die 
religiösen  Fragen  und  auch  die  Lebensfragen  in  seinen  Beobachtungen 
des  Spieles  der  Welt,  die  ersten  Lebensregunf^en,  der  erste  Schaflfens- 
trieb,  Theaterspielen,  das  Ringen  und  Durchkämpfen  bis  zum 
Eintritte  ins  Seminar  —  alles  da  zieht  in  gemiitvoilen  und  gemüt- 
lichen, auch  im  Ghrau  der  Not  nodi  von  einem  hellen  Optimismus 
überhauchten  Bildern  an  uns  vorüber.  Vielleicht  könnte  man  dem 
Dichter  den  Vorwurf  machen,  dass  er  zu  viel  Tiefe  in  eines  Kindes 
Seele  hincindichtc.  Aber  der  Dicliter  darf  ja  das  Vorrecht  für  sich 
in  Anspruch  nehmen,  sich  ein  besonderes  Kind  mit  einem  besonders 
guten  Kopf  und  einem  besonders  starken  Gemüte  sur  Schilderung 
auszusuchen.  Und  so  wird  jeder,  der  für  die  Probleme  der  Kindes* 
seele  und  zugleich  für  die  Fragen  des  Menschenherzens  Sinn  hat, 
das  tüchtige  und  gute  Buch,  das  zwar  kein  pädagogisches  Ruch  im 
engeren  Sinne  mit  ausgesprochener  Tendenz  ist,  aber  doch  das 
grosse  Publikum  mit  den  neuen,  noch  kämpfenden  Ideen  über 
Erziehung  und  Kunst  bekannt  zu  machen  sucht;  gewiss  nicht  ohne 
Nutzen  zur  Hand  nehmen. 

Worin  beruht  die  Wirkung  dieses  Buches?  Zunächst  wohl  in 
dem  Umstände,  dass  das  Leben  anch  des  unbedeutendsten  Menschen 
anziehend  erscheint,  wenn  liim,  wie  es  im  jugendlande  Asmus 
Sempers  geschieht,  der  Griffel  eines  Meisters  das  rechte  Leben 
verleiht.  Auch  ohne  Kenntnis  davon,  dass  in  diesem  einfachen 
Arbeiterkindc  ein  bedeutender  Mann  steckt,  der  Dichter  selbst,  der 
in  Dichtung  und  Wahrheit  seine  eigene  Kindheit  wiedergibt,  sehen 
wir  trotz  der  äfmiichen  Umgebung  ein  Kind,  in  dem  sich  die 
leuchtende  Schöne  eines  lichterföUten  Geistes  ausprägt,  ein  Kind, 
das  die  Welt  mit  anderen  Augen  als  mit  denen  der  AUtaglichkeit, 
mit  denen  des  verklärenden  Idealismus  betrachtet  Darum:  Adltttf^ 
vor  jedem  Kinde,  auch  dem  ärmsten! 

Was  dem  Erzieher  jedoch  in  diesem  Roman,  aus  dem  er  viel 
lernen  lonn,  lieb  und  teuer  macht,  das  sind  zunächst  die  mancherlei 
Hnflüsse,  die  bei  der  Bildung  des  kleinen  Helden  tatig  sind.  Allen 
voran  wirkt  bestimmend  auf  den  jungen  Lebensgang  des  zukünftigen 
Lehrer  und  Dichters  sein  Vater,  der,  aus  besserer  Familie  stammend, 
vieles,  aber  doch  nicht  das  Rechte  gelernt  hat,  der  beispielsweise 
so  weit  in  den  Sprachen  unterrichtet  ist,  dass  er  englische  Verse 
wörtlich  anfÜAut,  aber  dennoch  als  Zigarrenarbeiter  das  Elend  der 
Heimarbeit  durchkosten  muss.  Er  ist  oft  recht  schweigsam,  will 
aber  im  Mangel  und  in  der  Not  den  Schmuck  des  Lebens»  die 


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—  270  — 


Poesie,  nicht  entbehren.   Wie  durchaus  mustergültig  väterlich  erdebt 

er  seinen  Solui!   Da  ist  kein  schroffes  Zurückweisen  der  unmöglichen 

Wünsche  des  unerfahrenen  Kindes;  er  weiss,  ,,dass  in  einem  kleinen 
Kinderherzen  endlose  Weidefluren  sind",  er  lenkt  aber  den  Sinn 
des  Knaben  auf  das  Mögliche,  ohne  die  Phantasie  zu  zerstören. 
Kai^  in  der  Strafe,  äussert  der  mitfühlende  Vater  auch  kein  über- 
schwengliches Lob  bei  den  klugen,  eigenartigen  Einfallen  seines 
Sohnes  oder  bei  seinen  Schulerfolgen;  nur  ein  sonniger  Blick,  ein 
Lächeln  nur  —  aber  von  diesem  Lächeln  wird  Asrniis  Sempers  iihrgeiz 
angeregt.  Als  dem  alternden  Manne  die  Möglichkeit  eröffnet  wird, 
dass  sein  Sohn  l>hrer  werden  kann,  „da  kam  in  seine  trüben  Augen 
ein  Licht  aus  frühen,  frühen  Tagen  langsam  zurück,  immer  näher 
kam  es,  immer  näher,  und  seine  Augen  wurden  immer  grösser  und 
immer  heller  und  verbreiteten  ihr  Licht  über  seine  Stirn  und  seinen 
Mund  und  sein  silbernes  Haar,  und  siehe,  er  lächelte,  und  er  stützte 
sich  nicht  mehr,  sondern  stand  frei  und  aufgereckt  da  und  ergriff 
noch  einmal  das  Fahrzeug  seines  Lebens  am  Steuer,  ergriff  es  mit 
lächelndem,  blindw^endem  Griff  und  legte  die  Hand  auf  den  Kopf 
seines  Sohnes  und  sagte:  ,,Gul.  du  sollst  Lehrer  werden".  ...  Er 
rechnete  nicht,  er  fragte  nicht  einnial  nach  den  Kosten;  er  konnte 
nicht  sorgen  lur  den  kommenden  Morgen  j  aber  mit  erhabenen 
Leichtsinn  etwas  Grosses  und  Gutes  tun  —  das  konnte  er. 

Zu  den  unbewussten,  aber  zu  den  kräftigsten  Erziehungsfaktoren 
gehört  der  „VVolki  Ti>,chieber",  der  Sohn  eines  armen  Arbeiters  in 
Sempers  I  lause.  Kr  ist  der  verkörperte  „Bildungshunger"  der 
Arbeiterkreise}  auf  seiner  Stirne  wohnte  die  „unüberwindliche 
Heiterkeit  des  Gedankens".  Er  bringt  in  den  tiefen  Taschen  seines 
abgetragenen  Rockes  d  1  Knaben  die  ersten  Bücher  mit,  erweckt 
in  ihm  die  Lust  zvm  Lcsenlerncn,  ein  Ziel,  das  nach  unendlicher 
Mühe  Asmus  ohne  Zutat  einer  besonderen  I  ,esclehrmethode  erreicht. 
An  des  „Wolkenschiebers"  Hand  tut  der  Knabe  den  ersten  Schritt 
in  das  geweihte  Land  der  Dichtung;  die  ersten  guten  Holzschnitte 
'  befriedigen  das  Kunstbedürfnis  des  Kleinen;  bei  Gesprächen  über 
Theater  und  Kunst  steht  sein  kleines  Herz  offen,  bis  er,  der  Zwölf- 
jährige, den  Shakespeare  liest.  „Alles  las  er  mit  demselben  andacht- 
offenen Auge  und  Herzen:  die  sinnlichen  Schwüre  der  Liebenden 
und  die  Gedankenflüge  Hamlets,  die  Zoten  Falstaiis,  wie  die 
meuchelmörderischen  Sreuel  des  Macbeth.  Alles  war  heUige  Feier 
und  Gottesdienst,  denn  alles  verbrannte  auf  dem  Altar  seines  Herzens 
zu  einer  Flamme  höheren  Lebens.  O  ihr  kurzsichtigen  Toren,  die 
ihr  die  Kunst  fürchtet  um  der  Tugend  willen!  Hättet  ihr  hinein- 
blicken können  in  das  Herz  dieses  lesenden  Knaben,  ihr  hattet 
verstanden,  dass  die  Kunst  unschuldig  ist  wie  das  Kind.** 

Und  die  Schulzeit  unseres  Helden!  Seine  Lehrer  sind  nicht 
moderne  Lehrertypen,  sondern  sie  sind  n'!s  der  Erinnerung  heraus 
geboren,  sie  sind  ganz  so,  wie  sie  dem  Kinde  damals  erschienen. 


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—    271  — 


seufzen  unter  der  Überbürdung  des  religiösen  Memorierstofies, 
seufzen  auch  unter  der  druckenden  Last  ihrer  mangelhaften  Vor- 
bildung. Einmal  im  Jahre  kommt  der  Schulinspektor,  der  vierzig 
Minuten  Dogmatik  und  fünf  Minuten  in  der  Wissenschaft  prüft.  In 
den  Lehrstunden  wurden  die  900  Choräle  des  Gesangbuches  jahraus, 
jahrein  gelesen,  stundenlange  Abschreibeübungen  wurden  vor* 
genommen,  denen  Asmus  die  sausende  „Rohrstock* Pädagogik" 
vorzog;  denn  hier  dauerte  der  Schmerz  nur  drei  Minuten;  die  lang- 
weilige Arbeit  wäre  aber  eine  mehrstündige  Qual  gewesen.  Trotz 
alledem  erhellt  der  Dichter  die  Schattenseiten  der  Unterrichtskunst 
seiner  Lehrer  durch  Züge  freundlichen  Humors;  er  stellt  das  Liebens- 
werte ihres  Wesens  in  das  hellste  Licht;  er  findet  trotz  des  Über- 
masses  an  Liederversen  und  Katechismus  emste  und  schone  Worte, 
die  ihm  doch  die  Erinnerung  an  jene  Tage  hen,'orCTerufen,  Worte, 
die  auch  den  Ewigkeitswert  der  biblischen  Geschichten  Alten 
Testaments  klar  bezciciinen:  „Es  folgten  .  .  .  alle  jene  Geschichten, 
die  trotz  alles  Dunkels  und  aller  Seltsamkeit  den  Weg  zum  Kindes- 
herzen  finden,  weil  sie  aus  der  Kindheit  des  Menschengeschlechtes 
herüberklingen  und  träumevoüe,  ahnungsvolle,  hoffnungsvolle  Kind- 
heit in  ihnen  selber  ist.'  Wie  verklärt  sich  auch  das  Au<^e  des 
rückwärts  schauenden  Dichters,  als  er  des  ersten  Eindruckes 
gedenkt,  den  die  Geschichte  des  Heilandes  auf  ihn  ausgeübt  1 
„Des  Knaben  ganze  Seele  bebt  wie  eine  Harfe,  die  der  Sturm 
bewegt  in  einer  Nacht  wie  sieben  Nächte  lang  .  .  .  Zum  erstenmale 
erschien  ihm  der  Gedanke  des  Christentums  in  der  reinen  M.ijestät 
seines  Stifters,  mit  den  lebendigen,  rührenden,  bezwingenden  Zügen 
des  Nazareners,  des  ewigen  Königs  der  Herzan." 

Mag"  man  auch  nicht  alles  unterschreiben  können,  was  Otto 
£mst  in  seinem  Buche  sagt,  mag  auch  viel  Manier  darin  sein  — 

man  lese  nur  die  abgesclimackten  Kapitelüberschriften  — ,  mag^  der 
Dichter  auch  als  unruhiger  Poltergeist  seinen  Kopf  dann  und  warm 
erheben  und  freigelst-demokrotische  Hiebe  niedersausen  lassen  auf 
den  Religionsunterricht  der  Schule,  auch  manchen  scheelen  Blick 
werfen  auf  diese  und  jene  staatliche  Einrichtung,  die,  well  sie  dem 
erwachsenen  Otto  Emst  nicht  gefallt,  auch  seinem  juE^cndlichen 
Urbilde  Asmus  Semper  schon  von  vierzig  Jahren  nicht  {gefallen 
darf,  immerhin  steckt  viel  gute,  wirklichkeitsgemässe  Pädagogik 
darin,  und  es  gewährt  eine  grosse  Freude,  zuzuhören,  wie  uns  die 
Jugend  Asmus  Sempers  erzahlt  wird,  die  zwischen  den  Zeilen  auch 
Vätern  und  Möttern  so  vieles  zu  sagen  hat,  was  dickleibige  Werke 
über  Erziehung  bei  weitem  nicht  so  eindringlich  vermöchten. 


Eine  erfreuliche  Erscheinung  des  I^üchermarktes  ist  „Gottfried 
Kämpfer"  von  Krüger.  Ein  herrenhutischer  Bubenroman.  Den 


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deutschen  Jungen  und  ihren  Schulmeistern  gewidmet  von  einem, 

der  beides  war".    Es  ist  ein  Roman»  der  frei  ist  von  jeder  Tendenz, 

durch  und  durch  (gesund,  voll  von  treuer  Lebensbeobacht-n^;^ 
getragen  von  einfach-wanncr  Darstellung  und  durchweht  von  einem 
Hauche  echter  Poesie,  ein  Buch,  das  man  mit  gutem  Gewissen  den 
Primanern  empfehlen  kann,  das  jedem  ernsthaften  Leser  tiefgehende 
Anregung  bietet  und  auch  manchem  Lehrer  Freude  und  Nutzen 
bringen  kann.  Im  wesentlichen  eine  \Vierirrp;nbc  wirklicher  Schul- 
veriialmisse  und  Krziehungserlebnisse  des  Schriftsteilers,  Hegt  der 
Wert  dieses  Romans  nicht  in  liirer  mehr  oder  weniger  fesselnden 
Schilderung,  sondern  in  der  Art,  wie  der  Verfasser  den  Charakter 
seines  jungen  Helden  Gottfried,  der  nicht  umsonst  den  Namen 
Kampfer  führt,  im  Kampfe  mit  seiner  Umgebung  ein  Ich,  ein  Selbst, 
einen  Eij^enen  werden  lässt. 

Gottfried  Kämpfer,  der  Sohn  eines  herrnhutischen  Gemeinde- 
vorstehers, ist  ein  munterer,  frischer,  aufgeweckter  Junge,  aber  durchaus 
kein  Musterknabe.  Er  ist  ein  reichlich  selbstbevnisster,  trotz%er 
Bursche,  eine  leidenschaftliche  Jungennatur,  aber  voll  Wahrheit  und 
Gerechtigkeitsgefühl.  Frühe  hat  sich  ihm  eine  auf  Stolz  beruhende 
Verschlossenheit  und  eine  starke  Herrschsucht  entwickelt.  Am 
bedenklichsten  aber  ist  sein  unbändiger  Irotz,  der  ihm  den  V'^ater 
innerlich  entfremdet,  das  Elternhaus  als  verhassten  Zwinger  erscheinen 
lässt  und  schliesslich  zur  Flucht  verführt.  Nun  scheut  der  Vater 
auch  vor  einer  Gewaltkur  nicht  /iinick,  die  zum  Segen  ausschläs^ 
und  die  innere  Umwandlung  des  jungen  einleitet  In  der  gesunden 
Luft  und  in  den  festen  religiösen  und  pädagogischen  Traditionen 
der  herrnhutischen  Erziehungsanstalten  Herrenteid  und  Girdein,  dem 
„Ziele  der  Sehnsucht  für  jeden  ehrgeizigen  Hermhuterjungen",  reift 
er  heran,  kämpft  sich  trotz  Straucheins  und  vonlhenxehenden  Irrens 
in  hartem  Rinf^en  mit  sich  selbst  stets  wieder  aul  den  rechten  W^cg 
hindurch,  dass  er  am  Schlüsse  mit  männlich  klarem  Bewusstsein 
Girdein  verlässt,  um  Theologie  zu  studieren.  Mit  wohlbegründeter 
guter  Zuversicht  lassen  wir  ihn  allein  seiner  Strasse  ziehen. 

Krügers  Bubenroman  ist  offenbar  ein  Ehren-  und  Dankbarkeits- 
denkmal, das  er  den  herrnhutischen  Erziehungsanstalten  nnd  seinen 
Lehrern  setzen  wollte.  Wir  lernen  aus  seinem  Buche,  dass  das 
Erziehungswesen  der  Hermhuter  trotz  der  Besonderheit  seines 
Nährbodens  keineswegs  in  jenem  engen  pietistischen  Banne  befangqi 
liegt,  an  den  wir  so  leicht  denken,  wenn  wir  nur  ihren  Namen 
hören.  Gesunde  pädagogische  Prinzipien,  gesundes  religiöses  Leben, 
für  ihren  Beruf  begeisterte  Lehrer,  voll  Selbsthingabe  an  die  Jugend, 
und  eine  an  Leib  und  Seele  gesund  sich  entwickelnde  Knaben- 
schar  —  ist  das  nicht  etwas,  woran  das  Herz  sich  erfireuen  kaum? 

,J^n  deutschen  Jungen  und  ihren  Schulmeistern  gewidmet  von 
einem  r!er  beides  war",  liest  man  auf  dem  VVidmtmi^sblattc,  und 
beide,  Jungen  wie  Schulmeister,  dürfen  die  21ueignung  mit  Dank 


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und  Freude  entgegennehmen;  denn  beide  sind  in  dem  Buche  vor- 
trefflich lebenswahr  dargestellt. 

Die  Schul  m e  ister  zuerstl  In  dem  Roman  ist  so  weni^  von 
den  Schulstunden  geredet,  weder  von  langweiligen  noch  von  geistig 
bedeutenden.  Das  wd^  uns  wohl  darauf  hin,  dass  der  Dichter  es 
vornehmlich  auf  die  Erziehung  abgesehen  hat,  wie  sie  in  den 
Hermhuter  Anstalten,  an  denen  uns  manche  Verhältnisse  und  Ein- 
richtungen eigenartig  vorkommen,  geboten  wird.  Von  einem 
Internat  hören  wir  also. 

Das  Internat  ist  hauhg  als  Idoster-  oder  kasemenartiges  Institut 
ohne  weiteres  verdammt  worden.  Und  doch  ist  keine  Autorität 
der  alten  und  neuen  Zeit  namhaft  zu  machen,  welche  die 
geschlossenen  Lehr-  und  Erziehungsanstalten  verworfen  hätte.  Die 
Geschichte  der  deutschen  Erziehung  zeigt  vielmehr,  dass  immer 
gerade  denjenigen  Perioden,  wo  die  Pädagogik  einen  neuen  Auf- 
schwung nahm»  neue  Ideen  verwirklichte  und  neue  Bahnen  einsdilug, 
den  Trieb  nach  Interoatseinrichtung  sich  ganz  besonders  kräftig 
erwies.  Die  pädagogischen  Ideen  des  Reformationszeitalters  schufen 
in  Württemberg,  Sachsen,  später  auch  in  Brandenburg  die  Fürsten- 
schulcn.  und  es  ist  bekannt,  mit  welchen  Gefühlen  inniger  An- 
hänglichkeit und  freudigen  Stolzes  die  Schäler  dieser  altberfihmten 
Bildungsstätten  auf  ihre  Schule  blicken,  welch  innigen  Zusammen- 
hang zwischen  den  Schülern  solcher  Anstalten  auch  im  späteren 
Leben  besteht  In  ihrer  P>innerung  ist  ihnen  <\\c  Schulzeit  eine 
Zeit  beständigen  Glückes,  bis  zu  dem  Tage,  wo  die  bittere  Trennungs- 
stunde  schlug. 

Nun  weiss  ich  sehr  wohl,  dass  die  GremütsbUdung  in  den 

Internaten  nicht  in  dem  Grade  gepflegt  werden  kann,  wie  in  der 
Familie,  dass,  weil  das  Leben  in  einer  solchen  Anstalt  bis  aufs 
Kleinste  geregelt  sein  muss,  ein  gewisser  Mechanismus  unumgänglich 
notwendig  ist,  dass  in  einer  Gemeinschaft,  wo  Arbeit  und  Erhoning, 
Schlafen  und  Essen  gleichmassig  und  gleichzeitig  von  allen  geteilt 
wird,  für  manche  Natur  eine  gc'wisse  Gefahr  liegt.  Aber  ich  kenne 
auch  das  Gegengewicht  gegen  die  straffe  Anspannung  der  Disziplin: 
die  persönhche  Einwirkung  der  Lehrer,  durch  die  das  Internat  bei 
seinem  unvergleichleich  stärkeren  Einfiuss  auf  die  Schüler  wesentlich 
leichter  tiefe  Wirkungen  hervorzubringen  vermag  als  ein  offene 
Schule. 

Und  ein  gutes  Internat  ist  es,  das  wir  in  dem  Buche  kennen 
lernen,  gut  durch  die  uns  gezeichneten  ErzieherpersönUchkciten. 
Da  sieht  man  einmal  wieder  den  deutschen  Lehrer  .in  reinerem 
Lichte,  nicht,  wie  so  oft,  als  feigen  Kriecher,  pedantischen  Philister, 

kurz  als  „Bildungsschuster"  oder  als  weltfremden  Idealisten,  sondern 

als  idealgesinnten,  aber  fest  auf  dem  Boden  des  realen  Lebens 
stehenden  und  <.lirses  mit  klarem  Aul^c  <_  i  fasseisden,  wahren  Jugend- 
bildners  voll  Krait  und  Sciiwung,  ais  tuclitigen  Gelehrten,  aber 
UdAgoglsch»  SlutttB.  TXXi  4.  18 


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zugleich  voll  Verständnis  für  die  Jugend  und  darum  von  unbedingter 
Gerechtigkeit,  wahrhaft  bereit,  ein  Genosse,  ein  Freund  der  JunL^ünge 
zu  sein  in  Freud  und  Leid  und  mit  herzlicher  Anteilnahme  m  ihrer 
Seele  zu  lesen,  kurz  als  männliches  Vorbild  des  Werdenden. 
Keiner  ist  wie  der  andere,  jedoch  jeder  ist  eine  Persönlichkeit  voll 
wahren  Lehrerglückes,  wie  es  sich  darbietet  in  der  Möglichkeit 
tiefgehenden  erzieherischen  Einflusses,  der  für  Ideale  in  der  Schule 
zu  begeistern  strebt.  Und  darum  blickt  selbst  der  trotzigste  und 
selbstbewussteste  Schüler  zu  ihnen  vertrauend  auf.  Bei  aller  Ver^ 
sdiiedenheit  der  Persönlichkett  herrscht  doch  ein  Geist  in  dieser 
Lehrerschaft,  treue  Hingabe  an  das  Ziel:  Menschen  zu  erziehen  zu 
körperlicher  Tüchtigkeit  und  Selbständigkeit  in  der  geistigen  Arbeit, 
zur  Emptangliclikcit  für  alles  Schöne,  7um  Ringen  um  die  Wahrheit, 
zur  Hingabe  an  das  Gute.  Das  waren  Erzieher,  die  da  wussten, 
dass  eine  Natur  wie  Gottfried  Kampfer  nicht  gebrochen  werden 
soll,  sondern  dass  man  ihr  helfen  muss,  sich  sdbst  zu  zugein,  dass 
sie  nicht  zur  knechtischen  Furcht  vor  Menschen  sondern  zur  Freiheit 
in  Gott  erzogen  werden  soll.  Die  im  fünften  Kapitel  des  zweiten 
Buches  geschilderte  Lehrerkonferenz,  pädagogisch  von  grossem  VV  crte, 
gehört  mit  zu  den  besten  Teilen  des  Werkes;  sie  lässt  die  Per- 
sönlichkeiten sich  scharf  von  einander  abheben,  und  Bruder  Losldel 
gibt  da  herrnhutischer  Erzieherweisheit  in  goldenen  Worten  Am^ 
druck-  Erziehen  ist  mehr  eine  Kunst  als  eine  Wissenschaft  Zum 
£rzieher  wird  man  geboren,  nicht  erzogen.  Dennoch  gilt  es  studieren. 
Namentlich  bei  luiaben  wie  Kämpfer  ist  das  sehr  angebiachL 
Solche  Jungen  ^d  steinharte  Nüsse  für  jeden,  der  sie  nicht  ganz 
genau  studiert  hat  und  nur  aufs  Geratewohl  an  ihnen  herumknacken 
will.  Solche  Jungen  sind  ferner  mit  Gewalt  überhaupt  nicht  zu 
bändigen.  Dazu  haben  sie  ihre  eigene  charakterUche  Kraft  und 
ihr  angeborenes  Willensvermogen.  Da  kann  man  nur  anregen, 
erganzen,  aber  man  darf  nicht  schlechthin  bilden  oder  gar  umformen 
woUen.  Ein  kluger  Erzidiw  wir<f  gerade  aus  Fehlem  langsam 
Tugenden  entwickeln  können,  indem  er  das  Elhrgefuhl  weckt  und 
das  Gewissen  schärft.  Viel  mehr  braucht's  nicht,  aber  das  braucht  s 
wiederum  unermüdlich!  Und  darm  noch  eins:  nicht  nur  das 
Gerechtigkeitsgefühl,  sondern  auch  das  Wahrhdtsbewusstsein  unserer 
Knaben  ist  heilig  zu  halten.  Es  ist  unser  bester  Bundesgenosse 
bei  ihrer  Erziehung." 

Mag  auch  der  Tscheche  Rassowsky  nicht  zum  Lehrer  für 
deutsche  Jugend  geignet  sein,  mag  auch  Bruder  Robinson  kein 
geborener  Erzieher  sein,  der  gleich  fiir  jede  besondere  Individualität 
ein  besonders  geeignetes  Mittel  anwenden  kann,  mag  er  nur  ein 
armselig  hilfloser  Schulpädagog  sein,  der  sich  furchtsam  an  die 
Schablone  klammert  —  man  muss  doch  seine  Freude  haben  an 
den  prächtigen  Gestalten  dieser  Lechner,  Loskiel,  Nielsen,  Reicher,. 
Schmiedecke. 


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Was  lernt  der  Lehrer  für  seine  eigene  hr^iciicrarbcii  aus 
diesem  Buche?  Wir  müssen  ernstlich  daran  festhalten«  dass  die 

Schule  keinen  Polizeistaat  darstellt,  sondern  eine  Erziehungsanstalt, 
in  der  mcht  die  Furcht,  sondern  die  Liebe  regiert,  die  nicht  durch 
harte  Straten  schrecken,  sondern  durch  freundliches  Mitfühlen  und 
Verstehen  gewinnen  soll.  Das  notwendige  Vertrauen  des  Kindes 
2um  Lehrer  entsteht  meistens  erst,  wenn  der  E zieh  er  die  dem 
Lehrer  leicht  anhaftende  Unnahbarkeit  abstreift,  wenn  er  sich  als 
Mensch  dem  Menschen  nähert.  Nie  findet  man  ein  willigeres  Ohr 
für  ein  mahnendes  Wort,  als  in  einem  Gespräch  unter  vier  Augen, 
das  freundschaftlichere  und  wärmere  Töne  anzuschlagen  gestattet 
und  dem  Schüler  einen  BUck  in  das  Gefilhlsleben  des  Lehrers  ver* 
schafft  Ich  denke  dabei  an  die  Gespräche  Bruder  Loskiels  mit 
Gottfried  Kämpfer,  wie  sie  Seite  204  und  208  ff.,  und  Bruder  Nielsens 
mit  ihm  Seite  423  ff.  {geschildert  sind.  Wahrlich,  ein  Wink  solcher 
wahrhaften  Erzieher  kariü  eine  Wcgzeigung  fürs  Leben  sein! 

Und  auch  die  deutsche  Jugend  wird  trefflich  geschildert. 
Sie  ist  im  Kerne  des  Wesens  eine  frische,  kraftvolle  (jesellschaft, 
der  nicht  Menschliches  fremd,  die  aber  doch  von  einem  ehrlichen 

Streben  erfüllt  und  eines  poetischen  Hauches  nicht  bar  ist  Kein 
Schulbetrug  war  üblich,  eine  tüchtige  Leistung  gehörte  zu  den  Selbst- 
verständlichkeiten. Man  muss  seine  Freude  haben  an  den  Girdeiner 
Zöglingen,  besonders  der  Kolonne  80,  zumeist  auch  an  „Nöke", 
diesem  Kinde  echter  Poesie,  Gottfrieds  bestem  Freunde.  SoU  man 
nicht  froh  darüber  sein,  dass  es  im  deutschen  V'aterlande  noch 
solche  Jugend  gibt?  Neidlos  erkennt  jede  Klasse  die  Vorrechte  der 
höheren  an;  die  älteren  Schüler  sind  voll  von  Verantwortungsgefühl, 
die  jüngeren  voll  von  Üewundcrung  und  Vorwartsstreben.  Willig 
ordnet  sich  jeder  Zögling  unter  den  Kameraden,  der  für  Ordnung 
zu  sorgen  hat;  er  ist  ja  der  Vertreter  des  Gesetzes,  der  Ehre,  des 
guten  Rufes  der  Klasse  oder  der  Kolonne.  So  wirkt  besonders  die 
Prima  durch  ihr  Beispiel,  vor  allem  beim  Spiel,  als  Krzieher  der 
jüngeren  Karoeraden.  Der  Lehrer  aber  braucht  auf  diese  Weise 
ganz  selten  bezüglich  äusserer  Ordnung  einzugreifen,  kann  um  so  mehr 
der  Freund  und  Berater  seiner  Schüler  werden,  kann  in  unbefangenem, 
frischem  Verkehr  bei  gelegentlicher  Abenduntcrhaltung,  bei  gemein- 
samen Festen,  bei  freier  Beschäftigung  mit  Kunst  und  Literatur 
seine  Schüler  auch  ausserhalb  der  Stunden  anregen.  Und  wie 
crzidierisch  wirkte  unter  diesen  Zöglingen  auf  den  Gdst  der  Schule 
die  Tradition!  Die  Feste,  die  Weihnachtsfeiern,  die  Sitten,  die, 
schon  lange,  lange  so  gehalten,  eine  ehrwürdige  Geschichte  hatten, 
sie  waren  durch  das  pietätvolle  Gedenken  gehoben.  Wir  fühlen  es 
nach,  was  in  den  letzten  Worten  des  Buches  liegt; 

„Des  Friedhofs  Lindca  schweigen, 
Sie  keoaen  des  Scheidens  Weh« 

18* 


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Wir  schütteln  die  Hände  and  ndgcn 

Die  flMnpt'-'  nieder  —  ade* 
Ade  —  und  wir  blichen  so  gerne. 
Wo  Liebe  gelängen  uns  hält. 
Doch  die  Berge  rufen  zur  Feme 
Und  dahinter  die  freie  Welt." 

Und  noch  ein  kurzes  Wort  über  besondere  Einrichtungen, 
die  man  in  dieser  Anstalt  geschaffen !  Zweifellos  ist  in  Girdein 
tüchtig  gearbeitet  und  durch  diese  Arbeit  der  Charakter  der 
Zöglinge  gestählt  worden.  Aber  auch  die  Kunstpflege  —  ein 
modernes  Schlagwort  —  war  nicht  auf  schmale  Atzung  gestellt. 
V/it  schön  waren  die  Teeabende  am  Sonnabend,  wenn  der  Lehrer 
einen  Roman  vorlas,  um  die  Jugend  mit  feinem  Geschacke  in  die 
deut<?che  Literatur  einzuführen;  wie  ist  man  beglückt,  wenn 
dramatische  Werke  mit  verteilten  Rollen  gelesen  werden;  weichen 
Höhepunkt  erreicht  die  Kunstpflege,  wenn  unter  der  Leitung  des 
Icünstlerisch  veranlagten  Direktors  vor  den  grossen  Ferien  das 
Sommerfest  fsiehc  Seite  394 — 410)  gefeiert  v/ird.  wenn  draussen  auf 
der  Wiese  unter  den  mächtigen  Eichen  die  Kräfte  im  W^ettkampfe 
sich  messen,  wenn  eine  scherzhafte  Szene  oder  eine  ergreifende 
SteUe  der  Tragiker,  wenn  die  „Antigone"  auf  der  rasch  auf- 
geschlagenen,  einfachen  Bühne  zur  Darstellung  kommt  und  am 
Abend  bei  loderndem  Feuer  der  Gesang  kraftvoll  und  stark  die 
milde  Sommernacht  erklingt!  An  solchen  Tagen  atmete  man 
griechischen  Geist,  da  wurden  Wettkampf  und  Kunst,  was  sie  den 
Griechen  gewesen  waren:  Die  Weihe  des  Lebens.  Solche  Feste 
umschlossen  die  schönsten  AugenbliclK  des  Jugendlebens. 

Und  auf  dem  Boden  der  Schule  wurden  durch  die  Anregung 
der  Lehrer  auch  Bestrebungen  selbsttätig  gepflegt,  die  diese  Zeit 
zur  herrlichsten  des  Lebens  der  Zöglinge  gemacht  haben.  Der 
Lektüre  wurde  in  den  Girdeiner  Anstalten  besondere  Aufmerksamkeit 
geschenkt.  Man  las  gerne  und  mit  Eifer,  weil  nicht  auf  Kommando, 
man  ging  gern  und  oft  in  die  Bücherei,  um  neue  Schätze  zu  heben. 
DaS8  bezüglich  der  Lektüre  Schranken  gezogen  waren,  dass  auf- 
regende, romanhafte  Bücher  nicht  geradezu  verboten,  doch  höchstens 
in  den  Ferien  aus  der  Bibliothek  geliehen  wurden,  dass  in  der 
Schulzeit  die  Schüler  nur  bildende  Lektüre  zu  lesen  bekamen,  wurde 
nicht  störend  empfunden.  Das  Interesse  der  Privatlekture  lenkte 
sich  freiwillig  auf  Schiller,  Shakespeare  und  Goetlio,  vor  allem  aber 
auf  dir  Griechischen  Tragiker.  An  den  Sonnabend-  imd  Sonntag- 
abenden lasen  die  Lehrer  oder  Aufseher  gelegentlich  unterhaltende 
Bücher  vor,  während  die  Zuhörer  schnitzten,  zeichneten  oder  Bilder 
ansahea  Auch  bei  Tische  wurden  wochentags  von  den  „Ersten** 
Biographien,  Reisebeschreibungen  oder  anschauliche  historische 
Schilderungen  laut  vorgelesen.  Auf  diese  Weise  wurde  in  den 
Anstalten  manchem  Schüler  ganz  unmerklich  und  fnüizeitig  ein 


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guter  literarischer  Geschmack  anerzogen,  der  ihm  später  half,  sich 
einigermassen  selbständig  durch  das  Chaos  der  modernen  Literatur 
hindurchzuhnden  und  sich  trotz  der  Modetorheiten  den  Sinn  für 
das  Schlichte  und  Gesunde  zu  erhalten. 

Das  Buch  ist  —  den  Gedanken  mochte  ich  schlies^ch  nicht 
unausp^csprorhcn  lassen  —  auch  eine  vortreffliche  Srhiitzrede  für 
das  huniamstisrlic  Gymnasium  auf  christlicher  Grundlage.  Wie 
charakterbiidend  wirkt  diese  Anstalt  1  Diese  Knaben  und  Junglinge, 
vne  sind  sie  so  gesund  und  fröhlich,  so  begeistert  und  phantasievottl 
Solche  Jünglinge  wünschen  wir  unserm  Volke:  frisch  ins  Ld>en 
hineinstürmend,  für  alles  Hohe  begeistert,  wirklich  frisch,  fromm, 
froh  und  frei. 


Zwei  Erziehungsromane,  die  in  einer  sdiwerwi^enden  Anklage 
ausIdingen,  sind  ,Jnreund  Hein"  von  Emil  Strauss  und  „Unterm 
Rad"  von  Hermann  Hesse. 

„Freund  Hein"  —  das  Buch  packt,  wie  selten  ein  Buch  dieser 
Zeit  Nicht  ohne  Grund  heisst  es  eine  „Lebensgeschichte".  Man 
könnte  es  aber  auch  die  Tragödie  der  Schule  oder  die  Tragödie 
des  Küf^ers,  die  Tragödie  des  Knaben  oder  die  Tragödie  der 
Erzifhiinrr  nennen.  Es  ist  ein  Kr/iehnnr'sroTnan,  der  bei  der  heiitip^en 
Schulhilf lun^^  stehen  bleibt,  die  l  orderuiig  nach  BerücksirhtiL^ung 
der  Individualität  in  den  iMittcipuiikt  stellt  und  zu  einer  Anklage 
gewisser  Zustände  in  unserem  Ernehungswesen  wird.  Im  besonderen 
liest  man  zwischen  den  2^ilen  die  Frage:  Ist  es  notwendig,  dass 
jrrirr,  der  zu  den  Gebildeten  gezählt  werden  will,  durch  alle  Klassen 
einer  höheren  Schule  gelaufen  sein  und  alle  Schulfacher  in  gleicher 
Weise  beherrschen  muss,  auch  die,  für  die  er  durchaus  keine 
Anlage  hat? 

Der  beklagenswerte  Held  des  Romans,  Heiner,  der  Sohn  eines 
Rechtsanwaltes,  ist  ein  Kind,  in  dem  ein  Künstler  steckt,  das  aber 
ein  Gymnasiast  sein  '^oll  und  unter  seiner  doppelten  Last  /erbricht; 
es  ist  ein  ungewöhnliches,  aber  einseitiges  Talent,  das  durch  die 

fleichmadieri«:hen  Aispröäie  der  Schule  in  erdrückender,  frosdoser 
olgerichtigkeit  vernichtet  wird.  Sein  Leben  wird  auCs  sorgfältigste 
im  Elternhause  überwacht.  Wenn  er  auch  anfanglich  nach  den 
Plänen  seines  Vaters  , .Staatsanwalt"  werden  sollte,  so  hatten  beide 
Eitern  doch  nicht  gerade  den  Ehrgeiz,  etwas  Besonderes  aus  ihrem 
Knaben  werden  zu  lassen.  Vor  allem  ist  die  Mutter  eine  „jener 
seltenen  Mutter,  die  ganz  ehrlich  das  am  Hebsten  sehen,  was  ihre 
Kinder  sich  selbst  wählen  und  suchen,  und  die,  wenn  nicht  aus 
reifer  Erkenntnis,  dann  in  der  unbefangenen  Demut  ihres  überall 
wunderschauenden  Herzens  so  ein  neues,  aufschliessendes  Leben 
nach  seinem  eigenen,  noch  unverstandlichen  Sinn  sich  dehnen  und 
formen  lassen".  Früh  bricht  bei  Heiner  ein  ausserordenilich  starkes 


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musikalisches  Talent  durch,  das  ihm  vom  Grossvater  her.  der  als 
Geigenspieler  und  Dirigent  die  halbe  Welt  durchreist  ist,  im  Blute 
liegt  und  das  der  Vater  erst  bekämpfen  und  dann  wenigstens 
soweit  als  möglich  eindänunen  möchte.  Dass  der  Sohn  nicht  zum 
Zeitvertreib  Geige  spielt;  dass  ihm  die  Musik  ein  Element  ist,  ohne 
das  er  nicht  leben  kann,  vermacr  der  Rechtsanwalt  nicht  einzusehen. 
Auch  er  besass  ia  musikalische  Bet;abnnp  und  spieite  hervorra^jend 
Geige ;  aber  ei  hatte  sich,  da  ci  an  sich  selbst  bezüglich  dieser 
Neigung  die  übebten  Erfahrungen  gemacht»  indem  das  Geigenspid 
auf  der  Hochschule  seinen  Studien  gefahrlicli  geworden  war,  mit 
festem  Willen  endlich  ermannt  und  seither  keine  Saite  mehr  an- 
gerührt. Das  muss  der  Sohn  auch  vermögen  —  so  meint  der 
Vater,  der  seine  Liebhaberei  mit  dem  echten,  reinen  KünsUcrtum 
des  Sohnes  in  eine  Reihe  stellt,  und  der  keinen  verträumten  Musi- 
kanten, sondern  einen  lebensklugen  Mann  aus  ihm  machen  will 
Doch  als  der  Vater  sieht,  dass  Heiner  in  der  Musik  lebt  und  webt, 
und  dass  die  Naturan!r\cye  sich  nicht  unterdrücken  lässt,  gibt  er 
schUesslich  seine  Einwilligung  dazu,  dass  der  Knabe  sich  dieser 
Kunst  widmet,  macht  aber  diese  Erlaubnis  vom  Bestehen  des 
Abtturiums  abhangig. 

Nun  schildert  uns  Emil  Strauss  die  Leiden,  die  daraus  quellen, 
dass  der  Knabe  in  eine  Schule  muss,  in  die  er  nicht  gehört.  Die 
geistige  Verfassung,  die  hier  vorausgesetzt  werden  muss,  ist  nicht 
die  seine.  In  seiner  Individualitat  sind  die  Elemente  dei  Mensch- 
heit anders  gemischt  als  bd  den  Durchschoittsschttlem.  Und  zu- 
gleidl  ist  seine  Eigentümlichktit  so  zart,  so  empfindlich,  dass  er  dem 
Zwange,  der  ihn  zerstört,  keinen  Widerstand  zu  leisten  vermag 

Heiner  soll  .Mathematik  lernen,  hat  aber  für  sie  durchaus  keine 
Anlage.  Was  er  schon  m  mehreren  Jahren  mit  langsamer,  doch 
Stetig  wachsender  Gewalt  gegen  sich  herandrängen  gefiihlt  hat,  das 
tritt  in  Obersekun  hi  mit  plumper  Unwiderstehlichkeit  vor  ihn  hin: 
er  kann  mit  der  Mathematik  nicht  fertig  werden  Sie  ist  seine 
Qual  bei  Tag  und  N'acht  und  verbittert  ihm  das  junge  Leben;  er 
erreicht  in  Matliematik  das  Ziel  nicht  und  bleibt  sitzen.  Auch  die 
Grammatik  der  fremden  Sprachen  kann  er  nidit  schidgerecht 
lernen,  obwohl  ihm  das  Verständnis  der  Sprache  keine  Schwierig- 
keiten macht.  Er  \'erc^isst  bei  dem  Sprarhcnlcrnen  leider  vollständig, 
dass  z,  B.  „Homer  vor  allem  dazu  gedichtet  hat,  um  dem  CT;erma- 
nischen  Jüngling  mit  jedem  Worte  die  Anwendung  einer  gramma- 
tischen Regel  und  die  Eigentamlidikeit  des  jonisdien  Di^üekts  n 
zeigen".  Sone  griechischen  Stilübungen  fielen  immer  geringer  aus, 
so  dass  der  Professor  eines  Tages  bei  Rückgabe  der  Hefte  den 
Witz  machte,  Heiners  griechischen  Leistungen  erginge  es  ^ne  dem 
Pharao,  als  er  den  Juden  nachsetzte:  sie  ersöffen  im  Roten  Meere. 
Zwar  arbeitet  er  mit  rastlosem  Pflichteifer,  sein  Wissen  in  Grammatik 
und  Mathematik  zu  vermehren;  aber  er  sieht  immer  mehr  ein,  dass 


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* 


—  279  — 

er  hierin  den  Anforderui^n  nie  (^nügen  werde.   Er  weiss  wohl, 

wie  es  zu  machen  wäre:  Abschreiben,  mogeln,  spicken,  sich  aus- 
reden und  lügen,  Formeln  und  Beweise  auf  die  l^ank  und  die 
Fingernägel  und  die  Manschetten  schreiben,  die  Lehrer  anlügen  — 
aber  „pfui,  Teofd,  ich  kann's  lücht",  so  Heiner.  Er  bittet  seinen 
Vater,  von  der  Forderung  des  Abituriuins  abzustehen,  zumal  es  für 
seinen  späteren  Beruf  durchaus  nicht  nötig  sein.  Der  Vater  bleibt 
aber  bei  seinem  Verlangen,  und  als  die  Prima  ihm  dasselbe  Schicksal 
des  Sitzenbleibens  bereitet,  als  der  Lehrer  ihm  das  Zeugnis,  an  das 
er  ein  ganzes  Jahr  redlichstens  Strebens  gesetzt,  mit  seinem  un- 
genügenden Resultat  höhnend  vor  die  Füsse  wirft,  unterliegt  das 
zum  Musikschaffen  geborene  Menschenkind  dem  Martyrium  der 
Schule,  in  deren  abstrakten  Begriffsdrill  sich  sein  kbensinniges 
Wesen  durciiaus  nicht  zu  finden  vermag.  Sein  überreiztes  Gehirn 
gibt  ihm  als  einzige  Rettung  den  freiwilligen  Tod  an. 

So  kommt  es,  dass  er  verzweifelnd  „allzubereit,  den  Wunsch 
der  Götter  zu  erfüllen,  ins  All  zurück  die  kürzeste  Bahn  ergreift"  — 
er  Ic^  Hand  an  sich,  schiesst  sich  eine  Kugel  in  den  Kopf  und 
stirbt  Am  Mant;f  1  des  Verständnisses  für  ihn  und  seine  Art  bei 
seinem  Vater  und  bei  seinen  Lehrern,  so  gut  sie's  alle  meinen  mögen, 
geht  unser  Heiner  zugrunde. 

Die  Erzählung  nimmt  den  Leser  gefangen.  Die  psychologische 
Zeichnimg  der  in  ihrer  Art  viel  versprechenden  Knabennat'jr,  der 
die  Schule  zum  Verhängnis  wird,  ist  \o!i  grosser  Feinheit.  Vor 
allem  ist  die  sittliche  Reinheit  des  Knaben  mit  so  grossem  Ver< 
ständnis  dargestellt,  dass  man  ihm  von  Herzen  gut  wird.  Um  so 
mehr  befremdet  der  Ausgang;  denn  gerade  in  ihrer  Reinheit  hatte 
die  Eigenart  des  Knaben  einen  Schutz,  der  ihn  endlich  doch  allem 
Zwange  gegenüber  hätte  überlegen  machen  müssen.  Selig  sind,  die 
reines  Herzens  sindl  Darum  ist  der  Selbstmord  des  Jünglings,  so 
ergreifend  er  auch  „wirkt",  nicht  recht  verständlich.  Die  Sditde 
bietet  doch  nur,  wie  auch  Strauss  durchblicken  lässt,  den  äusseren 
Anlass  des  Unterganges.  Im  Grunde  ist  es  das  Leben  selbst,  an 
dem  Heiner  scheitert.  Sein  Selbsterhaltungstrieb  ist  nicht  so  stark, 
dass  er  ihn  dazu  hätte  fuhren  können,  den  unverständigen  Zwang, 
der  vom  Vater  in  guter  Absicht  ausging,  mit  Gewalt  zu  brechen. 
Hemer  ist  ein  armes,  schwaches  Menschenkind,  dessen  Talent  im 
Sturm  des  Lebens  erst  recht  untergegangen  räne.  Das  hartköpfige 
Genie  hätte  nicht  zur  Pistole  gegriffen,  sondern  wäre  aus  dem  un- 
wirtlichen Vaterhause  einfach  davon  gelaufen,  um  sich  draussen  allem 
zum  Trotz  Geltung  zu  verschaffen.  Auch  muss  dem  Einwurie  eine 
gewisse  Berechtigung  zuericannt  werden,  dass  ein  ungewöhnlich  be- 
anlagter  Mensch  trotz  aller  Einseitigkeit  doch  das  Notwendigste  in 
jedem  Gegenstände  erlernen  kann,  wenn  er  Heiners  Mr-iss  und  pritcn 
Willen  besitzt.  Ks  ist  niciit  zu  leugnen,  dass  alle  Schüler  eine  ^^e- 
wisse  Wissensmenge  lernen  und  leisten  müssen.    Auch  wird  überall, 


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• 


^  280  — 

wo  sich  Menschen  zu  einer  gemeinsunen  Tätigkeit  vereiiiigen,  ein 

gewisses  Mass  von  Uniformität  iinvcrmrifllich  sein.  Demnach  wäre 
CS  töricht,  von  allen  Schülern  matiiematischc  Leistungen  zu  ver- 
langen, da  doch  die  Erfahrung  vielfach  bestätigt,  dass  es  unmathe» 
matische  Köpfe  gibt,  die  auf  anderen  Gebieten  Hervorragendes 
leisten.  Die  neueren  Prüfungsordnungen  für  die  höheren  Schulen 
enthalten  darum  auch  Bestinunungen,  die  dieser  Erkenntnis  Recfa> 
nung  tragen. 

Man  ist  leicht  geneigt,  in  einem  solchen  Falle,  wie  er  vorliegt, 
der  Schule  die  Schmd  beizumeasea  In  Wahrheit  liegt  jedoch  der 
Grund  darin,  dass  mancher  Knabe  sich  auf  dner  Lehranstalt  be* 

findet,  auf  welche  er  wegen  seiner  nicht  zureichenden  Begabung 
nicht  gehört.  Immer  sollten  bei  der  Wahl  einer  Lehranstalt  die 
Fähigkeiten  des  Kindes  in  erster  i^inic  massgebend  sein  und,  wie 
schon  Luther  wollte,  „die  ingenia  unterschieden  und  nur  Wohl* 
geschickte  zugelassen  werdend  Leider  ist  es  aber  in  den  meisten 
Fallen  nur  der  Wunsch  der  Eltern,  der  Herbei  die  Entscheidung  gibt 

Es  ist  ein  charakteristischer  Zug  unserer  Zeit,  dass  viele  Eltern 
danach  streben,  ihren  Kindern  eine  höhere  Lebenstellung  zu  ver- 
schaffen, als  die  ist,  die  sie  selbst  einnehmen.  Dieses  Drängen  nach 
oben  bedingt  denn  auch  den  Andrang  zu  den  höheren  Lehranstahen. 
Oft  hört  man  von  sonst  recht  einsichtsvollen  Männern  die  Ansicht: 
„Trh  will  meinen  Sohn  dns  Gymnasium  durchmachen  lassen"  mit 
derselben  Leichtigkeit  hinwerien,  iiDt  der  sie  sich  etwa  entscheiden, 
wenn  es  sich  darum  handelt,  dem  Knaben  ein  neues  Kleidungsstück 
ZU  schaffen«  Es  wird  nicht  bedacht,  dass  ein  Knabe  nicht  ohne 
weiteres  „ein  Gymnasium  oder  ein  Realgymnasium  durchmachen" 
kann,  dass  dies  vielmehr  Bildungsanstalten  sind,  in  welchen  der 
ganze  innere  Mensch  durch-  und  umgearbeitet  werden  soll,  dass 
dies  die  Stätten  sein  sollen  einer  gediegenen  Vorbereitung  für  den 
Besuch  der  Hochschulen.  Ob  ein  Knabe  die  Anlagen  fiir  eine 
solche  Laufbahn  besitzt  oder  ob  ihm  die  Befähigung  zu  dauernd 
anstrengender  Geistesarbeit  abgeht,  danach  wird  oft  nicht  gefragt 
Msn  klagt  die  Methode  der  Lehrer  an,  beschwert  sich  über  zu 
hohe  Anforderungen  und  redet  von  Überbürdung.  Und  doch  ist 
schliesslich  die  Ursache  mangelnden  Erfolgs  nur  darin  zu  suchen, 
dass  der  Knabe  nicht  fiir  das  Gynuiasium  passt 

Aus  dem  Roman  „Freund  Hein"  klingt  doch  für  jeden  Ldirer, 
gleichviel  an  welcher  Schulgattung  er  arbeitet,  die  Mahnung,  der 
Individualität  des  Schülers  die  grösstc  Aufmerksamkeit  zuzuwenden. 
Es  ist  ein  hartes  Wort,  das  Hermann  Hesse  ausspricht;  „Eineo 
toten  Schfiler  blicken  die  Lehrer  stets  mit  ganz  anderen  Augen  an, 
als  einen  lebenden.  Sie  werden  dann  für  einen  Augenblick  vom 
Werte  und  von  der  Unwiderbringlichkeit  jedes  Lebens  und  jeder 
Tugend  überzeugt,  an  denen  sie  sich  sonst  so  häufig  sorglos 
versündigten." 


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—     28l  - 


Ein  ähnlicher  Gregenstand  wie  in  „Freund  Hein"  wird  behandelt 

in  dem  Roman  von  Hermann  Hesse,  „Unterm  Rad".  In 
dieser  Schülertragödie,  einem  Buche  voll  Schwermut,  heimlicher, 
leiser  Klage  und  Anklage,  ist  es  nicht,  wie  in  , Freund  Hein"  ein 
besonderem  ialent,  das  aussergewöhniiche  Krisen  duichlaaft,  nein, 
es  ist  ein  Normahnensch  im  engen  Kreise,  der,  begabter  als  der 
Durdischnitt,  stolz  und  mit  Anwartschaft  auf  Ruhm  und  Glück  in 
der  ersten  Zeit  der  Schulentwicklung  einen  vielverheissenden  Anlauf 
nimmt,  dann  aber  von  der  grossen  Geisteszurichtuogsmaschine  der 
Schule  zermalmt  wird. 

Der  zarte  Hans  Giebenrath  ist  in  dem  sdiwäbischen  Wald* 
Städtchen,  wo  sein  Vater  das  Leben  eines  enghenigen,  durchaus 
prosaischen  Kleinbürgers  führt,  einer  der  begabtesten  Schüler,  das 
Wunderkind,  aus  dem  der  Stadtpfarrer,  der  Rektor,  die  übrigen 
Lehrer  und  der  eitle  Vater  die  Leuchte  des  Städtchens  machen 
wollen.  Für  das  Landexamen  vorbereitet,  besteht  er  als  Zweiter, 
und  damit  sein  Licht  in  dem  berühmten  Seminar  zu  Maulbronn, 
dessen  Pforten  sich  ihm  nun  öffnen,  noch  heller  leuchte,  wird  von 
eifrigen  I^hrem  auch  die  Ferienzeit,  die  dem  Eintritte  ins  Seminar 
voraufgeht,  noch  ausgenützt  und  der  Junge  noch  weiter  gefördert, 
wenn  aud^  die  Augen  schon  mit  trüber  Glut  brennen  und  auf  der 
Stirn  feine  Falten  zucken.  Im  theologischen  Seminar  in  Blaulbronn 
geht  es  zunächst  munter  fort,  aber  dann,  ja,  dann  geht  es  langsamer 
vorwärts,  steht  es  still,  geht  es  allmählich  zurück.  Das  Wunder- 
kind —  welche  Ironie  der  beleidigten  Natur!  —  ist  kein  grosser 
Geist.  Besonders  lassen  seine  überanstrengten  Kräfte  nach,  seit  sein 
dnziger  Freund  Maulbronn  verlassen  musste,  bb  es  eines  schönen 
Tages  klar  wird:  er  ist  krank,  „nervenkrank",  und  es  wird  wohl  aus 
ihm  nichts  Gescheites  mehr  werden.  Als  seine  nervösen  Schwäche- 
zustände bedenklich  werden,  schickt  man  ihn  rasch  entschlossen, 
dem  Vater  nach  Hause,  um  seinen  Körper  und  Geist  zu  kraftigen. 
Li  der  Schwarzwaldluft  gewinnt  er  scheinbar  die  Gesundheit  wieder, 
muss  aber  die  Vorbereitung  zum  Studium  anheben,  dämmert  noch 
so  ein  Weilchen  in  geist:n;cr  und  körperlicher  Übermüdung  dahin 
und  lernt  noch  Lust  und  Qual  der  ersten  Liebesregung  kennen. 
Doch  alles  ist  nur  wie  das  Aufleuchten  eines  Sonnenstrahles.  Die 
NOditemheit  einer  Handwerkerarbeit  —  er  soll  Mechanikeriehrling 
werden  —  befriedigt  ihn  nicht,  und  nach  dem  ersten  Sonntags* 
ausflug  mit  seinen  Arbeitsgenossen,  der  ihm  die  Enge  und  Niedrigkeit 
ihrer  Feiertagsfreuden  enthüllt,  findet  sein  frühgeschwächter  Leib 
und  sein  angekränkelter  Geist* Ruhe  und  Frieden  in  den  Wellen 
des  Flusses,  in  dem  sich  einst  der  Knabe  die  Glieder  und  die 
SeeSe  stärkte,  che  der  Schulswai^  ihn  in  seine  harten  Hände  nahm. 
„Halb  zog  es  ihn,  halb  sank  er  mn"  in  die  erlösende  Flut,  halb  im 
Weinnebel,  halb  in  Verzweiflung  und  im  Ekel  vor  dem  schnellen 
Sturze  aus  seinem  vormahgen  Musterknabendasein. 


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—    282  — 


So  war  Hans  Giebenrath  unter  die  Räder  «rekommen;  es  ging 
abwärts,  tiefer  und  tiefer,  sechs  Schuh  unter  die  Krdc  hinab.  Es 
sind  nicht  allerlei  Zulalligkeiten ,  die  in  besonders  unglücklicher 
Verschlingung  so  ungünstig  wirken,  sondern  es  sind  dem  Schul- 
betrieb wirklich  wesentlich  innewohnende  Grefohren,  die  uns  in 
diesem  Romane  geschildert  werden,  Gefahren,  die  gerade  die 
bedrohen,  welche  die  Schule  emstnehmen:  eine  l^hcrspnnnung  der 
Gei>tt  skrafte,  welche  die  Natur  in  den  ausschlaggebenden  Jahren 
zerrüttet,  und  die  Krregun^  eines  falschen  Ehrpfeizes. 

Aus  Hans  Giebenrath  sollte  ein  Studierter  werden;  durchs 
Landexamen  auf  das  staatliche  Seminar  zu  Maulbronn,  dann  au6 
Tübinger  Stift  nnd  von  dort  entweder  auf  die  Kanzel  oder  au6 
Katheder,  das  ist  der  Lebenspfad,  den  der  begabte  Knabe  wandeln 
soll.  Welcher  Vater,  besonders  so  einer  wie  der  alte  Giebenrath, 
freute  sich  nicht  beim  Gedanken  an  eine  solche  Zukunft  seines 
Sohnes? 

Und  die  Lehrerl   ,,Die  Lehrer,  der  Rektor,  die  Nachbarn,  der 

Stadtpfarrer,  die  Mitschüler  und  jedermann  gab  zu,  der  Bub  sei  ein 
feiner  Kopf  und  übcrh.nipt  etwas  Besonderes.  Er  wird  natürlich, 
die  Ehre  des  Städtehen«  zu  wahren,  entsprechend  vorbereitet. 
Täglich  eine  oder  zwei  besondere  Unterrichtsstunden,  Griechisch 
und  Latein,  und  vier  Stunden  Mathematik  in  der  Woche  ist  ja  gar 
nicht  viel  und  für  einen  Schüler  wie  Hans  Giebenrath  ausreichend. 
So  wird  die  Zeit  nach  den  Schulstunden  ausgefüllt.  Für  die 
Sonntage  wird  fleissiges  Wiederholen  der  Grammatik  dringend  emp- 
fohlen. Natürlich  mit  Mass,  mit  Massl  Ein-,  zweimal  in  der  Woche 
spazieren  gehen,  ist  notwendig  und  tut  Wunder.  Bei  schönem 
Wetter  kann  man  ja  auch  ein  Buch  mit  ins  Freie  nehmen  —  du 
wirst  sehen,  wie  leicht  und  fröhlich  es  sich  in  der  frischen  Luft 
draussen  lernen  lässt."  Das  Angeln  freilich,  ob  er  auch  bitterlich 
weint,  gibt  Hans  auf,  seitdem  er  Schätze  aus  der  Tiefe  der  Wissen- 
schaft hebt;  damit  er  ja  nicht  zerstreut  werde,  nimmt  man  ihm 
seine  Kaninchen  ab;  das  kleine,  hölzerne  Wasserradchen  im  Garten 
wird  zerstört  und  die  Fischrute  mit  Beschlag  beleg^.  Der  Knabe 
bekommt  tiefHegende,  unruhige  Augen  mit  trüber  Glut,  er  hat 
beständig  Kopfschmerzen;  müde  und  matt  schlepjit  er  seine  haL:^ereo 
Glieder  umher.  Aber  er  besteht  in  quaivolier  Aufregung  das  Land- 
examen als  „Zweiter".  Nun  darf  er  zwar  seine  wohlverdienten 
Ferien  geniessen,  darf  auch  zu  seiner  Freude  angeln,  Fischniten 
schneiden  usw.  Doch  der  Ehrgeij  seiner  T.ehrer  ruht  nicht.  E' 
könnte  in  Maulbronn  nachlassen  —  man  hndet  m  ihm  einen  ver- 
derblichen Hang  zur  Träumerei  —  und  da  muss  vorgebaut  werden. 
Rektor  und  Stadtpfarrer  sind  „so  gütig",  ihn  die  Sprache  Homets 
und  in  das  Hebräische  jetzt  schon  einzuführen,  und  der 
Mathematiklehrer  ist  aufopfernd  genug,  ihm  die  Anfangsgrunde  der 


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Algebra  und  Stereometrie  begreiflich  zu  machen.  Im  Maiilbronner 
Seminar  bricht  er  zusammen. 

Eine  Mutter  hatte  fler  arme  Junge  nicht  mehr,  die  mit  liebendem 
Auge  seine  körperliche  iinlwlcklung  beobachtet  hätte.  Der  Vater 
Giebenrath  ist  viel  zu  stolz  auf  seines  Sohnes  Erfolge.  Was  der 
einfache,  gemütstiefe  Schuster  Flaie  sieht,  das  bleibt  dem  würdigen 
Vater  ein  Geheimnis:  dass  der  Knabe  Haut  und  Knochen  wird, 
weil  ihm  Luft  und  Bewegung  und  Erholung  fehlen. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die  Lehrer  In  der  Uberspannung 
seiner  Kräfte  das  geistige  Erlahmen  und  den  körperlichen  Verfall 
ihres  Sciiukrs,  in  dem  sie  ein  ehrgeiziges  Strebertum  geweckt« 
veischuldet  haben.  Daher  verstehen  wir,  dass  das  Buch  von 
gehamischten  Ausfallen  strotzt,  die  in  einer  Streitschrift  besser  nieder- 
gelegt  wären  als  in  einem  Roman.  So  viel  Lehrer  und  keiner  hat 
Einsicht,  so  viel  Pädagogen,  die,  so  wohl  sie  es  alle  meinen,  ein 
junges  Menschenleben  regelrecht  in  den  frühen  Tod  treiben! 

Doch  „Unterm  Rad"  ist  kern  Tendenzbuch  im  üblichen  Sinne; 
es  ist  eine  ernste  Dichtung,  die  ein  früh  veilöschendes  Menschen- 
leben  in  Liebe  und  Mitleid  schildert.  Darum  fühlen  wir  uns  überall 
von  der  Frage  umsponnen,  die  uns  alle  mehr  oder  weniger  bewegt: 
Bilden  wir  unsere  Jugend  recht?  Haben  wir  nicht  alle  Ursache, 
von  Hans  Giebenrath  zu  lernen,  dass  ein  Kind,  dass  ein  Junge 
doch  eine  Jugend  braucht!  Warum,  hatte  man  ihm  seine  Kaninchen 
weggenommen,  ihn  den  Kameraden  in  der  Lateinschule  mit  Absicht 
entfremdet,  ihm  Angeln  und  Bummeln  verboten  und  ihm  das  holile 
Ideal  eines  aufreibenden  Ehrgeizes  eingeimpft  ?  Nun  lag  er  zusammen- 
gebrochen am  Boden.  Wieder  nahmen  die  Lehrer,  der  Rektor 
und  der  Stadtpfarrer  an  seinem  Schicksale  teil.  Sie  erschienen 
sämtlich  in  Gehröcken  und  feierlichen  Zylindern,  begleiteten  den 
Leichenzug  und  blieben  am  Grabe  einen  Augenblick  stehen,  unter- 
einander flüsternd.  Der  Latcinlehrer  sali  besonders  melancholisch 
aus,  und  der  Rektor  sagte  leise  zu  ihm:  „Ja,  Herr  Professor,  aus 
dem  hätte  etwas  werden  können.  Ist  es  nicht  ein  Elend,  dass  man 
gerade  mit  den  Besten  fast  immer  Pech  hat?  Und  keiner  dachte 
etwa  daran,  dass  die  Schule  und  der  barbarische  Ehrgeiz  eines  Vaters 
und  einiger  Lehrer  dieses  gebrechliche ,  feine  Wesen  so  weit 
gebracht  hatten,  indem  sie  in  der  unschiildirr  vor  ihnen  aus- 
gebreiteten Seele  des  zarten  Kindes  ohne  Rücksicht  wüteten." 

Es  war  ein  hartes  Wort,  das  der  einfache  Schuhmacher  aus- 
sprach, als  er,  durch  das  Kirchhofstor  auf  die  abziehenden  Gehröcke 
deutend,  sagte:  „Dort  laufen  ein  paar  Herren,  die  haben  auch  mit- 
tle holfen,  ihn  so  weit  zu  bringen  —  und  damit  meinte  er  die 

Schulmeister.  Und  Sie,  Herr  N'nchbar,  „so  spricht  er  /um  Vater", 
haben  vielleicht  auch  mancherlei  an  dem  Buben  versäumt,  meinen 
Sie  nicht?" 


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—    284  — 


Man  spricht  so  viel  —  und  oft  in  falscher  Weise  —  von  dem 
Rechte  des  Kindes.  Ein  Recht  hat  aber  das  Kind  auf  alle  Fälle: 
Das  Recht  auf  Lebensfreude  und  Lebensmut,  die  auch  auf  der 
Schulbank  in  froher  Arbeit  erworben  und  gewonnen  werden  können, 
dann  nämlich,  wenn  die  Arbeit  auf  der  Schulbank  wechselt  mit 
reichlichem  Spiel  und  reichlicher  Freiheit  Hinweg  mit  dem  Obcr- 
mass  von  Hausaufgaben  und  Privatstunden  mancherlei  Art,  wenn  sie 
sich  der  notwendigen  Erholung  in  den  Weg  stellen  !  Der  Mensch  wird 
im  Leben  der  stärkste  sein,  dessen  Herz  sich  in  der  Kindheit  voll- 
gesogen  hat  von  Lebendireude  und  Lebensonut  £ine  selige  Kindheit 
ist  ein  Kapital,  das  gute  Zinsen  tragt 

Vor  n]lrn  Dintren  müssen  wir  nbcr  unsern  Kindern  die  Ferien 
ganz  und  ungeteilt  gönnen.  In  ^icii  1  rricn  sollen  sie  alle  Schulsorgen 
los  sein,  sollen  in  Garten,  Wald  und  Eiusü  sich  „ausleben",  sollen 
gemessen,  was  ihnen  die  Natur  darbietet  in  licht  und  Luft»  Sonne 
und  Wind,  sollen  sich  krafÜgen  zu  fröhlicher  geistiger  Arbeit 

In  dem  Erziehungsroman  „Einer  Mutter  Sohn"  hat  Clara 
Viebig  uns  einen  Fall  vorgeführt,  in  dm  die  Annahme  eines  Knaben 

an  Kindesstatt,  die  unvermittelte  Änderung  seines  Lebenslaufes 
aus  der  ärmlichsten,  entbehrungsreichsten  Umgebung  heraus  in  die 
gesättigte  Wärme  des  Wohlstandes,  zum  Unglücke  ausschlägt. 

Der  Roman  spielt  in  Berlin  und  ist  in  seinen  Grundzügen  sehr 
rasch  erzäUt  Das  vermögende  Ehepaar  SchUeben  Hebt  sidi  und 
ist  glücklich,  beide  haben  auch  höhere  geistige  Interessen.  Und 
doch  liegt  ein  Schatten  auf  dem  hellen  Grunde:  sie  haben  keine 
Kinder  —  „es  blüht  ihnen  keine  zweite  Jugend".  Zwar  schmiedet 
dieser  Mangel  ihren  Bund  um  so  fester;  einer  sucht  den  andern 
hinwegzuhelfen  über  das  tiefe  Weh  seines  Lebens;  aber  ...  die 
Sehnsucht?  Die  Frau  verzehrt  sich  so  vor  Verfangen  nach  einem 
Kinde,  dass  sie  nervös  wird  und  hysterisch  zu  werden  droht  Zur 
Heilung  dieser  Krankheit  werden  Reisen  von  einem  Bade  ins  andere 
unternommen;  aber  keine  Reisen,  keine  Arbeit  keine  Liebe  kann 
die  Sehnsucht  besiegen,  sie  wird  vielmehr  durch  den  Anblick 
hübscher  Kinder  nur  starker.  Da  findet  das  Ehepaar  in  der  Venn, 
in  der  Nähe  von  Spaa,  mitten  in  der  Wildnis  des  Waldes  ein 
wenige  Monate  altes  Kind  ohne  Kiesen,  ohne  Dcrkc,  in  ärmlichen 
Lumpen  gehüllt,  auf  der  hrde  liegen.  Es  ist  das  Kind  einer  lieeren- 
sammlerin,  deren  Mann  beim  Schmuggeln  von  Grenzjägern  erschossen 
worden  ist  und  die  mit  einer  grossen  Schar  von  unversorgten  Kindern 
in  g^össter  Armut  lebt.  Dem  armen,  wilden,  finstern,  stumpfen  und 
gleichL^iilt:<Tcn  Weib  kauft  das  Flhepaar  das  Kind  ab,  nimmt  es  an 
Kindesstatt  an,  bringt  es  nach  Berlin  und  erzieht  es  dort  in  einer 
der  Grunewaldvillen  mit  liebevollster  Sorgfalt.  Aber  obgleich  die 
beiden  Leute  alles  Erdenkliche  tun,  um  den  Jungen  wie  einen 


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—   285  — 


Sprössling  ihres  Hauses  aufwachsen  zu  sehen,  obwohl  besonders 
die  Frau  an  hingebender  Liebe  und  an  Opfermut  fast  Unmögliches 
leistet,  so  kann  doch  zwischen  dem  Knaben  und  den  Eltern  kein 

herzliches  Verhältnis  entstehen,  besonders  nicht  /wischen  ihm  und 
der  Mutter,  die  mit  leerer  Brust  neben  ihrem  Kinde  lebt,  das  nicht 
ihr  Kind  ist  Die  Eltern  finden  nicht  den  Weg  zum  Herzen  des 
sich  immer  wieder  finster  von  ihnen  absdiliessenden  jungen  Menschen, 
der,  nervenstark»  fast  brutal  kräftig,  der  Natur  sehr  nahe,  der  Kultur 
sehr  ferne  steht.  Er  sucht  sich  seinen  Wc*;,  der  weitab  führt  von 
dem  der  in  veredelten  Lebensbedingungen  erzogenen  und  in  sie 
hinein  gewöhnten  Eltern.  Es  gelingt  diesen  nicht,  seinen  Sinn  nach 
ihren  Wünschen  zu  verfeinem,  seinen  Geschmadc  zu  veredeln  und 
ihm  Geist  von  ihrem  Greiste  einzuflössen.  Die  Erziehung  des  Knaben, 
der  den  niedrigen  Leidenschaften  seiner  leiblichen  Eltern  aus  der 
Venn  verfällt  und  erschreckend  schnell  eine  Individualität  zeigt,  die 
nichts  gemein  hat  mit  der  Wesensart  der  Pflegeeltern,  wird  zu  einer 
furchtbaren  Seelenqual  für  beide  Parteien,  besonders  auch,  sobald 
er,  herangewachsen  und  veranlasst  durch  aufgefangene,  bösartig 
hingeworfene  Andeutungen  über  seine  Herkunft  und  erregt  durch 
eigenes  Nachdenken,  sich  die  Frage  nach  seinem  Ursprünge  vorlegt 
Durch  den  Vergleich  seiner  Gesichtszüge  mit  denen  der  Pflegeeltern 
kommt  er  zu  Zweifeln  an  seiner  rechtlichen  Zugehörigkeit  zu  den 
Pflegeeltern  und  spricht  diesen  Zweifel  in  liebloser  Weise  aus.  Ja, 
am  Tage  der  Konfirmation  öffnet  sich  der  Leidenschaft  seines 
Forderns  das  sorgsam  bewahrte  Geheimnis.  Der  kräfti^fp  ^^^esundc 
Jüngling  nimmt  die  Dinge  lächelnd  dankbar  hin,  wie  sie  nun  einmal 
liegen,  entwickelt  sich  aber  immer  weiter  nach  unten  und  bereitet 
den  £ltem  eine  Pein  nach  der  andern  durch  seinen  schlechten  Um> 
gang,  infolgedessen  er  einmal  sinnlos  betrunken  nach  Hause  kommt, 
durch  seine  Schulrlrnmachen,  durch  das  Krwachen  seiner  sinnlichen 
Gelüste,  so  dass  er  nur  mit  Mühe  aus  den  Händen  einer  schlechten 
Person  befreit  wird.  Gebrochen  an  Leib  und  Seele,  geht  er 
schliesslich  im  Sfiden,  wo  er  Genesung  hoffte,  zu  Grunde.  Sein 
früher  Tod  ist  nicht  allein  die  Folge  seines  wilden  Lebens,  er  wird 
beschleunipft  durch  eine  Herzschwäche,  die  von  einer  schweren 
Kinderkr.iiikhcic  zurückgeblieben  ist,  und  durch  eine  quälende  Sehn- 
sucht nach  semer  wirklichen  Mutter,  von  der  er  freilich  keine  klare 
Erinnerung  hat,  zu  der  ihn  aber  ein  heisses  Verlangen  stärker  zieht 
als  zu  der  edlen  Frau,  die  ihm  ihr  ganzes  Leben  geopfert  und  die 
infolge  des  Kummers  um  ihn  vor  der  Zeit  zur  Greisin  wird.  Am 
Sterbebette  wird  es  den  Adoptiveltern  klar,  dnss  sie  nicht  das  Recht 
hatten,  die  Pflanze  aus  ihrem  Erdreich  zu  reissen.  „Hätt'  ich  ihn 
dort  gelassen,  —  ach,  hätt'  ich  ihn  dort  gelassen !"  entringt  es  sich 
dem  Herzen  der  enttäuschten  und  gramerfüllten  Frau  am  ToteU' 
lager  des  Sohnes,  und  wie  aus  einem  Munde  flüstern  die  beiden 
Gatten:  „Vergib  uns  unsere  Schuld." 


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—   286  — 

Der  psychische  Vorgang,  den  Clara  Viebig  zum  Gegenstande 
dieses  Romans  gewählt  hat,  ist  durchaus  nicht  neu.  Das  Problem: 
Können  kinderlose  Ehepaare  durch  Annahme  eines  fremden  Kindes 
sich  selbst  die  volle  hlternstimmunfy  bereiten  und  dem  Kinde  ein 
ungetrübtes  Glück  schaffen?  ist  oft  von  Eltern  erwogen,  theoretisch 
von  Philosophen  erörtert,  von  Dichtem  behandelt  worden.  Qara 
Viebig  vertritt  den  Satz,  dass  in  dem  vorliegenden  Falle  mcdit  die 
Mutter,  die  das  Kind  verkauft,  ein  Verbrechen  begeht,  sondern 
dass  die  reichen,  kinderlosen  Leute,  die  ihre  Sehnsucht  nach  einem 
Sprössüng,  den  ihnen  die  iNatur  versagt  hat,  durch  den  ivauf  eines 
Kind^  befriedigen,  eine  grössere  Schuld  auf  sich  laden.  Die  Stimme 
der  Natur  sei  stärker  ate  die  Gewöhnung  und  Sitte;  ein  Mensch 
lasse  sich  nicht  verpflanzen  wie  ein  Tier  oder  eine  Bhime.  Diese 
Ansicht  ist  wohl  nicht  ganz  zutreffend :  denn  wenn  das  an- 
genommene Kind  in  ..Einer  Mutter  SdIih  gern  mit  Proletaricr- 
kindern  verkehrt,  über  Hecken  und  Zaune  klettert,  Räuber  und 
Gendarm  spielt  und  am  liebsten  wie  ein  junges  Füllen  sich  im  Wald 
und  Freien  tummelt,  so  sind  diese  Einzelzüge,  auch  die  später  \  or> 
kommenden  AuK-^rhreituniren  des  JünHinf^s  kein  Durchbruch  des 
eing'edämmten  iSlutes,  emcs  fortf^eerbten  Familiennaturelis.  Und 
das  ist  docli  wohl  auch  wahr,  dass  solch  wilder  Sprösshng  sich  oft 
leicht  an  das  vornehme,  verfeinerte  Leben  gewöhnt  und  auch 
innerlich  so  eng  mit  der  Welt  seiner  Pflegeeltern  verwächst,  dass 
er  keinerlei  Riickcrinnerungcn  an  die  X'ergangenheit  und  nur  in 
geringem  Masse  den  Naturinstinkt  seiner  eigentlichen  Eltern  bewahrt. 

Doch  den  Pädagogen  interessiert  mehr  die  andere  Frage,  die 
aus  dem  Roman  herausgelesen  werden  kann:  Vermag  die  Eraehung 
den  Wesenskem  des  Menschen  zu  beeinflussen,  ist  die  geistige 
Sphäre  des  jungen  Kindes  zu  heben,  oder  lenken  den  Gang  seiner 
Entwicklung  lediglich  die  ererbten  Charaktereigenschaften?  Gara 
Viebig  leugnet  in  dem  Romane  die  Erfolge  der  Erziehung,  den 
Einfluss  der  Kultur  auf  das  durch  die  Geburt  zur  Niedrigkeit 
bestimmte  Wesen.  Allerdings  liegen  triftige  Gründe  für  die  Erblich- 
keit gewisser  P-i genschaften  durch  Generationen  hindurch  \  cr,  und 
anderseits  hat  die  beste  Schulung  noch  nie  aus  einem  Dummkopfe 
einen  Weisen  machen  können.  Aber  es  darf  doch  nicht  übersehen 
werden,  dass  die  Anpassung  ein  Gegengewicht  gegen  die  Ver- 
erbung schafft.  Und  wenn  man  auch  nicht  alles  in  ein  Kind  hinein* 
erziehen  kann,  so  kann  man  aber  wohl  erreichen,  dass  der  Zögling 
seine  schlechten  Triebe  und  Rrrrjcrden  bis  rv  einem  gewissen  Grade 
beheiTScht,  ihre  Hässlichkeit  erkennt  und  fühlt. 

Darin  aber  ist  der  Dichterin  beizupflichten,  dass  man  bei  einer 
Annahme  an  Kindesstatt  nicht  dem  augenblicididien  Überwallen 
starker  Gefühle  folgen  darf,  sondern  dass  mit  weiser  Voreicht  die 
Verhältnisse  ins  Auge  zu  fassen  sind,  damit  nicht  allzuscharfe  Gegen* 
Sätze  unüberwindliche  Hindemisse  bereiten. 


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—   28;  — 


Mögen  auch  die  in  den  besprochenen  Erziehungsromanen 
befühlten  Fragen  noch  so  verschieden  sein,  eins  geht  aus  allen 
hervor:  das  Kind  mit  seiner  Fi<:fen;irt  ist  in  den  Mittelpunkt  der 

Erziehung  zu  stellen;  an!  die  Bildung  einer  Persönlichkeit  ist  hinzu- 
wirken, die  Antrieb  und  Richtung  des  Handelns  aus  ihrem  innersten 
Wesen  erhält 


IlL 

Die  Neugestaituiig  des  8pruchbuchs.O 

Von  Dr.  H.  TSgel,  Pirna. 

Über  drcissig  Jahre  sind  vergangen,  seit  die  1 50  Sprüche  des 
sächsischen  Memorierstoffs  zusammengestellt  worden  sind.  Da  ist  es 
selbstverständlich,  dass  in  den  Kreisen  derer,  die  ihn  im  Unterricht 
ZU  benutzen  haben,  das  Bedürfnis  nach  einer  Reform  empfunden 
wird.  Denn  diese  30  Jahre  sind  in  Kirche  und  Schule  reich  an 
innerer  Entwicklung  gewesen.  Dieses  Bedürfnis  hat  ir  der  Rede 
des  Herrn  Kultusministers  Dr.  Beck  vom  19.  Januar  1Q09  in  der 
zweiten  Sächsischen  Ständekammer  offizielle  Anerkennung  gefunden. 
Er  hat  an  dicsor  Stelle  gesagt:  „Es  gibt,  das  ist  nicht  zu  leugnen, 
eine  Menge  von  Sprüchen,  die  in  ihrem  Wortlaut  för  Kinderherzen 
nicht  ohne  weiteres  verständlich  sind  und  die,  wenn  sie  den  Kindern 
eingebleut  werden  müssen,  ihnen  ausserordentliche  Schwierigkeiten 
bereiten." 

Bisher  sind  mir  3  Versuche  zu  dner  Neugestaltung  des  Sprucfa- 
buchs  zur  Kenntnis  gekommen: 

T.  Die  Beiträge  zur  Neugestaltung  des  religiösen  Lernstoffs. 
Dem  Kgl.  Sächs.  Min.  des  Kultus  und  öffentlichen  Unterrichts  über- 
reicht von  Leipziger  Religionslehrern  1908.  Diese  Arbeit  lässt  bei 
der  Auswahl  der  Stellen  drei  Gesichtspunkte  bestimmend  sein, 
nämlich  den  allgemein-pädagogischen,  den  lehrhaft  «theologischen 
und  den  erbaulich-praktischen.  Meiner  Meinung  nach  muss  der 
zweite  Gesichtspunkt,  wie  ich  dann  nachweisen  will,  wegfallen.  Die 
Beiträge  schwächen  ihn  an  einer  späteren  Stelle  selbst  ab.  Sie 
wollen  die  Ordnung  nach  dem  Katechismus  beibehalten.  Von  den 
150  grossgedruckten  Sprüchen  des  Katechismus  wollen  sie  26  aus- 
sdialten  und  31  neu  aufnehmen,  so  dass  sich  als  Gesamtzahl  155 
ergibt   Mir  erscheinen  diese  Vorschläge  nicht  enei^gisch  genug. 

>)  Naeh  ehiem     der  Konferenz  von  Religionslehrern  an  höheren  Sehnlea  Suhienc 

gehaltenen  Vortrag  D- r  .\ufsatz  ^^cht  doshalb  Ubrrall  von  dem  Im  Königreich  SadlMII 
»eit  dem  9.  September  1877  offiziell  bcoutztcn  Spmchbuch  aus. 


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—   288  — 


Ausserdem  ist  es  mir  zweifeUiaft,  ob  durch  Abstimmung  in  einer 

Kommission  über  die  Zusammenstellung  der  einzelnen  Sprüche  zu 
einem  Spruchbuch  entschieden  werden  soll.  Lmer  muss  die  Arbeit 
machen.   Im  Einzelnen  kann  ja  dann  noch  geändert  werden. 

Der  2.  Versudi  „Unser  reli^öser  MemorieistoiT  im  Lichte  der 
Verkündigung  Jesu"  von  Herrn.  Pfeifer,  1908  enthält  viel  mehr,  ab 
man  nach  dem  Titel  vermutet,  nämlich  sehr  tiefgehende  theologische 
und  pädagogische  Betrachtungen  über  den  Inhalt  des  Katechismus. 
Erst  am  Ende  kommt  Pfeifer  ganz  kurz  auf  die  neue  Auswahl  des 
Spruchbuchs  zu  sprechen.  Er  bezeichnet  die  Anordnung  nach  dem 
läitechismtts  als  gefahriich.  Er  will,  dass  der  vorgeschriebene  Stoff 
auf  ein  tunlich  l  L:eringes  Mass  beschränkt  werde.  Zu  diesem 
Zweck  bezeichnet  er  etwa  50  Sprüche  als  entbehrlich.  15  macht 
er  namhaft,  die  neu  hin:^utrcten  können.  Ausser  den  Sprüchen  des 
Spruchbuchs  sollen  auch  solche  Sprüche  gelernt  werden,  die  den 
Höhepunkt  einer  Unterrichtseinheit  im  Sibellesen  kennzeidmen. 
Diese  Bibdstcllen  hat  sich  jeder  Lehrer  nach  seinen  unterrichtlichen 
BerUirfnissen  sclbst  ZU  wählen.  Pfeifer  geht  zu  wenig  auf  die  Einzel* 
heilen  ein. 

3.  liegen  vor:  „Vorschläge  für  eine  Durchsicht  des  in  den 
Schulen  Sachsens  vorgeschriebenen  Memorieistoffe"  von  Funke  1907. 
Durch  Kürzung  einer  Anzahl  Sprüche  und  Weglassung  andrer  wUl 

er  den  Umfant;  uni  vermindern.  Das  kleine,  11  Seiten  lanpe 
Schriftchen  krankt  meiner  Meinung  nach  an  Widersprüchen.  Ks 
sagt  ganz  richtig  „In  der  Kürze  liegt  die  Würze".  Trotzdem  will 
es  Phil.  2,  5 — II  beibehalten.  Dem  Sinne  nach  Schwerverständliches 
soll  wegfallen.  Trotzdem  will  es  2.  Kor.  5.  17 — 21  „Gott  war  in 
Christo  und  versöhnte  die  Welt  mit  ihm  selber  usw."  wieder  her- 
stellen.   Es  fehlt  an  durchgreifenden  Gesichtspunkten. 

In  einem  Punkt  stimmen  alle  drei  Vorschläge  überein,  nämlich 
darin,  dass  sie  nicht  nur  weglassen,  sondern  auch  hinzusetzen 
wollen.  In  der  Tat  stehen  nicht  nur  Spräche  in  unserm  Sprudibudi. 
die  unkindlich  oder  übermassig  lang  sind.  Es  fehlen  auch  solche, 
die  nach  allen  Seiten  hin  vorzüglich  für  den  Unterricht  passen.  Ich 
nenne  z.  B.  Matth.  10,  17:  ,,Seid  klu^  wie  die  Schlangen  und  ohne 
Falsch  wie  die  lauben."  Hat  man  an  der  Schlangenklugheit 
Anstoss  genommen?  Aber  es  ist  ein  Wort  des  Herrn  für  sebe 
Jünger!  Is  ist  kurzi  wertvoll,  leicht  verstandlich,  anschaulich.  Oder 
Joh.  9,  4  „Ich  muss  wirken,  so  lanj^e  es  Tag  ist.  Es  kommt  die 
Nacht,  da  niemand  wirken  kann."  Die  teste,  fromme  Männlichkeit 
dieses  Wortes  ist  auf  das  Leben  der  Gegenwart  wie  zugeschnitten 
und  ist  unendlich  schöner  als  das  pessimistische,  viel  zu  vid 
gebrauchte  Wort  Carlyles  „Arbeiten  und  nicht  verzweifeln'',  bei  den 
ich  immer  zusammmcngekniffne  Lippen  und  krampfhafte  Rewe^iin  j^en 
vor  mir  sehe.  Au.s  dem  Römerbrief  stanimen  14  vnn  1 50  Sprücheu, 
und  doch  fehlt  Körn.  12,  12  :  „Seid  fröhlich  in  Hoitnung,  geduldig 


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—   289  — 


in  Trübsal,  haltet  aa  am  Gebet''  Hat  Paulus  in  einer  jener 
14  Stellen  die  Stimmung  des  wehrhaften  Christen  so  kindlich  einfach 

und  rhythmisch  schwungvoll  zum  Ausdruck  f^cbracht,  wie  gerade 
hier?  Es  muss  also  zugleich  die  ganze  Bibel  neu  durchforscht 
werden,  um  keine  der  schönsten  Blüten  am  Wege  stehen  zu  lassen. 
Bäne  Neuwahl  der  biblischen  Sprüche  hat  stattzufinden,  eine  Um- 
arbeitung der  SamnUung^. 

Wir  werden  dabei  am  besten  vorgehen,  wenn  wir  zuerst  die 
Sprüche  unsers  Spruchbuchs  prüfen  und  die  ausscheiden,  die  uns 
nicht  geeignet  erscheinen.  So  haben  wir  den  Stamm  gewonnen, 
der  bleibt.  Es  wird  ein  recht  grosser  Prozentsatz  sein.  Dann 
müssen  wir  die  ganze  Bibel  nach  Sprüchen  durchforschen,  die 
bisher  vernachlässigt  worden  sind.  Vor  allem  gilt  es  zunächst, 
innerliche  Massstäbe  zu  finden,  an  denen  wir  die  Sprüche  messen 
können. 

Grundsätze  bei  der  Aiswahl. 

Zu  welchem  Zweck  lassen  wir  Bibelsprüche  lernen?  Luthers 
Geburtsbnct  unsrer  Spruchbücher  aus  der  deutschen  Messe  und 
Ordnung  des  Gottesdienstes  von  1526  iuiirt  uns  auf  den  richtigen 
Weg.  Hier  heisst  es:  „Man  gewöhne  das  Kind,  aus  den  IVedigten 
Sprüche  der  Schrift  mit  sich  zu  bringen  und  den  Eltern  au&usagen, 
wenn  man  essen  will  über  Tische  [gleichwie  man  vorzeiten  das 
Latein  aufzusagen  pflegte),  und  darnach  die  Sprüche  in  die  Säcklein 
und  Beutlein  stecken,  wie  man  die  Pfennige  und  Groschen  oder 
Gulden  in  die  Taschen  steckt.  Als,  des  Glaubeos  Sacklein  sei  das 
goldne  Säcklein;  in  das  erste  Beutlein  gehe  dieser  Spruch,  Röm.  5,  I2: 
An  clnis  Einzigen  Sünde  sind  sie  alle  verdammt  worden;  und  der, 
Ps.  51,  7:  Siehe,  in  Sünden  bin  ich  empfangen,  und  in  Unrecht 
trug  mich  meine  Mutter.  Das  sind  zwei  rheinische  Gulden  in  das 
Beutlein.  In  das  andre  Beutlcin  gehen  die  ungarischen  Gulden,  als 
dieser  Spruch,  Röm.  4,  2$ :  Christus  ist  für  unsre  Sünden  gestorben 
und  für  unsre  Gerechtigkeit  auferstanden;  item  Joh.  I,  29:  Siehe 
das  ist  Gottes  Lamm,  das  der  Welt  Sünde  trägt.  Das  wären  zwei 
gute  ungarische  Gulden  in  das  Beutlein.  Der  Liebe  Säcklein  sei 
das  silberne  Säcklein.  In  das  erste  Beutlein  gehen  die  Sprüche 
vom  Wohltun,  als  GaL  5,  13:  Dient  untereinander  in  der  Liebe; 
Matth*  25,  40:  Was  ihr  einem  aus  meinen  Geringsten  tut,  das  habt 
ihr  mir  selbst  getan.  Das  wären  7wei  silberne  Groschen  in  das 
Beutlein.  In  das  andre  Beutleni  L^ciic  dieser  Spruch  Matth.  5,  11  : 
Selig  seid  ihr,  so  ihr  verfolget  werdet  um  meinetwillen;  Hebr.  12,  6: 
Wen  der  Herr  liebt,  den  züchtigt  er,  er  stäupt  aber  einen  jeglidien 
Sohn,  den  er  aufiümmt  Das  sind  zwei  Schreckenberger  in  das 
Beutlein."  Dass  an  dieser  Stelle  Glaubr  nicht  etwa  als  die  An- 
nahme von  theoretischen  Kirchenlehren  mit  dem  Verstand  gemeint 

FMagofUdM  Slodlco.  ZXJC.  4.  19 


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—    290  — 


ist,  geht  daraus  hervor,  dass  Luther  wenige  Zeilen  vorher  gescfarieben 
hat:  „Was  heisst  an  Grott,  den  AUmäditigen,  glauben?  Antwort: 
Es  heisst,  wenn  das  Herz  ihm  ganz  vertraut  und  sich  aller  Gnade, 
Gunst,  Hilfe  und  Trost  vm  ihm  gewisslich  versieht,  zeitlich  und 
cwigHch."  Um  Glaube  und  Liebe  also  handelt  es  sich  bei  den 
Sprüchen,  um  Angelegenheiten  des  Herzens  und  der  Hand,  des 
Fühlens  und  des  Wollens,  nicht  um  solche  des  Kopfes  und  des 
Verstandes. 

Auch  aiif  dem  Gebiete  des  profanen  Lebens  merke  ich  mir 
theoretisolic  Wahrheiten  nicht  wörtlich.  Die  Philosophie  und  die 
Naturwissenschaft  prägt  ihre  Ergebnisse  niclit  zu  kuricn  bauen,  auf 
deren  einzelne  Worte  es  ankäme.  Dagegen  laufen  unzählige  Sprich' 
Wörter  von  Mund  zu  Mund,  die  alle  auf  das  praktische  Leben  hin- 
zielen und  den  Willen  beeinflussen  wollen.  Bej^rififÜrhrn  P>;^cbnissen 
widerstrebt  es  sogar,  sich  in  eine  nni'errijckbare  l  orm  zwängen  zu 
lassen.  Denn  das  ist  gerade  das  Wesen  des  begrifflichen  Denkens, 
dass  es  zwischen  den  Vorstellungen  hin-  und  herwandelt  und,  ihre 
Beziehungen  beschauend,  zwbchen  ihnen  schwebt.  Es  muss  fah^ 
sein,  sich  beständig  neu  zu  erzeugen,  wenn  es  Leben  in  sich  behalten 
soll.  Genaue  Wortfii^nng^  und  Satzbildung  hemmt  diese  Möglichkeit 
Es  ist  deshalb  auch  falsch,  im  fremdsprachlichen  Unterricht 
grammatische  Regeln  oder  in  der  Mathematik  Lehrsätze  wörtlich 
einprägen  zu  lassen.  Ganz  anders  ist  es  mit  Gefühlen  und 
Strebungen.  Sie  haften  am  Wort  und  an  der  Wendung  der  Rede. 
Die  Seele  des  Dichters  drückt  sich  in  kaum  merkbaren  Modulationen 
der  Sprache,  in  der  Wahl  der  Worte  aus.  Man  versuche  es,  ein 
bekanntes  lyrisches  Gedicht  in  andern  Worten  wiederzugeben.  Die 
Seele  des  Dichters  ist  entflohen,  der  Hauch  innersten  peisonlichen 
Lebens,  der  die  Hauptsache  ist,  ist  entschwunden.  Den  Verstand 
des  Denkers  haben  wir  auch  in  dem  unbehilflirhen  Stil  eines  Kant, 
dessen  Ausdrucksweise  wir  am  liebsten  vergessen,  nachdem  wir  den 
Sinn  der  Worte  crfasst  haben.  Was  auf  Herz  und  Gemüt  wirken 
\riU.  muss  eine  festgefügte  Form  haben;  was  den  Kopf  bereichem 
SoU,  bedarf  einer  solchen  festen  Fügung  nicht. 

So  ist  es  in  noch  hol. crem  Masse  attf  drm  Gebiete  des  religiösen 
Lebens.  Die  Religionstiftcr  reden  m  Spruchen,  die  Philosophen 
halten  Lchrvorträge.  Die  Worte  Christi  sind  absichtlich  kurz  und 
anschaulich,  damit  sie  sich  die  Jünger  merken  konnten,  und  wir 
sind  überzeugt,  dass  äe  sich  auch  dem  Wortlaut  nach  im  wesent« 
liehen  unverändert  ihren  stark  fühlenden  und  heftig  wollenden 
Seelen  eingruben.  Also  nur  bei  Sprüchen,  die  auf  Gefühl  und  Willen 
wirken,  kommt  es  auf  den  genauen  Wortlaut  an. 

Warum  aber  lassen  wir  solche  Worte  auswendig  lernen?  Warum 
lassen  wir  profane  Gedidite  lernen?  Danut  die  Kinder  später 
einmal  ihre  schwach  g^mmenden  Gefühle  für  die  Natur,  für  Vater- 
land und  Mitmenschen  und  was  sonst  das  Herz  bewegt,  durch  die 


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weit  stärkere  Seele  des  Dichters  zur  hdlen  Flamme  anfachen  lassen 
können,  und  damit  sie  so  starker  zu  richtigem  Handeln  angespornt 

werden.  VV'cnn  der  Mann  oder  die  Frau  nach  zwanzig  Jahren  am 
ersten  Frühlingstag  zur  Arbeit  gehen,  da  soll  es  in  ihnen  wieder 
aufklingen:  ,J)ie  Unden  Lüfte  sind  erwacht,  sie  wehen  und  säuseln 
Tag  und  Nacht  usw."  Die  Seele  Uhlands  stärkt  und  verfeinert  ihr 
eignes  Innenleben.  Oder  wenn  das  frühere  Schulkind  draussen  in 
der  Fremde  unter  fremdsprachigem  Volke  in  Gefahr  ist,  nach  der 
schlimmen  Art  des  Deutschen  Sprache  und  Wesen  an  die  andern 
zu  verlieren,  dann  soll  es  Schillers  Wort  antreiben,  sein  Deutschtum 
zu  wahren: 


'  i,Ai»  Valeriud,  was  tcore  sdiHcH  «ttcli  an. 

Das  halte  fest  mit  deinem  ganzen  Herzen, 
Hier  sind  die  starken  Wunteln  deiner  Kraft; 
Dort  in  der  fremden  Welt  stctut  du  allein, 
Eia  schwankes  Rohr»  das  jeder  Stnm  serkaickt," 


Ebenso  soll  es  bei  den  Blbelsprflchen  sein.  Ein  Geschäftsmann 
konmit  nicht  recht  vorwärts  und  hat  Sorgen.    Dazu  ist  er  nervös 

geworden  und  fühlt  sich  nicht  mehr  dem  Kampfe  ums  Dasein 
gewachsen.  In  der  Nacht  kann  er  nicht  schlafen  Fr  ist  religiös 
gesinnt  j  aber  auch  die  Religion  ist  matt  und  kümmerlich  geworden. 
Da  iälltihm  das  Felsenwort  aus  dem  73.  Psalm  ein:  „Dennoch  bleibe 
ich  stets  an  dir;  denn  du  hältst  mich  bei  meiner  rechten  Hand.  .  . . 
Wenn  mir  gleich  Leib  und  Seele  verschmachtet,  so  bist  du  doch, 
Gott,  allezeit  meines  Herzens  Trost  und  mein  Teil."  Daran  richtet 
sich  seine  schwache  Kraft  auf.  Neues  Vertrauen  und  neue  Lebens- 
freudig^eit  strömt  aus  der  Seele  des  Päafandlchtecs  in  seine  Seele 
Über.  Den  Gatten,  der  den  Tod  der  Gattin  betrauert,  tröstet  auf 


El  wird  gesSet  verwcslich, 

und  wird  auferstehen  unverweslich.  ' 
Es  wird  gesäet  in  Unehre, 

und  wird  auferstehen  in  Herrlidlkeit, 
Es  wird  geslet  in  Schwachheit» 

und  wiH  anfientelwB  in  Kraft." 


Beide  Beispiele  entstammen  meinem  zufälligen  Erfahrungskreis 
und  sind  nicht  erfunden.  Freunde  sollen  die  Bibclworte  dem  Kinde 
werden,  Vertraute,  die  ihm  auf  seinem  Lebenswege  gerade  dann 
mdien,  wenn  er  sie  nötig  braucht.  Sie  stehen  also  völlig  im  Dienste 
des  praktischen  religiös-sittlichen  Lebens. 

Während  Luther  selbst  lediglich  an  solche  Lebensworte 
gedacht  iiat,  wäiircnd  dementsprechend  das  erste  Spruchbuch  der 
evangelischen  Kirche,  nämlich  die  Haustafel  in  Luthers  kleinem 
Katechismus,  einen  durdiaus  praktischen  Charakter  zur  Schau  trägt, 
kommt  bald  ein  neues,  störendes  Moment  dazu.  Der  Orthodoxismus 
des  17.  Jahrhunderts  betrachtet  die  Bibel  vor  allem  als  eine  Fund- 


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grübe  för  Belegstellen  zu  den  Lehren  der  Kirche.  Danach  durch- 
sucht er  sie,  pflückt  diese  Stellen  aus  dem  Zusammenhalt  heraus 

imd  füllt  mit  ihnen  die  S})riic]ibüchcr.  Diese  neue  Betrachtung  der 
Sprüche  wird  durch  eine  neue  Kinteilung  verstärkt.  Luthers 
reizende  Einteilung  in  Säcklein  und  Beutelein  haben  wir  erwähnt 
Trotzendorfs  Rosarium,  „Ein  Kranz  von  Rosen,  genommen  aus  dem 
Paradis  des  Herrn",  vom  Jahre  1568  teilt  nach  den  Sonntagstexten 
des  Kirchenjahres,  das  Panarcton  Neanders  von  1580  nach  den 
Büchern  der  Bibel,  die  kursächsische  Schulordnung  von  1580  in 
tröstliche  und  lehrreiche  Sprüche  ein.  Jetzt  aber  tritt  im  Anfang 
des  17.  Jahrhunderts  das  „Grundbuch  der  Religion"  mit  einer  Ein* 
teilung  nach  dem  Katediismus  auf.  In  der  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts lernt  man  in  Frankfurt  und  Hessen  nur  nOCh  Katechismus* 
Sprüche.  Diese  Einteilung  behält  der  Pietismus  bei,  und  auch  gegen- 
wärtig noch  sind  die  meisten  der  in  Deutschland  benutzten  Spruch- 
bücher so  eingerichtet.  Dies  bringt  die  grosse  Gefahr  mit  sich, 
dass  man  die  Sprüche  nicht  danach  auswählt,  ob  sie  liir  das 
praktisclie  Seelenleben  des  Christen  passen,  sondern  danach,  ob  die 
betreffenden  Stellen  des  Katechismus  alle  dvirrh  Hibelstellen  belegt 
sind.  Auch  im  sächsischen  Spruchbuch  tragen  noch  eine  <;rössere 
Anzahl  Sprüche  den  Charakter  von  Belegstellen.  Joh.  15,  26  z.  B. 
ist  offenbar  nicht  aus  einem  praktisch-religiösen  Bedürfnis  au%enommcn 
worden,  sondern  als  Stütze  für  die  Lehre  vom  heiligen  Geist 
2.  Tim.  V  15 — 17  soll  nicht  zur  praktischen  Rcnutzun«:^  der  Schrift 
auffordern  denn  diese  sehr  nntirre  Aufgabe  erfüllt  das  daneben- 
stehende Wort  Ps.  119,  105  „Dem  Wort  ist  meines  Fusses  Leuchte 
und  eui  Licht  auf  meinem  Wege",  schöner  und  nachdrücklicher. 
Sicher  haben  die  Worte  „alle  Schrift,  von  Gott  eingegeben"  dieses 
Wort  als  Stütze  für  die  Lehre  von  der  Verbalinspiration  empfohlen. 
Wer  ein  Wort  wie  Hebr.  II,  3  „Durch  den  Glaub»fi  merken  wir, 
dass  die  Welt  durch  Gottes  Wort  fertig  ist,  dass  alles,  das  man 
siehet,  aus  nichts  worden  ist",  zum  Lernen  empfehlen  kann,  dem 
fehlt  der  Sinn  für  die  Behandlung  der  Sprüche  im  Religionsunterricht 
völlig.  Nun  soll  hier  nicht  etwas  über  den  theologischen  Wert 
dieser  Belegstellen  oder  auch  über  ihre  Benutzung  im  Unterricht 
gcsafjt  werden.  Die  ganze  Bibel  steht  dem  Lehrer  offen.  Aber 
sie  eignen  sich  nicht  zum  Auswendiglernen.  Der  schlichte  Christ 
braucht  im  Leben  kein  Rüstzeug  zum  Disputieren  über  theologische 
Fragen,  keine  Zitate  aus  der  Bibel,  die  er  zu  solchen  lehinaften 
Zwecken  Vicrcit  haben  müsste.  So  ungefähr  dachte  man  es  sich 
im  17.  Jahrhundert.  Dieses  intellektualistischc  Motiv  bei  der  Aus 
wähl  der  Sprüche  muss  gänzlich  wieder  ausgeschieden  werden. 
Wir  müssen  wieder  zu  Luthers  Beutlein  des  Glaubens  und  der  Liebe 
zurücldcehren.  Die  erste  und  zugleidi  wichtigste  Forderung  bei  tiner 
Neuauswahl  des  Spruchbuches  lautet  also:  Praktische  Lebensworte; 
nicht  theoretische  Belegstellen. 


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Eine  weitere  Forderung  dürfte  nur  in  seltenen  FäHm  in  Tätigkeit 
treten.  Man  hat  bisher  die  Sprüche  aus  dem  Zusammenhang  heraus- 
genommen, ohne  sich  um  diesen  zu  kümmern.  Man  nahm  den  Sinn 
des  Wortes,  wie  er  sich  an  der  Oberfläche  kund  tut.  Dieser  Sinn 
des  isolierten  Wortes  sdmmt  nun  meistens  mit  dem  auf  wissen- 
schaftlichem Wege  gefundenen  Sinn  des  verbundenen  Wortes  im 
wesentlichen  überrin.  Ks  ist  nher  auch  denkbar,  dass  dies  nicht  der 
Fall  ist,  dass  der  Smn,  um  dessen  willen  ein  Wort  dem  Spruch- 
schatz einverleibt  worden  ist,  bei  näherer  Untersuchung  anders  ist. 
So  ist  z.  B.  sicher  das  bekannte  Wort  Joh.  5,  39  „Suchet  in  der 
Srhrift;  denn  ihr  meinet,  ihr  habet  das  ewige  Leben  darinnen,  und 
sie  ist's,  die  von  mir  zeuget"  deshalb  aufj^enommen  worden,  weil 
darin  eine  Aufforderung  zum  Bibcllesen  gesehen  wurde.  Tatsächlich 
ist  man  jetzt  einer  Meinung,  dass  dem  Zusammenhang  entsprechend 
der  Sinn  ist:  „Ihr  Pharisäer,  die  ihr  nicht  an  mich  glaubt,  studiert 
ja  so  emsig  in  den  Schriften  des  Alten  Testaments,  um  hier  ewiges 
Leben  zu  finden.  Und  doch  weisen  sie  auf  mich  hin.  Warum 
folgt  ihr  diesem  Wegweiser  nicht,  damit  ihr  bei  mir  Leben  findet?" 
Damit  verliert  der  Spruch  den  für  uns  wichtigen  Tunkt,  und  es 
widerspricht  der  gewissenhaften  Wahrheitsliebe,  ihn  eines  Sinnes 
wegen  lernen  zu  lassen,  der  g^r  nicht  in  ihm  liegt  Oder  man  lese 
im  Zusammenhang  Hebr.  3,  1—6.  Man  wird  deutlich  finden,  dass 
das  Wort  „Kin  jegliches  Haus  wird  von  jemand  bereitet.  Der  aber 
alles  bereitet,  das  ist  Gott"  in  diesem  et\\'as  spitzfindigen  .Syllogismus 
gar  nicht  die  Bedeutung  hat,  die  man  ihm  gewöhnlich  zuschreibt. 
Wissenschafdiche  Zuverlässigkeit  können  wir  diese  Fordernis 
formulieren. 

Diesen  Gesichtspunkten  über  den  Inhalt  muss  eine  klare  .\n' 
schauung  über  die  nötige  Form  an  die  Seite  treten.  Wir  haben 
schon  gesehen,  aus  welchem  Grunde  gerade  bei  Lebensworten  die 
Form  bedeutungsvoll  ist  Poetischer  Schwung  ist  wünschenswert 
Nüchterne  Sachlichkeit  ist  nicht  geeignet,  Gefühle  zu  tragen  und 
Strebungen  zu  wecken.  2.  Mos.  20,  8 — lO  haben  wir  ein  Beispiel 
dafür.  Knapp  und  bestimmt  wird  zuerst  das  Gesetz  fixiert: 
„Gedenke  des  Sabbattagcs,  dass  du  ihn  heiligest."  Dann  folgen 
klare  ErlauterunCTbestimmungcn:  „Sechs  Tage  scdlst  du  arbeiten 
und  alle  deine  Dinge  beschicken;  aber  am  siebenten  Tage  ist  der 
Sabbat  des  Herrn,  deines  Gottes."  Logisch  richtig  geordnet  werden 
zuletzt  die  Subjekte  aufgezählt,  auf  die  sich  das  Gesetz  bezieht: 
„Da  sollst  du  kein  Werk  tun,  noch  dein  Sohn,  noch  deine  Magd, 
noch  dein  Vieh,  noch  dein  Fremdling,  der  in  deinen  Toren  ist" 
Dieser  Stil  ist  für  eine  GesetzessteOe  vorzüglich;  denn  juristische 
Sadilichkeit  und  Logik  bt  hier  die  durch  den  Zweck  geforderte 
Eigenschaft.  Wir  aber  wünschen  nicht  Sachlichkeit  und  Logik, 
sondern  Schwung  und  Gefühlswärme.  Man  vergleiche  damit 
Ps.  139,  /  — 10: 


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„Wo  soll  iell  hinpchen  vor  deitiem  Heist 

Und  wo  soll  ich  hintlichen  vor  deinem  Angesicht? 
Fflhre  ich  gen  Himmd,  so  bist  du  auch  da. 

Bettete  ich  mir  in  die  Mölle,  liehe,  SO  bist  du  anch  da. 
XShme  ich  Flügel  der  Morgenröte 

Und  bliebe  am  &ussersten  Meer, 
So  würdt-  inii-h  doch  dtnnr  Hand  daselbst  (tthrea 

Und  dtinc  kt-chlt  mich  Imlten." 

Das  ist  die  P'orm  der  Sprüche,  wie  wir  sir-  brauchen.  Freilich 
können  wir  nicht  nur  Poesie  bieten.  Aber  auch  in  Prosa-Sprüchen 
findet  sich  vieles,  bei  dem  die  Form  besonders  schön  ist  und 
poetisdieQ  Schwune  beatzt  Von  den  Worten  Christi  ist  £es 
bekannt  Aber  audi  bei  Paulus  findet  sich  genug.  Man  denke  an 
I.  Kor.  13,  I — 3.  Vieles  in  seinen  Sdiriften  hat  rhythmische 
Gliederting: 

Frettct  euch  mit  den  Frühlichen, 
Und  weinet  mit  den  WdneiMlen. 

oder: 

Irret  euch  nicht, 

Gott  liist  sieb  nicht  spotten; 
Denn  was  der  Mensch  sSet, 

das  wird  it  «Tnlcn. 
Wer  auf  sein  Fleisch  säet, 

der  wird  von  dem  Fleisch  des  Verdeihen  ernten. 

Wer  ahor  auf  den  Geist  säet, 

der  wird  von  dem  Gci^t  daa  ewige  Leben  ernten. 

Ferner  ist  Nüchternheit  und  Schlichtheit  nicht  zu  verwechseln. 
Nüchtern  ist  z.  B.  Jakobus:  „So  jemand  das  g^nze  Gesetz  häh  und 
sündigt  an  einem,  der  ist's  ganz  schuldig",  schön  in  seiner  Schlicht- 
heit Petrus: 

Tut  Ehre  jedermanl 
Habt  die  Brüder  lieb! 

Fürchtet  Gott! 

Cbret  den  König  ( 

oder  Christus: 

„Geben  ist  seliger  denn  Nehmen/* 

Aus  demselben  Grunde  müssen  wir  so  viel  wie  möglich  an  der 
Übersetzung  Luthers  festhalten.  Seine  Sprachgewalt  läst  es  uns 
oft  vergessen«  daas  wir  unsre  Sprüche  nicht  in  der  Ursprache  vor 
uns  haben.  Moderne  Übertragungen  muss  jeder  Lehrer  aus  wissen- 
schaftlichen Gründen  bei  seiner  Vorbereitung  heranziehen.  Aber 
sie  können  ihren  wissenschaftlichen  Ursprung  in  der  Nüchternheit 
ihrer  Sprache  nicht  verleugnen.  In  den  Lutherworten  berühren  wt 
uns  Zürich  mit  der  Seele  Luthers,  deren  Schwingungen  wir  in 
ihnen  /ii  sj>{iren  meinen.  .A-Uch  altertümliche  Wendungen  haben 
ei-icn  iH  stiinmti  Kr\7.,  einen  gewissen  Stimmungswert.  Alte  Forniefi 
und  W  orte  kUngen  oft  edler  als  moderne.    Auch  im  Sprichwort 


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lieben  wir  sie:  „Gleiche  Brüder,  gleiche  Kappen."  „Wie  die  Alten 
sungen,  so  zwitschern  auch  die  Jungen.  '  „Es  ist  nichts  so  fein 
gesponnen,  Es  kommt  endlicii  an  die  Sonnen,"  So  möge  denn 
ruhig  weiter  gelernt  werden:  „Wes  das  Herz  voll  ist,  des  gehet 
der  Mund  über."  „Selig  sind,  die  reines  Herzens  sind."  „So  ihr 
den  Menschen  ihre  Fehler  vergebet,  so  wird  euch  euer  himmlischer 
Vater  auch  vergeben."  Anders  ist  es  mit  Wendungen,  die  uns 
jetzt  sonderbar  anmuten  wie  z.  B.  Ps.  139,  14  „Ich  danke  dir  darüber, 
dass  ich  wunderbarlich  gemacht  bin;  wunderbarlicb  sind 
deine  Werke,  und  das  erkennet  meine  Seele  wohl"  oder  Eph.  4,  2$ 
„Leget  die  I-üge  ab  und  redet  die  Wahrheit,  ein  jeglicher  mit  seinem 
Nächsten,  sintemal  wir  untereinander  Glieder  sind."  „Wunder- 
barUch"  und  „sintemal"  haben  einen  komischen  Beigeschmack 
erhalten.  Anderes  ist  unverstandlich  geworden  z.  B.  „Es  ist  ein 
grosser  Gewinn,  wer  gottsdig  ist  und  lasset  ihm  genügen.  Denn 
die  da  reich  werden  wollen,  die  fallen  in  Versuchung  und  Stricke 
und  viel  törichter  und  schädlicher  T  üste."  Die  alte  Ein- 
setzung des  persönlichen  Fürworts  für  das  rückbezügliche  und  der 
alte  Genitivus  partitivus  stören  hier. 

So  lauten  unsere  Forderungen  in  Bezug  auf  die  Form:  Der 
Wortlaut  muss  so  sein,  dass  Gemüt  und  Wille  angeregt  werden. 
Nüchterne,  verstand esmässige  Form  schliesst  von  der  Aufnahme  aus. 
Altertümliche  Wendungen  aus  dem  Lutherdeutsch  sind  beizubehalten. 
Störendeä  ist  zu  beseitigen. 

Bisher  sind  wir  vom  Spruche  ausgegangen.  Jetzt  müssen  wir 
als  Ausgangspunkt  die  Kinder  ins  Auge  lassen,  die  die  Sprüche  in 
sich  aufnehmen  sollen.  Hierbei  ist  von  vornherein  die  Meinung 
abzuweisen,  dass  etwas  dem  Gedächtnis  der  Kinder  einverleibt 
werden  möge,  was  sie  erst  später  verstehen  werden.  Saat  auf 
Hoffnung  gibt  es  hier  in  diesem  Sinne  nicht  Wer  meint,  dass 
etwas  Unverstanden  gelernt  werden  soll,  der  hat  die  letzten  300  Jahre 
Entwicklung  der  Pädagogik  nicht  mit  gemacht,  der  lebt  pädagogisch 
noch  hinter  Comenius.  Bevor  die  Kinder  etwas  lernen,  müssen  sie 
es  verstanden  haben.  Was  ihnen  nicht  zum  Verständnis  zu  bringen 
ist,  das  dürfen  sie  auch  nicht  lernen.  Was  ich  ohne  Verständnis 
lerne,  dem  haftet  die  Spinnwebe  des  Stumpfsinns  an,  und  es  bdiält 
auch  seine  graue  Farbe,  wenn  dann  die  Zeit  gekommen  ist,  wo  es 
verstanden  werden  könnte.  Es  heisst  dies  nicht  „Saat  auf  Hoffnung" 
säen,  sondern  den  Ackerboden  untauglich  machen,  bevor  die  Saat 
gesät  und  aufgegangen  ist  Wenn  Baumgarten  in  seinen  Neuen 
Bahnen  fiir  den  Religionsunterricht  sagt:  ,^ch  eifre  nicht  d^^egen, 
dass  dann  vieles  unverstanden  memoriert  würde;  das  wäre  ja  nur 
normal  und  gesund  für  das  mechanische  Gedächtnis.  Wenn  der 
Stoff  nur  schön  und  der  Mühe  wert  und  in  seinem  Werte  geahnt 
ist,  dann  lasse  man  ihn  rullig  auch  unverstanden  einprägen,"  so 
wandelt  er  damit  in  uralten,  veriassenen  Pfaden  und  bewebt  nur» 


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dass  er  nicht  von  der  Pädago^k  herkommt.  Diese  Praxis  stammt 
aus  Zeiten,  in  denen  der  päda^^ogisrho  Gedanke  noch  nicht  lebendig 
genug  war.  Die  Rede  von  der  „baat  auf  Hofthung"  ist  nur  eine 
naditraglich  entstandene  Schutzidee,  um  das  nunmehr  vorhandene 
pädagogische  Gewissen  zu  beruhigen.  Es  gilt  hier  aber,  alte  Fehler 
gut  zu  machen,  nicht  zu  hcschönicrcn.  Es  mii^s  (1er  liinprä^ung 
eines  Spruches  stets  eine  zweckentsprechende  Bchandlun»:^^  voraus- 
gehen ;  wenn  eine  solche  unmöglich  zum  Verständnis  führen  kann, 
hat  der  Spruch  wegzubleiben.  Der  Spruch  2*  Kor.  5,  17 — 21: 
JsX  jemand  in  Christo,  so  ist  er  eine  neue  Kreatur  usw."  ist 
deshsdb  mit  Recht  in  der  gegenwärtigen  Ausgabe  des  säclisischen 
Katechismus  in  eckige  Klammern,  d.  h.  auf  den  Aussterbeetat 
gesetzt  worden.  Unverständlich  ist  z.  B.  für  Kinder  auch  Rom.  3, 
23 — 24.  Wir  müssen  an  dieser  Stelle  die  pädagogische  Fetniuhligkete 
Luthers,  wie  es  schon  oft  hervorgehoben  worden  »t,  bewundern. 
Er  hat  in  seinen  kleinen  Katechismus  nicht  die  Lehre  \on  der 
Rechtfertigung^  aufgenommen,  obwohl  sie  ihm  der  Mittelpunkt  des 
evangelischen  Christentums  ist.  In  der  Form  lebendigen  religiösen 
Lebens  durchdringt  sie,  recht  verstanden,  den  ganzen  Katechismus; 
in  der  Form  der  Lehre  würde  sie  von  Kindern  nicht  verstanden 
werden.    Dies  muss  auch  uns,  den  Söhnen  Luthers,  Richtschnur  sein. 

Vicht  alles,  was  den  Hn.vr\ch?enen  wertvoll  ist,  kann  schon  den 
Kindern  zugeführt  werden.  Die  lehrhaften  Abschnitte  de«  rauius 
z.  B.,  die  auch  dem  erwachsenen  Laien  noch  Schwierigkeiten 
bereiten,  eignen  sich  deshalb  nicht  für  den  MemorierstoiT.  Man 
denke  dabei  an  Melanchthons  Worte  aus  der  Kursächsiscfaen 
Schulordnung:  „Dies  ist  nicht  fruchtbar,  die  JiK^rnd  mit  schweren 
und  hohen  Büchern  zu  beladen,  als  etUche  Paulum  zu  den  Römern, 
St  Johannis  Evangelium  und  andere  dergleichen  um  ihres  Ruhmes 
vnHesk  lesen."  Dwei  darf  man  freOich  nicht  in  den  andern  Fehler 
verfallen,  Paulus  ganz  beiseite  drängen  zu  wollen,  wie  die  Stimmung 
gegenwärtig  an  manchen  Stellen  ist.  Die  theoretischen  Stellen  in 
seinen  Schriften  nehmen  kaum  den  vierten  Teil  dem  Umfange  nach 
ein,  und  auch  in  ihnen  sprüht  und  glänzt  es  von  lebendigstem, 
praktischem,  rel^riösem  Leben.  Es  ist  einseitig,  ihn  nur  ab  den 
theoretischen  Verbieger  der  Lehre  Jesu  hinzustellen,  pr  ist  eine 
religiöse  Persönlichkeit  voller  Kraft  und  Leben,  deren  Äusserungen 
vielfach  auch  für  Kinder  verständlich  sind.  Nur  muss  Kindern 
gegenüber  die  theoretische  Seite  seines  Wesens  zurückgestellt  und 
die  praktische  in  den  Vordergrund  gerückt  werden.  Danach  müssen 
wir  uns  auch  bei  der  Auswahl  der  Sprüche  richten,  damit  sie  den 
Kindern  verständlich  bleiben.  Umgekehrt  ist  den  Kindern  alles  das 
leicht  verständlich,  was  der  Anschauung  nahe  steht,  bildliche  Rede- 
wendungen und  Vergleiche  enthält.  Ks  bedarf  nur  der  Erwähnung, 
dass  sich  auch  aus  diesem  Grunde  die  Worte  Christi  vorzüglich 
fSr  den  Unterricht  eignen. 


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I 


—   297  — 

Die  Forderung  der  Verständlichkeit  darf  allerdings  nicht  folsch 

verstanden  werden.  Kinder  können  die  Tiefe  von  vielem  noch 
nicht  erfassen,  was  ihnen  trotzdem  verständlich  ist.  „Gott  ist  die 
Liebe,  und  wer  in  der  Liebe  bleibet,  der  bleibet  in  Gott  und  Gott 
in  ihm."  Wer  meint»  dass  er  dieses  Wort  voU  ausgeschöpft  habe? 
Und  doch  können  es  Kinder  in  kindlicher  Weise  schon  fassen.  Es 
ist  nur  zu  fordern,  dass  sie  es  mit  den  Vorstellungen,  die  sie  schon 
besitzen,  zu  apperzipieren  vermögen.  Es  darf  nicht  so  sein,  dass 
ihnen  die  Möglichkeit  der  Apperzeption  von  vorn  herein  abgeschnitten 
ist  Ihre  kindliche  Auffassung  muss  auf  dem  geraden  Wege  zu 
einer  vollkommenen  Erfassung  hin  liegen.  Die  Beurteilung  der 
Verständichkeit  muss  vom  Kinde,  nicht  vom  Ervvachsenen  oder 
wohl  gar  von  der  Wissenschaft  her  verstanden  werden.  Wovon 
die  Kinder  nach  wohlüberlegter  Besprechung  im  Unterricht  über- 
zeugt sind,  dass  sie  es  verstanden  haben,  das  haben  sie  tatslchlidi 
in  unserm  Sinne  verstanden.  Weiter  kann  es  wohl  vorkommen, 
dass  ihnen  eine  Wendung,  ein  Ausdruck,  eine  Feinheit  des 
Gedankens  innerhalb  eines  Spruches  unverständlich  bleibt.  Auch 
dies  brauchte  uns  nicht  zu  stören,  wenn  sie  nur  die  Hauptsache 
richtig  erfassen.  Fordern  wir  bei  der  Lektüre,  dass  jedes  einzelne 
Wort  verstanden  werden  muss?  Wenn  es  leicht  geht,  werde  ich 
natürlich  auch  solche  Schwierigkeiten  meiden. 

Für  Kinder  aus  andern  Gründen  unpassend  ist  z.  B.  die  Stelle 
Jak.  I,  12—15,  the  noch  in  unserm  Spruchbuch  steht :  ,. Ein  jeglicher 
wird  versucht,  wenn  er  von  seiner  eignen  Lust  gcrcizet  und  gelocket 
wird.  Darnach,  wenn  die  Lust  empfangen  hat,  gebiert  sie  die 
Sünde.''  Das  Bild  der  Buhlerin,  die  zur  Unzucht  verfuhrt,  kann  ich 
mit  Kindern  nicht  ausfuhren.  Somit  muss  der  Lehrer,  der  die 
Aufgabe  hat,  Klarheit  zu  schaffen,  hier  absichtlich  Unklarheit 
bestehen  lassen. 

Falsch  scheint  es  mir,  alles  als  unkindlich  zu  bezeichnen,  wo 
von  „Sünde"  die  Rede  ist.  Man  möge  nur  bei  der  Bdiandlung 
alle  dogmatischen  Abstraktionen  beiseite  lassen.  Dass  die  Kinder 
oft  ungezogen  sind,  sagt  ihnen  die  Mutter  alle  Tage.  Jedes  Kind 
hat  solche  Situationen  aus  dem  Hause  und  aus  der  Schule  im 
Gedächtnis.  Man  fmie  also  solche  Sprüche  mit  kindlichen  An* 
schauungen;  dann  werden  sie  sie  verstehen.  Alles  in  allem  muss 
—  so  können  wir  kurz  zusammenfassen  —  ein  Spruch  für  Kinder 
passend  sein. 

Passend  muss  er  auch  sein  für  das  Gedächtnis  der  Kinder. 
Es  ist  nicht  so,  wie  man  bisher  angenommen  hat,  dass  Kinder 
ein  besseres  Gedächtnis  haben  als  Erwachsene;   Es  ist  noch  in 

manchen  Lehrbüchern  zu  lesen,  dass  die  Höhe  des  Gedächtnisses 
etwa  mit  dem  I3.  Jrthr  erreicht  sei.  Tatsächlich  haben  exakte 
Versuche  ergeben,  dass  die  Stärke  des  Gedächtnisses  beim  Er- 
wachsenen in  der  Blüte  der  Kraft  weit  grösser  ist  als  beim  Kinde. 


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Schon  die  Erinnerung  an  die  Leistung  des  Geistlichen,  des  Schau- 
spielers, mancher  Parlamentarier  sollten  von  diesem  Irrtum  abhalten. 
Der  Geistliche  lernt  m  einer  längeren  Predigt  so  viel  Worte,  wie 
die  150  Sprüche  unseres  Spruchbuchs  zusammen  ausmachen, 
nämlich  ^cr  Erwachsene  lernt,  weil  ihm  seines  reicheren 

Seelenlebens  wegen  eine  mehr  mechanische  Tätigkeit  sehr  bald 
langweilig  wird,  ungern  auswendi-^;  so  lässt  er  es,  wenn  es  gebt, 
ganz  und  verliert  damit  die  Übung. 

Aus  diesem  Grunde  darf  man  dem  Gedächtnis  der  Kinder 
nicht  zu  viel  zumuten.  Allerdings  ist  in  dieser  Hinsicht  früher  viel 
mehr  gesündigt  worden  als  gegenwärtig  Ich  selbst  habe  als  Kind 
neben  andern  Psalmen  den  104.  Psalm  mit  35  Versen  auswendig 
gelernt  Der  hochbedeutende  Schuimethodus  des  Herzogs  Ernst 
fordert  die  Erlernung  von  32  Psalmen.  Jetzt  ist  davon  nur  der 
25.  ^alm  zurückgebUeben.  In  den  höheren  Schulen  lernte  man 
damals  die  lateinische  Dogmatik  des  Leonhard  Hutter  auswendig. 
Ein  für  die  damalige  Zeit  höchst  modemer  Pädagog,  Eilhardt 
Lubinus,  der  Freund  des  Ratichius  und  Vorläufer  des  Comenius, 
wünscht  1614,  dass  7-  oder  8-jährige  Knaben  das  Geschlechtsrcgibter 
aus  Matthäus  und  aus  Lukas  vor-  und  rückwärts  auswendig  lernen 
sollen.  Wenn  wir  uns  von  hier  aus  zu  den  150  Sprüchen  unsers 
Katechismus  wenden,  atmen  wir  erleichtert  auf.  Da  davon  noch 
9  in  eckige  Klammern  gesetzt  sind,  die  wohl  kaum  mehr  gelernt 
werden,  bleiben  nur  141  übrig.  Sein  Voi  ^^angcr,  Petermanns  Spruch- 
buch, enthält  noch  800  Sprüche,  ein  Spruchbuch  von  C  H.  lascher 
aus  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  250a  Freilich  müssen  wir 
bedenken,  wenn  wir  einmal  von  der  Unvernunft  jener  Zeiten  in 
dieser  Hinsicht  nhsehen,  dass  man  in  den  Volksschulen  bis  gegen 
Ende  des  18.  Jhs.  weiter  nichts  lernte  als  religiöse  Stoffe.  Es  gab 
noch  keine  Gedichte,  keine  Geschichtskenntnisse,  keine  Geographie, 
keine  Naturgeschichte  und  Naturlehre  einzuprägen.  Auf  die  Zahl 
der  Sprüche  kommt  es  nicht  allein  an,  mehr  auf  ihre  Schwierigkeit 
für  das  Gedächtnis  im  einzelnen.  Am  besten  sind  Spruche  geeignet 
wie  Luk.  11,  28  „Selig  sind,  die  Gottes  Wort  hören  und  bewahren" 
oder  Offenb.  2,  10  „Sei  getreu  bis  in  den  Tod,  so  wiO  ich  dir  die 
Krone  des  Lebens  geben."  Der  kurze,  sprichwortahnliche  Charakter 
dieser  Worte  prägt  sich  von  selbst  ein.  Auch  ich  sage:  In  der 
Kürze  liegt  die  Wür7e.  Wiederum  ist  hier  der  Rhythmus  als 
besonders  geeignet  für  unsre  Zwecke  zu  bezeichnen  z.  ß.  Ps.  27,  I : 

„I>er  Herr  ist  mein  Licht  und  mdn  Heii. 

Vor  wem  sollte  ich  mich  fttrcbten? 
Der  Herr  ist  meines  Lebens  Kraft. 

Wen  wem  »Ute  mir  gnuien?" 

oder  Matth.  7,  1—3: 

Richtet  oicbt, 
auf  4us  ihr  aicln  gerichtet  werdet! 


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—   299  — 


Denn  mit  welcherl<-i  Gfricht  ihr  richtet, 

werdet  ihr  gerichtet  werden, 
imd  mit  wdcherki  Mut  ihr  messet, 

wird  euch  gemessen  werden.'» 

Solche  Spruche  lernen  sich  leicht.  Eine  unnötige  Mühe  ist 
z.  B.  die  Einprägung  der  Seligpreisungen  nach  der  Reihenfolge. 

Einzeln  merken  sie  sich  sehr  leicht,  im  Zusammenhang  äusserst 
schwer.  Nach  meiner  Kenntnis  finden  sie  sich  in  dieser  Weise  nur 
im  sächsischen  Spruchbuch,  Alle  andern  Spruchbücher,  die  ich 
kenne,  enthatten  ^  einzeln  und  meist  nicht  alle.  Durch  die  Miih- 
seUgkeit  der  Einpragung,  durch  die  Furcht  vor  dem  „Aufsagen"  im 
Unterricht,  durch  eventuellen  Tadel  oder  gar  Strafen  bei  mangel- 
haftem Können  werden  so  leicht  die  schönsten  Sprüche  den  Kmdern 
mit  dem  Gefühle  des  Unangenehmen  verbunden.  Sprüche,  die  in- 
folge ihrer  Länge  oder  info%e  von  schwierigen  Aufzählungen  müh- 
sel^  zu  lernen  sind,  müssen  wegbleiben.  Als  Beispiel  iur  den  zweiten 
Punkt  nenne  ich  Gal.  5,  12:  „Die  Frucht  aber  des  Geistes  ist  Liebe, 
Freude,  Friede,  Geduld,  Freundlichkeit,  Gütigkeit,  Glaube,  Sanftmut, 
Keuschheit."  Als  Massstab  kann  die  Frage  dienen,  ob  sich  ein 
Spruch  bei  guter  Behandlung  schon  während  des  Unterrichts  den 
besseren  Kindern  einprägt.  Ich  habe  stets  die  Erfahrung  gemacht, 
dass  am  Ende  der  Behandlung  ein  grosser  Teil  der  Kinder  den 
behandelten  SprTirh  oder  das  Kirchenlied  schon  im  Gedächtnis 
hatte.  Wenn  die  Kinder  zu  Hause  den  wohlverstandenen,  warm 
erfassten  und  schon  '/^  gelernten  Spruch  nochmals  durchgehen,  bis 
er  in  kurzer  2^it  „fest  siut",  fallt  das  Unangenehme  des  Auswendig- 
lernens weg. 

Von  hier  aus  ergibt  sich  allerdings  die  Forderung,  dass  auch 
die  Gesamtzahl  der  Sprüche  nicht  grösser  sein  darf,  als  dass  jeder 
einzelne  im  Unterricht  eine  genaue  BeliHudiung  ermöglicht.  Unter 
diesem  Gesichtspunkt  ist  die  gegenwärtige  Anzahl  zu  gross.  Ich 
wünschte  sehr,  dass  auf  jeden  einzelnen  Sprudi  bei  seinem  erst- 
maligen Auftreten  in  den  vier  oberen  Klassen  der  Volksschule 
durchschnittlich  eine  halbe  bis  eine  Stunde  verwendet  werde.  Mit 
Wiederholung,  Anknüpfung,  erklärender  und  vertiefender  Besprechung 
und  vor  allem  der  Anwendung  dürfte  damit  meist  eine  Schulstunde 
geHiUt  werden.  Bei  einer  so  eingehenden  Behandlung  ist  er  dann 
auch  wirklich  innerlich  und  äusseriich  Eigentum  der  Kinder  geworden, 
tr  ist  kein  nutzloser  Stein  mehr  im  Gartenboden,  sondern  eine 
PHanze,  die  wächst  und  blüht  und  Früchte  trägt.  Näher  kann  ich 
hier  auf  die  methodische  Behandlung  der  Bibelsprüche  nicht  eingehen. 
Ich  verweise  auf  mein  Buch  „Der  konkrete  Hintergrund  zu  den 
150  Kemsprüchen",  3.  Auflage,  1908,  Dresden- Blase witz,  Bleyl  und 
Kämmerer,  ferner  auf  die  „Pädagogischen  Studien"  1904,  5.  Heft, 
wo  ich  die  Theorie  dazu  bringe  und  auf  die  „Praktische  Volks- 
schulmethodik   von  Zeissig  und  Fritzsche,  2.  Auflage,  1908,  Leipzig, 


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—  300  — 


Kfinkfaardt,  die  sieben  ausgeführte  SpruchbchaiuiUingen  von  nur 
enthält.  Da  ich  auf  die  Zahl  von  120  Sprüchen  hinauskomme,  so 
würden  in  den  letzten  vier  Schuljahren  im  Durchschnitt  30  Stunden 
auf  die  Spruchbehandlung  verwendet  werden  müssen.  Mehr  ist 
kaum  möglich.  Unsre  Sprüche  sollen  also  leicht  lembar  sein  und 
ihre  Gesamtheit  muss  eine  Behandlung  jedes  einxelnen  Spruches 
ermöglichen. 

Zuletzt  kommen  norh  einifje  mehr  praktische  Gesichtspunkte 
in  BetrachL  Sehen  wir  uns  den  ersten  Sprucii  in  unserm  Spruch- 
buch an]  „Schaffet,  dass  ihr  selig  werdet»  mit  Furcht  und  Zittern; 
denn  Gott  ist*s,  der  in  euch  wirket  beides,  das  Wollen  und  das 
Vollbringen  nach  seinem  Wohlgefallen."  Wenn  ich  daneben  noch 
aufnehme:  Matth.  7,  13 — 14  „Gehet  ein  durch  die  en^e  Pforte  u.sw.", 
so  habe  ich  zweimal  denselben  Gedanken:  Strengt  euch  an,  dass 
ihr  selig  werdet  1  Es  ist  offenbar  unnötig,  zweimsu  dasselbe  lernen 
zu  lassen.  Ich  wähle  das,  was  mir  geeigneter  erscheint.  Dubletten 
sind  also  zu  vermeiden.  Freilich  dürfen  wir  auch  hier  nicht  nur 
den  Intellekt  sprechen  lassen.  Derselbe  (icdankc  kann  durch  ein 
neues  Bild,  eine  neue  Wendung  einen  völlig  neuen  Gefühlswert 
erlmhen:  „Der  Herr  ist  mein  Hirte,  mir  wird  nichts  mangeln"  und 
„Vater  und  Mutter  verlassen  mich;  aber  der  Herr  nimmt  mich  auf, 
sind  dem  Gedanken  nach  identisch:  Gott  beschützt  mich  in  der 
Not.  Der  Gefühlsnunnce  nach  sind  sie  sehr  verschieden  voneinander. 
Umgekehrt  ist  auch  keuie  Vollständigkeit  beabsichtigt.  Wir  treten 
nicht  mit  irgend  einem  Schema  der  christlichen  Frömmigkeit  und 
Sittlichkeit  an  die  Bibel  heran»  das  wir  mit  Sprüchen  ausfüllen 
müssten,  sondern  wir  ndimen  die  Bibel,  wie  sie  ist  und  suchen  die 
besten  Sprüche  zusammen,  die  unsem  Wünschen  entsprechen. 
Deshalb  wollen  wir  auch  nicht  mit  fertit;en  Urteilen  über  den  Wert 
der  einzelnen  Schriften  und  Schriftstellen,  über  Altes  und  Neues 
Testament  messen,  sondern  uns  von  vom  herein  Unbefangenheit 
wahren.  In  den  prophetischen  Büchern  des  Alten  Testaments^  die 
ich  sehr  hoch  schätze,  ist  die  .Auslese  ?..  B.  n'i--  c^erin^.  Um  so 
interessanter  wird  zuletzt  ein  Vergleich  der  Verhältniszahlen  unsrer 
Neuwahl  mit  den  Zahlen  der  bisherigen  Auswahl  seia 

Weiter  wollen  wir  nicht  alle  Sprüche,  die  mitten  in  bekannten 
biblischen  Geschichten  stehen,  in  das  Spruchbuch  aufnehmen. 
I.  Mos.  39,  9  sollte  ich  ein  solch  f^rosses  Übel  tun  und  wider 

Ciott  sündigen"  wird  in  jeder  Schule  in  der  Josephs[:jeschichte  den 
Kindern  bekannt.  Auch  ein  Lehrer,  der  sich  bei  der  Erzählung 
nicht  sklavisch  an  den  Wortlaut  bindet,  bringt  diesen  Idasasdien 
Ausdruck  eines  zarten  Gewissens  wörtlidh.  Jeder  Lehrer  freut  sich, 
wenn  er  ein  allgemein  gültiges  Wort  aus  einer  biblischen  Geschichte 
herausheben  und  zum  Hauptergebnis  machen  kann.  Als  solches 
prägen  sich  kurze  Worte  von  selbst  ein.  Ein  Memorieren  zu  Hause 
ist  unnötig    Solche  Worte  wird  jeder  Lehrer  nach  seinem  eignen 


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Urteü  herausheben  und  einpr^en,  und  tatsächlich  tut  er  es  auch 
schon  jetzt  bei  Stellen,  die  nicht  im  Sprochbuch  stehen.  Sie  werden 
in  der  biblischen  G^chichte  von  selbst  mit  gelernt   Aber  wir 

wenden  diesen  Grundsatz  nicht  mechanisch  an.  Besonders  wichtige 
Worte,  solche,  die  wir  auch  ausserhalb  ihrer  Geschichte  und  ohne 
ihre  Geschichte  benutzen,  nehmen  wir  doch  auf.  Als  Beispiel  nenne 
ich  Joh.  4,  24  ,,Gott  ist  Greist  und  die  ihn  anbeten,  die  müssen 
ihn  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  anbeten." 

Auch  sonst  gibt  das  Spruchbuch  nur  die  Grenze  dessen  an, 
was  pflichtmässi};.  nötip^enfalls  auch  durch  Hausarbeit  der  Kinder, 
angeeignet  werden  soll.  Im  Unterricht  kann  der  Lehrer  nach  seinem 
freien  Urteil  benutzen  und  auch  dem  Gredächtnb  der  Schüler  zu- 
fuhren,  was  er  für  wünschenswert  halt  In  den  höheren  Schulen 
würde  ich  es  nicht  für  richtig  halten,  wenn  die  Schüler  nach  dem 
14.  Jahr  noch  religiöse  Stoflc  auswendig  lernen.  Denn  man  lernt 
dann  nicht  mehr  gern  auswendig,  und  der  Religionsunterricht  soll 
keine  unang^enehmen  Aufgaben  stellen.  Aber  bei  der  Behandlung 
der  Bergpredigt  sage  ich  stets:  Ich  freue  mich,  wenn  Sie  einen 
Abschnitt  bei  der  Wiederholung  einigermassen  wörtlich  wiedergeben 
können,  ohne  ihn  auswendig  zu  lernen.  Einige  präcfen  ihn  sich 
dabei  doch  ohne  jede  Mühe  ein.  So  wird  die  Wirkung  vertieft, 
und  manches  bleibt  von  selbst  iiir  immer.  Wie  vieles  aus  der  Bibel 
und  aus  unsrer  schönen  Literatur  hat  man  im  Gedächtnis,  ohne  es 
jemals  gelernt  zu  haben! 

Um  der  geschichtlichen  Entwicklung  Rechnung  zu  tragen,  gehen 
wir  von  unserm  Spruchbuch  aus ;  wir  prüfen  zuerst  die  Sprüche, 
die  es  enthält,  untersuchen  dann,  welche  Sprüche  der  Bibel  ausserdem 
geeignet  sind  und  stellen  zuletzt  die  Ergebnisse  zusammen. 

Bssrlsiliiio  dir  sIstelMa  Spishs  das  sMwIiohta  ttpraohkrtn. 

Klein  gedruckt,  d.  h.  zu  Sprüchen  zweiten  Ranges  erklärt, 
sind  in  unserm  Spruchbuch  32.  Die  meisten  unter  diesen  nämlich 
l.Mos.  I,  27;  I.  31;  3,  15;  4,  7;  8,  21;  8,  22;  17,  i;  22,  18;  32,  10; 
39.  9;  50,  20;  Jos.  24,  15;  1.  Sam.  16,  7;  Matth.  4,  10;  17,  5; 
20,  16;  22,  II ;  25,  21;  25,  34;  26,  39;  26,  41;  28,  19—20;  Ma.  I,  15; 
Luk.2,  10 — Iii  2,  29—32;  15,  21;  Joh.  i,  29;  Apgesch,  2,  4;  4,  12 
sind  Biblischen  Geschichten  entnommen.  Es  finden  sich  unter  diesen 
echte  Belegstellen  wie  Apostelgesch.  2,  4  und  manche  auch  in 
unserm  Sinne  trefi'liche  Sprüche,  wie  z.B.  1.  Mos.  32,  10 ;  39,  9; 
Luc.  2,  14,  die  siebter  jeder  Lehrer  im  Unterricht  einprägen  wird. 
Nur  zwei  von  ihnen  behalte  ich  für  das  neue  Spruchbuch  bei,  aber 
nicht  als  Sprüche  zweiten  Ranges,  nämlich  Matth.  22,  21:  „Gel>et 
dem  Kaiser,  was  des  Kaisers  ist  und  Grott  was  Gottes  ist"  und 
Matth.  26,  41  „Wachet  und  betet,  dass  ihr  nicht  in  Anfechtung 
fallet.  Der  Geist  ist  wilhg,  aber  das  Fleisch  ist  schwach."  Diese 


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beiden  Herrenwoite  sind  wuchtiger  und  leichter  merkbar»  als  die 

Paulusworte RöiiL  13,1 — 2:  „Jedermann  sei  Untertan  der  Obrigkeit  usw.** 
und  Rom.  7,  18 — 19:  „Ich  weiss,  dass  in  mir,  das  ist  in  meinem 
Heisch  usw."  Diese  können  nunmehr  als  Dubletten  wegbleiben. 
Nur  drei  von  diesen  32  Sprüchen  kommen  nicht  in  biblischen 
Geschichten  vor.  Unter  diesen  sind  Rom.  3,  20  und  Mich.  5,  i 
BelegsteUen,  Joh.  16,  23  Dublette  zu  Matth.  7,  7.  Auch  sie  fallen 
also  weg.  Dir  in  ecki^^e  Klammern  eingeschlossenen  0  Sprüche 
Nr.  3,  50,  03,  79,  95,  98,  99,  III,  146  Qoh.  17,  3;  I.  Joh.  3.  4; 
Gal.  3,  24;  Ebr.  11,  3;  Joh.  7,  16—17;  2.  Kor.  5,  17—21;  Gal.  2,  20; 
2.  Ptr.  1,  19;  Eph.  4,  22—24)  l^se  auch  ich  weg,  da  ich  überall 
mit  dem  in  der  Einldammening  liegendem  Urteil  einverstanden  bin. 

Es  sollen  nun  die  übrigen  Sprüche  mit  kurzer  Begründung  an- 
gegeben werden,  die  ich  ausserdem  ausscheiden  möchte.  Sonst  führe 
ich  noch  die  Nummern  an,  bei  denen  ich  aus  längeren  Sprüchen 
einzelne  Verse  weglasse. 

i)  Phil.  2,  12 — 13.  Die  logische  Verbindung  der  zwei  Veise 
ist  für  Kinder  zu  schwierig.  Für  das  Pauluswort  nehmen  wir  das 
anschauliche  Jesuswort  Matth.  7,  13 — 14.  4)  2.  Tim.  3,  15  —  17. 
Die  Auf/ähhinf^  ist  zu  schwer.  Das  Wort  ist  offenbar  als  Bele;^- 
stelle  für  die  Verbalinspiration  gewaiill,  ausserdem  ist  qs  Dublette 
zu  Nr.  5,  Ps.  119,  205.  6)  Ebr.  i,  i — 2  Belegstelle.  7)  Joh.  5,  39. 
Wissenschaftlich  nicht  stichhaltig.  8)  Jak.  i,  21 — 22.  Form  etwas 
nüchtern,  statt  dessen  besser  das  Jesuswort  I.uk.  11,  27  „Selig  sind, 
die  Gottes  Wort  hören  und  bewahren",  das  bei  grosser  Kürze 
klassische  Form  zeigt  10)  Matth.  5,  17.  Für  die  Auffassungskraft 
der  Kinder  hat  dieses  Wort  nur  theoretischen  Sinn.  11)  Spr. 
Sal.  23,  26.  Die  zweite  Hälfte  ist  för  Kinder  schwer  verständlich. 
]0  Ps.  37,  4—5  nur  V.  >.  t8)  i.  Joh.  2,  15  — 17  nur  v.  17,  son?t 
unnötig  lang.  20)  Ps.  23  v.  5—6  weglassen,  da  nur  Dublette  za 
2—4  und  schwerer  verständlich.  25)  Ps.  103,  1 — 5  v.  3—5  weg- 
lassen. 27)  2.  Mos.  20,  8 — 10.  Der  Inhalt  ist  nüchtern.  An 
29)  Joh.  13,  34 — 35  möge  weggelassen  werden  „auf  dass  auch  ihr 
einander  lieb  habet".  Dann  ist  der  höchst  wertvolle  Spruch  auch 
der  Form  nach  geeignet.  30)  1.  Joh.  4,  19 — 20  enthält  zu  viel 
Reflexion.  31)  Matth.  7,  12.  Das  dreimahge  „das"  stört.  Für 
Kinder  ist  der  Inhalt  logisch  nicht  leicht  zu  durchschauen.  Man 
kann  bei  diesem  Wort  schwanken.  32)  Sir.  3,  9 — 1 1.  Dublette  zum 
4.  Gebot.  33)  Rom.  13,  l — 2.  Dublette  zu  Matth.  22,  21  „Gebet 
dem  Kaiser,  was  des  Kaisers  ist,  und  (rntt,  was  Gottes  ist."  Bei 
35)  T.  Petr.  2,  17 — 18  muss  die  zweite  irialftc  fv.  icS)  weggelassen 
werden,  da  sie  auf  das  Verhältnis  des  Sklaventuras  zugeschnitten 
ist  37)  Röm.  12,  18 — 21  ist  zu  lang.  Dublette  zum  Jesuswort  14a 
Matth.  6,  14 — 15.  42)  Phil.  4,  8.  Die  Aufzahlung  ist  zu  schwierig 
zu  merken.    44)  l.  Tim.  6,  6 — 10  ist  zu  lanc:  Matth.  7.  f — 3 

V.  3  weglassen.    Das  BÜd  ist  für  Kinder  störend.    48)  Rom.  J, 


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i8 — 19.  Dublette  zum  Jesuswort  Matth.  26,  41.  49)  Jak.  i,  12'— 15 
ist  viel  zu  lang  und  für  iunder  unpassend.  51)  Jak.  4«  17.  Nüchterne 
Form.  55)  Rom.  3,  23—24  ist  zu  schwierig  für  Kinder  und  Beleg- 
stelle. 56)  I.  Joh.  I,  8—9  ist  Dublette  zu  T13,  Sprüche  Sal.  28,  13 
„Wer  seine  Missetat  leugnet  usw.",  wo  die  Worte  einfacher,  leichter 
zu  merken  und  klassischer  in  der  Form  sind.  58}  Rom.  6,  25.  Der 
BegrUr  des  Todes  als  Sold  der  Sünde  ist  zu  schwierig  fiir  Kinder. 
Dem  Sinne  nach  ist  das  Wort  Dublette  im  wesentlichen  zu  59,  Spr. 
Sal.  14,  34.  60)  Matth.  5,  3 — 12.  Wir  behalten  bei  v.  4,  7,  8  und  9, 
aber  als  einzelne  Sprüche.  62)  Jak.  2,  10 — 11  ist  völlig  nüchterne, 
nur  versLaiidesmässige  Erwägung,  die  nicht  wörtlich  eingeprägt 
werden  muss.  64)  £br.  Ii,  i.  Belegstelle  über  das  Wesen  des 
Glaubens.  Definitionen  als  rein  begriffliche  Erscheinungen  braudien 
nicht  gelernt  zu  werden.  68)  Ps.  90,  2 — 4  v.  3 — 4  weglassen. 
71)  Ps.  139,  I — 4  ist  ein  schönes  Wort,  aber  etwas  zu  schwierig 
für  Kinder;  das  noch  schönere  Wort  70,  Ts.  139,  7 — io,  aus  dem- 
selben P^alm  dürfte  genügen.  77)  Ps,  103,  8—13  kann  wegbleiben, 
da  Psalm  23  gelernt  wird.  78)  £br.  3,  4  ist  wissenschaftlich  nicht 
stichhaltig,  wenn  man  den  Zusammenhang  betrachtet,  aus  dem  es 
genommen  ist.  80)  l's.  ig,  2 — 4.  v.  4  ist  wissenschaftlich  unsicher 
und  kann  wegbleiben.  84)  Matth.  6,  25 — 33  ist  so  zu  lang.  Wir 
nehmen  diesen  Worten  Jesu,  die  zu  den  herrfichsten  zählen,  die 
Schwierigkeit  för  das  Lernen,  indem  wir  sie  in  zwei  Sprüche  teilen 
und  V.  27  30  weglassen.  Es  bleiben  also  v.  25 — 26  und  v.  31 — 33 
stehen-  86)  Jak.  i,  17.  Im  wesentlichen  Dublette  zu  88,  Rom.  8,  28. 
89)  Gal.  4,  4 — 5  Belegsteile.  92)  Phil.  2,  5 — 11  ist  zu  schwierig 
für  Kinder,  zu  lang  und  Belegstelle,  v.  5  allein  würde  Dublette  zu  96, 
Joh.  13,  IS  sein.  97)  Ebr.  7,  26  Belegstelle.  loi)  i.  Petr.  i,  18—19. 
Belegstelle.  102}  l.  Petr.  2,  21  —  24.  Der  Schluss  ist  viel  zu 
schwierig  für  Kinder,  ausserdem  Belegstelle,  v.  21  allein  ist  Dublette 
zu  Joh.  13,  15.  103)  Jcs.  53,  4 — 5  Belegstelle  und  zu  schwierig 
für  Lernen  und  Verständnis.  Trotzdem  habe  ich  geschwankt 
IQ4)  I.  Kor.  15,  S5 — S7>  I^i«  Bilder  sind  zu  schwierig  für  Kinder. 
105)  Rom.  14,  7 — 9,  nur  v.  8.  107)  i.  Tim.  1,  15.  Belegstelle. 
100^  Joh.  15,  26.  Belegstelle.  Iio)  i.  Tim.  2,  4.  Bele;:stpne 
ii2j  2.  Kor.  7,  10.  Die  Worte  sind  recht  schwierig  für  Kinder 
(„göttliche  Traurigkeit");  ausserdem  ist  der  Spruch  Dublette  zu  113, 
Spr.  SaL  28,  13.  115)  Röm.  3,  28  behalte  ich  bei,  obwohl  es  ds 
Belegstdle  gefasst  werden  kma.  Es  ist  das  Panier  im  Kampfe 
Luthers  gegen  die  römische  Kirche  und  hat  über.ill  n\ir}\  praktische 
Bedeutung,  wo  die  evangelische  Kirche  gegen  die  katholische  zum 
Kampfe  gezwungen  ist.  1  l6j  Eph.  2,  8 — 9  ist  neben  115,  Röm.  3,  28, 
unnötig;  ausserdem  ist  der  Spruch  unruhig  in  der  Form. 
1 17)  Röm.  8,  31 — 32.  Dieses  schöne  Wort  ist  neben  88,  Rom.  8,  28: 
„Denen  die  Gott  lieben,  müssen  alle  Dinge  zum  Besten  dienen", 
aus  demselben  Kapitel  vielleicht  entbehrlich.   118)  Röm.  5,  i — S 


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—   3<H  — 


Belegstelle.  Für  die  praktische  Seite  des  Spruches  wählen  wir 
PhiL  4,  7:  ,.Dcr  Friede  Gottes,  welcher  höher  ist,  denn  alle 
Vernunft,    bewahre    curr    Hrrzen    und   Sinne    in    Christo  Jesu." 

119)  Rom.  6,  14—17.    Der  Anfang  ist  für  Kinder  unverständlich. 

120)  Gal.  5,  22.  Die  Aufzählung  ist  zu  schwierig  für  das  Lernen. 
123)  Kph.  4,  3 — 6.  Die  Worte  sind  wohl  etwas  zu  schwierig  für 
das  Verständnis  der  Kinder.  Sonst  ist  der  Spruch  recht  passend. 
127)  I.  Kor.  15,  42 — 44,  V.  44  weglassen,  da  er  zu  schwierig  für 
das  Verständnis  der  Kinder  ist.  128)  Rom.  2.  6 — 9  ist  zu  .schwierig. 
Man  sehe  sich  die  unvollständigen  Sätze  am  Ende  ani  131)  Ps.  (9,  15 
ist  wohl  als  Belegstelle  für  das  Wesen  des  Gebetes  gewählt 
133)  Matth.  6p  S"8,   v.  7 — 8    weglasen,   da   sonst  zu  lang. 

133)  I.  Tim.  2,  I  —  2.  Belegstelle  für  die  Arten  der  Gebete. 
Dublette   zu   35,    i.   Petr.   2,    17-18,    und   zu   Matth.    22,  2\. 

134)  Eph.  3,  14 — 15  ist  wohl  als  Lehrstelle  über  das  Wesen  Gottes 
aufgenommen.  135)  1.  Petr.  1,  15 — 16,  nur  der  Schluss  nach 
Lev.  19,  3.  141)  t.  Kor.  10^  13—15  Aur  v.  13,  v.  13  ist  zu  schwierig. 
142)  2.  Tim.  4,  18  Dublette  zu  129,  Offenb.  21,  4.  145)  Gal.  3, 
26—27.  Belegstelle  zur  Taufe.  147)  i.  Kor.  10,  16.  Belegstelle 
über  das  Wesen  des  .Abendmahls.  14H)  i.  Kor.  11,  26 — 29.  Der 
Spruch  enthalt  zwar  eine  praktische  Ermahnung  über  den  Genuss 
des  Abendmahls;  aber  der  Wortlaut  ist  nicht  nötig  und  zu  schwierig. 
149)  Ps.  1 30,  23 — 24.  Die  Worte  von  v.  23  sind  nicht  recht  IdndlicL 

Ich  bin  mir  v:oh]  bewusst,  dass  trotz  der  oben  aufgestellten 
Regeln  die  Wahl  in  emij^en  I-'ällen  subjektiv  bleibt  Es  L,nbt  Sprüche, 
bei  denen  man  zweifelhaft  sein  kann,  ob  es  sich  um  Lebensworte 
oder  um  Belegstellen  handelL  Bei  manchen  Sprüchen  wie  z.E 
Nr.  8  (Jak.  1,  21—32),  77  (PS.  103,  8—13),  86  {Jak.  i,  17).  117  (Rom.  8, 
31—32^,  123  fKph.  4,  3  —  6),  131  fPs.  19,  15).  134  (Eph.  3,  14—15). 
149  fPs.  139,  23  — r»4'i  habe  ich  in  anderer  Hinsicht  geschwankt 
SchliessUch  hat  trotz  der  Erkenntnis  ihrer  Brauchbarkeit  die  Meinung 
gesiegt,  dass  sie  nicht  zu  den  allervorzü^chsten  gehören  und  ent- 
behrlich seien.  Je  weniger  Sprüche  gelernt  werden,  desto  mehr 
Zeit  kann  man  auf  den  einzelnen  Spruch  verwenden. 

Neu  aufnehmen  würde  ich  folgende  30  Sprüche,  die  zum  grossen 
Teil  kurz  und  leicht  lernbar  sind:  Ps.  27,  l;  27,  lO;  I2i,  2 — 4; 
126,  5—6;  133,  I;  Jes.  66,  13a;  Sirach  i,  löa;  Matth.  5,  14a,  16; 
6,  24;  7,  13—14;  8,  20;  10^  i6b;  lO,  38;  22,  2lb;  34,  35;  26.  4«; 
Luk.  II,  28;  Job.  9,  4;  16,  33b;  Apostelgesch.  20,  35  Ende: 
Rom.  Ti,  36;  12,  12;  12,  15;  I.  Kor.  7,  23;  2.  Kor.  3,  6  Ende 
9,  7  Ende;  Phil.  4,  4:  4,  7;  2.  Thcss.  3,  lob;  i.  Petri  5,  ;  Fndc. 
Aus  dem  Alten  Testament  stammen  von  diesen  30  Sprüchen  7, 
aus  den  Worten  Jesu  I3,  aus  der  Apostelgesch.  t,  von  Paulus  9 
und  aus  dem  f.  Petrusbrief  1.  Kleine  Veränderungen,  die  ich  z.  1. 
vorgenommen  habe,  erklaren  sich  aus  den  oben  aufgestellten  Gniod* 
Sätzen  von  selbst 


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—  305  — 


Das  neue  Spruohbuoh. 

Es  genügt  nun  nicht,  diese  Z;ihlcn  hinzusetzen ,  um  einen 
Eindruck  des  Spruchbuchs  zu  geben,  wie  wir  es  uns  denken. 
Denn  auch  wenn  sich  jemand  die  Mühe  machte,  alle  Verse  genau 
nachzuschlagen,  so  würde  er  doch  kein  klares  Gresamtbild  gewinnen. 
Es  muss  deshalb  unser  Spnichbuch  ganz  abgedruckt  werden.  Für 
die  Reihenfolge  der  Sprüche  des  neuen  Spruchbuchs  kann  nur  die 
Folge  der  biblischen  Bücher  in  Betracht  kommen.  Die  Ordnung 
nach  dem  Katechismus  geht  von  der  völlig  irrigen  Voraussetzung 
aus,  dass  die  Sprüche  lediglich  im  Kated&nusunterricht  benutzt 
würden.  Als  diese  Ordnung  aufkam,  gab  es  ja  noch  keine  biblische 
Geschichte.  Dass  die  Sprüche  ebensogut  als  Ergebnisse  von 
biblischen  Geschichten  oder  in  ihrer  Anwendung  auftreten,  hat  man 
gar  nicht  berücksichtigt.  Diese  Anordnung  ist  ein  grosses  Hindernis 
im  Aufsuchen  bestimmter  Sprüche,  pr^ctischen  Wert  hat  sie  nicht. 
Es  ist  einfach  entsetzlich,  wenn  man  nach  ihr  einen  bestimmten 
Spruch  im  Spruchbuch  aufsuchen  will.  Alle  Sprüche  sind  ja  nach 
subjektiven  Gesichtspunkten  d^ircheinandergeworfen.  Wo  steht  der 
23.  Psalm,  beim  I.  Crebot  oder  beim  t.  Artikel  oder  bei  der  Anrede 
zum  Vaterunser?  Wo  steht  Joh.  4,  24,  beim  2.  Gebot  oder  beim 
I.  oder  beim  3.  Artikel  oder  beim  3.  Hauptstück?  Wo  steht  ein 
Spruch  über  die  Liebe  zu  Gott,  wo  i.  Kor.  13,  i — 3?  Die  meisten 
Sprüche  könnten  an  verschiedenen  Stellen  stehen.  Diese  Anordnunf;:^ 
verführt  ausserdem  dazu,  die  Sprüche  mit  den  Sätzen  des  Katechismus 
d.  h.  abstrakt  zu  apperzipieren.  Die  Ordnung  nach  den  biblischen 
Büchern  dagegen  veranlasst  den  Lehrer,  stets  den  Zusammenhang 
des  Wortes  in  betracht  zu  ziehen.  Sie  ist  ihm  eine  stete  Mahnung, 
das  Wort  historisch  zu  erfassen.  Andere  Bemerkungen,  Unter- 
scheidungen nach  der  Schwierigkeit  oder  nach  dem  Alter  der  Kinder, 
überhaupt  alles,  was  den  Lehrer  gängeln  will  und  seine  Selbständig- 
keit beschrankt,  möge  wegbleiben. 

Den  Druck  würde  ich  so  gestalten,  dass  alles  Poetische  und 
rhythmisch  Gegliederte  anschaulich  zur  Darstellung  kommt  und  für 
die  Augen  der  Kinder  kenntlich  gemacht  wird.  Dabei  kommt  nicht 
nur  der  wissenschaftlich  festzustellende  Rhythmus  der  hebräischen 
Poesie  in  Frage,  sondern  auch  der  Rhythmus  der  hebräischen  und 
griechischen  Prosa  und  des  Lutherdeutschs.  Nur  wenige  der 
120  Sprüche  entbehren  des  Rhythmus.  Besonders  zahlretdi  sind 
die  Zweizeiler.  Selbst  die  Wahl  der  T5^en  erscheint  mir  nicht 
gleichgültig.  Das  Spruchbuch  als  Ganzes  muss  allen  Anforderungen 
eines  künstlerisch  gebildeten  Geschmackes  genügen.  Ich  hatte  mich 
darauf  gefreut,  das  neue  Spruchbudi  in  dieser  Weise  ohne  Rücksicht 
auf  den  Raum  abdrucken  zu  kdnnen.  Das  SteUenverzdchnis  wollte 
ich  vorausschicken.   So  sollten  die  130  Sprüdie,  nur  unaiddringlich 

PUafOcUotaa  Studien.  XUL  4.  80 


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—  3o6  — 


numeriert,  durch  sich  selbst  wirken.  Es  sollte  so  der  Eindiuck 
recht  deutlich  er&elt  werdeo«  welche  Perlen  der  Weltliteratur,  welche 
FüUe  von  Ewigkeitswerten  und  Lebensquellen  hier  auf  kleinem 
Raum  zusammcngedränfTt  sind.  Aber  Platzmangel  in  diesem  Heft 
macht  es  unmöglich.   So  muss  ich  mich  mit  einer  Probe  begnügen. 

1.  3.  Mos.  19,  2. 

Ihr  soUt  heilig  sein; 
denn  ich  bin  heilig, 
der  Herr,  euer  Gott 

2.  3.  Mos.  19,  32. 

Vor  eitlem  g^rauen  Haupte  sollst  du  aufstehen 
und  Uie  Alten  ehren. 

3.  Hiob  IG,  12. 

Leben  und  Wohltat  hast  du  an  mir  getan, 
und  dein  Aafiwfaen  bewahret  mehien  Odem. 

Du  bist  nicht  ein  Gott,  dem  gottlos  Wesen  gefallt; 
wer  böse  ist»  bleibet  nicht  vor  dir. 

5.  Ps.  1%  2—4- 

Die  Himmel  erzählen  die  Ehre  Gottes, 

und  die  Feste  verkündigt  seiner  Hände  Werk. 

Ein  Tag  sagt  es  dem  andern, 

und  eine  Nacht  tut  es  kund  der  andern. 

6.  Ps.  19,  13. 

Wer  kann  merken,  wie  oft  er  fehlet? 
Verzeihe  mir  die  verborgenen  Fehlerl 

7.  Pä.  23,  1—4. 

Der  Herr  ist  mein  Hirte; 

mir  wird  nichts  mangeln. 
Er  weidet  mich  auf  einer  grünen  Aue 

und  führet  mich  zum  frischen  Wasser  ^ 
er  erquicket  meine  Seele; 

er  nihret  mich  auf  rechter  Strasse  um  seines  Namens  wQleo. 
Und  ob  ich  schon  wanderte  im  finstem  Tal, 

fürchte  ich  kein  Unglück; 
denn  du  bist  bei  mir, 

dein  Stecken  und  Stab  trösten  mich. 

8.  Ps.  27,  I. 

Der  Herr  ist  mein  Licht  und  mein  HdL 

Vor  wem  sollte  ich  mich  fürchten? 
Der  Herr  ist  meines  Lebens  Kraft; 

vor  wem  sollte  mir  grauen? 


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—  307  — 

« 

9^  P&  22,  la  Meiii  Vater  .und  meine  Mutter  verlassen  midi; 
aber  der  Herr  nimmt  n^ich  aut 

10.  Ps.  33,  4.  Des  Herrn  Wort  ist  wahrhaftige  und  was  er 
zusagt,  das  hält  er  gewiss. 

11.  Ps.  33,  8.  9.  Alle  Welt  fürchte  den  Herrn,  und  vor  ihm 
scheue  sich  aU^  was  auf  dem  Erdboden  wohnet;  denn  so  er  spricht, 
so  geschieht  es;  so  er  gebeut,  so  steht  es  da. 

12.  Ps.  37,  5.  Befiehl  dem  Herrn  deine  Wege  und  hoffe  auf 
ihn,  er  wird  es  wohl  machen. 

13.  Ps.  37,  37.  Bleibe  fromm  und  halte  dich  recht;  denn 
solchem  wird's  zuletzt  wohlgehen. 

14.  Ps.  50,  15.  Rufe  mich  an  in  der  Not,  so  will  ich  dich 
erretten,  so  sollst  du  mich  preisen. 

15.  Ps.  51,  12 — 14.  Schliffe  in  mir,  Gott,  ein  reines  Herz  und 
gib  mir  einen  neuen,  gewissen  Geist.  Verwirf  mich  nicht  von 
deinem  Angesicht  und  nimm  deinen  heiligen  Geist  nicht  von  mir. 

16.  Ps.  73,  23—261  Dennoch  bleibe  ich  stets  an  dir;  denn  du 
hältst  mich  bei  meiner  rechten  Hand,  du  leitest  mich  nach  deinem 
Rat  und  nimmst  mich  endlich  mit  Ehren  an.  Wenn  ich  nur  dich 
habe,  so  frage  ich  nichts  nach  Himmel  und  Erde.  Wenn  mir  gleich 
Leib  und  Seele  verschmachtet,  so  bist  du  doch,  Gott,  allezeit  meines 
Herzens  Trost  und  mein  Teil. 

17.  Ps.  90,  2 — 4.  Herr,  Gott,  du  bist  unsre  Zuflucht  für  und 
für.  Ehe  denn  die  Berge  wurden  und  die  Erde  und  die  Welt 
geschaffen  wurden,  bist  du,  Gott,  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit. 

18.  Ps.  90,  10.  12.  Unser  Leben  währet  siebzig  Jahre,  und 
wenn  es  hoch  kommt,  so  sind  es  achtig  Jahre,  und  wenn  es  köstlich 
gewesen  ist,  so  ist  es  Mühe  und  Arbeit  gewesen;  denn  es  fahret 
schnell  dahin,  als  flögen  wir  davon.  Lehre  uns  bedenken,  dass  wir 
sterben  müssen,  auf  dass  wir  klug  werden. 

19.  Ps-  90,  17.  Der  Herr,  unser  Gott,  sei  uns  lieundlich  und 
fördere  das  Werk  unsrer  HSnde  bei  uns;  ja,  das  Werk  unsrer  Hände 
wolle  er  fordern  1 

20.  Ps.  103,  I.  Lobe  den  Herrn,  meine  Seele,  und  was  in  mir 
ist,  seinen  heiligen  Namen'  Lobe  den  Herrn,  meine  Seele,  und 
vergiss  nicht,  was  er  dir  Gutes  getan  hatl 

21.  FS.  104,  24.  Herr,  wie  sind  deine  Werke  so  gross  und 
viel  I  Du  hast  sie  alle  weise  geordnet  und  die  Erde  ist  voll  deiner 
Güter. 

22.  Ps.  115,  5.  Unser  Gott  ist  im  Himmel;  er  kann  schaffen, 
was  er  will. 

35.  Ps.  118,  I.  Danket  dem  Herrn;  denn  er  ist  freundlich, 
und  seine  Giite  wihret  ewiglich. 

24.  Ps.  II 9,  T05.   Dein  Wort  ist  meines  Fusses  Leuchte  und 

ein  Licht  auf  meinem  Wege. 

25.  Ps.  121,  2 — 4.   Meine  Hille  kommt  von  dem  Herrn,  der 


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Himmel  und  Erde  gemacht  hat.  Er  wird  deinen  P'uss  nicht  gleiten 
lassen,  und  der  dich  behütet,  sctüäft  nicht.  Siehe,  der  Hüter  Israels 
schläft,  noch  schlummert  nicht 

26.  Ps.  126,  5 — 6.  Die  mit  Tränen  saen,  werden  mit  Freuden 
ernten.  Sie  gehen  hin  und  weinea  und  tragen  edlen  Samen,  und 
kommen  mit  Freuden  und  bringen  ihre  Gaben. 

27.  Ps.  133,  I.  Siehe,  wie  fein  und  lieblich  ist  ts,  wenn 
Brüder  einträchtig  beieinander  wohnen  1 

28.  Ps.  139,  7 — la  Wo  soll  ich  hingehen  vor  ddnem  Geist, 
und  wo  soll  ich  hinHiehen  vor  deinem  Angesicht?  Führe  ich  gen 
Himmel,  so  bist  du  da.  Bettete  ich  mir  in  die  Hölle,  siehe,  so  bist 
du  auch  da.  Nähme  ich  Flügel  der  Morgenröte  und  bliebe  am 
äussersten  Meer,  so  würde  mich  doch  deine  Hand  daselbst  führen 
und  deine  Rechte  mich  halten. 

29.  Ps.  139^  14.  Ich  danke  dir  darüber,  dass  ich  wunderbar 
gemacht  bin;  wunderbar  sind  deine  Werke,  und  das  erkennet  meine 
Seele  wohl. 

30.  Ps.  143,  10.  Lehre  mich  tun  nach  deinem  V\  oiilgefailen, 
denn  du  bist  mein  Gott;  dein  guter  Greist  föhre  nüdi  auf  ebener  Bahn. 

31.  Ps.  145,  15,  16.  Auer  Augen  warten  auf  dich,  und  du 
gibst  ihnen  ihre  Speise  zu  seiner  Zeit  Du  tust  deine  Hand  auf 
und  erfüllest  alles,  was  lebet,  mit  Wohlgefallen. 

32.  Spr.  Sal.  12,  la  Der  Gerechte  erbarmet  sich  seines 
Viehes;  aber  das  Herz  des  Gottlosen  ist  unbarmherzig. 

33.  Spr.  SaL  14«  34*  Gerechtigkeit  erhöhet  ein  Volk;  aber 
die  Sünde  ist  der  Leute  Verderben. 

34.  Spr.  Sal.  28,  13.  Wer  seine  Missetat  leuj^net,  dem  wird 
es  nicht  gelingen;  wer  sie  aber  bekennet  und  iässt,  der  wird  Barm- 
herzigkeit erlangen. 

35.  Jes.  6,  3.  Heilig,  heilig,  heilig  ist  der  Herr  Zebaoth,  aDe 
Lande  sind  seiner  Ehre  voll 

36.  Jes.  28,  291.  Des  Herrn  Rat  ist  wunderbar,  und  führet  es 
herrlich  hinaus. 

37.  Jes.  54,  10.  Es  sollen  wohl  Berge  weichen  und  Hügel 
hinfallen;  aber  meine  Gnade  soll  nicht  von  dir  weichen,  und  der 
Bund  meines  Friedens  soU  nicht  hinfallen,  spricht  der  Herr,  dein 
Erbarmer. 

38.  Jes.  55,  8.  9.  Meine  Gedanken  sind  nicht  eure  Gedanken, 
und  eure  Wege  sind  nicht  meine  Wege,  spricht  der  Herr;  sondern 


Wege  höher  denn  eure  Wege,  und  meine  Gedanken,  denn  eure 

Gedanken. 

39.  Jes.  66,  13.  Ich  will  dich  trösten,  wie  einen  seine  Mutter  tröstet. 

40.  Micha  6,  8.  Es  ist  dir  gesagt,  Mensch,  was  gut  ist  und 
was  der  Herr  von  dir  fordert,  nämlich  Gottes  Wort  halten  und 
Liebe  üben  und  demütig  sein  vor  deinem  Gott 


so  viel  der  Himmel 


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_  509  — 


41.  Tob.  4,  6.  Dein  Leben  lang^  habe  Gott  vor  Augen  und 
im  Herzen  und  hüte  dich,  dass  du  in  keine  Sünde  willigest  und 
tust  mder  Gottes  Gebot 

42.  Sir.  I»  16a.   Die  Furcht  des  Herrn  ist  der  Weisheit  Anfang. 

43.  Matth.  5,  4.  Selig  sindi  die  da  Leid  tragen;  denn  sie  sollen 

getröstet  v.  t  r  lcn. 

44.  Matth.  5,  7.  Selig  sind  die  Barmherzigen;  denn  sie  werden 
Barmherzigkeit  erlangen. 

45.  Matth.  5,  8.  Selig  sind  die  reines  Herzens  sind;  denn  sie 
werden  Gott  schauen. 

46.  Matth.  5,  9.  Selig  sind  die  Friedfertigen  j  denn  sie  werden 
Gottes  Kinder  heissen. 

47.  Matth.  5,  14a.  16.  Ihr  seid  das  Licht  der  Welt  Also 
laast  euer  Licht  leuchten  vor  den  Leuten,  dass  sie  eure  guten  Werke 
sehen,  und  euern  Vater  im  Tlimmel  preisen. 

48.  Matth.  5,  34.  37.  Ich  sage  euch,  dass  ihr  überhaupt  nicht 
schwören  sollt.  Eure  Rede  sei:  Ja,  ja;  nein,  nein.  Was  darüber  ist, 
das  ist  vom  Übel 

49.  Matth.  5,  44.  45.  Liebet  eure  Feinde;  seg^net^  die  euch 
fluchen;  tut  wohl  denen,  die  euch  hassen;  bittet  für  die,  so  euch 
beleidigen  und  verfolgen,  auf  dass  ihr  Kinder  seid  eures  Vaters 
im  Himmel.  Denn  er  lässt  seine  Sonne  aufgehen  über  die  Bösen 
und  über  die  Guten  und  lässt  regnen  über  Gerechte  und  Ungerechte. 

50.  Matth.  5,  48.  Ihr  sollt  vollkommen  sein,  gleich  wie  euer 
Vater  im  Himmel  vollkommen  ist. 

51.  Matth.  6,  5 — 6.  Wenn  du  betest,  sollst  du  nicht  sein  wie 
die  Heucliler,  die  da  gerne  stehen  und  beten  in  den  Schulen  und 
an  den  i-ciccn  auf  den  Gassen,  aul  dass  sie  von  den  Leuten  gesehen 
werden.  Wahrfidi,  ich  sage  euch:  Sie  haben  ihren  Lohn  dahin. 
Wenn  aber  du  betest,  so  gehe  in  dein  Kämmerlein  und  scbfiesse 
die  Tür  zu  und  bete  zu  deinem  Vater  im  Vcrborj^^^enen' 

52.  Matth.  6,  14.  15.  So  ihr  den  Menschen  ihre  Fehler  ver- 
gebet, so  wird  euch  euer  himmlischer  Vater  auch  vergeben.  W^o 
ihr  aber  den  Mensdien  ihre  Fehler  nidit  vergebet,  so  wird  euch 
euer  Vater  eure  Fehler  auch  nicht  vergeben. 

"3.  Matth.  6,  24.  Niemand  kann  zweien  Herren  dienen. 
Entweder  er  wird  einen  hassen  und  den  andern  lieben ,  oder 
wird  einem  anhangen  und  den  andern  verachten.  Ihr  könnet  nicht 
Gott  dienen  und  dem  Mammon. 

54.  Matth.  6,  25 — 26.  Sorget  nicht  für  euer  Leben,  was  ihr 
essen  und  trinken  werdet;  auch  nicht  für  euern  Leib,  was  ihr  an- 
ziehen werdet.  Ist  nicht  das  Leben  mehr  denn  die  Speise  und  der 
Leib  mehr  denn  die  Kleidung?  Sehet  die  Vögel  unter  dem  Himmel 
an.  Sie  saen  nicht,  sie  ernten  nicht,  sie  sammeln  nicht  in  die 
Scheunen  und  euer  himmlischer  Vater  nähret  sie  doch!  Seid  ihr 
denn  nicht  viel  mehr  denn  sie? 


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—  3*0  — 


55.  Matth.  6,  51 — 33.  Ihr  sollt  nicht  sorgen  und  sagen:  Was 
werden  wir  essen?   Was  werden  wu-  trinken?   Womit  werden  wir 

uns  kleiden?  Nach  solchem  allen  trachten  die  Heiden.  Denn  euer 
himmlischer  Vater  weiss,  dass  ihr  das  alles  bedürfet  Trachtet  am 
ersten  nach  dem  Reiche  Gottes  und  nach  seiner  Gerechtigkeit,  so 
wird  euch  solches  alles  zufallen. 

56.  Matth.  7,  I — 3.  Richtet  nicht,  auf  dass  ihr  nicht  gerichtet 
wcrHet.  Denn  mit  welcherlei  Gericht  ihr  richtet,  werdet  ihr  gerichtet 
werden,  und  mit  welcherlei  Mass  ihr  messet,  wird  euch  gemessen 
werden. 

57.  Matth.  7,  7.  Bittet,  so  wird  euch  gegeben;  suchet,  so 
werdet  ihr  finden;  klopfet  an,  so  wird  euch  aufgetan. 

58.  Matth.  7,  13 — 14.  Gehet  ein  durch  die  enge  Pforte. 
Denn  die  Pforte  ist  weit,  und  der  Weg  ist  breit,  der  zur  Verdammnis 
abiuhiet  und  ihrer  sind  viele,  die  darauf  wandeln.  Und  die  Pforte 
ist  enge,  und  der  Weg  ist  schmal,  der  zum  Leben  führet,  und 
wenige  sind  ihrer,  die  &n  finden. 

59.  Matth.  7,  21.  Es  werden  nidit  all^  die  zu  mir  sagen: 
Herr,  Herr!  in  das  Himmelreich  kommen,  sondem  die  den  Willen 
tun  meines  Vaters  im  Himmel. 

60.  Matth.  8,  20.  Die  Fuciisc  haben  Gruben  und  die  Vogel 
unter  dem  Himmel  haben  Nester;  aber  des  Menschen  Sohn  hat 
nicht,  da  er  sein  Haupt  hinlege. 

61.  Matth.  10,  t6.  Seid  klug  wie  die  Schlangen  und  ohne 
Falsch  wie  die  Tauben. 

62.  Matth.  10,  38.  Wer  nicht  sein  Kreuz  auf  sich  nimmt  und 
folget  mir  nach,  der  ist  mein  nicht  wert 

63.  Matlh.  II,  28— 3a  Kommet  her  zu  mir  alle,  die  ihr 
mühselig  und  beladen  seid,  ich  will  euch  erquicken.  Nehmet  auf 
euch  mein  Joch  und  lernet  von  mir;  denn  ich  bm  sanftmütig  und 
von  Herzen  demütig:  so  werdet  ihre  Ruhe  finden  für  eure  Seelea 
Denn  mein  Joch  ist  saft,  und  meine  Last  ist  Idcht 

64.  Matth.  12,  34.  36.  Wes  das  Herz  voll  ist,  des  gehet  der 
Mund  über.  Ich  sage  euch  aber,  dass  die  Menschen  müssen  Rechen- 
schaft geben  am  jüngsten  Gericht  von  einem  jeglichen  unnützen 
Wort,  das  sie  geredet  haben. 

6$.  Matth.  16,  26.  Was  hülfe  es  dem  Menschen,  so  er  die 
«nze  Welt  gewönne  und  nähme  doch  Schaden  an  seiner  Seck? 
Oder  was  kann  der  Mensch  geben,  damit  er  seine  Seele  wieder  löse? 

66.  Mritth.  20,  28.  Des  Menschen  Sohn  ist  nicht  gekommen, 
dass  er  sich  dienen  lasse,  sondem  dass  er  diene  und  gebe  sein 
Leben  zu  einer  Erlösung  für  viele. 

6^.  Matth.  33,  31  b.  Gebet  dem  Kaiser,  was  des  Kaisers  ist, 
und  (jotte,  was  Gottes  ist 

68.  Matth.  22,  37 — 39.  Du  sollst  lieben  (xott,  deinen  Herrn, 
von  ganzem  Herzen,  von  ganzer  Seele  und  von  ganzem  Gemütc. 


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Dies  ist  das  vornehmste  und  grösste  Gebot.  Das  andere  aber  ist 
ihm  gleich:  Du  sollst  deinen  Nächsten  lieben  wie  dich  selbst 

6g.  Matth.  24,  35.  Himmel  und  Erde  werden  vergehen j  aber 
meine  Worte  werden  mdit  vergehen. 

7a  Matth.  26,  41.  Wachet  und  betet,  daas  Ihr  nicht  in 
Anfirähtung  fallet;  der  Geist  ist  willig,  aber  das  Fleisch  ist  schwach. 

71.  Mark.  10,  14.  Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen  und 
wehret  ihnen  nicht;  denn  solcher  ist  das  Reich  Gottes. 

72.  Luk.  II,  28.  Selig  sind,  die  Gottes  Wort  hören  und 
bewahien« 

73.  Luk  17,  10.  Wenn  ihr  alles  getan  habt,  was  euch  bdohleo 
bt,  so  sprechet:  Wir  sind  unnütze  Knechte;  wir  haben  getan,  was 

wir  zu  tun  schuldig  waren. 

74.  Job.  3,  16.  Also  hat  Gott  die  Welt  geliebt,  dass  er  seinen 
aneeboraen  Säm  gab,  auf  dass  alle,  die  an  ihn  glauben,  nidit 
verloren  werden,  sondern  das  ewige  Leben  haben. 

75.  Joh.  4,  24.  Gott  Ist  Geist,  und  die  ihn  anbeten,  die 
müssen  ihn  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  anbeten. 

76.  Joh.  6,  68.  Herr,  wohin  sollen  wir  gehen?  Du  hast 
Worte  des  ewigen  Lebens,  und  wir  haben  geglaubt  und  erkannt, 
dass  du  bist  dästus,  der  Sohn  des  lebendigen  Gottes. 

77.  Joh.  9,  4.  Ich  muss  wirken,  so  lange  cs  Tag  ist;  es 
kommt  die  Nacht,  da  niemand  wirken  kann. 

78.  Joh.  II,  25.  Ich  bin  die  Auferstehung^  und  das  Leben, 
wer  an  mich  glaubet,  der  wird  leben,  ob  er  gleich  stürbe^  und 
wer  da  lebet  und  glaubet  an  mich,  der  wird  nunmermehr  sterben. 

79.  Joh.  13,  15.  Ein  Beispiel  habe  ich  euch  gegeben,  dass  ihr 
tut,  wie  ich  euch  getan  habe. 

80.  Joh.  13,  34.  35.  Ein  neu  Gebot  gebe  ich  euch,  dass  ihr 
euch  untereinander  liebet,  wie  ich  euch  geliebet  habe.  Dabei  wird 
jedermann  erkennen,  dass  ihr  meine  Jünger  seid,  so  ihr  Liebe  unter- 
einander habt 

81.  Joh.  14,  6.  Ich  liiii  der  Wc;.^  und  die  Wahrheit  Und  daS 
Leben  j  niemand  kommt  zum  Vater,  denn  durch  mich. 

•  82.  Joh.  16,  33  b.  In  der  Welt  habt  ihr  Angst;  aber  seid 
getrost,  ich  habe  die  Welt  überwunden. 

83.  Apost  14,  17.  Gott  hat  steh  selbst  nicht  unbcstuget 
gelassen,  hat  uns  viel  Gutes  getan  und  vom  Himmel  Regen  und 
fruchtbare  Zeiten  gegeben,  unsere  Herzen  erfüllet  mit  Speiae  und 
Freude. 

84.  Apost  X>,  35.    Geben  bt  seliger  denn  nehmen. 

S5.  Röm.  I,  16.  Ich  schäme  nSch  des  Evai^ütmu  von 
Christo  nicht;  denn  es  ist  eine  Kraft  Gottes,  die  da  selig  machA 
alle,  die  daran  glauben. 

86.  Röm.  3,  28.  So  halten  wir  cs  nun,  dass  der  Mensch 
gerecht  werde  ohne  des  Gesetzes  Werke  allein  durch  den  Glauben. 


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—   312  — 


8/.  Rom.  8,  28.  Wir  wissen,  dass  deaen,  die  Gott  lieben, 
alle  Dinge  zum  Besten  dienen. 

88.  Rdm.  II,  36.  Von  ihm  und  durch  ihn  und  zu  ihm  sind 
alle  Dinge.   Ihm  sei  Ehre  in  Ewigkeit  1 

89.  Rom.  12,  12.  Seid  fröhlich  in  Hoffiiung,  geduldig  in 
Trübsal,  haltet  an  am  Gebet! 

90.  Rom.  12,  15.  Freuet  euch  mit  den  Fröhlichen  und  weinet 
mit  den  Weinenden. 

91.  Röm.  14,  8.  9.  Leben  wir^  so  leben  wir  dem  Heim : 
sterben  wir,  so  sterben  wir  dem  Herra  Darum  wir  leben  oder 
sterben,  so  sind  wir  des  Herrn. 

92.  Rom  14,  17.  Das  Reich  Gottes  ist  nicht  Essen  und  Trinken, 
sondern  GercciiUgkcit  und  Friede  und  incude  in  dem  heiligen  Geist. 

93.  I.  Kor.  3,  II.  Einen  andern  Grund  kann  niemand  legen 
ausser  dem»  der  gelegt  ist,  welcher  ist  Jesus  Christus. 

94.  I.  Kor.  7,  23.  Ihr  seid  teuer  erkauft;  werdet  nicht  der 
Menschen  Knechte  1 

95.  I.  Kor.  10,  12.  Wer  sich  lasset  dünken,  er  stehe,  mag 
wohl  zusehen,  dass  er  nicht  falle. 

96.  I.  Kor.  13»  I — 3.  Wenn  ich  mit  Menschen-  und  mit 
Engelzunq-en  redete,  und  hätte  der  Liebe  nicht,  so  wäre  ich  ein 
tönend  Lrz  oder  eine  klingende  Schelle.  Und  wenn  ich  wcis^iar^en 
könnte  und  wüsste  alle  Geheimnisse  und  alle  Erkenntnis  und  hatte 
allen  Glauben,  also  dass  ich  Berge  versetzte,  und  hatte  der  Liebe 
nicht,  so  wäre  ich  nichts.  Und  wenn  ich  alle  meine  Habe  den 
Armen  gäbe  und  liesse  meinen  Leib  brennen  und  h&tte  der  Liebe 
nicht,  so  wäre  mir's  nichts  nütze. 

97.  I.  Kor.  15,  42 — 44.  Es  wird  gesäet  verweslich  und  wird 
auferstehen  unverweslich.  Es  wird  gesäet  in  Unehre  und  wird  auf- 
erstehen in  Herrlichkeit  Es  wird  gesaet  in  Scbwacbheit  und  wird 
auferstehen  in  Kraft. 

98.  2.  Kor.  3,  6.  Der  Buchstabe  tötet,  aber  der  Geist  macht 
lebendig. 

99.  2.  Kor.  5,  IG.  Wir  müssen  alle  uüenbar  werden  vor  dem 
Ricfatstubl  Christi,  auf  dass  ein  jeglicher  empfahe,  nach  dem  er 
gehanddt  hat  bei  Leibesleben,  es  sd  gut  oder  böse. 

100.  2.  Kor.  9,  7.     Einen  fröhlichen  Geber    hat    Gott  lieb. 

101.  2.  Kor.  13,  13.  Die  Gnade  unscrs  Herrn  Jesu  Christi 
und  die  Liebe  Gottes  und  die  Gemeinschaft  des  heiligen  Geistes 
sei  mit  euch  allen. 

102.  GaL  6,  7.  8.  Irret  euch  nicht,  Gott  laast  sich  nicht 
spotten.  Denn  was  der  Mensch  säet,  das  wird  er  ernten.  Wer  rl^•f 
sein  Fleisch  säet,  der  wird  von  dein  Mclsch  das  Verderben  ernten. 
Wer  aber  auf  den  Geist  saet,  der  wird  von  dem  Geist  das  ewige 
Leben  ernten. 

103.  Eph.  4,  25.  Leget  die  Lüge  ab  und  redet  die  Wahrheit, 


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ein  jeglicher  mit  seinem  Nächsten,  weil  wir  untereinander  Glieder 
sind. 

104.  Eph.  4,  28.  Wer  gestohlen  hat,  der  stehle  nicht  mehr, 
sondern  arbeite  und  schaffe  mit  den  Händen  etwas  Gutes,  auf  dass 
er  habe  zu  geben  dem  Dürftigen. 

105.  PhiL  3,  12.  Nicht  dass  ich*s  schon  ergrifTen  habe  oder 
schon  vollkommen  sei;  ich  js^e  ihm  aber  nach,  ob  ich's  auch 
ergreifen  möchte,  nachdem  ich  von  Christo  Jesu  ergriffen  bin. 

106.  Phil.  4,  4.  Freuet  euch  in  dem  Herrn  allewege  und 
abermal  sage  ich:  Freuet  euchl 

107.  Phil.  4,  7.  Der  Friede  Gottes,  welcher  höher  ist  als 
aUe  Vernunft,  bewahre  eure  Herzen  und  Sinne  in  Christo  Jesu. 

108.  Kol.  3,  16.  Lasset  das  Wort  Christi  unter  euch  reichlich 
wohnen  in  aller  Weisheit;  lehret  und  vermahnet  euch  selbst  mit 
i  sainien  und  Lobgesangen  und  geistlichen,  lieblichen  Liedern,  und 
singet  dem  Herrn  in  euerm  Herzen* 

109.  2.  Thess.  3,  lobw  So  jemand  nicht  will  arbeiten,  der 
soU  auch  nicht  essen. 

HO.  1.  Petri  2,  17.  Tut  Ehre  jedermann l  Habt  die  Brüder 
liebl    Fürchtet  Gottl    Eliret  den  König! 

111.  I.  Petri  5,  5b.  Gott  widerstehet  den  Hoflartigen;  aber 
den  Demutigen  gibt  er  Gnade. 

112.  I.  Petri  5,  7.  Alle  eure  Sorge  werfet  auf  ihn;  denn  er 
sorget  für  euch. 

113.  I.  j oh.  2,  17.  Die  Welt  vergehet  mit  ihrer  Lusti  wer 
aber  den  Willen  Gottes  tut,  der  bleibet  in  Ewigkeit 

IZ4.  I.  Joh.  4,  16.  Gfott  ist  die  Liebe  und  wer  in  der  Liebe 
bleibet,  der  bleibet  in  Gott  und  Gott  in  ihm. 

115.  I.  Joh.  5,  3.  Das  ist  die  Liebe  zu  Gott,  dass  wir  seine 
Gebote  halten,  und  seine  Gebote  sind  nicht  schwer. 

116.  Hebr.  13,  16.  Wohlzutun  und  mitzuteilen  vergesset  nicht; 
denn  solche  Opfer  gefallen  Gott  wohL 

117.  Hebr.  13,  17,  Gehorchet  euem  Lehrern  und  folget  ihnen; 
denn  sie  wachen  über  eure  Seelen,  als  die  da  Rechenschaft  dafür 
geben  sollen,  auf  dass  sie  das  mit  Freuden  tun  und  nicht  mit 
Seufzen;  dcaa  das  ist  euch  nicht  guL 

118.  Offb.  2,  la  Sei  getreu  bis  in  den  Tod,  so  will  ich  dir 
die  Krone  des  Lebens  geben. 

TT9.  Offenb.  14,  13.  Selig  sind  die  Toten,  die  in  dem  Herrn 
sterben  von  nun  an.  Ja  der  Geist  spricht,  dass  sie  ruhen  von  ihrer 
Arbeit;  denn  ihre  Werke  folgen  ihnen  nach. 

12a  Offb.  21,4.  Gott  wird  abwischen  alle  Tranen  von  ihren 
Augen ;  und  der  Tod  wird  nicht  mehr  sein,  noch  Leid,  noch  Gesdirei, 
noch  Schmerzen  wird  mehr  sein;  denn  das  Erste  ist  vergangen. 


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—    3i4  — 


SohliM. 

Wenn  wir  das  alte  Spradibuch  mit  diesem  neuen  zunSdist 
äusserlich  vergleichen,  so  enthält  jenes  150,  dieses  120  NummeriL 

Da  aber  vor  allem  lange  Sprüche  teils  schon  früher  in  eckige 
Klammem  gesetzt,  teils  von  mir  ausgelassen  sind  und  da  ich  auch 
bei  den  stehen  gebhebenen  Nummern  hier  und  da  überflüssige 
Verse  gestrichen  habe,  so  ist  die  tatsächliche  Erleichterung  für  das 
Lernen  weit  bedeutender.  Das  ake  Spruchbuch  enthtdt  in 
150  Sprüchen  5500  Wörter,  das  neue  enthält  2700,  also  nur  knapp 
die  Hälfte.  Dies  hat  auch  darin  seinen  Grund,  dass  die  30  neu 
aufgenonunenen  Nummern  fast  durchwein  kurze  Sprüche  enthaltea 

Weit  wichtiger  ist  das  Verhältnis  der  Schriften,  aus  denen  die 
Sprüche  genonunen  sind.  In  das  alte  Spruchbuch  sind  nur  30  Worte 
Qiristi,  aJso  ^Z«  des  Spruchbucfas»  in  das  neue  40^  also  auf* 
genommen.  Worte  des  Paulus  finden  sich  im  alten  50,  also  ^f^, 
im  neuen  25,  also  \  -,.  Dri?  Verhältnis  zwischen  Paulus  und  Christus 
hat  sich  also  g^enau  umgekehrt.  Bei  aller  Schätzung  des  Paulus 
dürfte  man  wohl  nirgends  diese  Umkehrung  für  unrichtig  haltea 
Die  Steilen  aus  den  Psalmen  umfassen  bd  dem  alten  Spruchbucfa  V» 
bei  dem  neuen  ^j^  des  Gesamtumfangs.  Das  Ergebnis  der  Nen- 
auswahl,  das  nicht  absichtlich  herbeigeführt  wurde,  sondern  sich 
aus  den  Grundsätzen  von  selbst  ergab,  ist  also,  dass  die  Worte  des 
Herrn  und  die  Poesie  im  neuen  Spruchbuch  stärker  hervortreten, 
Paulus  suruckttitt  Dieses  praktische  Ergebnis  scheint  mir  den 
Sclduss  zuzulassen,  dass  meine  Grundsatze  richtig  sind. 

Die  wichtigste  Änderung  bezieht  sich  auf  den  Inhalt  Das 
Spnichbuch  ist  so  nicht  mehr  eine  Sammlung  von  Belegstellen  für 
die  Lehre,  sondern  eine  Sammlung  von  Lebensworten  für  die 
praktische  Frömmigkeit  Es  entspricht  damit  einem  der  erfreulichsten 
Zuge  der  Gegenwart,  der  Abkoir  von  der  Theorie  und  der  Hin- 
wendung zum  praktischen  Leben.  Ich  denke,  dass  bei  Benut2ui^ 
eines  Spruchbuchs,  wie  ich  es  vorschlage,  die  Schule  in  höherem 
Masse  als  bisher  im  Stande  ist,  lebendige  warme  Frömmigkeit  an- 
zubahnen. 


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-   3"S  - 


B.  Kleinere  Beiträge  uud  Mitteilaugen. 

1. 

Zu  Hertarts  Mr«  von  den  Stufen  des  Untsrrldits. 

Eiu  Bericht  von  Fr.  Franke. 

Die  im  1.  Heft  S.  ß5  angetüudigte  gemeinsame  Sitznnj!:  der  IJ^^rhfirtVrilnzchen 
von  Halle,  Nftnmbnr'tr,  Leipzig  usw.  hat  den  27.  Februar  in  Leipzig  stattgefunden. 
Die  Absicht  der  Vereinigungea  geht  dahin,  Uerbart«  didaktische  VVeiaangea 
mSgfHehat  weit  Ut  zur  unmittelbaren  Praxis  m  ▼erfolgen  und  damit  ttber  gewisu 
Punkte,  die  immer  wieder  umstritten  werden,  mt  KllThflit  sa  geUuigen.  Das 
(lifc<nialige  einleitende  Referat  von  Rektor  Haase  ans  Halle  wollte  ansschliessllch 
den  Sinn  der  Stufen  bei  üerbart  feststellen  und  hielt  sich  hauptsächlich 
an  die  „Allg.  Pftd.".  Nachdem  Herbart  Vielseitigkeit  des  Interesse  als  näheren 
Zweek  d«  Untmiehts  feslgwttllt  hftt  (A.  P.  L  Bach,  8.  Kap.),  bchud«lt  «r  erat 
die  Vielseitigkeit  und  dann  du  Imbenmb  «inieln;  aoi  der  ezeteren  gewinnt  er 
die  ^.formalen  Begriffe" :  Klarheit  und  Assoziation  (=  ruhende  und  fortschreitende 
Vertiefung),  System  und  Methode  (ruhende  und  fortschreitende  T^eftirtnnncT  ^1  IV 
ans  dem  Interesse  gewinnt  er  die  Beihe:  Merken,  Erwarten,  i^'ordem,  Mandeln 
CII  2).  BeMe  Beiken  soimeii  legeln  dns  Nnekeinander  dei  Unterrlehti 
Cn  4,  Abeetn  17IL). 

Der  Vortragende  betrachtete  die  aus  der  Vielseitigkeit  gewonnenen 
vier  Begriffe  ziinK(h<?t  als  „allgemeine  Bildungsstufen"  und  erst  darnach  aiB 
Stufen  des  absichtlichen  Unterrichts.  Ob  diese  Unterscheidung  bei  Herbart  vor- 
banden  Mi,  dae  wnzde  in  der  Besprechung  der  Naohprttfting  empfohlen.  Oer 
Vortragende  katta  daianf  MngewieieB,  daie  Herbert  mitten  in  der  Sntwieketaag 
der  Begriffe  z.B.  sagt,  der  Erzieher  müsse  „das  eigene  pftdagogische  Denken 
methodisch  beherrschen"  fll  1  20).  Fenier  werden  die  VorEfänge  in  einer  Voll- 
endung gedacht,  die  dem  Unterricht  in  seinen  Anilngen  nur  als  ein  fernes  Ziel 
Torach weben  kann;  man  moas  aber  sngleich  daran  denken,  dass  Herbart  auch  die 
(UkeepUaeke  lUnütSt  der  ünivenitlft,  „falb  der  Btodievenda  sie  gekSiiff 
benntst",  flun  ersiehenden  Untarri^  rechnet  (Outachten  Qber  Oraff,  Abs.  112). 
Will  man  sich  dann  klar  machen,  was  die  Vorgänge  im  TMitPr rieht  bedeuten 
sollpTi.  so  denke  man  des  üegensatzes  wegen  an  solchen  n-inen  ^  ik  hunicrrirht. 
der  die  tertigen  Ergebnisse  der  betr.  Wissenschaft  einlach  in  ä^Htematiscker 
Ordnung  ttkeiliafert.  Hit  so  geMduetem  Wiaaen  daif  der  Unterriekty  der  alck 
yieläoitiges  (unndttalbaraa)  Interesae  snm  Zid  geaetst  hat,  nicht  den  Anfang 
machen,  sondern  er  muss  znnSehst  naohsuahmen  suchen,  wie  schon  vnr  aller  ab- 
sichtlichen Ciiterweisung  F  r  f  II  Ii  r  u  n  g  und  Umgang  den  Geist  bereichert  haben. 
Was  im  System  beisammen  steht,  das  steht  im  Leben  meist  weit  auseinander, 
ja  ea  kommt  Tlalleidit  nie  von  aelbet  miamnien;  und  nragekekrt,  waa  im  Laken 
hf^aamma»  ist,  das  yerteilt  die  Fachwisaenadiaft,  um  ihre  besonderen  Zwecke  in 
llffdmi,  in  Tareekiadeaa  Fteker.    (Peataloaii  ateUt  einmal  die  Ordmug  dar 


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—    $16  — 


PfUuuNi  auf  der  Wiese  und  in  der  Boteatk  eumder  gegenüber.)  Bine  MelnlMit 
▼on  fftchwimemdiaftlioli  ulie  wmmmi^MSägtiA  EinsellMiteB  (es  wurden  i.  B. 

die  drei  Abomarten  genannt,  znnilchst  aber  genttgen  schon  iwei  davon)  bilden 
nach  Herbarts  Ansdmck  eine  „kleinste  Gruppe"  oder  ein  „lileinstes  Glied'' 
(A.  P.  II  4,  22—24).  Folgt  man  (im  Anfang  und  ao  lange  es  nötig  ist),  dem, 
wss  dnieh  loldieii  lelteittVoUeii  Znsemmenhsiig  gegeben  wird,  eo  kommt  die 
«weite  Art  Tielleieht  eine  betHtehfliehe  Zelt  später  snr  «raten  liinsa.  Die  vidn 
s.  T.  ganz  zufälligen  und  ftosserlichen  Verbindungen  würden  aber  allm&hlidt 
eine  drückende  Laat  werden,  wenn  nicht  in  dieseni  Reichtum  Hauptsachen  nnd 
Kebensacben  unterschieden  wflrden  und  jene  die  Oberhand  erhielten;  also  hebt 
eich  aus  den  vielerlei  Verbindungen  als  „auserw&hlte  Beihe"  die  Ordnung  in 
System  henns  (A.  P.  n  1,  S8).  län  seleher  Gang  wird  sieh  nnsihlige  Heb 
wiederholen,  es  werden  aus  den  vielen  kleinen  Gruppen  durch  allm&hlicbe 
Vereinignnp  höhere  nnd  wieder  höhere  Besinuungsstnfen  pntstehen  feb.  4,  231 
Immer  wird  die  bessere  Ordnnng  ancb  die  Anwendbarkeit  erweitem  :  aber  zu 
vielseitiger  Anwendung  im  Leben  ist  neben  der  systematischen  Anordnung,  die 
«le  die  vonllfl^here  Aber  jede  andere  gestdlt  worden  ist,  ench  die  Venge  der 
nf&lligen  Verbindungen  wichtig  nnd  notwendig.  Fehlen  sie  zu  sehr,  »o  werda 
viele  Krenznnsren  der  Gedanken  nicht  bemerkt,  tind  der  systematisch  geordnete 
Beichtttiii  stiftet  iu  seiner  Sphäre  Einseitigkeit  und  Steifheit  statt  Vielseitigkät 
nnd  Beweglichkeit. 

Der  Vertragende  eritnterte  das  an  dem  Beispiele  te  Geographie,  die  gut 
angebunden  beginnen  mnss  mit  der  Auffessong,  Zerlegung  nnd  Benanrang  d« 
wirklichen  Urn^bung.  Diese  Wirklichkeit  ist  hier  der  erste  Zusammenhang,  dem 
man  nachgeht.  Solchen  natürlichen ,  nicht  -  systematischen  Zusaniraenbang 
setzen  Herbarte  Stufen  immer  voraus  ^  ein  weiteres  Beispiel  neben  der  Heimat 
ist  die  Loktttn  der  Odyssee,  wondt  Herbart  den  giiaehlsdMn  UalenicM  wiiUioh 
anfing  und  nnn  ven  da  ans  ailmllüieh  a.  B.  Elemente  der  Vfilkerkonde,  dm 
gesellschaftlichen  Lebens,  aber  auch  der  griechischen  Grammatik  gewann. 

Trotzdem  aber  dieser  Unterricht  von  dem  rein  logisch  angreordneten  Fach- 
unterricht so  verschieden  verfährt,  soll  er  doch  allmählich  in  demselben  Qb^ 
geben.  Wenn  der  erste  Unterricht,  indem  er  von  lebensvollen  Zosammenhingen 
aasgeht,  nnr  das  natftrlidie  logisdie  BedUrfnis  beaebtei  nnd  nlbrt^  so  gewinnt 
der  Schüler  mit  den  Mberen  Besiunnngai  andi  eine  wachsende  Fähigkeit,  in 
systematischer  Ordnnn^r  ?n  lernen.  Ein*'  ..erowe  Gefahr"  dagegen  liect  fiarin, 
dass  gewisse  moderne  BeBtrebnngen  am  liebsten  lauter  Vertiefungen  aneinander 
reihen  möchten.  Die  Anhänger  solchen  Verfahrens  denken  allerdings  mehr  an 
das^  was  mm  Ihtexesie,  also  in  die  sweit»  der  obigen  BegriHbreihen  gehört 
Hit  den  hierzu  gdiOrigen  Fragen  kam  die  Besprechung  nicht  zu  Ende;  mm  v^ill 
also  in  einer  Herbstversammlnng  den  Gej^enstand  weiter  behnndeln.  Was  Vor- 
stehendes festzuhalten  auclit  f^as  ist  im  wesentlichen  von  Glöckner  «schon  189*2 
im  24.  Jahrbuch  als  der  Siuu  der  vier  Stufen  Herbarts  dargesteUu  iJamais  war 
aber  einer  Verwirmng  an  wehren,  die  jetst  nidit  in  scdehem  Ibsse  Toriiegt,  and 
dabei  konnte  die  praktische  Endabsicht  der  jetzigen  Behandlung  nicht  besoadms 
verfolg-t  werden.  Was  Herbart  mit  den  vier  Begriffen  der  Klarheit  ugw.  fest- 
gesetzt hat)  das  hilft  daa  Lehxverfabren  wohl  in  jedem  Aogenblick  bestinunea; 


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—  317  — 


denn  immer  soll  man  für  Klarheit  des  Einzelnen  und  für  mannigfache  Assoziationen 
sorgen,  so  weit  die  Erfahrung  nicht  schon  das  Nötige  tut  (Umriss  HO,  120), 
man  soll  nicht  versäumen,  im  rechten  Zeitpunkte  Gruppen  zu  bilden  und  kleinere 
Qiiqipen  immer  wieder  m  höheren  Gruppen  tusammemiaxieheu,  endlich  mII  man 
jader  geoidmeten  SriMontnie  die  mflgliclie  Bfickwlrtebewegnog  in  der  Anweiidiiiig 
abgewiUMM.  Das  ganze  I^hrrerfahren  aber  hat  zugleidi  m  beachten  die 
Be'lins'nngen  des  Intrrv^?e,  die  sechs  Hauptklassen  des  Interesse  und  die  Unter- 
scheidung d«r  Uutcrrichtaart  (darstellend,  analjrtisch,  synthetisch).  „Und  erst  aus 
der  Rücksicht  auf  alle  diese  Begriffe  ergibt  sich  jedesmal  das  Lehrverfabreu, 
welches  bei  einem  bestimmten  Untenichteetoff  oder  Lehrabaolmitt  dosuschlagea 
ist."  (Glückner,  Jahrb.  24,  215.)  Die  Zusammenfassung  der  Bedingungen 
der  VlelseiiiL'keit  und  der  Fordeningen  des  Interesse  macht  aber  noch  Schwierig- 
keiten; deswegen  hat  Ziller  das  ganze  Lehrrerfahren,  wie  es  in  einem  g'eeifirneten 
Lehrabschnitt  2ur  Durchfuhraug  kummt,  den  vier  Begriffen  der  Klarheit  u»w. 
nntamuvdnen  geeaebt  nnd  dabei  die  Begriffe  einer  teilw^een  Umbildung  vnter- 
tieben  rntteien. 

II. 

Ferienkurt«. 

Das  Verzeichnis  für  die  Ferienkurse  in  Jena  (vom  4.— 17.  August  1909  fOr 
Danen  nnd  Herreu)  zeigt  wieder  eine  ganz  bedentende  Erweiterung.  Die  Zabl 
der  Teilnehmer  wer  im  vei^gangenen  Jahre  bereite  auf  637  geetlcffen,  wOrMid 

der  erste  Eursoe  im  Jahre  1889  nur  25  aufwies,  ein  Zeichen  für  die  Lebent' 
lahisTkeit  nnd  wachsende  Bedeutung  der  Einrichtung.  Das  diesjährige  Ver- 
zeichnis gliedert  sich  in  6  Abteilungen :  Naturwissenschaft  (14  Kurs«),  Pädagogik 
(9  Kurse),  Schulhygiene  (3  Kurse),  Beligionswissenschaft  und  Religionsonterricht 
(ß  Kvree),  PMleeopMe,  Oeeehiebte,  Idteratitt',  NationaliSkoiiomie  (12  KweeX  Spiadi- 
haiee  (8). 

Im  ganzen  werden  5ö  verschiedene  Kurse  gehalten,  teils  6-,  teils  V2  -ti'mdige. 
Programme  sind  kostenfrei  durch  das  Sekretariat,  Frl.  Clara  Blomejer, 
Jena,  Garteustrasüe  4,  zu  haben. 

An  der  Universität  C^reifswald  üudet  vom  5.  Juli  bis  24.  Juli  einFerien- 
knrens  (XVI.  Jahrgang)  statt    Die  Fieber  find  folgende:  Phonetik  (Pief. 

Henckenkamp),  Deutsche  Sprache  nnd  Literatur  (Prof.  Heller,  Privatdozent 
Dr.  Baeseck*»)  ?'mTi/ösisch  (M.  Plessis),  Englisch  (Mr.  Montgomerie),  Religion 
(Konsistorialrat  Prot.  Haussleiter),  Philosophie  (Prof.  Rehmke),  Geschichte  (Prof. 
Bemheim),  Kunstgeschichte  (Prof.  Semrau),  Geologie  (Prof.  Jaekel),  Obeoiie 
(PriTatdoient  Dr.  Stiecker),  Physik  (Prof.  Starke),  Biologie  (Prof.  Eallhu),  Botanik 
(Prof.  Schutt),  Fhyeiologje  (PriTatdoiant  Dr.  Mangold),  Hygiene  (Geheimrat  Prof. 
Löffler).  Den  Vorlesungen  zur  Seite  gehen  zoologische,  botanische,  physikalische 
Uebungen  bezw.  Exkursionen,  psychologisches  Seminar,  franzüsische, 
englische,  deutsche  SprachUbungen.  Ausführliche  Verzetchnisse  sind  unentgeltlich 
unter  dar  Adresse:  nFerienknrse  Greifswald**  sa  erlialten. 


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C  Bearteilniigeii. 


iQgt,  Prof..  Cbarftkterbildvitgr 

nnd  S oh ti lieben  oder  die  Lehre 
von  der  Zucht.  Vorträge,  gehalten 
bei  den  Ferienkursen  in  Jen». 
A.  W.  Ziokf  eldt,  VerlagsbnoUumdlllllg', 
Osterwieck  Hunt.   86  8. 

Han  kaiui  Jost  nur  dankbar  sein, 
daM  er  Mine  in  Jena  gehaltenen  Vor- 
trRgfe  in  Form  einer  Monographie  Uber 
die  Zucht  veröffentlicht  hat.  Gerade 
in  unserer  Zeit  tut  es  dringend  not, 
deaa  wir  der  CbarakterbUdnng  dorob 
des  ScbnQeben  erbSbte  Anfmerkeemkeit 
zuwenden.  Klarheit  und  Wärme  durch- 
sieben das  Bucb.  Secbs  Stuten  der 
Chanürterbildiiiis  mitersebeidet  der 
Verf.:  I.Stufe:  Gewöhnung  an  eine 
feste  Lebensordnune.  s)  Regelmässig- 
keit   der    riBBUefien  Befriedigung. 

b)  Anhalten  zu  entsprechender  regel- 
ro&ssijBrer  Beschäftigung  des  Kindes. 

c)  Einfache,  gleichförmige  Lebensart 
im  Hause,  d)  Dab  stete,  sieb  gleich 
Weihende  Verhalten  des  Erziehers. 
2.  Stufe:  WnSbtit  der  Bewegung  de« 
/'ÖL^lin;'*" .  wenn  er  an  Pönktlichkeit. 
Ürdiiuug  und  Sorgfalt  des  Verhaltens 
gewöhnt  ist.  aj  Gelegenheit  zum 
Handeln  geben.  b)  Teilnahme  des 
Ernehers  an  den  Nei^ingen  und  Be- 
strebungen des  Zöglfngj*.  c'  pHl.i- 
ffosiscbe  Strafen  und  Belohnungen. 
8.  Stufe:  Der  Zögling  wird  mr  mxf 
sieht  in  die  sittlichen  Elementar- 
▼tfb&ltnisse  geführt  4.  Stufe:  Um- 
wandlung der  sittlichen  Eineieht  in 
sittliches  Streben  und  Wollen,  iv  Ori^««e 
sittliche  Energie  ist  der  Effekt  grosner 
Szenen  und  ganzer  uuzerstttdkfeer 
Gedankenmasseu.  b}  Der  Zögling  mnss 
die  Macht  der  sittlichen  Krtfte  nicht 
nur  in  der  Pliantuie  undem  durch 
idealen  Umgang  erfahren,  c)  Ideali- 
sierende Begegnung.  5,  Stufe:  Aus- 
bildung bewnsster  sittlicher  Grundsätze 
und  Durchdringung  des  ganzen  geistigen 
Lebens  mit  ihnen.  6.  Stufe.  Erhebung 
der  trewonnenen  GrnndBätze  /,ur 
dauernden  Hentcbaft  im  Innern.  Die 
ersten  4  Stufen  UMen  den  objektiren 
Charakter,  er  wird  geleitet  von  einem 
enasen  stehenden  ^wussteein.  Die 


5.  und  6.  Stufe  bildMi  den  subjektiven 
Charakter;  das  eigene  sittliche  Bewnsst- 
sein  ubiriiimmt  die  Führung.  Herbart 
untersch  idrt  Die  haltende  Zucht 
(1.  u.  2.  >tiile  nach  .lust).  die  bestim- 
mende Zucht  1^3.  u.  4.  Stufe;, 
regelnde  Zucht  (5.  Stufe)  und  die  nnter> 
stutzende  Zucht  (6.  Stufe). 

Im  4.  und  5.  Kapitel  seines  Bucbee 
ftthrt  der  Verf.  aus,  welche  Gestalt  mi<l 
welche  Formen  da«  SchuUeben  haben 
mnss,  damit  der  GedaaltenkTete,  die 
Einsicht,  die  der  Unterricht  geweckt 
bat.  nc^  nmeetzen  soll  in  das  Wollen 
nad  rar  Anneruuii:  gelangen  in  der  Tat 

KOgen  recht  viele  das  Buch  studieren 
und  Bich  fttr  die  ideale  Pädagogik 
begeistern  lasent  „So  warm  md 
lebenskräftig,  so  natnrfriscb  und  viel- 
seitig auch  das  Leben  sich  regen  soll 
in  uneeren  Sdinlen,  immer  doch  soll  e« 

Setragen  sein  von  dem  ethischen  f^i"i?!f 
er  von  einem  Kant  und  Pestalozzi  und 
Herbart  ausgeht,  und  m  gerecht  es 
werden  soll  den  Gegenwartsbed&rtnissen, 
immer  soll  e.s  eingedenk  sein  des  hoben 
Zieles  der  Gesamterziehung:  den  junfirn 
Menschenkindern  die&icbtODg  ra  geben 
auf  ein  schönes,  odlc»  MenaehMtna, 
auf  eine  chainktervolln  dttUcbe 
Penünlichkeit." 

Der  Vetlagttr  knt  Iftr  «ina  wAtm 
Attietnttimg  dei  Bvehea  geeoigt 

Br.  Stnade  nnd  Dr.  GSpfert,  Lese* 

buch  für  den  deutschen  Ge- 
schichtsunterricht 3.  Teil:  Er- 
zählungen und  Bilder  aus  der  deutMchfln 
Geschichte  von  Heinrich  TV.  bis  zu 
Rudolf  Ton  Habsbuig.  2.  AuÜ.  Pr. 
75  Pf.  4.  Teil:  Ersiblungen  und 
Bilder  ans  der  deutschen  Geschichte 
von  Luiiier  bis  zum  dreisai«iäbri«ren 
Kriege.  2.  Aufl.  Fr.  70  Pf.  Dresden- 
Blasewits.  Blevl  di  Kaemmerer 
(Schambaoh).  1907. 

Müller  u.  Yölker,  Geschichte.  lia 
Wiederholungsbuch  für  die  TJanil  der 
SchfUer.  3.  Aufl.  Verlag  vuu  iümil 
Batk  in  Gieaaan.  Pr.  eOPf. 

Heinrich  Heine,  KaiserB  Bilder 
und  LebensbeschreibungeD 


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—  319  — 


ans  der  Weltgeschichte.  Ein 
Lehr-  und  Lesebuch  für  Mittel-, 
Bttr^er-  und  gehobene  Volksschulen 
80  wie  Töchterschulen.  6.  n.  7.  gleich- 
lautende Auflag.  Pr.  2,50  M. 
Hannover-Berlin.  Verlag  von  Karl 
Mcgrar  (GwtaT  Prior). 

Diese  BQcher  wurden  mir  zusammen 
snr  Besnrecbiine  auf  meinen  Arbeits« 
tiaeh  ^legt.  HttUer  n.  Völker  bieten 

ein  Wiederholunpsbuch,  einen  Leitfaden, 
der  eben  wie  alle  Leitfäden  in  trockenen 
Znnmineiistellnngen ,  in  aU^emeinen 
Zusammenfassungen,  die  meist  nicht 
zutreffend  oder  nur  halb  richtig  sind, 
den  UnterricbtutofT  darbietet,  so  dass 
die  Schüler  durch  ihn  nicht  erwärmt 
werden.  Kaiser-Heine  erzählen  zwar 
anschaulicher,  da.s  Bnch  ist  aber  trotz- 
dem von  dem  Ideal  eine«  Geschichts- 
lesebüches  weit  entfernt.  Der  Geschichts- 
unterricht hat  vor  allen  Dingen  die 
Teilnahme  so  zn  bilden,  dass  -das  Herz 
gross  und  voll  werde".  Mit  „voll- 
tönender, lebender  Stimme"  müssen  die 
GeschichtsdaisteUaiiffen  den  Kindern 
geboten  werdm.  wer  dM  verlangt, 
der  wird  es  in  den  Büchern  von  Oöpfert 
und  Stande  realisiert  finden.  Im 
AahttMe  dieeer  LeseMtaiier  beflndet  licb 
die  tTbersicht ,  die  auf  Grund  der 
Quellendarstellungen   gewonnen  wird. 

Es  ist  wirklich  gut,  von  Zeit  zn 
Zeit  UnterrichtBwerke,  wie  die  von 
Gebert  nnd  Stande  nnd  ähnlicbe,  die 
einen  wabrtaft  endehenden  Unteniebt 
zu  erteilen  sich  bemühen,  mit  solchen 
an  vergleichen,  denen  als  Ideal  nur  eine 
Lenewnle  vorsebw^it.  Der  Vergleich 
wird  stets  lehren:  dass  wir  mit  den 
snerst  genannten  Werken  anf  don 
riehtigen  tiBd. 

Nanmbug  a.8.  Henpriek 

E.  von  SeydlitS)  Handbuch  der 
Geographie.  S5. (JnbilBnnu-) Aus- 
gabe des  „Grossen  Seydlitz". ..  Heraus- 
gegeben von  Prof.  Dr.  £.  Ohlmann. 
Brealan  1908.  Pr.  geb.  6,60  X.,  in 
Halbfrans  7,60  H. 

Der  „Grosse  Seydlitz"  liegt  in  einem 
stattlichen  Bande  von  844  Seiten  in 
seiner  26.  Ansgabe  vor.  Das  Buch  an 
sich  ist  80  bekannt,  dass  wir  nicht  des 
näheren  auf  seine  Anlage  ^nzogehen 


brauchen.  Der  Herausgeber  hat  sich 
bemüht,  da«,  was  sich  als  gut  und 
praktisch  bewährt  hat,  beizubehalten, 
aber  überall  dem  Fortschritte  der 
geographischen  Wissenschaft  ent- 
sprechend Änderungen  nnd  Verbesse- 
rungen einzufügen,  sowie  ganze  Ab- 
schnitte neaansngliedern.  DerHaaptteil 
des  Biulis,  068  Seiten,  behindeh  die 
Länderkunde.  Hierbei  i.st  die  systema- 
tische Gliederung  nach  Grösse,  Grensen, 
Bev61kemng  nsw.  beibehalten,  mitunter 
auch  noch  die  veraltete,  aufzählende 
Behandluugsweise.  Der  2.  Hauptteil 
ist  der  allgemeinen  Erdkunde  gewidmet. 
In  diesem  Teile  ist  der  alte  „Seydlitz" 
vollständig  umgearbeitet,  öanz  neu 
ist  die  Uandelsgeo^phie  von  Prof. 
Dr.  Friedrich  bearbeitet.  Da«  Buch  ist 
bei  seinem  Lmfauge  natttriich  nicht 
als  Lehrbuch  fttr  den  Klassenunterricht 
gedacht,  für  diesen  solloi  vielmehr  die 
verschiedenen  verkürzten  Ausgaben 
des  Werkes  dienen.  Die  vorliegende 
JnbilAnmsansgabe  ist  ein  brancbbaxee 
md  anreittssiges  Werk  nrai  Nneh- 
schlagen  und  Lesen.  Es  wird  dm 
Lehrer  für  die  Vorbereitung  nm 
Vaterriebte  g[ute  Dienste  tun,  neer  noeb 
in  jeder  Privatbibliothek  ist  es  am 
Platze  und  wird  sicher  gern  nnd  oft 
zur  Hand  genommen  werden.  Der 
Preis  des  geschmackvoll  eingebundenen 
Buches  ist  im  Verhältnis  zu  Inhalt  und 
AusiKttnng  ausserordentlich  niedrig 
bemessen.  Die  .Ynsstattnng  mit  Bildern 
hat  eine  vollständige  Umwälzung 
gegenttber  den  älteren  Auflagen  er- 
fahren. Gegen  400  Abbildungen,  Karten 
und  Profile  sind  in  Schwarz-  oder 
Photographiedruck  eingefügt.  Nament- 
lieh  die  letstecen  Mkhnen  sichdurch 
wirkmffiToIle  Plas^  ms.  Übertll 
sind  charakteristische  Landschaften, 
Siedelnngsfoimen  usw.  ansffewählt. 
Ihrter  jedem  BUde  steht,  einer  bebumtea 
Ratzelscben  Forderung  entsprechend, 
ein  besonderer  erläuternder  Text,  der 
den  Beutaer  des  Baches  anf  das  auf- 
merksam macht,  was  auf  dem  Bilde  an 
fischen  geogiuohischen  Erscheinungen 
ta  sÄn  Vt  wir  iftouben  nicht  zuviel 
zn  sagen,  wenn  wir  behaupten,  dass 
hinsichtlich  der  Auswahl  und  .Xusführung 
der  nach  Photographien  hergestellten 
typischen  Landschaftsbilder  die 
Seydlitzsche    Jubiläumsausgabe  von 


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—    320  — 


keinem  audereu  ähnlichen  and  gleich 
billigen  Werke  Ubertroffen  wird.  Atiner 
Ftoffloi  «mI  Kirtoben  in  Sdiwandmek 

sind  ciera  Werke  a'if^h  v^pr  farbige 
Karten  beigegeben.  Aid  meisteu  fallen 
äosserlicb  die  30  ganzseitigen  farbigen 
Bildertafeln  auf,  die  tjpiHche  Land- 
schaften darstellen  und  die  bei  den 
einfarbigen  Drucken  nicht  zu  enddende 
Wirkuufr  der  natürlichen  Farben  zum 
Ausdruck  bringen.   Sie  treten  vielleicht 


mitunter  an  Schärfe  preg-enOber  den 
anderen  Bildem  sortlck,  «ind  aber  zom 
grBietta  Teile  dnreh  ihre  ParbwiwiAuBg 

!iorh  eindmrksvoller.  Ein  ausfflhrlichei 
Kegister  erhöht  den  Wert  des  Werkel 
als  Nachschlagebuch.  Auch  in  Schftle^ 
bibliotheken  und  als  Prämie  für  m- 
zozeicbnende  Schüler  wird  das  Bneh 
wUlkenunen  etf n. 

PlaiMniV.    '  Dr.  Zetnmrieh. 


Elagflgangene  Blldier» 

(Bcspradigm  vorbehakai.) 

Richert,  Hans,  Philosophie.    Lxipzi},'  190S.    Ti-ubner,    Fr.  gi-b.  1,25  M. 

Bancll,  Dr.  BruOO,  Geschichte  der  Philosophie,  IV.  Neuere  Philosophie  hi»  Kant. 

LdfMdf  191^.  Gflieben.  Fr.  0.80  M. 
iMi§ß,  Oliver,  Leben  nnd  Heterie.    Deoladic  ObenetMug.    Berfin  1908.  Caithis. 

Pr.  2,40  M. 

TiMUrkll»  Praf.  Dr.  Anna,  Spinoza.   8  Vorletnnsen.   Leipdg  1908.   Qndle  Mqrer. 

Pr.  geb.  2,40  M. 

Kleineobmldtf    Max,    Grammatik    und    Wissenschaft.      Eine     psychiatrische  Studir. 

HannOiver  1908.    M.  Jiincckc.    \'r.  1,50  M. 
Zur  Strassen,  Otto,  Die- neuere  TicqisychologiL-.   Leipzig  1908.   Teubncr.   Pr.  kart.  2  M, 
DekkOf,  Or.  Hermann,  Nalurgeschichtt  des  Kindes.    Stullgart.    Franckc.    Pr.  l  M. 
Meerkatz,  A.,  Einfühnuig  in  die  Psychologie.    Halle  1908.    Schroedel.    Pr.  2  M. 
Salomen,  Alice,  Soziale  Frauenbildung.    Leipzig  1908.    Teubner.    Pr.  geh.  1,20  U. 

Monumenta  Germanlae  Paedagogioa,  hcrausgcg.  von  der  Gesellschaft  fbr  deotsdie 

Erzichungs-  und  Schulgcschichte.  Bd.  XLl:  MittclschuIgcschichÜ.  Dokamentf 
Aitbayenu,  eioschlicsalich  Regeuaburgs,  von  Dr.  G.  Lurs.  i.  Teilj  Bd.  XLU  . 
a.  Teit,  Bd.  XLIII:  Andrea  Gnamas  Bdlnm  gnnunaticale  nnd  seine  Nacb> 
ahmungen  FroC  Joh.  Bolle.  Berlin  1907/oS.  Hofinann  Comp.  Pt.  9  ML, 
10  M.,  it  M. 

D8n*eroer,  Dr.  E,  OraaaMMI,  Dr.  IL,  Unsere  latlebchfller  m  Hanse.  Schal- 
hygienische  Studie.    München  I908.    Lehmann.    Pr.  5  M. 

KrOttf  Dr.  R.,  Französische  Taschengrammalik  des  Nutigsten.  Kreiburg  (Baden)  1906. 
Bielefeld.    Pr.  geb.  I  M. 

Ders.,  Englische  Tascbrnt^r  imT-ntik  r]rs  V  !i^-=;trn.    Ebenda.  1907.    Pr.  prh.   1.25  M. 

L'Hietolre  de  France  depuis  1326  jusqu'en  1871  von  Erost  Lavit>!»c  u.  a.,  bc^rb.  \oa 

II.  Brclschneider.    Wolfenbüttel  1905.    Zwissler.    Pr.  i  M. 
VallWflen  &  KlasingS  Sammtung  fnmrösischcr  und  englischer  Schulauspabrn.    Bd.  167 
Joseph  Chailley-Bcft,  Tu  scras  Commcryant.    Wörterbuch  dazu  20  Pf.    Bd.  168 ; 
Giranlt,  P.,  Tony  i  Paris.    Wörterbuch  30  Pf.    Bd.  169:  Chuqoet,  Arthur,  La 
Gnerre  de  1870I71.    Wörterbuch  30  Pf.   Bd.  170:  Guizot,  F.,  Histoire  de  ia 
CivUisation  en  Europe.    Wörterbuch  20  Pf.    Bd.  17?:    Edm.  et  Tnlcs  de 
Goncourt,   Histoire  de   la  Socictt    Fran(;aise.     Wörterbuch  20  Pf.     1  !  i~2 
Gaspard,  Emile,  Lc&  Pays  de  Fmuce.   Wörterbuch  30  Pf.   Bd.  17J:  Duruj, 
Victor,  Le  Sitele  de  Louis  XIV.   Bd.  174:  Chateaubriand,  Nmpoleon.   Bd.  175: 
Mme  B.  Boissonna««,  Unc  Familie  pcndant  la  Gurrre  iSjolJl.    Rd.  176:  Monod, 
Gabriel,  Allemands  et  Frao^^ais,  souvcnin  de  Campagne.     Leipzig  1907/0S. 
Vdhagen     lUaiing.    F^.  i  H,  f  ^       1,40  K.,  1^  It,  1*10  IL,  l^o  ML, 
1,50  K.,  1,80  M.,  1,30  II,  1,10  M.;  Wdfterbadier  daan  ao  n.  30  PC 


Oniek  TOB  A.  RtoU  4  Soba  ia  Naombuis  ».  S. 


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A.  Abhandlangen. 

L 

Das  biologische  Prinzip  im  naturgeschioiitliclion  Unterriciits. 

Von  Krebidiiiliiitpeldor  0.  KohlMytr  in  J«rotsdim  I.  P. 

Die  tntwickelungsgcschichtc  der  Methodik  des  naturgeschicht- 
lichen  Unterrichtes  beweist,  dass  seine  wissenschaftlichen  Grund- 
lagen die  methodische  Austeilung  des  Stoffes  durch  den  Unterricht 
gewissermassen  als  etwas  Naturgemasses  in  sich  selbst  bergen,  die 
Wahrung  der  geeigneten  Unterrichtsform  vorausgesetzt.  Daher  er- 
klärt es  sich,  dass  im  klassischen  Altertume  und  besonders  im 
Mittelalter,  wo  exakte  Forschungen  fast  gänzlich  fehlen,  der  natur- 
wissenschaftliche Stoff,  soweit  von  einer  untenichtUchen  Übermitte- 
lung^ überhaupt  die  Rede  sein  kann,  ohne  Anschauung^  an  die 
Schüler,  von  ihnen  meistens  gelesen,  herangebracht  wurde.  Erst  als 
das  Prinzip  der  Anschauung  durch  FranzBaco's  (gest  1626)  Forde- 
rung: „Man  muss  die  Natur  mit  Augen  anschauen,  statt  sie  aus 
Jiucliern  zu  studieren"  —  wenn  auch  durch  Baco  selbst  weniger,  als 
vielmehr  durch  Gafilad,  den  Vater  der  modernen  Naturwissenschaften, 
in  die  Tat  umgesetzt  —  der  wissenschaftlichen  Forschung  und  damit 
dem  Unterrichte  geboren  war.  konnte  sicli  die  Methodik  der  Aus- 
gestaltung dieses  berechtigten  Grundsatzes  widmen.  In  der  Theorie 
hat  er  gewiss  von  vornherein  Anerkennung  finden  müssen  j  an  seiner 
praktischen  Verwirklichung  im  naturgMchichtlichen  Untemchte 
arbeiteten  dann  drei  Jahrhunderte,  arbeiten  wir  noch  heute. 

Es  ist  erklärlich,  dass,  so  lange  die  Naturwissenschaft  sich  aus- 
schUesslich  oder  doch  vorwiegend  mit  dem  ,,Was"  und  „Wie"  in  der 
Natur,  mit  der  morphologisch-anatomischen  Seite  und,  getrennt  von 
dieser,  mit  der  physiologischen  Seite  der  Naturkörper  beschäftigte, 
auch  der  Unterricht  nur  so  die  dargebotenen  Stoffe  methodisch 
verarbeiten  konnte.  Das  ist  der  Fall  gewesen  bis  in  die  Mitte  des 
vorigen  Jahrhunderts.  Die  Wissenschaft  beschäftigte  sich  —  ver- 
einzelte Forscher  ausgenommen  —  durchweg  mit  Beschreiben  und 

PSdtcogiicbe  Studitro.   XXX.   6.  91 


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—    322  — 


Klassifizieren  der  Naturkörper»  also  auch  der  Unterricht;  der  äussere 
and  iDnere  Bau  der  Lebewesen  und  ihrer  Oi^^e  wurde  zu  deo  von 
ihnen  verrichteten  Lebenstätigkeiten  nicht  in  Beziehung  ge<:etzt. 
wie  das  heute  bei  der  biologischen  Unterrichtscrtcilung^  der  Fall  ist. 

Unter  diesem  Zeichen  der  Wissenschaft  stand  die  Methode 
Lübens»  deren  Einwirkung  auf  den  Unterrichtsbetrieb  von  heute  so 
bedeutsam  ist,  dass  wir  ihrer  und  ihres  Begründers  kurz  gedenken 
müssen,  um  den  '^^eschichtUchen  Faden  für  das  Verständnis  des 
Folgenden  zu  haben;  denn  Lübens  methodische  Korderunj^en, 
niedergelegt  in  seinen  „Anweisungen  zum  Unterricht  in  Prianzcn-, 
Tierkunde  und  Anthropologie"  (1832  und  36)*)  bringen  zum  Ab- 
schlüsse, was  die  Methodik  der  vorigen  Jahrhunderte  verwirtdicbt 
hat,  und  leiten  hinüber  zu  dem,  was  die  heutige  Unterrichtserteüung 
in  der  Naturcreschichtc  anstrebt. 

Lüben,  gestorben  1873  als  Seminardirektor  in  Bremen,  war  wie 
jeder  Mensch  ein  Kind  seiner  Zeit  und  im  Rahmen  dieser  muss 
man  ihn  verstehen  und  würdigen. 

Die  am  Ausgange  des  18.  Jahrhunderts  von  Linnö  begründete 
erste  Periode  der  Vorherrschaft  der  reinen  Empirie  auf  natur- 
wissenschaftlichem Gebiete,  gegen  die  Kant,  Lamarck,  Goethe, 
Hegel,  Schelling,  Fichte,  Geoffroy  St.  Hilaire,  Oken  u.a. 
durdi  Betonung  einer  plülosoplusch-spekulativen  Naturaulfassung  Front 
gemacht  haben,  kdirte  als  zweite,  durch  George  Cuvier  (1769--1832) 
neubegründete  und  belebte  wieder.  Die  Auffassung  der  äusseren 
Form,  das  durch  logisches  Denken  aufgebaute  System  hatte  die 
Herrschaft  im  Schulunterrichte,  wofür  der  geniale  Forscher  Cuvier, 
dessen  Arbeiten  einen  ganz  anderen  Geist  verkörpern,  natürlich 
ebensowenig  verantwortlich  zu  machen  ist,  wie  Lmn6  für  den 
öden  Verbalismus,  den  sein  System  ?n  den  Schulen  her\nr<Terufen 
hat.  Lüben  konnte,  wie  oben  allgemein  schon  ausgesprochen, 
darum  nur  das  geben,  nur  das  pädagogisch  verarbeiten,  was  die 
ihm  zugängliche  Wissenschaft  von  damals  bot;  und  diese  p3da> 
gogische  Verarbeitung  des  Schulwissens  auf  dem  Gebiete  der 
Naturbeschreibung  hat  er  fraglos  musterhaft  gemacht.  Er  fasste 
nicht  nur  sämtliche  richtigen  pädagogischen  Forderungen  der  Vor- 
zeit zusammen,  sondern  er  führte  die  Methodik  auch  weiter.  Da- 
durch, dass  er  den  Unterricht  in  der  Naturbeschreibung  wieder 
selbständig  machte,  löste  er  ihn  aus  der  unglücklichen  Verquickung 
mit  anderen  Fächern,  insonderheit  befreite  er  ihn  von  der  überall 
gebräuchlichen  Lesemethode.  Die  Beseitigung  der  letzteren  forderte 
naturgemäss  auch  wieder  Anschaulichkeit  des  Unterrichtes.  Endhch 
will  Lüben  einen  klaren,  straff  methodischen  Grang  der  Unterrichts» 
erteilung  und  zwar: 

1.  Behandlung  des  Einzelwesens, 


*)  Vgl.  auch  Diesterwcgs  Wegweiser  1S35.    Natorkuode,  bearbeitet  voa  LSbca. 


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—   323  — 


2.  Behandluni^  verwandter  Arten, 

3.  Betrachtung  der  Familie,  Ordnung,  Klasse;  Einföhnuig  des 

Systemes  und 

4.  Behandlung  der  Grundzüge  des  inneren  Baues  und  des 
Lebens  der  Naturkörper. 

Lüben  wertet  den  so  erteilten  Unterridit  in  der  Natur- 
beschreibung  richtigp  wenn  er  sagt: 

„Der  Unterricht  in  der  Naturgeschichte  macht  den  Menschen 

mit  der  ihn  umgebenden  Natur  bekannt,  deren  Einwirkung  er 
täglich  erfahrt,  aus  der  er  seine  Lebensbedürfnisse  befriedigt,  und 
in  der  er  das  Nützliche  von  dem  Schädlichen,  das  Brauchbare  von 
dem  Unbrauchbaren  unterscheiden  können  muss.  Weit  höher  aber 
als  die  blosse  Brauchbarkeit  steht  der  bildende  Einfluss,  den  dieser 
Unterricht,  zweckmässig  betrieben,  auf  den  ganzen  Menschen  ausübt. 
Er  bildet  die  Sinne,  übt  das  Gedächtnis,  beschäftigt  die  Einbildungrs- 
kraft,  stärkt  Urteilskraft,  Witz,  Scharfsinn  und  Beobachtungsgabe, 
erweckt  und  bildet  den  Schönheitssinn.  Den  höchsten  Wert  erhält 
der  Naturgeschichtsunterricht  als  Mittel,  den  Menschen  zu  wahrer, 
innerer  Gottesfurcht  zu  erheben." 

Wenn  Lüben  als  Ziel  di^es  Unterrichtes  fordert:  „Kenntnis 
der  Natur  als  eines  grossen  Ganzen,  Erkenntnis  des  Lebens  und  der 
Kräfte  in  der  Natur,  Erkenntnis  der  Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit  und  der 
Mannigfaltigkeit  in  der  Einheit  der  Natur,  Verständnis  für  die  Gesetz- 
mässigkeit im  Walten  der  Natur"  und  Ähnliches,  so  sind  das  alles 
Zielpunkte,  über  seine  Zeit  hinausgehend,  die  wir  heute  audi  fordern. 
Die  praktische  Verwirklichung  aber  bringt  bei  Lüben  und  mehr 
noch  bei  den  Methodikern,  die  in  seinen  Bahnen  wandelien,  tat- 
sächlich nicht  die  Kenntnis  der  Natur  als  eines  grossen  Ganzen, 
nämli^  nicht  die  der  Natur  selbst,  sondern  die  des  Systemes,  in 
dem  sich  die  Natur  gleichsam  wiederspiegeln  soll.  Hierin  liegt  der 
Grundunterschied  zwischen  dem  von  der  Lübcnschen  Schule  er- 
reichten und  dem  von  uns  heute  an^^estrebten  Ziele. 

Für  die  Erreichung  dieses  Zieles  fehlten  Lüben  die  erforderlichen 
wissenschaftlichen  Unterlagen  j  darum  konnte  er  es  eben  nicht  ver- 
wirklicheo,  selbst  wenn  es  ttim  vielleicht,  seinen  Worten  entsprechend, 
vorgeschwebt  hätte. 

Die  Geisteshelden  auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaft  nach 
Cuvier,  die  ihr  eine  nie  geahnte  Blüteperiode  verschafft  haben,  indem 
sie  sie  Tag  für  Tag  \-on  Sieg  zu  Sieg  führten  und  noch  fulm  n  und 
gleichsam  unserer  ganzen  Zeit  den  naturwissenschaftiiciicn  Stempel 
aufdrucken  —  sie  hatten  dem  Schulwissen  und  der  Methodik  zu 
Lübens  Zeit  noch  nicht  das  Feld  geebnet  wie  heute,  wo  durch 
exnkte  Forschungen  der  modernen  Naturauffassung  täglich  neue 
Stütz-  und  Angelpunkte  gewonnen  werden.  Aus  der  grossen  Reihe 
der  Forscher  auf  den  verschiedenen  Gebieten  der  Naturwissenschaften 

21» 


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—   324  — 


leuchtet  ohne  Frage  der  Name  Charles  Darwin^)  (1809— 18S2) 

strahlend  hen-or,  weil  seine  überaus  reichen  imd  mannigfachen 
Forschungsergebnisse  und  seine  Ideen  wohl  am  klarsten  und 
eindrucksvollsten  das  geschichtliche  Forschungsbüd  seiner  Zeit 
wiedergegeben  und  erweitert  liaben.  Doch  weder  Darwin  behauptet 
von  uäi,  noch  wir  können  von  ihm  behaupten,  dass  die  Ergebnisse 
seiner  und  anderer  Forschungen  eine  befriedigende  und  allgemein 
g;ülti?^e  Erklärung  für  die  Fntstehung  und  Ausgestaltung  der  Lebe- 
wesen gäbe;  aber  wir  verdanken  ihm  und  anderen  Forschem  der 
Neuzeit  doch  als  unumstössliche  Tatsache  den  wissenschaftlichen 
Nachweis 

1.  „von  der  Veränderlichkeit  der  Lebewesen  überhaupt, 

2.  den  von  dem  allmählichen  Werden  und  Neuentstebeo  in 

der  belebten  Natur  und  endlich 

3.  den  der  Abhängigkeit  der  Lebewesen  von  den  wechselnden 
physischen  Bedingungen  der  Aussenwclt." 

Ndimen  wir  dazu  die  Fülle  von  Anregungen,  die  von  I^rwui 
auf  Naturforscher,  Leser  seiner  Werke,  Lehrer  und  Schüler,  den 
Gesamtbetrieb  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichtes  in  Schulen 

aller  Gattungen  ausgegangen  ist,  so  erhellt  die  Bedeutung  dieses 
geistesgewaltigen,  aus  Unkenntnis  geschmähten,  selbst  in  seiner 
persönlichen  religiösen  Anschauung  meist  völlig  verkannten  Mannes. 

Neben  Darwin  aber  haben  wir  um  der  geschichtlichen  Gerechti|r. 
keit  willen  auch  einen  Wallace,  der  bez.  der  „Entstehung  der  Arten* 
im  wesentlichen  dieselben  Ideen  vertrat  wie  Charles  Darwin,  einen 
Schleiden,  den  Entdecker  der  lebendigen  Substanz  in  der  Ptliinzcn- 
zelle,  Schwann,  den  Entdecker  der  Ticrzellen,  Meckel,  den  \  aier 
der  vergleichenden  Anatomie,  Bär,  den  Begründer  der  Embryologie, 
den  vorzüglichen  Physiologen  Joh.  Müller,  die  Botaniker  Sprengel, 
Herm.  Müller, Hoff  nie  ister  und  Schimper.dir  Geologen  Gottl. 
Abraham  Werner,  Hutton,  William  Smith,  Hoff  und 
Lyell  u.  a.  m.  zu  nennen,  die  alle  an  den  naturwissenschaftlichen 
Forschungsergebnissen  der  Zdt  Darwins  mehr  oder  weniger  beteiligt 
sind  und  dessen  Ideen  naturgemass  nicht  unwesentlich  beeinflusst 
haben;  denn  auch  die  Ideen  eines  Geisteshelden  werden  nicht 
unvermittelt  geboren,  sondern  allmählich  auf  geschichtlichem  Wege 
erzeugt,  um  ausgereift  —  der  Menschheit  als  dauerndes  Eigentum 
von  einem  „Ghrossen"  geschenkt  zu  werden. 

In  der  wissenschaftlichen  Forschung  unserer,  der  nachdarwinschen 
Zeit  haben  Hae ekel  und  die  sog.  Neudarwinisten  Weissmann  und 
R  0  u  X ,  die  „Sclektionstheorie",  d.  i.  die  Theorie  zur  Erkläning  der 
„Umwandlung  oder  Abstammung  der  Arten",  den  „Darwinismus" 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  am  konsequentesten  vertreten, 

1)  Ol.  Darwin,  ,,Über  Entstehung  der  Arten  durch  natürliche  Z^ichtwaU**.  t$flk 
„Das  Variieren  der  'l'iere  und  Pflanzen  im  Zustande  der  Domettikation." 


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—  325  — 


wahretui  andere  Forscher,  wie  Moritz  Wagner,*)  E.  v.  Baer, 
Nägeli,*)  Rcioke,*)  de  Vrics*)  andere  Hypothesen  über  die 
„Entstehung  der  Arten"  aufstdlten  und  —  vieUeidit  nicht  ohne 
Erfolg  —  der  Darwinschen  Theorie  den  Boden  zu  entziehen  suchen. 
Mit  diesem  Kampfe  der  Meinungen  und  Hypothesen  hat  die  Schule 
natürlich  nichts  zu  tun;  denn  sie  hat  sich  nicht  in  erster  Linie 
mit  Hypothesen,  sondern  mit  wissenschaftlich  Feststehendem,  mit 
„Tatsachen"  zu  befassen,  und  als  solche  dürften  die  in  den  oben 
angeführten  drei  Sätzen  enthaltenen  Ergebnisse  wissenschaftlicher 
Forschung  heute  allgemein  anerkannt  werden. 

Obigen  drei  Sätzen  liegt  das  genetische  und  biologische  Prinzip 
zu  Grunde.  Ersteres  konunt  für  den  Naturgeschichtsunterricht  in 
niedem  Schulen  selbstredend  nicht  in  Frs^e;  hi«r  kann  es  »ch 
höchstens  darum  handeln,  die  Schüler  erkennen  zu  lassen,  dass 
Pflanzen  und  Tiere,  unsere  Mutter  Krde  nicht  immer  so  waren,  wie 
sie  jetzt  sind,,  sondern  dass  des  Schöpfers:  ,,Es  werde"  sie  durch 
die  in  sie  gelegten  Entwicklungskräfte  zu  dem  gemacht  hat,  was  sie 
heute  sind.  In  Lehrer*  und  höheren  BUdungsanstalten  dagegen  wird 
sich  das  genetische  Prinzip  heute  nicht  mehr  umgehen  lassen,  wie 
ich  weiter  unten  des  (genaueren  nachweisen  werde.  Aber  auch  hier 
soll  beileibe  nicht  Deszendenztehre  im  Darwinschen  Sinne  getrieben 
werden;  sondern  nur  eine  taktvolle,  ruhige  Aneinanderreihung  des 
tatsachlich  vorhandenen  Materiales  soll  das  genetische  Prinzip  gleich- 
sam durchleuchten  lassen  und  vielleicht  seine  verschiedenen  Er- 
klärungsversuche  im  Lamarkismus,  Darwinismus,  durch  die  Mi^rations- 
und  Mutationstheorie,  soweit  sie  sich  auf  der  Sachkenntnis  der  Schüler 
aut  bauen  lassen  unterrichtlich  verarbeiten.^)  Das  biologische 
Priiizi p  dagegen  muss  für  j ed en  Naturgeschichtsunterricht,  auch  iiir 
den  in  der  einfachsten  Volksschule  —  selbstredend  nicht  dem  Worte, 
sondern  dem  Inhalte  nach  —  in  Betracht  kommen.  Die  beständige 
Betonung  von  Ursache  und  Wirkung,  das  Schliessen  vom  äusseren 
oder  inneren,  vom  morphologischen  und  anatomischen  Baue  eines 
Lebewesens  auf  seine  Lebensverrichtungen,  auf  das  Physiologische 
oder  umgekehrt  —  sind  die  Kernpunkte  der  morphologisch-phyno- 
logischen  Betrachtungsweise,  sind  die  Angelpunkte  des  biologischen 
Prinzipes  im  naturpesrhirhtlichcn  Unterrichte  Der  Stoff  für  diesen 
ist  dem  derzeitigen  Standpunkte  der  Wissenschaft  zu  entnehmen ; 

•)  Begründer  der  „Migralionstheoric". 

*)  BaeT'Nigeli  crkliren  die  Eatstehaog  nciter  Arten  durch  das  „VcrvaUkonunnmn«- 

priniip". 

»)  Reinkc,  „Dii-  WVlt  al«?  Tal".    Lcipzip  1901. 
*\  dt  Vrics,  „Die  Mutationslehre'*.    Leipzig  1903. 

*)  Mflller,  H.,  „Die  Hypothese  in  der  Sehiile  und  der  aato^eseltielitlidie  Untere 
rieht  an  der  Realschule  in  Lippstadt".  —  Wasmann,  E.,  „Der  biologische  Unterricht 
an  höheren  Schulen".  Coln.  1906.  —  Vgl.  Kollbttch,  „Naturwissenschail  und  Schale". 
CfliD.  Neuboer  1894.  —  Uy,  „Geschichte,  Kritik  md  Graodtilse  der  Mcdiodlk**  in 
H.  C.  Rothe,  „Der  nwdcnie  Natafgesehtehtsontetridit".  Ldpiig.  G.  Fnrtag. 


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326  — 


nicht  Hypothesen,  sondern  Tatsachen  sind  zu  bringen.  Der  Unter- 
richtsstoff ist  nicht  in  öder,  gedächtnismassiger,  sondern  in  geist- 
und  gemütbildender  Weise  an  die  Kinder  hinanzubringen;  die 
Selbsttätigkeit,  die  Vorstufe  des  Interesses,  ist  überall  anzuregen. 
Die  Erkenntnis  der  äusseren  Form  ist  zwar  nicht  ausser  acht  zu 
lassen;  aber  sie  ist  nur  insofern  von  Bedeutung,  als  sie  die  Trägerin 
des  warm  flutenden  Lebens  ist.  Die  Lebensausserungen,  -be> 
dingunf^en,  -aufgaben,  -zustände,  -bcziehungen  hervorzuheben,  bildet 
die  Hauptaufgabe  des  Unterrichtes,  nicht  die  Einordnung  der 
Lebewesen  in  ein  Gedankengebiidc,  ein  abstraktes  System.  Hiermit 
soll  natürlich  nicht  gesagt  sein,  dass  —  bescmders  fiir  höhere 
Unterrichtsstufen  —  die  Einordnung  der  Naturkörper  in  ein  auf 
morphologischem  und  cntwicklung^eschichtlichem  Euiteilui^sgrunde 
aufgebautes  System  verboten  sei;  im  Gegeqteil:  eine  vernünftige, 
auf  methodischem  Wege  gewonnene  Bekanntschaft  und  Beschäftigung 
mit  dem  System  halte  ich  aus  formalen  und  sachlichen  Gründen 
fUr  ausserordentlich  wertvoll  Es  ist  hier  nur  die  öde,  anschauungs^ 
lose,  rein  verbalistische  Hnordnung  der  Naturkörper,  die  die  Schüler 
wohl  gar  nur  dem  Namen  nnrh  kennen  lernen,  in  ein  veraltetes  und 
erstarrtes  Schema,  wie  es  heute  z.  B.  das  Linnesche  System  darstellt, 
gemeint. 

Wie  schon  angedeutet,  konnte  Lüben  obige  Ideen  nicht  ver* 
wirklichen;  sind  sie  doch  nicht  wie  ein  deus  ex  machina  auf- 
getaucht, sondern  erst  aus  der  Fülle  der  wissenschaftlichen  £inzel- 
forschungen  als  methodische  Forderungen  geboren. 

Rossmässler, Grube,  Masius,  Wagner,  Tschudi 
und  Rttss  forderten  schon  gegenüber  der  rein  verstandesmässigen, 
trockenen  Formauffassung  eine  gemütvolle  Erfassung  des  Naturlebens. 
Ihre  prächtigen  Naturbilder,  die  sie  im  Unterrichte  verarbeitet  wissen 
wollen,  geben  davon  Zeugnis,  beweisen  aber  auch,  dass  sie  die  auch 
nötige  Formauffassung  so  sehr  in  den  Hintergrund  drängen,  da^ 
der  organische  Zusammenhang  zwischen  Form  und  Lebensbetatigung 
nicht  herzustellen  ist  Eine  Vereinigung  beider  Richtungen,  die 
Betonung  des  „Was  und  Wie"  als  der  Vorbedingung  für  das 
„Warum  und  Weil",  das  Hervorheben  des  ursächUchen  Zusammen- 
hanges zwischen  beiden  —  das  kennzeichnet  den  heutigen  Stand 
der  Methodik  des  naturgeschichtlichen  Unterrichtes,  in  dessen  Mitte 
dadurch  die  Forderung  der  Verwirklichung  des  biologischen 
Prinzipes  steht.  Die  wissenschaftliche  Grundlage  fiir  die  biologische 
Unterrichtsertrilung  war  f^esrhaffen.  Da  ist  es  erklärlich,  dass 
Männer,  die  sie  kannten  und  den  erforderlichen  methodischen  Blick 
besassen,  in  der  i-age  waren,  sie  unterrichüich  uiiuusetzen.  Herrn. 
Mtiller-Lippstadt,  Kerner  vonMarilaun,  Vitus  Graber, 


>)  Rossmässler,  „Der  natiirwissauchaflliche  Uatmtdit'S  Gedtokea  und  Vondülfe 
«a  einer  Umgcstakong  detselbeii.   Letpxig  1860. 


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—   327  — 

Häckel,  Kraepelin,  Burbach,  Kehr,  Helm  u.  a.  sind  als  Forscher 
und  Verfasser  von  populär-wissenschaftlichen  oder  methodttchen 
Werken  in  diesem  Sinne  in  hervorragender  Weise  tätipr  gewesen. 
Das  Verdienst,  dir  weitesten  Kreise  in  der  VVellenbcwei^im^  der 
Methodik  des  naturgeschichtlichen  Unterrichtes  in  dieser  Richtung 
gezogen  zu  haben,  gebührt  fraglos  dem  Kieler  Hauptlefarer  Fr.  J  u  u  g  e 
durch  Herausgabe  seiner  Schrift  „Der  Dorfteich  ab  Lebensgemein- 
schaft". ^)  Die  Hedri:tiing  dieses  Buches  und  dessen  unmittelbarer 
reformatorischer  t-intiuss  auf  die  Methodik  des  naturgeschicht- 
lichen Unterrichtes,  insonderheit  in  der  Volles-  und  Mittelschule, 
bleibt  bestehen,  auch  wenn  man  Junge  in  seinen  einzelnen  Forde- 
rungen nicht  zustimmt. 

Doch  kommen  wir  zu  Junges  „Dorfteich"  selbst:  Um  die  Zahl 
der  Beurteilungen  der  Jungeschen  Reformbestrebungen  nicht  noch 
um  eine  zu  vermehren,  darf  ich  hier  einen  Auszug  aus  Mac  hold: 
„Uisachen,  Ziele  und  Wege  der  Reformbestrebungen  des  Natur- 
geschichtsunterrichts in  der  Volksschule"  einftieen: 

Junge  bezeichnet  als  Ziel:  „Es  ist  ein  klares,  gemütvolles  (!) 
Verständnis  des  einheitlichen  Lebens  in  der  Natur  anzustreben." 
Dieses  Ziel  ist  ein  wissenschaftliches,  ebenso  wie  das  Liibensche, 
nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  Lüben  die  Einheit  der  Form,  Junge 
dagegen  die  Einheit  des  Lebens  betont  (Siehe  S.  3  d.  Verf.)  Für 
die  Volksschule  sind  beide  unerreichbar.  Anzuerkennen  ist  aber, 
dass  Junge   glcichmässig  Gemüts-   und  Verstandeshildung  fordert 

Worin  besteht  nun  aber  nach  Junge  die  Einheit  des  Lebens? 
Kr  hndet  sie  darin,  dass  jedes  Wesen  eine  Einheit  ist  und  von 
innem  Gesetzen  regiert  wird,  die  für  alle  Naturkörper  dieselben  and. 
Die  Einheit  des  Lebens  besteht  demnach  in  der  innem  Gesetz- 
mässigkeit, der  die  Naturwesen  unterworfen  sind.  Um  nuii  das 
gesetzmässige  Walten  der  Natur  zu  verstehen,  halt  Junge  die  Kenntnis 
und  Erkenntnis  folgender  einzelnen  Gesetze"')  für  notwendig: 

1.  Das  Gesetz  der  Lriiaitungsmässigkeit:  „.Vufciitliait, 
Lebensweise  und  Einrichtung  entsprechen  einander." 

2.  Das  Gesetz  der  organischen  Harmonie:  „Jedes 
Wesen  ist  ein  Glied  des  Ganzen." 

Das  Gesetz  der  Anpassung:  ..Lebensweise  und  Lin- 
ricntung  passen  sich  (bis  zu  einem  gewissen  Grade)  einem  veränderten 
Aufenthaltsorte  (veränderten  Verhaltnissen)  an."  Die  nach  den 
Niederlanden  versetzte  Schweizerkuh  z.  B.  verliert  nach  und  nach 
den  kurzen  Hals,  da  sich  dieser  durch  den  fortwährenden  Gebrauch 
beim  Bücken  nach  Nahrung  verlängert.  Pflanzen,  die  au^  dem 
Binnenlande  an  den  Strand  des  Meeres  versetzt  werden,  bekommen 
nach  und  nach  dicke,  fleischige  Kätter.   Pflanzt  man  sie  dagegen 


*)  Lipsius  S:  Tisch,  r,    Kiel.  1885. 

*)  Voa  Junge  im  Anschlass  an  Schmarda,  Zoologie,  Bd.  1,  «uammengcUelli. 


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—   32«  — 

an  sandige,  trockene,  heisse  Stellen,  so  bekommen  sie  behaarte 
Blätter,  um  Feuchtigkeit  aus  der  Luft  an  sich  zu  ziehen.  Der 

Verfasser.) 

4.  Das  Gesetz  der  Arbeitsteilung  —  der  Differen- 
zierung der  Organe:  „Je  mehr  die  Gesamtarbcit  auf  einzelne 
Or^ne  verteilt  ist,  desto  vollkommener  wird  ae  ausgeführt"  So 
besitzt  z.  B.  der  Blutegel  bloss  die  Haut  (hat  auch  Augen  —  der 
Verfasser),  um  seine  Feinde  wahrzunehmen  und  um  seine  Beute  ^■t 
wittern.  Der  Ente  da^e^en  dienen  dazu  Gehör,  Gesicht  und 
Schnabel.  Die  Gesamtarbeit  kann  mithin  vollkommener  ausgeführt 
werden. 

5.  Das  Gesetz  der  En t Wickelung:  „Jeder  Organismus 
entwickelt  sich  und  zwar  aus  dem  Einfachen  zur  Stufe  der  Voll- 
endung." 

6.  Dn^  G  c  s  t  alt  u  ngsg'es  ctz:  ,,Die  vorhandenen  Teile  üben 
auf  die  hinzukommenden  einen  Kinfluss  derart  aus,  dass  ein  Körper 
von  bestimmter  Form  entsteht"  Um  das  Salzkrümchen  in  einer 
Kochsalzlösung  setzen  sich  z.  B.  die  einzelnen  Teile  so  an,  dass  em 
Würfel  entsteht,  um  das  Alaunstückchen  in  einer  Alaunlösung  so, 
dass  ein  Oktaeder  entsteht;  in  der  Keimzelle  der  Bimenblüte 
gruppieren  sich  die  Teile  so,  dass  der  Keim  zu  einem  Birnbäume 
entsteht.    Art  lasst  also  nicht  von  Art. 

7.  Das  Zusammenhangsgesetz:  „Die  einzelnen  Organe 
sind  von  der  Gesamtheit  und  voneinander  abhängig/'  Wenn  ein 
Glied  leidet,  so  leiden  alle  Glieder.  Raubtierklauen  bedingen  Raub- 
tierzähne; stark  entwidcelte  Knochenfortsatze  lassen  auf  starke 
Muskeln  schliessen. 

8.  Das  Gesetz  der  Sparsamkeit  in  Raum  und  ZahL 
Diese  Gesetze  sollen  in  der  Volksschule  entwickelt,  erklärt  und  ein« 
geübt  werden,  wenigstens  sollen  sie  dem  Lehrer  bei  seinem  Unter- 
lichte vorschweben.  Das  letztere  halten  wir  lur  gut,  aber  ihre 
Formulierung  nicht  iur  notwendig,  es  möchten  sonst  Phrasenhelden 
gebildet  werden  .  .  . 

Auf  welche  Weise  sucht  man  das  Ziel  zu  erreichen?  Die  Ant- 
wort lautet  im  allgemeinen  kurz  durch  Behandlung  von  „Lebens- 

fmeinschaften".  Das  Wort  „Lebensgemeinschaft"  ist  zuerst 
Der  Verf.)  von  Junge  in  die  Literatur  eingeführt  worden.  Er 
hat  es  von  dem  IVofessor  Möbius  entlehnt.  Um  uns  eine  klare 
Vorstellung  von  dem  BegntTe  „Lebensgemeinschaft"  zu  bilden,  müssen 
wir  verschiedene  Definitionen  desselben  untersuclien.  Möbius  erklärt : 
„Eine  Lebensgemeinschaft,  Biocoenose,  ist  eine  Gemeinschaft 
von  lebenden  Wesen,  eine  den  durchschnittlichen  äusseren  Lebens» 
Verhältnissen  entsprechende  Auswahl  und  Anzahl  von  Arten  und 
Individuen,  die  sich  gegenseitig  bedingen  und  durch  Fortpflanzung 
in  einem  abgemessenen  Gebiete  dauernd  erhalten." 


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Diese  Definition  ist  eine  wissenschaftliche.  Es  liegen  ihr  drei 
Gedanken  m  Ghrunde,  zunächst  der,  dass  in  jedem  abgemessenen 
Gebiete  eine  den  gegebenen  Bedingungen  entsprechende  grosst- 

mögliche  Lebenssumme  erzeug^  wird.  In  einem  Karpfenteiche, 
führt  Jungte  an,  wurden  30000  junge  Karpfen  gesetzt.  Als  er 
gefischt  wurde,  betrug  das  Gesamtgewicht  40000  Pfund.  Ein 
andermal  setzte  man  eine  grössere  Anzahl  Karpfen  in  den  Teich; 
man  fischte  natürlich  auch  eine  grössere  Anzahl  heraus,  aber  das 
Gesamtgewicht  war  dasselbe,  die  Karpfen  waren  kleiner  geblieben. 
Hieraus  folgt,  dass  schon  das  erste  Mal  die  Lebensbedingungen 
erschöpft  waren,  also  das  zweite  Mai  keine  Steigerung  zuliessen. 
Es  ist  durchaus  nicht  zufälUg,  welche  Tier-  und  Pflanzeoarten  sich 
zu  einer  bestimmten  Zeit  in  einem  Gebiete  finden,  wie  gross  die 
Zahl  der  Individuen  und  ihr  Entwickelungsgrad  ist.  Das  alles  ist 
von  den  vorhandenen  Lebensbedingungen  abhängig,  von  Boden, 
Luft,  Licht,  Wärme,  Feuchtigkeit,  von  der  Anpassungsfähigkeit  der 
Arten,  von  der  Einwanderung  und  Auswanderung  der  Arten,  von 
der  Witterung.  Aber  jedesmal  entspricht  die  vorhandene  Lebens- 
summe  den  vorhandenen  Lebensbedingungen.  Möbius  redet  abcar 
nicht  von  den  Lebensbedingungen  eines  einzelnen  Jahres,  sondern 
er  verlangt  Feststellung  der  durchschnittlichen  Lebensbedingungen 
und  der  davon  abhängigen  durchschnittlichen  Lebenssumme,  die 
ach  aus  der  Zahl  der  Individuen  der  verschiedenen  Arten  zusammen- 
setzt Das  ist  aber  eine  wissenschaftliche  Aufgabe,  die  jahrelanges, 
genaues  Studium  voraussetzt,  und  die  schwerlich  der  Lehrer,  noch 
viel  weniger  ein  Volksscliüler  lösen  wird.  Der  dritte  Gedanke  ist 
der,  dass  alle  Lebewesen,  die  zu  einer  Lebensgemeinschaft  gehören, 
9ch  gegenseitig  bedingen.^) 

Das  Studium  einer  Lebensgemeinschaft  im  Sinne  von  Möbius 
übcrsteityt  weit  die  Kräfte  der  Volksschule.  Junge  hat  daher  eine 
andere  Dclinition  gegeben,  bei  der  von  den  durchschnittlichen 
Lebensbedingungen,  von  der  Auswahl  und  Zahl  der  Individuen  nicht 
mehr  die  Rede  ist   Sie  lautet: 

„Eine  Lebensgemeinschaft  ist  eine  Gesamtheit  von  Wesen,  die 
sich  nach  dem  inneren  Gesetze  der  Erhaltungsmässigkeit  zusammen- 
gefunden haben,  weil  sie  unter  denselben  chemisch-physikalischen 
Einflüssen  existieren  und  ausserdem  vielfach  voneinander  und  von 
dem  Ganzen  abhängig  sind,  bezw.  aufeinander  und  das  Ganze 
wirken." 

Im  menschlichen  Leben  bilden  Familie,  Stadt,  Staat  Lebens- 
gemeinschaften. Die  einzelnen  Glieder  sind  voneinander  abhängig, 
stehen  miteinander  im  Verhältnisse  des  Gebens  und  Empfangens, 
der  Dienstleistung  und  der  Dienstentschädigung.  Sie  bilden  einen 
O^iantsmus,  in  dem  sämtliche  Teile  sich  gegenseitig  als  Mittel  und 


>)  Vgl.  Senpcr,  „Die  nalflrlichca  EsHtcubediiiguicai  der  Tkre*. 


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Zweck  verhalten,  in  dem  der  Teil  auf  das  Granze,  das  Ganze  auf 

den  Teil  wirkt.  Wenn  der  Beamte  für  das  (lanr^e,  die  Stadt  oder 
den  Staat  sorg^,  so  sorgt  er  zugleich  für  sich,  und  wenn  der  Hand- 
werker für  sich  sorgt,  so  fördert  er  das  Wolil  des  Ganzen.  Die 
Abhängigkeit,  Wechselwirkung,  Wechselbeziehung  der  Glieder  ist 
also  ein  wesentliches  Merkinal  der  Lebensgemeinschafl  Junge 
rechnet  aber  noch  dazu  die  Freiwilligkeit  des  Zusammenschlusses  der 
Glieder  nach  dem  inneren  Gesetze  der  Erhaltungsmässigkeit,  und 
dadurch  verengt  er  den  Begriff  so,  dass  wir  in  Deutschland  kaum 
eine  einzige  Natur -Lebensgemeinschaft  antrefifen  werden.  Den 
Garten  mfissten  wir  ausschuessen,  Haus  und  Hof  ebeofalls,  selbst 
den  Wald,  sofern  die  Bäume  von  Menschenhand  gepflanzt  sind. 
Unsere  Kulturpflanzen  und  liaustiere  könnten  wir  nicht  unterbringen, 
den  Einfiuss  des  Menschen  auf  die  Xatur  und  seine  Abhängigkeit 
von  der  Natur  nicht  nachweisen,  und  wir  würden  damit  zugleich  die 
Gemütsbildung  durch  den  Naturgescbichtsunterricht  beeinträchtigen. 
Wir  müssen  mithin  die  Freiwilligkeit  im  Zusammenfinden  ausscheiden. 
Dann  bleiben  übrig  das  allgemeine  Gebiet,  die  gleichen  Lebens- 
bedingungen,  die  Abhängigkeit  und  Wechselwirkungen  der  Glieder. 
Nun  wird  es  nicht  ^schwer  haken,  die  Tiere  und  Pflanzen  der  Heimat 
in  Lebensgemeinschaften  zu  vereinigen.  Wir  brauchen  aber  nun  gar 
nicht  mehr  den  Ausdruck  „Lebensgemeinschaften",  wir  können  ihn, 
wie  Kiessling  und  Pfalz tun,  durch  Grruppenbild  ersetzen.  die 
Stoffanordnung  nach  „Lebensgemeinschaften"  im  Jungeschen  Sinne 
heute  kaum  noch  in  Frage  kommt,  so  erübrigt  es  sich  wohl,  das 
„Für"  und  „Wider"  noch  des  längeren  zu  erörtern.'-) 

Bei  Beurteilung  der  Bedeutung  Junges  för  <fie  Methodik  des 
Naturgeschichtsunterrichtes  dürfte  sich  folgendes  ergeben: 

1.  Das  Ziel,  das  Junge  aufstellt,  ist  in  der  Volksschule  un- 
erreichbar. 

2.  Die  biologischen  Gesetze,  in  Anlehnung  an  Schmarda  von 
Junge  ausgewählt  und  formuliert,  sind  als  Naturgesetze  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes  kaum  anzuerkennen,  weil  fast  alle  Ausnahmen 

erleiden,  von  denen  weiter  unten  die  Rede  sein  wird. 

3.  Die  .Anordnung  des  .Stotfcs  nach  Lebensgemeinschaften  im 
strengen  Sinne  des  Wortes  ist  unzweckmässig. 

4.  Ab  Kein  von  bleibendem  Werte  der  Jungeschen  Reform- 
bestrebungen ergibt  sich  meines  Erachtens  nur  die  energische 
Betonung  einer  ausgesprochen  biolog^chcn  Behandlung  des  Einzel- 
wesens, obwohl  der  N'nchweis  der  Zweckdienlichkeit  der  Ein- 
richtungen der  Naturkörper  bei  Junge,  wie  sich  ebenÜalls  weit« 
unten  ergeben  ^rd,  oft  einseitig  übertrieben  ist 

Kiessiing  iiod  Ffals,  „Wie  muss  der  natnrgeschichUiche  Untenicht  »ch  fp- 
Malten?".    Brannschw«!!?  1SB8.  —  Kletsüni;  und  Pblz,  „Metliodisches  Haadbodi  fifr 

den  Unterriehl  in  <i<'r  Xatur^t-schichtc".    Braunschweig  1S88. 

')  Vgl.  Baad«,  „Zur  Refoim  des  NaturgesctüchUunterrichtes".    Spandau  1S86. 


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—   331  — 

Obige  Ausstellungen  sollen  aber  Junges  Verdienst  nicht 
schmälern,  für  die  Methodik  des  Naturgeschichtsunterrichtes  in  der 

Volkschule  von  vielseitig  anregender  Bedeutung  gewesen  zu  sein 

und  der  Einführung  einer  für  die  Schulen  aller  Gattungen  noch 
neue  Behandlungsweise  des  Einzelwesens  die  Tore  geöffnet  zu 
haben. 

Die  Verfasser  der  neuesten  Erscheinungen  für  unser  Unterrichts- 
gebiet haben  alle,  mögen  sie  ihre  Werke  gleichzeitig  mit  Junge 
oder   nach  ihm  herausgegeben  haben,- mit  mehr  oder  weniger 

Geschick  und  Sachlichkeit  das  biologische  Prinzip  in  der  Behandlung 
des  Einzelwesens  zu  vertreten  gesucht;  ihre  Stellung  zu  den 
„Lebensgemeinschaften"  und  den  „biologischen  Gesetzen"  birgt 
meistens  das  Kennzeichnende  und  den  Unterschied  ihrer  „Methoden". 
Es  ist  zwar  meines  Erachtens  völlig  überflüssig,  hier  von 
„Methode"  zu  sprechen;  denn  eine  so  verhältnismässig  untergeordnete 
Sache,  wie  sie  die  eine  oder  andere  Abweichung  in  der  Lehrweise 
bei  den  verschiedenen  Verfessem  darstellt,  soll  man  nicht  mit  dem 
stolzen  Namen  „Methode"  belegen.  Wennz.  B.  Partheil  und  Probst 
in  ihrer  Naturkunde  die  Stoffanordnung  nach  Jungeschen  Lebens- 
gemeinschaften treffen,  seine  Gesetze  aber  nicht  verwertet  wissen 
wollen,  so  ist  das  noch  keine  besondere  Methodr.  Wenn  Kiessling 
und  Pfalz  den  Jungeschen  Begriff  „Leben.^gcineinschaften"  in 
jjiatfirliche  Grruppen"  abschwächen  und  dem  Einzelwesen  eine 
Überschrift  geben,  die  seinen  ästhetischen  Gesamteindruck  kenn» 
zeichnen  soll,  so  berechtigt  das  noch  nicht  dazu,  in  Konferenzen 
Vorträge  über  die  Methode  „Kiessling  und  Pfalz"  zu  halten.  Oder 
wenn  Lay  „biologische  und  geologische  Leitsätze"  und  Schmeil  in 
seiner  Broschüre:  „Über  die  Reformbestrebungen  auf  dem  Gebiete 
des  naturgeschichtlichen  Unterrichts"  statt  der  Jungeschen  Gesetze 
des  organischen  Lebens  „allj^emeine  biologische  Sätze"  entwickeln 
wollen,  so  mögen  sie  das  ruhig  tun;  man  kann  das  für  ganz  nett 
halten;  aber  wenn  man  auf  Grund  dieser  doch  gewiss  nicht  so 
bedeutungsvollen  Sache  beispielsweise  Vortrage  über  die  „Schmeilsche 
Methode"  hält,  so  wirkt  das  komisch. 

Das  biologische  Prinzip  hat  sich  hf-nte  so  ziemlich  zu  all- 
gemeiner Anerkennung  durchgerungen;  Stimmen  dagegen  werden 
kaum  noch  lauL  Seine  Verwertung  im  Naturgeschichtsunterrichte 
—  das  gibt  man  heute  allgemein  zu  —  ist  mehr  als  die  nur 
beschreibende  Behandlungsweise  geeignet,  allseitig  bildend  auf  den 
Schüler  einzuwirken;  sie  führt  den  Forderungen  der  „Allgemeinen 
Bestimmungen"  gemäss  von  aufmerksamer  Beobachtung  zu  sinniger 
Naturbetrachtung;  sie  bereichert  den  Vorstellungskreis  der  Schüler 
dadurch,  dass  sie  die  morphologische  Betrachtungsweise  zur  Voraus- 
setzung hat;  aber  sie  lasst  ihn  auch  Schlüsse  ziehen  und  Urteile 
fallen;  auch  die  Beeinflussung  des  Gemütes  und  Willens  vernach- 
lässigt sie  nicht  Den  biologischen  Naturgeschichtsunterricht  fordert 


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« 


—   332  — 

auch  der  MmUterialerlass  v.  31.  i.  08  ausdrücklich;  denn  es  heisst 
darin :  ,Jn  der  Naturgeschichte  hat  der  Unterricht  nidit  in  trockenem 

Beschreiben  und  Klassifizieren  seine  Aufgabe  zu  suchen,  sondern 
den  Zusammenhang  zwischen  Bau  und  Leben  der  Naturkörper  dar- 
zulegen, sowie  das  Verhältnis  der  Naturkörper  zueinander  zu  beachten 
und  so  in  ein  Verständnis  der  Natur  einzufiihren  und  den  Natur* 
sinn  der  Kinder  wirkung|SVoll  anzuregen.  Die  Behandlung  gründet 
sich  auf  die  Beobachtung  —  tunlichst  der  Gegensände  selbst ;  soweit 
angängig,  ist  auch  der  Unterricht  im  Freien  (Schulgärten^  Schul* 
Spaziergänge)  hierfür  nutzbar  zu  machen." 

Das  biologische  Prinzip  wird  sich  darum  das  Feld  bewahren 
auf  dem  Gebiete  des  naturgeschichtlichen  Unterrichtes,  je  mehr  die 
wissenschaftliche  Forschung  seine  Stellung  befestigt   Damit  sofl 

natürlich  nicht  gesagt  sein,  dass  mit  der  Verwirklichung  des 
biologischen  Prinzips  sämth'che  methodischen  Fragen  des  natur- 
geschichthchen  Unterrichtes  gelöst  seien.  Wenn  Lay  in  seiner 
„Geschichte,  Kritik  und  Grundsätze  der  Methodik  des  Naturgeschichts- 
unterrichtes" ^)  gegen  Schmeil  hervorhebt:  „So  ist  die  Forderung,  der 
naturgeschichtliche  Unterricht  müsse  biologisch  werden,  schon 
deshalb  mangelhnft,  weil  sie  die  (leologie  und  die  ganze  anorganische 
Natur,  ohne  welciie  ein  tieferes  \''erständnis  unmöglich  ist,  aus- 
schliesst",  so  ist  das,  wenn  man  den  Namen  „biologisch"  presst, 
wohl  berechtigt;  aber  da  man  mit  technischen  Ausdrucken  vielfach 
nidit  so  schal?  ins  Gericht  geht  (ich  erinnere  beispielsweise  an  die 
allgemein  gebräuchliche  Bezeichnung:  „willküriiche  und  unwillkürliclie 
Muskeln  u.  ä.)  und  der  Ausdruck  sich  einmal  eingebürgert  hat,  und 
endlich  jeder  Fachmann  wenigstens  weiss,  was  gemeint  ist,  so  denke 
ich,  behalten  wir  ihn  ruhig,  weil  keine  passendere  Bezeichnui^  da 
ist,  und  ordnen  ihm  —  wenn  auch  unlogisch  —  auch  das  unter» 
was  aus  der  Geologie  zu  lehren  ist. 

Bezüglich  der  Stellung  des  ,, Biologischen  Prinzips"  in  der  Gesamt- 
methodik des  urkundlichen  Unterrichtes  verweise  ich  auf  Kol  Ibach. ') 
Lay,")  May,*J  Imhäuser/)  Busemann,^j  Melinat, Loew/J 
Schmid*)  und  die  Reformvorschläge  für  den  mathematischen  und 


M  Rothe,  „Der  moderne  N.nur^cschichtsuntcrricht'  .    G.  Frcytag.  Leipzig. 

s)  KoUbach,  „Natorwitseiuchaft  und  Schule".  Methodik  der  gesamte»  ü*Xvx' 
wiMCnieluift.  Cdb.  Nenbncr.  1894. 

*)  Lay,  „Mediodik  da  nmtoiigeMliidiÜiclKn  Unteiridifs^.  Uxpäg.  ^xwm 
Nägele.  1907. 

<)  Majr,  ,,Methodik  d«r  Natarkvade".   Dflawldorf,   Sditraan.  1906. 

Imhäuser,  ..Milliodik  des  naturkundlichen  Untrrrichts".    Breslau.    THrt.  1007. 
*i  Husemnnn,  ..MclhoUik  der  naturkundlich<-n  Fächer  in  der  Volksschule".  Brrstao. 
WoyftHxi,  1902. 

Melinat,  >t  ihodik  il.  r  XiUurkunnc".    Halle.    Schroedcl.  1900. 

*)  Loew,  ,.I  lid.iktik  und  McÜiodik  dc-r  Nalurbcschreibung".  Für  höhere  Scbuicn. 
Mflnchen.  Beck. 

*)  Schmid,  Basüaa,  „Der  natonriucnschaftliche  Unterricht".    Leiftag.  TeatMMK 


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naturwissenschaftlicÜen  Unterricht  von  der  Unterrichtskommission 
der  Gesellschaft  deutscher  Naturforscher  und  Ärzte,  ^)  in  denen 

sämtliche  Fragen  der  heutigen  Methodik  mehr  oder  weniger  ein- 
gehende, aber  immerhin  sachgemässe  Lrorterung  linden. 

Um  das  bis  dahin  Gesagte  am  praktischen  Beispiele  zu  zeigen, 
darf  ich  liier  den  unterrichtlich  zu  verarbdtenden  Stoff  von  Bienen- 
saug  und  Biene  einiiigen.  Er  soll  erläutern,  was  und  wie  die 
Schule  zu  lehren  hat,  um  das  biologische  I'rinzip  im  Unterrichte  zu 
verkörpern;  er  ist  nicht  als  für  eine  bestimmte  Schulgattung  oder 
Stufe  zugeschnitten  zu  denken. 

Für  einen  Leser,  der  nicht  methodisch  geschult  ist,  darf  ich 
bemerken,  dass  der  Stoff  dem  Schüler  nidit  als  ein  Fertiges 
erzählend  oder  wohl  gar  dadurch,  dass  letzterer  den  betreffenden 
Abschnitt  eines  Lehrbuches  liest,  übermittelt  werden  darf.  Der  zu 
behandelnde  Stoff  muss  vielmehr  nach  thunUchst  voraufgegangener 
oder  gleichzeitiger  Beobachtung  beider  Gegenstände  in  der  Natur 
und  in  ihren  verschiedenen  Entwidcelungsstufen  durch  anschaulichen, 
lebendigen,  fragend  entwickelnden  Unterricht  aufgebaut  werden. 
Alles,  was  der  Schüler  selh-^t  sehen,  hören,  riechen,  schmecken, 
fühlen  kann,  muss  durch  Selbsttätigkeit  in  seinen  Vorstellungskreis 
gelangen^  alles,  was  der  Schüler  selbst  schliesscn  kann,  worüber  er 
sdbst  ein  Urteil  al^eben  kann,  muss  er  sdbständig  leisten;  nur 
dadurch  wird  sein  Interesse  erweckt  und  erhalten;  dieses  wiederum 
treibt  ihn  an,  neues  zu  lernen,  greift  gleichsam  wie  ein  Polyp  mit 
tausend  Fangarmen  hinaus  ins  warme  Leben,  immer  bestrebt,  den 
VVissensschatz  zu  erweitern. 

Ob  diese  beiden  Unterricht^genstände,  Bienensaug  und  Biene, 
bei  der  Stofüauaordnung  nach  „Lebensgemeinschaften'*  oder  „natür- 
liehen  Gruppen"  unmittelbar  nacheinander  oder,  wie  beim  sj'ste- 
matischen  Unterrichtsgange,  getrennt  behandelt  werden,  so  dass  die 
Konzentrationsiaden  erst  später  gezogen  werden  können,  ist,  wie 
ich  weiter  unten  nachweisen  werde,  nicht  von  so  grosser  Bedeutung. 
Die  Hauptsache  ist  die  vernünftige  Behandlung  des  Einzelwesens 
nach  den  oben  gekennzeichneten  Forderungen, 

Doch  kommen  wir  zum  Stoffe  selbst: 

Oer  weisse  Bienensaug.  Lamium  album. 

I.  Name:  Der  Name  Bienensaug  wird  uns  verständlich,  wenn 
wir  bei  lachendem  Sonnenscheine  die  Bienen  von  Blüte  zu  Blüte 
dieser  Pflanzen  fliegen  sehen,  um  den  Honig  aufzusaugen.  Weisser 
Bienensaug  heisst  sie  um  ihrer  weissen  Blüte  willen  im  Gegensatze 
zu  dem  roten  und  gefleckten  Bienensaug.  Man  nennt  sie  und  ihre 
Schwestern  auch  wohl  Taubnessel,  weil  ihre  äussere  Tracht  der  der 


*)  Leipzig.   Teubner.    I,  1905.   II,  1906. 


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Brennessel  ähnelt;  da  der  Bienensaug  aber  keine  Brennhaare  hat, 

bezeichnet  man  sie  als  „taub".  Der  botanische  Name  „Lamiom" 
(gr.  lamös  =  Rachen)  kann  in  freier  Übersetzung  „Rachenblamc" 
heissen;  albus  a.  um.  hcisst  weiss.    (S.  Blütenbau  und  -Farbe.) 

2.  Vorkommen:  Man  findet  den  weissen  Bicnensaug  mit 
Ausnahme  der  kalten  Wintertage  bei  uns  fast  das  ganze  Jahr  in 
Gärten  und  auf  Feldern,  unter  Hecken,  an  Zäunen  und  Maueni. 

Mit  Vorliebe  aber  wächst  die  Pflanze  auf  Schutthaufen ;  man  be* 
zeichnet  sie  deshalb  auch  ak  „Schuttpflanze".  Als  solche  liebt  sie 
die  Nähe  menschlicher  Ansiedelungen.    (Warum?   Beziehung  zur 

Lriiaiii  ung.j 

3.  Beschreibung: 

a)  Grösse:  Der  w.  B.  wird  20—30  cm  hoch.  Die  Starke  der 
Entwickelung  hängt  van  dem  mehr  oder  weniger  gunstigen  Standorte 
ab.  (Warum?) 

b)  Stengel  und  Wurzel:  Der  unterirdische  Teil  der  Pflanze 
besteht  aus  dem  Wurzclstocke  (dem  unterirdischen  Stengel  oder 
Rhizom)  und  den  Wurzeln.  Der  Wurzelstock  ist  wie  der  ober- 
irdische Stengel  vierkantig,  hohl,  knotig  gegüedert.  An  den  Knoten 
oder  Gelenken  entspringen  die  Faserwurzeln,  an  die  sich  viele  kleine 
Saugwürzelchen  ansetzen.  Das  gesamte  Wuizelgeflecht  hat  einen 
nur  {Terinfjen  Umfang;  es  reicht  nicht  weit  vom  Stengel  wqf. 
(Bedeutung  siehe  bei  der  Wasserleitung.) 

Der  oberirdische  Stengel  ist  in  seinem  unteren  i  cile  sehr  dünn 
und  schwach,  so  dass  er  sich  nicht  aufrichten  kann,  sondern  wage- 
recht auf  der  Erde  liegt:  er  sendet,  um  dem  aufstrebenden  Stengel 
besseren  Halt  zu  geben,  noch  Wurzeln  in  die  Erde.  Aus  den 
Gelenken  des  liegenden  i  eiles  wachsen  oft  schwächere  Triebe  nach 
oben  und  geben  dem  Taubnesselbusche  das  Ansehen  eines  wohl- 
geformten Blumenstrausses*  (S.  Vermehrung.)  Der  aufgerichtete 
Stengel  ist  starker  gebaut;  seine  Knoten  sind  dicker  und  unten 
dichter  gestellt  als  oben.  (Rcdcutung.)  Sie  stellen  gleichsam 
„(■rurtungen"  dar,  die  durch  ihre  Festigkeit  und  Tragfähigkeit  ge- 
statten, dass  die  zwischen  ihnen  liegenden  Stengeiglieder  hohl  und 
viel  schwächer  gebaut  sein  können,  ohne  dass  sie  %e  Biegungs» 
festigkeit  und  Tragfähigkeit  einbüssen  (Doppelte  I-Träger).  Der 
Stengel  ist  vierkantig,  schwach  gerillt  und  mit  einzeln  sitzenden, 
abwärts  gerichteten,  steifen  Haaren  besetzt.  (Bedeutung  bei  der 
Wasserleitung.) 

c;  Blätter:  An  jedem  Gelenke  entspringen  zwei  gegenständige, 
lang  gestielte  und  schräg  aufwärts  gerichtete  Blätter,  die  zu  dem 
nächst  darüber  oder  darunter  sitzenden  Blattpaare  rechtwinkelig 
oder  kreuzständig  gestellt  sind.    Das  einzelne  Blatt  ist  herzförmig 

zugespitzt,  der  Rand  gesägt.  Die  Blattrippen  der  behaarten,  ober- 
seits   etwas  ruozdügen  Blattspreite  führen  nach  dem  ein  wenig 


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oapfförmig  eingebogenen  Blattgninde.  Der  Blattstiel  ist  an  der 
Obersette  gerillt.  In  der  Mitte  der  Stengel  sind  die  Blätter  am 
stärksten  entwickelt,  nach  oben  und  unten  werden  sie  schwacher. 

(Bedeutung  der  ganzen  Einrichtung  von  Stengel  und  Blättern 
siehe  bei  der  Ernährung.) 

d)  Blute:  Die  Blüten  stehen  in  Scheinquirlen,  lassen  an  zwei 
Seiten  des  Stengels  eine  schmale,  kaum  bemerkbare  Rüle  frei;  sie 
sind  vollsändig.  Der  Kelch  ist  dn  Ideiner  zierlicher  fiinfzipfeliger 
Becher,  der  den  unteren,  gebogenen,  schräg  aufgerichteten,  Honig 
enthaltenden  Teil  der  Bhimenkronröhre  umschliesst.  Der  obere 
Teil  der  letzteren  ist  kelchförmig  erweitert  und  spaltet  sich  in  die 
Ober-  und  Unterlippe,  so  dass  die  ganze  Humenkrone  die  Form 
eines  geöffneten  Rachens  bekommt  (S.  Namen.)  Die  Oberlippe 
ist,  nach  unten  hohl,  gewölbt,  einem  Helme  vergleichbar,  der  die 
Befruchtungswerkzeuge  vor  verderblicher  Nässe  schützt,  und  mit 
feinen  Härchen  an  der  Oberseite  und  an  den  Rändern  besetzt  ist. 
Die  Unterlippe  ist  in  3  Lappen  gespalten,  deren  mittlerer  breit  und 
herzfönnig  ist;  die  Seitenlappen  dagegen  sind  ganz  schmale  Zahnchen. 
Die  Unterlippe  weist  einige  dunkle  Flecke  als  Saltmale  auf. 

In  der  Blumenkronröhre  stehen  zwei  lange  und  zwei  kurze 
(zweimächtige)  Staubgefässc,  deren  weisse,  zarte,  aufgerichtete 
Staubfäden  unter  dem  Fruchtknoten  angewachsen  sind;  ihr  oberer 
Teil  mit  den  grauschwarzen,  paarig  nebeneinander  stehenden  Staub- 
beuteln  liegt  geschützt  unter  der  gewölbten  Oberlippe. 

Zwischen  den  vier  Staubgcfassen,  etwas  über  sie  hinausragend, 
steht  der  Griffel  der  sich  zur  Zeit  der  Reife  in  eine  zweispaltige 
Narbe  teilt  Die  mundartige,  kleine  Öffnung  der  Griffelröhre  sondert 
zwischen  den  beiden  Naibenästen  dann  einen  Idebrigen  Saft  ab. 
(Bedeutung  des  Ganzen  siehe  Bestaubungs Vorgang.)  Der  Frucht- 
knoten  —  im  Kelchgrunde  ruhend  —  wird  durch  vier  kleine,  grüne 
Körperchen  gebildet,  die  einen  kreuzförmigen  Kinschnitt  zwischen 
sich  haben.  Die  Frucht  besteht  aus  vier  kleinen,  dreieckigen 
Nüsschen,  die  bis  zum  Ausstreuen  im  Kelchgrunde  liegen. 

4.  Lebenstätigkeiten: 

a)  Ernährung: 

Da  der  weisse  Bienensaug  besonders  häufig  auf  Schuttstellen 
wachst  und  hier  am  üppigsten  gedeiht,  so  ist  anzunehmen,  dass  er 
hier  Nährsalze  Hnrch  Hie  Saugwurzeln  dem  Boden  entnehmen  kann, 
die  ihm  besonders  angenehm  sind  und  sein  Gedeihen  befördern. 
Welche  das  sind,  wissen  wir  bis  heute  noch  nicht. 

Der  Bienensaug  nimmt  aber  auch  durch  seine  Laubblätter  — 
wie  alle  grünen  Laubpflanzen  —  Nährstoffe  aus  der  Luft  auf,  vor 
allem  Kohlensäure,  die  er  unter  dem  Einflüsse  des  Lichtes  und  der 
Wärme  verarbeitet.  Darum  müssen  besonders  die  Blätter  von 
Licht  und  Luft  umgeben  sein.   Dadurch  nun,  dass  die  Blattpaare 


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kreuzwetse*gef|fefistandig  am  Stengel  ang^eheft  sind  und  je  rmi 
untereinander  stehende  Paare  von  unp^Ieicher  Länge  find,  kum  von 
allen  Seiten  Licht  und  Luft  an  sie  gelangen. 

Vor  allem  aber  bedarf  der  Bienensaug  zu  seiner  Ernährung 
des  Wassers,  das  er  durch  seine  zarten  Saugwurzdn  aufiiininit 
Das  Wasser  wird  besonders  durch  den  Regen  dem  Erdboden  und 
damit  den  Saug^wurzeln  des  Bienensaug  zugeführt. 

Versuch;  Wir  träufeln  etwas  Wasser  auf  frische,  wachsende 
Pflanzen  und  gewahren  folgendes:  Die  auffallenden  iropfen  laufen 
an  den  Adern  eines  schräg  aufwärts  gerichteten  Blattes  hinunter 
an  den  Blattgrund,  von  da  in  die  Rille  des  ebenso  gerichteten 
Blattstieles;  dann  fliesst  das  Wasser  in  der  Furche  an  den  beiden 
Rändern  der  Ansatzstelle  des  Blattstieles  an  den  Stengel  und  kommt 
in  die  flache  Furche  des  letzteren.  Hier  wird  es  durch  die  spär- 
lichen Haare  vor  zu  schnellem  Herantoiaufen  und  damit  vor  der 
Gefahr  des  Abspringens  auf  dem  nächsten  Blattstidgrunde,  der  wie 
die  Stengelfurche  rechtwinklig  zum  nächst  höheren  Blattpaare  steht, 
bewahrt  Von  hier  aus  kommt  das  Wasser  in  derselben  W^eise 
weiter  zu  dem  rechtwinkelig  unter  der  nächsten  Stielfurche  stehenden 
Blattstielgrunde  und  so  allmählich  auf  den  Erdboden  und  an  die 
Saugwurzeln. 

Was  hier  auf  künstlichem  Wege  erzeugt  wurde,  geschieht  bei 
jedem  Rc^^en  auf  natürliche  Weise.  Man  nennt  die  Wasserleitung;; 
des  Bienensaugs,  der  sich  der  ganze  äussere  Bau  der  Wurzel,  des 
Stengels  und  der  Blätter  aufs  engste  anpasst,  eine  zcninpetale  [zum 
Stamme  hinstrebende)  Wasserleitung. 

Selbst  der  auf  die  Blüten  fallende  Regen  wird  von  di^n  in 
der  schmalen  Rille,  die  die  Scheinquirle  frei  lassen,  hinunter  und 
der  übrigen  W^assermas^e  zugeführt. 

Im  Alter  und  weim  sich  der  Bienensaug  reichlicher  Wasser- 
zufuhr erwehren  muss,  richten  sich  mehrere  Bkittspitzen  nach  unten, 
leiten  einen  Tdl  des  Wassers  zentrifugal,  also  von  den  Saugwurzeln 
weg,  nach  aussen. 

Bei  anhaltender  Dürre,  auch  wenn  der  Bienensaug  einen  besonders 
trockenen,  sonnigen  Standort  hat,  so  runzeln  sich  die  Blätter  stärker; 
dadurch,  wie  auch  durch  die  Behaarung  der  Blätter,  wird  die 
Pflanze  eine  Zeitlang  vor  zu  starker,  dann  schädlicher  Ausdünstung 
geschützt. 

b)  Fortpflanzung: 

aa)  durch  Stengelteüe  (Vermehrung):  Da  der  weisse  Bienen- 
saug einen  ausdauernden  (perenniemden)  Wurzelstock  hat,  da  auch 
aus  den  Knoten  des  unteren,  der  Erde  aufliegenden  Töies  Wurzeln 
wadisen,  so  kann  man  den  Bienensaug  durch  diese  Stengelteile 

vermehren. 

bb)  durch  Samen:  Am  häuhgsten  aber  pflanzt  sich  der  weisse 
Bienensaug  durch  Samen  fort. 


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Wie  bildet  sich  dieser?  Der  weisse  Bienensaug  ist  ausgeprägt 
»Jnsektenblütor^,  d.h.  auf  Vermittelung  der  Beitäubui^  durä 
Insdcten  aogewiesen.  Darauf  weisen  folgende  Eigentümlichkeiten  hin : 

Der  eigenartige  Geruch  der  {j^anzen  Pflanze,  insonderheit  der 
Blüten,  die  Anhäufung  der  letzteren  zu  Scheinquirlcn  am  oberen 
Ende  der  Ftlanze,  die  weisse,  leuchtende  Farbe,  die  dunkeien  Flecke 
der  Unterlippe  als  Saftmale,  der  reichlich  am  Grunde  der  Blumen- 
kronröhre  abgesonderte  Honig  und  endlich  die  Grrösse  und  auffällige 
Fonn  der  Blumenkrone.  Dass  grössere  Kerfe  beliebte  GSste  sind, 
zeigt  nicht  nur  der  Augenschein;  man  kann  es  schon  schliessen 
aus  der  grossen  Anflugstelle,  die  die  Unterlippe  bietet  —  die 
zarten  Seitenläppchen  dienen  gleichsam  als  Fussleistcn  für  das 
Insekt  — t  aus  der  Grösse  der  Blumenkronröbr^  die  einen  langen 
Riissel  voraussetzt,  und  endlich  aus  der  grossen  Honigmenge. 

Dadurch,  dass  die  Staubbeutel  sich  eher  öffnen  als  die  Narbe 
(protandrische  Blüte),  wird  die  Selbstbestäubung  zunächst  verhindert, 
aber  ihre  Möglichkeil  ist  —  vorausgesetzt,  dass  Fremdbestäubung 
nicht  eingetreten  ist  —  schliesslich  noch  da.  Kommt  das  Insekt 
auf  eine  jüngere  Bliite  mit  reifen  PoUenkömem,  die  aus  den 
geöflheten  Spalten  der  Pollensacke  heraustreten,  sich  auf  dem 
behaarten  Rücken  des  Gastes  setzen  und  hier  haften  bleiben  infolge 
ihrer  Kiebrigkeit,  so  trägt  das  Tier  sie  dann  nach  einer  anderen 
Blüte.  Ist  diese  älter  und  hat  eine  schon  geöffnete  Narbe,  so 
schiebt  sich  günstigen  Falles  die  Pollenmasse  in  die  weit  geöffiiete 
Narbe,  wird  hier  durch  den  klebrigen  Saft,  den  letztere  absondert, 
festgehalten,  wächst  zu  einem  feinen  Schlauche  aus,  der  die  GrifTel- 
röhre  hiiiunterragt  und  in  den  Fimund  der  kleinen  h  ruchtsknoten 
hineinwächst  und  damit  die  Möglichkeit  der  Samenbildung  gibt 

Mitunter  beissen  die  Hummeln  m  die  Blunienkronröhre  unten 
Löcher  und  holen  den  Hon^  heraus,  ohne  der  Blüte  den  Dienst  der 
Bestäubung  zu  leisten. 

c)  Verbreitung  der  Samen: 

Die  vier  kleinen  Nüsschen  sitzen  ziemlich  fest  im  Kelchgrunde 

und  sind  dadurch  vor  dem  leichten  und  unzeitigen  Herausfallen 
aus  dem  Kelche  gesichert.  Zur  Zeit  der  Reife  aber  tragen  Wind- 
stösse  oder  andere  die  Pflanze  lebhaft  bewegende  Anlässe  den 
Samen  von  der  Mutterpflanze  weiter  weg  und  geben  ihm  dadur€:h 
Gelegenheit  zu  keimen;  oft  wird  er  auch,  wenn  Erde  von  einem 
Platze  zum  andern  geschafft  wird,  mit  dieser  verschleppt.  (Bedeutung.) 

Der  nachfolgende  Stoff,  „Die  Honigbiene",  Apis  mellifica 
(Apis  -—  l'icne,  mellifica  =  Honig  machende),  ist  dem  Lehrbuch 
der  lierkunde  von  Fickert  und  Kohimeyer^)  entnommen.  (Die 
unter  B.  b.  I  gesperrt  gedruckten  Stellen  weisen  auf  die  eigen* 

»)  3.  Auflugc.    Leipzig,  G.  FnpAg, 
PIdagofiacbe  Studiea.  XXX.  A.  28 


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tümlkhe  Einrichtung  der  Biene  hin,  die  auch  die  Vermittduiig  der 
Bestäubung  beim  Bienensaug  möglich  maclit) 

L  Dia  WefewMo  ^  Bt«M. 

Der  Imker  oder  Zeidler  hUt  die  Bienen  in  einem  Bienenhanse  oder  Bienen- 
sänne,  die  nach  Einriciitnnsf  und  den  Zweck  erfüllen  müssen,  die  Stocke 

ffegen  Kälte,  Hitze  und  ranne  Winde  zu  schützen.  Der  uumittelbare  Wohujiku 
der  Bienen  ist  der  Korb  oder  Bogenstülper  nnd  der  Kasten;  in  den  östhciien 
Teilen  Dentscblands  bat  man  hie  nnd  da  noch  aoBgehöblte  Banmklütze,  KloU- 
benten  (renannt.  Letztere  und  die  Boizrenstälper  dienen  dem  8oe:enaimteu  „un- 
bewes^lichen"  Baue;  die  Ka.sten  dagejjen.  in  denen  die  Waben  in  herausziehbaren 
Bahmea  sitseo,  dieueu  dem  .bewqj^Uchen"  Baue.  (VorsQge  und  Mängel  beider.) 
Alle  drei  Beieimiiigeii  der  Keneit  mtteeen  nfttoweiBiie  mit  Flii^Ociwn  aad  mit 
Yorrichtimgeii  tun  Anbringen  der  Waben  Tenenen  eein. 

2.  Dto  Bewohner  des  StMknt. 

A)  Formen: 

Im  Bienenstöcke  leben  10— öOtiüO  Arbeiter,  6- 8(J0  Droiiaeu  nnd 
1  Königin,  die  andi  der  Weisel  oder  Weiser  genannt  wird.  Sie  alle  bilden 
das  BienenTolk  oder  kurzweg  das  Volk.  Der  Körper  aller  drei  Arten  besteht 
ans  Kopf,  Brust  nnd  Hinterleib,  die  durch  tiefe  Einschnitte  von  einander 
getrennt  sind.  Am  Kopfe  sitzen  zwei  Netz-  und  drei  Ilinktaugen,  die  Fühl» 
nnd  die  Hnndwerkzeuge.  Die  Brust  trägt  2  Paar  häutige  Flügel  nnd  3  Paar 
Beine,  der  Hinterleib  bei  Königin  und  Aroeitem  einen  Stachel. 

t)ie  Weichteile  sind  von  der  erhärteten  Chitinmasso  unitreben,  die  glänzend 
schwarz  und  mit  rotbraouen  Haaren  besetzt  ist.  (Woher  erklärt  es  sieb,  das« 
ältere  Bimen  ibre  Bdiaanmg  yerloren  beben?)  Jede  Fbnn  der  Bienen  bat  non 
aber  neben  diesen  allgemeinen  Merkmalen  noch  entsprechend  der  Eigenart 
ibrer  Lebensweise  ihr  eigentümliche  Körpereinrichtimgen: 

a)  Die  KSnigin.  Sie  ist  die  grSaete  Biene  nnd  kenntlich  en  den  langen 
Hinterleibe,  der  zur  Legezeit  nn  h  sehr  dick  ift.  Sie  ist  dat  consige  gesehleät> 
lieh  Tollattodig  entwickelte  Weibchen. 

b)  Die  Arbeiter  dagegen  sind  unentwickdte  Weibchen.  Sie  haben  eine 
längere  Zunge,  kräftigere  Kinnbacken.  Sammelbaare,  Körbchen  und  Honigmagcn, 
and,  mit  der  Königin  gemein,  den  Stachel,  der  ihnen  als  Waffe  dient. 

c)  Die  Drohnen  sind  die  Männeben,  die  einen  plumi>ereu  Körper,  grosse 
nber  den  K  ]  f  zusammenstoceende  jfetMQgen  nnd  weder  Stachel,  noch  Kfirbebca, 
noch  Sammcl haare  haben. 

(8.  n.  den  Naehwds,  M-ie  Ki  rpeninziebtongen  und  Lebenswdee  der  einwliiwi 
Foimen  innig  «wanmenbängeu.) 

B)  Lebensweise  der  Bienen  in  den  Tersehiedenen  Jahresieiten. 

a)  Im  Winter.  Ifa»  lieben  mht  im  Bienenstaate.  Anf  einen  Haufen  m- 
sammengedrängt,  erhalten  sich  die  Bienen  durchweg  eine  Wärme  von  8®  R..  er- 
starren deshalb  nicht,  sondern  nehmen  Nahrung  zu  sieb,  ja  einzelne  kummen  an 
sonnigen  Wintertegen  sogar  ins  Freie,  um  sich  zu  entleeren.  Geschieht  die  £nt< 
leerung  der  Bienen  wegen  nngftnstiger  Witterung  im  Stocke,  so  gebt  dieser 
meistens  zu  Uruude. 

b)  Im  Sommer: 

1.  Das  Leben  der  Arbeiter. 
Beim  Erwachen  der  Natur  im  ersten  Frtthling  ert  nt  Preudengesumme  ns 

Stocke;  »nn  Ifbhaftes  Tniherkriechen  ist  bemerkbar.  Der  erste  geraeinsan)« 
Belniguugsausflug  wird  uuiemomraen,  der  besonders  auf  helle  Gegenständ,  z.  B. 


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in  der  Nahe  haugencli)  Wäsche,  gerichtet  ist.  Der  Stock  wird  von  Wach?i!i  i  kf  in 
und  toten  Schwestern  gereinigt,  die  Waben  werden  aoaeebessert.  Eifrige  Arbeit 
fUlt  die  nur  Mchs  Woäieo  dauernde  Lebemieit  der  im  Soimner  arbdtenaen  Biene 
ans.  Ein  Ansflnij  reiht  sich  an  den  andrrn  in  den  Jptztpn  drei  Wodwn  der 
Lebenszeit.  Die  Arbeiterin  ist  zo  geschicktem  und  am^idaueradem  Finge  dnrdi 
ihren  ganaoi  Kdrperhan  eingerichtet,  insbesondere  durch  ihre  Flügel,  die  durch 
Netzadem  gespannt  werden.  Der  umgebogene  Rand  der  Vorderflf^i^el  fasst  über 
feine  Häkchen  der  HinterflUgel,  so  dass  beide  FlUgel  eine  Fln^rplutt«  bilden. 
Krallen  nnd  Fussballen  befähigen  die  Biene,  sich  an  sc  h wankenden 
Blüten  nnd  Blättern  f  est  zu  h  a  1  r  <•  n  Blütoustaub.  Honip.saft,  Harz  nnd 
Wasser  werden  heimgetragen.  Zur  Mitnahme  des  Blütenstaubes  ist 
die  Arbeitsbiene  befähigt  durch  die  starke  Ausbildung  der 
Kieferzangen,  die  die  Pollensäcke,  falls  sie  noch  nicht  geöffnet 
sind,  durchschneiden,  durch  die  Sammelhaare  am  ganzen  Körper, 
durch  die  Bürste  am  ersten  Fussgliede  der  }{interbeine  und 
darcb  die  Körbchen  am  Schienbeine  der  Hintergliedmasaen.  Mit 
der  Bflrste  feg-t  sie  Bltltenttanb  und  Hars  in  «Tie  ESrbehen,  die 
eine  'lic-e  Flüssijrkeit  auschwitzen,  nm  die  „Hfi.ichen"  besser 
haften  zu  lassen.  Sie  holt  aber  auch  den  üonigsaf  t  aus  den  Blttten. 
Dnreh  ihren  beweglichen  KKrper  nnd  die  lange  Znnge  iet  die 
.Arbeiterin  befähifift,  gelbst  in  die  Tiefe  der  Bin  nien  Krone,  wn 
häufig  die  Uo nigbehälter  üiud,  einzudringen.  Der  Rüssel  der 
Biene  ist  tttr  den  Zweck,  dem  er  dient,  ein  wahres  Kunstwerk: 
Unterkiefer  und  Unterlippe  sind  sehr  verliin g-ert.  Letztere,  die 
reich  mit  feinen  Härchen  besetzt  ist,  wird  die  Zunge  genannt 
und  trägt  am  Ende  ein  kleines  LOffeichen,  mit  dem  der  Honig 

feschöpft  wird.  Unterkiefer.  Lippentaster  nnd  die  kurzen  Ober- 
iefer  bilden  eine  Rühre ,  die  sich  weitet  nnd  verengt.  In  dieser 
Röhre  steigt  der  Honigsaft  durch  d ie  Haarröhrchenanziehnag  in 
die  Höhe,  wird  zugleich  aber  auch  durch  den  im  Kopf  gelecrenen 
erweiterungsfähigen  Schlund  gleichsam  hinaufgepumpt.  Der 
Honiir  {j^elangt  zum  Teile  in  den  Magen  der  Biene,  zum  Teilein 
den  gestielten  Anhang  der  Speiseröhre,  den  Kropf  oder  Honig» 
magen;  hier  wird  er  dnreh  BeimiBehnng  von  Drilsensftften  dsner- 
haft  gemacht.  Wie  der  H  80  wird  aucn  da.s  Wasser  verschluckt.  Alle 
Stoffe,  die  nicht  zur  eigenen  Ernährung  oder  aar  Fütterung  der  im  Stocke 
ubeitenden  SehwesCera  Sienai,  werden  nun  Anfbtne  des  Stockes  "verwandt. 
Die  .Arbeitsbiene  erzeucrt  znnllchst  in  ihrem  KJirper  das  Wachs.  Dieses  wird 
durch  die  Hinterieibsrioge  abgeschnürt,  durch  die  Fersenhenkel  abgenommen 
nnd  sn  den  einzelnen  Zellen  und  Waben  yerarbeitet.  Diese  werden  mit  Honig 
e^efttUt,  der  durch  einen  Brechvorgang  aus  dem  Kröpfe  wieder  ausgeschieden 
wird.  Der  Honig  wird  entweder  rein  in  die  Zeilen  getan  oder  mit  Blüten- 
staub zu  dem  sogenannten  Bienenbrote  vermischt.  Ist  die  Zeile  gefüllt,  so 
wird  sie  gedeckeTt.  Das  Harz  dient  zur  Befestiprnni^  der  Waben  (Stopf-  oder 
Vorwachs).  Die  im  Stocke  arbeitenden  Bienen  haben  ferner  für  peinlichste 
Sauberkeit  zu  sorgen.  Sie  müssen  auch  das  Brutgeschäft  ausführen  und 
haben  endlich  die  Aufgabe,  etwaige  Feinde  vom  Stocke  fem  zu  halten.  Jedes 
lebende  Wesen,  das  an  Erfüllung  der  Arbeitspflichten  hindert,  wird  mit  dem 
Stachel  verwundet.  Der  Stachel  .sitzt  in  einer  Hornklappe;  er  ist  inwendicr  hohl 
ond  mündet  in  die  Giftdrüse.  Durch  Muskeldmck  wird  das  Gift  in  die  Wände 
des  gestochenen  Wesens  getrieben.  Sticht  die  Biene  dnen  Henschen  oder 
'  in  w  arniib!iitit,'eg  Tier,  so  -st  die  Wunde  Mich  i\ber  den  W^iderhaken  des 

Stachels.    Dieser  reisst  beim  Fortfliegen  der  Biene  aus,  und  letztere  mnss 

8.  Das  Leben  der  Königin. 
Sie  loigt  für  die  Vermehrung  des  Stockes,  ist  Herrf<cberin  nnd 
Ftthrerin.  Schon  im  ersten  Frühiinge  beginnt  sie  mit  dem  Eierlegen.  Während 

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ihrer  3  bia  4jährig6Q  Lebenszeit  legt  sie  über  eine  Million  Eier  nach  einraalii^pr 
Bcfnichtnng.  Wird  ein  befruchtetes  Ei  in  eine  gewöhnliche  Zelle  geuo 
und  die  daraus  entschlüpfende  Larve  mit  gewöhnlichem  Futter  versorgt,  so  mint 
n\ph  an«?  der  Pttppe  eine  Arbeitsbiene  T^t  das  Ei  unbefruchtet,  so  win! 
efi  iu  eine  grüssere  Zelle  gelegt;  ans  ihm  entsteht  die  Drohne.  Winl  ein 
befruchtetes  Ei  in  eine  grössere  Zelle  getan,  die  Larve  ausgezeichnet 
Tenflegt,  so  bildet  sich  eine  Königin,  aho  ein  vollständig  entwickeltes 
Wdbchen.  Es  ist  eine  wunderbare  Fähifjkeit  der  Königin,  willkürlich,  je 
nach  Bedarf  des  Stockes  Arbeiter-,  Drohneu-  oder  Küingiuneneier  zu  legen. 

Das  Aoskommeu  einer  neuen  Königin  beding  dis  Scbw&rmen.  Hdrea 
die  Bienen  dsa  „Tttten**  der  nenen  Königin,  to  «itstebt  ein  l^haftes  Snnram 
im  Stocke,  ian  man  den  Sch war m  sang  neuut  Thr  alte  Königin  wei?s. 
dass  eine  Nebenbuhlerin  xur  Welt  kommt  und  schwärmt  deshalb  mit  einem 
STOBsen  Teile  d«B  Volkes  aus.  (Vor-  odw  Hanptscliwarni,  Naeheeliwaria. 
J ungfernsch warm.  .,Schwarni  im  Mai,  ein  Fuder Hen;  Schwärm  im  .Inn'  ein 
fettes  Huhn;  Schwärm  im  .Jul',  kein  Federspol.*')  Wenn  die  alte  Königin  aber 
im  Stocke  bleibt,  so  i^'M  eR  einen  Kampf  aof  Leben  oder  Tod  mit  der  neuen 
und  keinen  Sclnvarm  Der  Schwann  setzt  sich  gewöhnlich  an  irgend  einen  nahen 
G^enstandj  er  wird  dann  vom  Zeidler  eingefwgen  und  in  einen  neuen  Stock 
genaelit,  der  dann  in  dmelben  Weiw  avl^baiit  wird. 

S.  Bedeutung  der  Drohnen. 

Sie  sind  träere  Faulenzer,  von  denen  nur  die  eine  oder  andere  den  Zweck 
erfüllt,  die  neue  Köni^n  zu  befruchten.  An  einem  schönen,  sonni^n  Maitage 
erhebt  sich  diese  zu  ihrem  Hochzeitsfluge  in  die  Luft  und  wird  hier  von 
einer  Drohne  befru  litrt.  l«t  sie  nicht  befnichtet,  so  erzeugt  sie  nur  Hu  'k«-l- 
oder  Drohnenbrut  und  miiss  beseitigt  werden.  Durch  gute  Fflege  iwird  bis- 
weilen alsdann  eine  krlftige  ArMterinnenlarre  svr  Königin  herangezogen. 
(Wie  erklärlich?)  Knde  Juli  oder  Anfang  August  macht  die  „Drohnenschlacht" 
den  unnütz  das  Winterfutter  verzehrenden  Drohnen,  die  ihren  Zweck  erfüllt 
haben,  eine  Ende.  Die  Bienen  aterben  nichts  wnmt  eine  Drohne  entecben, 
(Waram  nicht?) 

4.  Bedeutung  der  Bienen. 

Die  Bienen  nutzen  dem  Menschen  zunächst  durch  den  Honig  ^Linden-, 
Raps-  und  Heidhonig;  Scheiben-,  Press-,  Schleuder-,  (Schieudermaschine)  und 
Futterhonig),  dann  alwr  auch  doroh  dai  Wachs.  In  guten  Jahrai  Uefert  «In 
Stock  :^ü  Mk.  Ertrag. 

Die  Bienen  haben  im  Haushalte  der  Natur  diu  Aufgabe,  die  Bestäubung  der 
Pflanzen  zu  vermitteln.  Gib  Beispiele  an,  wie  Bienen  und  Blumen  eingerichtet 
sind,  flieh  wechselseitig  zu  dienen!  (S.  o.j  Die  Bienen  haben  endlich  auch  eine 
ideale  Bedeutung  für  die  Menschen:  Das  Leben  und  Treiben  im  Bienen«to^  Ist 
da.H  Bild  eines  mu.'^terhaft  geordneten  StSAtslebei».  Die  Biene  ist  das  BiU  dsi 
Fleisaea,  der  Ordnung  und  Eeinlichkeit.  — 

Die  alte  Gefahr,  bei  einer  neu  auftretenden  Sache,  sidi  eist 

bahnbrechenden  Gedanken,  ins  Extrem  zu  verfallen,  hat  sich  auch 
dem  biologischen  Prinzipc  gegenüber  wieder  gezeigt.  Man  braucht 
nur  das  eine  oder  andere  Lehrbuch  aufzuschl^en:  das  Haschen 
nach  sogenannter  „Vertiefung"  des  biologischen  Prinzipes  zeitigt  die 
sonderbarsten  Blüten.  Der  eine  Verfasser  meint,  sich  bemühen  zu 
müssen,  jeden  obskuren  Muskel,  jede  kleine  Knocheneigentümlichkeit 
möglichst  genau  zu  bringen.  Fehlt  diese  „wichtige"  Sache,  so  sieht 
er,  der  „gründlichere"  Biologe,  stolz  auf  des  anderen  „Machwerk' 
herab,   „Ist  das  eine  grundsätzliche  Durchführung  des  biologischen 


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Prinzipes?!"  —  so  hört  man  sprechen  und  schreiben.  „Einige 
Konzessionen  an  die  neue  Richtung!"  —  „Neue  Flicken  auf  ein 
altes  Kleid  I"  Letzteres  ist  gewiss  nicht  das  Wünschenswerte ;  aber, 
wenn  es  ein  Ausdruck  von  beabsichtigter  Vorsicht  ist,  sicherlich 
doch  besser,  als  wenn  im  hitercsse  der  eben  genannten  biologischen 
Vertiefung  sachliche  Unrichtigkeiten  ftir  interessante  Schlüsse  kalt 
lächelnd  verwandt  werden,  besser,  als  wenn  Kausal-Hjfpothesen,  die 
durchweg  an  und  für  sich  schon  gar  nicht  in  diesen  Unterricht 
hinein  gehören,  dem  Buche  einen  mehr  biologischen  Anstrich  geben. 

Ich  darf  hier  cinr  derartige  Blütenlese  zusammt^nstellen  aus 
verschiedenen  I-eiirbuchern,  die  ich  nicht  nenne,  um  mich  nicht  in 
den  Verdacht  zu  bringen,  als  verfolge  ich,  als  Verfasser  eines  hier 
in  Frage  kommenden  Lehrbuches^  mit  diesen  Zeilen  ein  eigennütziges 
Interesse.  Ich  erkenne  im  Hinblicke  auf  das  Folgende  gern  und 
willig  an,  dass  in  den  hier  angezogenen  Lehrbüchern  auch  viel 
durchaus  brauchbarer  Sloff  enthalten  ist.  Die  folgenden  Zeilen 
wollen  also  nicht  heruntersetzend,  sondern  sachlich  fördernd  wirken. 
Es  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  in  den  oben  angedeuteten  Über- 
treibungen und  sachlichen  Urichtigkeiten  im  Interesse  der  ver- 
meintlichen Vertiefung  des  biologischen  Prinzipes  eine  Gefahr  liegt, 
besonders  wenn  die  betreffenden  Bücher  in  Lehrerbildungsanstalten 
gebraucht  werden. 

Zunächst  führe  ich  eine  Reihe  von  sachlichen  Unrichtigkeiten 
an,  die  als  Unterlagen  fUr  Schlüsse  verwandt  werden,  und  gebe 
Beispiele,  die  zeigen,  dass  aus  richtig  angegebenen  Tatsachen  febche 
Schlüsse  gezogen  werden: 

1.  „Hnii'lt'  liahen  keine  SchweiBsdrüsen";  daraus  wird  pefolcrert:  Zu  grir^'^r. 
SteigeniDg  der  Kürperwärme,  herrorgerafeu  bei  den  Säugern  durch  angestrengte 
Bewegung,  wird  ausgeglichen  durch  AmselieMai  tob  Schwein,  dessen  Ver> 
dunstnng  die  Wärme  herabmindert  Pa  die  n»ndß  keine  Schwpissdrüsen  haben, 
so  muss  die  Uerabmindcrung  der  Wärme  durch  ein  anderes  Mittel  geschehen. 
Welches  ist  das?  „8cbon  jeder  hat  beobachtet,  wie  bei  einem  edinell  Unfendoi 
Huude,  der  ja  nichts  weiter  ist  al.i  ein  AbkönimliTin-  verv^if-dener  Wolfsarten 
^diese  Bemerkung  erklärt  »ich  aus  dem  Zusammen haji^ti  des  Text<;>,  der  den  „Wolf* 
behandelt),  der  Atem  „jagt".  Bei  einem  si  Ii  schnell  bewe)?euden  Pferde,  z.  B, 
ist  dies  bei  weitem  nicht  in  gleichem  Grade  der  Fall.  Während  der  rnhende  oder 
langsam  laufende  Hund  in  der  Minute  20— 30  mal  atmet,  macht  er  bei  schnellem 
Laufe  300 — 350  (?!)  AtemzOge.  Genau  dieselben  Erscheinungen  sind  beim  Stamm- 
vater des  Hundes,  dem  Wolfe,  zn  beobachten.  Durch  die  beschleunige  Atmung 
wird  aber  den  Lungen  eine  grosse  Menge  Wasser  entzogen  (bei  einem  mittel- 
^rosgen  Hunde  in  der  Stunde  etwa  130  g).  Die  starke  Verdnnfttnng  des  Was.sers 
in  der  Lunge  bewirkt  aber  wie  die  des  ScbweiMes  auf  der  Kant  eine  beträcht- 
liche AhMtalnng  des  Körpen. 

r>-ir<  h  !■  n  Schweis«  wird  ferner  eine  Menge  rl  ranchter  Stoffe  ans  dem 
Körper  entfernt.  Da  der  Wolf  (Hund)  nun  wie  erwähnt,  der  Schweissdrttsen 
entbehrt,  so  ttbcvnehmen  di^e  Arbdt  die  Nieren.  Bierdnreli  wird  mm  das  liiiifi(|re 
Hünen  der  Wölfe  (und  Hunde)  vrr«Tanrllirh  " 

Die  PrftmiüR«  für  diesen  Scbluss  ist  falsch ;  denn  die  Hnnde  Itaben  Schweiss- 
drÜMS  und  zwar  nicht  nur,  wie  das  in  älteren  anatomitdieil  lUd  physiologischen 
Werken  sa  finden  ii»t,  haaptsidilich  swisehen  den  Zehen,  Mndem  aneb  dhiBr  dea 


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gansen  Körper,  und  zwar  wohlaiugebildete,  knänelförmige  Scbweiss<lnigeu  in 
fftOMerer  Zahl  als  Iteispiebweisc  stark  schwitzende  Tiere,  wie  z.  B.  Rind  and 
Pferd.  Kill  physiologischer  Zusammüiihaug  zwischen  dem  vtriueiotlicben  Xangel 
au  SchweissdrUsen  und  dem  häufigen  Harnen  der  Hunde  ist  bis  heute  ftberiiaii|iit 
noch  nicht  nachufcwiesen.  wird  auch  wohl  schwerlich  je  nach^jewie-i^n  v%err!^ 
können,  da  Hunde,  wie  jeder  weiss,  das  Hamen  auch  sehr  lantre  verhait^^u  k>'iiaea. 

2.  Hunde  haben  bek&uutiich  ein  sehr  grvtes  Geruchs  vermögen.  Da«  erklärt 
eich  daraus,  so  schliesst  man,  dass  die  Nasenlficher  «ehr  weit  sind,  tun  niöeliehst 
giowe  Loftmengen  auf  die  in  ihnen  enthaltenen  riechbaren  Stoffe  antersaciiiea  zb 
kOnnen.  Die  ^Tasenllkiher  der  Hnnde  sind  aber  tatsächlich  nicht  neiraensw«7t 
weiter  als  die  der  Katzen  heispiels weise,  die  bekanntlich  sehr  schlecht  ritchen 
Wäre  die  Voraossetzong  allgemeingtlltig,  einen  wie  feinen  Geruch  mäjiaten  ent 
Pferd  oder  Kuh  haben. 

3.  „Der  Hund  ist  zu  .^chnellent  Laufen  beföhigt;  denn  er  ist  ein  Zehen» 


einobeiBpiels  weise  auch  Sohlengänger  und  doch  ebeuso  schneller  Bewegung  fähig 
wie  Zehengänger. 

4.  ^Die  Hunde  haben  einen  seitlich  zusammen^drttckten  Rumpf  und  sind 
dadurch  zu  leichterem  Durchschneiden  der  Luft,  somit  zu  schnellerem  Laufe  be- 
fähigt." —  Das  Pferd,  der  Renner  im  tweten  Sinne  des  Worte«,  hat  einen  walien- 

ffirmigen  Körper.  Der  „seitlich  zusammengedrückte  Rumpf  «ird  damtn  nicht 
neuueuüwert  iurderlich,  und  der  walzenmnde  nicht  besonders  hinderlich  Ueiu 
Benaen  sein. 

Das  alles  und  noch  mehr  findet  sich  in  der  Behandlung  eines  einzigen  Tieres. 
Der  Nichtwissende  muss  diese  Behandlung8wei.se  für  vorzüglich  biologuch  dureh- 
gefllhrt  helfen;  in  Wirklichkeit  ist  das  aber  keine  Yertiefoog  de«  eiologiiehm 
Pldnzipes,  sondern  ein  „Verballhoruisieren-'  der  Wissenschaft. 

6.  Die  grosse  Biegsamkeit  und  Elastisitftt  der  Bttckenwirbelsänle  wird  als 
Gnnid  (ttr  die  Torzttgliohe  Sprnngrfähigkeit  der  Kntce  angegeben.  (Vemkeehe«- 

lirimi::^:  der  zusammengedrückte  und  Beim  liOslaasen  fort.schnellende  Rohrstook  ' 
I)a.s  iiückgrai  de«  Hundes  besitzt  dieselben  Eigentümlichkeiten  wie  das  der  Katze; 
denn  auch  der  Hund  kann  ganz  bequem  und  n«tt  den  „KatzenbneM*  nmdMi; 
Aber  seine  Sprungfähigkeit  wird  dadurch  nicht  nennenswert  erhßht. 

6.  Beim  Oebisse  der  Katze-  heisst  es:  „Die  gewaltige  Arbeit  der  Eck-  und 


Meulspalte  sind  die  Kau-  uud  Jochmn.'^keln,  wenn  auch  kräftig,  so  doch  ba 
weitem  nicht  so  gross  wie  bei  den  Najfetieren.  Dafür  sind  aber  die  Schläfen- 
muskel mächtig  entwickelt.  Zur  Vergrösseniug  ihrer  Ansatztiächen  erhebt  sich 
in  der  Mitte  des  Scheitels  ein  hoher  Knochenkamm,  welcher  sich  am  Hinterhaupte 
in  zwei  Seitenkämme  furtsetzt.  Um  den  unteren  Teilen  der  starken  Scbläfen- 
muskeln  und  den  mächtig  entwickelten  Kronfortsätzen  des  Unterkiefers,  an  weldie 
sich  jene  Muskeln  anietien,  Baoni  in  gertatlen,  mVnea  die  Joehbogen  weit  mw- 
gesch weift  sein." 

D&i  Gebiss  der  Hanskatze  muss  seine  Arbeit  aber  ohne  die  oben  be- 
schriebene Einrichtung  Muffthren  können ;  denn  in  der  Mitte  des  Scheitels  ist 

kein  hoher  Knochenkamm  n.  s.  f  ;  diese  Einrichtungen  haben  nur  die  grossen 
Katzen,  wie  Löwe  und  Ti^^er.  Daraus  ergibt  sich  weiter  der  Schluss :  auch  vhüi 
dienen  Knochenkamm  kann  die  Hauskatze  ihre  Kauarbeit  gut  verrichten;  folglich 
ist  der  Knochenkamm  für  diese  von  nicht  nennenswerter  Bedeatnng,  der  game 
flchlnss  also  falsch. 

7.  Dem  Eisbären  schreibt  man  behnurte  FnessoUea  sn  und  folgert  aus  dem 
angeblichen  Vorhandensein  dieser:  er  kann  sieh  auf  dem  glattesten  Eise  mit 
Leichtigkeit  fortbewegen.  Das  letztere  ist  richtig ;  aber  der  Eisbär  muss  es  ohne 
behaarte  Sohlen  können ;  denn  er  hnt  swar  rauhe,  aber  keine  bdiaaxtn  SoUm; 
nur  die  Tatsen  sind  behaut 


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8.  Den  Wasservögeln.  Adler,  Eisvogel,  Ente,  wird,  weil  sie  ihr  Oefieder 
einfetten,  ohne  jede  Berecntignng  eine  besonders  grosse  Bflrzeldrlise  angeh&ngt, 
nnd  aas  ihrer  Grösse  die  Möglichkeit  des  reichlichen  Einfettens  gefolgert;  wie 
man  leicht  fcau^t^llen  k  um,  ist  die  BUraddrllM  dmr  Kite  nidit  aauMiuiwart 
grosser  als  die  lies  Hahues  beispielsweise. 

9.  Der  Krauich  tiiegt,  trotzdem  sein  Körper  an  den  eiiie^  Laufvogels  er- 
innert, vorzüglich.  Erklämng:  „Er  hat  sehr  bewegliche  Scbnltergekaka.'*  Letitove 
nher  »ind  in  Wirklichkeit  nicht  bt^we^licher  als  die  anderer  Vögel. 

10.  „Beim  Schlaf  oder  bei  Kälte  füllt  der  rnhende  Vo^l  die  Säcke  stark 
mit  Lnft,  so  dass  sich  die  Federn  sträuben,  wie  dies  beim  Sperlinge  oder  Kanarien- 
vogt'l  1  i  br  z ;  beobachten  ist."  Die  Federn  des  Vogels  sträuben  sich  aber  in 
Wirklichkeit  durch  Hautmnskelt&tigkeit,  in  derselben  Weise,  wie  sich  beim 
HttiaelieB  die  Haare  elrlQben. 

11.  Jiit  der  Sehntefarbe  der  Tiere  wird  walniiafl  Iromieoh  bemnigewirt» 

gehaftet 

a)  EriLurbe  zuui  Schutze  gegen  Feiüde,  wie  auch,  um  nicht  so  leicht  von 
den  Beutetieren  erkannt  zu  werden,  tragen:  Dachs,  Wolf,  brauner  Bär,  Sperling, 
Lerche,  Nachtschwalbe,  jSidechse  n.  t.  a.  m.  Auf  Grund  dieser  Zasammenstellung 
muss  man  aidi  doch  fraget  Was  in  dieeer  Verschiedenlieit  der  F&rbung  ist  nim 
wirklich  Erdfarbe? 

h)  Die  Nachtigall  soll  man  nicht  so  leicht  erkfini'Mi  ihrer  rindenfarbigen 
Oberseite  wegen;  in  Wirklichkeit  ist  aber  die  Nachtigall  luiolge  ihres  neugierigen 
WeMis  einer  der  letehteet  an  erkennenden  YQgel. 

c)  Wildkatze,  Luchs,  Wendehals,  Baumläufer  haben  „Flechtenfarbe**. 

d)  Beim  Leopard  und  Fanther  täuscht,  wenn  sie  auf  dem  Boden  des  Ur- 
waldee  mhen,  ihr  nBoeenlell  so  genau  das  Spiel  der  Sonnenstrahlen  und  die  kreie- 
fSrmigen  Schatten  der  Blätter  vor,  dass  sie  selbst  df-m  <i^harfen  Ange  dee  JIgert 
nnbanerkt  bleiben''  —  sehr  poetisch^  aber  schwerlich  objektiv  richtig. 

e)  Die  „Sehreekfurbe"  bd  der  KrSte,  der  Unke,  dem  Mamaader  fMlt  meinet 

Erachtens  auch  ins  Reich  der  VeriDutuntren ;  ich  meinerseits  habe  schon  manche 
Unke  erschreckt,  aber  noch  nie  gesehen,  dass  sie  mir  ihre  Flecke  gezeigt  hat. 
Wenn  jed«;  grelle  Firbnng  „Schieckfarbe"  wire,  eo  bitten  gar  viele  Tiere  dieeee 
Schntimittel. 

f)  „Der  Pirol  ist  ein  sehr  schöner,  aber  auffällig  gef&rbter  Vogel;  doroh 
•eine  auffällige  Farbe  werden  die  Feinde  angdockt;  demdb  iet  vogel  adir 
BCblaa."   Wie  reimt  sich  das  mit  obigem? 

g)  Die  Geschichte  mit  dem  Wiedehopfe,  der  den  bekannten  hmitpn  Lappen" 
markiert,  dadurch,  dass  er  sich  mit  atisgebreiteten  Flügeln  un<i  autg-erichtetem 
Sehnabel  niederlegt,  um  seinen  Feinden  zu  entgehen,  scheint  mir  auch  auf 
wackelie^en  Fussen  von  Buch  zu  Buch  zu  srehen.  Die  Tatsache,  dass  er  sich 
niederduckt  iu  üefahr,  ist  eine  Eigentümlichkeit,  die  er  mit  vielen  anderen 
Tieren  teilt;  aber  dass  eine  »o  auffallende  Farbe,  wie  sie  der  Wiedehopf  hat, 
einen  Schutz  bedeuten  soll,  lässt  sich  jedenfalls  nicht  nachweisen;  das  Gegenteil, 
wie  beim  Pirol,  könnte  man  gerade  80  gut  «amriimen. 

12.  Vom  Fuchse  finde  ich  gesagt;  „Mit  seinem  vorwiegend  nächtlichen 
Leben  steht  das  Vorhandensein  von  'nistbaaren  im  Zu.Haramenhan^e.  In  stock- 
finsterer Nacht  ersetzt  der  feine  Tastsinu  daa  Gesicht.''  Spürhaare  hat  der  I\icha; 
aber  dass  sie  mit  seinem  „vorwiegend  nächtlichen  (!)  Leben  in  Verbindung  stehen, 
ist  schwerlich  zu  beweisen" ;  denn  es  gibt  sogar  Hunde  (der  Tiere  anderer  Familien 
braucht  mau  gar  nicht  zu  gedenken)  mit  TasthaareiL  die  kein  Nachtleben  führen, 
nnd  8olche  ohne  Tasthaare,  die  ein  Nachtleben  flUiieB.  Der  obige  Sehlnea  iit 
also  TGllig  unberechtigt. 

Beim  Maid»  werden  die  Spürhaare  der  Oberlivpe  als  .KennseidMai  dee 
schleichenden  Binben"  aoagvgeben.  Haben  aUe  aeUeidienden  BftiAer  Taet- 
baare?  Nein! 


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13.  J)a  der  Dachs  kein  Springer  ist  wi«  seiu  Vetten  der  Xarder,  so  ist 
•ein  Schwane  kurc."  BSokschinta:  Alle  springenden  lien  nfiwteii  taage 
Sdiwänxe  haben. 

14.  „Der  plumpe  Körper  des  Dachses  bedingt  es,  dass  er  —  wie  S<^hweii2 
md  Bär  —  ÄUeefresser  ist/  Es  gibt  Tiere  mit  weit  plamperem  Kürperbaue,  die 
nicht  AUesfreH8er  »«ind,  wie  z.  B.  die  ElelRuitea. 

15.  „Der  Pflanzenfresser  Dummheit,  geringere  Sinnesscbärfe,  geringere  Ge- 
wandheit  nnd  Wehrbaftigkeit  weist  sie  anf  gegenseitigen  Schntz  an.''  —  .Da 
der  Bär  vorwiee;end  ein  I'tianzeufresser  ist,  8o  ist  er  v^eistis^  nur  weuis:  betjabt/ 
Fferd  und  Elefant  sind  nicht  nur  vorwiegend,  sondern  ansschliessUch  Pflaiuen- 
frewer;  ihre  Beeabnng  mttMte  ftlflo  noch  weit  geringer  sein.  Data  die  Geme 
^ringe  SinnesäcUtof^  Gewuidheit  vod  Wehrbaft^dt  bedtit,  kmii  »aa  lehwaw 
lieh  behaupten. 

16.  Da  das  Lama  .stet»  genUi^ende  Nahrung  tiudet  (im  Gi^^eusatze  zum 
Kamele),  besitzt  es  keinen  Fetthöcker  "  Der  ßnckeloohs  oder  des  Zelni  hataidiar 
•täte  genügende  Nahrung  und  doch  einen  Fetth^5cker. 

17.  „Der  Wels  hat  einen  walzenförmigen  Körper,  der  ihn  befähigt,  sich  in 
den  iehlammigen  Grund  zu  bohren. Welse  leben  wou  auf  dem  Onnwe  der  G*> 

wKseer,  aber  sie  bohren  ^-{rh  nicht  in  den  Schlamm. 

18.  .Die  Bttsselschnauze,  der  Bohrer,  (!)  des  Maulwurfs  ist  steif  nnd  er> 
leiehtert  das  Eindringen  in  den  Erdboden."  Die  RtttedsohnenM  des  K.  ist  in 

Wirl-.li:^Vik''it  pehr  bewetj'lii'h  uiii!  kann  ^chlnrhterfline^  nicht  als  -Bohrer"  be- 
zeichnet werdt:u.  Die  vielen  Nerven  im  KUssel  des  Maulwurfs  würden  bei  eiaei 
Bohrt&tigkeit  des  ersteren  gleich  den  Tod  des  letzteren  bewirken;  ein  Schlag  anf 
den  Rüssel  tf5tet  den  Maulwurf  schon.  Nicht  einmal  den  granzen  Körper,  der  in 
der  Tat  ein  wunderbarer  Bohrm^chanismus  ist,  boU  man  dem  ächüler  als  solchen 
bezeichnen,  denn  der  Begriff  lässt  sich  nur  am  aufgeweichten  Skdette  veraneehaB" 
liehen;  er  ist  also,  so  schön  er  klingt,  für  den  Schül-  r  oine  Phrase 

19.  Die  ILiohtnng  des  Haarkleides  beim  Orang  Utan  nnd  beim  Faultiere 
wird  als  wichtig  fttr  me  Ableitung  des  Begenwassers  hinijrestellt.  Sind  da  nicht 
alto  Tiere,  die  m  derselben  Wei.se  den  Regengüssen  im  I  r  vnl'^p  mis£re.«eTzt  sind 
nnd  nicht  dieselbe  Haarrichtnng  haben,  von  der  Natur  vernachlässig  /  Dass  der 
Orang  Utan  bei  Regengüssen  die  Binde  ttber  den  Kopf  halte,  um  dadurch  das 
Wasser  vom  Körper  abzuleiten,  mag-  perne  richtig  sein,  aber  daraus  folgt  noch 
lauge  nicht  mit  Notwendigkeit,  dass  die  Stellang  der  Haare  am  Unterann  der 
An  eine  „Anpanang"  an  die  EigentttniUehkeiten  seines  Aafentlialtsoites  sei 

20.  Elefiuxt  nnd  Wildschwein  werden  als  vorzflijlich  eingerichtete  Dicki- hf- 
bewohner  betrachtet  Das  Wildschwein  soll  imstande  sein,  „mit  BUtseachneUe 
dcli  einen  Weg  dnrch  Dieknngen,  die  für  andere  OesehOpfe  geradesn  naducb- 
dringlich  sind  zu  bahnen".  Wie  wenlm  da  die  armen,  von  der  Natur  vemach- 
liS8igt«n  (leschöpfe  fertig,  di«  ausser  dem  Wildschweine  dort  leben  und  nicht  die 
Körpe  rein  rieh  tung  haben,  mit  Blitzesschnelle  dasDiekicht  zu  durchbrechen?  Dass 
das  Wildschwein  infolge  ?r»in»^r  Ki'iryif^reinrichtnng  verhältnismässig  leicht  nnd 
schnell  da.s  Dickicht  durchbrechen  kann,  ist  selbstverständlich:  aber  „Blitzeft* 
schnelle"  ist  —  selbst  fi^rlich  an^r^CMt  —  mehr  alt  Übertreilrang,  vieimdlr 
eine  tatsächliche  Unrichtigkeit. 

„Des  Elefanten  gewaltiger,  riesenstarker  Leib  bricht  wie  ein  Keil  das  Dickicht 
des  Urwaldes  auseinander  ^ ;  tatsächlich  bahut  sich  der  Elefant  seinen  Weg 
meistens  mit  dem  Rüssel.  „Die  starke,  brettartige  Haut  vermögen  Domen  und 
Äste  nicht  zu  verletzen."  —  Die  starke,  brettartige  Haut  schützt  gewiss  vor 
Verletzungen,  aber  sie  ist  daneben  in  Wirklichkeit  in  ihren  Falten  so  emiifind- 
lich.  dass  der  Elefant  schon  unter  den  Mückenstichen  sehr  leidet.  Das«  den 
Sleranten  srine  KOrperfonn,  die  massige  Gestalt  nnd  die  Inrettartige  Bedecknng 
sehr  zu  statti  n  k  n.i.meu.  wenn  er  den  Urwald  durchbricht,  ist  selbstverstamllich; 
aber  diese  Eicentülichkeiten  als  „Anpassungen"  an  das  Leben  im  Urwalde  aof- 
anftusen,  iit  aoeh  eelir  gewagt  und  ein  ofmnditlioliea  Haiehen  nach  Tenneinfc' 


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lieber  „biologischer  Vertief" nj::'  Der  afrikanische  Elefant  z.  B.  ist  ebensohäufig 
„Savannentier'*  alB  Urwaldbewohuer,  and  ob  beispielsweise  das  Mammat  letzterer 
war,  itt  doch  mindestens  anwahrscheinlich.  Der  Elefant  ist  ein  RaCbestand  einer 
xinterg;eg'ang^nen  Tierwelt,  in  der  vi^^Ifnch  solche  Körpereinrichtungen  anzutreffen 
waren,  ohne  dass  wir  heule  noch  nachweisen  können,  welchen  besonderen  Ver- 
bSltninen  sie  angep«Nt  werden. 

21.  Der  ?ch  vnnz  des  Fiscbotters  ist  seitlich  znsamniengedrücltt :  das  befähigt 
ihn  besonders  zuiu  Steuern.  In  Wirklichkeit  ist  er  von  oben  nach  unten  sa- 
MUBmengedrnelrt,  und  doeh  ist  er  dn  gens  gutes  Steuer. 

22.  Die  Lnftraume  zwi^^cheu  den  Haaren  der  Wassersänger,  Fischotter,  Eis- 
bir,  Seehund,  Terringem  das  snezifische  Gewicht  der  üere;  denn  Luft  ist  leichter 
als  Weaeer.  Du  bdUiigt  sn  Deeierera  Sidnpiiiiineii  und  eehtlttt  zugleich  rm  m 
starkem  "Wärmeverluste.  —  Dir-  Vr rriugerung  des  spezifischen  Gewichtes  ist  sicher 
noch  nicht  Ü,01%  und  hat  infolgedessen  ganz  gevriss  keinen  nennenswerten  Ein« 
Hon  auf  die  Leioliti^eit  dee  Säiwiminens. 

23.  „Die  kleinen,  im  Pelze  versteckten  Ohrmuscheln  der  Wa.ssersäuger 
benunen  nicht  die  Fortbewegung  im  Weaaer*  —  sicher  nicht,  auch  wenn  sie 
defpelt  80  gross  wftren. 

24.  „Die  Nahrong  der  Ziege  macht  einen  sehr  komplinmten  Vetdanongs- 

apfarat  nOtig-." 

Die  >«atur  der  Nahrung  der  Ziej^e  macht  einen  sehr  komplizierten  Ver- 
dauungsapparat nicht  nötig;  denn  die  nicht  wiederkäuenden  Pflanzenfresser  haben 
ihn  alle  nicht  und  werden  sehr  gut  fertig.  Das  Wiederkäuen,  „diesen  gross- 
artigen (I)  Lebens-  und  Emährnngsbetrieb"  als  „eine  direkte  logische  Folge  der 
dem  Tiere  zutjewii's"nen  Nahrung"'  hinzustellen,  ist  ein  Unsinn.  Das  Wesentliche 
im  i^ue  der  Verdauongswerkzenge  der  Pflanzenfresser  liegt  nicht  in  dem 
„Komplidertea",  mmikm  in  der  GraMe  des  Ksgens,  der  Linge  des  Dannes  und 
der  Sbgenart  ihrer  Tfttig)cdt 

Doch  genug  der  Beispiele  dieser  Art.   Auch  die  Hypothesea 

und  diesen  entnommene  Schlüsse  finden  im  Interesse  einer  ver- 
meintlich gründlicheren  Durcharbeitung  des  Stoffes  in  biologischer 
Hinsicht  Tür  und  Tor  offen. 

1.  Für  ein  Schulbuch  hat  es  meines  Erachtens  keinen  Wert, 
die  bekannte  Hypothese:  „Die  gerade  Linie  ist  grundlegende  Form- 
idee und  Ausdruck  des  Bewegungsprinzipes  der  drei  oberen  Tier- 
kreise" zu  verwerten.  Am  loiclitcsten  lässt  sich  ein  stabförmiger, 
cyiindrischcr  Körper  bewegen,  wenn  die  Bewegung  in  der  Richtung 
seiner  Längsachse  erfolgt,  zumal  wenn  er  an  dem  Vorderende  noch 
zugespitzt  ist  Darum  hat  auch  der  Leib  der  Wirbeltiere  (mehr 
oder  weniger  deutlich)  die  Form  eines  zugespitzten  Cylinders  und 
bewegen  sich  die  Wirbeltiere  auch  vorwiegend  in  der  Richtung 
ihrer  Längsachse."  Was  soll  ein  Schüler  mit  diesem  Gedanken 
machen,  wenn  er  sich  die  Vögel,  Schildkröten,  Schlangen  u.  a.  als 
zugespitzte  Zylinder  sich  bewegend  vorstellen  soll 

2.  „Das  Gefiihl  der  Schwäche  gegen  Mensdien  und  Hunde 
nötigt  den  Fuchs,  sich  in  unterirdischen  Bauen  ein  sicheres  Versteck 
zu  suchen."  Ob  der  Fuchs  das  Gefühl  der  Schwäche  hat,  wird 
sich  schwerhch  nachweisen  lassen,  also  mindestens  Hypothese 
bleiben;  aber  auch  der  Schluss  ist  unberechtigt;  denn  beispiels- 
weise der  Hase,  der  sich  doch  sicher  schwächer  liihlen  muss  als 


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der  Fuchs»  legt  sich  keine  unterirdischen  Bauten  an;  andererseits 
der  Dachs,  wohl  bezahnt,  legt  eine  Höhle  an,  und  der  Bär  zieht 
sich  in  eine  solche  während  des  Winters  /wriick;  beide  tun  es 
sicher  nicht  aus  dem  Gefüiile  der  Schwäche,  sondern  weil  sie  eben 
einen  Winterschlaf  halten  und  in  Höhlen  ungestörter  sind. 

3.  Hypothesen  über  Entstehung  beispidsweise  der  verschiedenen 
Hunderassen,  wie  Jagdhund,  Pudel  u.  a. ,  gehören  nicht  in  ein 
Schulbuch,  weil  der  Beweis  für  die  Richtigkeit  solcher  Mutmaßungen 
nicht  erbracht  werden  kann. 

4.  „Das  brütende  Kranichweibcfaen  bestreicht  «ncfa  den  Rücken 
mit  dunkler  Moorerde,  um  sich  durch  das  hellfarbige  Kleid  nidit 
zu  verraten." 

In  einer  Abhandlung  über  den  Naturgeschichtsunlerrichl  in 
der  \  üiksschule  lese  ich  folgendes:  „Die  Hervorkehrung  des  Gegen- 
teils, der  Nachweis  etwa,  wdch  ein  Unding  im  Hinblick  auf  die 
sonstige  übrige  Beschaffei^eit  des  Wesens  es  wäre,  wenn  der  U>we 
Homer,  oder  die  Schlange  Beine,  der  Storch,  die  Giraffe,  der 
Strauss  einen  grösseren  Kopf  oder  kürzere  Beine  hätten,  der  Elefant, 
der  Ochse,  das  Schwein,  der  Walfisch  einen  kleineren  Kopf  oder 
längere  Beine  hätten,  welch  ein  Widersinn  darin  läge,  wenn  die 
Blüten  der  Rose  etwa  in  Trauben  oder  Dolden,  die  Blüten  der 
Doldengewächse  dagegen  einzeln,  die  Preissclbeeren  mit  ihrem 
dunkelgrünen  Laube  etwa  schwarzblaue  und  die  Heidelbeeren  mit 
ihrem  hellgrünen,  spater  gelb  werdenden  Laube  rote  Beeren  hatten 
usw.,  kurzum,  die  phantasievulic  Neuschöpfung  einer  verkehrten 
Schöpfung  zur  Unterhaltung  während  der  Unterrichtsstunde  die 
Erinnerung  vielleicht  an  den  Weltverbesserer,  den  tadelsüchtigea 
Schulzen  I  foppe  u.  a.  m.,  werden  diese  Erkenntnisse  zu  immer 
grösserer  Klarheit  bringen  und  die  Weisheit  und  Vollkommenheit 
der  wirklichen  Schöpfung,  sowie  die  Überzeugung,  dass  wirklich 
alles  „gut"  in  ihr  ist,  nur  in  um  so  helleres  Lic^t  setzen." 

wtan  der  Nachsatz  nicht  den  Vordersatz  in  einen  emsthaften 
Rahmen  rückte,  so  könnte  man  sich  das  ersterc  als  L^iterrichtsscherz 
vielleicht  mal  gefallen  lassen;  so  aber  kann  man  nur  sagen:  das 
wäre  allerdings  die  Höhe  der  hier  gegeisselten  Verirrung,  ganz  ab- 
gesehen vom  Walfische  mit  „kleinerem  Kopfe  und  längeren  Beinen". 

Das  mögen  der  Beispiele  genug  sein,  die  beweisen,  wie  das 
Haschen  nach  vermeintlicher  Vertiefung  des  biologischen  Prinzipes 
auf  Abwege  führt  und  Ungereimtheiten  hervorruft,  die  die  biologische 
Unterrichtserteilung  in  Misskredit  bringen  müssen.  Hat  man  ihr 
doch  sogar  vorgeworfen,  sie  sei  „schädlich,  weil  sie  die  Kinder 
fabch  denken  lehre  und  zu  einer  falschen  mechanisdien  Natur- 
anschauung verleite",  indem  man  die  wemgen  Ausnahmen  von  Nicht- 
anpassung, die  die  Natur  in  ihrer  unend1i<"ben  Mannfc^faltigkeit  auch 
aufweist,  der  'mzweifclhaft  gültigen  allgcmemen  Regel  gegenüber- 
stellt.   Ausnahmen  aber  bestätigen  die  Regel  auch  hier^  denn  die 


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—   347  — 


wenigen  Tterformen,  deren  Einrichtung  und  Lebensweise  nicht  mit- 
einander im  Einklänge  stehen  —  Teich-  und  Wasserhuhner,  Wachtel- 
könig, eine  Spechtform  in  den  baumlosen  Ebenen  des  Rio  de  la 
Plata  u.  e,  a.  — ,  stossen  die  tausend-  und  aber  trmsendfach  bestätigte 
Regel  gewiss  nicht  um.  Millionen  von  VVasscrvÖgeln  haben  mehr 
oder  weniger  genau  die  Organisation  der  Ente,  nur  verhältnismässig 
wenige  die  der  Wasserhühner.  Die  erstere  ist  also  ohne  Frage  die 
charakteristische  für  die  VVasservögel  und  als  zweckmässig  —  das 
lässt  sich  auch  physikalisch  nachweisen  —  kann  man  sie  doch  wohl 
bezeichnen,  wenn  man  sie  auch  nicht  «gerade  als  die  einzig  zweck- 
mässige oder  als  die  zweckmässigste  hinstellt. 

Soll  die  biologische  Unterrichtsweise  vor  solchen  Be-  und  Ver- 
urteilungen geschützt  sein,  so  muss 

1.  der  Unterrichtsstoff  auf  eine  sichere,  wissenschaftlich  nicht 
anfechtbare  Grundlage  gestellt  werden ;  darum  darf  der  Unterricht 
sachlich  Falsches  oder  Zweifelhaftes  nicht  bringen  oder  wohl  gar 
als  Ausgangspunkt  für  biologische  Schlijsse  verwenden. 

2.  nicht  um  jeden  Preis  ein  zweckdienlicher  (theologischer) 

Zusammenhang  nachgewiesen  werden  sollen,  auch  wo  er  sich  nicht 
nachweisen  lässt;  denn  die  Natur  weist  auch  Ausnahmen  auf^  nicht 
alles  in  ihr  kann  als  zweckmässig  bezeichnet  werden. 

Die  eine  Art  der  Anpassung  schliesst  nicht  aus,  dass  es  noch 
eine  andere,  von  ihr  abweichende,  aber  ebenso  zweckmässige  oder 
zweckmässig  ausgenutzte  geben  kann. 

Verlassen  wir  hiermit  die  im  Vorstehenden  gekennzeichnete 
Richtung,  die  in  Befolgung  des  biologischen  Prinzipes,  wenn  auch 
in  bestgemeinter  Absidit^  so  doch  traglos  über  das  Ziel  hinaus- 
schiesst 

Schloss  folgt. 


n. 

Die  Veranschaulichung  auf  Abwegen. 

Von  F.  HsMer,  Rektor  io  WeimraMer  O.-L. 

Die  Psychologie  lehrt,  dass  von  allen  auf  dem  Wege  der  sinn- 
lichen Empfindung  und  der  bewussten  Wahrnehmung  auf  uns  ein- 
wirkenden Geg^enständen  in  unsrer  Seele  Bilder  critstehen,  welche 
„Anschauungen"  genannt  werden,  und  sie  zeigt  femer,  dass  diese 


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—    348  — 


Anschauungen  die  zum  Vollzüge  des  Geisteslebens  erforderticfaen 

Grundlagen  und  Bausteine  liefern. 

Wohl  gewinnen  unsere  Schüler  schon  im  vorschulpflichtigen 
Alter  durch  die  mannigfache  Berührung  mit  ihrer  Umwelt  eine  Fülle 
von  Anschauungen,  deren  unterrichtHehe  Verwertung  sich  lohnt; 
doch  ergribt  sich  aus  der  sorgfaltigen  Analyse  des  kindlichen  Ge* 
danken-  und  Erfahrungskreises  die  Unzulänglichkeit  des  vorhandenen 
Vorstellungsmateriah.  Der  Seeleninhalt  des  noch  nicht  schul- 
pflichtigen Kindes  ist  zum  grossen  Teile  passiv,  ja  nahezu  instinktiv 
erworben,  was  zur  Folge  hat,  dass  die  in  Betracht  kommenden 
Anschauung^en  und  Vorstellungen  ebenso  sehr  der  Klarheit  und 
Bestimmtheit  wie  der  Ordnung  ermangdn. 

Die  Notwendigkeit  einer  Vermehrung  und  Klärung  dieses 
Anschauungsvorrates,  die  Unentbehrlichkcit  eines  planmässigen 
Eingreifens  in  das  „wirre  Durcheinander  des  l*roletariats  der  An- 
schauungen und  Vorstellungen"  auf  dem  Wege  des  Unterrichts  ist 
von  der  Pädagogik  frühzeitig  erkannt  worden.  Noch  ehe  Pestaloza 
sein  bekanntes  Wort:  „Die  Anschauung:  ist  das  Fundament  aller 
Erkenntnis"  prägte,  haben  alle  grossen  Erzieher  des  17.  mui  18.  Jahr- 
hunderts ausnahmslos  für  jedwede  unterrichtliche  Betätigung  eine 
(^anschauliche"  Basis  gefordert  Auf  dem  Boden  dieser  Idee  tv 
wuchsen  u.  a.  der  Orbis  pictus  des  Comenius  und  das  Elementar- 
werk des  Basedow. 

Nur  wenige  pädagogische  Ideen  haben  in  den  letztverflossenen 
Jahrzehnten  eine  so  ausgedehnte  praktische  Durchführung  erfahren 
wie  gerade  die  Forderung  der  unterrichtlichen  Veranschaulichung. 
Kunst  und  Wissenschaft  haben  sich  in  ihren  Dienst  gestdlt  Mit 
ihrer  Hilfe  ist  die  Lehrmitteltechnik  auf  einem  erstaunlichen  Höhe- 
punkte ang-elangt.  Lehrmittelhandlunpen  schiessen  wie  Pilze  aus 
der  Erde  und  preisen  in  dickleibigen  Katalogen  die  Fülle  ihrer 
Artikel  an.  Kaum  eine  Woche  vergeht,  in  der  sie  nicht  hin  und 
wieder  in  den  Schulen  durch  Reisende  ihre  neuesten  Erzeugnisse 
mit  demselben  Nachdruck  zum  Kaufe  anpreisen  lassen  wie  Waren 
des  tägHchen  Lebensbedarfs.  Die  Zeiten,  in  denen  der  Lehrer  fast 
ausschliesslich  mit  eigener  Hand  den  n;rössten  Teil  der  für  '^eine 
Schule  nötigen  Veranschaulichungsmittci  herstellte  oder  samnieiie, 
sind  dahin.  Die  Grenze  zwischen  dem  primitiven  Anschauung»* 
Objekt  und  dem  Kunstgegenstand  verwischt  sich  mehr  und  mehr, 
und  nicht  bloss  in  höheren  Lehranstalten  haben  schon  da-^;  Stereoskop 
und  Mikroskop,  d,is  Skioptikon,  dei  K u.ematograph  und  der  Phono- 
graph als  Lehrmittel  ihren  Einzug  gehalten.  Gibt  es  überhaupt 
noch  ein  Stoffgebiet,  für  weldies  nicht  kostspielige  Lehrmittel  zur 
Verfügung  standen?  Wo  vor  nicht  langer  Zeit  da  und  dort  noch 
ein  .Mangel  an  zweckmässigen  Hilfen  zur  Veranschaulichung  sich 
fühlbar  machte,  herrscht  heute  jene  Überfülle  an  Material,  welche 
die  Wahl  zur  Qual  macht. 


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—   349  — 

Ai^sichts  der  nidit  abzuleugnenden  Oberproduktion  auf  dem 

Lehraiittelmarktc  larf  behauptet  werden,  dass  wir  uns  einem  Extrem 
nähern,  welches  die  Veranschaulichung  auf  Abwege  zu  führen  geei^et 
ist.  Diese  Gefahr  des  Abirrens  von  der  richtigen  Bahn  springt 
namentlich  ins  Auge  im  Hinbhck  auf  den  liildcrkultus,  der 
heutzutage  in  vielen  Schulen,  niedem  wie  höhem,  getrieben  wird, 
,^es  wird  heutzutage  illustriert  und  soll  mit  Bildern  aus- 
gestattet sein:  unsere  Bibeln  und  Gesangbüdier,  unsere  Klassiker, 
unsere  Lyriker  und  Volksliedersammkingen,  unsere  Geschichtswcrke, 
selbst  wo  es  sich  um  die  Darstellung  geistiger  Strömungen  handelt, 
—  alles  wird  zum  Bilderbuch,  und  diesem  Zuge  folgen  naturiich 
auch  die  Schulbücher/'*)  Und  wo  diese  letzteren  versagen,  tritt 
ein  überreicher  Vorrat  an  mehr  oder  minder  grossen  Wandbildern 
oder  wohl  gar  der  Projektionsapparat  in  seinen  mannigfachen 
Formen  einschliesslich  des  Hiographs  ergänzend  ein.  Guckkasten- 
unterrichtl  Kaleidoskopisch  zieht  der  Figurensch  wall  von 
Hunderten  und  Tausenden  von  Bildern  vor  den  Augen  der 
Sdiuler  vorbei,  Bilderreihen,  in  Massen  fabrikmässig  dargestellt 
oder  dilettantenhaft  aufgenommen  und  oft  des  Ansehens  nicht  wert.*) 

Sollte  es  als  Ketzerei  gelten,  wenn  gegen  diese  ..Plakatpädagogik" 
zu  Felde  gezogen  wird'  —  Zunächst  wird  es  immerdar  als  eine 
unbestrittene  Forderung  gelten,  dass  der  Unterricht,  um  Anschauungen 
im  psychologischen  Sinn  zu  erzeugen,  so  oft  und  so  viel  als 
nur  möglich  von  der  Beobachtung  der  Dinge  selbst  ausgehen 
und  überall  da,  wo  diese  letzteren  in  natura  zur  Verfugung  stehen, 
auf  Bilder  und  Zeichnungen  derselben  verzichten  muss.  Also  Sachen, 
Sachen!  „Sind  denn  aber  Bilder  Sachen?  Auch  das  Bild  ist  nur 
ein  Ersatzmittel  und  Notbehelf,  auch  nur  ein  Zeichen  und  quidproquo, 
und  für  das  Kind  oft  ein  recht  schwieriges  und  irreiöhrendes,  weil 
zum  Übersehen  des  Unterschiedes  verleitendes  quidproquo."*) 
Hiernach  dürfen  Bilder  nur  als  Lückenbüsser  angesehen,  grund- 
sätzlich also  nur  in  Ermangelung  der  wirklichen  Gegenstände  und 
Erscheinungen  angewendet  werden  und  zwar  in  dem  vollen  Bewusst- 
sein,  dass  sie  die  lebendige  Sache  nicht  voll  ersetzen. 

Die  Schäden  einer  übertriebenen  Veranschaulichung 
durch  Bilder  statt  durch  Sachen  liegen  offen  zutage.  Zunächst 
führt  sie  in  vielen  Fällen  zur  Veräusserlichung  des  TJnterrichts. 
Wer  auch  nur  einem  kleinen  Teile  der  von  LehrniiLtelfabrikanten 
für  gewisse  Stoffgebiete  als  unentbehrlich  angepriesenen  Bildwerken 
Raum  zu  ihrer  unterrichtlichen  Betrachtung  gewähren  wollte,  fände 
kaum  noch  Zeit  zu  jener  denkenden  Vertiening,  welche  immerdar 
die  Hauptsache  aller  Lehrtätigkeit  bleiben  muss.  Je  komplizierter 

')  Th.  Ziegler,  Allgcm.  Pidagogik.  S.  34.    Teaboer,  Leipzig. 

«)  Nach  Zi.r),'lcr  a.  a.  O.    S.  35. 
»)  Tk.  Zieglcr  a.  a.  0.   S.  33. 


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—    350  — 

eine  bildliche  Darstellung  ist,  desto  mehr  liegt  die  Gefahr  einer 
gegenseitigen  Verdunkelung  der  Kinzelempfindungen  nahe,  und 
desto  mehr  Zeit  ist  nötig,  um  die  „Anschauung"  auf  den  jeweils 
erforderlichen  Klarheitsgrad  zu  erheben.  Es  liegt  also  auf  der  Hand, 
dass  es  unmöglich  ist,  im  Rahmen  der  kurz  bemessenen  einxebea 
Unterrichtsstunden  Bilder  zum  Zwecke  der  Veranschaulichung  in 
solcher  Zahl  zu  verwerten,  w^ie  sie  der  Fülle  des  Angebots  ent- 
sprechen würde.  Wo  dennoch  der  Unterricht  dies  Unmögliche 
versucht,  ist  er  nicht  viel  mehr  als  ein  „Bilderamsehen",  welches, 
indem  es  an  der  Schale  haftet,  statt  in  den  Kern  einzudringen,  in 
nutzlose  Spielerei  ausartet.  Bei  einer  solchen  Handhabung  der 
Veranschaulichung  geht  es  dem  Schüler  ähnlich  wie  dem  Mann  im 
Gleichnis,  „der  sein  Angesicht  im  Spiegel  beschaut  und  dahingeht, 
um  von  Stund'  an  zu  vergessen,  wie  er  gestaltet  war,"  und  er  hat 
kaum  einen  grösseren  Gewinn  aJs  das  Kind,  welches  raschen  Fluges 
sein  buntscheckiges  Bilderbuch  durchblättert,  um  bald  wieder  von 
vom  anzufangen. 

Wenn  bei  der  \  eranschaulichnng  in  kaum  unirrbrorhener  Rcüie 
Bild  um  Bild  auf  den  Schuler  em wirkt,  dann  wird  dem  Zustande- 
kommen  klarer  und  bestimmter  Anschauungen  und  Vorstellungen 
geradezu  der  Weg  verlegt.  Wohl  erzeugt  auch  eine  zeitlich  sehr 
beschränkte  Betrachtung  eines  Objekts  eine  Plmpfindung  und  Wahr- 
nehmung. Da  aber  bei  einer  solchen  oberflächlichen  Inaugenschein- 
nahme die  äusseren  Sinnesreize  der  erforderlichen  Dauer  und  Stärke 
(Intensität)  ermangeln,  so  bleibt  im  besten  Falle  neben  einem 
flüchtigen  und  darum  dunklen  Gesamteindrucke  im  Bewusstsein  das 
Bild  einzelner,  vielleicht  besonders  sinnfälliger  Merkmale  zurück, 
nicht  aber  das,  was  die  „Anschauung"  ihrem  Wesen  nach  ist:  „das 
nach  seinen  einzelnen  Merkmalen  und  in  deren  Gesamtheit  von 
der  Seele  aufgefasste  Bild  eines  Gegenstandes." 

Die  betrübenden  Begleiterschdnungen  und  Endergebnisse  eines 
solchen  Verfahr^s  bei  der  Veranschaulichung  z^en  sich  bald  oder 
später  in  immer  wachsendem  Masse  und  zwar  in  der  Unaufmerksamkeit 
und  Zerstreutheit  einzelner  Schüler  und  ganzer  Klassen,  in  der 
Unfähigkeit  des  denkenden  Verweilens  und  Sichvertiefens  nicht 
allein  bei  der  Betrachtung  der  weiterhin  zur  Veranschaulichung 
dienenden  Bildwerke,  sondern  im  gesamten  Unterricht 

Doch  damit  nicht  genug.  Dir  \^eranschaulichung  muss,  wenn 
sie  den  Geist  nachhaltig  bereichern  und  das  Gemüt  wirksam 
befruchten  will,  darauf  bedacht  sein,  da^  dem  Schüler  Zeit  und 
Anlass  geboten  werde,  zu  den  seinen  Sinnen  dargebotenen  Objekten 
in  persönlichen  inneren  Connex  zu  treten.  Hierzu  ist  aller- 
dings möglichste  Schärfe  der  Sinnesorgane  zwecks  genauer  Auf- 
fassung der  äusseren  Merkmale  Vorbedingung.  Sie  genügt  indes 
für  sich  allein  ebensowenig  wie  bloss  die  Tätigkeit  des  Verstandes, 
wie  sie  sich  auf  der  Grundlage  der  Anschauung  im  Vorgange  der 


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—   351  — 


Begriffsbildung  vollzieht.  Zum  Zwecke  der  Verinnerlichung, 
die  ja  das  letzte  Ziel  jeder  Art  von  Veransrh:iuiirhung  bilden  muss, 
ist  vielmehr  als  conditio  sine  qua  non  noch  eüi  Drittes  nötig.  Das 
ist  das  innere  Sehen,  die  Belebung  des  Budes  von  innen  heraus» 
das  eingangs  erwihnte  Aufnehmen  und  Gestalten  des  äusseren 
Eondrucks  unter  teilnahmsvoller  Mitwirkung  der  Persön- 
lichkeit, die  auch  im  Schüler  schon  vorhanden  ist.  Diese  Ver- 
innerlichung  der  Anschauungen,  die,  wie  Chamberlain  in  seinen 
„Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts"  sagt,  „jeden  notgedrungen  zum 
Dichter  macht",  ist  aber  nur  denkbar,  wenn  in  der  VeranschauUchung 
—  namentlich  durch  Bilder  —  weises  Masshalten  geübt  wird. 

Hiermit  Stessen  wir  auf  eine  weitere  Gefahr  der  Überspannung 
des  Prinzips  der  bildlichen  Veranschaulichung.  Das  ist  die  £in- 
engung  der  Phantasie. 

Von  der  Tatsache  ausgehend,  dass  die  i  iiantasie  wohl  in  An- 
lehnung an  die  Elemente  der  Erinnerung  und  Wirklichkeit  schafft» 
im  übrigen  aber  in  durchaus  freier  Weise  gestaltet,  fordert  die 
Psychologie,  das  ihr  ein  möglichst  weiter  Spielraum  zur  Betätigung 
gewährt  werde  und  zwar  besonders  in  Bezu^  auf  solche  StofT^cbiete, 
deren  Inhalt  in  das  Gebiet  der  Künste,  z.  B.  der  Poesie,  hinüberreicht. 

Jedenfalls  sollte  man  bildliche  Darstellungen  letzterer  Art 
niemials  zum  Ausgangspunkte  der  unterrichtlichen  Behandlung 
machen,  Ich  denke  hier  beispielsweise  an  die  in  allerjüngstcr  Zeit 
entstandenen  Anschaungsbilder  für  die  Betrachtung  bekannter  Ge- 
dichte, wie  z.  B.  die  Bilder  zu  „Schäfers  SonntagsÜed"  von  Molitor, 
„Schloss  Boncourt"  von  Bukacz,  „Die  Auswanderer"  und  „Ein  süsser 
Trost  ist  ihm  geblieben"  von  Müller,  „Das  Schloss  am  Meer"  und 
„Lieblich  war  die  Maiennacht"  von  Liebermann.  Wenn  man  diese 
in  künstlerischer  Beziehung  vielleicht  einwandfreien  Darstellungen 
so  benutzt,  dass  sie  die  Grundlage  der  Darbietung  und  Besprechung 
der  betreffenden  Gedichte  bilden,  so  wird  damit  von  vornherein 
die  freischaffende  Tätigkeit  der  Phantasie  unterbunden.  Wo  bleibt 
ihr  dann  noch  Raum  zum  freien  Spiel  ihrer  Kräfte  ^  „Alles  ist  ihr 
nun  vorgeschrieben,  nichts  d^irf  sie  sich  selber  machen,  ausmalen, 
gestalten,  und  so  geht  über  dem  äusseren  Schauen  das  innere  Auf- 
bauen und  künstlerische  Bilden,  über  der  Gebundenheit  blosser 
Reproduktion  die  Freiheit  nachschaffender  Produktion  verloren. 
Und  noch  mehr  schwindet  über  diesem  äusseren  Sehen  der  Sinn 
für  den  Inhalt  und  den  inneren  Wert,  v.'ic  es  der  auf  das  Ausserliche 
gerichteten  Tendenz  unserer  Zeit  leider  nur  zu  sehr  entspricht  und 
ihr  so  von  frühe  an  Vorschub  leistet"*) 

Dass  unter  einer  solchen  VeranschauUchung,  bei  der  die  freie 
Abstraktion,  Determination  und  Kombination  der  Vorstellungen  und 
Erinnerungsbilder  von  Anfang  an  bestimmt  und  eingeschränkt  ist» 


»)  PsoL  Zieglcr  a.  a.  O.   S.  34. 


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die  Elastizität  der  Einbildungskraft  auf  die  Dauer  Schaden  Iddct. 

wird  man  nicht  leutfnen  wollen. 

Snlltc  für  die  Schüler  der  Cicwinn  in  Bezug  aut  Geist  und 
GcinuL  luciit  ein  ungleich  höherer  sein,  wenn  üirer  Phantasie  die 
Möglichkeit  des  eigenen,  also  individudlen  Grestaltens  gewahrt  bleibt, 
wenn  jeder  einzelne  Schüler  vor  seinen  Geistesaugen  sich  selbst  ein 
„Schloss  Boncourt",  ein  „Schloss  am  Meer",  die  „Kapelle  '  auf  dem 
Berge  aufbauen,  den  Schäfer  auf  sonntäglicher  Fhsr,  dru  \  om  Maien- 
mond umgiänztcn  Friedhof  am  Bergesrande,  den  Hirtenknaben  an 
der  Quelle  nadi  sdner  Weise  äcfa  vorstellen  darf,  wenn  er  auf 
inspiratoriscfaem  Wege  angeleitet  wird,  auf  Grund  skizzenhafter 
Andeutungen  ganze  Landschaften,  Szenen  und  Gemälde  unter 
Zuhilfenahme  der  eit^cnen  Ideen  im  Geiste  sich  selbst  zu  entwerfen 
und  lebensvoll  zu  illustrieren  i  Man  gewähre  doch  den  Kindern  diese 
Schaffensfreude  und  furchte  nicht,  dass  ihre  Phantasie  daM  sidi 
allzuweit  von  der  Wirklichkeit  entfernen  und  ins  Ziellose  sdiwofen 
werde !  Schranken  dürften  in  dieser  Beziehung  nur  selten  vonnöten 
sein.  —  Was  hier  von  Bildwerken  literari'^chrn  Inhalts  gesagt  ist, 
gilt  auch  in  Bezug  auf  viele  heils-  und  protangeschichtUche  Dar- 
stellungen. 

Es  ist  gewiss  ein  wohlgemeintes  und  anerkennenswertes  Bestreben, 
wenn  versucht  wird,  dem  Schüler  die  Lernarbeit  so  leicht  und 
angenehm  als  nur  möglich  m   niachen.    Eine  Veranschaulichung 

aber,  die  ihm  jede  geistige  Kauarbeit  ersparen  will  und  zu  diesem 
Zwecke  das  Büd  über  Gebühr  in  den  Vordergrund  des  Unterrichts 
rückt,  ist  auf  dem  besten  Wege,  ihn  der  Oberflächlichkeit 
und  Denkfaulheit  in  den  Arm  zu  treiben.  Und  nicht  bloss  der 
Schüler  leidet  unter  diesem  Extrem,  sondern  auch  Her  Lehrer. 
Wohl  mag  es  für  den  letzteren  bequem  sein,  Bilder  an  ciem  leib- 
lichen Auge  des  Schülers  vorüberzufuhren,  statt  sie  in  seiner  Seele 
erstehen  zu  lassen,  >->-  und  verlockend,  das  Bild  an  seiner  Stdle 
reden  und  sich  von  ihm  gängeln  zu  lassen;  aber  ebenso  wahr  ist 
es,  dass  er  sich  durch  das  fortgesetzte  blosse  „Rilderzeigen"  in  die 
Gefahr  begibt,  an  seiner  Selbständigkeit  einzubüssen  und  den  Eintiuss 
seiner  Persönlichkeit  auszuschalten.  Wie  leicht  verleitet  es  den 
Lehrer  dazu,  von  einer  sorgfältigen  Vorbereitung  auf  die  Unterridits* 
stunden  abzusehen  1  Das  BUd  wird  ihm  zur  unentbehrlichen  Krücke, 
auf  die  er  sich  stützt  Die  Kunst  des  anschaulichen  Beschreibens 
kommt  ihm  abhanden,  und  an  die  Stelle  ernster  Uiiterrichtsarbeit 
tritt  gar  leicht  geschäftiger  Müssiggang.  Wandelt  solch  ein  Ver- 
anschaulichen nicht  auf  Abwegen? 

Es  mag  hier  mit  Nachdruck  betont  werden,  dass  in  den  meisten 
Fällen  die  Gefahr  nicht  in  der  Anwendung  des  Bildes  an  sich  liegt, 
sondern  darin,  dass  sie  durch  den  Umfang,  die  Auswahl  und  die 
Art  seiner  Verwertunfr  heraufbeschworen  wird. 

Wie  gross  die  iNachtcile  einer  alizu  umiassenden  Ausnutzung 


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—  353  — 

des  überreichen  BÜderschatzes,  den  die  Gegenwart  zur  unterrichtUchen 
Verfügung  stellt,  sind,  ist  im  Vorau^henden  erörtert  worden« 
Dass  aber  auch  in  Bezug  auf  die  Auswahl  der  Bilder  Beblitsamkeit 

am  Platze  ist.  damit  die  Veran«;rhai!lirhun^  nicht  auf  Abwege  gerät, 
wird  jeder  Wissende  wern  zugesteiicn.  Für  die  Schüler  ist  auch 
hier  nur  das  Beste  gut  genug.  Man  darf  von  den  Büdcrn  fordern, 
dass  ae  sich  mit  Rücksicht  auf  die  femsitzenden  Schäler  durdi 
grosse,  deutliche,  sinnenfallige  Darstellung  auszeichnen.  Sie  dürfen 
ebensowenig  übertrieben  einfach  als  überladen  sein,  sondern  sie 
müssen  nach  ihrer  ganzen  Ausführung  das  pädagogische,  wissen- 
schaftliche und  künstlerische  Interesse  befriedigen.  Hierzu  ist  nötig, 
das  sie  nicht  nur  durch  lebenswahre  Komposition  und  durch  licht- 
echte, harmonisch  abgestimmte  Farben  ästhetisch  wirken,  sondern 
auch  geeignet  sind,  die  Phantasie  der  Schüler  in  richtige  Bahnen 
zu  lenken  und  sie  nötigenfalls  zu  korrigierren.  Wie  gross  ist  aber 
unter  den  gebräuchhchen  Bildern  die  Zahl  derjenigen,  weiche  gegen 
diese  Forderungen  Verstössen  I 

Die  Frage,  in  welcher  Welse  Bilder  dem  Zwecke  der 
Veranschaulichung  dienstbar  gemacht  werden  sollen, 
berührt  das  gesamte  Empfindungs-  und  Vorstellungsleben  des  Kindes 
und  ist  daher  so  umfassend,  dass  ihre  Beantwortung  hier  bloss  im 
allgemeinen  und  zwar  nur  insoweit  erfolgen  kann,  als  erforderlich 
erscheint,  um  vor  Abwaren  zu  warnen. 

Zunächst  ist  daran  Kstzuhalten,  dass  es  den  Forderungen  der 
Psychologie  durchaus  widerspricht,  wenn  das  zum  Zwecke  der 
Veranschaulichung  eingeführte  Bild  entweder  bloss  vorgezeigt  oder 
höchstens  mit  ein  paar  dunen  Worten  abgetan  wird.  Es  gilt 
vielmehr,  das  Anschauen  planmässig  zu  üben,  zweck- 
entsprechend zu  dirigieren  und  zu  vertiefen. 

Dass  selbst  Schüler  mit  ^^.nz  normalen  Sehortranen  nicht  sehen 
oder  bei  gleicher  Sehschärfe  «jualitativ  verschieden  sehen,  ist  eine 
durch  die  Untersuchungen  und  Feststellungen  der  experimentellen 
Psychologie  erhärtete  Tatsache,  die  der  Lehrer  in  der  Unterrichts- 
praxis jeden  Tag  zu  beobachten  Gelegenheit  findet.  Angesichts 
dieser  Erfahrung  ist  es  Aufgabe  der  Veranschaulichung,  die  Schüler 
zum  bewussten,  genauen  Sehen  zu  führen  und  sie  darin  un- 
ablässig zu  üben. 

Es  handelt  sich  dabei  von  Anfang  an  um  eine  schrittweise 
Schulung  des  Auges  durch  verweilendes,  in  die  Einzelheiten  ein- 
dringendes Betrachten  und  Beobachten.  Da  es  die  Kraft  des 
Schülers  übersteigt,  mit  einem  einzigen  Blicke  das  zur  Veranschau- 
fichung  dienende  Bild  m  seiner  Totalität  zu  erfassen,  erweist  es  sich 
als  nötig,  bei  dem  unterrichtlichen  Verfahren  das  alte  Divide  et 
impera  derart  zu  befolgen,  dass  man,  von  den  wesentlichen  Merk* 
malen  ausgehend,  das  „Schaufeld  des  Bewusstseins"  in  wohlerwogener 
Reihenfolge  auf  alle  bedeutsamen  Momente  lenkt   Dabei  kann,  wie 

FUiCOflMbe  StndlMi.  XXX.  6.  28 


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—   354  — 


Filz  fordert,  »jede  Einzelheit  des  Bildes  zum  Ausgangspunkte  einer 
Gedankenrethe  gemacht  werden,  wobei  die  Phantasie  durch  das 

Ausmalen  gedachter  Situationen  ihrem  Rechte  komTnt."*]  In 
vielen  hallen,  besonders  bei  Uruppenbildern,  sind  sodann  die  Be- 
ziehungen zwischen  den  Einzelheiten  und  Teiisujets  aufzudecken, 
bis  scnliesslicli  das  Verständnis  der  Gesamtdarstellung  erzielt  ist 
Hierbei  ist  nachdrüctdidist  darauf  hinzuweisen,  dass  die  Arbeit  der 
Veranschaulichung  nur  dann  wirkliche  Erfolge  zeitigt,  wenn  die 
Schüler  angeleitet  und  angehalten  werden,  über  das  Angeschaute 
sich  auch  versländig  und  vollständig  auszusprechen. 

Steht  der  Schule  hinreichend  Zeit  zu  Gebote,  neben  dem  In- 
stniktionsbilde auch  das  eigentliche  künstlerische  Gemälde, 
das  heutzutage  auch  in  einfachen  Schulen  in  einem  oder  mehreren 
Exemplaren  vorhanden  ist,  in  den  Kreis  der  unterrichtlichen  Ver- 
wertung zu  ziehen,  so  erwachsen  für  die  Veranschaulichung  erhöhte 
Aufgaben.  Bei  der  Betrachtung  solcher  Bildwerke  wertvollerer  Art, 
wie  etwa  Artur  Kampfs  „Volksopfer"  und  „Einsegnung  der  Frei* 
wilUgen"  oder  Schräders  ,  j^riedrich  IL  nach  der  Sdüacht  bei  Kolin", 
darf  auch  das  ästhetische  Moment  nicht  ausser  acht  gelassen  worden. 
Profe-^sor  Lichtwark*)  hat  dargetan,  dass  es  möglich  und  ersprie<?slich 
ist,  auch  bei  Kindern  schon  das  Interesse  für  künstlerischen  Aufbau, 
für  die  Darstellungsmanier  und  den  Stimmungsgehalt  eines  Bildes. 
Itir  das  Schöne  und  Charakteristische  seiner  Formen,  (tir  die  Har- 
monie und  Kontrastwirkung  der  Farben  wachzurufen.  Ja  man  wird 
mit  Pilz')  der  Ansicht  sein  dürfen,  dnss  e«^  sich  empfiehlt  hei  wert- 
vollen Bildern  und  Gemälden  die  dargestellten  (icl; anstände  förmlich 
memorieren  zu  lassen,  um  dem  Gedächtnisse  und  dem  V^orsteUungs- 
schatce  wertvolle  Stucke  einzuverleiben" 

Durch  stete  Schulung  gewinnen  viele  Schüler  ein  so  ruhiges, 

scharfes  Auge,  dass  sie  schiesslich  aus  eigener  Kraft  in  das  Ver- 
ständnis eines  Bilden  einzudringen  vermögen.  Den  Verfasser  vor- 
liegender Erörterungen  machte  einst  eine  13jährige  Schülerin  nach 
kurzer  Betrachtung  des  „Abendmahls"  von  Leonardo  da  Vinci  von 
selbst  darauf  aufmerksam,  wie  der  Maler  die  Jünger  Jesu  zu  je  drrien 
gruppiert  habe,  wie  sie  in  ihren  Mienen  und  in  ihrer  gesamten  Haltung 
den  tiefen  F.indruck  des  eben  gefallenen  Wortes :  „Einer  unter  euch 
wird  mich  verraten !"  zum  Ausdruck  brächten  und  wie  der  Abend- 
himmcl  als  Hintergrund  zu  dem  Gemälde  ,,so  trefflich  passe". 

Damit  erreicht  die  unterrichtUche  Veranschaulichung  den  Höhe- 
punkt ihrer  Aufgabe;  denn  dadurch,  dass  sie  es  dahin  zu  bringen 
sucht,  dass  die  Schüler  aus  freiem  Antriebe  und  eigenem  Vermögen 
sich  in  ein  schönes  ffild  vertiefen,  seinen  Inhalt  in  sich  aufzunehmen 


')  E.  i'ik,  Bodcahländigc  Pädagogik,  S.  1 37.    Leipzig,  Hahn. 
*)  Lichtwark,  Übungen  in  der  BettkchtUDg  TOS  KnMtwerkeii. 
•)  E.  Pik  «.a.O.   S,  137. 


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—   355  — 


versuchen,  wird  sie  zu  einem  wirksamen  Faktor  der  Kunsteraiehung, 

die  ja  auch  in  der  einfachsten  Schule  eine  bescheidene  Pflegestätte 
finden  kann  und  soll.  Dieser  Dienst  der  Sc  huir  ist  um  so  not- 
wendiger, als  gerade  in  unsem  Tagen  infolge  der  in  hohem  Grade 
entwickelten  Herstellungs-  und  Vervielfältigungstechnik  das  Bild 
als  Wand>  und  Budischmuck  eine  unbegrenzte  Verbrdtung  ge- 
wonnen hat 

Der  Reisende,  welcher  zum  erstenmal  eine  ihm  bis  dahin  fremde 
Gegend  durchstreift,  nimmt  in  der  Regel  nur  einen  oberflächlichen 
Eindruck  von  ihr  auf.  Erst  nach  und  nach  vertieft  sich  bei  wieder- 
holtem Besuche  der  erste  Andruck.  Die  einzehien  Szenerien  der 
Landschaft  prägen  sich  seinem  Geiste  fester  ein,  und  auf  dem  Weee 
dieser  wiederholten  Anschauung  gewinnt  er  ein  detailiertes,  afle 
charakteristischen  Züge  umfassendes,  bleibendes  Bild.  In  einor  ganz 
ähnlichen  Lage  befinden  sich  viele  Schüler  dem  Anschauungs bilde 
gegenüber.  Mag  man  auch  bei  der  erstmaligen  Vorführung  eines 
Bildes  die  weiter  oben  gegebenen  Winke  nach  Kräften  berück- 
nchtigen,  so  ist  doch  bei  vielen  Schülern  ein  allmähliches  Abblassen 
der  erzielten  Vorstellungen  zu  befürchten.  Um  dies  zu  verhüten, 
müssen  die  .Schüler  möglichst  in  dauernden  Umgang  mit  dem 
Bilde  gebracht  werden.  Nur  so  ist  ein  wirkliclies  Vertrautwerden 
mit  seinem  Inhalte  denkbar.  Als  das  beste  Mittel,  einmal  erworbene 
Anschauungen  und  Vorstellungen  in  ungeschwächter  Weise  zu 
erhalten,  gilt  von  jeher  die  mater  studiorum,  die  Wiederholung. 

Eine  Veranschaulichung,  welche  ohne  diese  Hilfe  au?knm!iTen 
will,  wandelt  auf  .\bwegen;  denn  nur  eine  wiederholte  Vorführung 
der  Anschauungsobjekte  fuhrt  zu  einer  grfindlichen  Auffassung,  zu 
eiruM  wirklichen  Assin  il  ition.  Die  Repetition  des  unter  Zu- 
hilfenahme der  bildlichen  Veranschaulichung  durch- 
gearbeiteten Lehrstoft'es  sollte  in  der  Regel  unter  erneuter  Benutzung 
der  betreffenden  Büder  erfolgen,  sofern  sie  sich  nicht  bloss  in  über- 
sichtlicher Form  vollzieht  Sehr  oh  wird  es  angängig  sein,  die 
Wiederholung  an  früher  behandelte  Bilder  anzuschliessen,  so 
dass  diesen  die  führende  Rolle  zugewiesen  wird.  Auf  diese  Weise 
wird  eine  gründliche  Ausnutzung  des  I.ehrmittelschatzes  einer  Schule 
erzielt  Die  vorhandene  Sammlung  wird  dann  gewissermassen  zum 
Museum,  jederzeit  bereit,  der  Unterrichtsarbeit  wertvoUe  Hilfen  zu 
bieten,  und  es  tritt  dann  nicht  der  leider  so  häufig  zu  beobachtende, 
beklagenswerte  Fall  ein,  dass  kostbare  Anschauungsmittel  wie  ver* 
grabene  Pfunde  zinslos  im  Schulschranke  lagern  und  dort  veralten. 

Wie  nutzbringend  wäre  es,  wenn  jede  Schule  sozusagen  über 
eine  allen  Schülern  frei  und  leicht  zugängliche  permanente 
Ausstellung  ihrer  Bilder  und  sonstigen  Lehrmittel  ver* 
fugte!  Innerhalb  bescheidener  Grenzen  gewinnt  dieser  Gedanke 
praktische  Gestalt,  wenn  unter  Benutzung  von  Wechselrahmen  und 
einfachen  Gestellen  ständig  ein  Teil  der  verfügbaren  Bilder  in  einem 

23* 


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besonderen  Zimmer,  auf  dem  Flur  oder  in  sonstigen  Räumen  zur 
Steten  Besichtigung  offen  aushangt  In  der  vom  Verfasser  eeleitetoi 

Mittelschule  ^tid  solche  GesteUe  seit  längerer  Zeit  in  Gebrauch. 

Sie  h^stf^hcn  aus  2*/^  m  hohen,  senkrechten  Stäben,  die  durch 
mehrere  etwa  25  cm  weit  voneinander  entfernte  Ouerleisten  von 
2  bis  3  m  Länge  verbunden  sind,  an  welchen  die  Bilder  mittels 
Reissawecken  befestigt  werden.  Die  Schüler  benutzen  diese  Ge- 
legenheit zum  be(|uemen,  genauen  Betrachten  erfahrunrrsgemäss  sehr 
gern  und  mit  sichtlichem  Erfolge.  Dass  diese  Art  der  kontinuier- 
lichen Veranschaulichung  planmässig,  d.  h.  unter  beständiger  Rück- 
sichtnahme auf  den  stoffUchen  Fortschritt  des  Unterrichts,  sowie 
unter  steter  Kontrolle  und  unt»  angemessener,  regelmässiger  Er- 
neuerung der  Aushänge  erfolgen  muss,  liegt  auf  der  Hand.  Ein 
Durcheinander  in  den  Aushängen  ist  natürlich  vom  Übel.  Am 
zweckmässigsten  erweisen  sich  Grruppen  oder  Serien,  die  sich  eng 
an  Lehreinheiten  anschlicssen.  — " 

In  die  Reihe  derjenigen  bildlichen  DarsteUungen,  welche  zu 
unterrichtUchen  Zwecken  Verwendung  finden,  gehören  seit  einigen 
Jahren  auch  die  sogenannten  Ansichtskarten.  Es  nimmt  nicht 
wunder,  wenn  man  in  Ermangelung  grösserer  Bilder  diese  Dar- 
stellungen en  miniature,  welche  zu  einem  geringen  Preise  erhältlich 
sind,  vielerorts  als  Lehrmittel  würdigt.  Schon  im  Jahre  1900  forderte 
Stübler^)  geradezu  ihre  Verwendung  im  Dienste  des  erdkundlichen 
Unterrichts,  und  auch  auf  dem  15.  deutschen  Geographentage  wurde 
dieser  Gedanke  durch  Dr.  Schwarz  aufs  cifric:ste  verforhtcn.  Leipzig 
besitzt  seit  1907  eine  Zentralstelle  guter  Ansichtskarten  aller  Art 
für  Unterrichtsiwecke",  deren  Bestrebungen  u.  a.  auch  Tischendorf, 
Harms  und  Schmeil  ihre  Zustimmung  bekundet  haben.  Und  war 
es  anfangs  nur  die  Ansichtskarte  geographischen  Inhalts,  welche 
unterrirhtliche  VefAcndung  fand,  so  sind  inzwischen  bekanntlich 
auch  Kalten  mit  naturkundlichen,  weltgeschichtlichen,  knnst-  und 
literarhistorischen  Darbietungen  da  und  dort  in  Umlauf  und  Benutzung. 

So  gewagt  und  rückständig  es  nun  einerseits  wäre,  einer  gnind* 
sätzlichen  Ausschaltung  der  Ansichtskarte  aus  der  Reihe  der  Schul« 
lehrmittel  das  Wort  zu  reden,  so  notwendig  erweist  es  sich  andrer- 
seits aber  auch,  gegen  ein  Ubermass  in  ihrer  unterrichtlichen 
Verwertung  Einspruch  zu  erheben.  AUe  unterrichtlichen  Massnahmen, 
vor  allem  auch  diejenigen  der  Veranschaulichung,  sind  so  zu  gestalten, 
dass  in  weitestem  Umfange  auf  die  Verhältnisse  und  Bedürfnisse 
des  Klassenunterrichts  Rücksicht  genommen  wird.  Der  Massen- 
unterricht stellt  aber  in  Bezug  auf  die  vorzuführenden  Objekte  die 
Forderung,  dass  sie  möglichst  gross  und  deutlich  und  jede  Be- 
einträchtigung der  Aufmerksamkeit  fernzuhalten  geeignet  sden* 
Das  übliche  Verfahren  bei  der  Verwertung  der  Ansichtskarten  zo 


1)  Zötsclirift  fttr  Sduügeognphie  1900,  S.  357. 


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—   357  — 


Lehrzwecken  widerspricht  aber  diesem  selbstverständlichen  Ver* 
langen.   Die  Kleinheit  der  Darstellung  auf  der  Ansichtskarte  zwingt 

dazu,  den  Kinssenunterricht  nnhe;ai  in  Einzelunterricht  aufzulösen: 
sodann  mindert  sie  die  Klarheit  der  Auffassung  und  verhindert  das 
unterrichtliche  Eingehen  auf  die  Einzelheiten  und  Teile.  Das  bank- 
weise Vorzeigen  der  Ansichtskarte  oder  das  Weiterreichen  von 
Schüler  zu  Sdlüler  innerhalb  der  Stunde  erfordert  nicht  allein  vid 
Zeit  und  strenji^te  Kontrolle,  sondern  erschwert  auch  in  hohem 
Masse  die  Disziplin  namentlich  bei  starkbesetzten  Klassen.  Und 
dieses  unruhige  Momemt,  welches  die  Verwendung  der  Ansichts- 
karte als  Lehrmittel  in  den  Verlauf  der  Unterrichtsstunden  hinein- 
trl^t,  macht  in  Verbindung  mit  den  übrigen  störenden  Begleit- 
erscheinungen den  erhofften  unterrichtlichen  Gewinn  in  der  Regel 
zur  Illusion. 

Nun  mag  man  vielleicht  einwenden,  dass  es  möglich  sei,  jede 
zu  verwertende  Ansichtskarte  in  so  vielen  Exemplaren  zu  beschaffen 
und  zu  verteilen,  dass  jeder  einzelne  Schüler  sie  in  den  Händen 

habe.  Würde  nicht  aber  der  zur  praktischen  Ausführung  dieses 
Gedankens  erforderliche  Betrag  hinreichen,  grosse,  die  Erreichung 
des  beabsichtigten  Zweckes  besser  gewährleistende  Bilder  zu  be- 
schaffen r    Diese  Frage  wird  kaum  zu  verneinen  sein. 

Hiemach  wird  der  AnsichtskartCp  so  vollkommen  sie  auch 
immer  gestaltet  sein  mag,  in  der  Reihe  der  Lehrmittel  immer  eine 
untergeordnete  Rolle  zuzuweisen  sein,  Sie  wird  da  ':nd  dort  als 
Nothelfer  diLnen  können,  z.  B.  in  der  Kunde  der  engeren  und 
weiteren  Heimat,  i  ur  den  letzteren  Zweck  dar lic  sie  ohne  erhebliche 
Kosten  uberall  in  ausreichender  Zahl  zu  haboi  und  namentlich 
dann  am  Platze  sein,  wenn  grosse  Bilder  nicht  zur  Verfugung 
stehen.  Es  dürfte  sich  als  erspricsslich  erweisen,  die  Schüler 
anzuhalten,  gute  Ansichtskarten  und  ähnliche  Darstellungen  {?..  H,  die 
bekannten  Photocols  und  Licbigbilder)  zu  sammeln,  und  sie  anzu- 
leiten, ihren  Inhalt  aus  freiem  lotercsseselbsttätig  zu  verarbeiten. 
Eine  so  gehandhabte  Benutzung  der  Ansichtskarte  dürfte  keinen 
Einwendungen  begegnen.  —  Mit  derselben  Vor-  und  Umsicht  wie 
die  Ansichtskarten  werden  auch  Stereoskopische  Abbildungen  unter- 
richtlich zu  behandeln  sein. 

Unter  den  Mitteln  zur  bildlichen  Veranschaulichung  bedürfen 
audi  die  Projektionsapparate,  welche  die  moderne  Techmk 
zu  Lehrzwecken  darbietet,  einer  sorgfaltigen  Prüfung  in  Bezug  auf 
ihren  unterrichtlichen  Wert.  Sie  kritiklos  mit  dem  übervollen  Masse 
des  Entgegenkommens  hinzunehmen,  welches  einer  ausserordentlich 
geschäftigen  Reklame  stets  erwünscht  ist,  wäre  eine  bedenkliche  Über- 
eilung; denn  gerade  auf  dem  Grebiete  des  Lehrmittelwesens 
hat  sich  bisher  vieles  als  Blendwerk  oder  doch  als  zwar  amüsante, 
aber  völlig  ertraglose  Spielerei  erwiesen.  Wie  manches  mit  hohen 
Kosten  beschatte  Lehrmittel  ruht  wenig  benutzt  oder  gar  verstaubt 


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im  Dunkel  der  Vei]p:esseiiheit»  weil  seine  unterriclitliche  Verwendung 
kompliziert,  disziplinstörend  oder  -erschwerend  und  durchaus  nicht 

von  der  erhofTten  Wirkung  war!  Auch  besteht  im  Sinne  des  ahen 
Spruches:  ,,Kincs  schickt  sich  nicht  für  alle"  unzweifelhaft  die 
Möglichkeit,  dass  nicht  jedes  an  sich  einwandfreie  Leiu-mittel 
unbedingt  auch  in  jede  Schule,  gleichviel  wie  sie  geartet  sei, 
hinein  passt 

Als  die  höchste  Poten:-  der  bildlichen  Veran<^rhriulichung  ^?^ird 
zur  Zeit  vielerseits  der  ivinematograph  in  seinen  verschiedenen 
Konstruktionen  angesprochen,  und  wer  den  ihm  geweihten  Lob- 
Uedem  mancher  Zdtschriften^)  ohne  Bedenken  Gehör  schenken  will, 
muss  in  ihm  unbedingt  das  Non  plus  ultra  aller  Lehrmittel  oder 
den  Nürnberger  Trichter  in  seiner  zuverlässigsten  Gestalt  er?  licken. 
Und  doch  fordert  gerade  diese  modernste  aller  Unterrichtshilfen  jene 
kühle  Erwägung  heraus,  weiche  neuen  Lehrmitteln  gegenüber  so  oft 
am  Platze  ist  Zwar  kann  von  einer  strikten  Ablelmung  des  Kine> 
matographen  als  Vetansdiaulichung  nicht  die  Rede  sein,  das  hiesse 
das  Kind  mit  dem  Bade  ausschütten :  die  Frage  aber,  ob  er  in  dem 
Stadium  seiner  tfefrenwärti^.^en  Entwickelung  unbegrenztes  G^st- 
recht  in  der  Schule  beanspruchen  darf,  ist  aus  den  nachfolgenden 
Gründen  zu  verneinen. 

In  erster  Linie  sprechen  ernste  Bedenken  hygienischer 
Natur  gegen  seine  uneingeschränkte  Verwendung  zu  Lehr- 
zwecken  Die  photograpbisrhcn  Momentaufnahmen,  welche  mittels 
des  kincmatographischcn  Af  iiaiats  in  raschester  Aufeinanderfolge 
(20  Films  innerhalb  einer  Minute)  auf  den  von  konzentriertem  Licht 
grell  bestrahlten  Schirm  projiziert  werden,  präsentieren  sich  bd 
ihrer  Vorführung  bekanntlich  in  einem  unaufhoriich  tanzenden 
Flimmern  und  Blitzen,  welches  auch  bei  Apparaten  bester  Kon- 
struktion sich  nicht  hat  beseitigen  lassen.  Die  Netzhaut  des  im 
verdunkelten  Räume  der  hellen  Leinwandfläche  zugekehrten  Auges 
ist  gezwungen,  in  kürzester  Frist  unzahlig  viele  in  Bezug  auf  Städte 
und  Bewegung  verschiedene  Erschütterungen  hinzunehmen.  Nun 
vermag  ja  wohl  das  gesunde  Auge  eine  einmalige  oder  in  langen 
Zeitintervallen  sich  wiederholende  Einwirkung  dieser  dnrrh  die 
Projektion  noch  vergrösserten  Zitterbewegung  ohne  merkhchen 
Schaden  zu  ertragen  j  aber  es  steht  ausser  allem  Zweifel,  dass  eine 
unterrichtliche  Verwendung  des  Kinematographen  in  dem  weiten 
Umfange,  welcher  neuerdings  von  verschiedenen  Seiten  gefordert 
wird,  die  Sehkraft  der  Schüler  unbedingt  schädigen  muss,  und 
nicht  bloss  das!  Wenn  sich  auch  die  Schule  davon  fernhalten 
wird,  den  Schüicrn  Stücke  aufregenden  Inhalts  vorzuführen,  so  wird 
doch  sdion  durch  die  Art  der  Darbietung  nicht  allein  das  Auge^ 
sondern  der  gesamte  Nervenapparat  nachteilig  beetnflusst  werden. 


')  I.  B.  „Schale  «od  Techmk".   Berlia,  Verlag  fOr  Fachliteratur. 


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Die  hetzende  Gresdiwindigkeit,  welche  jeder  kinematographischen 

Demonstration  wesenseigen  ist,  kann  In  keinem  Falle  förderlich  auf 
das  Kind  wirken.  Die  nervöse  Hast,  welche  bedauerlicherweise 
einem  grossen  Teile  unserer  Schuljugend  ohnehin  sciion  aaiiaitet, 
wird  durch  eine  umiassende  Benutzung  des  Idnematographischen 
Apparats  im  Unterricht  sicher  nicht  eine  Verminderung  erfahren. 
Man  wird  daher  dem  Berliner  Schularzte  Dr.  Paul  Schenk  bei- 
tlichten  müssen,  der  vom  hygienischen  Standpunkte  aus  seine 
tellungnahme  zum  Kinematographen  so  präzisiert :  ,J^iekinemato- 
graphischen  Vorführungen  sind  geeignet,  durch  die 
sinnverwirrende,  die  Leistungsfähigkeit  der  Augen 
überlastende  Schnelligkeit,  mit  der  die  einzelnen 
Kindrücke  aufeinanderfolgen,  die  Gesuadheit,  nament- 
lich die  der  Kinder,  zu  s  c  h  äd  i  |^en." 

Auch  von  dem  rein  pädagogischen  Standpunkte  aus 
maci:en  sich  Bedenken  gegen  ein  Ubennass  kinematographischer 
Vorfiihrui^[en  geltend. 

Zunächst  darf  die  Behauptung,  dass  der  Kinematograph  die 

Anschauung  der  Wirklichkeit  durchaus  ersetze,  nicht  unwider- 
sprochen bleiben.  Was  er  bietet,  sind  Bilder,  —  nichts  mehr. 
So  gross  die  durch  ihn  erzeugte  Illusion  auch  immer  sein  mag, 
ein  voUer  £raatz  fiir  das  wirimche  Leben,  iur  die  Dinge  und  Er- 
scheinungen an  sich  ist  sie  nicht  Wenn  auch  bei  den  ersten 
Vorführungen  das  durch  den  Reiz  der  Neuheit  gefesselte  Auge  des 
Schülers  über  die  Diskontinuität  des  bildlichen  Geschehns,  wie  sie 
auch  beim  rapidesten  Abrollen  der  Films  in  die  Erscheinung  tritt, 
sich  liinwegtäuschen  lässt,  so  kann  es  doch  nicht  ausbleiben,  dass 
es  beim  wiederholten  und  regeknässigen  «Gebrauche  des  Apparats 
das  durch  unaufhörliches  Aufblitzen  markierte  Zerreissen  des  Vor- 
gangs in  lauter  kleine  Abschnitte  allmählich  deutlich  bemerkt  \md 
bewusst  empfindet,  V^on  dem  ungestörten,  verweilenden  Hclrachlen, 
welches  wir  weiter  oben  als  die  uneriäösiiche  Basis  jeder  bildlichen 
Veranschaulichung  bexeiduiet  haben,  kann  dann  wohl  kaum  die 
Rede  sein.  Wie  sollten  dauerhafte  Wahrnehmungen  entstehen,  wenn 
eine  Fülle  von  Bildrhen  im  Automobiltempo  auf  das  Auf^e  eindringtl 
Was  in  Wirklichkeit  sich  im  Laufe  mehrerer  Stunden  abspielt, 
drängt  der  Kinematograph  in  den  engen  Raum  weniger  Minuten 
zusammen.  Je  scharfer  der  zuschauende  Schüler  das  Unnatürliche 
dieses  überhastenden  Geschehens  empfindet,  desto  geringer  muss 
die  anschauliche  Wirkung  sein. 

Wohl  mag  es  bequem  und  verlockend  erscheinen,  dem  Schüler 
mit  Hilfe  des  Kinematographen  auf  der  Leinwand  „die  ans  Ufer 

^)  Hierzu  und  zum  folgcoden  ▼ergleiche  man  den  Aa&alt:  „Der  Kinematograpll 
Tom  hygienischen  Standpuoirte*'  TOD  Df.  Schenk  („Sdivlpflege**  1907  Nr.  30,  Verhf 

von  R.  Süicker-Bcrlin  W.). 


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—   3^  — 


schlagenden  Wellen  des  heimatlichen  Sees,  das  vom  leichten  Winde 
gekräuselte  Wasser,  die  träge  einherschleichendc  Zille,  das  vorüber- 
Schicssende  Klubboot',  u.  a,  vorzufiüiren,  sie  zwischen  den  Wänden 
des  Schulzimmers  „üie  Konstruktion  des  Automobils,  die  Arbeit 
des  Krahns»  das  Grtioiebe  einer  Dampfinaschine"  u.  dergl.  sdiauen 
zu  lassen.  Ist  es  aber  nicht  natürlicher  und  erfolgversprechender, 
sie  die  Schönheit  der  Heimat,  das  Leben  im  Walde  usw.  durch 
wirkliche  Anschauung  auf  Beobachtungsg^ängfen,  die  Wirkungsweise 
physikalischer  Apparate  an  diesen  selbst  oder  an  guten  Modellen 
erkennen  zu  lehren? 

Wirklich  naturgemasKT  Unterricht  im  eigensten  Sinne  des 
Worts  wird  immer  in  der  Natur  selbst  seine  sicherste  Grund- 
lage und  kräftigste  Stütze  finden  und  das  Bild,  gleichviel  in  welcher 
Gestalt,  nur  dort,  wo  die  Wirklichkeit  nicht  selbst  ohne  weiteres 
zugänglich  ist,  als  berechtigten  Ersatz  benützen  dürfen.  Mehr  ab 
ein  solcher  Ersatz  können  auch  Idnematographische  Voduhrui^en 
billigerweise  nicht  gelten.  Und  in  diesem  Sinne  halten  wir  eine 
sparsame,  sorgfältig  erwogene  Verwendung  des  Kinematographen 
für  erlaubt  und  erspriesslich.  Was  darüber  ist,  das  ist  vom  Übel ,  ist 
eine  Veranschaulichung  auf  Abwegen.  Und  damit  sei  die  pomp- 
haft tönende  Behauptung:  „Die  Einfälurung  des  Kinematographen 
in  die  Schule  ist  eine  Kulturtat  ersten  Ranges,  die  dem  Pädagogen 
seine  Arbeit  in  ungeahnter  Weise  erleichtert''^)  auf  ihren  irahren 
Wert  zurückgeführt. 

Günstiger  als  der  Kinematograph  ist  das  Skioptikon  als 
Lehrmittel  zu  beurteilen.  Die  Einwendungen,  welche  vom  ärztlichen 
Standpunkte  aus  gegen  die  unterrichtliche  Verwendung  dieses 
Projektionsapparates  erhoben  werden  könnten,  beschränken  sich 
auf  ein  geringes  Mass,  während  seine  Benutzung  eine  ausserordentlich 
vielseit^e  Veranschaulichung  und  die  Mögliciikeit  des  verweilenden 
Betrachtens  in  weitestem  Umfange  gewährleistet 

In  Bezug  auf  die  Diapositive,  welche  för  das  Skioptikon  ver- 
wendet werden,  ist  zu  wünschen,  dass  man  sich  auf  gute  p  h  o  t  o  • 
graphische  Bilder,  die  ja  auch  schon  wegen  ihres  weit  niedrigeren 
Preises  den  kolorierten  vorzuziehen  sein  werden,  beschranken  möge. 
„Wohl  haben  diejenigen  recht,  welche  behaupten,  dass  Farbe  Lelwn 
bedeutet,  aber  nur  dann,  wenn  die  Farben  naturwahr  sind. 
Dies  ist  aber  bei  den  wenigsten  im  Handel  befindlichen  farbigen 
Diapositiven  der  Fall  und  kann  auch  nicht  der  Fall  sein,  so  lange 
es  sich  um  Handkolorierung  handelt-  Nur  ein  Künstler  ist  imstande, 
in  dieser  Miniaturmalerei  Brauchbares  zu  leisten.  Ein  Handwerker 
wird  durch  waachblaufarbigen  Himmel,  grünspanfarbige  Bäume  und 
Uditblaue  Was»nrfölle  vielleicht  das  Entzücken  unserer  lieben  Jugend 


>)  Felix  Wolff,  Der  Kinenwtocimpli  als  LdmaiUel  („Schule  nud  Technik"  i.  Jahr- 
gang No.  2,  S.  44). 


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—    301  — 


hervorrufen;  der  Lehrer  aber  wird  auf  derartige  „kostbare  Kunst* 

erzeugnisse"  gern  verzichten.  Etwas  anderes  ist  es»  wenn  es  sich  um 
Märchenbilder  handelt.  Diese  sind  ja  für  die  kleinsten  Leute 
bestimmt,  da  muss  Farbe  her,  da  darf  sie  auch  ein  bisschen  grell 
sein,  da  darf  aber  auch  kein  zu  strenger  künstlerischer  Massstab 
angelegt  werden."*) 

Es  wird  daher  nichts  dagegen  einzuwen<ten  sein,  wenn  überaiD 
da,  wo  ein  eigens  hergerichteter,  womöglich  mit  elektrischem  Kon- 
takt und  Verdunkelungsvorrichtung  versehener  Raum  fiir  Lehrzwecke 
zur  Verfügung  steht,  das  Skioptikon  seinen  Einzug  hält  und  inner- 
halb wohlerwogener  Grenzen  in  sparsamer  Weise  zu  Zwecken  einer 
vernünftigen  Veranschaulichung  benutzt  wird.  Die  Höhe  der  An« 
schaffungskosten  verschwindet  gegenüber  der  ergiebigen,  in  allen 
Unterrichtsfächern  möglichen  Verwendung  dieses  IVoirktionsapparats. 
Niemals  wird  aber  ausser  acht  gelassen  werden  dürfen,  dass  eine 
missbräuchliche ,  über  ein  gesundes  Mass  hinausschiessende  In- 
anspruchnahme seiner  Dienste  zu  Unterrichtszwecken  auf  Abwege 
fuhren  würde.  Solch  einen  Abweg  beschreitet  Scheel,^)  welcher 
den  Lichtbilderapparat  nicht  nur  als  gelegentliche  Unterrichtshilfe 
benutzen  will,  sondern  für  einen  besonderen  Lichtbüderunterricht 
eintritt. 

Sogar  das  Grammophon,  dieser  moderne,  nicht  bloss  im 
öffentlichen  Leben,  sondern  auch  in  vielen  Privathäusem  sein  lästiges 
Wesen  treibende  Plagegeist,  steht  bereits  Sniass  begehrend  vor  den 
Türen  unserer  Schulzimmcr.  Ein  bayrischer  Landtagsabgeordneter 
hat  kürzlich  im  Parlament  allen  Ernstes  empfohlen,  die  Sprech- 
maschine auch  unterrichtlichen  Zwecken  nutzbar  zu  machen,  und 
eine  reichshauptstadtische  Verlagsfinna  hat  sogar  unter  den  Mitteln 
zur  Aneignung  fremder  Sprachen  das  Selbststudium  mittels  An- 
wendung des  Grammophons  als  das  bequemste  und  beste  be- 
zeichnet.*) Wie  alles  Neue  hat  natürlich  auch  diese  Idee  schon  be- 
geisterte Verehrer  gefunden,  von  denen  einer  schreibt:  „Wem  fem 
von  der  Stadt  kein  geeigneter  Sprachlehrer  zur  Verfügung  steht, 
der  braucht  jetzt  nur  eine  Grammatik  und  ein  Grammophon,  so  hat 
er  den  Lehrer  im  Hause,  der  ihm  auf  unbegrenzte  Zeit  erhalten 
bleibt."^)  Auf  das  Irrige,  Utopische  und  Extreme  einer  solchen  An- 
sicht näher  einzugehen,  erübrigt  sich.  Wohl  ist  der  Fall  denkbar, 
dass  auch  die  Sprechmaschine  unter  Umständen  einmal,  eine  ver- 


*)  Hans  Kellermann,  Die  Zukunft  des  Skioptikons  in  der  Schule  („Periodische 
Blätter  für  Kealienunterricht  und  Lebrmittdwesen'*  1907,  Heft  I.  Wien  atid  Leipag, 
Akademischer  Verlag). 

«)  Dr.  W.  Scheel,  D.IS  Lichtbild.    Lciprig,  Quelle  &  Meyer. 

*}  So  sind  u  B.  die  Retsegeq>riche  zu  dea  Laogcnschcidtschcn  Sprachführern  auf 
GflUiittophonplatten  Mnflidi  zn  bsben.  Welda  wrlodteade  Penpektive:  Spreche 
BWChine  mit  Zubehör  im  Rcisekoffer  I 

*)  „Schule  und  Technik"  1908  Nr.  4. 


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vottkommoete  Konstruktion  vorausgesetzt,  dem  Unterricht  einco 
schätzenswerten  Dienst  zu  leisten  vermag;  ihr  aber  sdion  heute 

einen  bevor^ug^ten  Plnt?  unter  den  Lehrmitteln  zuzubilligen,  dürfte 
doch  sehr  verfrüht  sein.  Maschinenhafter  Unterhchtsbetrieb  erstickt 
die  Persönlichkeit.  — 

In  welcher  Gestalt  und  Darbietung  das  BUd  auch  immer  als 
Vcranschaulichun^s mittel  Verwendung  finden  mag,  wird  es  doch  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  als  blosser  Ersatz  der  lebensvollen  Wirkürh 
keit  auch  bei  vorzüglichster  Ausführung  nur  selten  ebenso 
kräftig  und  nachhaltig  wirken  wie  diese.  Darum  muss  die 
Schule  Überall  da,  wo  die  Dinge  und  Erscheinungen  in  natura  er- 
reichbar sind,  unter  Verzichtleistung  auf  ihre  iMldlidie  Dacstdlung 
die  Objekte  selbst  Ausg-angspunkt,  Grundlage  und  Fördcrungs- 
mittel  des  unterrichtlichen  V'eranschaulichcns  sein  lassen.  „Diese 
wirklich  unmittelbare  Anschauung  bringt  lebendige  Vorstellungen 
in  die  Seele,  nährt  und  beschäftigt  diese  mehr  als  zdm  der  schönsten 
BUder/«') 

Wie  oft  sündigt  aber  die  Schule  gegen  diese  Forderung?  £i 

gibt  kaum  ein  Unterrichtsfach,  das  nicht  in  irgend  einer  Weise  un- 
erlaubten Bilderkulius  treibt.  Am  augenfälligsten  tritt  er  allenthalben 
im  naturkundlichen  Unterrichte  zutage.  Man  will  noch  immer 
die  lebensfrische  Natur  an  Bildern  kennen  lehren.  Der  oft 
ausgesprochenen  und  von  den  Meistern  mit  Nachdruck  erhobenen 
Forderung  des  „Unterrichts  im  Freien"  wird  meist  auch  dort,  wo 
ihre  Erfüllung  ohne  Mühe  möglich  wäre,  nicht  praktische  Folge  ge- 
geben. Wo  sind  die  Lehrer,  welche  mit  ihren  Schülern  die  Natur 
selbst:  das  Leben  im  Walde  im  Laufe  der  Jahreszeiten,  die  Pflanzen 
der  Wiese  und  des  Gartens,  das  Vieh  auf  der  Weide,  die  Fruchte 
des  Feldes,  den  gestirnten  Himmel,  physikalische  Vorgange  im  Luft* 
meer  u.  dgl.  anders  als  im  Bilde,  an  der  Zeichnung  oder  am  .Apparat 
betrachten  *  Warum  schliesst  man  beispielsweise  die  unterrirhtlichc 
Beschreibung  des  Hundes,  der  Katze,  des  Huhnes  und  anderer  Haus- 
tiere, der  heimischen  Kulturgewächse  und  anderer  Pflanzen  fast  aus- 
nahmslos an  Abbildungen  an,  wo  diese  Objekte  sich  selbst  uogesudit 
zur  unterrichtlichen  Demonstr:ition  darbieten'  Verleitung  zum  Vor- 
witz, zur  Tierquälerei,  zum  Frevel  in  I  lur  und  Wald  oder  noch 
Schlimmeres  sind  bei  einer  so  gearteten  Veranschaulichung  ganz 
gewiss  nidit  zu  befürchten;  wohl  aber  wird  diese  Veraoschautichuiig, 
zweckmässige  Handhabung  vorausgesetzt,  dazu  bettragen,  dass  bei 
den  Schülern  ein  erhöhtes  Interesse  für  die  wirkfichoi  Dinge  und 
Lebensvorgänge  in  der  Natur  Boden  gewinnt. 

Nun  meint  man  ja  wohl,  dass  „Bcobachtungsaufgaben"  das  von 
uns  als  unerlässlich  bezeichnete  Verfahren  vollauf  zu  ersetzen  im- 


')  ^^>i;ß''        Martiu.  Grundlagen  tat  iMtoigeniSaien  Unigectdtiiiig  det  Volk*> 

schulwcscos,  S.  1S9.  —  Leipzig,  Kahle. 


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—   3<>3  - 


Stande  seien.  Wer  es  aber  erfahren  hat,  auf  was  fUr  unselbständige 
Weise  sehr  oft  die  jeweils  erforderten  „Ergebnisse"  gewonnen  werden, 
der  wird  den  wahren  Wert  eines  solchen,  mehr  oder  minder  den 
Schülern  anheimgegebenen  Naturstudiunis  zu  würdigen  wissen. 

Eine  Naturbetrachtung  in  dem  Sinne,  wie  wir  sie  fordern,  darf 
nicht  auf  halbem  Wege  stehen  bleiben,  sich  auch  nicht  mit  der  Er- 
zeugung von  Teilvorstellungen  begnügen*  Ist  es  nicht  eine  ganz 
armselige  Art  der  Veranschaulichung,  wenn  man  sich  z.  B  bei  der 
Betrachtung  des  Apfelbaums,  der  Kastanie,  der  Linde  oder  der  ixiefcr 
darauf  beschränkt,  lui  dumplen  Zimmer  vor  einer  ganzen  Klasse 
mit  einem  Zweiglein,  mit  einigen  Blattern,  Blüten  oder  Früchten  zu 
operieren,  anstatt  „unter  Eichen  und  Buchen  zu  lehren",  was  schon 
Comenius  forderte?  Wieviel  kräftiger  muss  die  Wirkung  auf  die 
Schüler  sein,  wenn  der  Lehrer  sie  so  oft  als  möglich  hinausführt  in 
den  Garten  der  Natur,  wenn  er  lehrend  sie  wiederholt  unter  die 
Bäume  stellt,  deren  Lebensvorgän^e  und  Bedeutung  sie  verstehen 
lernen  sollen,  das  erstemal,  wenn  ihre  Knospen  schwellen,  sodann, 
wenn  ihre  Blätter  und  Blüten  sich  entfaltet  haben  und  von  Insekten 
uin-^nrnrnt,  von  Vögeln  umflattert  werden,  uttd  schliesslich  noch  ein- 
mal, wenn  ihre  Aste  sich  unter  der  Last  der  Früchte  beugen  1 

Inbezug  auf  die  Entwicklung  kleiner  Pflanzen  und  Tiere,  wie 
etwa  der  Erbse  und  des  Maiglöckchens,  des  Frosches  und  des 
Schmetterlings,  kann  die  kontinuierliche  Beobachtung  im  Schulzimmer 
erfolgen.  Gewisse  Objekte  stehen  fast  jederzeit  und  überall  zur 
unterrichtlichen  Verfügung  und  machen  Abbildungen  dav^on  ganz 
entbehrlich,  so  z.  B.  charakteristische  Gebisse  geschlachteter  Tiere 
^ind,  Schwein,  Hase),  Fussarten  der  Vögel  (Gans,  Ente,  Huhn, 
Taube).  Wertvolle  Hilfe  leisten  auch  gut  ausgestopfte  Here,  Spiritus* 
und  Trockenpräparatc.  Da  aber  derartige  Sammlungen  nicht  den 
Zweck  haben,  die  Beobachtung  im  Freien  7u  ersetzen,  sondert)  zu 
ergämzen,  braucht  in  ilincn  nur  das  vornanden  zu  sein,  was  in  der 
Natur  sich  nur  schwer  oder  nur  in  unzureichender  Weise  beobachten 
lässt.  M^ie  Natur  bleibt  mit  ihrem  allzeit  Zuganglichen  immer  die 
vollkommenste  Sammlung  der  Srhide." 

Die  im  naturkundlichen  LiUerricht  am  wirklichen  Objekt  ge- 
wonnene Anschauung  ist  das  natürlichste  und  tragfahigste  Fundament 
für  einen  g<dst-  und  gemütbfldenden  Ausbau  des  findlichen  Vor- 
stellungskreises, während  jede  anders  geartete  Veransdiaulichung 
leicht  auf  Abwege  gerät  und  darum  zu  Scheinerfolgen  fuhrt.  Von 
diesen  Erwägungen  lassen  sich  u.  a.  auch  die  für  die  preussischen 
Volksschulen  geltenden  neuen  ministeriellen  Anweisungen  vom 
Jahre  1908  leiten,  welche  für  den  gesamten  naturkundlichen  Unter- 
ficht die  Beobachtung  der  Gegenstände  selbst  zur  Pflicht  machen 
and  Zeichnungen  und  Bilder  nur  dort  zulassen,  wo  sie  unumgänglich 
notwendig  sind. 

Es  liegt  im  Raiunen  unserer  Untersuchungen,  einer  Verirrung 


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zu  gedenken,  welcher  der  naturkundliche  Unterricht  sich  hier  und 
da  schuldig  macht.  Gemeint  ist  jenes  Verfahren,  welches  in  dem 
wohlgemeinten  Bestreben,  alles  bis  ins  Kleinste  veranschauhchen  zu 
wollen,  es  zuiässt,  dass  Schüler  Mengen  knospender  und  blühender 
Zweige  von  Bäumen  und  Sträuchem  und  ganze  Strausse  von  Wiesen- 
und  anderen  Blumen  zur  Naturgeschichtsstunde  mitbringen.  Wie 
oft  werden  sie  hier  angeblich  zu  bildenden  Zwecken  zerpflückt,  «ie 
oft  in  den  Händen  der  Schüler  zum  Spielzeug I  Ganze  Körbe  ver- 
welkter und  zerfetzter  Pflanzen  wandern  bisweilen  nach  beendetem 
Unterricht  auf  den  Kehrichthaufen. 

Von  dieser  zweckwidrigen  Handhabung  der  VeransdiauUdiung 
ist  nur  ein  kleiner  Schritt  zu  solchen  naturgeschichtlichen  Versuchen, 
welche  an  die  Rohcitrn  der  Vivisektion  erinnern  Frnst  Linde*) 
weist  in  seiner  „Personlichkeits-Pädago^ik"  nut  c;n  derartiges  Ex- 
periment hin.  Da  soll  —  er  zitiert  aus  cnieni  nieiiriach  aufgelegten 
Präparationswerke  —  eine  (allerdings  vorher  getötete)  Taube  vor  den 
Augen  der  Schüler  zerschnitten  werden,  um  den  Schülern  die  Luft- 
säcke im  Innern  des  Vogclleibrs  zu  /eigen.  Man  wird  zugeben,  dass 
bei  einer  solchen  Veranschaulichung  der  erzielte  spärliche  Gewinn 
gegenüber  der  groben  Verletzung  zarter  Elmphndungen  vollständig 
verschwindet;  denn  es  wird  damit,  wie  Linde  treffend  bemerkt,  „das 
Gremfitsleben  der  Kinder,  ihre  herzliche  Pietät  gegen  die  Geschöpfe 
seziert."  Das  Zergliedern  eines  Tier-  oder  Pflanzesleibes  bis  in  die 
feinsten  Orj^anr  muss  Sache  der  wissenschaftlichen  Forschung  bleiben; 
in  der  Volksschule  ist  sie  in  dieser  Tiefe  nicht  am  Platze.  Die 
Schule  ist  keine  Universität  Sie  besitzt  einfachere  Mittel  zur  Ver- 
deutlichung biologischer  Vorgange.  Wo  die  VeranscfaauUchuog 
kleinster  organischer  Teile  geboten  erscheint,  mag  man  doch  lieber 
Handskizzen  oder  geeignete  zootomische,  biologische  bezw.  morpho- 
logische Abbildungen,  etwa  die  von  Schröder-Kull  oder  die  von  Junt;- 
Koch-Quentell  oder  die  Pflanzentafeln  von  Pilling-Müllcr,  zu  Hilfe 
ziehen.  Hier  sind  Bilder  am  Platse!  Und  wenn  im  botanischen 
Unterricht  das  Mitbringen  kleiner  Pflanzen  unerlässlich  ist.  dann  sollte 
der  Lehrer  darauf  halten,  (1as<:,  sofern  es  sich  nicht  gerade  um 
Unkräuter  handelt,  die  Schuler  beim  pjnholen  dieser  l'flanzen  zur 
naturgeschichtlichen  Lektion  bezw.  nach  erfolgter  unterrichtHcher 
Behandlung  möglichst  nach  dem  Goethe'schen  Worte  verehren:  „Idi 
grub's  mit  allen  den  Würzlein  aus,  zum  Garten  trug  ich's  am 
hübschen  Haus  ;  ich  pflanzt  es  wieder  am  stiUen  Ort;  nun  zweigt  es 
immer  und  blüht  so  fort." 

Wie  in  der  Naturkunde,  so  gebührt  auch  im  Geschichts- 
unterricht überall  da,  wo  geeignete  Objekte  zur  Verfügung  stehen 
oder  leicht  zu  beschaffen  sind,  der  unmittelbaren  Ansdiauui^ der 
Vorrang.  Oft  bieten  sich  solche  Objekte  am  Heimatorte  selbst  oder 


>)  Emst  Linde,  Persönlichkeits- Pädagogik  S.  189.   Lcipsig,  BraodsteUer. 


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—   365  — 


in  seiner  Umgebung  in  Menge  dar,  z.  B.  allerhand  Bauwerke  (Kirchen 
und  K^ellen,  Kltiiter,  Burgen  und  ScMSsser,  Festungswerke,  alt- 
ehrwürdige  Stadtmauern»  Turme,  Tore  und  Ruinen  der  versdüedensten 

Art),  alte  Gräben,  Brunnen  und  Wälle,  historische  und  kunstgeschicht- 
liche Denkmäler,  Gedenksteine  und  -tafeln,  Friedenseichen,  Wappen 
und  andere  Wahrzeichen,  Galgenberge,  sogenannte  Schwedenschanzen 
und  Franzosengräber,  Urnen,  ferner  einzelne  Waffen  sowie  ganze 
Rüstungen,  Dokumente,  örtliche  Sagen,  Sitten  und  Gebräuche.  Diese 
Objekte  ganz  übergehen,  sie  wenig  ausnutzen  oder  durch  ffilder  er- 
setzen 7.U  wollen,  wäre  zweifellos  eine  Veranschaulichung  auf  IJm- 
und  Abwe^^cn.  Stellon  sie  doch  d^*;  naheliegendste  und  natürlichste 
Ausgangs-  und  Anknüpiungsmalcriai  lur  die  VermitLclung  und 
Klarung  der  zu  behandelnden  geschichtlidien  Stoffe  dar.  Es  wird 
dem  Lehrer  ein  Leichtes  sein,  diesen  Repräsentanten  vergangener 
Tac^e  und  Sitten  f. eben  rinznhauchcn.  Gute  Abbildungen  und 
Handskizzen  mögen  zur  Ergänzung  dieses  heimatlichen  Anschauungs- 
materials dienen. 

Auch  im  erdkundlichen  Unterricht  fordern  in  Beüug  auf 
die  Art  der  Veranschaulichung  gewisse  Massnahmen  zur  Kritik  heraus» 
und  zwar  hegen  auch  hier  die  Fehlgriffe  ebenso  oft  in  der  Auswahl 
als  in  der  Anwendung  der  Anschauungsmittel. 

Die  Geographie  ist  noch  zu  oft  Buch-  und  Bilder- 
unterricht. Dieser  Vorwurf  trifft  in  erster  Linie  die  heimatkund- 
Uchen  Lehrstunden.  Unzweifelhaft  bildet  „ein  lebendiges,  durch  Er- 
wandern erreichtes  Bild  des  Wohnbezirks"*)  also  eine  durch  un- 
mittelbare Anschauung  gewonnene,  genaue  Kenntnis  der  Heimat  die 
beste,  die  tragfahigste  Grundlage  des  gesamten  Geographieunter- 
richts. Wie  selten  begegnet  man  aber  in  der  Praxis  einer  solchen 
Grundlegung!  In  neunzig  von  hundert  Fällen  begnügt  man  sich 
damit,  zwischen  den  vier  Wanden  des  Schulzimmers  die  wichtigsten 
„geographischen  Grrundbegriffe"  zu  entwickeln  und  festzustellen.  Man 

feht  wohl  auch  einmal  oder  ein  paarmal  mit  der  Klasse  hinaus  ins 
reie,  um  im  Anschauen  der  Wirklichkeit  die  Schüler  über  einige 
allgemein-geographische  Fragen  (Horizont,  Himmelsgegenden)  oder 
über  einzelne  topographische  Erscheinungen  zu  belehren  und  glaubt 
damit  genug  getan  zu  haben.  Indem  man  vertraut,  dass  die  Schüler 
beim  freien  Umheistreifen  in  der  engeren  und  weiteren  Umgebung 
des  Heimatortes  von  selbst  Anschauungen  in  hinreichender  Stärke 
und  Menge  gesammelt  haben,  vollzieht  sich  der  weitere  Aufbau  der 
Heimatkunde  fern  vom  wirklichen  Objekt  Da  aber  bei  ge- 
nauerem Zusehen  sokhe  „Anschauungen"  entweder  gar  nicht  vor- 


')  -Schilling,    Über  die  Grundsütze  der  .\uswahl ,  Anordnung  und 

Behandlung  des  LehrstofiEs  für  dcu  Geschtchtsuaterricht,  S.  36  ff.   Leijni^i  Klinkhardt, 
PädagogiMte  Stadien  1898:  11  Schilling,  Die  Pfl^e  de«  gesdüchtlicheii  Intcresw. 
^  Heiiv.  Flichcr,  tletliodik  des  Untenricht»  in  der  Eadkiinde,  S.  10.  (Bmärnot  Hirt.) 


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banden  oder  doch  verworren,  unbestimint  und  unIdar  sind,  so  ge> 
staltet  sich  der  Unterricht  xu  einem  bloosen  Spiel  mit  Worten,  das 

des  realen  Untergrunds  crmanf^elt.  Wie  vermag  ein  derarlit,fes 
Fundament  das  weite,  vielgestaltige  Gebäude  der  Erdkunde  zu 
tragen  ? 

Wie  in  der  Naturkunde,  muss  der  Lehrer  auch  in  der  Geo> 
graphie  seine  Schüler  so  oft  als  angängig  hinausgeleiten  und  sie 
unter  seiner  Leitung  an  den  wirklichen  Objekten  der  Heimat  geo- 
graphische Anschauungen  gewinnen  und  sammcki  lassen.  Es  ist 
ein  folgenschwerer  Irrtum,  wenn  der  Lehrer  meint,  die  Umgebung 
seines  Schulortes  ermangele  des  notwendigen  Materials  zur  Ver* 
anschaulichung  geographisdier  Erscheinungen.^)  Die  Erde  ist,  genau 
besehen,  auch  in  ihren  kleinsten  Teilen  stets  dn  Ganae&  Wenn  der 
Lehrer  nur  sorgsam  sucht,  so  findet  er  überall  —  und  wäre  es  nur 
an  Halden  und  Gräben,  an  Teichen  und  Bächen  —  die  erforder- 
lichen Objekte  zur  Verdeutlichung  orograpiiischcr,  hydrographischer 
und  anderer  BegrifTe.  Oft  Öbertrifft  ein  grosser  Sauhaufen  auf  dem 
Schutgrundstück  das  kostspieligste  Relief  an  unterrichtlichem  Werte; 
mächtige  Gebirgsketten  mit  Gipfeln  und  Plateaus,  mit  Kämmo-n  und 
Tälern,  Abgründen  und  Pässen,  Seen  und  Wasserläufen  lassen  sich 
an  ihm  aui  das  sinnfälligste  veranschaulichen.  In  den  Augen  der 
Schüler  beleben  sich  derartige  primitive  Reliefs  zur  puren  Wirtdicb« 
keit  Was  sind  oft  Bilder  dagegen  und  wären  es  die  bestempfohlenen 
Idcallandschaften,  wie  etwa  die  bekannte  Schreiber'sche  oder  die 
Hirt'sche  Darstellung  der  .Hnuptfornicn  der  Krdoberfläche",  die 
wegen  ihrer  unnatürlichen  Kombination  aus  demselben  Grunde  zu 
verwerfen  sind  wie  in  der  Naturkunde  die  nadi  rein  a^ematisdien 
Rücksichten  zusammengestellten  Tiertafeln  von  Schreiber-EssltngeiL 
Fischer-)  hat  durchaus  recht,  wenn  er  hofft,  dass  die  genannten 
geographischen  Anschauungsmittel  in  unsern  Schulen  bald  ebenso 
unmöglich  sein  möchten  „wie  Bilder  von  Einhörnern  und  See- 
schlangen". 

Oberhaupt  muss  auch  an  dieser  Stdle  vor  einer  zu  grossen 

Fülle  von  Bildern  gewarnt  werden.  Die  beiden  Hauptlehrmittcl  des 
erdkundlichen  Unterrichts  sind  neben  der  Wirklichkeit  die  Karte 
und  die  farbenreiche,  lebensvolle  Schilderung;  Abbildungen  sind  von 
untergeordneter  Bedeutung.  Fischer  ^)  hält  zur  Geographie  Deutsch- 
lands folgende  Lehmann'sche  Typenbilder  für  ausreichend:  i.  Lindau, 
2.  Zugspitze,  3.  Binger  Loch,  4.  Schwarzatal,  S.  Riesengebirge, 
6.  Düne  auf  Rügen,  7.  Hamburj^er  Hafen,  8.  Hclr^^olnnd  indem  er 
hinzufugt:  „Man  hat  dann  ein  Bild  des  südlichen  Grenzgebirges  aus 

')  Vgl.  die  trcfTenden  Ausfühningen  in  dem  Aufsatze:  „Heimatkunde  im  Freien" 
von  rollius  im  4.  Hefte  der  „PidAgogUchca  Studiea**  1908.  Drcsdcn-BlMewits, 
Bleyl  &  Kiicmuicrcr. 

-1  Hcinr.  Fischer  a.a.O.    S.  lat. 

3)  Hdiir.  Fiicber  a.  a.  O.   S.  90. 


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der  Feme  und  eins,  das  uns  einige  Einzelheiten  zeig^,  drei  Bilder 
aus  den  Mittelgebirgen,  eins  (Riesengebirge),  das  uns  wieder  ein 
Totalbild  gibt,  eins  (Schwarzatal),  das  un*?  in  Deutschlari  !s  Waldes- 
ticfcn  versenkt,  eins,  welches  uns  den  Durchbrucli  eines  i  iusses  in 
seinem  vornehmsten  Beispiele  zeigt,  und  3  von  der  Wasserkante  ^Steil- 
küste, Flachküste  und  Hafea'*  Dass  sich  zu  diesem  Zwecke  ebenso 
gut  Bilder  andrer  Sammlungen,  wie  z.B.  die  von  Geistbeck  Engleder 
oder  die  von  Hoelzcl,  verwerten  lassen,  ist  selbstverständlich.  Auf 
fortgeschrittenen  Untcrrichtsstufen  wird,  wie  schon  früher  erwähnt 
worden  ist,  bei  der  Veranschaulichung  auch  das  Skioptikon  wert* 
voUe  Dienste  zu  leisten  vermögen.  Zu  betonen  ist  aber  auch  hier, 
dass  in  jedem  Falle  der  Inhalt  der  Bilder  durch  verweilendes  Be» 
trachten,  unterstützt  durch  anschauliche  Schilderung,  lebendig  ge- 
macht werden  muss,  wenn  die  Eigebnisse  nicht  schemenhaft  bleil^n 
sollen. 

Als  eins*  der  erfolgversprechendsten  Mittel  zur  geographischen 
Veranschaulichung  betrachtet  man  vielfach  das  Kartenzeichnen. 

Man  lässt  äch  hierbei  von  dem  Gedanken  leiten,  dass  es  möglich 

sei,  mittels  einiger  auf  das  Papior  ;:jcworfener  Linien  und  Zeichen 
dem  Schüler  eine  richtige  Vorstellung  nicht  allein  von  der  äusseren 
Gestalt  ganzer  Erdräumc  oder  einzelner  Ländergebiete,  sondern  auch 
von  den  zugehörigen  Boden-,  Wasser-  und  Bevölkerungsverhältnissen 
zu  geben.  In  manchen  Schulen  sind  zu  diesem  Behufe  besondere 
Hefte  mit  vorpredrnrkten  Grrifinetzcn  und  Umrissen  in  Gebrauch, 
unter  deren  Benutzung  ein  i^rüsser  leil  der  erdkundlichen  Unter- 
weisungen in  zeichnerische  Darstellungen  sich  auflöst. 

Wie  gestaltet  sich  die  Handhabung  dieses  „Kartenzeichnens"? 
In  den  meisten  Fällen  beschränkt  es  sich  auf  ein  mechanisches 
Kopieren,  auf  ein  blosses  Nachmalen  der  im  Schulatlas  enthaltenen 
Karten  Und  da  in  der  Regel  die  Schüler  jener  Fertigkeit  im 
Zeiciincii,  die  ein  erfolgreiches  geographisches  Skizzieren  voraussetzt, 
ermangeln,  so  greifen  sie  nicht  selten  zu  dem  unerlaubten  Mittel  des 
Durchpausens  und  zwar  besonders  dann,  wenn  die  Herstellung  der 
geforderten  Skizze  als  häusliche  Aufgabe  gestellt  wird. 

Wie  unzulänglich  und  ergebnisarm  ist  aber  meist  eine  solche 
unter  einem  grossen  Aufwand  an  Zeit  und  Mühe  zutage  geförderte 
Leistung!  Was  durch  ein  so  gehandhabtes  Verfahren  im  besten 
Falle  gewonnen  wird,  ist  ein  topographisches  Bild  in  allergröbster 
Form,  höchstens  eine  mehr  oder  weniger  zutreffende  Vorstellung 
von  der  Gestalt  und  Flächenausdehnung  eines  geographischen  Ge- 
biets. Zu  dem  blossen  Zwecke,  dem  Schüler  ein  anschauliches, 
seinem  Geiste  jederzeit  parates  Bild  von  dem  Umriss  eines  Landes 
zu  vermitteln,  bedarf  es  indes  dieser  zeitraubenden  Skizzen  meist 
nidlt;  viel  leichter  und  rascher  vollzieht  sich  diese  Vermittelung  auf 
dem  Wege  des  figürlichen  Vergleichs.  Augenfällige  Ver- 
anschaulichung und  haltbare  Gedächtnisstütze  zugleich  gewälut  es 


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—  368  — 


dem  Schüler,  wciiu  der  geographische  Unterricht  ihn  beispielsweise 
den  Umriss  Italiens  als  Reiterstiefel,  den  Frankreichs  als  ans* 
gespanntes  Fett  auffassen  und  festhalten  lässt    Ähnliche  Veigteidie: 

Europa  =  sitzende  Frau,  Schweiz  —  Schildkröte,  Morea  —  Kuh- 
euter oder  Plalanenblatt  (Plinius!).  Hinderindien  =  Hand,  Branden- 
burg =  fliegender  Adler,  Schlesien  =  Hichblatt,  Königreich  Sachsen 
=  rechtwinkeliges  Dreieck,  Böhmen  =  Viereck.  Pyrenäenhalbinsd 
=  Quadrat,  Belgien  =  Trapez. 

Natürlich  ;^ibt  es  zahlreiche  Fälle,  in  denen  sich  das  Karten- 
zeichnen als  ein  wertvolles  Mittel  zur  Erzeugung  klarer  Anschauungen 
erweist.  Es  ist  beispielsweise  am  Platze,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  das,  was  auf  der  Karte  nur  verworren  oder  versdiwommeo 
in  die  Erscheinung  tritt,  wie  etwa  die  Landschaften  Thüringens 
oder  die  Hauptzüge  eines  Gebirgssystems,  zur  deutlichen  und  über- 
sichtlichen Darstelh!nf_'  zu  bringen  Ebenso  werden  Reisewege, 
Flussnetze,  Grossenvcrgleichc,  Vertikaidurchschnitte  verschiedener 
Gebiete,  vergleichende  HöhenproiUe  u.  ä.  zweckmässige  Objekte 
für  das  geographische  Skizsieren  darbieten.  Aber  auch  diese  Art 
der  Veranschaulichung  durch  Faustskizzen,  die  am  zwedcmSssigsten 
vor  den  Augen  der  Schüler  mit  Benutzung  weisser  und  bunter 
Kreide  an  der  Wandtafel  entworfen  werden,  ist  massvoll  zu  üben. 
Dabei  ist  festzuiialtea,  dass  dieses  Skizzieren  in  der  Hauptsache 
Arbeit  des  Lehrers  bleiben  muss  und  dass  „das  Übertreiben  be- 
denklicher ist  als  das  Unterlassen".  Das  Skizzieren  darf  in  keinem 
Falle  die  denkende  Durchdringung  des  Stoffes  überwuchern  und 
dadurch  beeinträchtigen;  es  darf  nie  Selbstzweck  werden,  sondern 
rouss  stets  Mittel  zum  Zwecke  bleiben.  Auch  ist  hier  daran  zu  er- 
innern, dass  nicht  das  Kartenzeich nen,  sondern  die  unausgesctst 
und  gründlich  betriebene  Übung  im  Karten  lesen  die  lohnendste 
Form  der  geographischen  Darbietung  und  Veranschaulichung  ist. 

In  der  modernen  Schule,  auch  in  der  einfachsten,  beschränkt 
sich  das  Kartenlesen  in  der  Regel  nicht  mehr  auf  die  Wandkarte, 
sondern  es  erstreckt  sidi  in  umfassendster  Weise  audi  auf  die  in 
den  Händen  der  Schüler  befindliche  Kartensammlung,  den  Atla& 
Und  das  ist  gut.  Für  einen  zweckentsprechenden  Betrieb  des  Karten- 
lesens ist  aber  völ  lige  Atlas  ei  nh  eit  absolutes  Erfordernis. 
Doch  gerade  in  diesem  Punkte  wandelt  die  Veranschaulichung  oft 
auf  einem  Abwege,  der  eine  gründliche  Einfuhrung  in  das  Ver- 
ständnis der  kartographischen  Darstellung  ausserordentlich  ersdiwert 
Jede  Karte  ist  ein  Bild,  dessen  Inhalt  der  Schüler  in  sich  aufnehmen, 
ein  Text,  den  er  lesen  soll  Wie  vermag  aber  der  Lehrer  die  hierTti 
erforderliche  Geistesarbeit  zu  dirigieren,  wenn  nicht  alle  Schüler 
Karten  von  gleicher  Ausfuhrung  und  Darstellungsmanier  vor  sich 
haben!  Ma^  auch  immer  die  vor  der  Klasse  hängende  Wandkarte 
das  Bindeglied  flir  die  gemeinsame  unterrididiche  Betätigung  bilden, 
so  wird  der  Lehrer  doch  mit  derselben  Berechtigung;  mit  der  er 


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—  369  — 

im  deutschen  Sprachunterricht  von  sämtlichen  Schülern  dasselbe 
Lesebuch,  im  Rechenunterricht  dasselbe  Aufgabenheft  usw.  fordert, 
auch  verlangen  dürfen,  dass  alle  Schüler  einerlei  Atlanten 
benutzen. 

Hiermit  sei  unsere  Revue  beendet  Wohin  wir  in  der  Unter- 
richtspraxis auch  blicken,  ijberall  begegnen  wir  auf  dem  Gebiete 

der  Veranschaulichung  bedenklichen  Fehlgriffen.  Schlimm  ist  es, 
wenn  diese  Fehlgriffe  sich  zu  pädagogischen  V'crirrungen  steigern, 
bei  denen  übersehen  wird,  dass  zwischen  schulgemässer  VerdeuL- 
lichung  und  Mdssenschaftlicher  Demonstration  eine  Grenzlinie  besteht, 
die  nie  ohne  Schaden  überschritten  werden  kann.  Einer  solchen 
Uberschreitunc:  würde  die  Schule  ^ich  ^chiilcüp^  machen,  wenn  sie 
z.  B.  auf  dem  (rebiete  der  se-xLu  llcn  Heleiirung  /.u  dem  von  Marie 
Lischneswka  empfohlenen  Verfahren  greifen  wollte,  nach  welchem 
auch  die  intimsten  geschlechtlichen  Erscheinungen  und  Vorgänge 
wenigstens  durch  Bilder  zu  veranschaulichen  sind,  —  oder  wenn 
sie  die  verderblichen  Wirkungen  des  Alkohols  an  Abbildungen  zu 
demonstrieren  suchte,  welche  wie  die  Tableaux  Muraux  von  Armand 
CoUin  oder  die  von  Ch.  Delagrave  in  Paris  unter  dem  Titel 
„L'AlcooI  et  rOrganisme"  herausgegebenen  Skizzen  das  Grefiihl  ver* 
letzen  und  Ekel  erregen.  — 

Wir  haben  erkannt:  Eine  in  Bezug  auf  Lehrmittelwahl  und 
methodisches  Verfahren  falsch  gehandhabte  Veranschaulichung 
wandelt  auf  gefahrlichen  Abwegen.  Sie  verkehrt  eine  im  Kerne 
gesunde  Idee  ins  GegenteU  und  wird  zur  Spielerei,  zu  einem  Haschen 
nach  Effekten,  von  dem  das  Wort  des  alten  Gaudius  gilt: 

„Wir  lachen  vid«  KOiutc 

«od  kommen  weiter  rmi  dem  Ziei.** 


UI. 

Ober  die  Aufnahme  in  die  Schule 
und  Uber  die  Feststellung  der  Gegebenheit  des  Kindes. 

Voa  Pstar  Zilill  in  Wttnborg. 

Im  folgenden  wird  ein  wichtiger  Punkt  von  der  Anfangsarbeit 

in  der  Volksschule  auf  der  Grundlage  der  Erfahrung  nach  dem 
Gedanken  der  Erziehung  überlegt:  die  Aufnahme  des  Kindes  in  die 
Schule  und  die  Feststellung  seiner  ganzen  Art.  Die  grosse  Be- 
deutung der  Sache  wird  empfunden,  sobald  man  sich  nur  dieses 
jEine  vergegenwärtigt,  dass  das  gegebene  Kind  der  Anfeng  und  das 

VUwIaflhe  Stadl«.  ZZZ.  ».  24 


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—  370  — 


Ende,  Grundlage  wie  Beziehungspunkt  aller  pädago^scben  Ein- 

wirkui^  ist 

I.  AufkiaHme  des  Kindes  in  die  Scliule. 

Die  Aufnahme  des  Kindes  in  die  Volksschule  erfolgt  bei  uns 
gemäss  der  Vorschrift  zum  Heginn  des  Schuljahre^  in  der  Regel  für 
alle  Knaben  und  Mädchen  von  gehöriger  Liuwickeiung  der  körper- 
lichen und  gei  Ilgen  Kräfte  bei  zui^ckgclcgtem  6.  Lebensjahre; 
Ausnahmen  von  der  Vorschrift,  das  hetsst  Aufnahme  jüngerer 
Kinder,  ist  zulässig  und  wird  nicht  selten  gewährt.  Abermals  nach 
der  Vorschrift  ist  bei  der  Aufnahme  festzustellen:  Zu-  und  Vorname 
des  Kindes,  Konfession,  üeburtsort,  Zeit  der  i.  Impfung,  Zu-  und 
Vorname,  Stand,  Heimat  und  Wohnung  der  Eltern. 

Die  Schulaufnahme  darf  nicht  als  eiledigt  erachtet  werden, 
wenn  der  Vorschrift  nach  dem  Buchstaben  genüge  geschehen  ist 
Der  Lehrer  riclite  vielmehr  an  Vater  oder  Mutter,  die  etwa  das 
Kind  vorführen,  über  seinem  nächsten  Auftrag  hinaus  noch  folgende 
Fragen:  War  das  Kind  immer  gesund?  Welche  schweren  luank« 
heiten  hat  es  durchgemacht?  WannP  Was  ist  ihm  davon  geblieben? 
Hat  das  Kind  einmal  ein  Unfall  getroffen?  Welcher?  Welche 
Folgen  hatte  es  davon  zu  tragen  ?  Hat  es  kein  Gebrechen  an  den 
Gliedern f  (an  der  Hand?)  Kein  Leibgebrechen?  Fehlt  ihm  nichts 
an  den  Augen?  Ohren?  Sieht,  hört  es  gut?  —  Wie  ist  es  mit 
seinem  Sprechen?  Bringt  es  alle  Laute  heraus?  Oder  stösst  es  an? 
Stottert  es?  Hat  es  sonst  einen  Mangel  im  Sprechen?  —  Kam  es 
zuweilen  mit  hinaus*  Wohin?  Was  hnbcn  Sie  an  ihm  inbezug 
auf  seine  Aufmerksamkeit  wahrgenommen.'  Worauf  achtet  es 
gerner  —  Merkt  es  gut?  genau?  oder  vergisst  es  leicht?  —  Erschrickt 
es  öfters?   FOrchtet  sich's?  —  Folgt  es?  —  Sagt  es  die  Wahrheit? 

—  Wie  haben  Sie  es  I  i. her  behandelt?  Mit  Strenge?  Sind  Sic 
mit  der  Mama  (dem  Papa)  gegenüber  dem  Kind  in  der  Zucht  einig' 

—  Haben  Sie  ihm  vor  der  Schule  angst  gemacht?  —  War  es  schon 
in  einer  Anstalt?  in  welcher?  wie  lange?  was  machte  es  dort?  — 
Wie  viele  Geschwister  hat  es?  welche?  wie  viele  sind  älter?  jünger? 
(jedesmal:  um  wieviel?)  welche  davon  gehen  auch  in  unser  Schul- 
haus? zu  wem?  welche  gehen  daheim  am  meisten  mit  dem  Kind 
um?  Verträgt  sich's?  —  Was  spielt  es?  Hat  es  Kameraden? 
welche?  wie  geht  es  mit  ihnen  um?  —  Sind  Grosseltern  oder  An- 
verwandte (Onkel,  Tante)  in  der  Familie?  Haben  sich  diese  nut 
dem  Kind  viel  beschäftigt?   Oder  ein  Dienstbote?  — 

Die  Gefragten  werden  zwar  nicht  auf  alle  Fragen  eingehen, 
einzelne  e«;  sogar  verwunderlich  finden,  dass  dergleichen  Fragen  an 
sie  gerichtet  werden  ^  die  Antworten  werden  auch  mehrfach  dürftig 
ausfallen;  selbst  an  Aufrichtigkeit  wird  es  einzelnen  fehlen.  Aber 
eine  Reihe  Aussagen  wird  sich  als  zuverlässig  erweisen  und  es  wird 


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mit  solchen  ein  Anhalt  fiir  die  Rücksichten  gewonnen  sein,  die  dem 
einzelnen  Kind  von  Seiten  des  Erziehenden  entgegenzubringen,  und 
es  wird  dainit  auch  ein  Anfang  zu  dem  wechselseitigen  vertrauens- 
vollen Austausch  zwischen  Haus  und  Schule  gemacht  sein. 

Einzelne  Punkte  sind  bei  der  Schüleraufnahme  der  Beachtung 
durch  den  Lehrer  besonderes  zu  empfehlen.  Zuerst  Geschlecht, 
Alter  und  6sa  Mass  der  körperlichen  Entwickelung  der  Kinder. 
Geschlechts-  und  Altersunterschied  weisen  gewöhnlich  auf  tief- 
gehende Differenz  hinsichtlich  der  geistif^en  Kraft  und  Stufe  der 
Kinder  hin.  Wichtig  ist  es  sodann  zu  ermitteln,  ob  die  kindliche 
Entwickelung  bis  zum  Eintritt  in  die  Schule  ungestört  verlief,  oder 
Hemmungen  und  Schädigrungen  unterworfen  war,  und  welcher  Art 
diese  gewesen.  Es  ist  eine  so  betrübende  Erscheinung  in  der 
Kindcrwelt  der  grosse mi  Städte,  dass  die  Leiden  unter  den  Kleinen 
zunehmen  und  die  Schatten  der  Vererbung  in  diesen  Leiden  wahr- 
genommen werden.  Die  Gedanken  gehen  davon  unwillkürlidi 
weiter  zu  den  häufig  verkehrten,  ja  verwerflichen  Gesichtspunkten 
bei  der  heutigen  (rnttenwahl.  Bei  der  körperlichen  Entwickelung 
des  Kindes  kommt  noch  Nahrung,  Wohnung  und  Spielstättc  des 
Kindes  in  Betracht.  Wo  die  Kost  schmal  oder  ungesund  oder 
beides,  wo'  die  Wohnung  enge,  dumpf  und  unreinlich,  wo  die  Spiel* 
Stätte  die  luft*  und  lichtarme  Gasse,  da  findet  das  Kind  kein 
Gedeihen,  Abstammung,  Leibespflege,  Gesundheitsstand  sind  Fragen, 
bei  deren  Erwägung  vielleicht  auch  der  Arzt  mit  dem  Lehrer  in 
der  Schulaufnahme  zusammenwirken  sollte. 

Schon  die  Spielgelegenheit  des  Kindes  zeigt  über  die  rein 
körperliche  Seite  der  kindlichen  Individualität  iSnaus.  Denn  mit 
der  kindlichen  Spiclgelegenheit  hängt  bereits  so  vieles  im  Kindes- 
gemüt und  in  der  Haltung  des  Kindes  zusammen.  Im  besonderen 
Masse  ist  aber  die  ganze  Heimat  des  Kindes  als  wichtiger  Faktor 
in  der  geistigen  Entwickelung  desselben  zu  beachten.  Ob  das  Kind 
am  Schulorte  selbst  oder  anderwärts  geboren,  ob  die  Wuizeln  seines 
geistigen  Lebens  nahe  oder  ferne  gelegen,  sich  leicht  auffinden,  oder 
schwer  verfolgen  lassen,  das  ist  fiir  die  Einflussnahme  auf  das 
kindliche  Bewusstsein,  wie  sie  die  Schule  beabsichtigt,  von  grossem 
Belang. 

Zur  sorgfaltigen  Achtsamkeit  auf  die  bisherige  Umgebung  des 
Kindes  geselle  sich  das  Bemühen,  mit  seinen  Familienverhältnissen 

nach  aller  Möglichkeit  vertraut  zu  werden.  Namentlich  sollen 
Heimat,  Beruf  und  soziale  1-age  der  Kitern  Gegenstand  genauer  Er- 
mittelung seitens  des  Lehrers  sein.  Das  elterliche  Bewusstsein  hat 
von  dem  Boden,  auf  dem  die  Wiege  des  Vaters,  der  Mutter 
gestanden,  seine  früheste  und  wichtigste  Nahrung  empfangen. 
Wohin  nun  auch  der  Mensch  durch  seine  Lebensfügungen  später 
gelange,  die  Vorstellungen,  Gefühle,  Charakterzüge  aus  seiner  Heimat 
bringt  er  überall  mit  hin.    In  den  Dingen,  welche  er  aus  der  neuen 

24* 


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—   372  — 


Umgebung  besonders  aufsucht  und  betrachtet;  in  der  Art»  diese 
Dinge  zu  verstehen;  in  der  Anerkennung  wie  Missbilligung,  die  er 
gegenüber  den  neuen  Lebensverhältnissen  äussert ;  in  seinem  V^or- 
ziehen  wie  Ablehnen  bei  der  Einrichtung  am  neuen  Orte:  in  allem 
wirken  seine  ursprünglichen  heimatlichen  Vorstellungen,  Gefühle 
und  Charakterzii^  bestimmend  mit  Und  unter  dieser  ganzen 
geistigen,  gemütlichen  und  moralischen  Stellungnahme  der  Eltern 
zu  Dingen  und  Menschen  kommen  die  Kinder  herauf.  Das  kind- 
Kche  Bewusstsein  bildet  sich  unter  der  steten  Beeinflussung  durch 
das  elterliche:  von  der  Familienerinnerung  geht  die  geschichtliche 
Aufmerlramkeit  und  Anteilnahme  des  Kindes  aus.  Von  der 
Familienauffassung  wird  das  Kind  in  seiner  Erfahrung,  vom  Familien- 
geist  in  seinem  Denken,  von  der  Familien  Wertschätzung  in  seinem 
Gemütc,  von  dem  Familiencharakter  in  seinem  Streben  anfänglich 
und  dauernd  berührt. 

Vom  Beruf  hängt  das  Auskommen  in  der  FamHie  ab,  vom 
Auskommen  die  Versorgung  des  Kindes.  Von  Bedeutung  nament- 
lich für  die  Krziehung  des  Kindes  ist  weiter  der  Umstand,  ob  der 
Vater  durch  seinen  Beruf  viel  ausser  der  Familie  beschäftigt,  ob 
vielleicht  selbst  die  Mutter  mit  verdienen  und  dabei  auch  ausser 
Hause  sein  muss.  Femer  ist  wohl  zu  beruck^chtigen,  ob  noch 
beide  Eltern  am  Leben  und  gesund  und  rüstig,  oder  ob  eines  oder 
beide  gestorben,  oder  ob  Krankheit  und  Unglück  in  der  P'amilie 
heimisch  seien.  Wo  der  Mensch  der  Not  tagtäglich  ins  Angesicht 
schauen  und  ringen  muss,  um  nicht  unterzugehen,  da  pflegt  alles 
andere  vor  dem  einen  zurückzutreten:  Woher  nehme  ich  Brot? 
Und  in  solcher  Lage  bleibt  auch  der  kindliche  Geist  unangesprochen. 
Aber  auch  dort,  wo  nicht  gerade  die  Not  schreckt,  haben  es  heute 
die  Familien,  zumal  die  in  den  grösseren  Städten,  vielfach  nicht 
leicht,  wirtschaftlich  zu  bestehen.  So  nimmt  der  Gedanke  an  das 
Auskomuicu  überhaupt  den  Sinn  vieler  Eltern  ein.  Dazu  gesellt 
sich  die  AufliSsung  in  bürgerlichen  Kreisen,  das  Herabsinken  ehedem 
selbständiger  Leute  zu  blossen  Arbeitern,  die  nur  von  heute  auf 
morgen  zu  leben  haben.  Der  grosse  Zeitvorgang  der  Verwandelung 
ehedem  bürgcrUcher  und  bäuerlicher  Existenzen  in  proletarische 
berührt  die  Volksschule  in  ihrem  innersten  Wesen;  sie  wird  in  der 
Stadt  (und  vielleicht  auch  auf  dem  Land)  nach  und  nach  Schule 
der  Abhängigen,  Besitzlosen,  Armen;  ja  sie  ist  es  schon  über- 
wiegend. Die  wirtschaftliche  I-agc  der  Familie  wirkt  mächtig 
zurück  auf  ihre  gesamte  geistige  Haltung;  sie  bedingt  mit  das 
Mass  der  elterlichen  Fürsorge  für  das  seeüsche  Gedeihen  des  Kindes, 
sowie  der  Pflege  der  Sdiute  durch  das  Haus. 

Wichtig  ist  auch  die  Mannigfaltigkeit  der  Bent^ugehörigkeit 
der  Eltern  und  der  Mangel  an  vertrauterem  Austausch  unter  ihnen. 
In  der  Geteiltheit  der  Arbeitsrichtungen  spiegelt  sich  die  Getcilthcit 
der  Interessen  bei  den  Eltern  wieder.    Wenn  die  Eltern  nicht  lu- 


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ialUg  im  gleichen  Berufe  stehen  oder  im  nSmlicfaen  Hause  wohnen, 

so  kennen  sie  sich  nicht  einmal  von  aussen,  geschweifte  von  innen. 
Es  besteht  unter  ihnen  keine  geistij^c  Gemeinschaft,  keine  Be- 
rührung in  Gedanken  und  Bestrebungen.  Abgesehen  vielleicht 
von  einer  BovfS'  oder  Facfavereinigung  mit  dem  vorwiegenden 
Trachten  nach  Herbciitihrung  besserer  Arbeits-  und  Lohnverhältnisse^ 
oder  von  einem  geselligen  Verbände  mit  der  Bestimmun;7,  an- 
genehme Unterhaltung  zu  gewähren,  gehört  der  Vater  kaum  einer 
Gesellschaft  an.  So  bringen  die  Eltern  der  Schule  keinen  gemein- 
samen höheren  Geist  entgegen.  Und  wie  sie  selber  in  ^n  und 
Streben  sich  gegeneinander  fremd  verhalten,  so  ihre  Kinder,  die  sie 
zur  Schule  bringen.  Die  meisten  derselben  Vrrnnen  einander  nicht 
einma]  dem  Namen  nach.  Sie  gingen  nicht  miteinander  um.  So 
Stellen  SIC  der  Schule  gegenüber,  die  sie  in  einer  kleinen  Gemein- 
schaft sammdn  und  pflegen  soD,  lauter  getrennte  Punkte  dar. 
Solche  Geschiedenheit  kennt  die  Landschule  nicht. 

Die  Schulaufnahme  soll  zur  Vorbekanntschaft  zwischen  Eltern 
und  Lehrer,  Kind  und  Lehrer  führen.  Sic  steht  im  Dienst  der 
Ermittelung  der  Individualität  Vor  allem  sucht  sie  bereits  einige 
Anhaltspunkte  zu  gewinnen  zur  Beurteilung  des  Kindes  hinsichtlich 
der  ererbten  und  erworbenen  Züge.  Sie  bildet  den  Anfang  für  die 
Erforschung  der  kindlichen  Leben^eschichte  durch  den  Lehrer. 
Darum  ist  sie  auch  der  Anfang  zur  Bekanntschaft  mit  der  Geschichte 
der  Familie  des  Kindes.  Unter  den  Bedingungen,  welche  die 
kindliche  Entwickelung  bis  dahin  vor  allem  mit  bestimmten,  kann 
die  Schulaufnahme  wenigstens  schon  die  Gesundheitslage  des  Kindes, 
angeborne  Fehler  oder  spätere  Schädigungen  in  leiblicher  Hinsicht 
mit  ihren  inneren  Fortwirkunc^en;  femer  die  häusliche  Lage,  wie  sie 
hauptsächlich  durch  die  gesellschaftliche  Zugehörigkeit  der  Eltern, 
den  väterlichen  (oder  mütterlichen)  Beruf,  die  isjuderzahl,  Lebens- 
haltung, Aufenthalt  der  Familie,  Umgebung,  aber  auch  durch  die 
Bekenntnisart,  Rasseneigenschaft  bewirkt  wird;  sowie  auch  noch 
den  Erfahrungs-  und  Umgangskreis  des  Kindes  bereits  in  etwas 
kund  machen.  Dazu  empfängt  der  Lehrer  Anzeichen  und  An- 
deutungen über  die  bisherige  FAege  des  Kindes  (in  der  Familie 
oder  /üistalt),  über  die  Weise  der  elterlichen  Zucht  und  die  Auf- 
fassung der  Eltern  von  Erziehung  überhaupL  Er  hat  Gelegenheit, 
dieses  und  jenes  wohlgemeinte  Wort  an  Vater  oder  Mutter  zu 
richten  und  tritt  in  der  Art,  wie  er  die  Kleinen  ansieht  und  begrüsst, 
diesen  selber  schon  ein  wenig  nahe.  Mit  Einem:  es  ist  ein 
bescheidener  Anfang  gemacht  zum  Zusammengehen  von  Haus  und 
Sdiule  in  der  Erziehung  des  Kindes.  Oberdem  lenkt  die  Schul- 
aufnahme die  Aufmerksamkeit  des  Lehrers  wieder  auf  manche 
bedeutungsvolle  Frage  seines  Berufes  und  gibt  so  seinem  beruflichen 
Nachdenken  frischen  Anstoss  und  neue  Arbeit.  Die  Anlage,  die 
Seiten  der  Individualität,  deren  Abhängigkeit,  die  günstige  und  un- 


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günstige  Beeinflussung  des  kindlichen  Gedeihens  an  Leib  und  Sede, 
die  äussere  und  innere  (Tcsundhcit  des  Kindes,  dessen  Fehler,  ihr 
Fortwirken  auf  das  kindliche  Leben,  ihre  Ursachen,  die  Erblichkeit, 
die  Wechselwirkung  zwischen  Leib  und  Seele,  Haus-,  Schularzt  in 
ihrer  Sendung  fSr  das  IGnd,  Erziehung  in  der  Familie,  in  der 
Mutterschule,  in  der  Anstalt,  die  Stufe  der  Schulfälligkeit,  die  Alters- 
grenze für  die  Schulaufnahnne,  Wechselbeziehung  der  leiblichen  und 
geistigen  Entwickelung,  Trennun-^^  der  Schüler  nach  den  Geschlechtern, 
gemischte  Klassen,  kleine  —  grosse  Klassen,  kleine  —  grosse  Schul- 
systeme, Schulverfassung,  die  notwendigen  Voraussetzungen  der 
Klasseneinigkeit,  die  Gesichtspunkte  flir  die  IGassenbildung,  Verhältais 
derselben  zum  Erziehungsgedanken,  zum  Gedanken  der  Gesellschaft,  der 
Schulverfassune^,  des  Schuls\'Stems:  dert^leichen  Fragen  werden  durch 
die  Schulaufnaiinu  an  Lehrer  lebendig,  und  die  eine  oder  andere 
darunter  geht  lanj^er  mit  ihm  um.  Darum  wäre  es  zu  bedauern, 
wenn  die  Scbulaumahme  angesehen  würde  als  bloss  äusserer  Akt, 
als  nur  formdle  Feststellung  ebenso  formeller  Angaben,  zum  btosscn 
Zwecke  äusserer  Schülerverteilung.  Leider  können  die  g^rossen 
Schulganzen  in  der  Stadt,  die  räumliche  und  innere  Entfernung 
zwischen  Schule  und  Elternhaus,  die  ganze  Schulrichtung  mit  ihrer 
Beiseitesetzung  der  Familie  und  ihrem  kalten  Verhältnis  zum  Kinde 
doch  dahin  bringen,  die  Schulaufiiahme  als  ledi^ch  äusseren  Akt 
zu  t>ehandeln.  — 

II.  Oer  Befund  des  Kindes. 
NQtimNMliiiwit,  pädagogische  Bedeutung  der  Kenntnis  des  eiozelien  Kiodaip 
Abhängigkeit  von  der  LehrerpersSnliohksil 

Seit  Lessing  ist  es  ein  geläufiger  Satz,  dass  die  Kunst  in  ihrer 
Ausübung  genaue  Kenntnis  ihres  Gegenstandes  erfordere.  Lessing 
selbst  führte  auf  die  Missverständnisse  inbezug  auf  den  Gegenstand 
die  Verirrungen  zurück,  welchen  Maler  wie  Dichter  verfielen,  indem 
sie  glaubten,  mit  nebeneinander  geordneten  Zeichen  Handlungen, 
und  mit  aufeinanderfolgenden  Körper  darstellen  zu  können.  Auch 
die  Erziehung  wird  als  Kunst  angesehen.  Sie  ist  mehr  als  Kunst 
Wenn  in  dieser,  „das  Tote  bildend  zu  beseelen,  mit  dem  Stoff  sich 
ZU  vermählen,  tatenvoll  der  Genius  entbrennt";  so  findet  sich  in 
der  Erziehung  das  Gemüt  von  dem  Willen  beherrscht,  sich  des 
einzelnen  aus  Wohlwollen,  in  innerer  Freiheit,  anzunehmen,  damit 
er  sich  zu  dem  Guten  erhebe.  Der  Kunst  schwebt  als  Gedanke 
die  Darstellung  des  Schönen  vorj  der  Erziehung  die  Verwirklichung 
des  Cruten.  Der  Gregenstand,  mit  welchem  es  die  Erziehung  zu 
tun  hat,  ist  nicht  das  Tote,  nicht  der  Stoff;  sondern  die  einzdne 
Menschenseele.  Schon  Platn  hat  die  Kunst  der  Erziehunc^  unter- 
geordnet. Aber  wenn  auch  die  Erziehun<T  höher  steht  wie  die 
Kunst,  und  wenn  sie  auch  im  Verfahren  darin  von  der  Kunst 


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—  375  — 


wesentlich  verschieden  ist,  dass  sie  es  eben  mit  der  Seele,  nicht 
mit  dem  Stoffe  zu  tun  hat:  darin  begegnet  sie  sich  doch  entschieden 
mit  der  Kunst,  dass  sie  gleichfalls  genaue  Kenntnis  ihres  Gejren- 
standes  verlangt.  Dieser  (i^enstand,  die  einzelne  Menschensccle, 
ist  von  allem,  was  sich  der  Untersuchung  anbieten  mag,  wohl  am 
schwefsten  zu  veratehea  Es  handelt  sich  dabei  um  etwas,  das  sich 
nicht,  wie  der  Stoff,  der  unmittelbaren  Sinneserfahrung  darbietet 
Was  sich  davon  ermitteln  lässt,  kann  nur  ausgelep^t  werden  mit 
Hilfe  der  eitjencn  inneren  Erfahrung.  Es  handelt  sich  ferner  (iat.ei 
stets  um  ein  Individuelles,  welches  sich  nicht  nur  in  seinen  Er- 
weisungen sondern  noch  mehr  in  seinen  Zusammenhängen  der 
Feststellung  öfters  schwer  zuganglich  zeigt.  So  ist  es  schon  fiir 
diejenig^rn,  welche  dem  Kinde  von  Anfang  an  am  nächsten  stehen 
—  für  \  atcr  und  Mutter.  In  einer  weit  ungünstit^eren  Lage  ist  der 
Lehrer,  der  zuerst  und  vielleicht  aut  lange  hm  dem  Kind  als 
Fremder  gegenüber  steht,  und  dem  das  Kind  in  seinem  freien 
Leben,  in  seinen  intimen  Äusserungen  überhaupt  selten  erreichbar  ist. 

Wie  unerlässlich  für  den  Lehrer  die  genaue  Kenntnis  de-^ 
Kindes,  und  zwar  des  vorfindlichen,  gegebenen  ist,  dies  bekräftigt 
die  einfache  Tatsache,  dass  er  ohne  das  Kind  in  keiner  Richtung 
auch  nur  das  gerillte  vermag.  Mit  dem  Kind^  wie  es  is^  muss 
er  beginnen,  im  lUnde  muss  er  weitergehen,  zu  dem  Kinde  muss 
er  stets  zurückkehren.  Nach  dem  Kinde  richtet  sich  die  ganze 
Ausführung  der  Erziehung.  Der  Erziehungsplan,  soll  er  nicht  in 
den  Wolken  hängen  bleiben,  muss  bereits  im  Hinblick  auf  das 
gegebene  Kind  aufgestellt  werden.  Die  Vorarbeit  für  die  Erziehung, 
die  Regierung  des  Kindes,  muss  äch  an  das  Kind  in  seiner  Art 
halten  und  zusehen,  wie  sie  es  für  die  eigentliche  Erziehungsarbeit 
zubereiten  könne.  Das  erziehliche  Hauptgeschäft,  der  Unterricht, 
muss  Auswahl  und  Anordnung  der  Aufgaben  mit  Rücksicht  auf 
Art  und  Zug  der  kindlichen  Aufmerksamkeit  betätigen,  bei  der 
Durcharbeitung  in  seiner  Zumutung,  Bewegung  und  Grenze  der 
kindlichen  Kraft  und  AnstelUgkeit  Rechnung  tragen,  auf  allen  Stufen 
in  jeriem  Gebiete  sich  in  das  ancf^Tnessenc  Verhältnis  zum  Kind 
setzen  und  als  Höchstes  vor  Augen  haben,  das  Kind,  wie  es  ist, 
mit  der  ethisch  geordneten  geistigen  Vielseitigkeit  so  zu  durch- 
dringen, dass  dabei  auch  die  rechte  Einheit  des  inneren  Lebens 
ihre  Verwirklichung  findet  Die  abschliessende  Bemühung  der 
Erziehung,  die  Zucht,  ist  abermals  bei  ihren  sämtlichen  Schritten 
an  das  gegebene  Kind  gewiesen:  Kraft  und  Beharrlichkeit,  Uber- 
einstimmung und  Berechenbarkeit  des  WoUcns,  Gewissenstreue  und 
Selbstunterwerfung,  endlich  Sdbstewang  und  Selbstkampf  —  aBe 
diese  Grundzüge  charaktermässigen  WoUens  und  sittlichen  Strebens, 
welche  die  Zucht  im  Sinne  hat,  haben  ihren  nattiilichen  Grund  und 
Boden  im  vorfindlichen  Kinde. 

In  der  Anerkennung  oder  Missachtung  des  gegebenen  Kindes 


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—   376  — 


scheiden  sich  im  Bereich  der  Erziehung  die  Geister.  Heute  droht 
der  Erziehung  die  Gefahr,  dass  der  Gesichtspunkt,  den  die  Er- 
ziehung nicht  aufgeben  kann,  ohne  sich  selbst  aufzugeben:  nämlich 
dass  Erziehung  dem  einzelnen  gelte,  durch  die  Hochflut  der  geseii- 
schaftUchea  Bewegung  überdeckt  und  so  verloren  werde.  Für  — 
oder  wider  das  gegebene  Kindt  dürfte  die  Losung  in  dem  Kampf 
der  pädagogischen  Aui&ssungen  gegeneinander  wahrend  dernachstai 
Zeit  sein. 

Die  Stellung  zum  gegebenen  Kinde  ist  von  der  Lebens-,  ja 
Gesamtanschauung  dessen  abhängig,  der  sich  gegenüber  dem  Kind 
zu  entscheiden  hat.  Anders  wird  die  Entscheidung  aus&Uen  auf 
dem  Boden  des  Christentums,  anders  auf  dem  Boden  des  modernen 
Heidentums:  anders  auf  dem  Standpunkte  der  ethischen  Wert- 
schätzung, anders  auf  dem  Standpunkt  der  eudämonistischen 
Denkweise ;  anders  auf  dem  Standpunkt  des  philosophischen 
Realismus,  anders  auf  dem  Standpunkt  der  Philosophie  Schopen- 
hauers oder  Wundts:  anders  auf  dem  Boden  der  NaturaufTassung 
unter  dem  Gedanken  der  Organisation  wie  der  höheren  Abzwcckung 
der  ganzen  Naturordnung,  anders  auf  dem  Boden  der  Naturauffassung 
unter  dem  Gedanken  rein  mechanischer  Weitgestaltung  und  Ver- 
inderuf^.  Wer  die  Berufung  des  Menschen  zum  Streben  nach  dem 
Persöolichkeitsvorbttde  abweist  und  den  Egoismus  als  Achse  des 
menschlichen  Lebens  anerkennt;  wer  das  Gute  nur  in  der  Befriedi' 
gung  der  Lu'^t  erblickt;  wer  im  einzelnen  nur  die  Erscheinung  eine? 
allgemeinen  sieht;  wer  aus  der  Natur  den  Schöpfer  und  Lenker 
voU  der  Macht  und  Weisheit  und  Heiligkeit  fortweist  und  an  semc 
Stelle  den  Zufall  setzt»  oder  die  ausnahmslose,  blind  wirkende  Not- 
wendigkeit:  der  kann  auch  gegenüber  dem  Kinde  nicht  so  sich 
entscheiden,  wie  derjenige,  dem  die  menschliche  Lebensbestimmung 
in  der  christlichen  Berufuncy  He-n.  der  die  innere  Freiheit  achtel, 
dem  der  einzelne  wirklich  ah  cmzelner  gilt,  der  in  der  Natur 
Zwecl^missheit  und  Unterordnung  unter  einen  auf  die  Verwirk- 
lichung des  rittUchen  Lebensgedankens  berechneten  höheren  Plan 
erkennt  Der  Wert  des  gegebenen  Kindes  muss  sich  als  ein  völlig 
anderer  darstellen,  je  nachdem  der  einzelne  zu  einem  gottgewollten 
Zweck  oder,  gleich  dem  Tiere,  nur  zur  Daseinsbctnedigung  bestimmt 
erachtet;  das  Gute  als  das  absolut  Wertvolle,  oder  im  Grunde  ab 
Torheit;  die  Einzelseele  als  ein  tatsächlich  neuer  Anfang,  al^  wirk- 
licher Grund  eines  eigenen  Lebens,  oder  nur  als  Name  für  die 
Äusserungen  eines  allgemeinen  Urgrundes  angesehen;  die  Natur  als 
durch  Gott  geworden  und  bestehend  oder  als  durch  sich  selbst 
daseiend;  auch  eine  innere  oder  nur  die  mechanische  Kausafilit 
begriffen  wird. 

Hier  wird  die  grosse  Verantwortung  derjenigen  für  die  Er- 
ziehung des  Kindes  lebendig  empfunden,  welche  an  Hoch';<~hulen 
die  Lehren  darbieten,  nach  welchen  sich  so  viele  ihre  Ansichten 


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—  377  — 


über  die  Bestimmung  des  menschlichen  Lebens,  über  die  Seele^ 

über  die  Natur  bilden,  die  dann  entweder  an  Lehrcrbildungs- 
Anstalten  diese  Ansichten  wieder  weitergeben  an  die  künftigen 
Lehrer  der  Kinder,  oder  die  sogleich  in  das  Volksschulamt  treten 
und  dann  aus  diesen  Anwehten  wirken.  Aber  auch  die  grosse 
Verantwortung  der  Schulverwaltung  fiir  die  Erziehung  des  Kindes 
wird  hier  deutlich  gefühlt,  welche  darin  gegeben  ist,  dass  die  Schul- 
verwaltung die  Macht  hat,  für  die  Seminarien  die  Lehrkräfte  zu 
bestellen.  Gesetzt,  es  mangle  da  bei  der  Schulverwaltung  selber 
an  der  rechten  Einsicht,  die  Berufung  an  die  Seminarien  erfolge 
gar  nicht  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Lehrerbildungs^Beruis,  sondern 
etwa  des  blossoi  Wissens^  ohne  Rücksicht  auf  refigidse,  ethische, 
allgemein  philosophische  Überzeugung,  so  kann  man  die  Schul- 
verwaltung nicht  freisprechen  von  der  Verantwortung,  wenn  dann 
etwa  an  einem  Seminar  eine  naturalistische  Auifassungsweisc  hervor- 
gdkehrt  werden  sollte,  oder  religiöse  Gleichgültigkeit,  oder  neu« 
heidnische  Ixbensschatzung  —  und  wenn  davon  die  künftigen 
Lehrer  ergriffen  und  gegenüber  dem  Kinde  einmal  sich  so  verhalten 
würden,  wie  es  naturalistischer  Denkweise,  Gleichgültigkeit  in  religiöser 
Hinsicht,  oder  Hinneigung  zum  modernen  Lcbeni^ed^nkcn  gemäss 
wäre. 

Auch  die  grosse  Verantwortung  der  Lehrerfiihrer  und  -Berater 
für  die  Erziehung  des  Kindes  wird  hii  r  im  Gcmüte  ausgemacht. 
Der  Lehrerführer  gleicht  in  mehrfacher  Hinsicht  einem  Steuermann. 
Der  Steuermann  muss  sich  auskennen  auf  dem  Wege,  auf  dem  er 
das  Schiff  zu  fiihren  hat;  sonst  wird  dieses  ein  Spiel  der  Winde 
und  der  Wellen.  Ebenso  nun  muss  der  Lehrerführer  ein  Mann  voll 
pädagogischen  Geistes  sein,  dem  der  Berufsgedanke  des  Lehrers 
klar  und  unverrückt  vor  Augen  steht.  Er  darf  sich  nicht  jedem 
Winde  der  umgehenden  Meinungen  ergeben,  nicht  jedem  Wellenzuge 
der  Tagesströmungen  unter  dem  Scheine  des  Fortschritts  sich 
fiigen.  Wer  in  rel^öser,  ethischer,  allgemetn  phüosophischer  Ober- 
zeugung, und  zwar  in  solcher,  die  durch  den  Erziehungsgedanken 
gefordert  ist,  nicht  fest  gegründet,  der  wird  die  l.chrer  auf  dem 
Wege  des  Henifsgedankens  auch  nicht  zu  leiten  vermögen,  vielmehr 
an  seinem  i  ciie  dazu  beitragen,  dass  die  Lehrer  den  Zeitmeinungen 
williger  Crehor  schenken  und  in  ihrer  Entscheidung  gegenüber  dem 
Kind  mit  grösserer  Wahrscheinlichkeit  geirrt  werden.  Die  Lehrer- 
berater vollends,  die  Herausgeber  und  Schriftleiter  der  pädagogfischen 
Zeitungen,  sollten  in  religiöser,  ethischer  und  allLM-mcin  philo- 
sophischer Hinsicht  inmitten  aller  Zeitauffassungen  irut  festem  Sinne 
auf  das  weisen,  was  die  Erziehung  erhebt  und  überhaupt  möglich 
macht.  Wenn  sie  selbst  gleich  dem  Wandellichte  umher  schweben, 
so  werden  die  Lehrer,  die  ihnen  vertrauen,  gleichfalls  den  richtigen 
Weg  nicht  finden  und  namenthch  bei  der  Entscheidung  gegenüber 
dem  gegebenen  Kinde  wieder  sich  leicht  irren. 


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Also  bei  der  Frage,  wie  der  Lehrer  sich  zu  dem  ihm  an- 
vertrauten Kind  zu  stellen  habe,  kommt  es  bereits  auf  die  ganze 

Lehrerpersönlichkeit  an.  Aber  nicht  allein  hinsichtlich  der  Greltun^. 
welche  dem  Kinde  für  die  Erziehung  beigelegt  wird,  sondern  auch 
hinsichtlich  der  ganzen  Bestimmung  der  kindlichen  Gegebenheit 
ist  die  religiöse,  ethische,  aUgemein  philosophische  Oberzeugung 
des  Lehrers  von  massgebendem  Einflüsse.  Es  dreht  sich  bei  dieser 
Feststellung  doch  um  die  beiden  Punkte:  Was?  und  wie  soll  (das 
Gesuchte)  beim  Kinde  festgestellt  werden?  Überall,  wo  eine  '^ute 
Antwort  erwartet  werden  will,  da  muss  eine  gute  Frage  voraus- 
gehen, und  wo  das  Ergebnis  mit  Sicherhett  sich  einstellen  soü,  da 
muss  das  Verfahren  verständig  gewählt  sein.  Für  die  Feststellung 
des  kindlichen  Tatbestandes  ist  es  auch  durchaus  entscheidend,  die 
Frage  zutretfend  zu  gestalten  und  das  passende  Verfahren  anzu- 
wenden. 

AtlOMntas  0MloMtpMiktt  flr  «•  Fmtttsihng  ier  CsgshssliBlt  des  KMm. 

Die  Bestimmung  der  Gegebenheit  des  Kindes  erfolgt  unter 
Anerkennung  des  Musterbildes  der  Person,  der  Wirklichkeit  der 
Einzelseeie,  der  Tatsache  der  Individualität,  worin  der  sicheiste 
Erweis  der  Wirklichkeit  der  Einzelseele  liegt  Jemand  sagte 
angesiclits  der  Schwierigkeit  des  Arbeitens  bei  den  Anfängern  in 
der  Schule:  In  den  oberen  Klassen  ist  nur  weiterzufahren,  in  der 
Eienientarklasse  ist  aber  zu  beginnen.  Das  letztere  ist  nur  nach 
dem  Anscheine  so.  In  der  Wahrheit  ist  auch  in  der  ersten  Schul- 
klasse  fortzusetzen,  was  eben  vor  der  Schule  im  Kinde  bereits 
irgend  Wertvolles  angelegt  wurde.    Die  Erziehung  untersteht  dem 


besonderer  Wichtigkeit  bei  der  Arbeit  in  der  Anfangsklasse  der 
Schule.  Die  Erfüllung  dieses  Gesetzes  —  der  Lückenlosigkeit,  wie 
es  genannt  wurde  —  lag  Pestalozzi  am  Herzen.  Aber  er  veriegte 
die  Lückenlosigkeit  in  den  Lehrgegenstand  und  ward  so  der  Ausgang 
jenes  sogenannten  systematischen  Ganges  im  Unterrichte,  bei  dem 
vor  lauter  Sorge,  dem  Gegenstande  nichts  abzubrechen,  unerträgliche 
Lasten  auf  die  Jugend  gehäuft  werden,  zumal  im  allerersten  Unter- 
richt in  Schreiben,  Lesen,  Rechnen.  Ein  Gesetz,  das  die  Gesundheit 
des  geistigen  Lebens  verbüi^  ist  so  in  missverstandener  Anwendung 
gerade  zur  Gefahr  der  inneren  und  damit  auch  der  äusseren  Gesund* 
heit  des  Kindes  geworden. 

Bei  den  Anfangen  der  Schulerziehun^  ist  ausser  dem  Gesetze 
der  Stetigkeit  noch  etwas  anderes  scharf  ins  Auge  zu  (assen:  dass 
ein  jeder  nur  seinem  eigenen  Masse  gerecht  zu  werden  vermag. 
Es  ist  ein  furchtbarer  Satz,  den  eine  Schulaufsichtsperson  aus- 
gesprochen hat:  Ich  kenne  keine  Schwachen!  Darnach  ^nrd  in 
der  l'at  in  vielen  Schulen  gearbeitet    Man  möchte  fast  annehmen, 


von 


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—   379  — 


dass  die  Schablone  —  denn  darauf  kommt  dieser  Satz  zuletzt 
hiniiis  —  mit  dem  innersten  Wesen  der  Schulnftcntlichkeit  unab- 
trennbar verbunden  sei.  Darnach  gih  das  Kind,  wie  es  einmal  von 
Natur  und  Lage  her  ist,  gar  nichts,  hs  ist  ein  bestimmtes  Mass 
von  LetstuDg  in  den  sogenannten  Lehrplänen  gefordert,  und  dieses 
Mass  soll  jeder  erreichen^  es  möge  gehen,  oder  nicht  Man  ver- 
gegenwärtige sich  einmal  unter  diesem  Gedanken:  Keine  Schwachen! 
die  Lage  des  Kindes  in  der  Schule,  besonders  wieder  des  ncti  auf- 
genommenen! Schwach,  hilfsbedürftig  in  aller  Weise  ist  jedes  Kind, 
das  der  Schulerziehung  zugeführt  wird,  und  schwach,  hilfebedürftig 
bleibt  ein  jedes  Kind,  so  lange  es  die  Schulerziehung  in  ihren  Händen 
hat.  Jedes  Kind  natürlich  nach  seinem  Grade.  Und  eben  das  ist 
das  Wrdicnst  der  Erziehnn«',  aurh  der  Schulerziehung,  sich  zu 
jedem  Kinde  in  seiner  Bediirttii^keit  herab/.ulassen  und  ihm  darin 
zu  dienen.  Davon  kann  keine  Rede  sein,  wenn  nach  dem  Satze 
verfahren  wird:  Keine  Schwachen  1  An  die  Stelle  der  hebenden, 
führenden  Liebe  tritt  dann  der  Druck  der  Leistungsforderung  mit 
all  seiner  llärtr  und  Rücksichtslosigkeit  gegen  das  einzelne  gegebene 
Kind,  tritt  (  ne  Freudlosigkeit  und  jener  Mangel  an  holder  Art  in 
der  Schule,  unter  welchem  so  viele  Sonne  suchende  Menschen- 
pflänlzein  trauern.  Das  muss  man  wieder  besonders  mit  erleben 
bei  den  Kleinen,  die  noch  so  ganz  Kind,  ganz  Hoffnung  und  Hingabe 
sind,  und  welche  nun  in  ihrer  lieben  Kindlichkeit,  ihrer  ahnungslosen 
Zuversicht  und  herzhchen  Zuneigung  nicht  weiter  können  angesehen, 
sondern  müssen  getrieben  und  getrieben  und  zum  drittenmale 
getrieben  werden,  damit  das  „Lehrziel",  vor  allem  im  Schreiben 
und  Lesen,  erreicht  werde.  Es  wurde  einmal  von  einem  ehemaligen 
Lehrer,  der  dann  unter  die  Redakteure  eines  bekannten  bürgerlich 
demokratischen  Blattes  gegangen  war,  ein  Buch  verötlentlicht :  Unsere 
Schulen  im  Dienste  gegen  die  Freiheit  Er  meinte  freilich:  im 
Dienste  gegen  seine  FreUieit,  die  demokratische.  Man  könnte  aber 
ein  Buch  veröffentlichen,  das  mit  grösserem  Flug  den  Namen  trüge : 
Die  Lcistungsschule  im  Dienste  gegen  die  kindliche  Freiheit,  oder 
noch  zutreffender:  im  Dienste  gegen  die  Freiheit  der  Menschen- 
natur. Die  Bäume  im  Waide  dürfen  w'achsen,  wie  sie  wachsen;  die 
Blumen  auf  der  Flur  dürfen  blühen,  wie  sie  blühen.  Das  Kind  in 
der  Schule  darf  nicht  gedeihen,  wie  es  gedeiht  Es  wird  hierhin 
und  dorthin  gezerrt,  bis  es  dem  äusseren  Anschein  nach  so  ist  wie 
'  die  andern.  Aber  das  Kind  sollte  gelten,  und  zwar  gerade  in  seiner 
Gcv'ebenheit  gelten,  soweit  dieselbe  nicht  der  Krzichungsabsicht 
zuwider  ist.  Es  sollte  in  allem,  was  es  ist  und  liat,  mit  der  an- 
gegebenen Einschränkung,  Anerkennung  finden;  in  allen  Zeiten  der 
Schulerziehung,  in  besonderem  Masse  aber  in  der  ersten.  Nur  unter 
Erfüllung  dieser  Bedingung  ist  es  überhaupt  möglich,  an  das  Khid 
zu  geltingen,  es  in  der  Richtung  der  Krziehungsabsicht  ui  mnere 
Bewegung  zu  bringen.    Nur  unter  Erfüllung  dieser  Bedingung  besteht 


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—  380  — 


Aussicht,  die  WiUens-,  Persönlichkeitsbildung   in  die  Wege  lo 

leiten. 

Die  l'atsache,  dass  jpd  r  nur  seinem  eif^encn  Masse  zu  ent- 
sprechen vermag,  weist  ihrerseits  wieder  zurück  auf  das  geistige 
Grundgesetz  der  UrsprüngUchkeit,  demzufolge  die  Seele  gar  nichts 
haben  kann,  ausser  sie  habe  es  durdi  ihre  eigene  Tätigkdt  er^ 
worben:  von  der  Empfindung,  dem  einfachsten  Etewusstseinsinhalte, 
angefangen  bis  hin  zur  sitthchen  Entscheidung,  dem  höchsten 
Bcwusstseinsinhahe.  Auch  dieses  Gesetz,  die  psychoiogisclie  Richt- 
schnur für  alle  Krziehungstätigkeit,  wird  in  der  Schule  zu  wenig 
geachtet,  gerade  gegenüber  den  Kleinen.  Es  ist  kaum  zu  giaubeo, 
was  man  solch  einem  Kinderbewusstsein  wohl  zumutet,  obschon  es 
in  jeder  Hinsicht  noch  so  gering  ist;  weil  man  nicht  bedenkt,  dass 
Ursprünglichkcit  die  Regel  des  Seelenlebens  ist,  und  die  Seele  nichts 
von  aussen  her  empfangen  kann.  Dieser  Missachtung  des  bedeut- 
samsten Seelengesetzes  gegenüber  ist  mit  dem  grössten  Nachdrucke 
hervorzuheben:  dass  die  »eele  nur  mit  ihrer  eigenen  Kraft  arbeitet 
und  mit  ihrem  eigenen  Gute  wirtschaftet.  Sie  ist  genau  so  titig, 
wie  es  ihrer  Kraft  gemäss  ist  und  sie  wirkt  dem  N'cuen  gegenüber, 
das  in  ihr  Bcwusstsein  eintreten  will,  genau  gemäss  ilirem  eigenen 
Besitze.  Die  Naturkrait  der  Seele  und  ihr  erworbenes  Eigentum, 
die  ursprüngliche  und  zugewachsene  Anlage,  bilden  die  Voraus- 
setzungen, womit  die  Erziehung  bei  jedem  einzelnen  Kind  in  allem, 
was  sie  unternimmt,  schlechterdings  zu  rechnen  hat. 

Das  Ocsctz  fit  r  *^tctigkeit  schliesst  ein,  dris«;  das  Kind  nur  dort 
wirklich  inncrlicii  weiter  gedeiht,  wo  man  die  Fäden  aufsucht,  welche 
in  seinem  Geistesleben  in  dieser  oder  jener  Richtung  bereits  vor- 
handen sind:  im  Gesetz  der  Stetigkeit  liegt  die  Forderung,  sich  in 
allen  Stficken  an  die  im  Kinde  schon  gegebene  Zubereitung  zu 
halten  D:is  Gesetz  der  Ursprünglichkeit  sclilicsst  ein,  dn-s  rlas 
Kind  nur  jene  Aufgaben  wahrhaft  angreift  und  durchfuhrt,  welche 
seiner  Naturkraft  und  seinem  Bewusstseinsinhalte  gemäss  sind.  In 
jedem  anderen  Falle  gleicht  die  Bemühung  um  das  Kind  dem 
Versuch  eines  Menschen,  Wasser  zu  giessen  in  ein  Sieb,  oder  Streiche 
zu  tun  in  die  Luft.  Die  Erziehung  ist  durchaus  gebunden  an  dte 
Regel  der  Verhältnismässigkeit. 

Wenn  sich  der  Lehrer  angelegen  sein  iässt,  das  Kind,  wie  es 
ist,  nach  aller  Möglichkeit  kennen  zu  lernen,  so  erfüllt  er  also  in 
der  Tat  eine  berufliche  FAicht  ersten  Ranges.  Nur  wenn  er  es 
damit  ernst  nimmt,  kann  er  darnach  streben,  allen  Kindern  alles  ;u 
werden;  kann  er  es  jenem  nachzutun  versuchen,  der  da  die  Rindlcin 
7.U  sich  rief,  und  der  ihm  das  Vermächtnis  hinterlassen,  auch  die 
Kindlein  zu  sich  kommen  zu  lassen,  und  sie  aufzunehmen  in  seinem 
Namen. 


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-    381  - 


Batontart  flMioMipiakts  fir  üe  FattatalHMi  tf«r  fioatlMoliatt  iIm  lUidM. 

Die  Feststellung  der  kindlichen  Gegebenheit  muss  sich  richten: 

A.  auf  den  Vorstdlungskreis  und  seine  Zusammenhänge; 

B.  auf  den  Gemütskreis  und  seine  Zusammenhänge; 

C.  auf  den  Lebenskreis  und  seine  Zusammenhänge. 

Dabei  ist  sogieicii  Eines  nicht  zu  vergessen: 

Der  Erwachsene  kann  sich  nicht  anders  in  das  Kind  denken 
wie  so,  dass  er  das  Kind  in  sich,  seioem  eigenen  Bewusstsein,  denkt 
Es  wird  gegenwartig  so  viel  von  Kinderpsychologic  geredet  und 

geschrieben  —  schier  so  viel  wie  von  der  Kunst  im  Leben  des 
Kindes ;  Kinderpsychologic  ist  bereits  beliebter  Gegenstand  der 
Zeitungsplauderei  geworden j  als  ob  die  Sache  die  einfachste  von 
der  Welt  wäre.  Es  hat  den  Anschein,  dass  es  in  der  Wirklichkeit 
^e  unmittelbare  Kinderpsychologie  gebe.  Dieser  bedenklichen 
psychologischen  Einbildung  gegenüber  muss  doch  darauf  hingewiesen 
werden,  dass  es  so  wenig  eine  unmittelbare  Kinderpsychologie  als 
eine  unmittelbare  Tierpsychologie  geben  kann;  vielmehr  alle  Kinder- 
psychologie, wie  aUe  Tierpsychologie,  zuletzt  nichts  anderes  ist,  als 
die  Ausdeutung  der  am  lUnde,  am  Tiere  beobaiditeten  inneren 
Erscheinungen  mit  Hilfe  der  entsprechenden  des  eigenen  Bewusstseins. 
Darum  ist  auch  bei  der  Feststellung  der  kindlichen  Gegebenheit 
Vorsicht  doppelt  am  Platze;  damit  nicht  der  Erwachsene  in  das 
Kind  sich  trage,  nidit  unterlege,  statt  auslege,  oder  bei  der  Aus- 
deutung der  kindlichen  Greistesausserungen  Irrungen  anheioiüille. 

A.  Die  Feststellung  des  kindlichen  Vorstellungskreises. 
I.  Die  Fe«tateUttng  der  ErfahraagaTontellanf  en. 

a)  Die  Feststellung  des  Idncttichen  VorsteUungskreiscs  ist  darauf 

besonders  gerichtet,  auszumachen,  wie  weit  innerhalb  der  kindlichen 
V  I stcUungt  II  bereits  die  dem  Inhalte  derselben  angemessene 
Sclieidung  m  bestimmte  Gebiete  sich  vollzogen  habe.  Es  ist  für 
den  ersten  Unterricht  eine  wichtige  Sorge,  su  wissen,  ob  im 
Bewusstsein  des  Kindes  noch  ein  Zustand  der  Gebundenheit  herrsche, 
wie  er  vielleicht  im  Pflanzenorganismus  vorausgesetzt  werden  darf: 
ein  Zustand  wie  im  totalen  Schlafe,  bei  dem  das  I  eben  tortbesteht, 
aber  ohne  Helligkeit;  oder  ein  Zustand  des  alinungslosen  Durch» 
einander,  in  dem  die  geistigen  Elemente  ohne  Ordnung,  wie  sie  der 
Zufall  herangdührt  hat,  gleich  einem  ungeschiedenen  Urgemisch, 
gefunden  werden;  oder  ob  schon  ein  Anfang  der  Sonderung  der 
Vorstellungen  nach  ihrer  objektiven  Zusammengehörigkeit,  durch 
biidende  Beeinflussung,  erreicht  seL^) 

1)  Vergleiche  dazu  die  lehireiclie  Lehrprobe:  „IKe  SternthaleT**  too  Emil  Fast. 

(SchuUrcood,  1896,  Nr.  6—%.) 


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—   382  — 


b)  Der  ganze  Vorsiellungskreis  umfasst  die  zwei  grossen  Gebiete: 
der  Erfahrun^s-  und  der  Erlebnis-Vorstellungen,  welche  den  beiden 
grossen  Onellcn  der  Vorstellungen  entsprechen:  der  Erfahrung  und 
dem  Um^an^.  Es  ist  also  zu  ermittein:  hat  das  Kind  in  irgend 
welchem  Ansätze  schon  ein  Bewusstsein  davon:  das  gehöret  zu  dem 
Erfahrungsmässigen,  das  zu  dem  Erlebnismässi^^cn ;  jetzt  lerne  idi 
etwas  von  den  Dingen,  jetzt  von  den  Menschen  (von  der  Natur, 
der  Geschichte)? 

c)  Bei  den  Hrfahrungsvorstellungen  ist  wieder  ins  Auge  zu 
fassen :  der  psychologische  Charakter  und  Wert.  Nach  dem  psycho- 
logischen Charakter  können  es  sein  einfache  oder  zusammensetzte; 
je  nach  ihrem  Inhalte,  und  in  beiden  Fällen  wieder:  ursprüng^che, 

unmittelbar  empfundene;  oder  wiederj^ekommene,  von  neuem 
bewussl  gfewordene  Vorstellunf^en.  Die  einfachen  Vorsteilun'jen 
können  nach  den  Sinnesgebieten  wieder  sein  solche  des  Gesichts, 
Geruchs,  Geschmacks  oder  des  Getasts  und  Gdiörs;  die  zusammen- 
gesetzten nach  den  grossen  Gebieten  der  Erscheinungen  entweder 
Gegenstandsvorstcllungcn  oder  solche  des  Geschehens  (Vorstellungen 
des  räumlich  Erscheinenden  oder  des  /.eitlich  Erscheinenden).  Nach 
dem  psychologischen  Werte  können  alle  Vorstellungen  aus  der 
Erfahrung  sein  klar  oder  unklar,  beides  in  den  möglichen  Gnaden; 
deutlich  (bestimmt)  oder  undeutlich  (unbestimmt),  abermals  beides 
in  den  möglichen  Graden. 

Die  zusammengesetzten  Erfahrunfi;svorstellun|:;^cn  können 
höheren  Gebilden,  als  weiteren  Folgen  im  Bewusstsein,  fuhren:  zu 
Gesamtvorstcllungen  und  Begriffen.') 

e)  Aus  den  Eriaiiruiigsvorstellungen  scheiden  sich  nach  und 
nach  auch  aus  die  Vorstellungen  der  Formen,  in  welchen  die  Bt- 
Ehrung  gegeben  ist:  des  Raumes  und  der  Zeit  Zu  den  Vor- 
stellungen der  Formen  des  sinnlichen  Erscheinens  tjehören  auch  die 
Vorstellungen  der  äusseren  Bewegung,  worin  die  räumliche  und 
zeitliche  Erscheinungsweise  vereinigt  erfahren  wird.  An  die  Vor- 
stellungen der  „Anschauungsformen"  schliessen  sich  an  die  Vor- 
stellungen der  Zahl. 

f)  Auch  die  höheren  Gebilde  aus  den  Erfahrungsvorstellimgen 

sowie  die  Vorstellungen  der  Anschauungsformen  und  der  Zahl  unter- 
liegen der  Wertung  hinsichtlich  der  Stärke  (Klarheit)  und  inoerea 

Vollkommenheit  (DeutUchkeit). 

g)  Auf  den  Erfahrungsvorstellungen  beruht  das  Erfahrungs- 
gedächtnis, auf  den  Vorstellungen  der  Anschauungsformen  das 


Die  Gesamtvorstcllungcn  werden  auch  ah  „Allpcmrinvorstclluagca" ,  als 
„psychische  Begriffe";  die  Begriffe  hinwieder  auch  als  .,Gcmciiivor»lellungca"  beieichoet. 
El  wlre  dringend  zu  wünschen,  dass  in  der  Psychologie  grössere  EiiMtillin%kdl  in  der 
Benuuinng  derselben  Dii^e  angestrebt  würde.  Die  Ventiadicmg  wie  icbOB  das 
Arbeiten  Tnnerbalb  der  Psychologie  würde  viel  gewinnen. 


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-    383  - 


Raum-  and  Zeitgedächtnis  und  das  Gredächtnis  für  Bewegungsp 
erscheinungen,  auf  den  Zahlvorstellungen  das  Zahlgedächtnis. 

h)  Das  Gedächtnis  tritt  hervor  in  der  Wiedererinnerung.  Die 
VVicdcrerinncrnnir  spiegelt  ab:  den  psychologischen  Charakter  und 
Wert  der  Erlahrungsvürsteiiungen.  Die  Wiedererinnerung  hat  die 
Merkmale:  der  Dauer  oder  Vergänglichkeit;  der  Treue  oder  Un- 
Zuverlässigkeit;  der  Frische  oder  Jüilattii^eit.  In  diesen  Merkmalen 
Hegt  ihr  Mass. 

i)  Im  Umkreis  der  Erfahrungsvorstellungen  erwacht  ein  Denken. 
Dieses  Denken  äussert  sich  in  der  Anerkennung  des  Erfahrun[;s- 
inhalts.  Es  erscheint  als  Überlegen  dieses  Inhalts,  als  Sichbesinnen 
auf  die  Bedeutung  desselben,  als  Auffassen,  Verstehen  dieses  Inhalts 

—  in  irgend  welchem  Grade  der  Richtigkeit,  Genauigkeit,  Schärfe; 

der  Tiefe  und  F"üllc.  Das  Denken  im  Bereich  der  Erfahrungs- 
vorstellungen  ist  Betätigung  der  Aufmerksamkeit  auf  das  sinnlich 
Erscheinende:  Erfahrunt^ssinn. 

k)  Schon  für  das  blosse  Vorstellen,  aber  noch  mehr  für  das 
Denken  der  Erfahrung  ist  das  Anzeichen  die  Sprache  (tm  weitesten 
Sinne).  Die  Sprache  offenbart,  welcherlei  Erfahrungsvorstellungen 
das  Bewusstsein  hat,  wie  beschaffen  sie  sind,  wie  weit  die  denkende 
Durchdringung  des  Erfahrungsinhalts  gediehen  ist.  Die  Gebärdcn- 
und  Formensprache  geben  mehr  den  objektiven  Inhalt  der 
Erfahrungsvorstellungen  kund,  die  Lautsprache,  die  Sprache  im 
engeren  Sinn,  zeigt  mehr  die  innere  Anerkennung  dieses  Inhalts  an. 

1)  Im  Umkreis  der  Erfahrungsvorstellungen  erwacht  auch  ein 
Phantasieren.  Es  entstehen  Gebilde,  welche  sich  in  ihrem  Inhalt 
von  der  Wirklichkeit,  die  sie  abspiegeln  sollten,  entfernen.  Inner- 
halb der  Erfahrungsvorstellungen  regt  sich  das  Spiel.  Die  Ergebnisse 
desselben  sind  die  Einbildungsvorstellungen.  Innerhalb  der  Erfahrungs- 
vorstellungen regt  sich  bereits  auch  das  Gestalten. 


Die  Feststellung  der  kindlichen  Erfahrungsvorstellungen  geht 
wohl  der  ganzen  möglichen  Mannigfaltigkeit  derselben  nach,  behält 
aber  dabei  doch  im  Auge,  dass  die  Sinnesgebiete  des  Gesichts, 
Getasts  und  Gehörs  die  bei  weitem  wichtigsten  sind.   Sie  gibt 

darauf  acht,  wie  sich  das  einzelne  Kind  verhält  gegenüber  dem 
wirkenden  sinnlichen  Eindruck:  inbezug  auf  Empfänglichkeit  dafür, 
auf  Leichtigkeit  und  Sicherheit  der  Aufnahme,  auf  Andauer  der 
Aufmerksamkeit  darauf,  auf  Ausbreitung  der  Aufmerksamkeit.  Sie 
strebt  dahin,  aus  dem  Verhalten  des  Kindes  gegenüber  dem  wirkenden 
sinnlichen  Eindruck  bereits  Anhaltspunkte  y.w  -gewinnen  für  die 
Bestimmung  seiner  geistigen  Naturkraft,  insolcrn  dieselbe  in  dem 
Grade  der  Frische  im  Augenblick  des  Empfindens,  der  Tiefe  im 


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—   3«4  — 


Augenblick  der  Hingabe  an  den  wirkenden  äusseren  Eindruck,  der 

Stärke  im  Augenblick  des  unmittelbaren  Bewu5»sthabens  der  Er- 
fahrung und  der  Kortwirkung  derselben  auf  die  gleichzeitige  kind- 
liche BewuüsUeinslage,  nacii  dem  Zeugnis  der  kindlichen  Äusserungen 
in  Blick,  Miene,  Haltung,  Gebärde,  Sprache  (und  vidleicht  auch 
Darstellung)  schon  erkannt  werden  darf.  Es  handelt  sich  um  die 
Ermittelung  des  Masses  an  Mrsprünglicher  (primitiver)  Aufmerksam- 
keit, welches  dem  einzelnen  Kmd  fijr  die  Krfahrungswelt  \erhehen 
ist.  Hierbei  besteht  auch  die  Aufforderung,  der  leiblichen  Organi- 
sation des  Kindes,  seiner  Ausstattung  in  den  Sinneswerkzeugen, 
seinem  körperlichen  Gesamtzustand,  wie  er  im  sinnlichen  AUgemeip* 
gcfühl  sich  reflektiert,  die  schuldige  Achtsamkeit  zuzuwenden.  Auge. 
Hand,  Ohr  des  Kindes,  Gesundheit,  I'Vohmut  desselben  spielen  beim 
kindlichen  Verhalten  gegenüber  wirkenden  sinnlichen  Eindrucken 
eine  widitige  RoUe. 

Beim  Verhalten  des  Kindes  gegenüber  dem  wirkenden  aumiichen 
Eindruck  kommt  nicht  allein  das  Mass  seiner  geistigen  Naturkraft, 
seiner  ursprünglichen  Aufmerksamkeit,  worin  die  Naturkraft  im  Falle 
der  Wahrnehmung  erscheint;  sondern  auch  seiner  auslegenden  Auf- 
merksamkeit zur  Geltung.  In  seiner  auslegenden  Auteerksamkeit 
ofifenbart  es  die  Richtung^  seines  erworbenen  Erlahrungsbewusstsdns^ 
die  Art  seiner  botits  gewonnenen  Erfahrungsvorstellungen  und 
deren  Wert.  Sein  erworbenes  Krfahrungsbewusstsein  ist  das  Ergebnis 
aus  der  Arbeit  der  geistigen  Xaturkraft  an  dem  Erfahrungsstoff,  der 
ihm  bis  dahin  dargeboten  wurde.  Die  auslegende  Aufmerksamkeit, 
das  innere  Interesse,  gibt  sich  bereits  in  gewissen  Erwartungen 
gegenüber  dem  neuen  sinnlichen  Eindruck  kund;  dann  aber  vor- 
nehmlich in  (lern  Sinn,  welchen  sie  dem  Eindruck  verleiht.  In  der 
Antrkrruiung  der  Bedeutung  des  Eindrucks  wirkt  die  geistige 
Naturkraft  durch  das  bereits  erworbene  Erfahrungsbewusstsein,  soweit 
dasselbe  (ur  die  Auslegung  des  neuen  Eindrucks  brauchbar  ist.  Die 
Feststellung  der  kindlichen  Erfahrungsvorstellungen  hat  hier,  im  Akt 
der  Anerkennung  des  neuen  Eindrucks,  ihre  günstigste  Gelegenheit, 
um  einen  Blick  zu  tun  in  die  innere  Welt  des  Kindes,  seine  V^or- 
Stellungen  von  der  Ej'scheinungswelt.  Sie  lernt  da  kennen  das 
Mass  an  geistiger  Beweglichkeit,  welches  dem  einzelnen  Kinde  f6r 
das  Herbeikommen,  vielleicht  (ur  das  Heranrufen  der  auslegenden 
Erfahrungsvorstellungen  gegeben  ist;  die  Beschaffenheit  seiner 
sinnlichen  l~rinncrung.  Die  Anerkennung  der  Bedeutung  des  neuen 
Eindrucks  spiegelt  ab  die  kindliche  Verständigkeit  hinsichtlich  der 
Erfahrungsvorstellungen.  Es  kommt  darin  zur  Wirksamkeit,  was 
das  kindliche  Bewusstsein  bereits  an  höheren  VorstellungsgeÜlden, 
an  Gresamtvorstellungen,  aus  dem  Gebiete  der  Wirklichkeitsvor- 
stellungen, einschliesst.  Hier  in  der  Anerkennung  des  Sinnes  des 
Erfahrungsinhalts,  wird  das  eiiebt,  was  mau  phantasiemässige  Auf- 
fassung des  Kindes  genannt  hat.    Der  Lehrer  kann  dabei  sehen, 


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-   385  - 


wie  weit  das  Kind  noch  von  dieser  AufTassuogsweise  gefangen  ist, 
wie  weit  schon  seine  sachgetreue  Auffassung  reicht  Das  Zeicl^en 
für  die  Auslegung  des  Erfahrungsinhalts  ist  vor  allem  die  kindliche 
Benennuncr  nächst  dieser  die  kindliche  Darstellung  im  Bild.  Die 
kindliche  Benennung  ist  indes  nicht  nur  Zeichen  der  kindlichen 
Auffassung  des  Wahrgenommenen,  sondern  auch  bereits  seiner 
gesellschaftlichen  Bednflussung.  Die  Benennung  gehört  entweder 
dem  Kinderdeutsch  an,  oder  dem  Heimatdeutsch,  oder  dem  Schrift- 
deutsch. Von  hohem  Interesse  hinsichtlich  der  Erkenntnis  der 
kindlichen  Auffassung  ist  darnach  auch  das  Bild  des  Kindes,  die 
VersichtUchung  seiner  Auffassung  des  Erfahrenen  durch  den  Griffel 
auf  dem  Schiefer,  oder  den  Bleistift  auf  dem  Blatt  Papier. 

Die  Ausleguag  der  Bedeutung  des  äusseren  Eindrucks  ist  die 
Einleitung  zur  weiteren  Verarbeitung  des  neuen  f  'rfrihrungrsinhaltes 
im  kindlichen  Bewu.sstsein,  auf  Veranlassung  des  Unterrichts.  Da 
erscheint  das  kindliche  Denken:  der  Grad,  in  welchem  es  vermag, 
eine  erlebte  Erfahrungsvorstellung  eine  Zeit  im  Bewusstsein  vor 
sich  zu  halten,  sie  su  betrachten,  zu  anderen  früher  erlebten 
Krfahrungsvorstellungen,  verwandten  oder  ent|Tegengesetzten  Inhalts, 
in  Beziehung  zu  bringen,  das  ist  zu  urteilen,  die  allgemeinere 
Bedeutung  der  sinnlichen  Einzelvorstellung  zu  hndcn  und  ihr,  gemäss 
dieser  allgemeineren  Bedeutung,  innerhaS)  des  eigenen  Erfahrungs- 
bewusstseins,  den  angemessenen  Zusammenhang  zu  geben. 

Schon  beim  Erwerb  der  neuen  Erfahrungsvorstellung,  namentlich 
aber  gelegentlich  der  weiteren  X'erarbcitunp^  des  frischen  Erfahrungs- 
inhaltes durch  das  Kind,  tritt  aucii  dessen  Raum,  Zeit-,  Zahlauf- 
fassung, wie  es  sich  fügt,  an  das  Licht  Die  Raumauf&ssuog;  die 
Auffassung  der  Richtung,  des  Ortes,  der  Lage,  der  Entfernung,  der 
Ausdehnung,  der  Begrenzung,  der  Grösse,  der  Gestalt,  offenbart  sich 
in  der  Besinnung  auf  das  Aufsuchen  des  Erfahrungsgegenstandes 
an  seinem  Platze,  in  seiner  Umgebung,  im  Unterscheiden  dieses 
Platzes  von  dem  Platz  des  Kindes,  in  der  bildlichen  Darstellung  des 
Weges  zum  Orte  des  Erfahrungsgegenstandes  sowie  dieses  letzteren 
selbst  durch  hinweisende,  malende  Gebärde  und  Zeichnung  auf  dem 
Schiefer  (Blatt).  Die  Zeita  jffassung  p^ibt  sich  kund  in  der  Besinnung 
auf  das  Wann,  VV^ielange  des  Erfahrungserwerbs,  auf  das  Zugleich, 
Vorher,  Nachher  dabei,  auf  den  natürhchen  Zcitzusammenhang,  in 
welchen  etwa  das  Hervortreten  der  erlebten  Erfahrung  (bei  Pflanzen, 
Tieren,  Himmels-,  Lufterscheinungen)  gehört  Die  Zahlauffassung 
verrät  sich  in  der  Angabe  der  Unterschiedrnheit,  der  Mannigfaltig- 
keit, der  Vielheit,  des  Wechsels,  der  iMcinheit  bei  der  Besinnung 
auf  die  Merkmale  des  Erfahrungsgegenstandes,  auf  die  zeitlichen 
und  räumlidien  Bestimmungen  bei  demselben. 

Bei  dieser  weiteren  geistigen  Verarbeitung  des  neuen  Erfahrungs- 
inhaltcs  durch  das  Kind  zeigt  sich  dessen  Mass  an  Befähigung  zur 
Vertiefung  und  Besinnimg  —  zwei  verschiedenen  Richtungen  der 

FtdagogiaGli«  Studiea.  XXX.  t.  25 


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—   386  — 


Äusserung  der  geistigen  Naturkraft,  von  wddien  die  eine  darauf 
geht,  aus  dem  Ganzen  des  neuen  Erfahrungsinhalts  das  einzelne 
Element  herauszunehmen  und  in  der  Aufmerksamkeit  gesonde'-t 
betrachten,  die  andern  dagegen  darauf,  aus  den  einzelnen  Elementen 
das  Granze,  nach  der  Bedeutung  der  einzelnen  Elemente  im  Ganzen, 
wieder  zusammenzusetzen;  und  weitcarhin  die  eine  wieder  darauf, 
das  Wahrgenommene  zu  älterem  Wahrgenommenen  zu  hahcn  und 
dadurch  in  seinem  Sinne  zu  beleuchten,  die  andere  hingegen  darauf, 
sich  aus  der  Vergleichung  von  Einzelvorstellungen  zum  Erfassen 
ihrer  gemeinsamen  GlUtigkeit  zu  erheben.  In  dieser  sich  verttefenden 
und  dann  auch  besinnenden  inneren  Tätigkeit  des  Kindes  erweist 
sich  seine  ursprüngliche  Anlage  zu  Genauigkeit,  Schärfe,  wie  zu 
Bestimmtheit  im  Denken:  zum  Eindringen  in  die  KrfahrunLf'^wahrhcit 
und  zum  Erkennen  derselben j  zur  Lenkung  der  Reproduktion  und 
zur  geistigen  Sammlung. 

Abermals  ist  es  die  kindliche  Sprache,  und  zwar  jetzt  die  Laut- 
spräche,  weiche  dem  Lehrer  gestattet,  In  die  innerere  Arbeit  des 
Kindes,  beim  Durchdenken  des  neuen  Erfahrungsinhaltes,  einen  Blick 
zu  tun.  Die  Sprache  offenbart  das  Verwachsensein  des  kindlichen 
Denkens  mit  den  individuellen  Vorstellungen,  aber  auch  mit  dem 
individuellen  Ausdruck  des  Kindes. 

Auch  bei  der  denkenden  Verarbeitung  des  neuen  Erfahrungs- 
inhaltes durch  das  Kind  besteht  die  Aufforderung,  der  Abhängigkeit 

des  Kindes  bei  seiner  geistigen  Tätigkeit  von  seinem  leiblichen 
Zustande,  der  Rückwirkung  dieses  letzteren  auf  die  innere  Auf- 
gelegtheit und  auf  die  seelische  Freiheit  des  Kindes  beim  Denken, 
die  gebührende  Beachtung  zu  schenken. 


Die  Feststellung  der  ErfahrungsvorsteUungen  geht  den  bisherigen 

Erfahrungsgelegenheiten  des  Kindes,  seiner  Welt,  nach.  Obwohl 
dem  Anscheine  nach  die  Kinder,  welche  die  Heimat  gemeinsam 
haben,  alle  aus  dem  gleichen  ersten  Erfahmngsquell  —  eben  ihrer 
Heimat  —  schöpfen;  obschon  die  Kinder,  welche  dazu  auch  die 
Sprache  gemeinsam  haben,  dem  Anschein  nach  alle  dersdbea 
Beeinflussung  unterstehen:  so  ist  in  Wirklichkeit,  sowohl  was  die 
Erfahningsgclcgenheiten  wie  die  absichtslos  Vsirkenden  Mitbildner 
des  Kindes  anbetrifft,  doch  unter  den  gegebenen  Kindern  nicht 
selten  ein  grosser  Unterschied.  Schon  die  allererste  und  aut  lange 
hin  wichtigste  Erfahrungsgelegenhdt  för  das  Kind,  seine  Wohnstube, 
ist  wohl  in  allen  Fällen  etwas  völlig  Besonderes;  desgleichen  die 
allererste  und  abermals  auf  lange  hin  wichtigste  Sprachquelle  für 
das  Kind,  die  Muttersprache.  An  die  Wohnstube  schliesst  sich  an 
das  Wohnhaus,  daran  die  Gasse  oder  Strasse  dabei,  der  Spielplatz; 


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—  38;  — 


an  die  Muttersprache  die  Farniliensprache,  daran  die  Umgangs- 
sprache in  der  Kameradschaft.  Dieses  alles  ist  für  jedes  Kind 
wieder  etwas  Unterschiedenes,  Kigentüinliches.  Und  wie  nun  die 
Pflanze  stets  anders  gedeiht,  je  nach  dem  Erdreich,  worin  sie  steht, 
audi  stets  anders,  je  nach  dem  sie  sich  des  Lichtes  erfreut:  so  das 
ländliche  Erfahrungsbewusstsein  stets  anders,  je  nach  der  Statte, 
wo  es  emporkommt,  auch  stets  anders,  je  nach  dem  Geist  in  seiner 
Umgebung,  je  nach  deren  Sprache,  der  getreuen  Abspiegelung 
ihres  Geistes. 

Die  Feststellung  des  kindlichen  Erlahrungsbewusstseins  führt 
also  weiter  zur  Feststellung  der  Idndfichen  Heimat,  geistigen  Pflege 
und  Sprache.  Der  Lehrer  kann  sich  nicht  tief  genug  die  Tatsache 
einprägen,  dass  jedes  Kind  ursprünglich  seine  eigene  Heimat,  Be- 
einflussung und  Sprache  hat  Diese  Tatsache  lässt  schon  die  grossen 
Schwierigkeiten  ahnen,  mit  welchen  der  Lehrer  in  der  Ausübung 
seines  Berufs  am  Kind  zu  ringen  hat;  wie  schwer  insbesondere 
das  Gesetz  der  Stetigkeit,  der  Anerkennung  des  Kindes,  der  Ur- 
sprünglichkeit zu  erfüllen  ist  —  schon  im  Bereiche  der  JE^ahrungs- 
bildung.  Die  geltenden  Lehrpläne  gehen  von  dem  grossen  Irrtum 
aus,  dass  es  bei  den  Kindern  bereits  ein  gemeinsames  Heimat- 
bewusstsein  gebe.  Nein,  ein  solches  wird  anfanglich  nicht  vor- 
gefunden, so  wenig,  als  eine  gemeinsame  Aufibssung  oder  Sprache 
der  Kinder.  Der  Unterricht  erst  mag  zusehen,  ob  es  ihm  gelinge, 
mühsam  ein  allen  Kindern  gemeinsames  Heimatbewusstsein,  einen 
allen  Kindern  gemeinsamen  Vorstellungskreis  und  eine  allen  Kindern 
gemeinsame  Benennung  und  Verständigung  anzulegen.  Wenn  ihm, 
trotz  redlicher  Anstrengung  das  vielfach  nicht  gelingt,  so  tragen 
die  geltenden  Lehrpläne  daran  die  Schuld.  Wo  die  Gesetze  der 
Bildung  nicht  anerkannt  sind,  geschieht  alle  Bildungsarbeit  vergeblich. 
Die  Tatsache,  dass  jedes  Kind  ursprünglich  seine  Heimat,  seinen 
Sinn  und  seine  Sprache  hat,  lässt  auch  erkennen,  wie  verfehlt  die 
Annahme  der  Theoretiker  einer  sogenannten  Sozialpädagogik  ist, 
dass  das  EiiKEdbewusstsein  in  seiner  Entwidcdang  an  die  Be- 
einflussung durch  das  Gemeinbewusstsein  vom  An£uig  an  gebunden 
und  dadurch  bestimmt  sei.  Das  Gemeinbewusstsein  ist  nicht  der 
Ausgang,  sondern  ein  mögliches  Ergebnis  der  Bildung  des  Menschen. 

Die  Feststellung  der  Erfahrungsvorstellungen  geht  den  kindlichen 
Einzelvorstellungen  weiter  nach..  Sie  ermittelt  deren  Gegenstand, 
ihre  BeschafTeimeit  und  Starke:  wie  weit  sie  richtig  oder  folsch; 
hell  oder  dunkd;  roh  oder  bereits  etwas  gebildet;  vom  Zufall  her 
oder  einer  gewissen  Anleitung  zu  danken  sind.  Ebenso  geht  sie 


*)  iSaa  erinnere  sich  gegenüber  dieser  ^ViuuLbmc  an  die  tatsächliche  ZcrtcUung 
der  Menwhen  ia  luaatr  Zeit  in  jeder,  voinehmlicli  andi  in  getitiger,  Hinricht,  eine 
Zerteilung.  welche  bald  die  VerMlndigitog  unter  Mehrerai  a^it  leicht  mehr  mfigUeh 

erscheinen  lässt. 


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—   388  — 


den  kindlichen  Gesamtvorsteliungcii  nach.  Sie  ermittelt  ihren  Sioiit 
Umfang,  ilire  Grundlaj^cn  in  der  Wirklichkeit,  ihren  Zustand:  wie 
weit  sie  etwa  noch  verworren  oder  schon  deutlich,  eng  oder  aus- 
gebreitet, oberflächlich  oder  begründet  sind.  Sic  beobachtet  die 
Erinnerung  im  Umkreise  der  Erfahrungsvorstellungen,  dieGescbwindig' 
keit,  Sicherheit,  Ausdehnung  (den  Reichtum)»  die  leibliche  Begünsti* 
g;uog  oder  Hemmung  dabei  Sie  merkt  auf  das  kindliche  Verstehen 
und  das,  was  ihm  voran,  zur  Seite  geht,  oder  folgt:  auf  das 
Besinnen,  den  Rhythmus  im  Gang  der  kindlichen  Vorstellungen,  den 
Grad  der  Aktivität  des  Kindes,  der  Ausdauer  im  geistigen  Arbeiten 
und  der  inneren  Spannung  wie  ihrer  Verkündigung  in  Blick,  Miene, 
Haltung;  endlich  auf  die  Kntäusserung  in  der  kindlichen  Rede  und 
auf  deren  besondere  (mundartliche)  Züge. 

Die  Feststellung  des  vorhandenen  kindlichen  Erfahrungsbewusst- 
seins  schliesst  ab  mit  der  näherungsweisen  sicheren  Ermittelung  des 
kindlichen  Gutes  an  Erfaiirungs Vorstellungen;  der  Bestimmung  der 
sinnlichen  Aufmerksamkot  des  Kindes,  ihrer  Richtungen  und  Nacb- 
haltigkeit;  des  kindlidien  Denkens  im  Umkreis  der  Erfahrung,  seiner 
Aup'=priingcn  in  Fragen  nach  dem  Woher?  Warum ^  —  im  Suchen. 
Zerlegen,  Vergleichen,  Zusammenfassen,  Ordnen,  übersehen;  der 
vorfindlichen  kindlichen  (Laut  )  Sprache,  ihrer  Wörter  (Benennungen) 
und  ihr^  Ausdrucks  (Satzgestaltung)  —  hinsiditlich  des  Grades  der 
Angemessenheit  und  Vollkommenheit;  und  zuletzt  der  kindlichen 
Darstellungsföhigkeit  im  Bild  hinsichtlich  des  Grades  der  Treue 

Schlnss  folgt. 


B.  Kleinere  Beiträge  und  Mitteilaugeii. 

1. 

Ebutlmmung. 

Von  Edmund  Leupolt  in  Dresden. 

Weite  pädagogische  Kreise  interewiert  noch  heute  der  Konflikt,  der  «ch  an 
die  beiden  Namen  Bremen-Scharrehnann  knüpft.  Scharredmaiin  hatte  in  einem 
pädagoglsoboi  Atttetn  HAunug  vertreten,  diM  ea  ihm  nicht  nri^eh  in, 
ddi  aa  dm  ToigeaobilebeiieB  Lehipkui  so  Uadea,  weil  die  bapteadie  Iwiii 

Unterricht  die  Stimmong  des  hehnn  für  das  Fach  sei,  dieie  SäMmvng  aber  ack 

für  Zeit  und  Stunde  nicht  kommandieren  lasse. 

Im  besonderen  wird  bei  Besprechung  des  Themas  Rcüs'ionsanteTTicht  imraer 
wieder  die  Ansicht  yerfochten,  dass  man  cum  Keligiousunterricht  vor  aüen 


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—   389  — 


Stinaaraog  bntndie»  d«M  nuun  lebtptoniBfarig  Mli  7—8  oder  8—9  sotebe  Stiamiiuig 
an  mandien  oder  Tiden  Tagen  gar  nicht  haben  kOnne;  ohne  Stimmnng  sei  wahrer 

Eelitrionsnnterricht  nicht  tnojifHcli ,  ohne  Einstimmung  der  Seele ,  des  ganzen 
Denkens,  ohne  £in.s])inunng  in  dif  (<(  t  ihlserregang  and  Gedankengänge,  die  ein 
gesegneter  Beligionsunterricht  nuu  einmal  erfordert. 

Ea  ist  im  letiten  Grande  diewlbe  Wahrheit,  «etohe  die  Sekten  erfahren 
haben,  in  denen  der  „vom  Geiste  Ergriffene*'  anifaigt  m  predigui  — >  in  immo* 
heiliger  Erregung,  in  „Begeisterung".  Und  es  wird  auch  jeder  Lehrer  zugeben, 
dass  seine  Stunden,  nicht  bloss  di"  RcliL'inn<»8tnnden,  ganz  verschieden  i^tragen 
werden  von  dem  Geiste  der  Disposition,  da^s  es  Weihestunden  gibt  mit  innerer 
Befriedigung  und  lencbtenden  Kinderangeu  und  auf  der  anderen  Seite  Standen 
in  nttehtemem  Alltagsgran,  wo  weder  Kinder  nodi  Lehrw  sieh  ans  bleierner 
Mattigkeit  zur  Höhe  erheben  können;  dass  die  Stunden  je  nach  derlndiTidnalität 
de?  Stoffen  und  der  Individnalit&t  nnd  sonderlichen  j^stimniuig  des  Lehrers 
stark  wechseln. 

Der  Begriff  der  Stimmnng  kommt  von  der  Kunst  herüber.  Auf  den  Kunst» 
eniehnngstagen  hffrte  man  viel  Trefflidies  nnd  ^el  stark  Anfeehtbares  Aber 

Stimmung  und  Einstimmung  beim  Geniessen  des  Kunstwerks  mit  starken  Angriffen 
auf  die  herkömmliche  Schnlarbpit  und  ihre  berkömmlirhe  Kunstbehandlung".  Es 
klingen  beim  Werte  Stimmung  —  Einstimmung  alle  jene  Begriffe  luit,  fttr  die 
wir  die  Werte  innerer  und  äusserer  Aufmerksamkeit  —  Apperzeption  und 
SonaeDtration  —  Interesse  geprägt  haben.  Die  Sede  hoidtt  gleichsam  gespannt 
anl  die  TSne,  die  Ihr  von  der  Anssenwelt  anstrSmen.  Dass  diese  Elnstellaog 
der  Anfraerksamkeit,  diese  Aufnahme  der  neuen  Vorstellungen  in  die  Reibe  der 
altt  n  imd  die  bewusste  Willensrichtung  auf  diese  Aufnahme,  verbunden  mit  den 
Schwingungen  des  Lustgefühls,  ihre  höchste  Steigerung  in  der  Kunst  erfahren, 
bedarf  keines  Bewdses.  Ist  docli  jraes  die  ledite  l^stunmong  der  Seele,  da  der 
Mensch  Welt  nnd  Wirklichkeit,  Zelt  nnd  Stande  vergisst  nnd  lencbtenden  Anges 
in  eine  unsichtbare  Welt  voller  Seligkeit  schaut!  Es  hat  äie  EiiHtimmnni?  in 
diesem  höchsten  Sinne  nichts  zu  tun  mit  leicht  aufflarkem<ler  Augenblicks- 
begeisterung,  nichts  mit  sUsslicher  Empfindsamkeit.  Sie  ist  gesund  und  gross 
nnd  innerlich.  Sie  kann  voriianden  sein  beim  schafTendeu  KOnstler,  dem  die  Kunst 
selber  die  Hand  führt;  sie  kann  vorhenden  sein  bdm  Kanstgcniessenden,  der 
leinen  Herzens  die  Kunst  ihr  heiliges  Feuer  in  seinem  Innern  entsflnden  liest 
Immer  ist  sie  —  selten  eine  bessere  Himmpls^^abe. 

Heute  ist  das  Wort  Stimranner  nicht  auf  die  Kunst  beschränkt  gpblipben. 
Es  ist  Sitte  geworden  in  unseren  Tagen,  den  Ausdruck  Einstimmung  in  seinem 
edelsten  Sinne  anf  die  „SebnUranst"  an  ttbertragen.  Und  es  Ucgt  aweifelloe  eine 
hohe  Auffassung  iles  Lehrberufs  in  dieser  Übertragung.  Es  spricht  eine  ausser- 
ordentliche Bcgeistemnc'  nnd  eine  grospe  Liebe  filr  die  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
arbeit an  unserer  Jugend  aus  ihr.  Der  Lehrer  der  Künstler,  selber  auf  das 
Höchste  eingestimmt,  der  Schüler,  der  die  Kunst  de»  Lehrers  ergriffen,  gefesselt: 
welch  berrUdieB  Bild!  Bs  mttsste  eine  Lnst  sein,  Lehrer  in  sein  in  einer  Zeit, 
die  so  hoch  von  ihm  nnd  seinem  Berufe  denkt  Aber  anf  der  andern  Seite  steht 
emtlchtemd  der  oft  ^  geringe  Erfolg  unserer  Arbeit,  die  geringe  Anteilnahme 
der  SohiUer!  Hier  stehen  die  zahllosen  Vergehen  gegen  Anfmerksamkeit  nnd 


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—  390  — 


Fldn.  Wie  reimt  «ick  das  mianunen?  Wie  iit  dieser  Ocgeneats  m  eridlm? 

Hat  die  Einstimmung  in  jenem  Sinne  für  die  VoUmehnle  Überhaupt  einen  Zwedi? 
d.  h.  ist  sie  niöy:lioli?  Und  wenn  j«:  wa?  ist  zu  tnn,  nni  int-hr  als  biaiier  jene 
innere  Anteilnahme  am  Unterricht  bei  Kind  und  Lehrer  zu  trzt  u^'en? 

Bei  der  Stellnngnabme  zn  dieser  Frage  erscheint  mir  zunächst  die  Tatsache 
nicht  genügend  beachte  daae  die  Knatimmini^  im  hdehsten  Sinne  eine  ieltme 
Gabe  dee  Himmels  ist.  Man  mnss  aieh  auch  darüber  klar  werden,  daaa  Leluer 
xmA  Künstler  niif  der  einen  und  Kunsti^enieinde  und  Schiil-^r  auf  der  andern  Seit« 
einander  dnrehatis  nicht  gleichzusetzen  sind.  Relativer  als  der  künstlerische 
Erfolg  und  die  künstlerische  Kraft  der  Einwirkung  ist  der  p&dagogisohe  Erfolg, 
der  pädagogische  Knflnea.  Tk  hingt  die  Binatimmang  bei  der  Sehnlarbeit  anwo 
ordentlioii  atarii  von  der  A^die  dee  Seht  lere  nb. 

So  gewiss  man  zugeben  kann,  dass  vom  Lehr^  dii  Weihe  des  ünterriebti 
ausgeht,  Wämie  und  Kalte,  dass  er  die  Tonart  beetimmf  Tempo,  den 
Rhythmus  und  die  Tonstärke,  er  ist  dennoch  nicht  souveräner  üerrächer.  Das  ist 
nicht  einmal  der  Lehrer  von  Oottea  Gnaden.  Nun  haben  wir  ee  fOr  gewöhnlich 
mit  Dnrehaebnittamenaeben  an  tnn.  Und  dann  ist  es  dn  alter  Fehler,  der  bei 
AnfBtellnng  von  pädagogischen  Fordemngen  immer  gemacht  wird,  dass  sie  nr 
ans^zeichnete  Exemplare  der  Gatttmsr  magleter  im  Auge  haben.  Es  ist  mv 
einmal  m:  alles  in  der  Welt  ist  relativ.  Die  Welt  ist  selber  ein  Helativnm. 
Aber  von  allen  Dingen  in  der  Wdt  ist  die  Pädagogik  —  die  Schule  das  relativste. 
Damm  ist  aneb  die  „Stimmnny",  die  man  Jetat  anf  allen  Qatten  beiingen  bflit, 
mit  Vorsicht  zu  betraditen.  Der  bekannte  Pfarrer  Tranb  aagte  MisUeb  in 
einem  Vortrasre.  dass  jedesmal,  wenn  das  Wort  Stiinninng-  s^nannt  werde,  ein 
Gefühl  des  .Absehens  emphude.  Nirgends  wird  so  in  die  Luft  Iiinein  £:ebaut  wie 
in  der  Pädagogik.  Und  aach  die  Einstimmmnng,  dieses  ueugeprägte,  neudeutsche 
Wort,  iet  durehana  relatiT  an  Tetatahen.  Kinder  nnd  Ldirer,  Objekt  nnd  Sabj^ 
der  Erziehnng,  nnterl  legen  auch  in  nnaern  Tagen  den  neuen  Plopheten,  die  seltea 
Neues  bieten,  sondern  oft  .Allbekanntes  in  neuer  Aufmachnntr.  wie  der  KaufmaDU 
f);\irt  darBtellen  uder  mit  einseitiger  Betonung  predigen,  immer  nach  den  Tiig- 
hcitsgesetzen  menschlicher  Entwickeluug. 

Zoniekit  der  Schttler.  Bi  hängt  mit  di«Mi  TUlglieitegeaetMa  dei 
mensohliehen  Oeiatea  anaammen,  daaa  einmal  der  Geiat  lingere  Zeit  braneht,  am 
aich  TOD  der  normalen  Kälte  der  Indifferenz  auf  eine  gewisse,  ich  m&chte  sagen 
höhere  Temperatur  einzustimmen;  dass  zum  andern  eine  geraume  "Weile  n'tiir 
ist,  ehe  er  in  der  Temperatur  einer  gewissen  Spannung  zu  wechseln  vermag;. 
ÜB  ttllt  dem  Kinde,  dem  nicht  gereiften,  nicht  aar  Selbatbehemchnng  gekommenen, 
beaende»  sehwer,  etwa  ana  der  Sonntagi'  oder  der  Ferienatinunimg  in  die  Arbeite- 
Stimmung  überzugehen;  es  föllt  ihm  schwer,  atis  der  Oebobenhlit  einer  gelungenen 
Religion '^'■t 'in de  in  die  klare  Kälte  der  Rechenstiindc  hinilberzne'h reiten.  Es 
fehlt  dem  Kinde  die  Akkohimodationsfähigkeit,  die  unser  Auge  besitzt.  Unser 
Auge  vermag  sich  rasch  einzustellen,  je  nachdem  die  Entfemong  des  Objekts 
groaa  oder  klein  iat;  nnaere  8ede  nicht  Und  ea  ist  wohl  ao,  daia  dieae  FUdgkMt 
der  Seele  um  so  melir  mang^elt,  je  einfacher,  natftrlicher,  nnberührter  sie  ist,  j» 
näher  dem  Naturstandpunkte  sie  sieb  befindet.  Ein  an  moderne  Sprtln^e  un<l  Geeen- 
a&tze  gewütmter  Geist  vermag  dieee  Einetimmaag  leichter  zu  leisten  als  jener, 


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—  391  — 


dar  jftdw  TStnmag  nmielMt  Mtlos  gieganftbenteht)  mit  giowtr  Eraftonaigifl  n 

flberwinden  sncht  und,  inmitten  dieses  Prozeraes  dnrch  ein  neues  Objekt  gestört, 
diesem  neuen  neue  Aufgf^aben  stellenden  p^eg^nüher  völlig  versagt.  E«  fehlt  dem 
emiacäeu  Dorfkiude  die  Fähigkeit,  seine  Seele  einzuätimmeu,  weit  mehr  als  dem 
Stadtkinde.  Du  Stadtkind  ist  es  gewOhnt,  seine  Seele  gewiiaenianeai  aluMi^ 
fteUen.  An  hundert  Objekten  der  belebten  Strasse  geht  ee  achtlos  Torftber;  wie 
in  einem  sich  drehenden  Fuionma  gleiten  die  Bilder  an  Mliiem  Ange  vorüber, 
kaum  gesehen,  beachtet;  nur  ein  besonderer  Fall  lenkt  Mine  Airfmerkiamkeit 
auf  sieh. 

So  auch  im  Unterricht.  Gewiss  gibt  eti  auch  Kiuder,  welche  das  Vermögen 
cinigenDMwn  wenigtleas  betitsen,  eich  sdadl  in  das  Nene  sn  finden,  aber  im 
allgemeinen  gilt  die  Tatsache  einer  sohlechten  Einstimmungsmöglichkeit  yon  der 
ganzen  Klasse.  Dabei  kann  man.  wenn  ui-ui  will,  eine  doppelte  Einstimmung 
unterscheiden.  Einmal  die  innere,  die  ideale  Erfasnang  durch  den  Stoff,  welche 
namentlich  bei  fieligious-  und  Q^hichtsstunden  aultritt;  dann  das  äossere 
HIneiniehicken  in  das  Fach,  die  tedaiache  Fertigkeit  nnd  Sebnelligkeit,  sieh  in 
ein  anderea  OeMet  an  werfen.  Da  aber  ikxe  Unterscheidung  nnd  Trennung 
immerhin  idiwiexig  iat^  ftuae  ieh  «ntw  dem  Begriff  Binerimmgag  gemeiniglidi 
beide. 

Besonders  auffällig  tritt  sie  in  die  Ersoheinong  bei  Kevisionen, 
Prüfungen  nnd  Lektion STermiachnngen.  Ss  ist  eine  alte  Klag^  daaa 
bei  Beviaionen  die  Klane  venagt  Nieht,  daaa  der  Beviior  m  Solnvlerigea  vei» 

langt.  Aber  die  Klasse  vermag  sich  nicht  sofort  einzustimmen  in  die  Stimmung, 
in  welcher  der  Revisor  sich  befindet,  ganz  abgesehen  davon,  dass  die  .\utörität 
der  Persönlichkeit  des  Revisors,  äussere  Eigenheiten,  Eigentümlichkeiten  der 
Sprache,  die  Frageweise,  das  UngewShnliche  der  ganzen  Sitnation  stark  mlt- 
irirken.  Dabei  ist  die  dne  Klasse  sdiwerfRlUger  als  die  andrae.  Die  Kinder 
waren  mit  ihrem  Lehrer  in  Stimmung  —  sie  wurde  jäh  zerissen  durdi  den 
Eintritt  Hp-^  Revisor«  -  nun  st-hweben  die  Saiten  der  Seele  in  ungleichen 
Schwingungen,  imd  ea  dauert  lauge,  ehe  sie  gleichschwebend  werden  und  ein 
leiser  wohlgestimmter  Akkord  über  die  Saiten  länft. 

Sine  analoge  Biaehelnnng  flUlt  dem  Beobadtter  bei  Prflfnngen  aaf.  Es 
ist  bduinnt.  dass  gerade  die  Besten  hier  oft  versagen.  Ihre  Seele  ist  am  feinsten 
besaitet.  Es  irrhf.rt  zu  den  Gründen  gegen  die  Prüfuniren ,  f1ns<i  viele  der  Kinder 
sich  hier  total  aulers  zeigen  als  im  Unterricht.  Doch  abgesehen  davon:  auch 
die  Einstimmung  der  Kiasse  ist  in  vielen  Fällen  nur  »chwer  £U  erzielen.  Ich 
nehme  den  FUl,  dass  das  Themar  das  sieh  der  Lehrer  gestellt  hat,  nieht  gani 
dem  Thema  im  Tagebneh  entq^dit,  dass  auch  die  Behandlungsfoim,  die  der 
Lehrer  wählt,  neuen  Forderungen  nachgebend,  durchaus  originell  sei.  Das  Thema 
soll  beispielsweise  lauten:  Nerven  und  Muskeln  in  Wechselwirkung.  Die  alt- 
hergebrachte Methode,  wie  sie  von  vielen  Lehrern  gettbt  wird,  wäre  die  Betrachtung 
des  Nervensystems  (a),  die  Betnwhtnng  des  Mnslnlqrstttns  (b),  die  Betraohtung 
des  Verhiltttisses  beider  nneinander  (c).  Der  Lehrer  hegimtt  etwa  mit  dar 
Betrachtung  des  Durchschnitts  des  Unterarms  von  der  Haut  bis  auf  die  Speiche, 
wiederholt  dabei  kurz  die  Beschaffenheit  d*>r  Haut,  Bedentnng  und  Lage  der 
Adern  and  geht  nun  näher  auf  die  Muskeipartien  and  Nervenstränge  ein:  kurz: 


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—    39^  — 


er  entwickelt  uen  sein  Thema.  Weklie  Ebrfuhrung  wird  er  machen ?  Die 
Lektion  g^eht  wahrscheinlich  .Hchlecht.  Die  Kinder  antworten  schwach,  oft  falsch. 
Die  Frag:enreihe  schleppt  sich  dahin  wie  eine  mttde  Karawane  dnrch  die  WfUte 
in  dar  Ifittagsglnt.  0ie  Siiutiimnoiis  fbUt  Et  iit  den  Sindan  nicht  möglich, 
•ieh  aeeÜMh  sofort  sn  Cumh,  aieh  in  die  nene  Form  der  Belwodlanir  n  Sad«. 
Sie  sind  auf  gewisse  Folgereiben  in  ihren  Gedanken  gwohnlt,  tidleicht  nach  der 
Regel:  Wesen  iles  Muskels,  Bestandteile,  T<a?e.  Tätigkeit  n«Av  .lern  betrinnt 
die  Gedankenreihe  anderswo.   Da  ist  die  £iuaümumng  fUr  die  meibteu  unmöglich. 

Der  ParaUelUasaenlehrer  und  mit  ihm  die  grosse  Zahl  der  Lehrer  Temeidet 
die  angegebene  oder  eine  Ihnliehe  Behandlang  des  Themas.  Xs  kenaMn  die 
bekannten  Examenf ragen:  Wie  haben  wir  damals  gesagt?  Wdehe  drei  Sätze 
haben  wir  nns  damals  n-^'m^rkt  '-'  heippcn  die  Überschriften  ien^^r  Absohnitte? 

Gib  znsammeulasäen«!  die  besoudereu  K«gelu  über  die  Schonung  der  Nerven,  der 
Muskeln  an!  Wie  habe  ich  damals  die  Bedeutung  der  Nerven  mit  einem  kurzen 
Worte  gekenutiehnet?  nsw.  Und  die  Kinder  arbeitea  ,,bfj]laat''  mit,  wie  der 
technische  Au»dmck  lautet.  Ja,  wnmm?  Die  Einstimmung  ist  da,  die  Kinder 
werden  in  die  iLjewohnte  Tempemtnr  geführt,  in  der  j^'ewohnten  Weise  werden 
ihre  Gedanken  aust^elünt  ohne  Hemmungen,  ohne  innere  Schwierigkeiten,  h« 
arbeiten  wie  ein  grosses  Manchinenwerk :  sobald  das  Werk  eingestellt  ist,  l&ntt 
aUee  In  lostigern  Brammen  and  Samam  von  selbst. 

Und  nnn  cor  Frage  derLektionsvermischung  und  der  Vergleiehnng. 
Dn  hältst  eine  Lektion  in  der  Erdkunde,  lieber  Le^er.  b^hreibet  die  Mittel- 
gebirgsland!4chafteu  Ungarns  und  vergleichst  sie  nun  in  ihrer  Beschaffenheit  und 
ihrer  Höhe  mit  mitteldeutschen  Bergländern.  Welches  ist  die  Erfahrnng,  die  da 
maohst?  Die  Kinder  versagen  beim  Vergleichen.  Dn  weisst.  de  kennen  die 
deutschen  llittelgebirge,  da  hast  sie  gründlieh  behandelt,  es  ist  aneh  eiafctes 
Wissen  genügsam  vorhanden,  du  warst  stolz  auf  deine  Erfolge  noch  am  Schlosse 
des  letzten  Schuljahres  —  und  nun?  Mühsam  holpert  die  T.»ktion  weiter.  Die 
Einstimmung  fehlt!  Heisst  das  Thema  wieder:  Die  Ueut&cben  Mittelgebirge 
au  der  We«er,  zwischen  Bheiu  und  Elbe  oder  sonstwie,  sofort  wtirde  die  Klasse 
eingestellt  sein;  das  Uhrwerk  wttrde  federleieht  gehen.  Aber  so?  Da  weilst  in 
Ungarn  bei  den  Paastahirten  und  beim  Tukaver  und  bei  den  Siebenbürgener 
Sachsen  nnd  den  halbwilden  Schafhirten  der  Karpaten  und  den  Biinnjaireni  der 
transsilvauischen  Berge  und  verlaugi^t  den  Sprung  rückwärts,  unvermittelt  in  die 
deutsche  Heimat,  in  deutsche  bunte  Wiesenlandschaften  und  stille  Stromlänfe, 
sehwdgende  FiditenwUder  nnd  gewerblldssige  Tiler?  Und  nnn  vei|^eiehBt  da 
gar  die  Höhenzablen  der  Gebirge  Ungarns  mit  denen  der  deatachen  Berga.  Da 
lässt  rechnen,  wieviel  Meter,  wieviel  QiiadmTkUometer  Differenz  zwischen  jenem 
Gebiete  nnd  diesem  liejjen,  nur  rund,  nur  ungefähr  —  ilu  erschrickst!  l'ie  Kla.'^s« 
rechnet  fürchterlich,  und  «loch  hast  du  vom  Direktor  das  Zeugnis  bekommen,  dau»» 
die  Klasse  die  beste  BeehenUaase  der  Schale  sei.  Da  lieber  Gou!  denkst  da, 
wie  man  deh  inren  kann.  Und  dennoch  kann  das  Urteil  richtig  sein ! 

Man  kann  oft  bei  Prüfungen  die  Rechenfertigkeit  nnserer  Schulkinder 
bewnndem.  789  +  213,  1212  —  987,  88  x  9.  777  :  16  —  es  geht  Schlag  auf 
Schlag,  die  Zuhörer  schütteln  erstaunt  die  Häupter,  die  Kollegen  denken: 
lisnsendkttnstier!  Und  dann  verlangst  Da  von  denadben  Kindani  blo«  in  der 


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—   393  — 


GeMduehtiBtniide  das  Lelitnsalter  Lvthent;  tagst  dreiml  die  beiden  JahreaiaUoi 
1483  and  1646  —  ich  wette  zehn  gegen  eins  —  du  bekommst  erst  drei  falsche 
Antworten  thk!  nach  fünf  Minuten  das  richtige  ErgebAis.  Das  ist  ein  Beispit^l 
für  raang'elnde  Ein.stiramnng  nnserer  Kinder,  das  jeder  erlebt  und  registrieren 
kann.  Gerade  die  mecbauiüchü  Fertigkeit  des  Bechnens  verlaugt  eiue  besondere 
ffinstellniig  des  YontflUnngsappante.  In  der  Beehenetonde  kOnneii  die  Kinder 
glatt,  erstaunlich  sicher  rechnen,  in  der  nächsten  Stande  schon  venagen  sie  bei 
der  leichtesten  Aufgabe.  Darum  bezweifle  ich  auch  den  Wert  dieser  Rechen- 
dressur.  Wenn  der  Lehrer  nur  sechs  Woclirn  lang  diese  schwindelnden  Schnell- 
aufgabenreihen  nicht  gibt,  nicht  ttbt,  «lauu  ist  die  mechanische  Fähigkeit  ver- 
schwonden.  Frage  ansserbalb  der  Sehnte  einen  solcheii  SöhneUrecInier  nach  der 
LOsnng  einer  leichten  Aufgabe  — >  die  laaehe  Astvort  wird  anriUeiben.  Das  ist 
ein  Grundgesetz  unserer  Kinderseele  im  besonderen,  dait  lie  ftr  jede  besondere 
Leistung  eine  besondere  Einstimmung^  niUig:  hat.  Und  so  ist  es  bei  allen 
LektionsTeriuiiicUuugen,  wie  ich  es  nennen  will.  Sprünge  aus  einem  Fach  ins 
andere,  etwa  der  Yttraoli  einer  Oeeohichtslektion  auf  geographischer  Grundlage, 
^rerUttisn  die  Kinder.  Die  Kinder  denken  mir  eins,  wie  man  in  gewtHinlidien 
Leben  sagt,  wie  es  die  Hausfrau  von  den  Dienstboten  ebenfalls  behauptet.  Ein 
spmn^weises  Hin-  und  Herfahren  vcrträtrt  ein  Kind  nicht,  wenigstens  nicht  bei 
enuter  Arbeit,  m  i^ehr  es  soost  den  Wechsel  liebt.  £s  gehört  schon  ein  philo- 
sophierender, überlegender  Geist  dazu,  hier  mitarbeiten  zu  können.  Es  gehört  schon 
eine  anseerordentlieb  gescholta,  geistig  IdHsndige  Klaese  dam,  dabei  Outee  an  MetMi. 

Damit  komme  ich  zu  der  Frage:  ist  es  mOgUeh,  diesen  Mangel  an  Fübigkdt, 
die  Seele  ra^ch  einzustinniKn  für  das  Nene,  in  etwa«?  zn  beheben?  Die  Autwort 
lautet  Ja.  wenn  iinch  dieües  Ja  nur  relativ  zn  verstehen  i^t  Anlagen  der  vSeele, 
Erbbtiicke  einer  unermesslich  langen  Yergaugeuheit  kann  mau  mcitt  beHeitigen, 
nie  ansrotten,  nur  dftmpfen  nnd  bleichen.  Durch  intensiTe  lebendige  Unterridite- 
arbeit,  die  nicht  das  ganze  Jahr  hindurch  in  denselben  Gleisen  wandelt,  die 
vielmehr  einmal  von  der.  das  andere  Mal  von  jener  Seite  an  das  Objekt  heran- 
geht, die  den  Kin<lern  auch  einmal  Problenie  stellt,  die  die  geistige  Ausdrucks- 
fähigkeit und  schnelle  Beherrschung  der  Yorst^llung  im  freien  Aufsatze,  in  der 
Mtem  Übnng  von  UndertSmlichen  Vergleichungen ,  neoartlgen  Znaaaunen- 
fassongen,  interessanten  Übeiblidmi  nnd  Ansblieken  nach  Krtften  fördert,  kann 
die  Akkommodationsfähigkeit  der  kindlichen  Seele  ganz  bedeutend  ausgebildet 
w»  rd*ii.  (Tnd  es  ist  das  Kennzeichen  einer  wirklich  durchgearbeiteten  Klasse, 
weuu  sie  bei  neuartiger  StoSbehandioug  ihren  Mann  stellt.  Das  sind  die 
aeblechtesten  Klassen,  die  nnr  bei  ikram  Klassenlehrer  etwas  leisten,  wie  fUe 
Zneht  der  Klasse  iinnier  Tetkehrt  ist,  die  nnr  bei  dem  Klassenlehrer  sieh 
beherrsehen  kann,  gleichsam  auf  seine  Per^  u  iressiert  ist.  Es  fehlt  in  solchen 
Klassen  die  wirkliche  An^bildnng  fHr  das  Li  Inn  die  Ausbildung  freistiger 
Fähigkeit,  geistiger  Gewandtheit.  Die  nahen  Greuzeu  dieser  Ausbildungsmügiicb'- 
keit  aber  liegen  auf  der  einen  Seite  in  dem  schon  gekennzeichneten  Gruud- 
«Aarakter  der  Undliohen  Seele,  die  aar  Vertiefung  in  geistige  Arbeit  immer  erst 
einer  Einstellung  bedarf,  und  auf  der  anderen  Seite  in  der  Person  des  Lehrers. 
Dabei  schalte  ich  im  Rahmen  dieses  Aufsatzes  die  erzieherisch  Itfrdemden  nnd 
hemmenden  Einflüsse  des  Hauses  und  der  Umwelt  aas. 


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ZnnlU^t  gilt  auch  von  der  Penon  des  Lehrers  jen»  OnmdgOMts  te 

kindlichen  —  menschlichen  Seele  von  der  Schwierigkeit  rascher  Einstimmting  in 
Wechsel.  Ja.  es  kommt  bei  ihm  in  seiner  Wirkun?  b^^^entetid  stärker  inbetracht 
als  seine  Allgcmeinbegabang  nnd  seine  innere  Teiinahme  für  £inxelfäch^  m- 
eadlieh  wichtiger  fttr  die  SäntCini&inf  der  Eleaee  iü  «Ii  die  der  Xiiider.  M 
den  Kindern  heben  sich  die  Tenchiedenen  Begnbongen  und  Neignagen  im 
Organismus  der  EUuM  gegenseitig  an!;  Ton  der  Begelnuig  des  Lehrers  aber 
hängt  die  Einst  immune  der  Klosse  ab.  Jeder  Tjehrer  ist  mehr  oder  wenijr«r 
Fachlehrer.  Mcbt  alle  Scbuüäcbcr  entzQnden  in  gleicher  Weise  sein  Inneres. 
Es  ist  die  spezielle  Begabang  für  ein  oder  mehrere  Fleher  aogar  ein  starker 
Fiaktor  bei  der  Featetellnng  der  Bemtifreiidigkeit 

Wenn  es  richtig  ist,  dass  die  Bentfsfrendigkdt  bedingt  wird  dnrch  die 
iTn!*>n»  f5n''«pre'^  Rnhe  des  Lehrers,  wird  fiif«?pr  Zusammenhang:  klar.  Die 
iieiiiimuigeu  der  Berul.slreudigkeit,  die  eben  diese  innere  Ruhe  des  Lehrenden 
und  den  äusseren  i^riedeu  der  Schalarbeit  stören,  beeinträchtigen  zugleich  die 
Sinstinininng.  Ibrw  ist  Legion.  Nicht  nnr  die,  die  in  seiner  Sondorbegabnag 
und  ihrer  Nichtberückaiditigmig  liegen,  also  die  rein  pHdag-ogiseben  Hemmungen. 
Der  Lehrer  ist  wie  jeder  andere  ein  g'ar  abhän^irig'es  Geschöpf,  ein  schwarher 
Mensch,  Bürger  des  Staaten.  Haupt  der  Familie,  Glied  de.s  £jros.Hen  SchulorgamsBins 
und  -bfirokratismus ;  alle  die  Hemmungen,  welche  ihn  als  Glied  dieser  Gemein- 
schaften trefien,  Terwonden  ihn  als  Lehrer.  Der  Lebier  trlgt  seine  Not  mit  in 
die  stille  Sebnistnbe  hinein:  die  Bitternis  seiner  Standeskftmpfe,  die  Not  seinm 
Leibe.s.  die  Last  seiner  sozialen  Stellung,  die  Sorgen  de.s  Hanses  und  Jlu-»*>ere 
EiutiUsäe  obendrein.  Die  Unzuliinq-lichkeit  der  räumlichen  nud  technischen  Schul- 
einrichtnngen  macht  die  Arbeitsergebnisse  stark  relativ.  Strassenlärm  und  Sonnen- 
hitse,  ftberfUlte  Xlaieen  nnd  MinimaUehrpline  neben  mangelhaften  Lefai^ 
vontchtnngen  stttren  die  Einstimmong.  Sasn  die  Hermhaft  des  lieUigen 
Bürokratismus.  Er  vergleicht  fleissig  Parallelklassen  mit  Parallelklassen,  gibt 
alle  4  Wochen  Prüfnng-sarbeiten  und  schickt  ümfrajjeh-.Ln'n  auf  T'nifni^.bogen, 
um  alle  möglichen  Ergebnisse  fein  säuberlich  in  Prüzeuteu  darzubtellen.  Ade 
Feieratille  der  inneren  und  insieren  Einstimmung.  Es  geht  dir  wie  der  wahroi 
Seligioiltit,  die  im  Gepitnge  des  kiiehUdun  Gottesdienstes  nnd  des  weltüehsa 
Linns  nnr  an  oft  flächten  muss. 

Hierher  ?eh('»rt  auch  die  Nnnimerierungs-  und  Schematisierungs-.  die  Ver- 
ordnungs-  und  Verf  üffunari*krankheit  Preussen-Dentschlands  in  unserer  Zeit.  Hierher 
gehürt  die  Yielrevidiererei,  die  Sucht,  Ergebuisse,  Früchte  zu  r^istrieren,  ehe  die 
Saat  noeh  reoht  in  die  Halme  gesebossen  ist  Es  faUt  die  hdlige  Bnbe,  in  der 
allein  echte  Schul-  und  Erzieherarbeit  gedeillt.  1^  neaerdings  bringt  die  jüngste 
Grossmacht  manchmal  neue  Beunruhigun^n .  neue  Hemmnisse  in  unsere  Schnl- 
arbeit  hinein:  das  ist  die  Hygiene.  Mau  verstehe  mich  nicht  falsch.  Gewisa 
ist  die  Hygiene  eine  mächtige,  freundliche  Bundesgenossin  auf  dem  Gebiete  des 
Unterrichts,  die  an  der  Seite  des  Lehrers  wacker  nütstreitet  gegen  alle  Funde 
der  Yolksgesundbeit,  der  Xindeigeeundheit  im  besonderen.  Aber  wir  leben  in 
einer  Zeit,  da  ihre  Vertreter  im  guten  Eifer,  in  der  besten  Absicht  über  da*  Ziel 
hinausschi essen  und  in  ihrem  Ifühlichen  Drange,  der  unterrichteten  Jugend  zu 
helfen,  mitunter  in  die  Unterrichtsarbeit  ein  verwirrendes  Moment  tragen.  Sie 


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—   395  — 


hab«!  in  ihren  frendifen  Ih-ange,  m  refonitienii,  nicht  bedacht,  dass  in 
Schule  neben  dem  ^^elen,  waa  die  Hygiene  fordert,  anoh  noeh  —  der  Untttrieht 
etwas  Wesentliches  ist.    Da  werden  die  Elementaristen  nach  dem  Schuleintritt 

untersncht  —  T'nter!*iu'huiiy  wiederholt  sich  (so  ist  es  z.  B.  in  Dresden)  vor 
Beginn  des  1  oruuuterrichts.  Da  verordnet  der  Scbolarat  eine  allgemeine  Angen- 
anteniiohiing,  und  mit  HUIb  der  Cehnadhen  Sehtafetn  wird  die  Sehkraft  ebatlieher 
Schvlkinder  der  Groiietadt  festgeatelit.  Die  Kffiperlinge  wird  genenen  —  das 
kleinste  nnd  das  grGsste  Scbnlkind  beransgefnnden  —  Gewicht  und  Gewichts» 
annähme  ermittelt.  An  den  Scliulem  der  Nachbarschule  wird  eine  alle^empine 
nnentgeltliche  Zahnbehandlung  durchgeführt ;  klansenweise  marschiereu  die  Kmder 
nach  dem  Operationszimmer  der  nahen  Zahnklinik,  kehren  blass,  aufgeregt  in  den 
ÜBterridit  anrdck  <~  nnd  dann:  weiheToUe  Bins^mmnng!  KUralieh  wandte  steh 
ein  Oberarzt  eines  grossen  Kinderkrankenhauses  in  D.  an  daa  Schnlamt  wegen 
der  Erlaubniss  rn  einer  alli^euieiueu  —  Uriimuter-Jnf'mmp  einer  ^m">ssereü  Zahl 
Kinder.  Immer  und  ininier  wieder  die  Schule,  die  Schule,  Bonos'  Worte  über 
die  Volksschule  als  Mädchen  für  alles  sind  bissig,  aber  treffend. 

Han  sieht,  wie  relatiT  der  Begriff  der  Einetininrang  ist,  soweit  er  tob  der 
Person  des  Lehrers  abhängig  ist,  von  der  doeh  hauptsächlich  die  Einstinunoag 
der  Klasse  hergestellt  wird,  man  sieht,  wie  beide.  Kinder  und  Lehrer,  oft  in 
gleicher  Weise  von  dem  in  ihrer  stillen  Besinnung  gestört  werden,  was  mit  Lärm 
nnd  Wichtigkeit  in  die  Hube  der  Schularbeit  tritt. 

Gewiss  gibt  es  eine  besondere  Begabnng  für  das  Lehifaeh,  ein  Oottea- 
gnadentnm  in  der  Pildagogik ;  ee  gibt  geborene  fiehnlBieister,  die  die  Geister  nnd 
Seelen  der  Kinder  an  sich  fesseln,  die  alle  inneren  und  Süsseren  Hemmungen  über- 
winden mit  innerer  Sieghaftig^keit ,  unverwüstlich,  unerschöpflich  in  neuen 
Anregungen,  kleinen  Kunstgrifiten,  im  stets  iuteressiereudeu  Wechsel,  unverwüstlich 
in  lohender  Begeistemng.  Aber  diese  innere  Freudigkeit,  die  nidit  sterben  kann, 
die  daa  onsterbtiebe  Teil  der  echten  Fidagogen  bildet,  ist  ein  selten  Ont  Der 
pädagogische  Erfolg  ist  etwas  sehr  Relatives.  Wie  will  man  auf  so  schwanken 
Boden  di»'  ii»'ue  Lehre  gründen,  dass  aller  Unterriebt  sich  richten  mü^sp  nach 
der  Einstimmung  des  Lehrers  für  das  Fach,  für  die  Stunde?  Wie  will  man  noch 
eine  nene  Bedingtheit  an  hnndert  andere  anreihen?  Das  Mittel,  mit  dem  der 
Lehrer  aneb  ohne  Sondwbegabnng,  ohne  heroiMhe  GiOsse  trota  aUer  Hindernisse 
die  Einstimmung  der  Klasse  erzeugen  kann,  ist  noch  immer  jenes  starke  Pflicht» 
c»''iihl  das  den  Volksschullehrer  befähiti^-t  hat.  in  den  tnl^i'ten  Zeiten  .seine 
schwere  Arbeit  2U  tun;  die  subjektive  Stimmung  des  Lehrers  kann  nicht  den 
Haupttou  bekommen. 

Daians  ergibt  sich  für  alle  Frennde  der  innmi  ISnatinimang  inniehst  nur 
das  eine  mit  nnerbittlicher  Notwendigkeit:  der  entschlossene  Kampf  gegen  alle 
die  äusseren  und  inneren  Hemmnuffen.  welche  die  wahre  Unterrichtsarbeit 
schädigen.  Im  allgemeinen  gilt  sehr  noch  lirr  Sntz,  dass  die  Praxis  des  Lebens 
immer  wieder  von  Uberf erneu  Sterueuhoheu  aui  harten,  steinigen  Boden  zurttck- 
ftthrt.  Alle  Wttnaehe  darüber  hinaas  sind  blind  versehossene  Pfeile.  Die  subjekiTe 
Eigenwilligkeit  des  Lehrers  darf  nicht  den  Hauptton  bekommen.  Es  wird  gewisslieh 
auch  bei  gröPBcrer  Freiheit  im  Reiche  der  Schule  das  Lehrtum  eine  oft  dornen- 
volle Arbeit  bieten ;  ihr  bestes  Äquivalent  ist  jene  innere  Freude,  die  üna&hligen 


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Uber  die  Ifitera  des  LehrexMins  UmunfelMlfen  1»t,  imd  der  G6daaker  <^  gmde 

(Ur  die  Besten  die  DardueluiiUdAbenifbnDen  der  Welt  ein  Kartvriuin  LedeoAea, 
und  der  Gedanke,  dass  unsere  ganze  Arlieit  im  I»ieiiste  des  Kindes  st^-ht.  Das 
hehre,  heilige  Menschenleben  im  Kinde  achten  und  ehren  wir  als  eiu  Stdok 
Menscbheit8geiicbichte  und  Menschheitszukunft,  das  es  repräseutirt,  ein  ätück  deji 
eigeneii  Lebmu  im  letiten  Qnuide.  Dm  gibt  die  be«le  innere  BSnatinimmig  Ar 
den  Bernl  ttberbanpt»  dae  iet  dae  beste,  das  amterbliehe  Teil  dea  eebten  Lebten; 
jene  innere  Begeisterung:,  die  tröttlicbe  Fanken  aontreot^  an  denen  lieh 
Feuer  in  Einderheizen  eutzOnden. 


C«  Beurteilungen. 


K«  Hemprleh,  Winke  inrGrttndnngr 

und  Leitung  von  Jugendver- 
eiuigungen«  Osterwieck  a.  Hars, 
A.  W.  Ziokfeld  1906.  134  8. 

Der  Verf.  gibt  in  dem  Buche  edne 
in  18  Jahren  gesammelten  Erfahrnnii'en. 
Der  1.  Teil  zeic-t  zuerst  im  Äu^chluHä  au 
Mas.sow.  Haeseler,  Kerschensteiner  u.  a., 
dass  JugendvereiniiTungeu  nötig  sind. 
(Man  vgl.  Päd.  Stnd  i;)07,  2.  H.  den 
Auf^iatz  yon  Rektor  Hieronymus.)  Dann 
folgt  als  Hauptsache  die  Beselireibnng 
der  ,,Einrichtungen  zur  Fürsorge  für  die 
arbeitende  Jugend"',  wobei  wiederum 
die  veESchiedeuen  Formen  der  bereite 
Torhandenen  FQrsorge  neben  einander 
gehalten  werden.  So  wt^tdet  sich  IT. 
s.  B.  gegen  y.  Massuw,  insofern  dieser 
verlangt,  dam  die  ^Pflegschaften"  Ton 
Staat  -  \\  L'  i  Ti  ■  iiitrerichtet  werden  sollen, 
sondern  meint,  dass  sich  in  jeder  Ge- 
meinde die  nötigen  „Pfleger"  ohne 
gesetzliche  Anordnung  finden  würden. 
Vülie  peraöuliche  Hingabe  und  der  liebe- 
volle Zwang,  der  von  ihranageht,  wirkt 
hier  mehr  als  Verordnungen  r.nd  Vor- 
schriften, »Jigt  Verf.  mit  Kerscheuäteiner, 
aber  auch  ihm  selbst  ist  das  zur  Tat 
treibende  Wort  nicht  versagt.  Im 
2.  Teil  des  Buche«*  gibt  er  „einige 
Vorträge  und  Abschnitte  aus  solchen 
Büchern,  die  meinen  Jungen  in  den 
Abendnnt«rbaltungen  am  besten  ge- 
fielen". Hier  liiidet  also  jeder  angehende 
Leiter  eine  erprobte  Auawahl  des  besten 
Unterhaltnnga«  und  Belehmngastoffes; 
anch  dt-r  Hiinntr  und  die  Mmulart 
(Anhältische  Dorfjachichten  von  U. 


WiBchke)  fehlen   nieht;    den  Frer- 

burgischen  Zng  im  Buche  zeigt  be- 
sonders der  Vortrag  über  Ludwicr  Jahn. 

Leipzig.  Fr.  Franke. 


„Mein  Kind.'' Ein  Endebungsbudi 
Theodor  Tanl  Voigt.  Verlag  von 
Theod.  Thomas  in  Leipzig.  Preis 
broaebiert  3^  H.»  gebd.  430  IL 

Das  Intereaae  nn  der  Erziehung  ist 

gegenwiirtig  ausferord^^ntlich  gross  E* 
hat  sich  von  den  Berufspädagogen  auf 
Ärzte^  Künstler,  Juristen.  Sozialpolitiker 
und  Geeetsgeber  erstreckt.  Und  in  der 
Tat  tnt  es  not,  dass  mehr  als  bisher 
dafür  t^'esclielie,  dass  nnst^re  Kinder  .zum 
Heil  der  Welt  das  werden,  was  wir  g»> 
worden  nicht  und  haben  werden  wollea*. 
Und  der  Punkt,  an  dem  der  stärk^-te 
Hebel  eingesetzt  werden  moss,  ist  die 
Familie,  „das  Protoplasma  der  aodalen 
Verbände".  Aber  wozu  einer  Mutter, 
einem  Vater  noch  Belehrungen  Dber  das 
Geschäft  der  Erziehung  gehen Ist 
nicht  jedes  W^eib,  das  ein  Kind  geboren 
hat,  und  jeder  Mann,  der  seinen  Erst- 
geborenen aus  der  Wiege  hebt,  schon 
dadurch  zur  Erziehung  befShigt?  Nein. 
En  gibt  nun  bereits  eine  Reihe  recht 

gediegener  praktischer  Anleitongen  znr 
rziebung,  von  Salzmanns  bekannten 
Schriften  bis  auf  Ammous  „Mutter- 
pflichten'".  .\ber  keine  berück -ichtigt 
in  ao  ToxtceffUcher  Weise  das  nnmittel- 
baie  BedVrfiife  einea  jungen  Ehen- 
l  aare^.  wie  daa  oboi  genannte  Bneh 
von  Voigt. 


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—   397  — 


Der  Verfasser  steht  anscheinend  auf 
d«m  Boden  der  Herbartschen  Pädagogik : 

entnimmt  das  Ziel  iesrlicher  Er- 
ziehung der  Ethik  und  schöpft  aus  der 
Psychologie  die  Mittel,  es  zn  erreichen. 
mIui  mnM  im  wnxu  da«  geistige 
068  Menschen  schauen,  den  ich  aus 
meinem  iiinde  im  Laufe  der  nächsten 
zwanzig  Jahre  machen  will.*'  „Als  sitt- 
licher Charakter  zu  leben,  in  seinem 
Stande  glücklirb  zu  sein  und  in  seinem 
KrdM  niltzlü  li  /.u  werden,  ifJt  die  Be- 
stimmung des  Menschen,  ist  das  Ziel 
der  Auferziehung  unserer  Kinder."  „Ich 
muss  aber  auch  die  Bildsamkeit,  die 
Fähigkeiten  und  KrMfrp  der  kindlichen 
Seele  wenigsteus  einigennasseu  keuueu'. 
Das  Hauptmitte]  der  Regierung  ist  ihm 
Autorität  und  Liebe.  Der  Gottesbegriff 
Voigts  deekt  sich  mit  dem  Herbarts, 
indem  er  dertuirit  wird  als  der  , .reale 
Grand  aller  Weltwirkliohkeit."  Kxaz 
mi  gut,  wir  haben  hier  ein  Bneh,  dass 
nnrh  li'in^lii  }]•'  Erziehung'  in  der 
Jüetnkiuderstttbe  in  Herbartschem  Cieiate 
beeiniliiMen  will.  Ond  wie  echte  Uest 
es  sich,  wie  an^-^rhiTTÜch  lehrt  es.  "^vie 
herzlich  ermahnt  es,  mit  welch  freund- 
lichem Scherz  sagt  es  oft  seine  Wahr- 
heiten, nnd  über  allem,  welch  innige 
Liebe  zu  unsern  Kindern  durchweht  das 
ganze  Buch!  El  ist  eine  Erqnickiing 
aarin  zu  lesen. 

Nanmborg  a.  S. 

Friedrich  Blilthgen. 

DeutschesLesebuch,  bearbeitet  von 
einem  Vereine  praktischer  Schul- 
rntimer.  Ausgabe  A  [7  Teile].  Verlag 
Ten  Emil  Soth,  Oieaeen. 

D  i  f '  .\  T 1  r  i^guu  ge n  d  es  "We  i  ni a r < '  r  K  ti  nst- 
erziehuugätages  sind  auch  dem  Lese- 
baehe  zu  gut  gekommen:  wir  etehen 
im  Zeiclh^n  der  „Neubearbeitungen". 
Vorliegendt^  Lesebuch  ist  wohl  eine  der 
ersten  Schwalben,  <üe  den  Sommer 
glorreicher  Lesebuchfreuden  ankündigen 
—  leider,  um  es  gleich  vorwegznsagen, 
keine  Of^hle  Übermässiger  Befriedigung 
auslöitt  Nicht,  dass  die  vorliegende 
Neubearbeitung  keine  tüchtige,  der 
Anerkennung  werte  Leistung  sei!  Wenn 
indes  die  Verfasser  immer  wieder  (in 
den  Vorworten  zu  den  einzelnen  Schul- 

J'ahreu)  betonen,  dass  die  anerkannten 
rorderongen  der  modernen  Pädagogik 


ihr  Kriterium  gewesen,  so  müsste  man 
den  Pnlsschlag  derselben  doch  eigentlich 
etwas  kräftiger  versptlren.  Denn  fdr 
alle  Vorwürfe  gegen  das  bisherige  Le.se- 
bnoh  lässt  sidi  iu  den  7  Teilen  eine 
ttattliehe  FttUe  Ton  Beweieetelleii  bei- 
bringen: Platte  Reimereien  die  Menge, 
sehr  wenig  Humor,  zahlreiche  V^- 
frfthnngen,  eine  grosse  Zahl  nnkindlicfaer 
Erzählungen,  I  'f»eradierun^  zum  Realien- 
burhe  usw.  usw.  Konservative  Gesinnung 
ist  sicher  etwas  schönes,  aber  wie  in  der 
Politik,  so  kann  sie  auch  in  der  Pädago^k 
von  Übel  werden.  Man  trenne  sich 
doch  endlich  einmal  energisch  Ton  den 
ältesten  Ladeuhilleni  un(f  lasse,  z.  B., 
auch  in  der  Geschichte  eudüch  die 
Modernen  zum  Worte  kommen.  Wir 
haben  heute  Männer  genug,  die  die  Er> 
gebnisse  der  neueren  Forschung  in 
künstlerische  Form  zu  giessen  hervor- 
ragend befähigt  sind.  Vielleicht  eut- 
«eufessen  eich  die  Herren  VerfasBer, 
eiuzelue  Teile  geiegentlieh  noohmale 
umzuarbeiten. 

Leonhard,  Der  deutsche  Aufsatz  auf 
der  Mittelstufe.  Ans  der  Praxis  für 
die  Praxis.  \  erlag  von  Wilhelm 
Weicher.  Leijjzig.    M.  1.2ö.    72.  S. 

Ewald,  Wegweiser  zur  Krzielong 
eines     telbstSudij^en  deutschen 

Schllleraufsatzes.  \  erlag  von  Moritz 
Diesterweg.  Frankfurt  a.  M.  Geb 
H.  2,40.  109  8. 

B  e  i  f  f ,     Praktische  Koneteniehnng. 

Neue  Bahnen  im  Aufsatzunterrichce. 
Verlag  von  B.G.  Teubner,  Leipzig. 
Qek.  k  IfiO.  131  S. 

Du  Werkeben  Ton  Prof.  Dr.  Leon- 
hard ist  eine  'mf  atzmethodik  für 
Mittelsdiuleu,  s|>ezieU  für  die  Mittel- 
klassen deiedben,  aleo  für  Unter-, 
Oberterz  nnd  T^ntersekunda  Pie  Arbeit 
ist  um  deswillen  interessant,  weil  sie 
zeigt,  wie  ein  bemfener  Vertreter  eeiBei 
Faches  zur  modernen  Aufsatzbewegting 
steht.  Um  es  kurz  zu  sa^n:  zwie- 
spältig: mit  einem  Bein  in  der  alten, 
mit  dem  anderen  in  der  neuen  Bahn. 
[Er  erinnert  hierin  lebhaft  an  seinen 
Spezialkollegen,  Prof.  Dietz,  den  Re- 
ferenten über  den  ..Anfsats"  anf  dem 
2.  Kunsterziehungstage .  dessen  Dar- 
legungen ja,  wie  Lels aijiit,  teihs  eise  auf 
lebhanen  Widerspruch  stieasen.]  Und 


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—   39«  — 


das  ist  nidit  verwunderlich,  wenn  man 
bedeokt,  dass  Deatech  iluu  wesentlich 
KoDientrationsfAeh  iat  Ich  imif» 

es  mir  selbstredend  rersai^on.  m  ini 
Auflasauo^  euu^ebeud  su  begründen, 
will  aber  beiepiebwcJw  «vT  pair.  9  seiner 

Schrift  verweisen,  \^  n  » r  im  Becjfinn  des 
2.  Absrhnittes  die  selir  verständige  An- 
sicht vertritt,  dass  die  Unterstiäe  der 
If  ittelscbole  (Sexta  bis  Qnarta)  in  Bezug 
auf  den  Deutschunterricht  nichts  weiter 
■ei  als  die  Fortset  zun  fr  <ter  Unter- 
stufe der  Volksschule,  lö  Zeilen  weiter 
unten  aber  erklärt,  dass  öic  „nur  die 
Wiedergabe  von  Gelesenem  und  £r- 
liblt^m"  sich  zum  Ziele  setzen  und 
dam  man  „selbst  in  Quarta,  höchstens 
au  die  Diirstellun^,  keiue.sfallö  aber  an 
den  Inhalt  irgend  welchen  Anapruch  auf 
SdlMtindigkeit"  stellen  mid  dumr  „toh 
.seinen'  deutschen  Arbeiten  nur  im  be- 
schränktesten äinne  des  Wortett  *  reden 
ktaiie.  Ich  denke,  dus  genügt. 

Ewald  bietet  eine  ifc;:ute.  zusammen- 
fassende Arbeit,  die  alle  einschlägigen 
Fragen  in  den  Kreis  der  Betrachtwig 
zieht.  Man  kiiuu  ihn  etwa  als  ge- 
mässigten" Freiaufsatzler  ansprechen. 
Die  ,^ttngiten"  werden  «lio  vieles  an 
ihm  ansztisptzen  habpn .  manehe  ihn 
vielleicht  gar  als  rückständig  ablehnen. 
Ich  selbst,  wiewühl  durchaus  kein 
„Radikaler",  bin  gleichfalls  in  vielen 
Punkten  anderer  Meinung.  Der  Haupt- 
differenipQiikt  swischen  mu  dttifte  «ohl 


der  sein,  dass  Verf.  noch  immer  an 
üonzentrationsidee  klebt.  Ich  kann  nick 
faJerniebtin  eine  psycboIogiMhe  Koatro* 

verae  mit  \\uv.  f  iTila>-i;  n :  i].\>s  er  abt-.r 
jeden  ordnun^sgeuiäss  au  das  lund  beraa- 

gibrachten  Imterriehtastoff  als  ,,inner6i 
rlebnis"  ansieht,  ist  ein  schwerer  Irr- 
tum. Und  nur  solche  Stoffe  können 
Gegenstand  freier  Aufsätze  sein.  Dm 
alles  kann  mich  indes  nicht  hindern, 
das  Buch  namentlich  den  Jüngeren 
unter  uns  und  deuffii,  die  keinemümde 
wt.'itschichtiger  Werke  -^ind,  zu  sorg- 
samer Lektüre  dringend  zu  empfehlen. 
Alle  in  Frage  kommenden  Faktoren 
werden  reichen  Gewinn  haben,  wenn 
nach  des  Verf.  Intentionen  gearbeitet 
wird. 

Beüf  spricht  in  seinem  Werkch» 
Kiinichtt  mr  Theorie  dee  Aafiats- 

nnterrichtes  im  1  ;^w,ir  über  Theroen- 
auswahl,  Vorbereilnng  und  Korrektur 
und  gibt  eodaim  im  prakdeehes  Teile 
eine  .\nswahlsammhing  von  12.5  selb- 
ständigen Schüleraufsäuen.  Verf.,  der 
Mf  BioderiMtem  Staadpankte  eiehc, 
zeigt,  was  mit  unseren  Kindern 
leistet  werden  kann,  wenn  hinter  der 
Sache  eine  entsprechende  Pen>i>nlichkeit 
steht.  (Und  da  liegt  eben  1  •'■  >{  i<e  im 
Pfeffer!)  Das  Buch  sei  eindnug lidist 
der  Lektttve  nad  —  Kaehaehtang  eiDp> 
fohlen. 

EbexabachLS.  Dr. Fr. Schilling. 


Eingegrangene  Bttcher. 

(Besprechung  vorbehaUcn.) 

Oiakler,  Rudolf,  Morceaux  Choisis  poor  le«  £coles  de  Commeroc.    Lcipiig  1907, 

icubner.    Pr.  geb.  2,20  M. 
Nwwib  Theodor,  Lateinische  Salildire  flbr  Refornaiistalteik  Ldpcig  1907.  G.  Fi^tag. 

Pr   prh.  1,80  M. 

FisoH  and  Zieglers  Select  Extractä  from  Briiisb  and  American  Authon  in  Praic  aad 
Verse.  3.  Anfl.  ytm  Prof.  Dr.  Regel  und  Kzicte.  Halle  2907.  Gcmin. 
Pr.  geb.  4  M. 

TSgel,  Dr.  H.,  Der  konkrete  Hintergrund  zu  den  ijo  Kemsprttches  des  religidseii 

LcrnstüHis.    Drcsdrn  190S.    Blryl  &  Kacmraercr.    Pr.  geb.  2, So  M, 
Balir,  H.,  Erläuterungen  zu  den  biblischen  Geschichten  des  Alten  und  Neuen  TesUmcntcs. 

Leipzig  1908.  Tenbner.  Pr.  2  M. 
Rttkauf,  Or.  A.,  Erl&utcrunK<:n  rn  Reukanf-SduMKiks  «ciKB  biUisehcii  Wandbilden. 

Stuttgart.   Havlik.   Pr.  0,30  M. 


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~   399  — 


HTHOWky,         Hilfsbuch  für  dea  evangelischen  Religionsantenidlt.    I.  il.  3.  Teil. 

2.  Aufl.    Halle  1908.    Schroedel.    Pr.  2  M.,  2,50  M. 
Stein,  W.,  Or.  Martin  Luthers  kleiner  Katechismus.  Halle  1908.  Schroedel.  Pr.  1,50  M. 
Ders.,  Biblisclic  Clcschichten  des  neuen  Testaments.    Halle  1908.    Schroedel.    Pr.  i  M. 
ItalUIQ,  6.,  Präparationen  für  den  Katcchismusuntcrricht  auf  der  Mittelstnfie.    2.  Teil. 

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Ragwer,  Fr.,  Dr.  Martin  Luthers  kl.  Katcchismos  flir  den  Schnlimtciricht  erlftutert. 

Leipzig  1907.    Teubner.    Pr.  2,80  M. 
Leimbaoh,  K.  L,  Leitfaden  fttr  den  evangelischen  Relig^onsunterricbt  in  den  hiShienn 

Lchranstaltrn.    I.  Teil.   Ausg.  A.    5.  Aufl.  Nea  bearbeitet  TCn  B,  P.  Schmidt. 

Hannover  1908.  Mcycr.   Pr.  2,80  M. 
MuMW  FUke,   Einheitlidie  PrtpuiuioBeD  fUr  den  gesamten  Relig^oioiiDterrielit. 

II.  Bd.    8.  Aufl.    Halle  I908.    Schroedel.    Pr.  :,,yo  M. 
Schiele,  Fr.  M.,  ReligionsgeschichtUche  Volksbücher.   Modernismus,  von  Pr.  Dr.  K.  Holl. 

Tlttnofren  1908.   Hoiir.   Pr.  geb.  1  M. 
Schnitt,  f'hri  tr    Bekenntnis  eines  Gläubigen.    Rcrlin.    Schwaner.    Pr.  50  Pf 
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Heft  I— 12;  2.  Jahfgang,  Heft  1 — ^5.    Götütigeii.   Vaadenhoeck  &  Rnprecht. 

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I'r.  geb.  1,50  M. 

Bangt  Grundlinien  eines  religionsanterrtchtlicben  Neubaoes  auf  altem  Grunde.  Dresden 

1909.  Hohle.  Pr.  0,50  M. 
Ders.,  Zur  Reform  des  Religionsunterrichts.    Ebenda  1908.    Pr.  0,50  M. 
Antf  A.,  Welche  Mängel  zei^i^t  der  gegenwirtige  Religiontanterricht  mid  anf  welche 

Weise  ist  ihnen  m  beaegiu-n?   Thvsden  T908.   Bleyl  &  KaeiBinerer.  Pr,  i,3oM. 

Lentz.  K.,  Der  moderne  kt  ligion»-unternoht.  Magdeburjj  igoS.  Peters.  Pr,  2  M. 
Arendt,  F.,  Ein  Beitrag  zur  Reform  des  Religionsunterrichts  nebst  einem  ausführlichen 

Lehrphui.  Halle  1908.  Schroedel,  Ft.  0,70  M. 
Ltltner,  0.,  Die  religiöse  Bewegung  der  Ncaadt  und  die  Sehlde.    Leipzig  I909. 

GrackJauer.    Pr.  1,50  M. 
Aokelte,  Prof.  Dr.  Tb.,  Abri»  der  vergleichenden  Religionswisseniehafi.   Leipzig  1908. 

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Schmidt,   L,    Evüngclischc   Glaubens-    und  Sittenlehre.      Halle    I908.  Schroedel. 

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Thrildorf,  Prof.  Dr.  E.,  Reliptonsunterricht.    Bd.  4!  D;is  Leben  Jesu  und  der  l.  und 

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Steide  y  Or.  R.,  Der  Katechismusunterncht.     Pripaiationcn :    Das  2.  Haaptstflck. 

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Ders.,  HauptstUcke  ans  den  prophetischen  Schriften  des  alten  Testaments.    2.  Aufl. 

Dr.  sden  1908.    Bleyl  &  Kaemmerer.    Pr.  0,15  M. 
Burckhardt,  Prof.  Or.  R.,  Geschichte  der  Znnlopir.    Lcip;:iß  1907.    Göschen.  Pr.  80  Pf. 
Goldschniidt,  Dr.  R.,  Die  Tierwelt  des  Mikroskof  s    (Die   Urtiere).    Leipzig  1907. 

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Aheltdorff,  Dr.  med.  Georg,  Das  Aoge  de»  Menschen  und  seine  Genndheitspfl^. 

Ebenda.    Pr.  geb.  1,25  M. 
■Miller,  Gustav,    .Mikroskopisches  und    physiologiaehci  Ptektiknm   der  Botanik  Ar 

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Voges,  Dr.  Emet,  Der  Obatban.  EbeeMk  1906.  Pr.  geb.  1,25  M. 
WmvIus,  Prof.  Dr.  Pail*  Die  laadwirtachaftliche  Naturkunde.    GicMcn  1907.  Roth. 


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—    400  — 


Ziahtltes,  Dr.  Otto,  Dm  SüMWHser-Planktoii.    Ldpdg  1907.  Toibaer.  ft. 

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BÖrnsteio,  Prof.  ör.  R.,  Die  Lehre  von  der  Wärme.    Ebenda.    Pr.  gcb,  1,25  M. 
Brwtlirfg,  Dr.  H.,  Die  Explosivstofle.  Einfiihning  in  die  Chemie  der  ezpkmvwVaigiBge. 

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VelMUMr,  Prof.  Dr.  L  Kmet  Lehrbodi  der  Chemie.  3.  Aull.  Giessen  Roth. 

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des  Wirbdücrkörpers.    L.eipzig  1908.    W.  KJinkhardl.    Pr.  ^ch.  5,60  M. 
DreMter,  Prof.  Heinrich,   Die  Lehre  tob  der  Funktion.    Leipzig'  1908.   Dürr.  Pr. 

i^vh.  l  ,60  M. 

Unaer«  Or.  Fr iedriOll,  Gewerbliches  Rechnen.  Leipzig  1906.  Teubner.  Pr.  geh.  i.mM. 
nomkUll,  Der  Rechenunterridit  auf  der  Unteratufe.   Halle  1907.   Schroedd.   Pr.  3  M. 

Ahrens,  Or.  W.,  Mathomalischc  Spiele      Leipzif^  I907.     Teubner.     Pr.  geb.  1,25  M. 
Nioder,  6.,  Rechenbuch  filr  die  Oberklassc  der  höheren  Töchter-  bezv.  MiUelschnln 
und  besonders  ftr  Lehrerinnensemtnare.    Heft  7.     lüdle  1907.  SchroedeL 

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anstalten  und  Seminare.    I.Teil.  2,  Autl,   1 .1:    ijj  1907.  Teubner.    Pr.  geb.  1 .40  M. 
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EbirlHUrd,  0.,  Je  parle  fran^is.    ron%  crsations  et  lectures  finufaiaes  k  Ywmgt  des 

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Prtlle,  IL»  Le  Commer^ant  Hsmiorer  1908.  C.  Mqr«^.  Pr.  geb.  s  Bl 


Druck  too  A.  Bleu  A  Sohn  lo  Nauuibws  a.8. 


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A.  Abhandlungen. 

1 

Unsere  Schulfeste.') 

Von  Schuldirektor  L  Köhler  in  Laosa. 

Als  ich  den  Auftrag  erhielt,  einen  Vortrag  über  Schulfeste  zu 
halten,  da  war  mein  erster  Ged?inkc:  Du  sprichst  t^oL^^en  die  Schul- 
feste! Des  ungeteilten  Beitaiis  der  Lehrerschaft  wäre  ich  wohl 
sicher  gewesen;  hatte  doch  der  Berirkslehrerverein  Dresden-Land 
erst  im  vorangegangenen  Winter  folgenden  Beschluss  gefasst :  „Die 
Lehrerschaft  kann  den  Gemmden  die  Veranstaltung  von  Schulfesten 
oicbt  empfehlen." 

Damit  nun  erst  einmal  der  Saulus  in  mir  zu  seinem  Rechte 
gelangt,  will  ich  zunächst  auf  alle  die  Auswüchse  hinweisen,  die  uns 
Lehrern  das  Schulfest  so  unliebsam  machen.  Wir  lassen  solch  ein 
,,modemes"  Schulfest  an  unserm  Geiste  vorüberziehen. 

Der  Schulvorstand  beschliesst  ein  Schulfest.  (Trund :  Da  bleibt's 
Geld  hübsch  im  Dorfe.  Nun  werden  Beratungen  gepflogen  l.,  über 
das  Wann  2.  über  das  Wo ;  3.,  darüber,  wer  die  Würstchen  liefert 
Die  „Geldfrage"  behandelt  man  in  herkömmlicher  Weise:  Der 
Lehrer  sammle  in  der  Schule  ein,  oder  er  nehme  den  Kasten,  wie 
weil.  Tetzel.  Sicherlich  hat  mancher  Schulvorstand  gemeint,  mit 
diesen  Erörterungen  seiner  Schulfestpflicht  Genüge  geleistet  zu 
haben,  obwohl  es  nicht  wenig  Schulvorstände  gibt,  die  sich  mit 
einem  wahren  Feuereifer  ,4ns  Geschäft"  stürzen  und  sich's  zur  Ehre 
anrechnen,  den  Lehrer  unterstützen  zu  können. 

Einkassieren  Bittumgang!  —  ein  besonders  vergnügliches 
Geschäft.  —  inkaufen!  Der  Lehrer  versorgt  Sonnabend  nach- 
mittag unter  Assistenz  zweier  Schulvorstände  alles,  was  zu  eines 
Schulfestes  Nahrung  und  Notdurft  gehört,  als  Vögel  und  Armbruste, 
Geschenke  und  Spiele,  Pfefferkuchen  und  Schiessprämien.  Er 

*)  Vortrag,  gehalten  auf  der  Hauptkooferciu  des  Scholinspektioosbczirks  Dresden  IIL 
PIdagogiacbe  Studien.   XXX.   b.  86 


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schleppt  heim,  xahlt,  sortiert,  tauscht  um,  bessert  aus,  letmt,  holt 
Vergessenes  nach,  macht  Bestellungen  bei  Bäcker  und  Fleischer, 

engagiert  den  Herrn  Kapellmeister  und  rennt  von  Pontius  2x1 
Pilatus.  In  den  letzten  Tagen  vor  dem  Feste  wird  er  auch  „quali- 
luierter  Arbeiter"  und  durchläuft  in  wenig  Stunden  aiie  Rangstufen 
dieser  Spezies  vom  „gemeinen  Erdarbeiter"  bis  zum  „Herrn  Poliei^. 
Nebenbei  hält  er  vor-  und  nachmittags  Unterricht,  und  in  den 
Spätnachmittagsstunden  werden  auf  der  „Festwiese"  Spiele  geübt 
Die  I  ehrersfrau  aber  ist  des  Mannes  treue  Gehilfin.  Wie  einst  bei 
Erschahung  der  Welt  die  Voglern  alle  zum  lieben  Gott  geflogen 
kamen,  dass  er  ihnen  aus  seinem  grossen  Farbenkasten  mit  dem 
Pinsel  die  Federn  betupfe,  weiss  und  grün  und  rot  und  blau,  so 
fliegen  in  der  Lehrerwohnung  jetzt  täglich  kleine,  wilde  Finken 
zwitschernd  und  zwatschemd  ein  -  und  aus.  Schulmädchen  sind  s; 
die  Frau  Kantorin  soll  ihnen  das  weisse  Festkleid  mit  bunten 
Schärpen  schmücken.  Endlich  ist  der  herrliche  Tag  erschienen. 
Er  gehört  den  Kindem»  und  zwar  ganz.  Drum  geht*8  an  manchen 
Orten  schon  früh  um  6  Uhr  mit  Reveille  los.  Die  ersten  Knaben- 
klassen  marschieren  mit  Musik  durch  Dorf  oder  Stadt.  Und  dieweil 
der  Tag  einmal  angerissen,  statten  sie  sodann  im  Laufe  des  V^or- 
mittags  dem  Festplaue  eine  Anstandsvisite  ab,  um  da  die  Zimmer- 
arbeiten auf  ihre  Haltbarkeit  und  die  Bretter  auf  ihre  Festigleeit  hin 
zu  prüfen.  Feststimmen  1  man  hört  sie ;  Feststimmung  1  Du  spürst  sie, 
wenn  diese  Knaben  dmn  in  der  denkbar  günstigen  inneren  Ver« 
fassung  7.um  Festzuge  antreten. 

Der  Festzug  1  Die  Spitze:  ein  Herold  zu  Pferde;  dahinter: 
ein  Musikkorps  mit  Posaunen  und  Trompeten,  wenn*s  sein  kann 
Militärmusik ;  dann  die  Kinder  gross  und  klein,  auch  die  Sdiule  der 
Zukunft,  dreijährig  und  darunter;  dazwischen:  Gruppen  —  uni- 
formierte Knaben  und  Mädchen  in  Tirolertracht:  der  Glanzpunkt: 
der  Fest  wagen,  drauf  eine  Göttin.  Das  ganze  Dorf  hat  ein  Recht 
auf  den  F^zug;  darum  wird  auch  jeder  Winkd  ausgekehrt  Ganz 
draussen,  weitab  vom  Wege,  wohnt  der  reiche  X,  der  5  Mark  dazu- 
gegeben, da  müssen  wir  hin. 

Der  Festplatz  1  Gesamteindruck:  X^ogelwiese.  Einzelbilder: 
Karussell,  Luftschaukel,  Rutschbahn,  Bier-  und  Weinzelte,  Würfel- 
buden, Glücksrad,  Fisch-  und  W^ürstelbuden,  Sauergurfeentoiincn, 
Ausrufer,  Kleinkrämer,  die  mit  kletternden  Affen  und  Schnurrbärten 
der  Festfreude  aufhelfen  wollen  u.  dergl.  Da  leiert's  und  pfeift's, 
da  schmettert's  und  schnarrt's,  da  knallt's  und  schallt's,  da  klingt's 
und  singt's:  ,,F.in  Prosit  der  Gemütlichkeit!"  Ist  auch  die  Aus- 
stattung des  Festplatzes  nicht  allerorten  so  reichhaltig,  ein  Bierzelt, 
wo  man  nebenbei  auch  ein  kleines  Schnäpsehen  riskieren  kann, 
muss  doch  zum  mindesten  da  sein,  wie  soll  sonst  der  Wirt  bestehen? 
Und  die  Kinder:  In  quetschender  Enge  spielen  sie,  spielen  ohn* 
Unterlass,  reisen  hundertmal  nach  Jerusalem,  umkreisen  tausendmal 


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den  Carolasce,  wo  die  Fischlein  schwimmen  und  fragen  immer 
wieder,  ob  die  schwarze  Köchin  noch  da  ist.  Da  streiten  sich  die 
kleinen  Leut  beim  Vogelschiessen  herum ;  hier  werfen  Mädchen  den 
schweren,  eisernen  Stechvogcl  so  gewucbtig  nach  dem  bunten  Stern, 
als  stäken  nicht  schwache  Stäbchen,  sondern  Telegraphenstangen 
in  seinem  Korpis;  dort  dreht  sich,  bis  zum  Brechen  überladen,  das 
Karussell,  oder  es  lassen  «^irh  die  Kinder,  himmelhochjaurhzend, 
zum  Tode  betrübt,  auf  der  Schaukel  oder  Rutschbahn  die  Nerven 
kitzeln.  Von  der  Kaffeekanne  und  dem  Kuchenteller  geht's  zum 
flottfliessenden  Bier&ss,  und  auf  die  Würstchen  mit  Semmel  stopft 
die  sorgende  Mutter  oder  die  kinderliebe  Tante  Pfefferkuchen  und 
Sauergurken.  Und  so  sich  noch  ein  Löchlein  zeigt  im  Magen,  das 
wird  verfüllt  mit  Zuckerzeug,  das  beim  Spiel  in  ungeahnten  Mengen 
verteilt  wird.  Endlich  —  alles  hat  sein  Ende,  auch  das  Schulfest. 
Doch  halt!  Die  Hauptsache  fehlt  noch:  Lampionzug  durchs  ganze 
Dorf,  auch  durch  den  Rittergutshof,  wenn  auch  die  gnädigste  Herr- 
schaft nicht  da  ist;  olili^ates  Feuerwerk;  Böllerschüsse;  eine 
bengalische  Flamme;  für  die  Erwachsenen  im  Gasthof  ein  Tän/.chen, 
damit  sich  die  Kinder  möglichst  lange  auf  der  Strasse  herumdrücken 
können;  Vater  und  Mutter  sind  ja  auch  oben.  Endlich  -~  Schlussl 
Wirklich?  Dort  flackert's  und  dortl  Bei  der  Lampe  Dämmerschein 
geht's  nicht  etwa  ins  Kämmerlein,  nein,  jetzt  feiert  erst  der  Neid 
sein  Ifest.  Am  andern  Morgen  aber  erzählen  die  matten  Augen  von 
der  Übermüdung  und  die  bleichen  Wangen  von  der  Überfütterung. 
Und  das  war  ein  Kinderfest,  von  der  Schule  veranstaltet!  Damit 
sei  nicht  gesagt,  dass  alle  Schulfeste  aufe  Haar  diesem  einen  glidien, 
bewahre !  Aber  soviel  ist  sicher,  sie  dnd  alle  auf  denselben  Ton 
gestimmt,  und  der  ist  verstimmt.    Drum  meine  ich: 

Gegen  Schulfeste,  wie  sie  bisher  üblich  waren, 
bestehen  erhebliche  Bedenken. 

Als  ich  aber  so  die  Anklageschrift  verfertigte  und  Punkt  an 
Punkt  reihte,  da  ward  mir's  auf  einmal  recht  wunderlich  zu  Mute. 
Ich  träumte  :\h  Kind  mich  zurück  in  meine  Schulzeit.  Da  lag  sie 
wieder  vor  mir  im  Frühlingssonncnglanze.  Wars  nur  der  Schein 
der  Abendsonne,  der  sie  umgoldete?  Nein,  der  wärmt  nicht.  Ich 
aber  fühlte  deutlich  die  wonnige  Wärme,  als  an  meinem  Geiste 
vorüberzog  Bild  um  Bild:  die  freien  Jahrmarktstage  mit  ihrem 
Tand  und  F"litter;  der  Geburtstag  unsers  lieben  alten  Kantors,  da 
dieser,  freundlich  lächelnd,  vor  dem  geputzten  und  mit  Schätzen 
breit  beladencn  Katheder  stand;  der  alte  Bergmann  nüt  seinem 
„ganz  richtigen"  Bergwerke  und  seinem  freundlidien  Grusse:  „Und 
nun  wünsche  ich  auch  diesen  Kindern  ein  fröhliches  Glückauf^ 
womit  sich  die  Bergleute  einander  mit  diesem  Grusse  begrüssen"; 
der  Mann  mit  der  Riesenschlange  und  der  mit  dem  stinkigen  Gase, 
und  alle  die  andern  fahrenden  Lehrer  mit  den  von  unsern  gewärmten 
Pfennigen  vollgefüllten  Händen;  der  Schulgarten,  da  wir  in  der  Lese- 
SS* 


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—    404  — 


stunde  auch  einmal  die  geschüttelten  Birnen  und  Pflaumen  auflesen 
und  während  der  Rechenstunde  das  Laub  unter  den  hohen  Baumen 
rechen  durften.  Ich  hörte  wieder  das  Alarmsignal  meines  am 
Fenster  sitzenden  Freundes  N.:  „Herr  Lehrer,  die  Bienen  schwärmen  1" 
Natürlich  schwärmten  auch  wir  sofort  unserm  Wdscl  ins  Frne  oadL 
Und  dann!  Noch  weiss  ich  den  Ort,  da  ich,  achtjährig,  beim 
Schulfest  eine  Wurst  bekam.  Die  war  mein?  Wirklich  ganz  allein 
mein?  Ich  brauchte  sie  nicht  mit  meinen  beiden  Schwestern  zu 
teilen?  — 

Als  ich  diesen  £rimierungen  so  nachhing,  da  woUte  mir's 
scheinen,  als  ob  das  Schulleben  unsrer  Kinder  nicht  mehr  so  farben- 
reich, so  poesievoll  wäre.    Nicht,  dass  ich  jene  „alte,  gute  Zeit" 

zurückwünschte,  das  sei  ferne  I   Aber  was  dem  Bauer  Unkraut  deucht 
Kornblumen,  Mohn  und  Raden,  d«^  ist  dem  Kinde  Fracht,  iis 
fragt  sich  nun:  Darf  man  auch  das  Schuifcst  zum  Unkraut  rechnen, 
dass  man  es  verbrenne?    Ich  wollte  es  tun  und  konnte  es  nt^t 
Ich  k  im  mir  vor  wie  einer,   der  seine  Hand  drohend  erhebt,  eine 
fröhliche  Kinderschar  aus  einem  blumenreichen  Garten  zu  vertreiben, 
den  eine  gütige  Fee  ihr  geöffnet.    Ich  sah  die  hellen  Kinderaugen 
verlangend  auf  die  schimmerde  Pracht  gerichtet,  und  ich  dadite 
dabei  an  das  ewij^e  Einerlei  der  Schule.    Ich  spürte  die  zarten 
Keime   des  kindhchen  Seelenlebens,  und  ich  fühlte,  wie  ihrer  80 
viele  im  Treibhaus  der  Schule   dahinwelken.    Ich  sah  vor  mir  die 
gefalteten  Kinderhände  und  die  in  Andachtsfalten  gelegten  kindUcheo 
Gesichter,  und  es  wollte  mir  schier  grausam  erscheinen,  dass  der 
Lehrer  Tag  für  Tag  manche  lange  Munde  den  kleinen  Schalk  in 
die  Augenwinkel  und  in  die  Finger^itsen  verbannt.   Ich  wollte 
mein  Herz  stille  machen  und  sagte  zu  mir:  Unser  heutiger  Unter- 
richt ist  viel  lebendiger,  abwechselun^reicher;  Pausen  zwischen  den 
Unterrichtsstunden  dienen  dem  Kinde  zur  Erholung^  in  den  Turn- 
stunden richten  sich  die  gekrümmten  Rücken  wieder  gerade,  und 
die  Glieder  strecken  sich.    Bald  führen  wir  die  Kinder  auf  Schul- 
spaziergängen in  Jen  Tempel  der  \ntitr    und   dann  wieder  ver- 
wandeln wir  die  Schulstube  in  einen  1  enipel  der  Kunst.    Aber  i'^t  s 
nicht  so?    Auch  den  Schulspaziergängen  haftet  der  SchulsLaub  an, 
und  auch  die  Scbulauffuhningen  riedien  nach  Schulluft  Immer 
gehen  wir  mit  unsem  Kindern  den  Weg  der  Mühen»  ob  wir  sie 
auch   mit  Menschen-   und   mit  Engelzungen  hinter  uns  herlocken; 
die  Schulwände  trr\,'en  jahraus,  jahrein  dasselbe  Grau,  wenn  wir 
auch  einige  der  kahlen  Stellen  mit  bunten  BUdera  schmücken  i  die 
Schulbänke  drücken  eben,  gleichgültig,  ob  sie  aus  Lickroths  weit- 
bekannter  Fabrik  hervorgegangen,  oder  ob  des  Dorfes  schlichter 
Meister  sie  gezimmert,  und  Schulstunden  bleiben  Schulstunden,  auch 
wenn  der  Schulkalendermacher  die  Ermüdungsmoleküle  der  ver- 
schiedenen Unterrichtsfächer  auts  sorgfältigste  auszählt. 

Ums  Schulfest  aber  schlingt  sich  beim  Kinde  ein  eigner  Zauber, 


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—  405  — 


Wir  Alten  sehen  ihn  freilich  nicht,  föhlen  ihn  kaum;  aber  er  ist  dal 

Worin  er  besteht?  Vielleicht  darin,  dass  das  Kind  mit  seinem  Feste 
plötzlich  in  den  Mittelpunkt  des  Familienlebens  rückt;  dass  es,  ein 
König  Wichtel,  schön  geschmückt  und  fein  f^oput/t  wird.  Sieh  nur, 
^e  es  aus  dem  Hoftor  tritt,  die  Strasse  hinaut  zum  Schulhof 
schreitet,  in  g:leichem  Schritt  und  Tritt  im  Festzug  marschiert,  die 
Fahne  schwenkt  oder  erhobenen  Haupts  das  Rianzchen  trägtl 
Ihm  zu  Ehren  hat  der  Ort  ein  Feierkleid  angdegt;  man  föhrt's  von 
Freude  zu  Freude.  Die  angesehensten  Männer  und  Frauen  der 
Gemeinde  reichen  ihm  Speis  und  Trank.  Reizende  Mädchen,  feen- 
gleich, nehmen  es  an  die  Hand  und  singen  und  tanzen  mit  ihm  den 
Ringelreihn.  Das  Ideine  Mädchen  ist  Grasprinzessin  geworden,  und 
der  Junge  glaubt  ans  Schlaraffenland ,  und  bisher  hatten  beide 
gemeint,  das  stünde  alles  nur  im  Leisebuche.  Wir  merken  die 
Märchenpracht  nicht. 

So  mancher  Griesgram  denkt  beim  Schulfeste  nur  an  das  viele 
Geld,  das  dabei  verpulvert  wird.  Er  freut  sich  nicht  an  der  Farben- 
pracht des  Festzugs,  sondern  ärgert  sich  über  jede  Lücke,  die  die 
Kleinen  lassen;  er  sieht  nicht  die  strahlenden,  sondern  nur  die  er- 
hitzten Gesichter  der  Spielenden.  Es  ist  so  wie  mit  dem  Walde: 
Dem  tiefen,  kindlichen  Gcmut  erscheint  er  cm  Dom,  so  IcirchenstiU, 
mit  himmelanstrebenden  Säulen;  der  Holzhändler,  der  ihn  durdi- 
schreitet,  berechnet  im  stillen  den  Gewinn,  den  er  abwerfen  könnte 
und  ärgert  sich  über  den  Rpheu,  der  sich  am  Baume  hinaufrankt» 
weil  er  mit  von  dessen  .Safte  zehrt. 

Weihnachtszauber  im  Hause,  Schulfestzaubcr  in  der  Schuld 
Wie  bald,  ach,  wie  bald  schwindet  das  Kindermärchenglückl 
Tausende  unsrer  Kinder  werden  nach  der  Schulzeit  ins  harte  Joch 
der  Arbeit  gespannt,  und  erst,  wenn  der  Tod  die  gekrümmten 
Finger  streckt,  lässt  die  harte,  schwielige  Hand  das  Werkzeug  fallen. 
Wie  wenige  von  ihnen  finden  im  Leben  dann  noch  solch'  reine 
Freude,  wahres  Glück!  Nur  in  der  Erinnerung  lebt  es  fort;  es 
blinkt  als  freundliches  Stemlein  auf  den  Lebenspfad  und  fangt  wieder 
an  aufzuleuchten,  wenn  dann  das  eigne  Kind  in  den  Lichtkreis 
tritt.  Wir  Lehrer  wollen,  dürfen  sie  unsern  Kindern  nicht  rauben, 
diese  kindliche  Poesie  der  Schulzeit. 

Aber  auch  um  der  Eltern  willen  möchte  ich  fest  am  Schulfest 
halten.  Wohl  fordert  solch  ein  Fest  Opfer;  aber  man  bringt  sie 
freudigen  Herzens.  Niemand  empfindet  sie  als  druckende  Last.  In 
den  besser  gestellten  Fnmilien  sind  nicht  nur  die  Ausgaben  für 
Essen  und  Trinken,  sondern  auch  die  für  Kleider  und  Schuh  mit 
in  den  Voranschlag  des  Haushaltpianes  aufgenommen.  In  armen 
Familien,  namentUdi  dort,  wo  der  Herr  des  Hauses  seinen  Verdienst 
fast  ausschliesslich  seiner  werten  Person  zugute  kommen  lässt,  gelingt 
es  bei  Gelegenheit  eines  Schulfestes,  endhch  einmal,  der  armen 
Mutter,  dem  Alten  Geld  zu  entlocken  zu  einem  Kleidchen  ilirs 


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—  406  — 

Töchterchen  oder  zu  einem  Anzüge  iiir  den  Buben;  denn  für  einen 
Lump  sollen  ihn  die  Leute  nicht  halten.  Wo  aber  wirkliche  Armut 
wohnt,  da  steht  für  die  Wohltätigkeit  Tor  und  Tür  offen.  An 
freundlichen  Geberinnen  hat's  mir  nie  gemangelt.  Manches  Kleidchen, 
manches  Höschen  ruht  in  der  Truhe  wohlverwahrt,  es  harrt  auf 
seinen  Ostertag,  rufe  nur:  „Jochen  heraus Sprichst  du  dann,  lieber 
Freund,  zur  gutmütigen  Spenderin  ein  anerkeno^des  Wort,  dann 
darfst  du  das  nächste  Mal  getrost  wiederkommen,  und  —  pass 
auf!  —  sie  gibt  zum  Rock  noch  den  Mantel.  Es  ist  mir  immer 
eine  grosse  Freude  gewesen,  wenn  so  das  Volk  seine  Opfer  brachte. 

Wohl  weiss  ich,  dass  bisweilen  weidlich  geschimpft  wird,  wenn 
es  sich  um  Ausgaben  fiir  Schulbücher,  Schulgeld,  Schulanlagen 
handelt;  aber  das  glaubt  doch  wohl  niemand,  dass  das  Raisonnieren 
aufhört,  wenn  die  .Schulfeste  aufhören.  Vielleicht  wäre  das  GegenteÜ 
nicht  ganz  unmöglich.  Ich  meine,  wenn  wir  den  Eitern  und  den 
Gemeindegliedern  bei  einem  Schulfeste  Gelegenheit  geben,  einen 
Blick  durchs  Schulfenster  zu  tun,  das  könnte  manchen  Widersacher 
vielleicht  willfahrig  machen.  Man  wird  mir  entgegnen:  Dazu  sind 
die  Schulprüfungen  da.  Antwort:  Die  sollen  ja  wegfallen.  Wir 
haben  Schulspaziergänge  1  Antwort:  Ja,  aber  die  Eltern  will  man 
nicht  dabei  haben.  Scbulaufifuhrungen ,  Schulfeiern  werden  ver- 
anstaltet! Antwort:  Da  genügt  selten  der  Raum  fUr  eine  allgemeine 
Teilnahme.  Zum  Schulfeste  können  alle  kommen,  da  können  alle 
teilnehmen,  können  ganz  nahe  dabeistehen,  können  sich  mit  den 
Kindern  und  über  die  Kinder  freuen.  Gönnen  wir  doch  den  Eltern 
diese  Freude  1  Manche  Mutter  dürstet  förmhcii  nach  einem  Tropfen 
Freude.  Das  Alltags*  und  Schulleben  des  Kindes  bringt  nldit  immer 
leuchtende  Sonnenrosen,  wohl  aber  oft  Nesseln  und  Distdn  hervor. 
Bald  hat  das  Mädchen  im  Hause  etv/ns  versäumet,  verwahrloset 
oder  Schaden  getan  und  dann  wieder  gibt  eine  ungeratene  Zensur 
des  Sohnes  dem  Vater  Anlass  zu  schrecklichen  Zukunltsbildcm. 
Am  Schulfesttage  herrscht  endlich  einmal  reine,  ungetrübte  Freude. 
Wenn  das  Kind  im  Feststaate  vor  seiner  Mutter  steht,  wenn  ihr 
kritisches  .^uge  zum  letzten  Male  die  kleine  Gestalt  mustert,  vom 
und  hinten,  oben  und  unten,  wenn  ihre  arbeitsrauhe  Hand  die  letzte 
Falte  glättet,  wenn  sie  dann  ihr  Kind  im  Festzuge  gefunden,  wenn's 
dann  gelaufen  kommt:  Mutter,  hast  du  mich  geselm?  —  wer  denkt 
dann  noch  an  Arbeit,  an  Opfer,  an  Fehler? 

Am  Schulfeste  empfindet  es  auch  die  kinderreiche  Mutter  einmal 
als  ein  Glück,  dass  sie  mit  Kindern  gesegnet  ist  und  findet  in  dieser 
bescheidenen  Freude  reichen  Ersatz  für  all  die  schweren  Mühen, 
mancherlei  Entbehrungen  und  langen  Sorgen.  — 

Ich  wende  mich  an  die  Amtsgenossen,  die  Weib  und  Kind 
haben.  Fraget  eure  Frauen,  die  Mütter  eurer  Kinder,  ob  sie  für 
oder  gegen  das  Schulfest  stimmen  1  Was  gilt's?  Ich  errate  die 
Antwort  1 


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407  — 


Wer  aber  den  Bitten  der  Kinder  und  Eltern  sein  Ohr  ver- 
schliesst,  der  bedenke,  ob  er  als  Lehrer  nicht  selbst  Interesse  an 

der  Beibehaltung  der  Schulfeste  haben  müsste. 

Die  Diener  der  Kirche  müssen  manchmal  den  Vorwurf  hören, 
dass  sie  sich  alhuviel  hinter  ihre  Kirchenmauem  versteckt  und 
damit  die  EntkirchUchungr  eines  Teiles  unseres  Volkes  mit  ver- 
schuldet hätten.  Hier  sind  wir  Lehrer  einmal  besser  dran.  Sich 
der  Schulpflicht  zu  entziehen,  hat  das  Gesetz  unmöglich  gemacht. 
Aber  es  ist  wohl  möglich,  dass  das  Interesse,  das  man  unserer 
Arbeit  erfreulicherweise  entgegenbringt,  wieder  erlöschen  könnte, 
noch  ehe  es  ein  allgemeines  Feuer  geworden,  wenn  wir  uns  selbst 
und  unsre  Arbeit  den  Augen  der  Menge  tmmermehr  entziehen. 

Nodi  liest  das  „bessere  Volk"  mit  Wohlbehagen,  wenn  W.  von 
Polenz  in  seinem  „Pfarrer  von  Breitendorf  am  Hilfslehrer  als  das 
einzig  Glänzende  seinen  glänzenden  Rock  hervorhebt  und  den  alten 

Kantor  als  ein  vers  Genie  zeichnet    Noch  sind  die  Leute 

nicht  ausgestorben,  die  sich  den  Lehrer  nicht  anders  denken  können, 
als  mit  dem  Bakel  in  der  Hand;  denen  es  als  höchstes  Mass  von 
1  chrerfreundlichkeit  gilt,  wenn  sie  ihn  als  notwendiges  Übel  in  der 
Gemeinde  dulden;  die  es  als  eine  Gnade  ihrerseits  erachten,  wenn 
sie  die  Kinder  zu  ihm  in  die  Schule  schicken;  die  ihm  ein  Recht 
auf  Kindererziehung  nur  dann  einräumen,  wenn  er  als  Retter  in  der 
Not  gegen  fremde  böse  Buben  gebraucht  wird;  die  seine  Arbeit 
gering  achten,  dem  entsprechend  gelolint  wissen  wollen  oder  ihn 
um  den  verdienten  Lohn  beneiden. 

Liebe  Amtsgenossen'  Unsere  Würde  ist  in  unsere  Hand 
gegeben,  bewahren,  heben  wir  sie!  Nicht  Sturm  und  Wetter  zwingen 
den  Wanderer,  den  Mantel  abzulegen,  die  milden,  warmen  Sonnen- 
strahlen aber  vermögen  es.  Lasst  uns  die  Welt  bezwingen,  indem 
wir  die  Kinder  gewinnen  durch  den  Sonnenschein  der  Liebe  und 
der  Freude !  Das  alte,  dicke  Fell  des  Vorurteils  und  der  Gleich- 
gültigkeit gegen  die  Volksschule  und  ihre  Lehrer  muss  doch  endlich 
einmal  löchrig  werden,  wenn  die  Leute  sehen,  wie  der  Lehrer  mit 
den  Kindern  umgeht,  wie  er  sie  achtet,  wie  er  Leib  und  Seele  vor 
Argem  zu  bewahren  sucht,  wie  er  mit  ihnen  singt  und  spidt  und 
nidit  müde  wird,  ihnen  reine  Freude  und  edlen  Genuss  zu  bereiten. 

Das  war  der  Gedankenstrom,  der  mir  entgegen  flutete, 
als  ich  an  der  Spitze  der  Schulfestgegner  ins  I^'eld  ziehen  wollte. 
Tu's  nicht!  riefs  aus  der  Kindesseele  mir  zu,  du  raubst  dem  Schul- 
leben ein  gut  Teil  kindlicher  Poesie.  Tu's  nicht  1  riefen  die  Eltern, 
du  ninnmast  uns  eine  Gelegenheit,  fröhlichen  Herzens  Opfer  fiir  unsre 
Kinder  zu  bringen  und  uns  mit  denselben  zu  freuen.  Tu's  nicht! 
du  verscherzest  der  Lehrerschaft  eine  feine  Gelegenheit,  Schule  und 
Elternhaus  einander  näher  zu  rücken  und  den  Leherstand  zu  heben, 
so  riefs  in  meiner  eignen  Brust 


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Wie  kann  aber  iemand  für  eine  Sache  eintreten,  die  er  eben 
erst  verworfen?  Wenn  dem  Gärtner  in  seiner  Anlage  ein  Wildling 
wächst,  da  kommt  ihm  wohl  der  Gedanke:  Haue  ihn  ab,  was 
hindert  er  das  Land!  Er  besinnt  sich  aber  eines  anderen,  rammt 
Sage  und  Messer,  schneidet  die  wilden  Triebe,  Dornen  und  Knorren 
ab  und  pfropft  ein  Edelreis  auf  das  Stämmchen.  So  wird  der  Un- 
nütz zum  Segenspender.  Versuchen  wir  auch  einmal  am  Wildling 
Schulfest  unsere  Kunst!  Nicht  ausreissen  aus  dem  Schulacker  wollen 
wir's,  sondern  den  ^Iden  Wuchs  entfernen  und  ihm  ein  Edelreis 
aufsetzen»  vom  Baume  der  Pädagogik  gebrochen.  Nicht  be- 
seitigen wollen  wir  die  Schulfeste,  sondern  sie  nach 
erzieherischen  Grundsätzen  umgestalten. 

W*  ie  geschieht  das  ?  Bisher  ist  es  wohl  in  den  meisten  Schulen 
Brauch  gewesen,  alljährlich  entweder  ein  Schuifest  oder  einen 
grösseren  Schulqiaziergang  zu  verafutakoi.  Schuifest  und  Scbid- 
Spaziergang  galten  als  gleichartig,  gleichwertig,  weil  eben  beide  die 
Sommervergnügen  für  die  Schullunder  ausmachten.  Dagegen  müssen 
wir  Lehrer  zuerst  Verwahrung  einlegen.  Schulfeste  können  niemals 
die  Schulspaziergänge  ersetzen;  denn  diese  dienen  an  erster  Steile 
der  Belehrung,  weil  sie  die  vorzüglichste  Gelegenheit  bieten,  den 
Anschauungskreis  des  Kindes  zu  erweitem.  Die  Zahl  der  Schul- 
spaziergänge darf  unter  keinen  Umständen  durch  ein  Schulfest 
Einbusse  erleiden.  Aber  anrh  dis  Schulfest  darf  nicht  degradiert 
werden  zum  gewöhnlichem  Sommervergnügen ;  denn  dann  unter- 
scheidet sichs  in  nichts  von  den  Kinderfesten,  die  bei  Gelegenlieit 
der  Vereinssommerfeste  abgehalten  werden.  An  derartigen  Festen 
ist  aber  leider  in  unsrer  vereinsreichen  Zeit  kein  Mangel  Kaum 
hat  ein  Verein  den  Platz  geräumt,  da  baut  schon  wieder  ein  anderer 
seine  Zeltstadt  auf.  Jeder  Vereinsvorstand  setzt  seine  Ehre  darein, 
während  seiner  Regierungszeit  Mehrer  des  Vereins  zu  sein.  Sommer- 
feste, verbunden  mit  Kinderfesten,  sind  em  bewährter  Köder  für 
den  Mitgliederfang;  ausserdem  füllen  sie  die  Vereinskasse.  Ich 
befürchte  nun,  dass,  feiert  die  Schule  keine  Kinderfeste  mehr,  die 
Vereine  um  so  eifriger  dem  allgemeinen  Bedürfnis  unsers  Volkes 
nach  Festen  Genüge  tun  werden.  Wollen,  oder  vielmehr,  dürfen 
wir  die  Kinderfeste  den  Vereinen  ausUefem?  Niemals  1  Unser 
Streben  müsste  vidmdir  dahin  gehen,  die  zuständigen  Behörden  tu 
veranlassen,  die  Beteiligung  von  Kindern  an  Vereinssommerfesten 
möglichst  einzuschränken,  bez.  Unterlagen  zu  verschaffen,  die  ein 
etwaiges  Verbot  rechtfertigten.  ^)  Denn  was  unsere  Kinder  bei 
derartigen  Festen  zu  hören,  zu  sehen,  zu  geniessen  bekommen,  ist 
meist  nicht  fOr  Kinder.  Welch  schidlichen  Einflfissen  sie  ausgesetzt 
gewesen  sind,  das  hat  wohl  jeder  Lehrer  mehr  als  zur  Gren^^e  er- 


Der  „Dresdner  Anzeiger"  brachte  in  No.  183  (4.  Juli  1908)  einen  kurzen,  aber 
tehr  behenngeiigwerten  di«sbetllgticlteD  Artikd. 


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—   409  — 


fahren  müssen,  wenn  der  liebe  Montag  die  Kinder  wieder  brachte. 

Von  Frische,  wie  man  sie  nach  der  langen  Sonntagspause  erwarten 
müsste,  keine  Spur:  Schwere  Köpfe,  trübe  Augen,  blasse  Waiden, 
und  der  Geist  c^anz  befangen! 

Kinderfeste,  von  Unberufenen  veranstaltet,  können  also  leicht 
unheilbringend  wirken;  darum  wollen  wir  Lehrer  sie  nicht  aus  den 
Händen  geben,  vielleicht,  dass  sie  dann  segenbringend  werden. 

Natürlich  dürfen  unsere  Schulfeste  ntir  weni^^  gemein  haben 
mit  jenen.  Nicht  blosse  Vergnügen,  sondern  Feste  müssen  die 
Schulfeste  sein,  Feste,  darüber  eine  feierliche  Weihe  liegL  Für 
jedes  Schulfest  muss  somit  ein  konkreter  Hintergrund  vorhanden 
sein,  der  ihm  Bedeutung  und  Wert,  Richtung  und  Ziel  gibt,  und 
wonach  sich  seine  Vorbereitung  regelt  und  sein  Verlauf.  Darum 
sollen  sich  die  Schulfeste  an  bedeutsame  vaterländi- 
sche oder  heimatliche  Gedenktage  oder  Feste  an- 
schliessen. 

An  solchen  fehlt  es  nicht.  Uns  ist  ein  weites  Feld  zugemessen, 
darauf  wir  unsre  Feststadt  bauen  können.  Die  oberste  Schul- 
behörde hat  verordnet,  dass  die  vaterländischen  Gedenktage  auch 
in  der  Volksschule  zu  feiern  sind.  Wie  geschieht  das?  Ich  denke 
zunächst  ans  Sedanfest.  In  der  Schule  findet  ein  Aktus  statt. 
Schulvorstande,  Eltern  und  Freunde  der  Schule  sind  dazu  ein> 
geladen.  Ein  Gluck,  dass  wenig  Gebrauch  von  der  Einladung  ge- 
macht wird;  denn  im  „Fcsf^immer  sitzen  die  Kinder  „fest", 
geschichtet  wie  die  Heringe.  Steht  eine  Aula  oder  Turnhalle  zur 
Verfügung,  dann  sind  zwar  mildernde  Umstände  vorhanden,  viel 
besser  ist's  aber  auch  nicht  Nach  dem  Aktus  fiel  früher  in 
allen  Schulen  der  Unterricht  aus.  So  wurde  der  Sedantag  wenigstens 
ein  Festtag  für  die  Kinder.  In  allen  Städten  und  gröp.^crrn  Orten 
ist  er's  heute  noch;  er  ist's  nicht  mehr  auf  vielen  Dorfern.  Nun 
soll  zwar  in  der  ersten  Unterrichtsstunde  des  2.  September  auf  die 
Bedeutung  des  Tages  hingewiesen  werden;  aber  wo  geschieht's, 
uod  wie  geschieht's,  und  wo  bleibt  die  Weihe?  Wer  das  Rauschen 
jener  einziggrossen  Zeit  mit  vernommen,  dem  muss  die  Nicht- 
beachtung des  Sedantages  bitter  wehe  tun.  Wir  rufen  unsem 
Kindern  zu:  „Vergiss  die  treuen  Toten  nicht!"  und  d^bei  streichen 
wir  den  Ruhmestag,  den  sie  geschaffen.  Wir  wollen  am  Sedantag 
ein  Schulfest  feiern  mit  unsem  Kindern  t  Wird  ein  solches  SchuT 
fest  zu  einem  Volksfeste,  so  wollen  wir  Volksschullehrer  gar  nicht 
böse  darüber  sein,  sondern  uns  dessen  freuen.  Es  ist  unsere  Pflicht 
und  unser  Recht,  auch  das  Volk  mit  zu  erziehen.  Da  dürfen  und 
wollen  wir  andern  Ständen  nicht  nachstehen,  nein,  wir  müssen  an 
der  Front  marschieren,  unbekümmert  darum,  ob  unsere  Kultur* 
arbeit  auf  Trompeten  und  Posaunen  ausgeblasen  wird  oder  nicht 

In  wenig  Jahren  vollendet  sich  ein  Jahrhundert  seit  Her  \'o!ker- 
schlacht  bei  Leipzig.  Dort,  auf  jenen  Feldern,  wo  die  Sterne  reden. 


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—   4IO  — 


wird  das  gewaltige  Völkerschlachtdenkmal  geweiht  werden.  Dürfen 

wir  dann  hinter  dem  Ofen  im  Pfühl  sitzen  bleiben  und  lesen,  was 
unser  Wochenblatt  davon  schreibt  ?  Wollen  wir  Lehrer  uns  be- 
gnügen, vom  Katheder  herunter  der  Denkmalsweihe  Erwähnung  zu 
tun  oder,  wenn's  hoch  kommt,  unsem  Kindern  den  Veilauf  der 
Leipziger  Schlacht  nach  irgend  einem  ,,Leitfaden  der  Geschichte" 
erzählen?  üann  hätte  wohl  Leipzig  ein  Völkerschlachtdenkmal, 
aber  nicht  das  deutsche  Volk.  In  unserm  Vaterlande  gibt's  sicher 
keine  Gegend,  der  nicht  jene  Zeit  ihre  Runen  eingegraben  hätte. 
Wir  wollen  sie  lebendig  machen,  uns,  unsem  Kindern,  unsem 
Gemeinden  1  — 

Und  wenn  die  evangelische  Kirche,  191 7,  ihren  grossen  Gredenk' 
tag  feiern  wird,  da  darf  auch  die  Schule  nicht  zurückbleiben.  Da 
soll  es  allen,  den  Kleinen  und  den  Grossen,  auch  denen,  die  nicht 
in  die  Kirche  gehen,  gesagt  werden,  dass  es  Luther  gewesen,  die 
wittenbergische  Nachtigall,  der  den  neuen  Tag  verkündete.  Zu 
solchem  Werk  aber  sollten  Geistliche  und  Lehrer  einander  ab 
treue  Freunde  die  Hände  reichen  und  dem  ganzen  deutschen  Volke 
ein  Reformationsfest  veranstalten.  — 

Der  heimatlichen  Gedenktage,  Geburts  oder  Sterbetage  grosser 
Männer,  Ortsjubclfeste  u.  s.  f.,  soll  nur  kurz  gedacht  sein. 

Feiert  aber  die  Schule  selbst  ein  Fest,  die  Weihe  eines  Schul- 
hauses oder  einer  Turnhalle,  dann  gehört  ein  Schulfest  dahinter, 
wie  der  Punkt  hinter  den  S^tz.  Die  rührendsten  Abschiedsworte 
des  Lehrers  vom  alten  Schulhause  veigisst  das  Kind  ebensoschnd!, 
wie  die  geistreichste  Weiherede  des  K|^.  BezirksschuUnspektois; 
aber  das  Schulfest  vergisst  es  nicht.  — 

Ein  Schulfest  könnte  der  Lehrer  auch  veranstalten  am  Tage 
nach  der  Ostcrprüfung.^)  Prüfungstage  sollen  Festtage  für  die  Kinder 
sein.  Sind  sie  es?  Was  Rousseau  einmal  von  den  Schulprüfungen 
sagt,  ist  zwar  lange  her,  aber  wahr  ist's  heute  noch:  „Das  Kind 
macht  seinen  Ballen  auf  und  legt  seine  Ware  aus.  Man  ist  zufrieden 
damit.    Es  macht  den  Üallen  wieder  zu,  und  fort  ist  man!" 

Vielleicht  könnte  man ,  wenn  nicht  ein  W'egfall ,  sondern  eine 


Gedanken  einmal  nachgehen,  durch  einen  festlichen  Abschluss  die 
Osterprüfungen  Lehrern  und  Kindern  gemessbarer  zu  machen.  » 

^n  Festt^  ist  unsern  Kleinen  unbestreitbar  der  erste  Schul- 
tSig\  mache  ihn  zu  einem  Schulfesttage,  lieber  Elementarlehrer,  für 
dich  und  deine  junge  Schar!  Hier  das  Rezept:  Nimm  3  oder  4 
grosse  Knaben,  die  trommeln  oder  Mundharmonika  spielen,  steile 
die  AB  Geschützen  mit  dem  Tornister  auf  dem  Rücken  in  Reih 
und  Glied  dalunter,  marschiere  mit  den  Sdiulrekruten  die  eine 


^)  Vgl.  Sachs.  Schulz.  1847,  49- 


Umgestaltung^  der  Üsterprüfun: 


Frage  kommen  sollte,  dem 


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—   411  — 


Strasse  hinauf,  die  andere  hinunter,  zurück  nach  dem  Schulhofe; 

spiele  eine  Stunde  mit  ihnen  und  teile,  werm's  sein  muss,  am 
Schlüsse  die  Zuckertüten  aus!  Solch  ein  Menu  bekommt  den 
Kleinen  hesser,  als  wenn  sie  an  Klapp-  oder  Schiebetafeln  neuster 
Konstruktion  sitzen  und  im  Chore  wiederkäuen:  Wir  sind  —  in 
der  Schu  —  lei  Du  aber,  lieber  Lehrer  der  Kleinen,  kannst  sicher 
sein,  dass  du  nicht  von  vorn  herein  den  ganzen  Brei  verdorben 
hast.  Am  2.  Tage  wird  das  Fest  wiederholt.  Die  Zuspeise, 
Trommeln  und  Pfeifen,  fallen  diesmal  weg,  ebenso  che  süsse  Nach- 
speise. Hast  du  aber  eine  Knabenklasse,  dann  lasse  das  „Wiede- 
mann'sche'*  Vogelschiessen ^)  los,  aber  nur  nicht,  wenn  irgend 
möglich,  im  Schulzimmer,  sondern  draussen  auf  dem  Schulhofe. 
Dort  stört's  die  andern  Klassen  nicht  und  ist  doch  tausendmal 
schöner.  Schultafcl  und  Gestell  sind  schnell  aufgestellt,  und  nun 
wird  gerichtet,  gezielt,  geschossen,  und  der  mit  Kreide  angemalte 
Doppeladler  sinkt  unter  der  beschwammten  Hand  des  Lehrers, 
Stück  für  Stück,  je  nachdem  gut  oder  schlecht  gezielt  wurde,  zum 
Gaudium  der  ABC- Schützen.  Solch  ein  SchuUiest  kostet  weder 
Vorbereitung  noch  Geld,  erfüllt  nher  seinen  Doppelzweck  voll- 
ständig: Zwischen  Lehrer-  und  Kindesherz  webt  die  Liebe  ihr  Band, 
und  dem  Lchrerauge  öffnet  sich  die  Kindesseele.  — 

Mit  solch  geringem  .Aufwand  an  Geld,  Zeit  und  Kralt  lassen 
sich  natürlich  die  obengenannten  Sehulfeste  nicht  abtun.  Ihnen 
soll  ein  edler,  Geist  und  Gemüt  des  Kindes  erheben« 
der  und  erfreuender  Inhalt  gegeben  werden;  darum  er- 
fordern ihre  Vorbereitungen  viel  ernste  Arbeit  des  Lehrers.  Lenken 
wir  noch  einmal  unsere  Blicke  auf  ein  Schulfest,  das  ans  Sedanfest 
sich  anlehnt.  Die  Kinder  erfahren  vom  Lehrer  so  zeitig  wie 
möglich,  dass  am  Sedantage  ein  Schulfest  stattfindet  In  aller  Stille, 
nicht  mit  Hochdruck,  wird  im  Deutsch-,  Gesang-  und  Furnunter- 
richt  auf  die  Feier  hingearbeitet.  .Auf  diese  Weise  verliert  die 
kindliche  Freude  das  Wilde,  Unbändige.  Kurz  vor  dem  Feste 
wendet  sich  der  Lehrer  an  die  Mädchen  der  i.  Klasse  mit  der 
Frage:  Wer  will  Kränze  und  Laubgewinde  bringen,  damit  wir  am 
Sedantage  das  Kriegerdenkmal  schmücken  können?  Da  kommen 
sie  alle.  Nie  habe  ich  eine  Spur  von  der  Parteien  Hass  bemerkt. 
Das  Fest  wird  mit  einem  Festzuge  eingeleitet,  der  sich  von  der 
Schule  aus  nach  dem  Kriegerdenkmal  bewegt;  die  Knaben  tragen 
Fahnen,  die  Mädchen  Kränze.  Soll  ein  Muäkkorps  an  der  Spitze 
marschieren?  Notwendig  ist's  nicht.  Viel  lieber  wäre  mir  eine 
Knabenkapelle  mit  Querpfeifen  und  Trommeln.  Mundharmonikas 
tun's  auch.  Sie  haben  uns  bei  Schulausflügen  öfters  gute  1  >ienste 
geleistet.  Fehlt's  aber  an  alledem,  nun,  wozu  lernen  denn  unsere 
Kinder  singend  Die  Grossen  stimmen  ihre  Maischlieder  an,  und 

Wiedcnuuu,  Ldirer  der  Kleioca. 


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—    412  — 


die  Kleinen  marschieren  im  „ohne  Tritt"  mit  dem  „Häuschen  Idein" 

oder  mit  der  „Goldncn  Abendsonne"  um  die  Wette.  Freude  macht's 
entScheden,  und  das  genügt.  Der  Zug  bewegt  sich  nach  dem 
Festplatze.  Ist  ein  Kriegerdenkmal  am  Orte,  so  würde  ich  die 
Feier  unbedingt  hier  abhalten.  Am  Denkmale  stehen  ja  die  Namen 
der  Jünglinge  aus  der  Gemeinde,  die  einst,  mit  tausend  anderen, 
ohne  Zögern  ihr  Leben  geopfert,  die  sich  mit  all  ihren  Jugend- 
träumen und  Jugendhoflfnungen  ins  dunVle  Grab  t^dei^t  haben  und 
uns  das  Reich  gegründet,  dessen  Wohltaten  wir  L:<ni<  >sen,  unter 
dessen  Schutze  wir  leben  und  streben  und  uns  freuen  können.  Im 
Angesichte  dieses  Gedenksteines  wird  des  Lehrers  Mahnung  ein» 
dringlicher  wirken;  denn  „der  Ort,  darauf  du  stehest,  ist  heiliges 
Land".  Der  Ansjjrache  des  Lehrers  (er  entziehe  sich  dieser  .Auf- 
gabe nicht)  folgen  Gesänge  und  Deklamationen  der  Kinder.  An 

gassenden  Liedern  und  Gedichten  ist  kein  Mangel,  und  an  mutigen 
Deklamatoren  fehlt's  auch  nicht  Sollte  aber  ein  Kind  stolz  werden 
auf  seine  Kunst,  so  ist's  mir  immer  noch  lieber  als  ein  anderes,  das 
stolz  auf  seinen  Königsschuss  ist.  — 

An  vielen  Orten  werden  jetzt  sogenannte  Heimatfeste  gefeiert. 
Verleihe,  lieber  Amtsgenosse,  dem  Heimatfeste  Weihe  und  Gianz 
durch  ein  Schulfest  1  Und  wenn  dann  die  einstigen  Ortskinder  ver- 
sammelt sind,  und  es  hört  ein  jeglicher  seine  Sprache  wieder,  die 
alte,  traute  Sprache  der  Heimat,  die  mancher  draussen  hinter  alle 
mögliche  und  unmögliche  Zungenverrenkungen  und  Gaumen- 
verbiegungen zu  verstecken  suchte,  dann  rühre  an  den  Saiten  der 
empfänglichen  Gemüter  mit  Schenkendorfl's  „Muttersprache,  Mutter- 
laut, wie  so  wonnesam,  so  traut!";  dann  stimme  mit  den  Kindern 
Heimatklänge  an  „In  der  Heimat  ist  es  schön!";  dann  mache 
Herzen  zittern  mit  Frciligraths  ..O  lieb,  so  lang  du  lieben  kannst  1", 
dann  mache  Herzen  jauchzen  mit  Vogls  „Das  Mütterlein  hat  ihn 
doch  gleich  erkannt  1"  Halt,  lieber  Freund,  was  ich  dich  zu  lehren 
versucht,  zeigt  dir  dein  eigen  Herz  viel  besser.  Eins  nur  noch: 
Vergiss  heimatliche  Sage  und  Geschichte  nicht!  Und  zidien  dann 
nach  dem  Feste  die  ,,.\uswanderer"  wieder  ihrer  Heimat  zu.  im 
Herzen  das  Lied  bewegend:  „Nur  die  alten  Liehen  rauschen  in^.mer 
noch  dasselbe  Lied,  sonst  ist  alles  anders  w^orden,  seit  ich  aus  der 
Heimat  schied",  sollte  dann  nicht  neben  der  Wehmut  der  Stds 
sich  spiegeln  auf  ihren  Angesichtern  ^  Alles  anders  worden  —  alles 
—  auch  die  Schule!  — 

Nach  allgemeinem  Gesänge  beginnt  der  heitere  Teil  des  Festes 
auf  der  Festwiese.  Kindliche  Spiele  wechseln  mit  turnerischen 
Übungen,  Gesang  fröhlicher  Volkslieder  mit  zierlichen  Reigen, 
ernste  mit  heiteren  Deklamationen.  Damit  aber  die  Angst  vor  dem 
Gelingen  die  Freudigkeit  nicht  beeinträchtige»  wähle  man  ein^ube 
Übungen,  Lieder  und  Reigen.  Wenn  es  vor  dem  Feste  immer 
wittert  oder  gar  donnert  und  hagelt,  da  gucken  die  Kinder  auch 


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—  413  — 


am  Schulfesttage  besorgt  nach  oben,  ob  dort  sich  etwa  wieder 
drohende  Gewitterwolken  auftürmen.  Viel  Spass  macht  den  Kleinen 
eine  Polonaise.    Die  Musik  dazu  spielen  gern  ein  paar  grössere 

Knaben.  Nach  den  in  der  Schule  gelernten  Tanzliedchen  lasse  man 
auch  die  Kinder  auf  dem  Wiesenplane  tanzen;  denn  dazu  sind  doch 
wohl  TanzUedchen  da.  In  der  Schulstube  hnden  sie  doch  kaum 
Verwendung.  Welch  eine  Freude  (und  ich  behaupte  —  reine 
Freude),  wenn  die  kleinen  Knaben  und  Madchen  sich  nach  dem 
schönen  Liede  drehen :  „Liebe  Schwester,  tanz  mit  mir,  meine  Hände 
reich  ich  dir!  Einmal  hin,  einmal  her,  nun  rundum,  das  ist  nicht 
schwer  1'  Sollte  etwa,  lieber  Amtsgenosse,  deine  Gemeinde  im 
Besitz  eines  Extraheiligen  sein,  dem  die  frommen  Augen  übei^ehen, 
wenn  du  duldest,  dass  6— 8jährige  „Jungen  und  Mädels"  einander 
zum  Tanz  umfassen,  diesem  bedeute,  er  solle  doch  lieber  den 
Schulfeststaub  von  seinen  Füssen  schütteln.  Für  die  grossen  Kinder 
will  sich,  ich  habe  es  oft  gelesen,  das  Tanzen  nicht  mehr  schicken. 
Und  damit  ich  nicht  etwa  in  den  Ruf  komme,  als  wäre  ich  ein  so 
gar  arg  Tanzlustiger,  meine  ich  auch,  man  soll  es  lassen.  Mag  sein, 
dass  die  heutige  Kinderwelt  keine  kindliche  Welt  mehr  ist  Wir 
haben  einst  wacker  getanzt  beim  Schulfeste,  und  ich  erinnere  mich 
noch,  dass  ich  mir  immer  die  grössten  Damen  engagierte;  denn 
diese  brauchte  ich  nicht  zu  drehen,  die  drehten  mich.  Schaden 
habe  ich  nicht  dabei  genommen,  weder  am  Leib,  noch  an  der 
Seele.  Aber  die  Zeiten  ändern  sich,  und  die  Menschen  auch,  und 
tanzen  kann  später  noch,  wer  da  will.  — 

Wir  berichten  in  der  Erdkunde  den  Schülern  von  Märchen- 
erzählern im  Morgenlande,  wie  sie  dort  ihre  Kunst  auf  der  Strasse 
treiben.  Lass  solch  einen  Märchenerzähler  auftauchen,  wenn  möglich 
in  langem  Kaftan  (aus  einem  alten  Kattunvorhange  lässt  sich  leicht 
einer  zurechtstutzen),  um  den  Kopf  ein  langes  Tuch  zu  einem 
Turban  gewunden.  Oder  am  Spinnrad  sitzend  erzählt  Gross- 
mütterchen, ein  grosses  Mädchen,  die  ewigschönen  Geschichten  von 
Dornröschen  und  Schneewittchen,  von  Rotkäppchen  und  Frau 
Holle  u.  a.  Stelle  lebende  Bilder  aus  Märchen,  aus  des  Ortes  Ver- 

fangenheit,  am  Sedantage  aus  dem  Kriegs-  bezw.  Lagerleben, 
assende  Lieder  umrahmen  <hc  Rilder.  An  andächtigen  Zuhörern 
und  dankbaren  Zuschauern  tVlilt  s  licstimmt  nicht.  Wir  haben's  ein- 
mal versucht,  es  ging  prachtig.  Auch  ein  Nussknacker  kann  er- 
scheinen. Eine  entsprechende  Maske,  ein  Sack  mit  kleinen  Gaben, 
und  die  Ausrüstung  ist  fertig.  Die  Kleinen  setzen  sich  wie  beim 
Märchen  erzählen  um  ihn  herum,  und  er  gibt  Scherzrätsel  auf.  Die 
Klugen  belohnt  er  auf  frischer  Tat,  und  am  Schlüsse  bekommen 
auch  die  andern  ihr  Teil.  — 

Auf  die  Bewegungsspiele  hier  einzugehen,  halte  ich  fiir  über- 
flussig. Man  sorge  in  der  Zeit  fiir  einen  guten  Stamm  von  guten 
Spielen,  sie  erben  sich  leicht  fort  Nur  unterlasse  man  nicht,  hin 


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und  wieder  die  Teatte  zu  revidieren,  weil  sich  oft  die  wundedicfasten 

Wort-  und  Sinnverschiebungen  einschleichen.  Im  übrigen  mische 
man  sich  nicht  allzuviel  hinein,  sondern  überlasse  den  Kindern  die 
Spielordnung.  Auch  bei  Streitigkeiten  dränge  man  sich  nicht  als 
j^diter  auf,  sondern  warte  möglichst,  bis  man  dazu  aufgefordert 
wird,  — 

Nicht  von  der  Hand  zu  weisen  ist  der  Credanke,  die  Erfindungen 
der  Neuzeit,  wie  Phonograph  und  Kinemotograph,  beim  Schulfest 
zu  verwenden.  Wo  sich  Gelegenheit  dazu  bietet,  fasse  man  sie 
beim  Schopf.    Hier  darfs  auch  was  l<osten. 

Wird  so  den  Schulfesten  ein  edler,  Geist  und  Gemüt  der 
Kinder  erhebender  und  erfreuender  Inhalt  gegeben,  dann,  sollte  ich 
meinen,  wirken  sie  auch  erzieherisch.  Hhiweg  aber  mit  all  den 
Spielen,  die  den  Kindern  Veranlassung  geben,  einander  zu  ver- 
spotten, zu  necken  und  zu  schaden.  Weg  mit  den  Spielen,  wo  das 
fröhliche  Tummeln  zum  wilden  Tumult  ausartet.*)  „Spiele  sollen 
erfreuen,  aber  nicht  kränken  und  verderben!"  Ich  war  einmal 
Zeuge,  wie  bei  einem  Schulfeste  zwei  Knaben  mit  verbundenen 
Augen  vor  einer  Schüssel  mit  Syrup  sassen.  Jeder  hatte  einen 
Löffel  in  der  Hand,  und  nun  fütterten  sie  einander.  Ein  lieblich 
Bild !    Das  Pubhkum  wälzte  sich  vor  Lachen. 

Ein  ander  Bild!  Sämtliche  Knaben  erhielten  Befehl,  ihre  Schuhe 
auszuziehen  und  sie  auf  einen  tlaufen  zu  werfen.  Wer  nun  zuerst 
wieder  im  Besitz  seines  Eigentums  war,  erhielt  einen  Preis.  Dn 
drittes:  Ein  als  Spassmacher  bekannter  Dorfbewohner  Itess  seine 
Kleider  mit  Brezeln  und  Pfefferkuchen  benähen.  Nun  wurde  er 
losgelassen.  Die  „ganze  Bande"  jagt  wie  das  wilde  Heer  hmter  ihm 
her,  über  Stock  und  Stein.  Was  stürzt,  das  stürzt  Endlich  — 
viele  Hunde  sind  des  Hasen  Tod  —  auf  einem  lehmigen  Stutz« 
acker  bricht  er  zusammen.  Die  Jungen  über  ihn  her.  Jeder  will 
seinen  Raub.  Der  arme  Kerl  aber  blutete  aus  vielen  Kratzwunden. 
Mehr  noch,  als  der  Mann,  dauerten  mich  die  Kinder,  denen  eine 
solche  „Freude"  bereitet  wurde.  — 

Wegzulassen  sind  femer  alle  Spiele,  die  die  Gesundheit  und, 
ich  setze  hinzu,  die  Kleider  der  Kinder  gefährden  können,  wie 
Schlangeziehn,  Kletterstange,  Laufstange,  Sackhüpfen  u.  a. 

Vor  allen  Dingen  sind  aber  die  Veranstaltungen  vom  Schul- 
fest auszuschlicssen,  die  lediglich  di<^  sinnlirhc  Gennssleben  oder 
die  (lewinnsucht  fördern.  Ich  meine  nicht  etwa,  man  solle  den 
Kindern  nichts  zu  essen  und  zu  trinken  geben.  Das  ginge  gar 
nicht  an,  denn  am  Schulfestmittage  wird  bekanntlich  der  Ma^ 
ziemlich  stiefmütterlich  behandelt,  und  es  wäre  auch  nicht  richtig. 
Denn  gerade  in  der  gemeinschaftlichen  Mahlzeit  liegt  ein  besonderer 


>)  Sächs.  bchuh.  1847,  49. 


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—   415  — 


Reiz  iiir  die  Kinder,  und  niemals  schmeckt's  so  gut,  als  beim 

Schulfest.  Fernzuhalten  ist  jedoch  jeder  Genuss  von  Alkohol.  Auch 
nicht  einfaches  Bier  sollte  man  fachen;  denn  ieder  Tropfen  Alkohol 
wirkt  schädigend  auf  Gehirn  und  Nerven  des  Kmdes.  Die  Schule 
darf  sich  nichts  erlauben,  wovor  sie  warnt.  Bier  ist  eben  den 
Kindern  Bier,  gaiu  gleich,  welcher  Art  das  Gebräu  auch  seL  Und 
gibt  die  Sdiule  „£infach",  so  lässt  der  Vater  ,JCulm"  oder  „Lager" 
folgen.  Man  gebe  erfrischende  Limonade  statt  Bier,  wanim  nicht 
auch  einmal  Milch  oder  Kakao  für  Kaffee,  Obst  statt  Würstchen  I 
Dass  eine  Massenabfütterung  der  andern  folge,  vermeide  man  ja. 
Das  Kind  soll  Mass  halten  lernen,  auch  im  Genuss.  — 

Niemals  sei  auf  einem  Schulfeste  Raum  für  Schaukel  und 
Kanissell.  Sie  überreizen  die  Nerven  des  Kindes  und  untergraben 
jegliche  Ordnuni{  Die  Kinder  stürzen,  schon  nach  Beendigung  des 
Festzuges,  wie  besessen  auf  diese  Ungetüme  los  und  sind  dann  für 
nichts  mehr  zu  haben.  Das  Schreien  der  Drehorgeln  stempelt  das 
Fest  zur  Vogelwiese  und  nimmt  die  Weihe. 

Auch  zu  Gewinnspielen  führe  man  die  Kinder  nie,  gebe  auch 
durch  ihre  Zulassung  auf  die  Festwiese  keine  (lelegenheit.  „Wenn 
wir  die  Kinder  an  den  Gewinntisch  stellen,  zersluren  wir  ihnen  die 
reine  Freude  durch  die  Nieten,  die  da  fallen,  und  auf  ihren  Wohl- 
gestalten kindlichen  Gesichtern  graben  sich  die  Fratzen  der  Gewinn« 
sucht,  der  Habsucht,  des  Neides  ein."  Auch  Vogebchiessen  und 
Vogelstechen  sind  nichts  anderes  als  Gewinnspiele,  sobald  auf  die 
Treffer  Geschenke  entfallen.  Zum  Konigsschusse  gehört  immer 
mehr  Glück  als  Geschick,  und  doch  wird  er  besonders  ausgezeichnet, 
meist  durch  ein  verhältnismassig  wertvolles  Geschenk.  Sehr  oft  ist 
noch  dazu  ein  Unwürdiger  der  glückliche  Schütze.  Die  Vogel- 
schiessen  möchte  ich  von  den  Schulfesten  aber  auch  deshalb  ent- 
fernt wissen,  weil  sie  sehr  kostspielige  Veranstaltungen  sind.  Das 
Vergnügen  entspricht  den  Kosten  sicher  nicht;  denn  sehr  oft  wird 
'das  Vogelschiessen  vom  Mis^sduck  verfolgt  Hier  dreht  plötzlich 
ein  Vogel  seinen  Korpus;  dort  gehen  alle  Pfdle  zu  hoch;  hier  er- 
reichen sie  kaum  die  Mitte  der  Stange.  Können  die  Kleinen  nicht 
zielen,  so  tuns  die  Helfer.  Ja,  oft  habe  ich  gesehen,  dass  die  Er- 
wachsenen schössen,  wenn  der  Vogel  unerschütterlich  bUeb.  Dann 
ist  erst  recht  Stoff  zu  übler  Nachrede  geschaffen.  Widersteht  aber 
ein  Vogel  allen  giftigen  Pfeilen  der  Finsternis,  dann  fällt  er  schliesslich 
eir^em  Steinbombardement  zum  Opfer.  Wer  ist  nun  der  König? 
Man  überlasse  darum  das  Vogelschiessen  dem  Privatstudium  der 
Knaben.  Einen  .Abschiessvogel  muss  der  Junge  selbst  gezeichnet, 
angemalt  und  ausgesägt  haben,  dann  erst  bereitet  das  Abschiessen 
den  rechten  Genuas.  —  Von  gleicher  Güte  hinsichtlich  der  Kosten, 
wie  des  Vergnügens  ist  das  Sternschiessen  der  Madchen.  Dabei 
möcht'  es  cinrm  angst  und  bange  werden,  wenn  der  schwere, 
eiserne,  mit  einem  spitzen  Schnabel  versehene  Stechvogel  an  der 


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—   4i6  — 


Leine  hin  und  her  und  den  Kindern  um  die  Köpfe  baumelt  Und 

was  ist  der  Zweck  des  Spiels?  Die  schönen  bunten  Sterne  in 
lauter  kleine  Stückchen  zu  zersplittern.  Wie  wenig  Interesse  die 
Mädchen  diesem  Spiele  entgegenbringen,  kann  man  auf  ihren  gkich- 
gültigea  Gesichtern  lesen.  Darum  schade  ums  Geld,  we^  mit  all 
diesen  kostspieligen  Sachen. 

Ein  Schulfest  erfordert  ohnehin  eine  Menge  Geld.  Die  Eltern 
lassen  sich's  nun  einmal  nicht  nehmen,  ihre  Kinder,  besonders  die 
Mädchen,  herauszuputzen.  Nötig  ist  es  nicht,  dass  diese  wie  die 
Puppen  verziert  werden.  Der  Lehrer  kann  zwar  zur  Einfachheit 
ermahnen,  hdfen  wird's  nicht  viel,  die  „Mfitters"  haben  eben  ihren 
Kopf  für  sich.  Was  ist  nun  zu  tun,  damit  die  Armen  sich  nicht 
beschämt  fühlen?  Ich  machte  einmal  aus  der  Not  eine  Tugend. 
Geraume  Zeit  vor  dem  Feste  fragte  icii,  welche  Kinder  kein 
schönes  Kleid  oder  keinen  guten  Anzug  hätten.  Diese  Armen  be- 
stellte ich  nach  der  Schule  zu  mir,  und  da  Hess  ich  sie  die  feinste 
Gruppe  ausdenken.  Das  Sonntagsunterröckchen  wurde  zum  Staats- 
kleid erhoben;  eine  gewöhnliche  Bluse  und  einen  Strohhut  konnte 
jedes  aufweisen.  Dreissig  Pfennige  für  ein  paar  Meter  grellrotes 
Band  um  Hut  und  Leib  waren  die  einzige  Ausgabe  fürs  Kind,  und 
die  entwendete  ich  der  Schulfestkasse.  Nun  borgte  ich  Hacken, 
Schaufeln,  Rechen,  Grabscheite  zusammen,  lauter  Kinderspielzeug, 
und  teilte  aus.  Ein  paar  Mädchen  trugen  kleine  Körbe  mit  Heu 
auf  dem  Rücken,  andere  solche  mit  Feld-  oder  Gartenfrüchten  in 
den  Händen.  Ahnlich  wurden  die  Knaben  ausstaffiert.  Aus  Hut, 
Hemd,  Hosen  und  Schuhen  bestand  die  ganze  Ausstattung.  Sogar 
2  Barfiissler,  denen  der  Vater  keine  Sch(£e  kaufen  konnte,  brachte 
ich  unter.  Und  mir  deuchte,  sie  wären  als  Holzlescr  mit  ihren 
Reisigbündeln  auf  den  Rücken  die  Stolzesten  unter  den  Stolzen  -ge- 
wesen. Von  einem  Neid  der  Besitzlosen  keine  Spur!  —  Vor  kost- 
spieligen Gruppen  möchte  ich  warnen;  man  weiss  dann  oft  keine 
Grenze  zu  zidien. 

Was  wir  brauchten  zu  einem  Schulfester  „Eine  g^ne  W'iese 
und  einen  blauen  Himmel,  ein  buntes  Fähnchen  für  die  Knaben 
und  ein  frisches  Kränzchen  für  die  Mädchen."  Die  Turnhalle  leiht 
Reifen,  Bälle,  Seile  u.  s.  f.  Notwendig  aber  sind,  und  daran  wird 
selten  gedacht,  auf  dem  Festplatze  Sitzgelegenheiten  für  die  Kinder. 
jEinig^e  Pfahle  werden  in  die  Erde  gfescmagen,  mit  Brettern  benagelt, 
wenn's  sein  kann  einige  grüne  Birken  um  den  Ruheplatz ,  das 
gcnü'^t  vollständig.  Mit  Zelten,  Buden  und  Verkau&ständen  lasse 
man  sich  den  Platz  nicht  verbauen. 

Nun  könnte  wohl  mancher  denken:  Wenn  die  Vogdsdiiessen 
wegfallen,  wie  soll  man  darm  die  Zeit  hinbringen?  Sehr  einfach, 
lieber  Freund !  Wenn  beim  Bauer  die  Schüssel  leer  ist,  hört  das 
Essen  auf.  Mach's  auch  so !  Ist  der  Vorrat  an  Spielen,  Liedern, 
Reigen  usw.  zu  Ende,  dann  hört  eben  die  Geschichte  auf.  Muss 


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,  —  417  — 


denn  ein  SchuUest  bis  ums  „tz"  aus|redelmt  weideo?  Dadurch 
wird's  zu  einer  Strafe  für  den  Lehrer»  wie  für  die  Kinder,  wenigstens 

für  die  Kleinen.  Sie  lassen  zwar  ihre  Müdigkeit  nicht  merken, 
sondern  humpeln  weiter,  so  gut  es  f^eht.  Die  Soldaten  bedauern 
wir,  wenn  sie  in  Staub  und  Sonnenbrand  ein  paar  Stunden 
marschieren  müssen,  ohne  zu  ruhen;  unsem  zarten  Kindern  muten 
wir  aber  Schfimmeres  zu,  wenn  wir  um  I  Uhr  oder  noch  frOher 
zum  Festzuge  stellen,  sie  dann  2  Stunden  oder  noch  mehr  strass- 
auf,  strassab  marschieren  und  bis  abends  8  Uhr  oder  länger  auf 
der  Festwiese  herumtummeln  lassen  und  daran  noch  einen  möglichst 
ausgedehnten  Lampioneinzugsmarsch  anschliessen.  Masshalten  in 
der  Freude»  Masduuten  im  Genuas,  Masshahen  in  der  Anstrengung, 
also  Masshalten  auch  in  der  Dauer  des  Schulfestes  1 

Dem  Lehrer  wird,  auch  wenn  man  das  Schulfest  hinsichtlich 
der  Zeitdauer  einschränkt,  noch  ein  voll  g^erüttelt  und  geschüttelt 
Mass  von  Arbeil  aufgebürdet.  Die  Hauptarbeit,  die  Vorbereitungen 
in  der  Schule,  die  Vorbereitung  für  den  Festaktus,  liegt  attein  auf 
seinen  Schultern.  Doch  gibt  es  eine  ganze  Anzahl  niederer  Dier^t* 
leistungen,  die  er  sich  vom  Halse  halten  muss  und  kann.  F  r  lehne 
alles  ab,  was  mit  der  AuOiringung  von  Geldmitteln  zusammenhängt; 
er  verweigere  jegUchc  Besorgung  von  Einkäufen  und  Bestellungen. 
Fände  ein  Lehrer  wirldicfa  kein  Entgegenkommen,  dann  heisst's 
einfach:  Sein  oder  Nichtsein!  Das  zieht.  Auf  diese  Weise  verliert 
das  Schulfest  für  uns  Lehrer  viele  der  kleinen  Scherereien  und  Plackereien, 
die  uns  seine  Veranstaltung  so  verleiden.  Klappt  dann  hinterher  die 
Sache  nicht  so,  wie  sie  soll,  dann  geht's  nicht  über  unser  Feil. 

Auch  iUr  das  Fest  selbst  sehe  sich  der  Lehrer  nach  Helfern 
und  Helferinnen  um.  Wenn  da  der  Ruf  erklingt:  Freiwillige  vor! 
dann  stellen  sich  hilfsbereite  Kräfte  in  Menge  ein,  oft  mehr  als 
einem  lieb  ist.  Der  Turnverein  stellt  seine  Mannen,  wie  der  Gesang- 
verein, und  auch  die  Jungfrauen  drängen  sich  herzu:  Manche  um 
ihrer  kleinen  Geschwister  willen,  manche  aus  Anhänglichkeit  an  ihren 
alten  Lehrer  und  manche  —  noch  aus  einem  andern  Grunde. 
Man  teile  einige  Wochen  vor  dem  Feste  den  grossen  Mädchen  die 
Klassen  zu,  damit  sie  an  den  Sonnta^nachmittaf^rn  die  vom  Lehrer 
ausgewählten  Spiele  kennen  lernen  und  einübrn  können.  Die  Schule 
verliert  durch  solche  Beihilfe  seitens  der  Gememdeglieder  nicht  an 
Ansehen,  sie  kann  nur  gewinnen.  — 

Sollten  in  grösseren  Gemdnden  der  Veranstaltung  von  Schul- 
festen  allzuviel  Schwierigkeiten  entgegenstehen,  dann  lässt  sich  das 
nicht  ändern.  Wer  so  leibesstark  geworden  ist,  dass  er  sich 's  nicht 
mehr  getraut,  einen  Berg  zu  ersteigen,  der  muss  dann  unten  bleiben. 
So  gerat  er  zwar  nicht  in  Sdiweiss,  aber  die  Aussicht  auf  die 
lachenden  Gefilde  ringsumher,  die  geht  ihm  dann  verloren.  — 

Dass  die  Schulgemeinde  die  Haftpflicht  bei  den  Schulfesten 
übernimmt,  ist  selbstverständlich.  — 

Pada(O0i«eh«  Stttdiea.  XXX.  «.  97 


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—    4»S  — 


Lieber  Amtsgenosse,  wifst  doch  nicht  enttauscht  sein  über  das, 
was  du  gelesen?    Hattest  doch  nicht  etwa  wdtcfschfittemde  Ideen 

über  die  Umc^estaltung  der  Schu]fe<^te  erwartet?  Die  gibt's  ja  gar 
nicht !  Oder  meintest  du,  einen  brunnen  tiefster  Weisheit  zu  finden, 
daraus  dein  Geist  schöpfen  könnte?  Da  sei  Gott  vorl  Du  weisst 
ja  von  unserm  Altvater  Wodan  her,  wie  gefährlich  es  ist,  aus  dem 
Brunnen  der  Weisheit  zu  trinkenl  Also:  Viel  Lärm  um  nichts?! 
Was  ich  bringen  wollte,  du  musst  es  längst  gefühlt  haben:  Eine 
Bitte  der  Kinderwelt  an  die  Lehrerherzen,  also  lautend:  „Ihr  lieben 
Lehrer,  lasst  uns  das  Schuhest!"  —  Was  ich  begehre,  sind  nicht 
aDein  die  Ftoe  und  die  Hände,  und  nidit  das  Auge  nur  und  das 
Haupt,  ich  greife  nach  deinem  Herzen.  SoQt's  ein  Fefalgiiff  ge* 
wesen  sein?l 

„Hüpfen  and  springen, 

Lachen  und  smgen, 

Jubeln  und  schfr?cn. 

So  recht  von  Herzen, 

Das  ist  der  Kinder  Eknent. 

Web  den,  der  diesen  Zog  verkennt  1" 


über  die  Aufnahme  in  die  Schule 
und  Uber  die  Feststellung  der  Gegebenheit  des  KiiNte 

Von  Psisr  anii  in  Wflvibaig. 
Schhuft. 

Die  Kindesfehler. 

Hs  ist  ein  wahrhafter  Fortschritt  in  unserer  Zeit,  dass  verlangt 
wird,  auch  den  Kindcrfeliiern  in  der  Erziehung  mehr  und  mehr 
Beachtung  zuzuwenden.  In  jenem  Vermächtnis  an  den  Lehrer,  die 
Kleinen  zu  sich  kommen  zu  lassen,  in  der  Aufibrderus^g  der  Ethik 
an  ihn,  aus  Wohlwollen  in  innerer  Freiheit  dem  einzelnen  Kind  sich 
zu  widmen,  liegt  für  ihn  auch  die  Verpflichtung,  dem  Kind  in  seinen 
Mängeln  und  Gebrechen,  äusseren  wie  inneren,  entgegenzukommen 
und  dieselben,  soweit  es  durch  ihn  versucht  werden  kann,  allmählich 
zu  bessern.  Im  Lichte  dieser  Verpflichtung  des  Lehrers  durch 
Religion  und  Ethik  zur  Barmherzigkeit,  Nachsicht,  Geduld  und  Pflege 
gegen  ein  solches  hilfsbedürftig  Kind  wird  erst  recht  die  Härte 
jener  Ansicht  erlebt,  derzufolgc  es  in  der  Schule  keine  Schwachen, 
das  ist  eben  keine  Kinder  geben  darf,  welchen  der  Lehrer  in  ihrer 


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—  419  — 

Bedürftigkeit  in  besonderem  Masse  dient  Es  wurde  gelegentlich 
schon  gesagt,  dass  bei  der  Feststellung  des  kindlichen  Erfahrungs- 

bewusstseins  auch  auf  die  körperliche  Organisation  des  Kindes  zu 
achten  sei.  Ergänzend  ist  hier  noch  zu  berühren,  dass  beim  Ver- 
halten des  Kindes  gegenüber  dem  wirkenden  sinnlichen  Eindruck 
besonders  die  wichtigsten  Sinne  nach  MögUchkeit  z,\i  prüfen  sind. 
Vor  allen  wieder  ist  das  Auge  zu  untersuchen:  auf  seine  Kraft, 
seine  Scharfe.  Es  ist  vorkonnmenden  Falls  der  Grad  der  Schwäche, 
der  Kurzsichtigkeit  zu  ermitteln.  Ein  ernstes  Cbel,  das  namentlich 
auch  den  Gebrauch  des  Aujres  zum  Erfahrungserwerb  recht  nach- 
teilig berühren  kann,  sind  die  andauernden,  wiederkehrenden  Ent- 
zündungen des  Auges.  Wie  der  Zustand  des  Auges  ist  femer  der 
des  Ohres  zu  prüfen.  Die  Feinheit,  die  Zuverlässigkeit  des  Ohres, 
seine  Aufnahn-cfähigkeit  in  die  Ferne  beeinflussen  in  hohem  Masse 
die  üelehrbarkcit  des  Kindes  durch  jene  Erfahrungen,  die  dem 
Umkreis  der  Gehörseindrücke  angehören.  Hierfür  kommt  auch  die 
Gesundhdt  des  Ohres  sehr  in  bäracht.  Es  ist  beispielsweise  nicht 
zu  vergeben,  dass  dem  sogenannten  Laufen  der  Ohren  gewöhnlich 
keine,  oder  nur  geringe  Beachtung  zuteil  wird.  Dasselbe  kann  im 
Verein  mit  starker  Harthörigkeit  auftreten;  es  kann  Anzeichen  tief- 
sitzenden  Übels  sein,  wie  in  einem  Falle,  wo  es  im  Zusammenhange 
stand  mit  einem  Leiden  im  Gehirn,  das  unerwartet  den  Tod  eines 
hofihungsreichen  jungen  Lebens  herbeiführte.  Krankheitserscheinungen 
am  Ohre  zeigen  stets  Hemmungen  beim  Kinde  an  fär  den  Er- 
fahrungsunterricht im  Gebiet  der  Gehörseindrücke,  ja  für  den 
gesamten  Unterricht,  soweit  er  durch  die  Rede  vermittelt  wird. 
Wie  die  Beschaffenheit  namentlich  der  führenden  Sinne,  ist  auch  die 
Beschaffenheit  der  Glieder,  zumal  der  Hände,  ja  des  Leibes  —  unter 
dem  Ge^chtspunkt  der  Brauchbarkeit  für  die  Ausführung  von 
Bewegungen  —  beim  Verhalten  des  Kindes  gec^enüber  wirkenden 
äusseren  Eindrücken  sorgfaltig  zu  beachten.  Fehlen  von  Fingern, 
Verstümmelungen,  Missbildungen,  Steifheit  j  Schwerbeweglichkeit  des 
Körpers  (etwa  infolge  der  sogenannten  englischen  Krankheit); 
geringer  Grad  von  Anstelligkeit,  leiblic!\e  Unbeholfenheit  sind  Mängel, 
die  sich  beim  Umf^ehen  mit  den  Dingen,  beim  Ausmachen  der 
hrlahrDDgsgegenstände,  insonderheit  auch  nach  ihrer  räumlichen  tr- 
schemungsweise  hin,  beim  Gebrauch  von  Werkzeugen,  wie  vielleicht 
eines  Messstabes,  beim  Darstellen  erlebter  Erfahrungen  durch 
Zeichnung  empfindlich  fühlbar  machen  können.  Diese  Mängel  können 
aber  auch  von  öfters  weitreichenden  Folgen  für  das  geistige  Leben 
überhaupt  begleitet  sein,  die  in  der  Reproduktion  der  Vorstelkmcren, 
im  kindlichen  Gedächtnis,  in  dem  Grade  der  geistigen  Munterkeit 
des  Kindes  bei  Zumutung  denkender  Tätigkeit  hervortreten.  Hiervon 
wird  der  Akt  der  Aneitoinung  einer  eiiebten  Erfahrung  durch  das 
kindliche  Bewußtsein  und  die  Verarbeitung  dieser  Erfahrung  zu 
höheren  geistigen  Gebilden  seitens  des  Kindes  merkbar  ungünstig 

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—    420  — 


ber&hrt  Eine  Sache,  welcher  der  Lehrer  ebenfalb  schon  bei  der 
Feststellung  des  kindfichen  Erfahrungsbestandes  seine  voDe  Auf* 
merksamkeit  zuwenden  soll,  ist  die  Armut  an  Blut  beim  einzelnen 
Kind.  Blutarmut  hat  ja  schon  in  leiblicher  Hinsicht  für  das  Kind 
ernste  Fortwirkungen:  sein  ganzes  Wachstum  wird  gehemmt,  es 
gleicht  einer  unglücklichen  Blume,  die  dem  Verwelken  verfiel  Aber 
Blutarmut  drückt  auch  so  tief  das  Allgemeingefühl  hinab  und  nut 
die<^em  die  Sinnenfröhlichkeit,  die  Empfänglichkeit  fi-^  die  Er- 
scheinungsweit. Dem  körperlichen  Schwächezustand,  der  sich  im 
blassen  Angesicht,  in  der  Müdigkeit,  der  Neigung  zum  Schlaf  anzeigt, 
geht  eine  geistige  Mattigkeit  zur  Seite,  die  sich  im  halb  trauernden 
Blick,  in  der  langsamen  Rede  verrät  Diese  innere  Mattigkeit  bringt 
mit  ?ich  ^nnz  geringe  Aufmerksamkeit  gegenüber  den  frisch  wirken- 
den Eindrücken  und  eine  sich  träge  bewegende  Erinnerung.  Zur 
geistigen  Arbeit  des  Überlegens,  V^ergieichens»  Erkennens  ist  solches 
Kind  nicht  sdten  völlig  untüchtig.  Ein  schlimmer»  bedauernswerter 
Zustand  des  einzelnen  Kindes  wird  femer  durdi  die  Stcrophulose 
herbeigeführt  Ein  solches  armes  Kind  ist  wohl  nie  völlig  frei  von 
Schmerzempfindungen.  Daher  legt  sich  darüber  wohl  eine  ganze 
Traurigkeit.  Es  wird  in  seiner  geistigen  Entfaltung  gegenüber  dem 
gesunden  Kinde  zuweilen  auffaiUend  zurückgehalten.  Das  Unlust* 
gefiihl,  das  den  Grrundton  seiner  Sedenstimmung  abgibt,  macht  es 
im  Vmfpatg  Ittcht  scheu,  gibt  ihm  einen  herben  Zug  und  lasst  es 
wenig  geneigt  erscheinen  zum  Eingehen  auf  \K*irkende  sinnliche 
Eindrücke.  Es  ist  viel  zu  sehr  stets  mit  sich  selber  beschäftigt 
Es  fehlt  ihm  die  Heiterkeit  des  Gemüts,  die  eine  wesentliche  Be- 
dingung frischer  Aufgeschlossenheit  und  Empfänglichkeit  iiir  die 
äusseren  Eindrücke  bildet.  Seine  geistige  BewegUchkeit  leidet  auch 
unter  dem  Druck  der  SchmerzgefüWe,  und  mit  ihr  auch  sein  Denken. 
Das  Gedächtnis  erscheint  wie  erstarrt,  gebunden,  der  Lauf  der  Vor- 
stellungen wie  stockend;  die  Aufgelegtheit  zur  Selbsttätigkeit  ist 
nicht  da.  Die  psychische  Freiheit  ist  beengt,  gefährdet  Daher  ist 
mit  einem  solaien  Kind  btt  dem  Eingehen  auf  erlebte  Erfahrung 
nicht  viel  zu  unternehmen.  Das  einzelne  Kind  ist  hcutr  :iuch  öfters 
von  dem  allgemeinen  Zeitübel,  der  Nervenangegriffenheit,  befallen. 
Ein  solches  Kind  gleicht  von  Ansehen  sehr  viel  dem  blutarmen 
Kind;  aber  es  unterscheidet  sich  von  diesem  wesentlich  in  seinem 
Verhalten  gegenüber  dem  wirkenden  sinnlichen  Eindruck.  Während 
das  blutarme  Kind  sich  dabei  wie  empfindungslos  erweist,  gleich 
als  ob  es  ohne  Leben,  ein  blosses  Bild,  wäre ;  benimmt  sich  das 
„nervöse"  Kind  oft  im  hohen  Grade  innerlich  unruhig  dabei.  Seine 
Achtsamkeit  hält  dem  Eindruck  gegenüber  nicht  stand.  Wie  sein 
Körper  keine  drei  Augenblicke  stille  zu  halten  vermag,  wie  seine 
Hände,  Füsse,  sein  Auge  sich  so  oft  regen,  so  ist  seine  AufnierkBam- 
keit  springend,  flüchtig.  Es  kann  freiüch  auch  vorkommen  dass  es 
im  Bewusstsein  wie  gelähmt  erscheint   So  war  es  in  einem  Falle* 


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—   421  — 


bei  welchem  die  Nervenangegriffenheit  von  einem  grossen  Schrecken 
herrührte.   Das  Auge  des  nervenangegrifienen  Kindes  sucht  nichts. 

Es  blickt  hinein  in  die  Welt  wie  in  ein  Leeres,  oder  es  irrt  umher« 
Die  Reproduktion  ist  in  solchem  Zustande  zuweilen  anscheinend 
wie  aufgehoben:  das  Kind  merkt,  behält  nichts,  weiss  nichts;  oder 
sie  ist  in  hohem  Masse  unzuverlässig  und  abgerissen.  Wo  die  Kraft 
s^eht»  die  Sinne  dem  Eindrucke  auf  einige  Zeit  zuzukehren,  da 
mangelt  erst  recht  die  Kraft,  in  der  Abwesenheit  des  Gegenstandes 
der  Erfahrung,  in  der  reinen  Vorstellung,  zu  denken.  Dns  Kind  ist 
nicht  imstande,  sich  mit  Ernst  tu  besinnen,  die  ins  Bewusstsein 
getretene  Vorstellung  mit  der  Aufmerksamkeit  eme  Zeitlang  festzu- 
halten, an  anderes,  welches  zur  VorsteUung  etwa  in  Beziehung  steht, 
^ch  zu  erinnern,  die  erwünschten  Vergleichungen  anzustellen  und 
mit  Beharrlichkeit  nach  einem  inneren  Ergebnisse  hinzustreben.  Mit 
den  angedeuteten  leiblichen  Fehlern  des  einzelnen  Kindes  sind  die 
möglichen  Fälle  noch  lange  nicht  erschöpft  Es  ist  schon  mehrfach 
die  äussere  Aufstellung  gemacht  worden,  dass  das  Geschledit  infolge 
geseUschaftlicher  Zustände  und  der  Wirlcungen  unserer  sogenannten 
Kultur  der  Entartung  entgegengehe.  Der  einzelne  iibefdeht  in  seiner 
Erfahrung  viel  zu  wenig  Fälle,  um  wagen  zu  dürfen,  zu  dieser  Auf- 
stellung sich  beiahend  zu  äussern.  Aber  das  darf  ich  doch  aus 
meinen  mehr  als  2ojahrigen  Beobachtungen  an  so  vielen  Kindern 
in  der  Stadt  anmerken,  dass  die  Kinder  der  Stadt  inbezug  auf 
Gesundheit,  körperliche  Grösse,  Kraft,  Sinnenfrische,  Ausdauer, 
Lebcnditjkeit  im  Abnehmen  -^ind. 

hme  Erscheinung,  welcher  der  Lehrer  nächst  den  eigenthchen 
körperlichen  Kindermängeln  schon  bei  der  Feststellung  des  Er- 
fahrungsbewusstseins  des  einehien  Kindes  grosse  Beaoitung  zu- 
wenden soll,  sind  die  sogenannten  Sprachgebrechen.  Dieselben 
sitzen  entweder  im  Organ  (der  Zunge,  dem  Gaumen)  —  oder  sie 
reichen  mit  ihren  Wurzeln  in  das  kindliche  Bewusstsein  selbst  hinein. 
Sie  bestehen  in  unvollkommener  Aussprache  einzelner  Laute,  oder 
in  dem  sogenannten  Anstossen,  im  Stottern;  oder  in  einem  unver- 
standlichen, mehr  tierischen  Sichkundgeben  Überhaupt.  Diese  letztere 
Art,  die  wahrhafte  Sprachkrankheit,  wenn  die  Bezeichnung  bei  der 
Sprache  überhaupt  angängig  ist,  ist  eines  der  allerpfrössten  Hinder- 
nisse bildender  Arbeit  am  einzelnen  Kind  —  schon  im  Bereich  der 
Erfahrungspflege.  Der  Lehrer  kann  häufig  gar  nicht  herausbringen, 
was  das  IGnd  meint  So  ist  es  schon  bei  der  blossen  Benennung. 
Noch  emster  wird  der  Missstand  beim  zusammenhängenden  Reden 
im  Satze.  Die  Sprache  de%  Kindes  ist  da  ein  getreuer  Spiegel 
seiner  Vorstellung,  seines  Gedankens;  wie  seiner  Auffassung  über- 
haupt. Diesen  undeutlichen,  kaum  auslegbaren  Wörtern  und  diesen 
wie  verwischte  Schrift  schwer  oder  gar  nicht  verständlichen  Sätzen 
wenn  es  zu  solchen  kommt  1  —  entsprechen  ebenso  undeutliche, 
dunkle  Vorstellungen  und  ebenso  unsioiere,  verschwommene  Auf« 


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—    422  — 


fassungen  im  Bewusstsein  des  Kindes  und  diesen  wieder  eine  ebenso 
niedrif^  stehende  geistige  Naturkraft. 

Damit  ist  schon  der  zweite  Hauptkreis  der  Kinderfehler 
betreten  —  der  Kreis  der  inneren  Fehler.  Dieselben  liegen  nicht 
so  zutage,  wie  die  äussern,  sie  müssen  aus  dem  VcrhaiLca  des  Kindes 
gegenüber  dem  neuen  äussern  Eindruck,  aus  seiner  Axt  der  An« 
erkennung  des  Sinnes  der  Erfahrung,  wie  der  weiteren  denkenden 
Verarbeitung  derselben,  erst  erschlossen  werden.  Vorsicht  ist  da 
zweimal  geboten,  damit  nicht  \oreilig  .Annahmen  gemacht  und 
irrtümliche  Beurteilungen  unternommen  werden. 

Der  grösste  unter  allen  inneren  Fehlem  ist  die  geringe  geistige 
Naturkraft,  die  schwache  ursprungliche  Anlage.  Er  äussert  sich  im 
einzelnen  Kind  gcf^cnübcr  dem  wirkenden  sinnlichen  Kindruck  als 
Stumpfheit.  Bei  geringer  geistiger  Naturkrnft  erscheint  öfters  bestes 
leibliches  Gedeihen,  körperliche  Grösse  und  Starke.  Die  ursprüngUche 
Stumpfheit .  des  Geistes  gibt  sich  vor  allem  kund  im  Bisck.  Das 
Volk  bezeichnet  das  Sehen  des  stumpfen  Menschen  zwar  derb,  aber 
zutreffend  als  Glotzen.  Die  Volksbenennung  dieses  Sehens  weist 
darauf  hin,  dass  Stumpfsinn  den  Menschen  dem  Tiere  annähert. 
Die  ursprüngliche  geistige  Stumpfheit  ist  der  eine  Hauptiug  in  dem 
Zustande  der  Dummheit  und  der  erste  Girund  der  Faulheit.  Sie 
wird  vom  Volk  mit  Recht  als  wahres  Unglück  veranschlagt;  das 
Volk  erkennt  darin  eine  unholde  Fügung  des  Schicksals.  Ein  anderer, 
dem  anf^egebenen  entfj^cGfenc^esetzter  Fehler  ist  die  Unstätigkeit  der 
Aufmerksamkeit.  Auch  dicker  macht  sich  gCL^cnubcr  dem  wirken- 
den sinnlichen  Emdruck  sclir  nachteilig  geltend.  Der  Stumpfe  ist 
für  den  Eindruck  nicht  zugänglich,  der  Uostäte  springt  mit  der 
Aufmerksamkeit  sofort  von  demselben  ab,  so  dass  es  zu  einer 
tieferen,  bleibenderen  und  wertvolleren  Wirkung  desselben  auf  das 
Bewusstsein  nicht  kommen  kann  Stumpfheit  ist  geistige  Unbeweg- 
Uchkeit,  Unstätigkeit  ist  geistige  i*  latterhaftigkeit.  Wieder  ein  ernster 
geistiger  Fehler,  der  sidi  besonders  im  Vorgang  der  Anerkennung 
des  Snns  der  neuen  Erfahrungsvorstellung  als  recht  ungünstig  er- 
weist, ist  die  geistige  Schwerbeweglichkeit.  Bei  diesem  Zustande 
kommen  die  älteren  Vorstellungen,  welche  etwa  die  Auffassung  der 
Bedeutung  der  neuen  Erfahrungsvorstellung  sichern  sollten,  nicht 
leicht  und  nicht  reich  genug  wieder  zum  Bewusstsein,  was  air  Folge 
hat,  dass  die  neue  Erfahrungsvorstettung  in  keine,  oder  nur  tn 
höchst  dürftige  innere  Wechselwirkung  tritt  und  darum  auch  in  ihrem 
Sinne  nicht,  oder  nur  wenig  verstanden  wird.  Diese  Schwerbeweg- 
lichkeit des  Geistes  ist  der  andere  Hauptzug  in  dem  Zustande  der 
Dummheit  und  der  zweite  innere  Grund  der  I'auüieit.  .Abermals 
ein  nicht  geringer  geistiger  Fehler  ist  die  Gefangenschaft  der 
Aufmerksamkeit  in  der  Assoziation.  Derselbe  äussert  seine  nach« 
teiligen  I'ViIl^^cu  besonder-  heim  Verarbeiten  der  einzrlnen  Erfahrungs- 
vorstellungen  im  weiteren  Denken.   Nach  seiner  Kundgebung  beim 


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—   423  — 


Denken  erscheint  er  ab  Mangel  an  Achtsamkeit   Die  Assoziation 

beherrscht  da  das  Bewusstsein.  Ks  fehlt  die  Kraft,  in  der  Besinnung 
sich  davon  zu  befreien  und  darüber  zu  erheben.  Wie  die  Assozia- 
tion die  Vorstellung  mit  sich  bringt,  so  wird  sie  ohne  Prüfung  zu- 
gelassen. Und  in  der  Vorstellung,  welche  die  Assoziation  aufdrängt, 
bleibt  das  Bewusslsdn  hängen.  XMese  Gdangenschaft  der  Aufmenc- 
samkeit  in  der  Assoziation  kundigt  Passivität  als  ursprünglichen 
Grundzug  des  Bewusstseinslebens  an.  Sie  möchte  als  falsches 
Übergewicht  der  Phantasie  über  den  Verstand  angesehen  werden. 
Das  ist  sie  nicht  Sie  ist  vielmehr  eine  Art  geistiger  Gebundenheit 
Wo  sie  vorgefunden  wird,  fehlt  es  an  dem  psydäch  WeitvoUsteo, 
an  der  ursprüngUchen  inneren  Aktivität  Noch  dn  erheblicher 
geistiger  Fehler  ist  der  I  eichtsinn.  Er  äussert  sich  nuf  allen  Stufen 
des  sinnlichen  Bcwusstseins:  der  Wahrnflimung,  Anerkennung,  des 
Denkens  und  Erkeiuiens.  In  der  Wahrnehmung  tritt  er  hervor  als 
Mangel  an  Sammlung  in  der  Anfmerkaamkeit  nir  den  Gegenstand. 
Der  Leichtsinn  verweilt  nicht  beim  Gegenstand.  Er  kürzt  am 
liebsten  tändelnd  sich  die  Zeit.  Im  Vorgang  der  Anerkennung 
gebricht  es  ihm  an  Wertschätzung.  Ihm  liegt  nichts  an  der  Be- 
deutung der  Erfahrung;  so  mag  er  auch  nicht  darauf  sich  besinnen. 
Im  Akt  des  Denkens  und  Erkennens  geht  ihm  das  innere  StiOehalten 
ab.  Er  folgt  jeder  Ablenkung  durch  äussere  oder  innere  Reize. 
Die  Arbeit  des  Vergleichens,  Unterscheidens,  Begreifens  empfindet 
er  als  etwas  Unlustvolles;  darum  findet  er  sich  mit  ihr  ab,  wie  es 
angehen  mag.  Der  Fehler  des  Leichtsinns  zeigt  an  einen  Mangel 
der  geistigen  Naturkraft  und  Organisation. 

Zu  den  ursprünglichen  geistigen  Fehlern  können  noch  er- 
worbene kommen.  Sie  können  herrühren  von  geistiger  Verwahr» 
losung,  Verwilderung,  oder  Verweichlichung  und  Verfrühung,  Die 
Verwahrlosung  schafft  Verödung  im  Bewusstsein.  Weil  die  geistige 
Versorgung  abgeht,  emplaagL  das  Bc vvusstseia  keine  oder  doch  nur 
ganz  unzulängliche,  zuiälige  Anregungen.  So  sieht  es  darin  aus  wie 
auf  einem  verlassenen  Acker,  den  niemand  bestellt,  welcher  darum 
wüst  dort  Hegt,  nur  hier  und  da  von  Unkraut  bewachsen.  Die  Ver- 
wilderung dagegen  führt  zur  Entartung  im  Bewusstsein.  Hier  ge- 
schehen Einwirkungen,  aber  von  einer  rohen  Umgebung.  Die  Bilder, 
welche  infolge  davon  das  Bewusstsein  aufnimmt,  sind  Bilder  des 
Derben,  Groben,  Gemeinen.  Die  Verweichlichung  berührt  das 
Bewusstsein  sehr  nai  htcilig  nach  der  Seite  der  Erfüllung.  Sie  sieht 
im  Kind  ein  Blümchen  Rührmichnichtan.  Darum  hütet  sie  es 
ängstlich,  hält  es  viel  auf  dem  Zimmer,  entzieht  es  nach  aller  Mög- 
Ucmkdt  jedem  rauheren  Luftzuge,  jedem  wärmeien  Scmnenstrahle, 
erspart  ihm  jede,  auch  die  kleine  Anstrengung  in  der  Bewegung, 
warnt  es  vor  jeder  freien  R^ung,  sperrt  es  ab  vom  Umgang.  So 
bleiben  dem  Bewusstsein  des  verweichlichten  Kindes  viele  Gelegen- 
heiten, mit  der  £rscheinun|ßwelt  in  Berührung  zu  kommen,  ver- 


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—   424  — 


schlössen.  Die  Stube  ist  durch  Jahre  vidleicht  fast  sein  einziger 
Erfahrungskreis,  und  in  der  Stube  wieder  nur  die  Enge  seines  Spid- 
bereiches.  Das  verweichlichte  Kind  ist  darum  innerlich  dem  ver- 
wahrlosten ganz  nahestehend,  wenigstens  was  die  pfrosse  Leerheit 
seines  Bewusstseins  anbetrifft  Die  Verweichlichung  hat  freilich 
noch  eine  völlig  andere  Richtung.  Sie  sieht  im  Kind  wohl  auch 
schon  ein  Vögletn  Ffiegü1>erallinitliin.  Da  muss  das  Kind  bereits 
Anteil  nehmen  an  den  Zerstreuungen  der  „besseren"  Leute.  Es 
wird  mitgenommen  in  die  Unterhaltungen.  Ja,  es  werden  nach- 
ahmende Vcransultuagen  ausgeführt,  worin  den  Kleinen  die  JFrcudcn" 
der  Grrossen  zugänglich  gemacht  werden  soUen.  Das  Kind  tridct 
da  aus  einem  Becher,  dessen  Inhalt  es  überhaupt  nicht  geniessen 
sollte.  Seine  Aufmerksamkeit  wird  durch  Regehrungen  bestimmt; 
sie  wendet  sich  ab  von  dem,  was  nicht  in  der  Richtung  der  Be- 
friedigung dieser  Begehrungen  liegt.  Alles,  was  nicht  Lust  verheisst, 
wird  ihm  gleichgültig.  Diese  letztere  Art  der  Verwdchlidiung  be- 
gegnet heute  leider  in  grosser  Vertirdtung,  nicht  nur  bei  den  Kindern 
der  oberen  Zehntausend,  sondern  auch  bei  den  Kindern  der 
mittleren  und  unteren  Volksklassen,  wo  das  Beispiel  von  oben  ja 
so  gerne  nachgeahmt  wird.  Sie  ist  ein  wahres  Zcitübel.  Die  V^er- 
fruhung,  anscheinend  der  zweiten  Art  der  Verweichlichung  ver- 
wandt, ist  doch  wesentlich  verschieden  von  ihr.  Sie  wurzelt  in  dem 
Gedanken,  dass  das  Wissen  das  notwendigste  Erfordernis  des 
modernen  Menschen  sei.  Sie  c^lnubt  darum  schon  beim  Kind  nicht 
bald  genug  mit  dem  „Lernen"  beginnen  m  können.  Da  muss  das 
arme  Ding,  vielleicht  mit  Unterstützung  von  Bilderbüclicm,  die  den 
Inhalt  unserer  Lexika  in  verdünntestem  Umfai^e  und  angebfich 
t  völlig  kindesgemasser  Vermitteln ng  darbieten,  schon  tausend  Namen 

nufnehmen,  deren  tatsächliche  Bedeutunc^  e?;  nicht  erleben  kann. 
Der  Eifer  geht  sogar  soweit,  dass  das  Kmd  etwa  auch  schon  die 
wissenschaftliche  Bezeichnungsweise,  wissenschaftliche  Übersichten 
möglichst  bald  lernen  muss.  Das  Kind  darf  da  auch  schon  sehr 
frühe  mit  wissenschaftlichen  Forschung^mitteln  spielen.  Was  Wunder, 
wenn  ihm  der  köstlichste  kindliche  Zug,  die  Einfalt,  verloren  geht 
Wie  dns  auf  die  zweite  Art  verweichlichte  Kind  erscheint  es  an- 
gekränkelt von  Blasiertheit,  der  widerlichsten  Erscheinung  im  Um- 
kreise der  Kinder. 

Alle  die  Folgen  im  Bewusstsein  aus  Verwahrlosung,  Verwilde- 
rung, Verweichlichung  und  Veriirühung  werden  schon  im  Verhalten 
des  Kindes  gegenüber  dem  unmittelbar  wirkenden  Eindruck  als 
grosse  Beeinträchti ^Hingen  der  Bildung  erlebt.  Das  verwahrloste 
Kind  ist  fast  wie  das  stumpfe  durch  den  Eindruck  gar  nicht  inner- 
lidi  zu  erregen;  das  verwilderte  sucht  am  Eindruck  ihm  Gemässes, 
und  wofeme  ihm  der  Eindruck  solches  nicht  anbietet,  hat  es  an 
ihm  weiter  keinen  Anteil :  das  verweichlichte  Kind,  das  abp^eschlossen 
gehalten  wurde  von  der  umgebenden  Welt,  steht  dem  Eindruck 


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—   425  — 


auch  ohne  Aufmerksamkeit  gegenüber;  es  schaut  den  Gegenstand 

nur  physisch  an,  nicht  geistig.  Das  verweichlichte  Kind,  das  schon 
eingetaucht  ist  in  die  Gcniessunc^cn  der  Frwr^chsenen,  ist  nicht  mehr 
unschuldig  genug  für  das  schlichte  Aufnehmen  des  Eindrucks.  Es 
ist  in  ihm  bereits  Verderbtheit  angelegt,  die  es  hindert,  im  Gegen- 
stand nur  den  Gegenstand  zu  sehen.  Es  will  etwas  för  sich  haben 
bei  der  Erfahrung,  und  wo  ihm  das  nicht  in  Aussicht  steht,  da  gilt 
ihm  die  Sache  als  „dummes  Zeug".  Das  verfrühte  Kind  ist  in  seiner 
Meinung  über  die  einfache  Natur  weit  hinaus.  Was  ihm  so  eine 
nahe  Erfahrung  vorlegt,  das  ist  in  seinen  Augen  doch  gar  nicht 
wissenswert ;  da  hat  ihm  Herr  Papa  doch  schon  ganz  andere  Dinge 
gelernt.  Im  Akt  der  Anerkennung  der  Bedeutung  des  Erfahrungs- 
Inhaltes  versagen  alle  vier,  das  verwahrloste,  verwilderte,  das  ver- 
weichlichte und  verfrühte  Kind:  das  verwahrloste  empfindet  nicht 
die  innnere  Aufforderung  zur  Besinnung  auf  die  Bedeutung  des 
Wahrgenommenen,  weil  das  Wahrgenommene  in  ihm  keine  Repro- 
duktionen in  Bewegung  Mtzen  kann;  das  verwilderte  denkt  nicht 
an  die  Bedeutung  des  Wahrgenommenen,  weil  es  an  dem  Gegen- 
stand kein  Hrhn<jen  hnt:  dns  durch  Ahschliessung'  verweichlichte 
ist  ohne  inneres  Leben,  es  kommt  übe:  die  Stufe  blosser  Smncs- 
auinahme  des  Eindrucks  nicht  hinaus  ^  das  durch  Geniessungen  ver- 
weichlichte ist  ohne  Hingabe  an  den  Gegenstand;  das  verfrühte 
lässt  sich  mit  ihm  nicht  ein.  Endlich  bdm  Denken  und  Erkennen 
scheiden  wieder  die  vier  aus:  das  verwahrloste  und  das  durch  Ver- 
zärtelung verweichlichte  Kind  ist  zu  diesen  inneren  Tätigkeiten  gar 
nicht  imstande;  sie  sind  beim  Unterrichte  tot;  d?is  verwüderte 
bereitet  höchstens  Störungen ;  das  auf  Geniessungen  gelenkte  äussert 
Langeweile;  das  vorgesattigte  ebenfalls;  innerliches  Arbeiten  zum 
Erfassen  der  al^emeinen  Wahrheit  in  der  Erfahrung  ist  allen  zuwider. 
Besonders  beim  verweichlichten  Kind,  das  schon  dem  Genussleben 
zuf'eführt  ist,  tritt  die  Erscheinung  der  Zerstreutheit  hervor.  Es 
verweilt  in  seinen  Vorstellungen  aus  den  Erlebnissen  beim  Ver- 
gnügen, der  Unterhaltung. 

Abermals  empfinden  wir  da  die  Bedeutung  des  Familie  lür 
das  Kind  Die  beste  Naturkraft  im  einzelnen  Kind  muss  nach  und 
nach  zu  gründe  gehen,  wenn  in  der  Familie  Verirrung,  Verkehrtheit 
oder  Schlimmeres  herrscht.  Auf  das  einzelne  Kind  machen  sich 
auch  insbesondere  die  Wirkungen  aus  der  wirtschaftlichen  Lage  der 
Familie  geltend,  mit  welcher  die  übrigen  Zustände  in  der  Familie 
gewrihnh'ch  zusammenhängen.  Armut  —  Reichtum,  Not  —  Wohl- 
leben, Ringen  ums  Brot  —  Müssiggang  beeinflussen  die  erworbenen 
geistigen  Züge  des  einzelnen  Kindes  mitentscheidend.  Ein  Punkt, 
der  fier  auch  in  Frage  kommt,  ist  die  Kinderzahl  in  der  Familie. 
Lebt  in  der  Familie  die  Scheu  vor  Kindern,  so  ist  die  Rückwirkung 
davon  auf  das  eine  oder  die  paar  Kinder,  die  etwa  in  der  Familie 
geduldet  oder  ertragen  werden,  in  der  Regel  eine  unheilvolle.  Es 


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—    42Ö  — 


entstammt  daher  möglicherweise  Verweichlichung  des  Kiodes;  aber 

auch  leicht  eine  besondere  Art  der  Verwahrlosung  kann  von  daher 
kommen,  nämlich  jene,  welche  das  Kind  ils  Last  überhaupt  aus 
dem  Hause  entfernt  und  sorglos  fremden  Händen  ohne  viel  Wahl 
fiberlässt  Die  Kinderscheu,  die  wieder  vor  allem  in  der  feinen 
Familie  angetroffen  wird,  aber  auch  schon  in  der  bürgerlichen  jund 
Arbeiterfamilie  vertreten  ist,  ist  eines  der  verhängnisvollsten  Übel 
auch  in  Ansehung  des  Volkes,  ein  Anzeichen  drohenden  Niedergangs. 
Die  grossen  Erzieher  waren  im  Rechte,  welche  die  Familie  ais  den 
ersten  Hort  alles  Gedeihens,  wie  als  die  erste  Ursache  aUes  Febl- 
schlagens  des  einzdnen  Menschen  erkannt  haben.  Der  Lehrer,  dem 
namentlich  auch  daran  gelten  sdn  muss,  den  Anfangen  der  Kinder- 
fehler auf  die  Spur  zu  kommen  und  den  Nährboden  derselben  zu 
ermitteln,  muss  deswegen  auch  sich  nach  Möglichkeit  Einblick  zu 
verschaifea  suchen  in  die  kindliche  Familienlage;  von  hier  aus  nimmt 
möglicherweise  so  vieles  Ungünstige  für  das  Kind,  mit  dem  es  dodi 
der  Lehrer  im  Beruf  zu  tun  hat,  seinen  Ausgang,  und  hier  findet 
es  möglicherweise  seine  fortwährende  Unterstützung. 

Auch  die  geistigen  Fehler  des  Kindes,  sowohl  die  ursprüng- 
lichen als  erworbenen,  sind  vorstehend  nur  in  den  Haupterscbeinungen 
angedeutet  Manches,  was  insbesondere  die  erworbenen  Fehler  so 
kräftigt,  die  im  Bereich  des  kindlichen  Erfahrungsbewusstseins  dann 
als  so  nachteilig  erlebt  werden,  wie  die  moderne  Kinderspielware 
und  der  moderne  Bilderkult,  wurde  kaum  gestreift  Eine  Frage, 
welche  sich  schon  bei  dem  Punkte  von  der  Feststellung  der  leib- 
lichen Kindesfehler  herangedrängt,  ist  nun  aber  nicht  mehr  ganx 
aus  dem  Wege  zu  gehen:  Ist  dem  Lehrer  nicht  Unmögliches  damit 
zugemutet,  dass  gefordert  ist,  er  soll  die  vorfindlichen  Fehler  des 
einzelnen  Kindes,  die  geistigen  wie  die  leiblichen,  festzustellen  ver- 
suchen? Soll  der  Lehrer  da  nicht  Aufgaben  zu  lösen  übernehmen, 
die  dem  Arzt  und  Psychiater  müssen  vorbehalten  bleiben?  Auf 
die  Flage  ist  zu  erwidern:  Die  Feststellung  soll  geschehen  unter 
dem  G«ichtspunkt  der  Erziehung,  näher:  der  Bildung  des  Kindes, 
und  zv.ar  fnr*^  erste  unter  dem  Gedanken,  welches  die  Momente 
beim  Kinde  seien,  die  auf  sein  ErfahruriL^siji'wusstsein,  auf  sein 
Wahrnehmen,  /iiierkennen,  Denken  und  Erkennen  un  Bereich  der 
Erscheinungswelt  nachteilig  einwirken.  Erziehung^  Bildung,  Er- 
fahrungsunterricht  des  einzelnen  Kindes  obliegen  weder  dem  Aizt, 
noch  dem  Psychiater,  allein  dem  Lehrer.  Dr^rum  h^t  auch  nur  er 
die  geforderte  pädagogische  Untersuchung  der  Kindestehler  aus- 
zuführen. Dazu  gehört  allerdings  Vorvertrautheit  mit  den  Äusse- 
rungen der  Kind&ehler,  wenigstens  der  hauptsächlichsten.  Sokhe 
Vorvertrautheit  gehört  einfach  mit  zur  Erfüllung  des  Erziehuogs* 
berufs  am  Kind  und  sollte  darum  dem  Lehrer  vom  Seminar  aus 
mitgegeben  werden  für  sein  Leben  in  der  Schule.  Das  Seminar 
müsste  ihn  dazu  anleiten,  wie  die  Kindesfehler,  im  Zusammenhang 


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—  427  — 

mit  der  Erziehung»  Bildung  des  Kindes»  zu  beobachten  und  zu  be- 
stimmen seien.  Zum  Unglück  scheinen  viele  Seminare  noch  ganz 

unter  dem  Banne  blosser  VVissensvermittelung  zu  stehen.  Es  mag 
noch  viel  Wasser  den  Main  hinablaufen,  bis  an  allen  Seminaren 
darnach  gestrebt  wird,  den  Lehrer  zum  Kindeserzieher  vorzubilden. 
Vielleicht  weist  auch  bereits  bei  diesem  Punkte  die  Lehrerbildung 
über  die  vier  engen  Mauern  des  Seminars  hinaus.  Der  Aizt  und 
Psychiater  werden  in  dem»  was  ihres  Berufes  ist,  gerne  dem  Er- 
zieher zur  Seite  stehen:  wo  es  sich  um  medizinisches  Eingreifen 
handelt,  sind  sie  an  ilirer  Stelle.  Die  Pflicht,  solches  Eingreifen  zu 
veranlassen,  hat  aber  in  erster  Linie  die  EaniUic,  nicht  der  Lehrer. 
Die  Kindesfehler»  vne  sie  bereits  bei  der  Feststellung  des  Erfahrungs* 
bewusstseins  des  einzelnen  Kindes  sich  bemerkbar  machen,  weisen 
hin  auf  die  Grcnren  der  kindlichen  Hild'^^-iTnkeit,  hier  im  Bereich  der 
BilduP'j'  durch  I  i  tahiung  und  Erkenntnis  der  äusseren  Welt. 

Die  ^uien  Manner,  welche  das  Studium  und  nach  Möglichkeit 
die  Berücksichtigung  der  Kuidesfehler  dem  Erzieher  ans  Herz  legen 
und  ihm  hierin  mit  Lehre  und  Beispiel  vorangehen»^)  möchten  nur 
niemals  aus  dem  Auge  verlieren,  dass  das  Mass  für  das  Abweichende 
stets  das  Regelmässige,  für  das  Kranke  immer  das  Gesunde  ist, 
und  dass  die  Erziehung,  die  Bildung  ihre  Fingerzeige  zuerst  vom 
Normalen,  Gesunden  sich  abnehmen.  Auch  möchten  sie  nie  ver- 
gessen, dass  auch  das  fehlerhafte  Kind  zuletzt  ein  Menschenwesen 
ist,  dass  das  Studium  und  die  Behandlung  der  Kinderfehler  nicht 
at^elöst  werden  dürfen  von  der  Gesamtauffassung  des  Menschen» 
die  dem  Erziehungsgedanken  allein  Genüge  bieten  kann. 


IL  Die  Fattetollung  der  Eriebnisvoratonuiioeii. 

a)  Die  Feststellung  des  kindlichen  Vorstellungskreises  ist  weiter 
auch  darauf  gerichtet,  die  Vorstellungen  des  einzelnen  Kindes  aus 
seinem  Umgange,  die  Erlebnisvorstellungen,  aufzusuchen  und  nach 
ihrem  Qiarakter  und  Wert  zu  ermitteln.   Während  die  Erfahrungs« 

Vorstellungen  hauptsächlich  dem  Bereiche  der  Xatur  entstammen, 
kommen  die  Erlcbnisvorstellungen  hauptsächlich  aus  dem  Bereich 
des  Menschlichen  in  seinem  weitesten  Sinne. 

b)  Als  Sinnesvorstellungen,  das  heisst  als  Vorstellungen,  die  vor 
aUem  wieder  vermitteb  des  Gesichts,  Gehörs»  der  Glieder  erworben 
werden»  zerfallen  jiuch  die  Erlebnisvorstellungen  nach  dem  psycholo* 


Unermüdlich  lälig  auf  dluSL-m  siml  iii-ibesondt're  mehrere  Männer,  die  auf 

dem  l^udcn  der  i'oJagogik  Herbarts  gestanden  und  wohl  noch  stehen;  vor  allen  Herr 
J.  Trüper,  Direktor  dei  Privaternelliuifaheiins  für  tebcwet  croelibMe  Kinder  «af  der 
Sophifänfaiöhe  bei  Jcnt. 


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—   428  — 


gischen  Charakter  in  einfache  und  xitsaimnengesetzte  und  beidemak 
in  unimttelbar  emplundene  oder  blosse  ErinnerungeiL 

c)  Doch  fallt  bei  ihnen  die  Trennung  nach  ^nnesgebieten  weit 

wenirrer  ins  Gewicht  als  bei  den  Erfahrungsvorstellungen.  Ai;-^ 
treten  unter  ihnen  die  Gegenstandsvorstellungcn  entschieden  zurück 
hinter  die  Vorstellungen  des  Geschehens. 

d)  Den  Merkmalen,  woran  der  psychologische  Wert  der  Vor- 
stellungen gemessen  wird,  unterliegen  natürtich  auch  die  Erlebnis 
Vorstellungen;  wie  sie  auch  dieselbe  psychologische  Entwickdung 
nehmen  können,  welcher  wir  bei  den  Erfahrungsvorstellungen  bc^qgnea 

c)  Ebenso  scheiden  sich  im  Bereich  der  Erlebnisvorstellün^er 
allmählich  die  Vorstellungen  der  Formen,  unter  welchen  auch  nier 
das  sinnUch  Gegebene  erscheinen  muss,  die  Vorstellungen  von 
Raum  und  Zeit,  nebst  ihrer  Begleiterin,  der  Vorstellung  der  Zahl, 
von  den  Vorstellungen  der  Dinge  und  Vorgänge  selbst  ab  —  ab 
Idare  oder  unklare,-  deutliche  oder  undeutliche  Gebilde. 

Auf  den  Frlcbnisvcrstellungen  beruht  das  Erlebnisgcdächtnis 
und  mittelbar  ein  eigentümliches  Raum-,  Zeit-  und  Zahlgcdächtnis. 

g)  Auch  im  Umkreis  der  EriebnisvorstcUungen  erwacht  ein 
höheres  Greistesleben,  ein  besonderes  Denken  und  eine  besondere 
Phantasie,  und  die  Erlebnisvorstdlungen  finden  wieder  ihren  Aus* 
druck  durch  das  Mittel  der  Sprache  im  weitesten  Sinn. 


Die  Feststellung  der  EriebnisvorstcUungen  des  einzelnen  iOndes 
geht  vor  allem  wieder  von  der  Beobachtung  aus,  ob  im  Kind  das 
Bewußtsein  von  Erlebnisvorstellungen  überhaupt  bereits  angelegt  sei, 

das  heisst,  ob  im  Kind  die  Scheidung  der  Erlebnis-  von  den  Er- 
faluungsvorstellungen  schon  angesetzt  iiabe.  Hat  das  Kind  ncLcii 
den  Anfangen  eines  Bewusstseins  von  der  Natur  schon  die  Anfange 
eines  geschichtlichen,  religiösen  Bewusstseins?  Das  ist  die  wichtig 
Frage,  über  welche  der  Lehrer  im  Umkreise  der  Erlebnisvorstd- 
lungen zuerst  einige  Gewissheit  sich  verschaffen  muss.  Durch  den 
Umstand,  dass  in  den  Erlebnisvorstellungen  das  kindliche  geschicht- 
liche und  religiöse  Bewusstsein  beschlossen  liegt,  ist  zugrleidi  die 
Besonderheit  der  ErlebnisvofStellungen  und  ihre  hohe  Bedeutung  für 
die  Erziehunf^  angezeigt. 

Die  Erlebnisvorstdlungen  stammen  aus  den  Lcbensgebictcn,  in 
welche  das  einzelne  Kind  möglicherweise  eingetreten  ist.  Das  be- 
deutsamste aller  Lebensgebiete  für  das  einzelne  Kind  ist  die  Familie. 
Daran  reiht  sich  an  die  Spielgemeinschaft  —  die  Kameradsdiaft. 
Weiterhin  kommen  in  betracht:  die  heimatliche  Gemeinschaft  (die 
Nachbarschaft),  die  Stammes*  und  Volksgemeinschaft,  die  kirchliche 
Gemeinschaft  Die  Vorgange  in  der  Fan^e,  die  heiteren  und  frohen 


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—  429  — 


Begebenheiten  im  kameradschaftUcben  Kreise,  aber  auch  die  un- 
angenehmen, die  Ereignisse  in  der  Nachbaischaft,  in  der  Heimat, 
die  heimatliche  Arbeit,  die  heimatlichen  Feste,  die  Momente  des 

Andenkens  an  Ver^ani^enes  in  der  FamiHe,  Heimat,  bei  Stamm  und 
Volk,  der  Gottesdienst,  die  kirchlichen  Feste,  die  Überlieferung  (im 
weitesten  Sinne)  —  dies  alles  kann  eingehen  in  das  kindhchc  Er- 
lebnisbewusstsein.  Insbesondere  ftlr  die  Stetigkeit  der  Bildung  ist 
es  von  grosser  Bedeutung,  dass  die  Erlebmsvorstellungen  des 
einzelnen  Kindes  aufgefunden  und  als  Grundlagen  fiir  den  Unterricht 
benutzt  werden. 

In  den  kindlichen  Krlebnisvorstellungen  beruht  die  Möglichkeit, 
durch  Geschichte  und  ReUgion  das  einzelne  Kind  innerlich  zu  be- 
einflussen. Durch  die  Erlebnisvorstellungen  allein  wird  Geschichte, 
Religion  für  das  Kind  nach  dem  Inhalte  vorstellbar.  Die  auslegende 
Aufmerksamkeit  des  einzelnen  Kindes  in  Geschichte,  Religion;  die 
geschichtliche,  religiöse  Anerkennung  seitens  des  einzelnen  Kindes 
liängt  durchaus  ab  von  seinem  Erlebnisbewusstsein;  aber  auch  alles 
Einsehen  des  einzelnen  Kindes  in  den  angedeuteten  Lehrgebieten. 
Darum  wollte  Pestalozzi  die  religiöse  Bildung  des  Kindes  beschränkt 
wissen  auf  die  kindlichen  reUgi(>sen  Eriebnisgelegenheiten.  Das 
Kind  untersteht  in  der  Gestaltung  seiner  Erlebnis v^orst eil ungen  dem 
naiven  Vermenschlichen.  Es  betätigt  den  Zug,  das  Lebendige  zu 
nehmen,  wie  es  sich  selber  nimmt.  Ja  es  verleiht  selbst  dem  Toten 
eine  Seele,  die  seiner  gleicht.  Und  ^e  es  das  Irdische  aufiasst, 
als  ob  es  Ihm  wie  ein  Bruder  verwandt,  die  Abspiegelung  seines 
Ich  sei;  so  denkt  es  '^ich  auch  das  Überirdische,  GröttHche,  Dämo- 
nische ganz  in  P'instimmung  mit  sich  selber  —  wenn  es  in  seinem 
Geistföleben  so  weit  kommt.  Das  ist  die  andere  phantasiemässigc 
Auffassung,  wdche  das  kindliche  Bewusstsein  kennzeichnet 

Das  Erlebte  geschieht  an  seinem  Ort,  in  seiner  Zeit,  unter 
sdnra  Umständen.  Dadurch  verknüpfen  sich  mit  den  Erlebnis- 
vorstellungen bestimmte  Raum-  und  Zeitvorstellungen,  sowie  be- 
stimmte Zustandsvorstellunt^^en.  Mit  den  Raum  Vorstellungen,  welche 
sich  an  die  Erlebnisvorstciiuagen  notwendig  anschliessen ,  werden 
dieselben  mittelbar  der  Ausgang  der  kin<Sichen  Aufmerksamkeit 
auf  das  Geog^phische.  Mit  den  Zeit-  und  Zustandsvorstellungen, 
welche  sich  an  die  Erlcbnisvorstcllungen  knüpfen,  werden  dieselben 
mittelbar  der  Anfang  der  kindlichen  Aufmerksamkeit  auf  das 
Kulturgeschichtliche  (im  engeren  Sinnel  -) 

Die  Feststellung  des  vorhandenen  kindlichen  Eriebnisbewusst- 
seins  richtet  sich,  gleich  jener  des  kindlichen  Effahrungsbewusst- 


*)  Wie  Gertrud  ihre  Kinder  lehct,  tj.  14.  Brief.  AugewUilte  Werke  (lieiw»- 
gelben  von  Mana),  III.,  273  fr. 

*)  Voo  Uer  «u«  erOflaet  sich  eine  gtttuUge  AmAäA  auf  die  Komentialioa  de« 
Unleniclilt  tmA  ihicr  piyehologiielKn  Seite. 


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—  430  — 


seins»  auf  das  Verhalten  des  Kindes  gegenüber  dem  wirkenden 

Eindruck,  auf  das  Verhalten  im  Vorgang  der  Anerkennung  und 
beim  geistigen  Durcharbeiten  des  FJrlebten.  Aber  sie  ist  in  einer 
ungleich  schwierigeren  Lage;  denn  sie  kann  in  den  meisten  Fällen 
die  Gelegenheit  für  die  Wirksamkeit  des  Eindrucks  nicht,  wie  es 
erwünscht  erscheint,  herbeÜiihren;  sondern  sie  tnnss  sich  vertröstcni 
bis  einmal  die  Gelegenheit  geboten  ist.  Sie  kann  in  der  Regel  dem 
Kind  nicht  folgen  in  seine  Lebenskreise;  die  kindlichen  Erlebnisse 
werden  meistens  im  rein  individuellen  Umgang  gemacht  Es  erhellt 
daraus,  wie  leicht  die  kindliche  Bildung  in  Geschichte,  Religion 
Gefahr  lauft,  dem  Kinde  gar  nicht  gemäss  zu  sein.  Die  Anfange 
des  geschichtlichen,  religiösen  Sinns  im  einzelnen  Kinde  zu  Im> 
stimmen,  das  Mass  seiner  Aufmerksamkeit  für  Geschichte,  Rdigioo 
zu  ermitteln,  wie  dieselbe  als  Ergebnis  aus  der  Anregung  seiner 
geistigen  Naturkraft  durch  den  Umgang  hcrvorgj^eht,  dabei  die  Rück- 
wirkungen aui  dieses  Ergebnis  aus  der  ieibiichea  Organisation  des 
Kindes,  seinem  Gesundheitsstande,  seinen  geistigen  Fehlern  mit  zu 
veranschlagen,  mag  jedenfalls  viel  schwerer  gelingen,  als  die  Lösung 
der  entsprechenden  Aufgabe  im  Bereich  des  kindlichen  Erfahrungs- 
bewusstseins. 

Es  wird  hier  noch  dringlicher  wie  vorher  die  Notwendigkeit 
fiir  den  Lehrer  empfunden,  sich  so  nahe  als  möglich  zum  einzdnen 
Kinde  und  zu  den  Kreisen  zu  halten,  unter  deren  Einfluss  es  stand 

und  steht. 

Die  Höhe  des  einzelnen  Kindes  in  seinem  Krlebnisbewusstscin 
kommt  näherungsweise  zum  Ausdruck  in  seiner  Fähigkeit  zu  er- 
zählen und  in  seinem  SpieL  Die  Erzählung  des  dnzdnen  Kindes 
offenbart  namentlich,  wie  wenig  oder  wie  tief  das  Kind  bereits 
eingetaucht  ist  in  die  Uberlieferungen,  wie  eng  oder  wie  weit  der 
Kreis  seiner  Anteilnahme  am  Menschlichen  ist.  Sein  Spiel  gibt 
ebenfalls  kund,  ob  und  wie  weit  es  schon  vom  Leben  der  Menschen, 
von  der  Uberlieferung  berührt  ist 

Die  Feststellung  des  Erlebnisbewusstseins  des  einzelnen  Kindes 
sollte  abschliessen  mit  der  Bestinunung  des  gegebenen  geschicht- 
lichen, religiösen  Bewusstseins  im  cinzclnrn  Kinde,  der  Erkenntnis 
der  Begünstigungen  und  Hemmungen  des  emzelnen  Kindes  dann 
in  seinem  Umgang  wie  in  seinen  persönlichen  Eigenschaften.  Gerade 
die  Feststellung  des  kindlichen  Erlebnisbewusstsdns  fuhrt  wieder 
zurück  auf  die  ausschlaggebende  Bedeutung  der  Familie  für  die 
Erziehung  des  Kindes.  Einer  Familie  ohne  Aufmerksamkeit  auf 
das  Menschliche,  ohne  Sinn  für  Uberlicferuncr,  ohne  kirchlichen 
Geist,  einer  FamUie,  die  nichts  pflegt,  nichts  mitlebt,  die  aufgebt 
entweder  in  der  Sorge:  Was  werden  wir  essen?  trinken?  anziehen? 
oder  aufgeht  im  Häufen  des  Beatzes,  in  der  die  Gleichgültigkeit 
oder  die  Menschen  Verachtung  wohnt,  die  geistige  Verkümmerung 
oder  die  moderne  geistige  Nichtigkeit:  einer  solchen  Familie  Icano 


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—  431  — 


auch  kein  in  seinem  Erlebnisbewustscin  gesegnetes  Kind  entspriessen. 
Ein  gut  Teil  der  einzelnen  Ausiuhningen  zur  Feststellung  des 
ländlichen  Erfahrungsbewusstseins  hat  auch  Gültigkeit  iur  die  Fest- 
steUung  des  ländlichen  Erlebnisbewusstseins.  Es  sei  dem  geneigten 
Leser  anheimgegeben,  die  Anwendungen  selber  zu  vollziehen. 

B.  Die  Feststeilung  des  kindlichen  Gemütskreisea. 

Die  Gemütskenntnis  des  Kindes  ist  aufs  innigste  verbunden 
mit  seinem  Vorstellungsk reise  und  der  N'.itur  der  Sache  nach 
eigentlich  davon  nicht  abzutrennen.  Wenn  er  gleichwohl  hier  eine 
gesonderte  Betrachtung  erfahrt,  so  geschieht  das  vor  allem  wegen 
der  erhöhten  Deutlichkeit,  welche  damit  för  die  Betrachtung  des 
kindlichen  Gemütskreises  gewonnen  wird.  13 er  Gemütskreis  zerfallt 
in  die  zwei  Gebiete:  der  sinnlichen  und  geistigen  Gefühle.  Unter 
den  sinnlichen  Gefühlen  ist  für  die  Erziehung  bei  weitem  das 
wichtigste  das  Gemeingefühl.  Dasselbe  ist  sozusagen  die  seehsche 
Resonanz  aus  dem  Gesamtverhältnis  zwischen  Leibeszustand  und 
Bewusstsein.  In  ihm  beruht  die  innere  Stimmung.  Sofern  es  ge- 
knüpft ist  an  die  beharrende  körperliche  Organisation,  beziehentlich 
an  den  körperlichen  Zustand,  welcher  mit  dieser  gegeben  ist,  gehört 
es  zu  den  dauernden  Zügen  des  Seelenlebens.  Es  ist  vermutlich 
die  Grundlage  des  Temperaments.  Das  gesamte  übrige  Seelenleben 
wird  durch  das  Gemeingefühl  beeinflusst  Dies  macht  man  aus, 
wenn  man  das  frohgemute  Kind  beobachtet  gegenüber  dem  durch 
Leiden  gedrückten.  Vom  Gemeinc^efühl  rührt  her  die  Färbung,  in 
der  uns  die  Welt  erscheint.  Dem  ungestörten,  freien  Gemeingefühl 
entspricht  cm  heiteres  Verhältnis  zu  den  Dingen,  dem  nieder- 
gebeugten, gebundenen  ein  trübseliges.  Die  ganze  Bildung  hat  mit 
dem  Gemeingefühl  als  ihrem  Bundesgenossen  oder  Gegner  zu 
rechnen.  Man  muss  die  Wichtigkeit  des  Geiiicitii;efühls  für 
Empfänglichkeit,  Vorstellungsverlauf,  innere  Aufgelegtheit  und  Aus- 
dauer bei  geistiger  Arbeit  in  Zeiten  der  Krankheit  in  sich  selbst 
erlebt  haben,  um  gehörig  zu  ermessen,  welche  Tragweite  für  die 
Erziehung  ihm  zukommt  Es  schliessen  sich  aber  auch  an  die 
sinnlichen  Vorstellungen  Gefühle  an.  Schon  durch  die  zusagende 
oder  nicht  zusagende  Erregung  des  Sinnesorgans  entstehen  wohl- 
tuende oder  schmerzende  Gefühle.  Die  sinnlichen  Vorstellungen 
bewirken  aber  auch  Gefühle  durch  die  Beeinflussung  des  äugen» 
blicklichen  Bewusstseinsstandes.  Sie  erwecken  Empfindungen  der 
Befriedigung  oder  Missbefiriedigung,  je  nachdem  sie  das  gegen- 
wärtige Bewusstsein  günstig  oder  ungünstig  berühren.  Die  sinn- 
lichen Vorstellungen  erwecken  auch  Gefühle  durch  die  Rück- 
wirkungen auf  den  Vorstellungsverlauf.  Wenn  sie  Erwartungen  be- 
gegnen und  diese  eriutten,  kommt  der  Vorstellungsverlauf  in  guten 
Zag,  und  daran  schliessen  sich  Lustgefühle;  wenn  sie  aber 


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—   432  — 


Überraschungen  oder  gar  Bestörzungen  hervorrufen,  gerat  auch  leicht 

der  Vorstellungsverlauf  ins  Stocken,  und  daran  schliessen  ^ch  Un» 
lustc^efühle.  Damit  ist  freilich  der  Bereich  der  sinnlichen  Gefijhle 
fast  überschritten.  Eine  besondere  Art  der  sinnlichen  (refühle  sind 
diejenigen ,  die  sich  an  bestimmte  i^arben-,  Gestalt-,  Tonwahr- 
nehmungen  knüpfen  und  Elemente  ästhetischen  Empfindens  ab- 
geben. Abermals  eine  eigene  Art  der  sinnlichen  Gefühle  sind  jene, 
die  sich  an  die  Bewegungen  der  Glieder  knüpfen;  sie  gehen  ein  in 
das  Selbstgefühl.  Die  Gelegenheit  zur  Beobachtung  des  Gemein- 
gefühls im  Kind  ist  der  gesamte  Unterricht  in  seinen  matuugi altigen 
Zumutungen  an  das  einzdne  Kmd.  Bei  der  andeutenden  Besprechung 
der  Kindesfehler  ist  bereits  etwas  der  verschiedenen  kindUchen 
Krankheitszustände  gedacht,  aus  welchen  die  Minderung  des  Gemein- 
gcfühls  in  besonderem  Masse  erfolgt.  Auch  die  Verweichlichung 
kann  auf  das  Gemeingefühl  und  im  Zusammenhang  damit  auf  das 
Selbstgefühl  sehr  nachteiUg  zurückwirken.  Es  sind  aber  namentlich 
die  zwei  Augenblicke  der  unmittelbaren  Wahrnehmung  und  der 
denkenden  Verarbeitung  des  Neuerfahrenen  oder  -Erlebten,  bei 
welchen  5?ugleich  auf  die  Gefühlsseite,  auf  die  Rückwirkung  des 
Kindrucks  auf  das  kindliche  Bewusstscin,  sowie  auf  den  Eünfluss 
des  Gemeingefuiils  auf  Hmpfaiigiichkeit  und  Innere  Arbeitslust, 
gemerkt  werden  sollte. 

Unter  den  geistigen  Gefühlen  sind  zu  unterscheiden  die  inner- 
liehen  Kraftgefühle,  die  Schönheit?;  ii^a- fühle,  die  sittlichen  und 
religiösen  Gefühle  Die  innerlichen  Krattgefühle  wurzeln  m  dem 
Vorgang  der  Anerkennung  und  des  Erkennens.  Stösst  die  An- 
erkennung auf  Ifindermss^  oder  will  sie  überiiaupt  nicht  gelingen, 
weiss  man  nur  mit  Mühe  und  Not  das  Neue  geistig  unterzubringen, 
oder  kann  man  es  gar  nicht  bewältigen,  so  entstehen  in  der  Seele 
Gefühle  innerlichen  Unvermögens;  geschieht  hingegen  die  An- 
erkennung mit  Leichiii^keii,  findet  man  sich  gegenüber  dem  Neuen 
mühelos  zurecht,  geht  die  Ausgleichung  zwischen  Altem  und  Neuem 
ohne  Reibungen  und  Verzögerungen  vor  sich,  so  regen  sich  Gefühle 
innerlicher  Überlegenheit.  Ähnlich  im  Akt  des  ß-kennens.  Will 
es  damit  nicht  vorwärtsgehen,  ist  das  Bewusstsein  in  der  Lage  jener 
Gestalt  der  Sage,  welcher  der  Stein,  den  sie  mit  Händen  und 
Füssen  von  der  Au  aufwäUte  zum  Berge,  mit  Einemmal  entstürzte, 
gerade  als  sie  ihn  glaubte  su  drehen  auf  den  Gipfel,  dann  entstehen 
starke  Unlustgefiihle^  die  sich  bis  zum  Zustande  innerer  Gepresstiictt 
steigern  können.  Da  versagen  nach  und  nach  die  Erinnen-nc^en, 
es  wird  öde  im  Bewusstsein,  es  regen  sich  V  erlegenheitsgetühic, 
über  das  Bewusstsein  legt  sich  die  Empfindung  eines  wachsenden 
Drucks.  Schreitet  liingegen  das  Denken  fort,  fliessen  die  Repro- 
duktionen ohne  Zögern  und  ergiebig  herbei,  wird  die  allgemeine 
Bedeutung  und  Geltung  des  P'rfahrenen  oder  Frlebtcn  heller  und 
heller  erkannt,  so  bemächtigt  sich  der  Seele  auch  wachsende  Freude^ 


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—  433  — 


das  Geföhl  gütiger  Stirke.  Hier  ergeht  Einladung  an  den  Lehrer» 
die  Folgen  der  Gemassheit  der  BUdiing  iUr  das  geistige  Leben  und 

gegenteils  der  Nichtgemässheit  zu  erwägen  und  im  Lichte  solcher 
Erwägung  die  geltenden  Lehrpläne  für  die  Kleinen  anzusehen.  In 
der  Hebung  des  innerHchen  iCraftgefühls  beruht  das  Geheimnis  der 
Erzeugung  von  Interesse  im  Sinne  von  Aufmerksamkeit;  in  der 
Lahmung  des  innerlichen  Kraftgefühis  liegt  die  Ursache  der  Interesse* 
losigkeit  im  Sinne  von  Gleichgültigkeit  oder  gar  Widerwillen  beim 
Unterrichte.    In  der  Belebung  des  innerlichen  Kraftgefühis  beruht 


Grund  der  Disdplinlosigkdt  im  Sinne  geistiger  Abweisung  ver* 

suchter  bildender  Einflussnahme.  Die  Krafikgeföhle  weisen  zurück 
auf  die  gcistif^c  N  itr.rkraft  und  auf  die  erworbene  Anlage;  aber  die 
wertvollste  Naturkratt  und  die  günstigste  erworbene  Anlage  erschöpft 
sich  und  leidet  unter  den  bitteren  Gefühlen  ergebnisloser  An- 
strengungen, wenn  das  Gesets  der  Gremässheit  durch  die  Lehrpläne 
nicht  befolgt  wird.  Die  Gelegenheiten  zur  Achtsamkeit  auf  die 
Äusserungen  des  innerlichen  Kraftgefühls  beim  einzelnen  Kind  sind 
schon  angezeigt:  der  Vorgang  der  Auffassung  des  Erfahrenen  und 
Erlebten  und  des  Eindringens  in  seinen  beg^fflichen  Sinn.  Die 
Entäusserung  der  Gefühle  geschieht  durch  Auge,  Miene,  Stimme 
und  Haltung.  Schon  bei  den  sinnlichen,  noch  mehr  aber  bei 
den  geistigen  Gefühlen  muss  der  Lehrer  trachten  nach  Bekannt« 
schnften  mit  den  Kundgebungen  der  Gefiihle,  dem  Ausdruck  der 
Gemütsbewegungen. 

Die  SchönheiLbgciuhle  sind  Gefühle  des  Wohlgefallens  oder 
Missfallens  an  dem  Sdieine,  in  dem  das  sinnlich  Gegebene  sich  darstellt. 
Es  ist  gestreift,  dass  in  die  Schönheitsgefühle  sinnliche  Gefühle  als 
Elemente  eingehen.  Das  kindlirhe  Gefallen  oder  Nicht  [gefallen  steht 
ursprünglich  in  engster  Be/irliung  zu  seinem  Ich.  Es  kommt  darin 
sein  persönliches  Verhältnis  zu  Dingen  oder  Vorgängen  zur  Gellung. 
Schön  ist,  was  Lust  bereitet;  garstig,  was  Unlust  macht  Dassels 
kann  jetzt  für  schön,  darauf  für  garstig  gehalten  werden,  je  nach- 
dem CS  das  einemal  Behagen,  das  anderemal  Missbehagen  bereitet. 
Das  kann  man  im  Benehmen  des  Kindes  gegenüber  dem  Spielzeug 
erfahren.  Das  Kind  wird  stofflich  gereizt^  es  ist  schliesslich  die 
Art,  wie  es  durch  etwas  Wahrgenommenes  in  seinem  Bewusstsein 
angeredet  wü-d,  darüber  entscheidend,  welches  Gefühl  es  dem 
Wahrgenommenen  entgegenbringt  und  welchen  Geschmackswert  es 
ihm  verleiht.  Doch  sind  auch  Augenblicke  reinen  Wohlgefallens 
am  Scheine  sehr  frühe  beim  einzelnen  Kinde  festzustellen.  Die 
kindliche  Geschmacksstufe  tritt  hervor  im  Verhalten  des  Kindes 

Gegenüber  dem  wirkenden  Eindruck,  dann  beim  Unterricht  in  dem 
Lunstmassigen  (Gesang,  Dichtung,  Bild -Darstellung).    Weisst  die 
Benennung  Geschmack  für  die  ureiuhlsschätzung  im  Gebiete  des 

PldHOCiMh«  8«adtea.  XXX.  f.  fS 


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—  434  — 


Schonen  nicht  auf  dn  ursprüngliches  psychologisches  Veriiähnii 
dieser  Scliätzung  zu  den  Empfindungen  des  Angenehmen  •  Uih 
angenehmen  im  Bereich  des  GreschmadcssinnSr  auf  das  Herüber- 
wirken  von  Gefühlsassoziationen  hin? 

Die  sittlichen  Gefühle  sind  anfänglich  wieder  Lust-  und  Unlust- 
gefühle.  Das  erste  Mass  für  die  Wertschätzung  im  Gebiete  des 
Lebens  wird  abermals  genommen  aus  der  Beziehung  des  Gewerteten 
zum  Ich;  in  dem  Beifall  oder  Tadel  spiegelt  sich  lediglich  die 
eigene  erlebte  Gefiihlsbcgahung  oder  -Verneinung  durch  die  Be- 
rührung von  dem  Gegenstand ,  der  gelobt  oder  gescholten  wird. 
Und  auch  hier  kann  es  sich  begeben,  dass  der  nämliche  Gegen- 
stand nun  für  gut  und  dann  für  böse  «mgesehen  wird,  je  nachdem 
er  entweder  ab  angenehm  oder  als  unangenehm  zur  Empfindung 
kommt.  So  sind  die  ursprünglichen  sittlichen  Gefühle  des  einzelnen 
Kindes  wie  die  ersten  Schönheitsgefühle  desselben  nur  dem  Namen 
nach  das,  als  was  sie  psychologisch  anerkannt  werden  möchten. 
Sie  reichen  mit  ihren  Wurzeln  noch  tief  in  den  Boden  der  sinn- 
lichen Seite  des  Geisteslebens  hinein.  Eine  Stufe  höher  stehen  die 
vorfindlichen  Sympathie-  und  AntipathiegefilQile  des  einzelnen  Kindes^ 
Die  Wertung  nach  Lust-Unlust  ist  vielleicht  noch  die  tierische.  Die 
Wertung  nach  Sympathie- Antipathie  ist  der  Beginn  menschlicher 
Beurteilungsweise.  Das  Sympathiegefühl  und  das  Antipathief^cfühl 
ist  in  seinem  Wesen  noch  durchaus  verwandt  der  Lust-Unlust  und 
wie  diese  verknüpft  mit  dem  persönlichen  Verhältnis  zu  dem  Gegen- 
stände, dem  es  Das  älteste  Ssrmpathiegefühl  ist  wohl  das  gegen 
die  Mutter,  danach  das  gegen  den  Vater.  Hieran  reihen  sich  die 
Sympathiegcfühle  mit  Gespielen  (Geschwistern),*)  dem  (vermensch- 
lichten) Spielzeug,  Verwandten,  Bekannten  (Nachbarn,  Heimat- 
genossen), Stammes-,  Volks-,  BekenntniszugdiÖrigen.  Das  Familien- 
gefühl, das  Heimatgefuhl,  das  Stammes-  und  Nationalgefühl,  das 
kirchliche  Gemeinschaftsgefühl  ist  in  seinem  Kerne  Sympathiegefühl. 
Das  Antipathiegefühl  regt  sich  bereits  gegenüber  der  Umgebung, 
im  Kreise  der  Kameradschaft,  dann  wider  Fremde,  zumal  Fahrende 
(Zigeuner,  Scherenschleifer),  wider  das  „Gresindel",  die  Anders- 
gläubigen, Juden,  in  Zeiten  auch  gegen  andere  Volksangehörige 
^egen  die  Engländer  beim  Burenkriege).  Das  Sympathie-  und 
Antipathiegefühl  äussert  sich  in  der  Übertragung  auch  gegenüber 
Tieren,  Pflanzen.  Es  gibt  geliebte  und  gescheute  Tiere  wie  Pflanzen. 
Das  Sympathie-  und  Antipathiegefühl  ist  ein  noch  völlig  natür- 
liches, ein  .^leidnisches"  Gefiihl.*)  Abermals  eine  höhere  Stufe  im 
attlichen  Gefühl  zeigt  an  das  Verhalten  gegen  Gutes  oder  Böses 
wie  gegen  Schönes  oder  HässUches.  Damit  hat  das  einzehie  Kind 


')  Iphigenie  von  Goethe,  I.  I. 
«)  MatÜHas,  V,  46.  47. 


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—  435  — 

das  wahrhafte  sittliche  Gefühl,  wenigstens  im  Anfange,  erreicht 

Gleichwie  reines  ästhetisches  regt  sich  reines  ethisches  Wohlgefallen 
möglicherweise  sehr  frühe.  Schon  öfters  erkannten  wir  bisher  die 
Familie  als  Glück  oder  Unglück  für  die  Erziehung  des  einzelnen 
Kindes.  Bei  den  höheren  Gefühlen,  dem  Schönheits-  und  sittlichen 
Crefuhle,  bedeutet  die  Familte  noch  vid  mehr  als  in  aQem  Bis- 
herigen Heil  oder  Unheil  für  die  Erziehung.  Wohl  dem  Kinde,  dem 
von  frühe  an  in  seinem  häuslichen  Kreise  Anmut  und  Würde  nahe 
trat!  Das  wahrhafte  sittlich?*  Gefühl  äussert  sich  im  Hmpfinden 
gegenüber  Erlebnissen  von  Fncde-Streit;  Lohn-Strafe;  Frc'jndscbaft, 
ueschwisterliebe  -  Feindseligkeit,  Hass;  Barmherzigkeit,  Hilfe  •  Harte, 
Obeltat;  Unschuld,  Zufriedenheit -Begehrlichkeit,  Neid;  Mut-Ver- 
zagtheit; Treue-Falschheit;  Gehorsam* Unfolgsamkeit  .  .  .  Die  Fest- 
stellun«^'  im  fmkreise  des  sittlichen  Gefühl«;  achtet  darauf,  ob  das 
einzelne  Kind  noch  ganz  selbstisch  empfindet,  roh,  fühllos  sich 
äussert,  in  der  Unschuld  Flecken  iiat^  oder  ob  es  Ansätze  besitzt 
zu  Familien-,  Freundscfaafts-,  Heimat«,  Stammes-,  National-  und 
kirchlichem  Gremeinschaftsgefiihl;  Ansätze  auch  edleren  Empfindens 
gegenüber  Tieren,  Pflanzen;  besonders  aber,  ob  sich  srhon  wirklich 
ethisches  Fühlen  vornndet  —  Wohlgefallen  am  Guten,  MissfiUcn 
am  Schlechten.  Sie  merkt  auch  auf  die  Gemiitsfehier :  ob  sich 
Ansätze  zeigen  zu  Abneigungen  gegen  Fremde,  Andersgläubige; 
Ansätze  zu  nationaler  Antipathie,  zum  Rassenhass;  Emp^ndungs* 
eigenheiten  gegenüber  bestimmten  Tieren,  Pflanzen.  In  den  Sym- 
pathie- und  Antipathiegefühlcn  hat  eine  Reihe  von  Zügen  der 
Individualität  ihre  Grundlage:  der  kindliche,  der  FamiUenzug,  der 
heimatliche,  der  stanunestümliche,  der  nationale,  der  konfessionelle, 
der  soziale.  Erinnern  wir  uns  hier  daran,  dass  die  Individualität 
die  natürliche  Achse  der  Erziehung  ist,  und  dass  die  Enddhud^  aUe 
berechtigten  wertvollen  Züge  derselben  zu  schonen  und  zu  pflegen, 
hingegen  die  unberechtigten,  nachteiligen  Züge  derselben  zu  be- 
kämpfen und  nach  Möglichkeit  zu  überwinden  hat;  so  kommt  uns 
ein  Bewusstsein  von  der  Bedeutung  der  Sympathie-  und  Antipathie- 
gefühle für  die  Erziehung  des  Kindes.  In  den  wahrhaft  etluschen 
Gefühlen  des  Kindes  liegen  die  Anfange  des  Gewissens;  diese 
Gefühle  sind  die  Grundlage  des  besseren  Ich  im  Kinde.  Nur  von 
hier  aus  ist  es  für  das  Gute  zugänglich.  Alle  die  edleren  Äusserungen 
eines  Sinnes  für  Recht  und  Unrecht,  eines  GefUhls  för  wahre  ^re 
und  Schande,  eines  Gefühls  für  Verantwortlichkeit  und  Zurechnung, 
eines  Anfangs  der  wirklichen  Ehrfurcht  und  Achtunt^,  der  Empfindung 
innerlicher  Reue  beruhen  anf  rfiescn  Gefühlen.  Sie  sind  der  Keim 
des  moralischen  Charakters.  Der  Lehrer  wird  unter  allem,  was  im 
kindlichen  Geistesleben  seine  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nimmt, 
diesen  Geföhlen  die  grdsste  Schätzung  entgegenbringen.  Wo  sie 
angetroffen  werden,  da  mag  er  in  der  Hoffnung  des  Sämanns  leben, 
der  den  Samen  auf  gutes  L^nd  streut,  wo  er  aufgenonuncn  wird 


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und  Frucht  bringt,  dretssig-,  sechzig-,  hundertfaltig.')  In  den  Sym* 
pathicgcfühlen  und  in  den  ethischen  GefUhlen  liegt  die  stille  Heimat 
des  einzelnen  Kindes  beschlossen,  da  ruht  sein  Sdiatz,  bei  dem  sein 
Herz  ist. 

An  die  sittlichen  (jeiiihle  reihen  sich  zuletzt  die  möglichen 
religiösen  Gefühle  des  Kindes:  Wunschgefühle,  Gefühle  der  Furcht 
und  Abhängigkeit,  vielleidit  auch  GeOihle  des  Vertrauens  und  der 

Hingabe.  Diese  Gefühle  nehmen  ihren  Ausgang  vom  Zustande  oder 
der  Lage  des  Kindes  (einer  Krankheit,  Gefahrdung  des  Lebens),  von 
gewaltigen  Naturerscheinungen  (einem  Sturme,  Gewitter,  Hagel- 
schlag), vom  religiösen  Leben  in  der  Familie  (Weihnachten,  Ostern), 
vom  religiösen  Gemeinsdiafibsleben  (Sonntagsfeier).  Aus  den 
religiösen  Gefühlen  des  einzelnen  Kindes  erhebt  sich  dessen  Glauben» 
wie  aus  seinen  ethischen  Gefühlen  dns  (Tf"svi'^?en.  Die  religiö«:en 
(xefühle  bilden  auch  eine  der  Grundlagen  des  iictcren  Ich  im 
Menschen.  Sie  sind  möglicherweise  innig  mit  Syinpathiegefühlen 
verknüpft,  ja  vielleicht  nur  eine  Übertragung  solcher  GefUhle;  denn 
das  kindliche  religiöse  Fühlen  hat  leidit  zum  Hintergrunde  die 
Neigungsgf  fühle  gegen  Mutter  und  Vater,  wie  auch  die  kindliche 
Vorstellungswcise  eines  höheren  Wesens,  wo  sie  sich  über  die  aller- 
niedrigste  Stufe,  den  Fetischmus,  zu  erheben  vermag,  wohl  nirgends 
von  der  Vorstdlung  der  Eltern  sich  ablöst  Die  religiösen  Gef&ble 
des  Kindes  können  auch  enge  mit  dessen  sittlichem  Fuhlen  ver- 
bunden sein.  Liegt  es  doch  jeder  Mutter  so  nahe,  ihren  Äusserungen 
sittlicher  Billigung  oder  MissbilHtrun^  beim  Kinde  dadurch  «^rö-^seren 
Eindruck  zu  sichern,  dass  sie  dieselben  zugleich  als  Austiuss  des 
Beifalls  oder  Tadels  des  höheren  Wesens  dem  Kinde  zur  Empfindung 
bringt  Die  religiösen  Gefühle  des  Kindes  dnd  wieder  etwas  so 
ausgesprochen  MenschHches.  Durdi  die  Wahrheitsgefühle,  die 
Schönheitsgefühlc ,  die  ethischen  und  religiösen  Gefühle  empfangt 
das  Menschenkind  das  Unterpfand  seines  Adels  gegenüber  dem 
tierischen  Wesen.  Die  neueren  Versuche,  die  Erziehung  auf  die 
Biologie  oder  die  Entwicklungslehre  zu  begründen  und  dem 
menschlichen  Leben  einen  reinen  natürlichen  Suin  zu  geben,  über- 
sehen  die  totale  Geschiedenheit  drs  Menschen  von  allem  geschöpf- 
lichen Wesen  gerade  durch  die  höheren  Gefühle,  deren  der  Men«;ch 
fähig  ist.  Die  religiösen  Gefühle  zumal  sind  die  Unterlage  und  der 
Anfang  der  Erhebung  des  Menschen  zu  einer  jenseitigen  Lebens- 
auffassung. In  ihnen  liegt  die  Möglichkeit  der  Anknüpfung  dieses 
irdischen  Daseins  an  die  Iloffhung  einer  künftigen  inneren  Herrlich- 
keit, welche  den  mächtigsten  Antrieb  zur  persönlichen  Höher- 
bildun|;  gibt. 

Die  Gelegenheit  zur  Feststellung  der  sittlichen  und  religiösen 
Gefühle  des  einzelnen  Kindes  bietet  der  Gesinnungsunterricht,  der 


1)  Matthias,  ta»  1—23. 


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—   437  — 

geschichtliche  und  der  religiöse,  aber  auch  der  Unterricht  im  Gebiete 

des  Kunstmässigen  wie  der  Natur,  soweit  hier  der  Inhalt  in  den 
sittlichen  und  relii^'iosen  Gemütsbercich  hineingreift.  Im  besonderen 
dienen  zur  Feststeilung  der  sittlichen  und  religiösen  (lefiihle  des 
Kindes  die  Fälle  des  Schullebens,  bei  welchem  das  Kind  in  seinem 
sittlichen,  religiösen  Gemiitsbesitz  angesprochen  wird.  Das  sind  die 
Zuchtfälle,  die  Fälle,  die  sich  ergeben  aus  dem  Anschluss  an  das 
kindliche  Leben  in  der  Familie,  an  das  Heimatliche  und  Volks- 
tümliche, an  das  Nationale  und  Kirchliche,  an  das  Leben  in  der 
Natur. 

Mit  dem  Gemütskreis  des  einzelnen  Kindes  ist  zugleich  dessen 

Interessenkreis  umschrieben.  Die  einzdnen  Interessen,  die  etwa 
im  Ansatz  beim  Kind  '/orL'cfLaidrn  werden,  beruhen  nicht  allein 
auf  naiv  erlebten  geistigen  Kraftgetuhien,  wie  sie  sich  vielleicht  aus 
der  beständigen  Erregung  der  ursprünglichen  Anlage  in  einer  be- 
stimmten Richtung  hin  schon  vor  aller  absichtlichen  Bildung  er* 
geben,  sondern  vor  allem  auch  auf  den  geistigen  Gefühlen,  die  sich 
an  die  Beschaffenheit  des  Vorgestellten  (aus  Erfahrung  und  Umgang) 
schlicssen.  Interesse,  wo  es  begegnen  möge,  ist  ursprünglich  nicht 
bloss  Aufmerksamkeit,  sondern  auch  Schätzung  (im  weitesten  Sinne). 
Gerade  diese  Schätzung  bewirkt  jenes  Merkmal  im  Interesse,  das 
als  gewisses  geistiges  Bedürfnis  hervortritt;  während  die  Aufmerksam» 
keit  aus  innerlichem  Kraftgefühl  mit  dem  andern  Merkmal  im 
Interesse  zusammenfallt,  das  als  geistige  Regsamkeit  in  die  Er- 
scheinung tritt  Eifer  für  Erfahrung  und  Denken,  Freude  für  das 
Schöne,  das,  was  man  als  Anteilnahme  (im  höheren  Sinne)  und 
Gemdngetst  bezeichnet,  oder  als  Frömmigkeit  benennt  —  Sinn  für 
das  Gute  und  Göttliche  — ,  alle  Richtungen  des  Interesse  gehen 
auf  'ene  Srhär;'iinff'^c^efühle  (im  weitesten  Sinne)  zurück.  Der  viel- 
leicht ini  einzelnen  Kmd  entstandene  Ansatz  zu  einem  Eifer  für 
Erfahrung  und  Denken  äussert  sich  vornehmüch  in  der  Begleitung 
einzelner  Erscheinungen  des  Naturlebens  (im  Laufe  der  Jahräzeiten) 
und  im  Nachgehen  bei  solchen  ein/.elnen  Erscheinungen,  also  schon 
in  einer  Empfindung  für  die  Bedeutung  derselben;  die  Freude  für 
das  Schöne  im  kindlichen  Aufsuchen  einzelner  Dinge  (Blumen),  in 
dem  Gefallen  an  der  Sonne  (Auf-,  Untergang,  Abendrot),  den 
Siemlein  und  dem  Monde,  an  Bächlein  und  Wadd,  an  Bildern;  die 
Anfange  einer  Teilnahme  im  höheren  Sinn  im  Beifall  bei  Erleb- 
nissen des  Rechten  im  Kreise  djer  Famüie,  Kameradschaft  und 
Heimat,  darin,  dass  das  Kind  Züge  des  Guten  gerne  hört,  aber  auch 
im  Missfallen  bei  Erlebnissen  des  Unrechten,  darin,  dass  das  Kmd 
Züge  des  Bösen  nicht  gerne  hört;  die  Spuren  der  Frömmigkeit  im 
kindlichen  Gebet,  in  den  Anzeichen  des  Vertrauens  auf  den  liebea 
Gott  und  der  Folgsamkeit  um  Gottes  wtUen. 

Bei  der  Feststellung  der  Interessenansätze  ist  nicht  nur  auf  die 
Starke  und  Richtung,  sondern  namentlich  auch  auf  die  Reinheit 


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—   43»  — 


derselben  acht  zu  geben;  darauf,  ob  das  kindliche  Gemüt  in  Ein* 
fall  sich  nach  einer  Richtung^  neiget»  oder  ob  es  dabei  von  Be* 
gehrungen  getrieben  wird. 

Zur  Feststellung  der  Eigenschaften  des  einzelnen  Kindergemüts 
gehört  endlich  noch  die  Auftnerksamkeit  auch  auf  die  Gleich* 
gewichtslage  des  Kindergemütes,  mit  welcher  die  Gemfitsklarfattt 
aufs  engste  verknüpft  ist;  auf  die  Dispositionen  zu  Störungen  des 
Gleichgewichts  durch  GernütsbeweguriL^en,  wie:  Lustigkeit,  Traurig- 
keit, Furcht,  Angst,  Sclireckea;  und  auf  die  mehr  oder  weniger 
fest  gewordenen  Eigentümlichkeiten  im  Ausdruck  der  Gremöts- 
bewegungen  (Lachen  —  Weinen).  Hier  kommen  dann  die  von  ur- 
altersher  unterschiedenen  „Gemütsarten"  (des  „leicht-  und  schwer- 
blütigen, warm-  und  kaltblütigen"  Menschen),  die  Temperamente, 
die  Angelegtheiten  zu  gewissen  Stärkegraden  und  Massen  der 
Schnelligkeit  im  Wechsel  der  Gemütsbewegungen,  besoadcrs  in 
betracht.  Sie  bedeuten  nicht  selten  erwünschte  Begünstigungen  — 
oder  auch  grosse  Hemmungen  der  Erziehung.  In  ihnen  wurzelt  die 
„gute  Seele"  des  Volkstums,  möglicherweise  aber  auch  der  „un- 
verbesserliche Taugenichts".  Hier  sitzen  die  ursprünglichen  Gemüts- 
vorzüge, aber  auch  die  ursprünglichen  Gemütsfehler.  Die  Gremüts- 
fehler  weisen  aber  auch  wieder  zurück  auf  die  Verwahrlosui^,  Ver> 
wilderung,  Verweichlichung  und  Verfrühu ng  des  einzelnen  Kindes 
in  der  Erziehung,  der  Bildung.  Der  Geistesverödung  des  verwahr- 
losten Kindes  geht  die  (yemütsverödung  zur  Seite;  der  (Tcistes- 
cntartung  des  verwilderten  Kindes  die  Gemütsentartung;  der  Ab- 
lenkung der  verweichlichten  Kindes  auf  den  Weg  des  Genuss* 
Verlangens,  oder  seiner  Einkapselung  und  seiner  Absperrung  von 
jeder  anderen  Berührung  die  Ansteckung  des  Gemütslebcns  durch 
unrechte  Gefühlseinbildungen  und  daraus  entspringende  Begchrungcn 
—  oder  die  Gemüts  Verzärtelung  und  Gemutsarmut;  der  verfrühten 
S&ttigung  des  Geistes  mit  allerlei  unpassender  Nahrung  die  Gemüts- 
unempfanglichkeit  und  -Gleichgültigkeit.  Die  Ansteckung  des 
Gemütslebens  durch  unrechte  Gefühlsphantasicn  und  die  Blasiert- 
heit sind  zwei  der  allerunerfrculichsten  Erscheinungen  in  der  heutigen 
Kinderwelt.  Sie  stehen  der  Bildung  zumal  durch  Religion,  Dichtung 
(Volkstum),  überhaupt  der  Gemütsveredlung  durch  idealen  Umgang, 
der  Erhebung  zum  Glauben  und  zur  Freudigkeit,  am  meisten  im 
Wege.  Besteht  etwa  hier  auch  Aufforderung  für  die  Schule,  in  sich 
zu  gehen  und  sich  mit  schuldig  zu  bekennen  an  der  Beförderung 
der  kindlichen  Gemüt^leichgültigkeit?  Oder  hat  die  Schule  von 
heute  mit  der  Erhebung  des  Leistung^trebens  keinen  Teil  an  der 
Verantwortung  fUr  die  Verfrühung,  der  so  manches  Kind  schon  in 
der  Familie  nicht  entgehen  kann,  und  die  dann  im  eigentlichen 
Schullcrnen  erst  recht  ihre  Blüten  treibt?  Ist  die  einseitige  Wissens- 
pflege m  den  Schulen  nicht  eine  der  hauptsächlichsten  Ouellstätten 
der  geistigen  Verfruiiurig  bei  den  Kindern  schon  un  Eilernhausc 


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und  somit  auch  eine  der  hervorragenrlstcn  Verursachunp^en  der  vor- 
findlichen  Gemütsgleich eniltigkeit  bei  den  Kindern  und  ihrer  ernsten 
Fortwirlcungen  auf  die  kindliche  Eatwickelung? 

Zu  den  Gemfitsfehlern  ans  Verwahrlosung,  Verwilderung»  Ver* 
weichlichung  oder  Verfrühung  in  der  Versorgung  des  einzelnen 
Kindes  kommen  die  Erscheinungen  der  Gemütsverirrungen  im 
Bereich  der  ästhetischen,  ethischen  und  reHgiösen  Gefühle:  die  An- 
sätze zum  Behagen  am  Hässlichen,  Gemeinen ;  zur  Lust  am  Frechen. 
Die  sogenannten  Geisteskrankheiten  haben  ihren  verborgenen  Keim 
nicht  selten  im  Zustand  des  Gemütes.  Der  Lehrer,  sollte  wohl  acht 
geben  auf  die  Gemütsschwankungen,  auf  die  Gegensätzlichkeiten  im 
Gemüte,  auf  die  Stimmungen.  Gemütsruhe  und  geistige  Gesund- 
heit, Gemutsfahrigkeit,  jäher  Gemütswechsel,  Gemütsdruck  und 
geistige  „Minderwertigkeit"  stehen  wahrscheinlich  in  nächstem  Zu- 
sammenhange miteinander. 


C  Die  Feststellung  des  kindlichen  Lebenskreises. 

Das  kindliche  Leben  ist  innig  verwachsen  mit  dem  kindlichen 
Vorstellen  und  Fühlen;  und  darum  die  Betrachtung  des  kindlichen 
Lebenskreises  eigentlich  wieder  nicht  abzutrennen  von  jener  des 
kindlichen  Vorstdlungs-  und  auch  nicht  von  der  des  kindlichen 
Gemütskreises.  Indessen  steht  doch  das  kindliche  Leben  als  Er« 
scheinung  dem  kindlichen  Vorstellen  und  Fühlen  äusserlich  wie 
freier  gegenüber.  Es  lässt  sich  für  die  Betrachtung  leichter  wie 
etwas  Seibstständiges  ansehen,  als  die  kindliche  Gemütswelt.  In 
seinem  Leben  offenbart  zwar  das  Kind  seine  Gedanken  und  seine 
Empfindungen,  Kopf  und  Herz;  aber  es  begegnet  darin  doch 
etwas  wie  em  neuer  An&ng.  Während  Vorstellungen  und  Gefühle 
im  Innern  ihre  Wohnung  haben,  tritt  das  Leben  nach  aussen  in  die 
Erscheinung.  Bei  den  Vorstellungen  und  Gefühlen  gibt  uns  nur  die 
Sprache  (im  weitesten  Sinne),  das  Büd  kund,  was  da  im  Bewusstsein 
gehegt  wird.  Und  die  Sprache,  die  Darstellung  —  sind  sie  nicht 
schon  dem  kindlichen  Leben  zuzurechnen?  Dort  verläuft  die  Reihe 
der  Voi^^uoge  von  aussen,  der  Erscheinungswelt  (der  auch  der 
Körper  zugehört^  nach  innen  (zum  Bewnisstsein) ;  hier  umgekehrt 
von  innen  (dem  Bewusstsein  nach  aussen  (7ur  Erscheinungswelt,  der 
das  Handeln  sich  einordnet).  Bei  der  I  cäti>tcüuag  des  kindlichen 
Ixbenskreises  ist  ins  Auge  tu  fassen:  Absicht,  Tat,  Charakter,  Person. 
Die  Absicht  liegt  im  kindlichen  Begehren  und  Nichtbegehren,  Auf- 
suchen und  Meiden,  Liebhaben  —  Vorziehen,  Nichtliebhaben  — 
Zunickweisen;  in  dem,  was  das  Kind  hLibcn  oder  nicht  haben  will. 
Die  Absicht  zeigt  an  die  Abhängigkeit  des  kindlichen  Lebens  von 
den  Vorst^ungen  des  Kindes»  welche  es  zu  Gemütswirkungen, 


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womöglich  zu  beharrlichen,  gebracht  haben.  Die  Tat  ist  bejahendes 
oder  verneinendes  Handeln,  Tun  oder  Lassen.  Das  kindliche 
Handeln  ist  geknüpft  an  die  kindlichen  Erfahrungs-,  oder  bewegungs-, 
oder  Erlebnisvorstellungen.  Es  ist  Spiel  Im  Spiel  wirkt  attn  fort, 
was  das  Kind  im  Bewusstsein  so  berührt  hat,  dass  davon  zugleich 
die  Gemütssailen  in  stärkere  und  dauerndere  Schwingungen  versetzt 
wurden.  Beim  Handeln  des  Kindes  kommen  auch  die  kindlichen 
Mittel  für  das  Handeln  in  betracht.  Ks  sind  oft  die  allereinfachsten 
Susserlich  uoscheinbarstea  Wie  wenig  kennen  diejenigen  die  Art 
des  Kindes,  die  dem  Kinde  in  unseren  modernen  Spielwaren  die 
zusammengesetztesten,  künstlichsten  Sachen  anbieten  £U  seinem 
Spiel!  Bei  der  Ausführnng  der  Handlung  kommt  zur  Offenbarung, 
was  das  Kind  bisher  in  seinem  angenommenen  Charakter  vor  sich 
gebracht  hat:  seine  (mittelbaren)  Tugenden  wie  Untugenden.  Da 
erschdnt  sein  Fleiss,  seine  PunktUcMcdt,  Ordnung.  Sauberkeit  — 
oder  seine  Trägheit,  Nachlässigkeit,  Unordnung,  Unreinlicbkeit;  dena 
wie  das  Kind  L^eworden,  so  verhält  es  sich  im  Spiele.  Da  er- 
scheinen die  Folgen  Wirkungen  aus  seiner  „Umwelt",  seiner  Familie, 
vor  allem  aus  dem  Beispiele  seiner  Mutter,  dann  seiner  Mitgespielen. 
Die  Mitgespiden  zählen  zu  den  wichtigsten  Miterziehem  des  etnzelfieo 
Kindes  —  im  Guten,  wie  im  Bösen;  und  das  Volk  legt  mit  Recht 
grossen  Wert  auf  einen  guten  Kameraden,  während  es  in  seinem 
Sprichwort  dem  bösen  Gesellen  die  Schuld  beimisst  am  endUchen 
Untergang  eines  Menschen.  Wenn  die  Mitgespielen  so  oder  so  für 
das  kuidlidie  Leben  bedeutungsvoll  werden  können,  dann  ist  darin 
doch  auch  ausgesprochen,  dass  das  Emporwachsen  ohne  Mit- 
gespielen im  kindlichen  Leben  sich  entschieden  äussern  muss.  Das 
verzärtelte  Kind ,  dass  nie  unter  andere  Kinder  kam  und  daheim 
des  Brüderchens  oder  Schwesterchens  entbehrte,  ist  in  seinem  Sieb- 
geben ausserordentlich  zaghaft  und  wird  leicht  ein  Spielball  in  den 
Händen  anderer  Kinder,  welchen  es  spater  doch  nidit  mehr  völlig 
entzogen  bleiben  kann.  Aber  vides  von  dem,  was  im  kindUchen 
Handeln  als  Ankündigung  einer  werdenden  Charaktereigenschaft 
gelten  darf,  ist  nicht  Folgewirkung  aus  der  „Umwelt",  sondern  hat 
im  Kind  selber  seinen  Ursprung.  So  die  .Anzeichen  von  Leichtsinn, 
von  Unverträglichkeit,  StreitsOchtigkeit,  Henschsucht,  märriscfaem 
Wesen,  Müssigang;  aber  auch  die  Anzeichen  der  heiteren  Zufrieden- 
heit, stillen  Aufgehens  in  der  Besc  häftic:ting  (Sonntagskind),  des 
Ernstes  und  der  Ausdauer,  des  freundUchen  Sichanschliessens  an 
andere.  Da  kommt  schon  des  Menschen  leibliche  Ausstattung^  sein 
Gemeingefiihl,  dann  aber  auch  sein  Temperament  sehr  in  Frage. 
Der  Leichtänn,  die  Streitsüchtigkeit  z.  B.  weisen  doch  geradesweges 
zurück  auf  sanguinische  oder  cholerische  Veranlagung.  Auch  die 
mehr  formalen  Züge  im  Handeln  des  Kindes  leiten  auf  das  Kind 
selber  zurück.  Darin  spricht  sich  vornehmlich  sein  „Talent"  aus,  das 
ihm  möglicherweise  in  Vcrgunsugungcn  bei  seinen  Sinnen,  Gliedern 


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oder  ganz  allgemein  in  leiblicher  Anstelligkeil  überhaupt  verliehen 
ist.  Im  Handeln  des  Kindes  treten  ferner  gewisse  Eigenschaften 
des  Kindes,  oder  doch  Anfange  zu  solchen,  hervor,  die  im  aus- 
gereiften Charakter  von  grosser  psychologischer  Bedeutung  sind: 
Zutrauen  zu  sich  selber,  Kraft,  Entsdilossenheit  —  oder  Mangel  an 
Wülensgewisäieit,  Zaghaftigkeit  und  Unentschiedenheit  Diese 
Eigenschr\ften  wurr.eln  vielleicht  auch  mit  in  der  körperlichen 
Organisation,  vor  allem  aber  in  den  kindlichen  Bewegungsvor- 
stellungen.  Sie  weisen  bereits  weiter,  auf  die  Ankündigungen 
künftiger  Persönlichkeit  in  dem  Tun  und  Lassen  des  Kindes.  Solche 
Ankündigungen  liegen  vor  in  dem  Vorwalten  mehr  tätigen,  oder 
mehr  leidenden  Verhaltens  im  kindlichen  (  eben.  Die  überwiegende 
Selbsttätigkeit  des  Rindes,  Ausdruck  innerlicher  Spontaneität,  Selbst- 
behauptung gegenüber  fremden  Zumutungen  ist  Verheissung  des 
Gredeibens  zur  Männlichkeit  im  Wollen.  Überwiegend  nachahmendes 
Gebaren,  Nachgiebigkeit  gegen  jede  fremde  Zumutung,  Sichschmiegen 
und  -Biegen  bei  jedem  willkürlichen  Eingreifen  eines  zweiten  in  die 
eigene  Sphäre  des  Handelns  nötigt  zur  Besorgnis,  dass  die  selbst- 
bewiisste  persönliche  Entscheidung  und  Haltung  da  einmal  nicht  so 
günstig  sich  entwickeln  werden.  Die  Festst^ung  des  kindlichen 
Lebenskreises  stösst  in  der  Schule  auf  besondere  Schwierigkeiten. 
Denn  das  kindliche  Leben  und  die  Schule  sind  bei  der  heutigen 
Schullage,  die  es  oft  so  hindert,  dem  einzelnen  Kinde  entgegen- 
zukommen, nicht  selten  gegen  einander  ganz  abgeschlossen:  das 
Kind  lebt  ausser  der  Schule,  woferne  ihm  die  Schule  noch  etwas 
Raum  und  Freiheit  dafür  gewährt,  sein  Leben  fiir  sich;  in  der 
Schule  ist  es  wie  ein  aiKgewechseltes  Wesen.  Die  Schule  sollte 
selbst  kindliches  Leben  werden!  Wo  sie  das  werden  darf  und 
kann,  dort  hat  der  Lehrer  die  Möglichkeit,  das  kindliche  Leben  in 
seinen  LiUiiusserungen  beim  ungezwungenen,  natürlichen  Spiel,  bei 
kleinen  Versuchen,  bei  Spaziergängen,  bei  den  Gelegenheiten  der 
Andenkenpflege,  bei  dem  Umgang  zwischen  Kind  und  Lehrer,  den 
der  Ansrhluss  an  die  Familie,  Heimat,  an  Stamm  und  V^olk,  an  die 
kirchliche  (lemeinschaft,  an  die  Natur  herbeiführt,  zu  beobachten 
und  seinen  Zusammenhängen  weiter  nachzugehen.  Die  Leistungs- 
forderungen, die  gerade  bei  den  Kleinen  und  noch  dazu  in  den 
Lehrgebieten,  die  dem  Kinde,  wie  es  frisch  von  der  Mutter  kommt, 
am  wenigsten  zusagen,  nämlich  im  Schreiben  —  Lesen  —  Rechnen 
so  hoch  gespannt  sind,  die  tiefe  Entfremdung  zwischen  Schule  und 
Haus  ^}  (weiterhin  der  Kiassen Wechsel  und  das  Eindringen  des  Fach- 
lehrersystems in  die  Schule)  lassen  es  nicht  einmal  dazu  kommen, 


'i  Herr  Prof  l^r  T^icohald  Zicplcr  ist  fast  ptncifjl,  das  bcsländipc  Gt-gencinundcr- 
wirkcn  von  Schule  und  i  laiis,  den  jjchcimen  Kriegszustand  zwischen  beiden  für  unab- 
änderlich zu  halten :  das  Unztüängliche  der  Verbindung  zwischen  Schule  und  Haus  liege 
im  \\'escn  der  heiden  ah  menschlich  unvollkommener  iutitalionen  begründet.  (All* 
gemeine  Pädagogik,  lojf.) 


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den  kindlichen  Vorstellungskreis  au&usuchen,  geschweige,  dass  dabd 
die  Möglichkeit  bestände,  dem  Gemüts-  oder  gar  den  Lebenskreis 
des  Kindes  nachzugehen.  So  muss  das  Lehren  wie  Lernen  in  der 
Schule  häufig  unter  Missachtung  der  unaufgebbaren  Forderungen 
des  Gesetzes  der  Stetigkeit,  Gremassheit  und  Ursprünglichkeit  ge> 
schehen.  Von  Erziehung,  erziehUchem  Leben,  Umgang  in  der 
Schule  darf  iibprhnupt  knnm  ^eri^det  werden.  ,,Die  I.chrcr  sind 
einzig  und  allein  Unterricht rr,  die  Erziehung  gehört  den  Kitern." 
Die  sozialpädagogischen  Bestrebungen,  die  den  einzelnen  zum  Mittel 
der  GcsellschaA  und  die  Schule  zu  einem  ökonomischen  Institut 
machen,  werden  den  Ri»  zwischen  den  Ansprüchen  wahrhaft 
pädagogischer  Versoiguni^  des  Kindes  und  seiner  tatsächÜcbea 
noch  erweitern. 

Schlusserwägungen. 

Das  Ziel  bei  der  Feststellung  des  kindlichen  Vorstcllungs-, 
Gemüts-  und  Lebenskreises  ist  zunäclist  die  Ermittelung  der  ge- 
gebenen Individualität  Darüber  hinaus  steht  dabei  vor  Augen,  das 
Kindliche  in  seiner  Besonderheit  auszumachen:  a)  die  Iriracffidic 
religiöse  Stufe:  den  kindlichen  Gottesgedanken,  die  kindliche  Vor- 
stellungsweise des  rbersinnlichen,  die  kindlichen  religiösen  Gefühle 
und  Äusserungen  (Kindergottesdienst);  b)  die  kindliche  sittliche 
Stufe:  die  kindliche  Weise  der  Wertschätzung,  das  kindliche  Ge* 
wissen,  den  kindlichen  Gehorsam,  das  kindliche  Sinnen  und  Trachten, 
den  kindlichen  Willen;  c)  die  kindliche  Geschmacksstufe:  den  kind- 
lichen Schönheitssinn,  das  kindliche  IJcd,  den  kindlichen  Spruch, 
das  kindliche  Bild,  die  Reize  des  kindlichen  Spiels;  d)  die  kindliche 
Erfahrungs-  und  Hrkenntnisstufe :  die  kindhche  Weise,  die  Weh 
au&ufassen,  die  IdndUdien  Naturgedanken,  die  ländliche  Raum-, 
Zeit*  und  Zahlenvorstellung;  die  kindliche  Einbildung.  Im  Kind' 
liehen  gilt  es  endlich  das  Menschliche  in  seinen  Anfangen  zu 
studieren.  Das  Menschliche  ist  der  Bewegungspunkt  für  das  Indivi. 
duelle.  Es  ist  eine  schöne  Aufgabe,  in  all  den  einzelnen  Aus- 
prägungen des  Kindlichen  (je  nach  Rasse,  Geschlecht,  Herkunft, 
gesellschaftlicher  Abhängigkeit,  örtlicher  Bedingtheit)  das  Menschliche 
auf  seinen  ersten  Stufen  wiederzuerkennen. 

Dabei  bietet  sich  die  Gelep^enheit  dar,  die  in  Umlauf  gebrachten 
Ansichten  über  das  Kindliche  zu  prüfen.  Ist  es  z.  B.  richtii^.  dass 
es  überall  die  gleiclicn  Duige  seien,  an  denen  die  Kuider  uberall 
ihr  Hauptinteresse  haben?  Ist  es  richtig,  dass  das  Kind,  wie  es 
vorgefunden  wird,  durch  Beobachten,  Experimentieren,  Vei^eichen 
und  Fm^ren  in  das  X'orständnis  der  Erscheinungen  auf  der  Erde 
und  am  Himmel  einzudringen  sucht?  Umfassen  die  Typen  der 
kindhchen  Fragen,  wie  sie  aufgeführt  werden,  die  ganze  menschliche 
EikenntnisP  Werden  alle  Kinder  mächtig  angezogen  von  den  Be- 


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wegungen  der  Tiere,  der  Sonne»  des  Mondes  und  den  Bewegungen 

überhaupt?  von  den  Licht-  und  F'arbenerscheinungen'  von  den 
Schaileind rücken?  vom  Himmelsgewölbe,  den  Wolken,  den  Hmimels- 
körpern?  von  dem  Mechanismus  der  Lokomotive  usw.?  vom  Ent- 
stehen des  inßndeSf  des  Regens,  des  Schnees?  vom  Wadisen  der 
Pflanzen,  Tiere  und  Menschen?  vom  Herstellen  und  Werden  der 
Dinge  überhaupt?  vom  Tod  und  Grab?  vom  lieben  Gott  und  den 
Endeln?  Hat  das  Kind,  wenn  es  zur  Schule  kommt,  ein  mächtiges 
Interesse  für  Dinge  aus  der  Tier-,  Pflanzen-  und  Mineralienkunde, 
aus  der  Himmelskunde,  Physik  und  Chemie,  kurz  für  Dinge  aus 
allen  Gebieten  der  Naturkunde,  itir  Nebenmenschen  (Familie)  und 
Gott;  beobachtet,  vergleicht,  experimentiert  es,  stellt  es  sprachlich, 
zeichnerisch  und  körperlich  die  Din^^e  dar,  strebt  es  namentlich 
durch  Fragen  in  das  Verständnis  jener  Din^e  der  Heimat  sachlich 
einzudringen  und  legt  es  einen  regen  Kausalxtatstrieb  an  den  iatjr 
Wissen  die  Kinder  —  auch  die  in  ihrer  natürlichen  Entfaltung  nicht 
angetasteten  und  die  nicht  verfrühten  —  dass  die  Märchen  doch 
nicht  wahr  sind^''*  Oder  i?t  es  richtig,  dass  beim  Kind  dns  Interesse 
von  Haus  aus  im  aligememcn  wenigstens  kein  Lielilingsobjekt  habe 
und  dass  das  geistig  wie  körperlich  gesunde  Kind  im  allgemeinen 
allem  Interesse  entgegenbringe,  was  seinen  geistigen  und  körper- 
lichen Kräften  Nahrung  und  Beschäftigung  bietet,  wenn  nur  die 
Nahrung  zweckmässig  dargeboten  werde  ?^  Lebt  im  Menschen  ein 
angeborner  Naturtrieb,  dem  es  entspricht,  schwungvolle,  rhythmische 
Bewegungen  frei  auszuführen,  und  darf  darauf  etwa  das  Kinder* 
zeichnen  basiert  werden?^) 


Im  Weiteren  handelt  es  sich  um  die  Entscheidung  darüber, 
auf  welche  Weise  die  Feststellung  des  kindlichen  Voistellungs-, 

Gemüts-  und  Lebenskreises  ausgeführt  werden  soll.  Die  bisherigen 
Versuche,  das  VorfindUche  im  Kinde  aufzusuchen,  hielten  sich  wohl 
zu  ausschliesslich  an  das  kindliche  Vorstellungsbewusstsein  und 
darin  wieder  vorwiegend  an  die  kindlichen  Wirkiichkeitsvorstciluagen. 
Vielleicht  Übte  darauf  der  Gedanke  seinen  Einfluss»  dass  der  Unter» 
rieht  es  mit  den  Vorstellungen  zu  tun  habe?  Immerhin  waren  die 
Versuche,  ganz  abgesehen  vom  Ergebnis,  dadurch  bedeutungsvoll, 
dass  sie  die  Verpflichtung  einschärften,  mit  dem  Rinde  sich  erst 
einmal  ins  Benehmen  zu  setzen,  ehe  die  unterrichtliche  Arbeit  bei 
demselben  anhebe.  Es  darf  wohl  auch  hervorgehoben  werden,  dasa 
es  wieder  vor  allem  Manner  aus  dem  Kreise  waren,  der  sich  auf 


M  Lay,  Fahrer  durch  den  Rechtschrcibunterricht,  II.  Aufl.,  1356*. 

V  Betnchtttacen  rar  Theorie  des  Lclnplans  von  Dr.  Gcors  Keneheasteiner. 

n.  Aufl.,  39. 

*)  Deutsche  Natioiulschule  Wertheim  am  Mais,  V. 


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dem   Boden  erziehenden   Unterrichts   im   Sinne  Herbarts  zu- 

sammenfand, weiche  der  Untersuchung  des  kindlichen  „Gedanken- 
kreises" ihre  Aufmerksamkeit  zuwandten.  Die  „statistische"  Methode, 
der  sie  folgten,  konnte  aber  nicht  wohl  zu  sichern,  befnedigef^en 
Resultaten  führen.  Durch  Ausfragen,  zumal  bei  neugekommenen 
Kindern,  und  Zählen  der  Fälle,  in  welcher  beispielsweise  festzu- 
stellen war,  dass  ein  bestimmtes  Tier  in  einer  bestimmten  Be- 
wegung gesehen  oder  nicht  gesehen  worden,  u.  dg!.,  kann  wenig 
Gewisses  und  Brauchbares  ausgemacht  werden.  Hier  steht  im  Wege 
die  ländliche  naturliche  Befangenheit  und  die  kindliche  Nachahmung 
welche  bdde  so  leicht  bei  Fragen  an  das  Kind  durch  fernere 
Personen  sich  geltend  mr\rhen  und  dem  Kind  entweder  den  Mund 
vcrschUessen  oder  das  Kmd  zu  Aussagen  verleiten,  die  es  andern 
nur  nachspricht  iJaruni  ist  der  Weg,  den  z.  B.  Hartmaan  gegangen, 
nicht  zu  empfehlen.  Bei  den  AusßUurungen  über  die  Gesichtspunkte 
bei  der  Feststellung;  der  kindlichen  Gegebenheit  war  oft  genug  sdum 
im  voraus  auch  darauf  hinzudeuten,  auf  welche  \^'eisc  die  Fest- 
stellung fjeschehen  solle:  die  Ausübung  des  erziehlichen  Berufs  ist 
zugleicil  die  rechte  Art,  das  Kind  nach  seinen  verschiedenen  Seiten 
ZU  beobachten  und  in  seiner  Gegebenhdt  nach  und  nach  zu 
bestimmen. 


m. 

Das  bielogisciw  Prinzip  im  Mrtttr|Mclrieirtlieiim  Ihrterrieirtt. 

Voa  Krcüscbulinspektor  Q.  KohioiQyer  in  Jarotscbin  i.  P. 

ScUatt. 

Unsere  kritische  Betrachtung  der  Verwirklichuog  des  biologischen 
Prinzips  im  modernen  Naturgeschichtsunterrichte  hat  sich  bis  dahin 

ausschliesslich    mit   dem  „Was"   in   der  biologischen  Unterrichts* 

erteilunp;  beschäftiget.  Auch  das  „Wie"  bietet  sowohl  in  Bezug  auf 
die  methodische  Verarbeitung  wie  auch  bezüglich  der  methodischen 
Anordnung  des  Unterrichtsstoffes  zu  einigen  kritischen  Bemerkungen 
m.  E.  Anlass. 

Dass  unsere  heutige  Unterrichtspraxis  in  allen  Fächern  sich 
auf  die  modernen  Forschungsergebnisse  in  der  Anatomie,  Ph>-sio- 
logie,  Psychologie,  Biologie  und  Erkenntnistheorie  mehr  und  mehr 
gründen  muss,  das  wird  bei  allen  Pädagogen,  soweit  sie  über 
Handwericerroutine  hinausgewachsen  sind,  uneingeschränkt  anericannt^) 

>)  Vgl.  Lay,  „Experimentelle  Didaktik.  Leipzig  1905.  —  Wnadt,  „Gnindifige 
der  physiologischen  Psychologie.    Leipzig  1906. 


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Aber  von  der  theoretischen  Anerkeiiflung  bis  zur  praktischen  Ver- 
wirklichung liegen  dodi  oft  Jahizehnte,  ja  Jahrhunderte  lange 
Spannen  Ztit, 

Mag  man  die  unterrichtlichen  Massnahmen  zur  Verarbeitung 
einer  methodischen  Einheit  oder  ganzer  Stoflfmassen  mit  der 
Dörpfeldschen  Dreiheit:  „Anschauenen,  Verknüpfen,  Anwenden",  mit 
den  Herbart-Zillerschen  Fomnalstufen:  „Vorbereitung,  Darbietung, 
Verknüpfung!  Zusammenfassung  und  Anwendung"  bezeichnen,  oder 
mag  man,  wie  Lay,  fordern:  i.  Beobachten  (Beschreiben),  3.  Ver- 
gleichen  (Gruppieren;  Systeme,  biologische  Leitsätze),  3.  Erklären 
(Schliessen  von  beobachteten  Erscheinungen  'Wirkun^enl  auf  die 
Ursachen  und  umgekehrt^  Aufdeckung  der  ursäclihchen  Beziehungen), 
4.  Verwertung  (Anwendung  in  Theorie  und  Praxis)  —  immer  wird  man 
zugestehen  müssen,  dass  wir  dem  Anschauen,  dem  Beobachten 
noch  nicht  den  ihm  g^ebührenden  Platz  im  Unterrichte 
überhaupt,  im  biologischen  Unterrichte  pran/  besonders, 
zugewiesen  haben.  Der  Fluch  des  mittelaiteriichcn  Verbalismus 
haftet  unserm  Unterrichte  in  allen  Unterrichtsanstalten  von  der 
Volks-  bis  zur  höheren  Schule  noch  viel  zu  sdtr  an.  Ist's  nicht 
eine  Tatsache,  dass  wir  unsere  Schüler,  statt  sie  an  die  Sache 
selbst  zu  führen,  noch  viel  zu  viel  mit  ,,Wort  und  Bild"  abspeisen ! 
Unsere  modernen  naturgeschichtiichen  Lehrbücher,  die  nach  Inhalt 
und  Ausstattung  ja  fraglos  vielfach  Vorzügliches  bieten,  und  die 
häufig  ebenso  ausgezeichneten,  aber  z,  T.  doch  ganz  überflüssigen 
Bildertafeln  tragen  einen  nicht  unwesentlichen  Teil  der  Schuld  daran* 
Die  Parole  der  modernen  Methodik  muss  darum  mehr  und  mehr 
werden.  Los  von  dem  Bilderkultus,  wo  wir  die  Wirklich- 
keit, Tatsachen  bieten  können!  Hinaus  in  die  Natur,  ins  Leben! 
Idi  kann  mich  im  Rahmen  dieser  Iddnen  Abhandlung  nicht  über 
das  Für  und  Wider  von  Ausflügen,  und  in  der  Natur  angestellte 
Beobachtungen  und  anderes  einlassen.  Ich  verkenne  gar  nicht 
die  Schwierigkeit,  die  die  harte  Wirklichkeit  der  Durchführung 
dieser  Forderung  oft  entgegenstellt^  aber  da  sie  sachlich  und 
methodisch  unbestreitbar  berechtigt  ist,  so  müssen  Mittd  und 
Wege  gefunden  werden,  sie  —  wenigstens  soweit  es  möglich 
ist  und  mehr  als  bisher  ■ —  in  dir  Tat  umzusetzen.  Um  das  in 
der  Volksschule  zu  verwirklichen,  ist  vnr  allem  notwendig, 
dass  ganz  besonders  in  unseren  Lehrerbildungsanstalten  in  dieser 
Beziehung  gründlich  mit  dem  Bilder-  und  Wortkultus  gebrodien 
wird;  denn  hier  ist  naturgemäss  die  Quelle  für  das  Übel,  das  sich 
tausend-  und  abertausendfach  auf  die  Volksschule  wieder  überträgt. 
Hiermit  verknüpft  sich  m.  K  unmittelbar  ein  2.  Punkt,  der  eine 
überaus  wunde  Steile  in  unserer  heutigen  Unterrichtserteilung  dar- 


>)  Vgl.  Kohlmcyer,  „Die  praktbcben  Obnacai  im  biologischco  Natorgeschichts- 
oBtcnicbte  4e*  Seninan.  Pid«(.  BUtttcr  1906.  tUcmiimiui,  Ooüia. 


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stellt  Das  ist  die  viel  zu  geringe  Selbstbetati^^ung  der  Schöler 
aller  Schulgattungen  im  Unterrichte.  Die  Stimmen  mehren  sich 
von  Tag  zu  Tag,  die  unserm  modernen  Schulunterrichte  in  allen 
Schulgattungen  den  Vorwurf  machen,  dasszuvie]  und  iw  vielerlei  pjelchrt 
werde.  Wir  überschütten  die.  Schüler  mit  Wissensstoffen  der  bunt- 
scheckigsten Art  Der  Schüler  ist  dabei  meist  passiv  beteiligt 
Die  Pflesfe  seiner  Selbsttätigkeit  und  Selbständigkeit  die  doch  m 
die  Betätigung  im  späteren  Leben  so  bedeutungsvoll  ist,  wird  ver- 
nach]äs!^igt.  Unsere  dickleibigen  Lehrbücher  für  alle  Unterrichts- 
gebiete, mögen  sie  noch  so  Hervorragendes  nach  Inhalt  und  Aus- 
stattung bringen,  sind  ein  schlagender  Beweis  für  die  RiciiUgkeiL 
des  Bdiaupteten.  Wo  findet  man  in  ihnen  die  Forderung,  den 
Schüler  selbsttätig  und  selbständig  arbeiten  zu  lehren,  auch  nur 
einigermassen  konsequent  und  befriedigte rul  [.gelöst?  Ps  ist  eine 
nicht  zu  bestreitende  Tatsache,  dass  unsere  Schule  gegenüber  den 
amerikanischen  und  englischen  auf  diesem  Gebiete  weit  zurück- 
stdien.  Man  konnte  mir  entgegenhalten:  gerade  im  naturkundUchen 
Unterrichte  wird  doch  der  Schüler  zur  Selbsttätigkeit  angehalten; 
er  stellt  hier  und  da  Beobachtungen  an,  macht  diesen  und  jenen 
Versuch.  Gewiss,  aber  wer  wird  behaupten  wollen,  dass  das  eine 
pianmässige  und  grundsätzliche  Durchführung  eines  als  richtig  an- 
erkannten Grundsatzes  wäre  ?  ^}  Es  ist  theoretisch  und  experimentdl 
p^chologisch  -  physiologisch  nachgewiesen ,  dass  das  gesamte 
Innenleben  des  Kindes  nach  Empfinden,  Anschauen,  Vorstellen 
(Denken),  Fühlen  und  Wollen  in  ausgeführte  oder  gehemmte  Be- 
wegungen sich  umzusetzen  bestrebt  ist.  Daraus  folgt  mit  logischer  Not- 
wendigkeit die  energische  Betonung  der  Erziehung  der  Schüler  zur 
Selbstbetätigung  im  Unterrichte.  Verfasser  hat  <Üesen  Weg  plan- 
mässig  und  konsequent  zu  betreten  versucht,  indem  er  den  Unter- 
richt in  der  allgemeinen  Tier-  und  rflan7enkunde  in  Seminaren  und 
höheren  Unterrichtsanstalten  aufdenallercir.fachstenund  notwendigsten 
praktischen  Abeiten  des  Schülers  aufbaut.  ')  Für  die  Volks-  und 
Mittelsdiule  handelt  es  sich  in  Befolgung  der  grundsätzlichen  Durdi* 
fuhrung  der  Sdbstbetätigung  der  Schwer  natürlich  in  erster  Linie 
um  sprachliche,  zeichnerische  Betätigung,  Beobachtungen  in  der 
freien  Natur,  in  Schulgärten,^)  an  Raupen-  und  Pflanzenkästen, 
Aquarien,  Terrarien,  Volieren,  um  Blumen-  und  Tierpflege  und 
Ähnlidies,  weniger  um  Arbeiten  mit  Lupe  und  Mikroskop  und 
anderen  HtUsmitteln,  wie  bei  dem  höheren  Unterricht   Hier  wie 


M  Aus  Kohlmcycr,  ..Allpcm.  Tierkunde  ntbst  Anleitung  zur  Ausfuhrung  d-  r  not- 
weadigstcn  und  einfacbsten  praktischen  Arbeiten".  Handbuch  für  Schüler  von  Lehrer- 
badiiiigs*iiiMlhöhemiCntcrriebUu»talteii.  VorwoitS.4.  Leipzig.  DUmche BachluiBiBimg. 

*]  Kohlmrycr,  „Allgemeine  Tierkunde".  Leipzig.  Dünsche  Bachhandlung  1905. 
2,10  M.  — Kohlmeycr,  „AilgeiQcinc  Pflanzenkunde".  Leipzig.  Diirrsche  BachhändJnn^ 
1906.    3  M. 

•)  Schndd,  ,4>er  biologitcb«  Sclmlgitftctt**.  Ficuiiig.  D«ttcicr  A  Co.  1908L 


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—   447  — 


dort  aber  ist  es  m.  E.  eine  unbedin|;t  nötige  und  zu  allererst 
zu  verwirldtchende  Forderung  für  jeden  Unterricht  und  nicht  zuletzt 
für  den  naturgeschichtlichen:  Mehr  Passivität  für  den  Lehrer,  weit 
mehr  Aktivität  für  den  Schülerl  Was  sich  auf  diesem 
Gebiete  bei  konsequenter  und  energischer  Verwirklichung  der 
Forderung  der  Selbsttätigkeit  der  Schüler  erreichen  lässt,  beweisen 
die  Erfolge  Kerschensteiners,  in  München,  das  wohl  allen  deutschen 
Schulorten  in  dieser  Beziehung  rühmlichst  vorangegangen  ist') 

Der  2.  Punkt  in  der  Beurteilung  des  Stoffes  im  biologischen 
Xaturerpschichtsunterrichte  betrifft  die  Stoffanordnung.  Sie  dreht 
sich  im  wesentlichen  um  2  Fragen: 

1.  Soll  der  Unterrichtsstoff,  die  biologische  Behandlung  natürlich 
vorausgesetzt,  nach  dem  System,  nach  Leibesgemeinschaften  oder 
in  natürlichen  Gruppen  angeordnet  werden? 

2.  Wie  ist  es  zu  ermi^ichen,  dass  durch  die  Stoffanordnung 
der  Konzentrationsfordening  in  höherem  Masse  als  bisher  ent- 
sprochen werden  kann? 

Zu  1  :  Die  geschichtlich  begreifliche  Abneigung  der  Methodiker 
gegen  die  Stellung  des  Linneschen  Systems  in  der  Lübenschen  Schule, 
gegen  das  System  überhaupt,  hat  dazu  geführt,  dass  man  um  jeden 
FirSs  vom  System  loszukommen  suchte;  daher  zu  Ende  des  vorigen 
Jahrhunderts  das  eifrige  Suchen  nach  einem  Ersatz  für  die  syste- 
matische Stoffordnung.  Junge  und  seine  Anhänger  glaubten  in  der 
Stoffanordnung  nach  „Lebensgemeinschaften"  das  Rechte  gefunden 
zu  haben.  Sie  wurden  bald  ersetzt  durch  die  „natürlichen  Gruppen", 
Heute  haben  auch  diese  sich  nur  noch  auf  den  niederen  Stufen  des 
Unterrichts  gehalten;  selbst  auf  der  Oberstufe  der  Vollcsschule  fangt 
man  an,  dem  System,  natürlich  soweit  es  hier  in  Frage  kommt, 
doch  eine  gerechtere  Würdigimg  als  noch  vor  lo  Jahren  zu  teil 
werden  zu  lassen.  Selbstverständlich  handelt  es  sich  hier  nicht  um 
irgend  ein  künstliches  System,  wie  ich  das  schon  oben  angedeutet 
habe»  sondern  um  das  auf  morphologischer  und  entwicklungs* 
geschichtlicher  Grundlage  au%ebaute  natürliche  System  und  um  dieses 
selbstredend  nuch  iibrrall  nur  insoweit,  als  es  auf  sachlicher  Grund- 
lage, methodisch  berechtigt,  aufgebaut  werden  kann.  Man  erkennt 
doch  mehr  und  mehr:  „Was  uns  die  Morphologie  und  Systematik 
wertvoll  macht,  das  ist  eine  Reihe  von  teils  formalen,  teils  sachlich 
wichtigen  Momenten:  zielbewusstes  Einwirken  auf  die  Sinnesorgane, 
dem  bald  ein  selbständiges  Sehen  und  Tasten  folgt,  klare  Scheidung 
von  Wesentlichem  und  Unwesentlichem,  strenge  Disziplin  der 
Gedanken,  korrekte  und  knappe  Aussprache  über  das  Gesehene 


>)  Siebe  Kencheosteiner,  „GniDdürageo  des  Unterrichts".  Leipzig  1907. 
Kcnchemtdaer,  „Der  cnte  natnrktuidUclie  Unterricht".   Mttadicii.   Gerber.  1904. 


und  Erkannte,  Übungen 


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—  44»  — 


Einteilen  und  Erfasien  des  Einteüimgsgrundes ;  das  alles  schafft  eine 
ausserordentlich  schätzenswerte  Disziplinierung  des  Greistes,  der  im 
Sprachunterrichte  vergleichbar,  wenngleich  dieser  durch  die  fort- 
währende Beteiligung  der  Sinnesorgane  und  Verarbeituncr  dieser 
Eindrücke  überlegen,  ein  Gegengewicht  gegen  die  namentlich  in 
der  Unterstufe  zutage  tretende  sprunghafte  Phantasie. 

Wie  schon  erwähnt,  darf  es  sich  heute  nicht  mehr  um  die  ahen 
erstarrten  Schemata  vergangener  Zeiten  handeln;  auch  in  der  Schule 
muss  jener  belebende  Hauch  die  Systematik  und  Morphologie  durdi' 
ziehen,  der  in  der  Wissenschaft  die  Gegenstände  so  ui^emein  an- 
ziehend und  interessant  gestaltet^) 

Aus  diesem  (irunde  haben  aber  die  Lehrbücher  für  höhere 
Schulen  und  Lehrerbildungsanstalten  alle  —  mit  Ausnahme  des 
Quehlschen  Versuches,  von  dem  wir  noch  sprechen  werden,  den 
biologisch-systematischen  Gang  innegehalten.  Meines  Eiaditeos 
unbedingt  mit  Recht,  und  ich  weiss  mich  darin  mehr  oder  weniger 
in  Ubereinstimmung  mit  Baadc,  Schmcil,  Smalian,  Rothe,  La\-  und 
verschiedenen  anderen  Methodikern  und  Verfassern  von  hier  in 
Frage  kommenden  Lehrbüchern.  Selbst  für  die  oberen  Stufen  rdcher 
gegliederter  Volksschulen,  für  Mittel-  und  höhere  Mädchenschulen 
will  mir  aus  den  oben  angegebenen  Gründen  diese  Stoffanordnung 
als  die  geeignetere  erscheinen. 

Doch  darf  ich  hierauf  noch  zurückkommen  bei  Erörterung  der 

2.  Frage: 

„Wie  ist  es  zu  ermöglichen,  dass  durch  die  Stoffanordauag 
der  Konzentrationsforderung  in  höherem  Masse  als  bisher  entsprochen 
werden  kannr" 

Über  Notwendigkeit,  Wesen,  Wert  und  VerwirkUchung  der 

Konzentrationsforderung  i.  a.  mich  zu  verbreiten,  gehört  nicht  in 
den  Rahmen  dieser  Arbeit  Der  Grundgedanke  ist  für  den  ge- 
samten Unterricht  wie  auch  für  den  in  der  Naturkunde  insonderheit 
schon  SO  oft  erörtert,  dass  man  ihn  nidit  mehr  als  neu  bezdchnen 
kann.  Scheller,*)  Beyer,*)  Seyfert,*)  Twiehausen*)  und 
?  a  r  t  h  e  i  1  -  r  r  o  b  s  t  haben  ihn  für  Volks-  und  Mittelschulen  schon 
früher  in  die  Tat  umzusetzen  versucht.   Quehl  hat  in  seiner  „Natur- 


Ba&üan  Schmid:  ,,Dcr  natarwissenschaftliche  Uaterricht'*.  Teubaer.  Leipzig  I907- 
*)  Rein,  Pickel  u.  Scheller,   „Theorie  uad  Pnodt  des  VolksschalnalefTiclMS^. 
3,  Schaljahr.    Naturkunde.    Dresden.    Blcyl  &  Kaemmerer.    Dresden.  1S82. 

Beyer,  „DieNaturwisscnschaflcnindcrErdehoogsschuie".  Leipzig. Reichardt.l8S5. 
*)  Scyfert,  ,J>er  gcannl«  LehnU^  de»  oatwlcnndlicbea  Untemclitt**,  l^^p^ 
Wnnderiich.  1899. 

*)  Twidumsen  (Dr.  Kmubaner)  „Nstnrlehre  flir  Volksscbolen  in  «oagefUifte« 
Lektionen".    Vorwort,    Halle.    Schrocdrl.  1891. 

pMtbeil-Probftt,  „Zur  KoucnUatioo  der  oatorkuodUchen  Ticket'.  Gerda 
t,  Hoedcl.  Berfin.  1897.  —  „Die  neuen  Bahnen  des  nitnrknndllehen  UaUnkhIi.** 
Gcrdct  &  MoedcL  Berlin.   1904.  VgL  dm  Rude,  „MethodOc*«  Bd.  IL 


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—   449  — 


künde  für  Lehrerbildungsanstalten"  (Leipzig,  Düm898u.99) 

den  Versuch  gemacht,  den  Konzentrationsgedanken  in  ähnlicher, 
wenn  auch  wissenschaftUch  vertiefter  Weise  auf  den  naturkundlichen 
Unterricht  in  Präparandenaastalten  zu  übertragen.  VV' ie  sich  Quehls 
Gedankenbau  gestaltet  haben  würde,  wenn  er  seine  Arbeit  auch  auf 
die  Seminare  ausgedehnt  hätte,  ist  aus  den  bis  heute  nur  vor- 
liegenden  Anfangen  seines  Werkes  natüiüch  nicht  in  vollem  Umfange 
ersichtlich.  Es  darf  aber  angenommen  werden  auf  Grund 
dessen,  was  vorliegt,  dass  er  sich  nicht  mit  der  so  hölzernen 
Konzentration  begnügt  hätte,  wie  sie  die  Bücher  für  Volksschulen 
vielfach  aufwetsea  Kienitz-Gerloff^)  (in  Reins  Encyklopädie  der 
Pädagogik.  V.  S.  23— 35)  sucht  den  zoologischen  und  bota- 
nischen Stoff  für  höhere  Unterrichtsanstalten  an  der  Hand  der 
Geschichte  dieser  Wissenschaften  auszuwählen  und  zu  verteilen, 
also  gewisserinassen  die  ZÜlerschen  kulturhistorischen  Stuten  auf 
den  Unterricht  in  der  Naturbeschreibung  auf  höhere  Schulen  zu 
übertragen.  Alle  diese  Versuche  haben  den  berechtigten  Kern,  die 
einzelnen  Stoffgebiete  des  naturkundlichen  Unterrichtes  in-  und  an- 
einander zu  schweisscn,  wie  auch  sie  dem  übrigen  Unterrichtsstoffe 
anzugliedern.  Alle  machen  jedenfalls  keinen  Anspruch  darauf,  die 
Frage  endgültig  gelöst  zu  haben;  sie  würden  dadurdi  schon 
geschlagen,  dass  man  statt  der  von  ihnen  aufgestellten  Stoffreihen 
beliebige  andere  bilden  könnte;  von  wesentlichem  Einflüsse  auf  die 
Ausgestaltung  eines  einheitlichen  Gesichtskreises  kann  deshalb 
die  Sache  nicht  sein.  Die  vorliegenden  Versuche  entbehren  sogar 
z.T.  oft  eines  komischen  Beigeschmackes  nicht;  wenn  beispielsweise 
an  die  Wiese  als  naturgeschichtliches  Gruppenbild  angeschlossen 
werden:  Regenbogen  und  Barometer,  weil  es  zur  21eit  der  Heuernte 
öfters  regnet;  Rolle  und  Flaschenzug,  weil  sie  verwandt  werden 
beim  Einfahren  des  Heues;  Reibungselektrizität,  Gewitter,  Blitz, 
Blitzableiter,  weil  zur  Zeit  der  Heuernte  der  Blitz  bisweilen  ein- 
schlägt —  so  wirkt  das  ohne  Frage  komisch  — ,  und  mit  der 
Bildung  eines  einheitlichen  Gesichtskreises  in  den  SchtUem  hat  es 
gewiss  nichts  zu  tun.  Ich  möchte  aus  dem  Anführen  dieser  ver- 
unglückten Versuche  im  Streben  nach  Verwirklichung  der  Konzen- 
trationsidee jedoch  nicht  den  Schluss  gezogen  wissen,  als  ob  ich 
mit  diesen  Zeilen  ein  abfalUges  Urteil  über  die  einschlagigen  Bücher 
überhaupt  (allen  wollte.  Ich  spreche  vielmehr  gerne  aus:  es  steckt 
in  ihnen  auch  sehr  ernst  zu  nehmende  Arbeit,  und  sie  zeugen  viel* 
fach  von  einem  hervorragend  praktischen  Lehrgeschickc. 

Ich  kann  mir  aber  nicht  denken,  dass  in  diesem  \''ersuche  zur 
Verwirklichung  der  Konzentiationslorderung  etwas  Wesentliches  für 
einheitliche  Naturauflassung,  für  die  Bildung  eines  einheitlichen  An- 
schauungskreises liegt  Der  berechtigte  Grundgedanke,  Vereinigung 

*)  Kjcniu-Gtrloff,    Methodik  des  botanischen  Unterrichts".    Berlin.  Salle. 
FadAgogücbe  Studieu.   XJÜX.  6.  29 


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—  450  — 


der  verschiedenen  Zweige  des  naturkondtichen  Unterrichtes  und 

Angliedening  dieser  an  die  übrigen  Unterriditsiädier,  kann  in  dieser 

doch  ganz  zufalligen,  äusserlichen  Zusammenstellung  meines  Erachlens 
niemals  seinen  Lebensnerv  finden.  Im  Vergleich  zu  diesen  Formen 
der  Verwirklichung  der  Konzentrationsforderung  erscheinen  mir  die 
diesbezüglichen  Gedanken  Kollbachs»  die  er  in  seiner  b^eisteft 
geschriebenen  und  eine  Fülle  von  Reformvorschlagen  zur  Verwiric- 
fichung  des  biologischen  Prinzips  bergenden  Methodik  ausspricht, 
ungleich  tiefer  und  wertvoller.  Kollbach  fordert  in  seiner  „Methodik 
der  gesamten  Naturwissenschaft  für  höhere  Lehranstalten  und  fiir 
Volksschulen  mit  Grundzügen  zur  Reform  des  Unterrichts"*}:  Der 
naturgesdiichtliche  Unterricht  beginnt  als  „Vorschule  der 
Naturkunde"  im  heimatkundlichen  Anschauungsunter- 
richte. Aus  ihm  wachsen  die  einzelnen  Zweige  der  Naturkunde 
nach  und  nach  hervor;  sie  ziehen  sich  durch  alle  Schuliahre.  sich 
stetig  weiterentwickelnd,  sich  untereinander  stützend  und  vertiefend. 
Das  ist  ohne  Frage  das,  wie  ich  weiter  unten  nachweisen  werde, 
worauf  die  einzig  und  allein  sachlich  und  methodisch  berechtigte 
Verwirklichung  der  Konzeotrationsforderung  beruhen  kann. 

Auch  die  Forderung  von  K.  Remus,'*)  die  Kräftelehre 
oder  Dynamik  als  Aiisorangspunkt  und  Grundlage  für  sämtliche 
Zweige  des  naturkundlichen  einschliesslich  des  geographischen 
Unterrichtes  zu  benutzen,  zielen  auf  einheitliche  Gestaltung  des 
naturkundlichen  Unterrichtes  ab.  Aus  der  Kräftelehre,  als  der 
Wurzel,  sollen  Meteorologie  als  der  Stamm,  Botanik,  Zoologie, 
Geologie,  Physik  und  Chemie  als  Zweige  herauswachsen,  was  fach- 
wissenschaftiich  ja  sehr  schön  gedacht  ist,  aber  methodisch  in 
Hinsicht  auf  die  Wesenseigentümlichkeiten  des  Schülers  aus  vielen 
Gründen  doch  sehr  bedenUich  sein  dürfte; 

Einstweilen  scheint  mir  darum,  wenn  wir  von  der  KoUbadhschen 

Verwirklichung  der  Konzentrationsforderung  auf  der  Unterstufe  ab- 
sehen, hier  die  Losung  bleiben  zu  müssen:  „Getrennt  marschieren 
und  vereint  schlagen"  —  will  sagen;  Die  einzelnen  Zweige  des 
naturwissenschaftUdien  Unterrichtes  müssen  ihren  besonderen, 
ihnen  eigentümlichen  Gang  gehen,  der  durch  das  Wesen 
des  Stoffes  und  der  Methode  t>estimmt  wird.  Dieser  ist  so 
einzurichten,  dass  verwandte  Stoffe  und  Stoffgebiete  sich  srichüch 
stets,  zeithch,  wenn  es  möglich  ist,  berühren,  so  dass  sie  an- 
und  ineinander  gewoben  werden  können  zu  ihrem  besseren  \^er- 
standflisse,  zur  Erzielung  der  Einheitlichkeit  der  Anschauung.  Jeden* 
falls  muss  man  am  Schlüsse  der  Behandlung  grösserer  Abschnitte 
der  verschiedenen  Zv.  rige  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichtes, 
so  weit  es  geht,  erstere  unter  einheitliche,  verbindende  Gesichts- 

>)  Kollbach,  „Naturwissenschaft  und  Schiller".    Cöln.    Neubcr.    ft.  Attfl,  S894. 
*}  K.  Rcmus,  „Das  dyaamologische  Prinxip".  Ldpiig,  Teobner.  1906. 


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* 


—  451  — 


punkte  bringen,  sie  auch  zu  den  übrigen  Dibzipiixiea  in  Beziehung 
zu  setzen  suchen,  um  auf  diese  Weise  die  Konzentratioosfordening 

zu  verwirklichen.  Zoologie,  Botanik,  Geologie,  Physik  und  Chemie, 

sie  alle  müssen  sich  in  ihren  Berührungspunkten  treffen,  um  ein 
einlu :itli(  lies  Bild  vom  e\vi(:^'t  n  Werden  und  Vergehen  im  grossen 
Haushalte  der  Natur  anzubahnen.  Auf  den  unteren  Stufen  muss 
dieser  Zielpunkt  durchleuchten,  auf  den  oberen  muss  er 
bewusst  leitender  Gesichtspunkt  sein.  Dadurch  wird  Klar- 
heit und  Schärfe  des  Vorstellens,  Folgerichtigkeit  im  Denken  jeden- 
falls besser  erreicht,  als  durch  die  Verarbeitung  eines  wenn  nicht 
planlosen,  so  doch  jedenfalls  locker  aneinander  gereihten  Stoff- 
gewirres, das  meines  Evachtens  viel  eher  ZcnplHtening  und  Obv- 
flachlichkeit  erzeugen  kann  als  das  GegentdL 

An  den  Lehrer  stellt  die  zuletzt  gesdülderte  Konzentrations- 
verwirklichung grosse  Anforderungen:  er  muss  den  Stoff  völlig 
beherrschen,  ein  umfanc^rciches,  klares  und  sicheres  Wissen  besitzen, 
das  es  ihm  möglich  macht,  die  einzelnen  Zweige  seines  Unterrichts- 
gebietes zu  Uberschauen  und  geschickt  und  bewusst  zu  den  gemein- 
samen Berührungspunkten  hinzuleiten,  ohne  dadurch  die  Schärfe  des 
Einzelwissens  zu  verwischen ;  er  muss  die  beschränkte  Unterrichtszeit 
mit  peinlichster  Gewissenhaftigkeit  ausnutzen;  er  muss  die  erforder- 
liche pädagogische  Geschicklichkeit  haben,  durch  Stoff  und  Methode 
die  Selbsttätigkeit  und  das  Interesse  der  Schüler  immer  wieder  an- 
zuregen. Wie  der  Lehrer  die  —  es  sei  mir  die  Wortbildung  erlaubt 
—  „Konzentrationsfaden"  von  den  einzelnen  Zweigen  der  Natur- 
geschichte -Aw^  7\\  ziehen  hat  —  denn  nur  mit  dieser  haben  wir  es 
im  Rahmen  vorliegender  Arbeit  zu  tun  — ,  will  ich  weiter  unten 
nachweisen. 

Werfen  wir  zunächst  noch  einen  Blick  auf  die  praktische  Seite 
des  biolo^chen  Naturgeschiditsunterrichtes  nach  der  Riditung  hin, 
dass  wir  uns  firagen: 

Wie  sind  die  Forderungen,  die  sich  aus  dem  Wesen  des  bio- 
logischen Prinzipes  heraus  ergeben,  in  den  verschiedenen  Schul- 
systemen zu  verwirklichen  ? 

Die  Stoffauswahl,  für  die  verschiedenen  Schularten  meistens  in 
den  gesetzlichen  Bestimmungen  in  grossen  Zügen  umschrieben  und 
durch  die  Sonderbedürfnisse  der  Sdiule  im  einzelnen  be<Hngt,  wird 
durch  die  biologische  Unterrichtserteilung  wenig  beeinflusst.  Nur 
auf  den  höheren  Stufen  des  Unterrichtes  wird  hie  und  da  ein 
Naturkörper,  der  an  und  für  sich  ruhig  fehlen  könnte,  um  des  bio- 
logischen Interesses  vw  illcn,  das  er  bietet,  eingestellt,  z.  B.  Salbei, 
Orchideen  u.  a.  In  biogenetischer  Hinsicht  würden  auch  beispiels- 
weise in  diesem  Zusammenhange  ctie  Obergangsformen,  z.  B. 
Archäopteryx,  Lanzettfischchen  u.  a.  zu  erwähnen  sein. 

Die  Stofianordnung  berührt,  wie  wir  schon  oben  gesehen  haben, 

29* 


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—  452  — 


das  Wesen  der  Sache  gar  nicht;  sie  bildet  nur  eine  mehr  oder 
weniger  förderliche  oder  hinderliche  HfiUe  filr  sie. 

Die  methodische  Behandlung  des  Einzelwesens  sowohl  wie 
ganzer  Gemeinschaften  dagegen  ist  streng  den  Forderungen  des 
biologischen  Prinzipes  unterworfen  und  bildet  den  Kernpunkt  des 
gesamten  naturgeschichthchen  ünterrichtsbetriebes. 

Sehen  wir  zunächst  auf  die  einklassige  Volkssdiule.  Diese  hat 
nach  den  heute  in  Preussen  geltenden  Vorschriften,  den  „All^a-m. 
Best."  vom  15.  Oktober  1872,  6  Stunden  wöchentlich  für  Realien, 
wovon  zwei  auf  Geschichte,  zwei  auf  Geographie,  zwei  auf  Natur- 
kunde fallen.  Letztere  sind  meist  so  verteilt,  dass  im  Sommer  zwei 
Stunden  Naturbeschreibung,  im  Winter  eine  Stunde  Naturbeschreibung 
und  eine  Stunde  Natuilehre  erteilt  werden.  Rechnen  wir  rund: 
40  Schulwochen,  so  kommen  im  ganzen  80  Stunden  heraus,  60  für 
Naturbeschreibung  und  20  für  Naturlehre.  Bei  dieser  Verteilung  ist 
die  Naturbeschreibung  ohne  P'rage  sehr  bevorzugt;  man  könnte  die 
Zahlen  zu  Gunsten  der  Naturlehre  sicher  etwas  verschieben,  (Ich 
habe  bei  dieser  Aufrechnung  den  gesonderten  Unterrichtsgang  for 
Naturbeschreibung  sowohl  wie  auch  für  Naturlehre  im  Auge,  also 
nicht  die  Twiehausen'sche  Stoffverteilung.)  In  manchen  Proxnnzen 
tritt  für  die  Sommmcrmonatc,  von  Juli  bis  Oktober,  noch  eine  ver- 
kürzte Schulzeit  ein,  so  dass  nur  eine  Stunde  Naturkunde  wöchentlich 
bleibt  Was  da  an  einzelnen  Naturgegenständen  bdianddt  werden 
k;uiri  ist  äusserst  gering;  deshalb  ist  es  völlig  zwecklos,  sich  bezüg- 
lich der  eiiiklassigen  wie  auch  der  verwnndten  Halbtagsschule  darüber 
herumzustreiten,  ob  man  nach  dem  Systeme,  nuch  Lebensgemein- 
schaften, nach  natürlichen  Gruppen  den  Stoft  anordnen  solle,  oder 
wohl  gar,  ob  man  Jungesche  uesetze  oder  Schmeilsche  allgemeine 
biologische  Sätze  entwickeln  wolle.  Aber  die  vernünftige  biologische 
Behandlung  des  Einzelwesens,  die  den  Kindern  die  Augen  öffnet 
und  sie  zu  denkender,  sinniger  Naturbetrachtung  führt,  muss  unter 
allen  Umständen  auch  hier  gefordert  werden. 

Für  die  mehrklassige  Volks*,  die  Mittel*  und  höhere  Mädchen« 
schule  gUt  für  die  Behandlung  des  Einzelwesens  in  erweitertem 
Masse  dieselbe  Forderung  wie  für  die  einklassige  Volksschule.  Will 
man  hier  allgemeine  Gesichtspunkte  entwickeln,  seien  es  Jungesche 
Gesetze,  Schmeil  sche  ,, allgemeine  biologische  Sätze"  oder  Lay'sche 
„naturgcschichtliche  Leitsätze",  so  scheitere  man  nicht  an  der  Klippe, 
Phrasen  einzuprägen,  ohne  der  erforderlichen  sachlichen  Grundlaige 
des  Verständnisses  bei  den  Schülern  sicher  zu  sein.  Ob  man  hier 
den  Stoff  systematisch  anordnet  —  die  ,,A11;:i^cm.  Best."  gestatten 
das  für  die  mehrklassige  Volksschule,  schreiben  es  \  or  für  die  ^tittc)- 
schule  — ,  ob  man  ihn  nach  „Lebensgemeinschaften  oder  „uaiur- 
lichen  Grnippen"  zusammenstellt,  ist  zwar  nicht  nebensächlich,  aber 
den  Lebensnerv  der  Sache  trifft  es  rucht  Mir  persönlich,  will  ich 
gestehen,  ist  für  die  Volksschule  die  Anordnung  nach  Mnatürlicben 


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—   453  — 


Gruppen"  für  die  miMlcrcn  Stufen  am  meisten  sympatisch;  syste- 
matische Zusammenstellungen,  wenn  sie  die  erforderliche  sachliche 
Unterlage  haben,  auch  von  der  Oberstufe  verbannen  zu  wollen, 
halte  ich  für  nicht  methodisch  berechtigt  sowohl  in  Hinsicht 
auf  den  Stoff,  als  auch  unter  Berücksichtigung  der  Eigenart  der 
Kinderseele.  Für  Unter-  und  Mittelstufe  der  höheren  Mädchenschulen 
würde  mir  auch  die  Stoffanordnun^  nach  natürlichen  Gruppen  in 
der  Kiessling'  und  Pfalz'schen  VVeise  und  die  Behandlung  des 
Einzelwesens  unter  einem  bestimmten  ästhetischen  Gesichtspunkte 
zusagen,  nur  müsste  dieser  nicht  so  beabsichtigt,  gezwungen  und  — 
wie  das  bei  Kiessling  und  Pfalz  bisweilen  nicht  der  Fall  ist  —  des 
komischen  Beigeschmackes  entbehren.  „Die  Orchis  bietet  Uber- 
raschungen  wie  wenige  Pflanzen."  „Die  Farne  sind  eine  ganz  eigene, 
uns  fremdartig  anblickende  Zierde  unserer  Wälder."  „Die  Pilze 
haben  etwas  Geheimnisvolles  in  ihrem  ganzen  Wesen/'  „Die  Lerche 
stellt  ein  Bild  heiterer,  lieblicher  Anmut  dar."  „Die  Frösche  sind 
Tiere,  welche  auf  jeden  Menschen  erheiternd  wirkenj  aber  doch  von 
keinem  £!;ern  nngej^riffcn  werden: 

a)  Erheiternd  wirken  sie  durch  ihren  eigentümlichen  und  beharr* 
liehen  Gesang. 

b)  Erheiternd  wirken  sie  auch  durch  ihr  seltsames  und  auftalliges 
Aussehen. 

c)  Erheiternd  wirken  sie  durch  ihr  zwar  furchtsames,  aber  doch 
munteres  und  drdliges  Benehmen. 

d)  So  viel  Vergnügen  auch  der  Frosch  den  Renschen  bereitet, 
so  greifen  ihn  doch  die  wenigsten  von  ihnen  gerne  an." 

„Ahnlich  ist  behandelt  der  Storch  („erfreut  den  Menschen"), 
die  Schwalbe  („alibeüebter  Vogel"),  die  Bachstelze  („anmutigster 
Vogel")  und  viele  andere.  Es  ist  bedenklich,  Gestalt,  Bewegung, 
Lebensweise  unter  solchen  ganz  subjektiven  Gesichtspunkten  zu 
betrachten.  Wenn  nun  der  Frosch  auf  irgend  einen  nicht  erheiternd 
wirkte,  dann  wäre  ja  das  Ganze  in  die  Uuft  gebaut!  Schafft  den 
Kindern  Tatsachen!  Nur  die  objektive  Betrachtung  ermöglicht  uns, 
immer  wahr  zu  bleiben  .  .  .  Gesichtspunkte  endlich  wie :  „So  zierlich 
die  Eidedise  ist,  so  trefflich  ist  sie  doch  durch  ihre  Körpereinridi« 
tung  befähigt,  sich  das  Leben  zu  erhalten"  oder:  ,J)ic  Schildkröte 
ist  auj^enscheifilich  trefflich  zu  Schutz  und  Trutz  eingcrirhtct,  nimmt 
aber  doch  unter  den  Tieren  eine  ziemlich  tiefe  Stellung  ein"  — 
solche  Gesichtspunkte  sind  weder  einheitlich  noch  logisch,  noch 
umfassend."  (PartheU  und  Probst)  Für  die  oberen  Klassen  der 
höheren  Mädchenschulen,  insonderheit  der  nach  den  neuen  Lehr- 
plänen den  b  hrren  Schulen  für  das  männliche  Geschlecht  gleich- 
gestellten, ^ilt  im  wesentlichen  das  P'olgende. 

Für  höhere  Schulen  wie  auch  für  unsere  Lehrerbildungsanstalten, 
Präparandenschulen  sowohl  wie  Seminare,  halte  ich,  wie  ich  oben 


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—   454  — 


schon  erwähnt  habe,  den  systematischen  Gang  för  den  eümg 

richtigen,  weil  er  —  und  das  ist  ganz  besonders  auch  für  den 
werdenden  T . ehrer  wichtig,  Übersichtlichkeit  Hes  Wissens  sichert, 
ohne,  w^cnn  atiders  der  Unterricht  ein  rechter  war,  die  iiinheitlichkcit  des 
Wisseos  zu  geföhrden.  ^)  (S.  S.  447  u.  448.  Bedeutung  der  Beschäftigung 
mit  dem  System.)  Die  Stofianordnung  nach  Lebensgemeinschalten, 
nach  natürlii  hl  n  Gruppen,  den  sämtliche  Zweige  der  Naturwisser 
Schäften  vereinigenden  Quehl'sche  Lehrgang  ii.  a.  soll  der  werdende 
Lehrer  wohl  bei  der  Besprechung  der  Methodik  des  naturkundlichen 
Untenidites  toinen  lernen,  nicnt  aber  darf  s^e  materielle  Aus* 
bildung  sich  an  der  Hand  dieser  vollziehen. 

Wenn  ich  die  systematische  StofTanordnung  für  die  oben  ge* 
nannten  Anstalten  folgere,  so  will  ich  damit  selbstverständlich  nicht 

sagen,  dass  der  Unterricht  mit  rien  niedrigsten  Lebewesen,  den  ein- 
zelligen Pflanzen  und  Tieren  beginnen  und  so  allmählich  die  ganze 
Entwickelungsreihe  des  organischen  Lebens  durclüaufen  müsse ;  das 
verbietet  sich  ja  dem  mediodisch  geschulten  Lehrer  ganz  von  selbst.^ 
Ich  will  ferner  nicht  damit  sagen,  dass  ich  wie  Lüben  das  System 
als  Ziel,  als  Kndpunkt  und  Krone  des  Unterrichtes  fordere;  im 
Gegenteile  —  die  Sache  ist  die  Kenntnis  des  warm  Tiulsicrenden 
Lebens  in  der  Natur,  dessen  Kinheitlichkcit  der  Schüler  ahnen  soU; 
die  Sadie  ist  die  Gewöhnung  der  SdiQler  an  aufmericsame  Be* 
obachtung  und  die  Erziehung  zu  sinniger  Betrachtung  der  Natur 
selbst.  Der  Gang  nach  dem  Systeme  aber  ist  nur  die  Form,  die 
Hülle,  die  das  Gekennzeichnete  zusammenfassen  soll.  Das  System 
liefert  gleichsam  die  Leitschnüre,  vermittelst  derer  der  Lehrer  im- 
stande ist,  zu  geeigneter  Zeit  und  am  geeigneten  Orte  aus  den 
einzelnen  Gebieten  des  gesamten  naturwissenschaftlichen  Lehr*  und 
Lernstoffes  das  heranzuholen,  was  gerade  nötig  ist  zur  Ergänzung, 
Beleburn^,  Wiederholung  des  7.u  bchnndelnden  Gegenstandes,  das 
heranzu,  icl.cn,  was  zur  Erweckung,  Belebung  und  dauernden  Er- 
haltung dea  Interesses  der  Schüler  dienen  kann.  Der  systematische 
Unterrichtsgang,  obwohl  er  Selbständigkeit  für  die  Hauptzweige  der 
Naturwissensduiften,  Bi^suiik,  2^ologie,  Physik  und  Qiemie.  bedingt, 
soll  keineswegs  die  Konzentrationsidee  ausser  acht  lassen ;  aber  die 
Konzentrationsfaden  sollen  der  Sache  selbst  entnommen  werden 
und  nicht,  wie  das  bei  dem  oben  geschilderten  Verfahren  der  Fall 


^  k'-  Vcrworn,  ..ncilräge  rur  Frage  des  naturwissenschaftlichen  UntcrrichU  ao 
höheren  Schulen  '.  Leipzig.  G.  Fischer.  —  Norrcnberg,  Geschichte  des  natanrissen* 
KhBfilieiitt  Unteniditi  u  hüberca  Scindea  DeoltdilMds'*.  Leipcig.  Teahiier. 

')  Vf^l.  Zacharias,  ,,VorschlSpe  tut  Frriclung  hrssprcr  Vorbedingungen  für  die 
Hebung  des  biologischen  Unterrichts  an  unseren  höheren  Schulen"  und  „Über  die 
Nützlichkeit  der  Begründung  eines  staatliclieD  Instituts  für  Hydrobiologie  und 
Planktonkunde".  Stuttgart.  Schweizerbart.  1906.  —  Derselbe,  „Das  Plankton  nb 
Gegenstand  eines  zcitgemässen  biologischen  Schulunterrichts".    Ebenda.  1906. 


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—   455  — 


ist,  beliebige  Stoffgebiete  mehr  oder  weniger  zuiallig  und  locker 

ancinande  rfii  '^en. 

Sehen  wir  uns  zur  Erläuterung  des  obigen  die  beiden  Haupt- 
zweige der  Naturgeschichte,  Botanik  und  Zoologie,  an.  Welche 
Stoflgeblete  haben  sie  zu  verarbeiten,  und  wie  sind  die  „Konzen- 
trationsfäden" in  ihnen  und  von  ihnen  aus  zu  ziehen? 

Das  Stoffgebiet  der  Pflanzenkunde  ist  die  spezielle  und  all- 
gemeine Botanik.  Kr^^tere  hat  das  gesamte  Pflanzenreich  von  den 
einzelUgen  Grünalgen  und  Spaltpilzen  an  bis  zu  den  vollkommensten 


und  auf  diese  Weise  den  biogenetischen  (jesichtepunkt  hervorleuchten 

zu  lassen.     Die  wichtigsten  natürlichen  PflanzenfanuEen  dnd  an 

hen'orstechenden  Typen  zu  veranschaulichen.  Letztere  sind  zunächst 
natürlich  beschreibend  aufzufassen  (Was  und  Wie?);  dann  ist  aber 
auch  ihre  äussere  und  innere  Einrichtung  zu  ihren  Lebenstätigkeiten, 
SU  ihrem  Aufenthalte  in  klare  und  scharfe  Beziehung  zu  bringen, 
wie  ich  das  oben  am  „weissen  Bienensaug"  —  äusserer  Bau  und 
zentripetale  Wasserleitung^,  Blütenbau,  Insektenbestäubung  usw. 
—  versucht  habe  kiarzulepen.  Die  Ausbeutung  des  biologischen 
Prinzipes  bei  der  Behandlung  des  Einzelwesens,  ganzer  Püanzen- 
gruppen,  Familien,  spielt  in  so  vielen  Farben,  daas  ich  hier  nur 
einiges  weniges  andeuten  kann:  Schutzeinrichtungen  gegen  den 
Regen,  W'ind,  die  Kälte,  Hitze,  lästige  Gäste;  Anpassung  an  trockenen, 
feuchten,  steinigen  Boden,  lichten  oder  schattigen  Standort;  Nach- 
ahmung zwischen  Blüten  und  Insekten;  Bestaubungseinrichtungen 
bei  Wind»,  Insdcten-  und  Wasserblütem;  Verbrcitungsmittel  der 
Samen  —  und  vieles  andere  mehr.  Am  Schlüsse  des  Kuisus 
erfolgt  die  übersichtliche  Zusammenstellung  der  behandelten  Familien 
der  Phanerogamen  und  Kryptogamen  und  die  Einführung  eines 
natürUchen  Systemes.  Der  Kenntnis  des  Linne'schen  Systemes  ist 
nur  insofern  Wert  beizulegen,  als  es  vielleicht  für  den  Anfang  eine 
leichtere  Handhabe  zum  Bestimmen  bietet  als  ein  natüiüches  System. 
Sollte  die  ob^  Stoffzusammenstdlung  die  Furcht  vor  Stoff- 
Überhäufung  hervorgerufen  haben,  so  bemerke  ich  ausdrücklich,  dass 
Beschränkung  auch  hier  insofern  Meisterschaft  zeigen  muss,  als 
mcmalh  die  Stoiiuiie  die  Gründlichkeit  der  Verarbeitung  und  der 
Einprägung,  die  Sidierfaeit  des  Wissens  beetnträcfatigen  darf.  Die 
allgemeine  Botanil^  die  das  Wichtigste  aus  der  Histologie  über 
Zellen,  Gefasse  und  Gewebe,  aus  der  Morphologie  —  der  hier  in 
Frage  kommende  Stoff  bedarf  auf  Grund  der  speziellen  Botanik 
wohl  nur  der  gelegentUchen  Zusammenstellung:  Blütendiagramme, 
Blatt',  Stamm»,  Wurzel*  und  Fruchtformen  —  sowie  endUch  aus 
der  Physiologie  der  Pflanzen  zu  bringen  hat  —  Pflanzenbewegungen, 
Ernäbrcn'T,  Fortpflanzung  und  Vermehrung,  Empfindlichkeit  gegen 
Licht  und  Wärme,  Feuchtigkeit,  Trockenheit,  Wind  u.  s.  f.  Die 
Physiologie  kann  entweder  im  Zusammenhange  und  unter  Wieder- 


Blütenpflanzen  hinauf 


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holung  dessen,  was  die  Behandlung  der  Einzelwesen  bereits  geboten 
hat,  vorgeführt  werden  oder  aber,  in  einzehie  Abschnitte  zerle^^. 
an  geeigneten  Stellen  der  speziellen  Botanik  eingefügt  werden. 
Selbstverständlich  muss  der  Stoff  unter  Zuhilfenahme  des  Mikroskopcs, 
SdoptikonSi  durch  Versuche,  vom  Lehr«'  undvonden  Schülern') 
angestellt,  durch  Inanspruchnahme  der  Beobachtungstatigkeit  der 
Schüler  veranschaulicht  werden;  denn  der  Unterricht  darf  beileibe 
nicht  ein  blosses  Andozieren  sein;  der  Schüler  soll  das  Gebotene 
nicht  einfach  im  guten  Glauben  hinnehmen;  denn  gerade  darin,  dass 
er  selbst  beobachtet,  selbst  die  Tatsachen  findet,  hegt  der  mächtige 
Hebel  flir  die  Erwecfcung  des  Interesses. 

Die  Konzentrationsfaden  in  beiden  Stoffgebieten  sind  so  zahl- 
reich, dass  wir  hier  nur  die  allerwichtigsten  andeutungsweise  berück- 
sichtigen können : 

Die  Vermittelung  der  Bestäubung  der  l'flanzen  führt  in  die 
Zoologie;  die  Wechsdbeziehung  zwischen  dem  Baue  der  Blüte  und 
dem  des  sie  besuchenden  Insektes  sind  hervorzuheben ;  \  iele  Pflanzen 
sind  der  Tummelplatz  unzähliger  Käfer,  die  als  Freunde  oder  Feinde 
kommen;  in  welcher  Beziehung  stehen  sie  tu  einander?  u.  s.  f 

Die  Behandlnng  der  Kryptogamen  sowohl  wie  der  Phanero- 
gamen  föhrt  auch  in  die  Geologie.  Erstere  bieten  Anknüpfungs- 
punkte für  die  Primarzeit  der  Erdoberfläche,  die  Nacktsamigen  und 
Spitzkeimer  versetzen  uns  in  die  Sekundärzeit,  die  Bildung  der 
Zweisamlapper  vollzieht  sich  in  der  Tertiär-  und  Quartärzeit.  Stein- 
kohle, Braunkohle,  Torf  u.  a.  leiten  von  den  sie  bildenden  Pflanzen 
in  die  spezielle  Mineralogie  über.  Die  Spaltpilze,  Bakterien,  BacdOen 
und  Micrococcen,  bieten  Anknüpfung  für  das  Kapitel  ,3&u  und 
Leben  des  menschlichen  Körpers". 

Die  Zellenlehre,  die  Lehre  von  den  Lebenstätigkeiten  der 
Pflanze  sind  ohne  Beziehung  zu  l'hysik  und  Chemie  gar  nicht  dar- 
stellbar. Neiiinen  wir  beispielsweise  bei  der  Behandlung  des  Zell- 
inhaltes die  Kohlenhydrate,  Fette,  Starkemehl,  Zellulose,  Zucker, 
Gummi,  Dextrin,  heraus,  so  erhalten  wir  als  nächst  liegende  Kon- 
zentrationsfäden  für  die  Chemie  die  Flemcnte  KohlcnstofT.  Wasser- 
stoff, Sauerstoff,  die  wieder  nacli  den  ver^chic  U  eisten  Seilen  hin 
Brucken  bilden  können:  Vom  Kohlenstoile  zu  Diamant,  Graphit, 
Steinkohle,  Petroleum,  Kohlensaure;  vom  Sauerstoffe  und  Kohlen- 
saure  zur  atmosphärischen  Lufk,  zur  Pflanzen-  und  tierischen  Atmung, 
zu  Wasser,  Salzsäure.  Salpeter,  Ammoniak  u.  s.  f.  Das  Chlorophy]! 
bietet  Anknüpfungspunkte  für  Eisen,   Eisenerze,   tierisches  Blut 


»)  Siehe  KoWmcycr,  „Die  pmktisehen  übuniren  im  biolofrisdien  Naturgrschkbt»- 

unterrichte  des  Seminars",  ..Pädagopschc  BlättLr  für  die  Lehrerlildung".  Goihi. 
Thienemaim.  Jahrg.  1906.  —  DeiKlbe,  „Allgemcioe  Zoologie  nebst  Anleitung  zur 
Ansfithraa^  der  notvendigstea  und  eiafiühsteii  prektiMhen  Arbeiten  der  SehUa**. 

Derselbe,  ,,Allgfmcinf  Pülanik  nehst  Anleitung  zur  Ausführung  der  nülwcndip^lca  od 
einfachsten  praktischen  Arbeiten  der  Schüler".   Leipzig.   DUrr.    1905  u.  1906. 


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u.  V.  a.  m.  Kurz  gefasst:  der  ewige  Kreislauf  der  chemischen  Grund- 
Stoffe  zwischen  anorganischer  und  organischer  Natur  ist  ein  wichtiger 
Leitpunkt  für  die  Erfassung  der  Natur  als  eines  einheitlichen  Ganzen. 
Die  Schüler  sollen  zur  Krmöglichunp  des  obigen  in  der  Herstellung 
von  mikroskopischen  Präparaten,  in  der  Handhabung  des  Mikroskopes, 
im  Anleigen  biologischer  Sammlungen,  in  der  Herstellung  einfacher 
schematischer  Zeichnungen  geübt  werden.  Die  Besprechung  einzelner 
ausländischer  Pflanzen,  ganzer  Pflanzengruppen,  ihre  \'frbrpitung, 
Betrachtung  von  charakteristischen  Landschaftsbüdern  führt  hinüber 
zur  Geographie;  die  Herstellung  von  Pflanzenskizzen,  von  Blüten- 
diagrammen und  anderen  schematischen  Zeichnungen  bedingt  die 
Zeichenfertigkeit  die  in  noch  weit  höherem  Masse  als  bisher 
im  Interesse  der  Selbstbetätigung  der  Schüler  in  An- 
spruch genommen  werden  muss. '}  Die  Heranziehung  von  prosaischen, 
poetischen  Stoffen  im  botanischen  Unterrichte  berührt  sich  mit  dem 
Sprachunterrichte.  Das  sind  in  flüchtigen  Strichen  eine  Menge 
Konzentrationsföden*  Wo  immer  es  sich  machen  lässt,  soll  man 
die  sich  berührenden  Stoffgebiete  gleichzeitig  auftreten  lassen.  Die 
Gleichzeitigkeit  erleichtert  naturgemäss  die  Verschmelzung  der  ver- 
wandten Yorstcllungsgruppen  zu  einheitlicher  Anschauung:  aber  sie 
bedingt  schliesslich  nicht  das  Wesen  der  Sache;  der  Kernpunkt 
liegt  doch  darin^  dass  früher  oder  später  die  Konzentrationsfaden 
überhaupt  gezogen  werden,  sei  es  nach  Abschluss  der  Behandlung 
des  Finzelwesens,  nach  Al^'^rhluss  eng  begrenzter  Stoffgebiete,  oder 
am  Lade  eines  ganzen  Kur  is.  Auf  alle  Fälle  aber  muss  ein  tun- 
lichst einheitliches  Überschauen  der  vei-schiedenen  Stoffgebiete 
herbeigeführt  werden,  um  die  Einheitlichkeit  der  Naturauffassung 
nach  Kräften  zu  sichern. 

Auch  die  Zoologie  hat  an  den  wichtigsten  Vertretern  des  Tier- 
reiches die  Kntwickelungsreihe  \on  den  einzelÜLcn  Urtieren  bis 
hinauf  zu  den  höchst  entwickelten  Saugetieren  in  dem  oben  gekenn- 
zeichneten Sinne  zu  durchlaufen  und  das  biogenetische  Prinzip  bei 
Behandlung  von  Übergangsformen,  wie  Schnabeltier,  Urgreif.  Fisch* 
lurchen,  Lanzettfischchen  usw.  in  einfacher,  tatsächlich  begründeter 
Weise  durchleuchten  zu  lassen.  Bei  der  Behandlung  des  Einzel- 
wesens ist  ganz  in  derselben  Weise  zu  verfahren  wie  bei  den 
Pflanzen:  Auffassen  der  äusseren  Form  (Beschreiben,  Bestimmen, 


')  Ilenkc,  Zeichnen  aad  Sehen.  Haniburg  1908,  —  Rculcr,  MorpholugiMrb- 
biologisches  Skizzenbuch.  Arnsberg.  Stahl.  1908.  —  Natur  und  Schule.  Bd.  L 
S.  >i.  „Über  d.i'^  /(-ichncn  im  naturgcschichtlichcn  L'ntmichl".  —  Schoenichen, 
„Das  Zcichcncxtemjjuralc  im  naturkundlichen  Lntcrrichtc".  Natur  und  Schule.  Bd.  I, 
—  Franken,  ..Warum,  wann  und  wie  im  naturkundlichen  Unterricht-'  fjf/richnel 
werden  muss.  Natur  und  Schule  BJ.  IIT.  —  ^^^>^ius,  „Das  Gcilichlnis^ciclin'-n  im 
biologischen  Unterrichte".  Natur  und  Schule.  Bd.  IV.  —  Natur  und  Schule. 
Bd.  IV.  „Die  Bedentnns  dci  ModeUicrens  filr  den  mtnrgeichichdicheii  Utttcrrieht. 
Bd.  1.  S.  72. 


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Vcfgleichen,  Feststellen  der  Gattungs-  oder  FamUienmerkmale),  Be> 
trachtung  der  Lebenstätigkeiten,  die  bei  den  Tieren  differenzierter 
und  darum  in  noch  schärferen  und  klareren  Zusammenhang  mit  den 
Organen  zu  bringen  sind  als  bei  den  Pflanzen,  Herausheben  des 
ur^Lchlidien  Zusammenhaltes  zwischen  Eigenart  der  Lebens- 
Verrichtung  und  Bau  der  in  Frage  kommenden  Organe.  Die  Kon« 
zcntrationsfäden  von  hier  aus  führen,  abgesehen  von  denen,  die  wir 
schon  bei  der  Hotanik  erwähnten,  besonders  durch  die  Paläontologie, 
die  Vorwesenkuude,  die  der  Behandlung  der  jetzt  lebenden  Tiere 
sich  zwanglos  anknüpft,  in  die  Geologie.  Die  Besprechung  des 
Tierreiches  von  den  Urtieren  bis  zu  den  Knorpelfischen  gibt  Ge- 
legenheit, die  Vorwescn  und  die  sie  führenden  Schichten  des  Primär- 
gesteines  daran  zu  knüpfen.  Die  Behandlung  der  Krebse,  des 
Tintenfisches,  der  Stachelhäuter  fuhrt  zu  den  Trilobiten,  Ammoniten, 
Belemniten  und  der  Meerlilie,  zu  den  Galeriten  und  Ananchyten; 
man  wird  bei  ihrer  Erwähnung  den  Schülern  nidit  vorenthalten, 
dass  diese  Versteinerungen  der  Erdschichten  sich  da  und  da  finden. 
An  die  Eidechsen  knüpTt  man  zwanglos  die  Meersaurier,  Flugsaurier 
und  Landsaurier,  sowie  den  Urgreif  (Archaeopteryxj  und  ist  damit 
im  Jura  und  seinem  charakteristischen  Gebiete.  Elefant,  Ohiuuer 
und  Mastodon,  die  Entwickdung  des  Pferdcdiufes^  der  Hailisch  geben 
Anknüpfungspunkte  für  das  Tertiaigestdn;  Riesenhixsch,  Höhlenbär 
u.  v.  a.  führen  in  die  Eiszeit 

Umgekehrt  führt  die  Geologie  in  die  Zoologie  zurück  und 
berührt  sich  vor  allem  mit  der  Geographie.  Wie  interessant  ist  es 
z.  B.  in  letzterer  Beziehung  bei  Besprechung  des  böhmischen  Gebirgs- 
systemes  hervorzuheben:  ,J>ie  Grauwacke  im  inneren  Becken  war 
eine  Bucht  jenes  uralten  Meeres,  in  dem  die  Trilobiten  noch 
herrschten;  die  Sandsteinbildungen  aus  der  Kreidezeit  verdanken  ihr 
heutiges,  den  Unkundigen  zu  den  wildesten  Phantasieen  heraus- 
forderndes Gepräge  drei  einfachen  Bildungsphasen,  der  Ablagerung 
aus  dem  Kreidemeere,  dem  Rückzüge  des  letzteren  und  der  Ab- 
najgung  durch  spatere  Wasserarbeit;  in  der  darauffolgenden  Tertiär- 
zeit stellte  dann  das  basaltische  Mittelgebirge  ein  ungeheures  Vulkao- 
terrain  vor."  Ebenso  interessant  ist  die  geologische  Bildung  der 
Alpen:  Zusammenschiebung,  Faltungsprozess,  vulkanische  Hebung; 
Gletscher-,  Höhlen-,  Klamm-,  DoloniitbUdung;  sie  wie  die  Bildung 
der  Riffe  und  Atolle  durch  Korallen  und  ihr  Vorkommen  in  ganz 
bestimmten  Bezirken  bieten  geographische  Konzentrationsfaden, 
(Nach  R.  Schneider,  „Der  naturwissenschaftliche  Unterricht  und  die 
neuere  Forschung'.)^) 

Die  Vorführung  der  einzelnen  Krdsrhichten  in  der  Rrdhilduni^ 
lehre  hat  überall  das  parallel  laufende  Leben  in  Pflanzen-,  iier- 

>)  Vfül.  Land<;herg.  ,,Di(  Biologie  auf  der  Oberstufe  des  GymiHWlHBS**,  llomU* 
Schrift  1  S.  692  f.  und  „Handbuch  für  hühere  Schulen"  S.  $24, 


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und  Mensdienwelt  zu  berOcksichttgen,  so  dass  der  Schüler  klar 
überfolidct:  z.  B.  in  den  Primärschichten  finden  sich  Spuren  des 

Pflanzenlebens  von  den  einzelligen  Pflnnzen  bis  zu  den  Gefass- 
kryptogamen  einschliesslicb ;  das  lierreich  ist  vertreten  von  den 
Urtieren  bis  zu  den  ersten  Knorpelfischen.  Oder:  der  Jura  weist 
auf:  Meersaurier,  Flugsaurier,  Urvögel,  Krokodile;  die  Pflanzenwelt 
steht  im  Ubergange  von  den  Nadel-  zu  den  Laubwäldern  u.  s.  f. 

Bau  und  Leben  des  menschlichen  Körpers,  biologisch  behandelt, 
geben  ebenfalls  eine  Fülle  Konzentrationsfäden:  Die  Behandlung 
des  Rumpfgerüstes  kann  zu  Hebel  und  Pendel,^]  die  der  Muskeln 
zur  Elastizität,  die  der  Nerven  zur  Elektrizität  (iihren.  Der  Ver- 
dauung»-, Kretslaulsr  und  Atmungsvorgang  stellt  Brücken  zur  Giemie 
her:  Chemische  Lösung,  Umwandlung  von  Stärkemehl  in  Dextrin, 
Zuckerbildung,  Überführung  der  Eiweisskörper  in  Peptone,  Ver- 
seifung der  Fette,  Verbrennung  durch  Sauerstoffzufuhr  bei  der 
Atmung  usw. 

Die  neuere  Einteilung  der  Menschenrassen  nach  Schädel,  Kiefer 
und  Behaarung  ist  einzufügen;  sie  beweist,  dass  die  schon  dem 
äusseren  Baue  nach  am  tiefsten  stehenden  Menschenrassen,  z.  B.  die 
Papuas,  Langschädcl  mit  Schrägkiefern  und  büscheliger,  stark  ver- 
filzter  Behaarung,  heute  noch  in  der  Kntwickeiungsstufe  der  Stein- 
zeit stehen,  die  uns  in  die  Urzeit  des  Menschengeschlechtes,  in  die 
Zeit  der  Höhlenbewohner,  in  die  Tertiärzeit  zurückversetzt,  in 
der  die  ersten  Menschen,  wie  das  zuverlässige  Funde  beweisen,  schon 
Jahrtausende  vor  ihrem  Eintritte  in  die  Geschichte  des  Altertumes 
ein  auf  der  obigen  Kulturstufe  stehendes  Leben  geführt  haben  müssen. 

Das  ist  in  kurzen  Zügen  ein  BÜd  von  der  Möglichkeit  der 
sachlichen  Stoffverknüpfung,  der  Verwirklichung  der  Konzentrations- 
forderung aus  dem  Kerne  ihres  Wesens  heraus,  und  nur  in  ihm 
kann  der  Keim  zur  X'ervoUkommnung  der  heutigen  Konzentrations- 
versuche liegen,  niemals,  das  sei  noch  einmal  hervorgehoben,  in 
einer  Stoflhnordnung,  der  man  nicht  einmal  als  Vorstufe  für  sachliche 
Verknüpfung  irgend  welchen  Wert  für  die  Anbahnung  einheit- 
licher Naturauffassung  beilegen  kann. 

Wenn  ich  in  der  vorstehenden  kleinen  Abhandlung  nach  zwei 
Seiten  hin,  nämlich  gegenüber  dem  Stoffe  und  der  Stoffanordnung 
des  biologischen  Naturgeschichtsunterrichtes,  mich  hie  und  da  nicht 
zustimmend  ausgesprochen  habe,  so  will  ich  damit  gewiss  nicht, 
ich  hebe  das  noch  einmal  ausdrücklich  hervor,  die  Verfasser  der  in 
Frage  kommenden  Lehrbücher  treffen;  ich  betrachte  vielmehr  erstere 
wie  letztere  als  schätzenswerte  Mitkämpfer  um  das  gemeinsame 
Ziel,  um  die  Verwirklichung  des  biologischen  Prinzip  es  im  Natur- 
geschtchtsunterrichte  unserer  Schulen. 

')  Vgl.  Berthcau,  „Ausgewählte  Kapitel  aus  der  Physik  des  menschlichen 
Körpers".   (Frogr.  der  Haionbarger  Realschule  a.  d.  Lübecker  Tor.    I903  u.  1906.) 


B.  Kleinere  Beitrige  und  MltteUungeiu 

BericM  Oker  die  41.  Hauptversammlung  dee  Vereine  für 
wiesenschafUiclie  Pädagogik. 

Von  ¥t.  Franke  in  Leipzig. 

Die  iliesjähricfe  Versaramluns:  fand  am  Dienstajj^  und  Mittwoch  der  Pfiiiirst- 
wocbe  in  8tr  aas  bürg  8Utt.  Der  Verein  hat  im  Reichalande  noch  nicht  vid 
Mitglieder,  der  Besncb  aber  war  gut,  auch  die  Behörden  waren  vertreten,  iüreu- 
admUnqt^tor  KCnig  hatte  eine  BegrVwnngBtehrilt:  ^Yim  Herbart  wU  wdm 
Sdrale"  Twfawt,  welche  der  Herauegeber  dee  llnas-Lodiriiigieebeii  SchidMetteii 
Geheimer  Regierungs-  und  Schnlrat  Dr.  Stehle,  der  zwei  Tage  wacker  aoshidt 
und  auch  in  die  Verhandinnpen  eingriff,  am  Dienstag  frtlh  den  VersanimfU^ 
Überreichen  liess.  Der  VorBitzeude,  Prot.  Rein,  hatte  in  der  VorTereammiung  im 
2.  Pfingtsttag  abeuda  anegefOhrt,  dase  wir  alle  Zeitätrömuugen  su  verfolgen  und 
mit  Vordebt  in  lernen  evehen  mnesen,  vm  aaeer  OebSnde  immer  weiter  amsi- 
bauen.  Am  Dienstag  früh  wicderLcdte  er  vor  dem  grösseren  Kreise,  dass  wir 
uns  nicht  floq-ninti'irh  f-'-rli  .rt*n  ln'-«<  n.  (i.xss  eiiir*  crö>;sere  Weitht;rzi^keit.  hii 
§  1  u.  2  unserer  äatzuugeü  zeigen,  kaum  uu'>i,'iaü  ist  und  das-s  auch  die  Arbeit 
unseres  Vereins  eine  grosse  Fortentwickclaug  zeigt.  iJie  BegriUsungsschhft  sei 
dne  trdfliehe  Einftthrnng,  cie  leige  die  Notwendigkeit  einhdtUcher  Dor^ 
bildung  der  pAdagOgiechÖi  Gedanken,  sie  stärke  auch  dae  Vertrauen  aof  die 
Solidheit  nnserer  Gnindlapen,  die  zwar  viel  an^'egriffen  werden,  aber  auch  inuncr 
wieder  aus  der  Mitte  des  Kampfes  heraiit!  Bestätigung  finden. 

Die  Arbeiten  des  Jahrbuches  vtiirden  diesmal  im  allgemeinen  in  der  Heib« 
von  nnten  nadi  oben  dnrehgesprochen ;  diese  Folge  weiden  lunen  MitteUnagen 
innehalten. 

1.  Spieser,  Schwierigkeiten  des  Schreiben-  nud  Lesenlernens  und  die 
Mittel  dairejjen.  Per  Verf.  ist  d«äs«?i«icher  Dorfpfarrer,  sehr  vertrant  mit  Phonetik 
und  Lautphysiologie  und  neigt  zu  radikalen  Ansichten  hinsichtlich  der  C>rtho- 
graphie.  Er  hat  mit  Erlanbnia  dee  KretBechnlinspektois  dae,  wae  er  im  Binscl- 
imtenicht  gefunden,  im  Klaaeennnterrieht  erprobt  nnd  eeine  Methode  in  mehreren 
Abhandlungen  und  kleinen  Schriften  mit  einem  Ausdruck  von  B.  Otto  „begliffiidie 
Methode**  genannt,  weil  „der  Schüler  zner.«>t  znm  Be§:reifen  seiner  SprechtHtisrkwt 
geführt  wird."  Zu  diesem  Begreiflichmachen  benutzt  er  ein  pla^ti^tches  Kopt- 
modeU  nnd  seitliche  Abbildungen  der  Hnndstellnng  beim  Anasprechen  der 
wiehtigetea  Laute.  An  den  von  liuka  nach  rechts  angeordneten  Lantbildem  aber 
lernen  die  Kinder  auch  lesen  und  dabei  den  „Schreibgrundsatz''  begreifen,  nach 
wp!  ht-in  wir  niclit  die  Begriffe  schreiben,  sondern  die  Lant/.ei<hen  fTir  die 
betreneuden  Worte.  So  bald  dieses  Lesen  nach  .,Lant?chrift"  ic-  lünlig  i.st.  wt  rden 
die  Lautbilder  allmählich  durch  die  willkUilicheu  Buchbtaben  ersetzt.   Da^ä  die 


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Kinder  auf  diese  Weise  rasch  leseu  leruea  imd  früblich  dabei  sind,  wurde  bezeugt 
durch  dem  Knindralintpelrtor  «nd  dweh  Prof.  Bein;  ani  Qera  Itg  ein  Gutachten 

des  Kollegiums  der  Enzianschnle  Tor.  Trotzdem  blieben  gegen  die  allgemeine 
Einführuui^  Bedenljen,  da  ein  z.  Z.  nicht  allgemein  vorauszusetzf-nrli^-;  M:\^^ 
phonetischer  nnd  physiologischer  Keuntuisse  nötig  sei.  Auch  hielrt^i  einzelne 
Beduer  böi  uurmalcu  iüaderu  deu  kurzen  Weg  der  Nachabinuug  tilr  bes^r, 
dagegen  eä  hier  eine  an^feaeichnete  fiiginanng  anderer  Metii<»den  gegeben  bei 
£indem  mit  ^rechfehlem.  Vor  allem  aog  man  ans  der  Möglichkeit,  rasch  und 
leicht  zu  lernen,  den  Scblns;^.  dass  m\n  mit  wm  so  weniger  Bedenken  das 
Erlemen  des  Lesens  und  SchreibenH  vom  ersten  nach  dem  zweiten  Schuljuhre  bin 
schieben  dUrfe,  wie  es  Ziller  hielt  und  die  Jenaer  Übuugsschule  hält.  Un- 
geeigneten Fibelatoff  wird  man  yoUiMndisr  vieUeiidit  nvr  dadoieh  Termeiden, 
dav  man  gar  keine  gedmekte  Eibel  gebrancht,  wie  ee  ven  Kiftnlein  in  Freibnrg 
nnd  wiederum  von  der  Jenaer  Übungsschule  berichtet  wurde. 

2.  Pabst,  Der  Handarbeitsunterricht  im  Seminar.  Der  Verf  erörtert 
I.  die  Bedeutung  des  Handarbeitsunterrichts  für  das  Erziehungsweseu  überhaupt, 
n.  beriehtet  er  von  seinem  eigenen  Yermoh  am  Sendnar  an  OOthen  (1889),  der 
von  Bedllrf^iiaten  nnd  Wdningen  der  natarwiNnuehaftUdien  Lebrftoher  ausging, 
III.  stellt  er  für  das  sechsklassige  Seminar  einen  Lehrplan  auf.  Hinsichtlich  der 
Notwendigkeit  praktischer  BetiitigTing'  überhaupt  herrschtr-  vUIüe^e  Übereinstim- 
mung; der  Verf.  wies  (was  man  in  der  Vorlage  vermissen  konnte)  darauf  hin, 
dass  ein  besserer  Nachweis  dieser  Notwendigkeit,  als  er  bei  Herbart  (z.  B. 
ümrias  §  M,  179,  269),  Ziller  (besondere  in  der  Omndlegang)  nnd  den  Naeh> 
folgetn  zu  finden  sei,  sich  kaum  geben  lasse.  Doch  greift  er,  mehr  Kerschen« 
Steiner  folgend,  die  theoretische  Scheidung:  von  AUsremeiubildune;  i^n  1  Tlprnfs- 
bildnng  und  damit  auch  die  Trennung  des  .Srrninnrkursus  in  die  ailK'emeine 
Bildnngsanstalt  nnd  in  die  Fachschule  an.  Semiuurmspektor  Audreae  aus  Kaisers- 
lantMn  nUirte  siofa  gegen  die  Trennnng,  wie  sie  in  Prenseen  dnrchgeftthrt  ist^ 
wies  zum  Zwecke  der  Begründung  nicht  auf  Kerschensteiner,  sondern  auf  P.  de 
Lagard  hin,  füarte  aber  mit  Recht  hinzu,  dasa  sich  diese  Frare  nicht  nebenher 
ausmachen  lasse.  Der  Lehrplau,  den  Papst  für  das  Seminar  auf.stellt,  ^'ehl  von 
den  leichter  zu  behandelnden  Materialien  zu  den  üchwierigeren;  der  obersten 
Klaase  wird  banptaiohlidi  der  Unterridit  in  der  Übnagtehnle  angewiesen,  SMUt 
sieht  man  von  einer  ,^eren  Verbindnng^  Biit  dem  tbrigen  üntenieht  des  Seminais 
wenig.  Das  Leipziger  Seminar,  sagt  man  in  der  Versammlung:,  kann  aber  auch 
in  seiner  jetzigen  Einrichtung  nicht  mehr  lehren  als  Materialienk-m  le  und  ent- 
sprechende Technik;  das  suchen  auch  zunächst  die  Lehrer,  die  zu  ihrer  Aus- 
bildung hinkommen,  wie  sie  von  einem  Piotesor  der  Oeeebiehte  gediegenes  Faeh- 
wissen,  nioht  Methodik  lernen  wollen.  Die  Methodik  maeht  sieh  dann  jeder  nach 
seinen  VerhältnisBen  selbst.  Der  stille  Wunsch  der  Versammlung  ging  nun  offenbar 
auf  einen  T^f  hri  ^in  filr  Ai*^  Volkes  ^h'ile,  der  die  „innere  Verbindang"  mit  dem 
Übrigen  ünierricht  zeigte;  das  iieipziger  Seminar  kann  aber  einen  solchen  erst 
zustande  bringen,  wenn  es  eine  Übungsschule  mit  Üntenieht  in  allen  FIchem 
bdKommt  (und  aneh  dann  erst,  das  sei  hier  hiningefllgt,  wenn  es  den  pBdagogisehen 
Geist  besitzt,  der  sich  nicht  mit  einem  Aggregat  von  LehrffteheiB  begnügt).  — 
Die  Verhaadiong  Uber  diese  beiden  Gegenstinde  nahm  den  ersten  Tag  voU- 


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ständig  in  Anspruch;  die  Boeh  nidit  abgescUoMcne  Abhandlung  &ber  Gitae  od 
Zahl  wurde  ttr  die  folgende  Venanunhug  snrtckgeeteUt 

8.  Giteweki,  der  Kustoiiteirieht  im  Deatscben.  Zu  dieser  Azheit  wk 

«ur  folg-en'IPTi  waren  von  mehreren  Mits^liedem  schriftliche  Bemerknnf'en  «ii^ 
gesandt  j  es  berührt«  au^eaehm,  dass  man  an  diese  alt«  Sitte  wieder  erinncft 
wnrde.  Über  die  Erörterung  des  Zieles  der  Kunsterziehung  ging  man  hinweg, 
da  die  ]»iBiliiielleii  Ftagen  nicht  genttgend  eBteeMeden  und  mit  den  Mherea 
Arbeiten  dee  Vereins  (1906,  1908  und  frfiher)  sowie  mit  der  Übiigen  Literatur 
nicht  {^enttgend  in  Beriebnnsr  g^esettt  seien.  (Die  Ankntipfnng  an  das  Bisherige 
liess  überhanpt  bei  mehreren  Arbeiten  dieses  Jahrbuches  zu  wünscbfri  'ibne  ' 
In  der  aligemeineu  £rürteraug  der  Wege  stellt  Verf.  sieb  auf  den  btandpiuiit, 
daee  die  Kmiitbetiaditiiiig  dem  ttbrigmi  Unterricht  eingefügt  weiden  eolL  ffier 
erregte  die  entechiedene  Form  Anstoss,  mit  der  Verf.  verlangt,  dass  die  erste 
Anleitung-  zum  künstlerischen  Sehen  „nicht  im  Bilde,  sondern  an  der  Natur' 
beginnen  solle  (S.  280\  Der  Sinn  für  da«  Naturschöne  ist,  wie  er  ja  selbst  S.  278 
erwähnt,  in  der  Vülkereutwickelnng  ein  sp&tes  Erseognis,  und  wiederum  ist  der 
Sinn  für  dai  SehOne  im  Kleinen  filkher  erwacht  (s.  B.  bei  W.  t.  d.  Vegelweide^ 
der  anf  YUglein  und  FiacUein  achtet)  alt  fttr  dae  SehSne  der  Lendaehaft  (v|^ 
J.  Burkhardt,  Kultur  der  Renaissance,  Bd.  XII).  Ergötzliche  Beispiele  zeigten,  wie 
man  bei  solchen  Betrachtungen  Ton  den  Schülern  zu  viel  erwarten  und  ganz 
enttäuscht  werden  kann.  Dasselbe  ist  aber  auch  bei  Betrachtungen  von  Bild- 
weAen  möglich,  wenn  derm  irthetiaehe  Terittttmaie  ee  nSA  rind,  daat  aie  nach 
verwirrend  wirken.  Bin  Bildwerk  von  beeebiSnktem  Beiditnm  kann  eben  dnreh 
die  Beschränkung  wirken,  aber  auch  den  Sinn  atlrken  für  die  Auffassung  einer 
reicheren  Xatxir.  Welche  Bej^iehunp:  die  Pnbertftt  zur  Entwickelung  des  Schön- 
beitssinnes  habe,  war  eine  weitere  Frage,  mit  der  mau  sieb  befasste,  und  wdt«r 
rttckwftrte  die  ungefähre  Featietanng  gewisser  Zeitgrenzen  für  die  Stufen  der 
Knnateniehnng  (S.  976^  S78).  Sodann  hob  man  berror,  daac  Yeil  den  entwidcdnd- 
daietdlenden  Unterrieht  in  die  Knnatbetracbtung  eingeführt  hat,  wahrscheinlich 
bloss  nach  Erfahrungen,  ohne  an  das  bei  Literaturstoflfen  gegebene  Vorbild 
bewusHt  anzuknüpfen  ff.  292).  Ähnliches  wiederholt  sich  in  dem  Lehrpiane. 
Am  6cbluBiie  zeigt  nämlich  Verf.,  wie  sich  in  den  drei  oberen  Klassen  des  Oyrn- 
naainma  in  d«i  dentKhen  Literataranterricht  Betraehtongen  von  Kunalweckn 
einfügen  laaaen.  Da  er  vor  allem  an  deutsche  Kunst  denkt,  gruppiert  er  die 
Betrachttingen  nm  die  „drei  Zentren"  Dürer,  Rembrandt,  Thorwaldist^n  Tind  füllt 
dann  die  Lücken  bei  Geletrenheit  aus.  Damit  folgt  Verf.  wohl  H.  Gnmm.  aber 
es  ist  auch  dasselbe  Veriahren  wie  bei  Ziller,  der  im  Gescbicbtsunterricbt  von 
HOheininkt  an  HSheponkt  aducitet  nnd  von  denaelben  au  »aehlieeaBn  Üaet" 
(Qmndlegung  S.  276,  429,  2.  Anfl.  S.  296^  467).  —  Da  aneh  die  Abhandlottg  von 
Friedrich  noch  nicht  vollständig  vorliegt,  so  folgte  nun 

4.  r^de,  Der  Einfluss  Herbart.s  nnd  seiner  Schule  auf  die  Entwickelung 
des  fremdsprachlichen  Schulunterrichts.  Verf.  möchte  eine  Wendung  de»  phil«>- 
logiflchML  Üntenicbta  Ten  dem  einieitigen  Fermaliamna  an  einem  genmden 
„mateijalen  Frlnaip'*,  welehea  in  dem  Inhalte  der  Antorcn  die  atirktte  bildende 
Kraft  sieht,  mit  Hilfe  der  Herbartischen  Pädagogik  herbeiführen  und  glaubt  auch 
eicher,  daas  sie  bald  kommen  wird.  Man  vergleiche  aein  Werk:  Die  Ilieorie  dee 


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fremdsprachlichen  Unterrichts  in  der  Herbartschen  Scbnle,  11K)7.  In  der  Yer- 
stnunlimcr  wardm  jedoch  imi  Auieliteii  dea  Terftwwra  als  intllmUeli  iMidehnet, 

die  den  Erfolg  seiner  sehr  dankenswerten  BemCihnngren  beeinträchtigen  mUsseiL 
Er  meint  n&mlich,  Herbart  verwerfe  den  Begriff  der  formalen  Bildimg  in  jedem 
SitiiK  Aber  w&s  er  Jahrb.  S.  231  Zillers  „richtige  Formel"  nennt,  ist  schon 
Herbarts  Ansicht;  es  wurde  hingewiesen  anf  die  aosfUhrlicbe  Erörtemng  in  der 
JBBcyUopädie"  §  107  (bei  WiUniaiui,  Heifierto  FId.  Sdir.  II,  462).  Ferner  eprieht 
Herbart  dem  grammatischen  Unterzieht  nklit  allen  bildenden  Wert  ab  nnd  verwirft 
besondere  Stunden  dafür  durchaus  nicht,  er  wartet  nur  die  „Reife"  dafür  ab;  hier 
wurde  auf  Umriss  §  283,  284  verwiesen.  Viel  bestimmter  lässt  sich  das  jetzt 
nachweitenf  nachdem  die  Akten  des  Königsberger  Seminars  in  aller  nur  wünschens- 
werten AnaflIhrUehkdt  eraeUenea  sind  (als  14.  n.  16.  Bd.  der  KelnbadieAen 
Ausgabe  won  Herbarta  Werken,  vgl.  14,  S.  90,  131,  167,  208  und  8tter).  Alsdann 
bleibt  Budde  gegenüber  noch  dieFra^e,  ob  der  philologische  Unterricht  anf  den 
unteren  und  mittleren  Stufen  so  bleiben  soll,  wie  er  im  (^mzen  jetzt  ist.  Trotz 
aUedem  bleibt  aber  sein  Eintreten  {Qx  p&dagogiscbe  Gestaltung  eine  höchst 
erfreididie  Eiidieinung. 

6.  Or  am  barg,  Die  SehtUeibIloherei.  Der  Verf.  tritt  dafttr  ein,  daas  in 
Schulen  Klassenbibliotheken  gebildet  werden  mit  wenigen  Bflchem  (die  Zahl 
seiner  Vorschläge  steigt  vom  4. — 8.  Schuljahr  von  12— -'24),  aber  mit  entsprechend 
vielen  Exemplaren.  In  den  Päd.  Stnd.  1892,  S.  Iö2ff.  ist  schon  ein  ähnlicher 
Vorschlag,  den  K.  Strohe]  in  Lyons  Zeitschr.  f.  deutschen  Unterr.  V,  1^1, 
S.  687  ff.  gemaebt  batte,  belevehtet  worden.  Die  Veisanunlnng  kam  leider  nicht 
aar  genaueren Frtfung  der  einzelnen  Werke;  vielleidit. aber  wird  die  Arbeit  fort- 
gesetzt, denn  e«  wnrde  eine  Prüfung  der  Omnds&tze  der  „Hamburger  ',  die  eine 
dankenswerte  Arbeit  begonnen  haben,  angeregrt.  Wir  können  diese  Prüfung  in 
mehrfacher  Hinsicht  al»  eine  Khrenptiicht  aiLseheu,  denn  Uerbart  gibt  klassische 
Beatimmungen  ftber  die  Jogendsduriften  (Allg.  Päd.,  Binl.  Abs.  19),  nnd  d«> 
Organisationsplatt  fttr  die  wissenschaftliche  Arbeit  der  Lehrntereine  von  dem 
Berliner  Hauptlehrer  Senff  (1867),  der  im  fnlq-pndeu  .Tahre  zur  Gründung  des 
Vereins  f.  w.  P.  ftihrte,  enthielt  als  letzten  Punkt  die  Aufgabe:  die  entsittlichen- 
den Jugend-  und  Volksschhften  von  den  besseren  zu  scheiden  und  fttr  Yer- 
breitnng  der  letateien  la  wirken.  (Man  vgl.  den  Artikel  »V.  f.  w.  P."  in  Seine 
Sn47kL  Haiidb.,  2.  AnH,  Bd.  9.) 

6.  Hemprich,  Zur  Jugendfürsorge  und  Jugendrettung.  Diesem  Gegen- 
(ätftTide  wurde  eine  ansführliehe  Besprechung  zu  Teil.  Unsere  Mitteilungen  können 
aber  kurz  sein,  weil  keine  erhebliche  Meinaugsverschiedenheit  sich  seigte  und 
die  mit  groaser  Wirme  abgeftaate  Voriage  den  Praktiker  in  flacben  der  Jugend- 
Vereinigungen  verrät  Man  wandte  sieb  gegen  die  gans  einseitige  Sichtung  der 
Fortbildungschule  auf  den  Beruf,  wie  sie  Kerschensteiner  vertritt,  nnd  wiea 
da<r»'ir''n  hin  auf  die  neuen  Schriften  von  Schnlrat  Schilling  und  von  H  Blitz, 
welche  die  Aufgabe  weiter  fassen.  Die  ungeheure  Wichtigkeit  der  Jahre  nach 
der  Schulentlassung  führte  auch  dahin,  eine  grössere  Einheitlichkeit  in  der 
obersten  Leitoag  der  Eniebni^fatitigkeit  an  forden,  wlhrend  jetat  Iiier  dieser^ 
dort  jener  Uiniflter  die  Spitze  bildet.  Aber  auch  die  einheitliche  Oberleitung 
nfitat  nickte,  wenn  nicht  an  den  nnteisten  Stellen  die  nnmittdbar^tfttigen  Krifta 


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deb  finden  und  regen.  Vgl  dan  Nr.  8.  —  Hiermit  waieii  die  G^gemtiid», 
«leiche  der  praktiieliMi  PIdagogik  «ngdiSrfceii,  erledij^;  die  nUiate  AiMI 
betraf  das  Gebiet  der  GrandviaMuchaften. 

7.  Felsch,  Ein  nener  Versnch.  Herhart«  Psychologie  zn  vernichten.  Pi<' 
Abbandinug  bezieht  sich  aaf  das  Bach  von  Stossel,  desseo  Inhalt  toq  Dr.  Zimmer 
Päd.  Stud.  1908,  S.  152  fl  ohne  besondere  Kritik  angegeben  worden  ist.  Man  war 
Fdadi  danklNur,  dan  er  tidi  der  ideht  angoiehmeii  Aufgabe  einer  dagebesdea 
Beleuchtung  untereogm  babe;  wenn  auch  nicht  alle  Angriffe,  welche  «iie  Üttlgtt 
gelieftirten  WiderlecninsTPn  nicht  beachten,  so  beleuchtet  werden  konnten,  von 
Zeit  zu  Zeit  sei  es  nötig.  Freilich  hat  unterdessen  der  Herausgt;ber  des  StiVsel- 
schen  Buche«,  Dr.  A.  Schmidt,  gegen  Felttcb  Gegeueinw&ude  erhoben.  Über 
Fragen  der  Interpretatien  n.  dgl.  tteat  aieb  in  der  Kttrae  niebt  beriehteo.  Fdeeb 
batte  aber  die  Einwände  Schmidts  berdts  im  Abenge  vor  sich  und  konnte  m.  B. 
alles,  was  irtjendwie  von  Beilentnner  war,  gut  erledigen.  Nur  da.s  eine  sei 
bemerkt,  dass,  wenn  Felsch  aus  dem  Gebrauch  des  Ausdruckes  §  keinen  .^i^chlu«.« 
gezogen  hätte  (Jahrb.  Ilö),  mancher  kleinlichen  Bemerkung  Schmidt«  die 
acheiDbaie  Beieebtigung  gefehlt  beben  wflrde.  Yen  den  «Msblieben  Auf&bningen 
in  der  Vomnualang  lei  nnr  ein  Punkt  bervorgeheben.  Wnndt  o.  a.  haben 
bestritten,  dass  es  freisteigende  Vorstellungen  gebe.  Dagegen  ist  Elias  Maller 
in  Güttingen  in  einer  Abhandlung  über  Perseverationen  auf  dieselbe  .\nnihmp 
gekommen  wie  Herbart  (da«  „piStaliche^  Weichen  eines  physiologischen  Druckes, 
4er  in  einem  Bdlnterangabdäpiel  Herbatti  voAommt,  madit  StOiMl  mitünreebt 
n  dnem  cbarakterittiiebMi  Merkaud).  An  Mflller  bat  dcb  dann  Meomann  an- 
geschlossen. Pabei  wurde  weiter  erwähnt,  dass  sich  Meumann  in  dem  Boche 
„Intelligeni!  nnd  "Wille"  auch  der  Willenstheorie  Herbart)^  q-enähert  hat  (Zeitschr. 
für  Philos.  u.  Päd.,  April  u.  Mai  1U09).  Eine  Bemerkung  äusseriicher  Art,  die 
gleichwohl  nicht  unwichtig  ist,  betraf  das  Zitieren  aus  Herbarts  Werken.  Wenn 
Felaeb  naob  Hartensteins  Anagabe  litiert,  es  ist  flkr  einen  Leser,  der  Kebibacbs 
An^fabe  bat,  die  NaebpiOfnng  oft  sdir  idtnnbend,  und  ebenso  im  nmgekebzten 
Falle.  Es  sollte  also  Gebranch  werden,  dass  jemand,  der  nicht  beide 
Ausgaben  zitieren  kann,  das  Werk  nach  §,  Kap.  oder  dcrl.  wenigsten.-*  mit  angibt; 
oft  wird  dauu  letztere  Angabe  alleiu  genügen.  Das  gilt  in  veratärktem  Masse 
für  die  in  sablrdeben  Ansgaben  nnd  Auflagen  Tozbandenen  ptdagogisebsn 
Schriften;  für  diese  empfiehlt  uch  dann  sehr  die  Benntanng  der  von  S.  ten 
äallwürk  eingeführten  Ziffern  für  die  .\baätae. 

8.  H.  Pndor,  Dörpfeld  als  Erzieher.  Der  knrse  Aufsatz  ist  vom  V'ors. 
aufgenommen  worden,  weil  er  durch  die  Art,  wie  er  Dörpfeld  feiert,  geeignet  ist, 
dem  jüngeren  Gesebleehte  den  Haan  in  Erinnenuig  au  bringen.  Diiektor  Trtper, 
4er  mit  ihm  lange  in  peEsBnKcbem  Yeikebre  gestanden,  gab  dM  AnifSbinngen 
Pndors  eine  angemessene  Verstärkung.  Auch  der  Jugendfürsorge  sind  in  setaer 
Schnlverfassungslehre  nach  unten  wie  nach  oben  Platz,  Aufgaben  und  Kraft- 
quellen bestimmt.  Damit  musste  geschlossen  werden.  Die  umfängliche  Arbeit 
TO»  Dr.  Heine:  Ans  dem  bandsebijftiiebmi  Kaebtasaa  J.  O.  Sobnmmals,  entbilt 
nwar  noeb  kdne  dgentliebe  Yeraibdtnng,  aber  idebis  und  nadi  nden  Seiten 
lehrreiches  Quellenmaterial. 

In  gescbif  tlieber  Hinsiebt  erbidten  die  Sationgen  eine  Form,  nacb  der  der 


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—  4^5  — 

Yoretaud  t wischen  zwei  HauptTereammlungeu  aocb  swei  Jabre  vergeben  lassen 
kami,  wUuend  dM  JahilMHli  nie  Udiir  welter.flndMint.  Bi  flUlt  ndüiiii  kttnftig 
im  VrtKefaan  Yerdiuii  «ine  grünere  Anfgtbe  m.  In  literariscber  Hinnolit  mx 

(las  neneste  rlip  nntfir  4  erwähnte  Fortfetsung  der  Herbartausgabe;  die  beiden 
Baude  laijen  zur  Kiusichl  ans.  Als  ein  gediegenes  Werk,  da8  bei  aller  Vertraut- 
heit mit  den  modernen  Stromongen  den  hohen  Wert  der  Leiire  Herbarts  eriieunt 
und  anerkflnot,  wurde  wiederholt  dea  Baeh  von  Dietering  genannt,  du  Dr.  Zimmer 
im  2.  Hefte  dieses  Jahrganges  aageieigt  hat  Jm  Qe^rieh  erfahr  raen,  daas  die 
2.  Auflege  Ten  Zilien  GrnBdlegiuig  nd  von  Miaer  Bthik  s.  Z.  veii^illNi  iit 


C  BenrteUimgeiL 


J.  F*  Herbert«  OmtUeke  Werke. 

In  chrnnolitrri.srher  Reihenfolge  hsi^^j. 
von  K.  Kehrbach  t>  14«  l^ö.  Bd., 
hsgg.  Ton  0.  FUtgel  XXn,  987,9958. 
Lwigenaalia,  Beyer  iS:  Mann  1909. 
Preis  geh.  Je  ö  M.,  in  Originalhalb- 

In  dem  Bericht  ttber  die  Versamm- 
Ime  in  Strassbnrg  ist  bereite  anf  die 

beiden  Bände  hingriwiesen  worden ; 
hier  folge  nun  eine  kurze  Angabe  des 
Inhalts.  Den  Anfang  machen  Akten- 
stücke über  die  Bernfunc:  Herbarts  nach 
Königsberg.  In  seinem  Schreiben  vom 
24.  Oktober  1806  liest  man:  „Unter 
meinen  Besch&fügnngen  liegt  mir  der 
Vortrag  der  Eniennngslehre  gase 
besonders  am  Herzen.  Aber  diese  will 
nicht  bloss  gelehrt  sein,  es  moss  euch 
etwas  feaeigt  und  getlM  werden** ;  xmA 
darauf  feig  f  *^er  Vorschlag  einer  „kleinen 
£xperimeQtaIi>chule''al8„xweckmä88ig8te 
Verbereititng  ftlr  kttnfüge  mehr  ine 
Greese  gehende  Anordnungen".  Der 
KOnig  aber  genehmigt  Uerbarta  Be- 
rufung „mn  io  lieber,  als  dieser  fttr 
die  Verbe'^"'f"ning  des  firziehnngswesens 
nach  Pestaiozzischen  Gmnds&tzen  be- 
sonder« nfitslich  sein  kann".  Ausserdem 
treten  schon  hier  die  Namen  W.  von 
Humboldt,  Nicolovius,  Süveni,  Auers- 
wald usw.  auf.  Weiterhin  bilden  dann 
die  „Acta  betr.  das  Seminarinm  fttr 
gelehrte  und  bOhere  Schulen"  den 
eigentlichen  St  unm  des  Inhaltes  (bis  15, 
S.  102).  Wiederum  das  Wichtigste  darin 
•iiid  die  Jehreslteiiehte.  die  Herbeit 
mit  TfltMhllgeii,  WtaeoMi  «.  dgL  der 

xzz.  e. 


Beh(Me  übergab.  Dieselben  würden 
aber  vielfach  unyerständlich  sein.  t\  eim 
nicht  auch  die  Antworten,  £n1r 
•ebeidungen,  Anfragen  dee  lunbtei«, 
Aps  T'niversitäts-Kuratorinms  usw.  in 
kleinerem  Drucke  beigegeben  wären, 
und  von  beeraderem  Werte  iind  audi 
die  Berichte  von  Dinter  u.  a.  über 
Prüfongea  und  Besuche  in  Herbarts 
Institut.  Gut  ist  es  auch,  dass  der 
Heransgeber  im  Vorwort  die  Angaben 
in  Schmids  Encyklopädie  wiederholt 
(Schmidt  ist  Druckfehler);  denndieeelbem 
sind  lange  Zeit  beinahe  die  einzige 
Quelle  über  Herbarts  pädagogische 
Tätigkeit  in  KOnig^sberg  gewesen,  und 
doch  sind  sie  niiät  ofajie  die  Zeichen 
der  Animosit&t  Mit  derselben  hatte 
auch  Herbart  immer  zw  kämpfen,  wie 
es  einer,  der  einer  so  alten  Kinrichtong 
wie  der  dee  OyiiiiMiieini  etwes  Beweree 
entgegenstellen  will,  stets  zn  tun  haben 
wira.  Darum  darf  man  auch  daraus, 
den  das  Seminer  nach  Herberts  Weg- 
«mg  nicht  fortbestund,  Herbart  keinen 
Vorwurf  machen  i  wer  die  vorliegenden 
Akten  zu  lesen  verstell^  dekt  das  schon 
lange  vorher  i^o  kommen.  In  vieler 
Hinsicht  erlangen  wir  durch  einzelne 
Ansftthmngen  grossere  Klarheit  ttber 
H^rbarts  Lehre  oder  darüber,  welche 
der  biöheri|;en  Ausleguncen  die  richtige 
ist;  das  wird  sich  z.  B.  ninsichtlich  der 
Begriffe  Klarheit,  Assoziation  usw.  bald 
zeigen  lassen.  —  Daran  sehliessen  sich 
Akten,  welche  Herbart  als  Mitglied  der 
-wissenschaftUohen  De]mtation^,  später 
PrDfrmgskommimien  genannt,  zeigen. 
1819  snekte  er  wn  seine  Sntlassming 

80 


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—  466  — 


nach,  hatte  aber  anch  fernerhin  Öfter 

Gutachten  abzugeben,  von  denen  schon 
Ziller  und  nach  ihm  Will  mann  (Päd. 
Sehr.  n.  Bd.,  Nr.  XVII  u.  XVIII)  ein- 
seLne  verCifentlicht  haben.  Ein  Bericht 
Herbarts  Uber  ein  nach  Pestalozzis 
Grundsätzen  geleitetes  Waisenhan« 
wurde  schon  von  Hartstein  veröffenllicht 
im  30.  Jahrb.  des  Vereins  für  wiss. 
Päd.  1898  (Tgl.  Päd.  Stud.  1898,  S.  164) 
und  darnach  jetst  abgedruckt  da  er 
pin  der  Urschrift  nicht  mehr  vorwuiden" 
ist.  Hier  findet  man  schon  1813  eine 
sehr  lehrreiche  AoseinanderBetBiiii^  mit 
der  Pe8taleniedie&  Sehnle;  tia  wMteras 
Licht  wird  auf  das  Verhältnis  Herbarts 
SU  Pestalozzi  fallen,  wenn  die  „Briefe" 
erechehieii  werden.  M Ggen  die  Schitse, 
welche  die  mm  vorliegenden  Mitteilungen 
enthalten,  recht  bud  durch  8orgfälti|;e 
Arbeit  gwoben  werden! 

Leipog.  Fr.  Franke. 

Dr.  Kurt  Geissler,  Moderne  Ver- 
i r ru u g e n  auf  philosophisch- 
mathematischen  Gebieten. 
Kritische  und  selbstgebende  Unter- 
suchungen. Veriai^  Alp  wacht,  Ebikon 
bei  Luxem,  Schweiz.  160  S.  OlOM  8; 
Pr.  2  M.  (direkter  B»*zng] 

Es  wird  für  den  philosuphiadi,  aber 
dabei  idoht  weit^end  mthematieoh 

Gebildeten  hpnte  immer  schwerer,  ilb-^r 
die  Richtigkeit  der  Meinungen  bea. 
der  mathematischen  GrandbeifiÜh  m 
urteilen.  Diese  Meinungen  stehen 
keineswegs  endgültig  fest;  es  tiudet 
ein  fortwährender  Kampf  statt  zwischen 
den  P!ii!o«f>]>hpn  einerseits  und  den 
Fachuiüiiieiiiatikem  andererseits,  aber 
auch  zwischen  letzteren.  Ein  Teil  dieser 
Fachmathematiker  hat  die  erkenntnis- 
theoretischen  Grundlagen  immer  mehr 
80  behandelt ,  dass  damit  recht 
•chwienge  Fragen  der  höheren  Hathe- 
mtik  Terkuttflt  worden  sind,  und  be- 
hauptet iljren  Gegnern,  besonders  den 
Micütmathematikem  gegenüber,  diese 
VerknVpltaDg  sei  notwendiff.  Matlli^ 
lieh  i-^t.  fall.s  da<^  rirhtig  ist,  damit  den 

ßhilusophisch,  wenn  auch  sehr  grftnd- 
eh  Gebildeten  die  Möglichkeit  ge- 
nommen, überhaupt  nocn  Uber  diese 
Fra^n  zu  urteilen^  und  der  Sieg  der 
gewissen  mathematischen  Partei  wäre 
damit  aiemliob  Tetfallrgt  Leider  aber 


fehlt  diesen  Mathematikern  fast  durch- 
weg eine  wirklich  tiefe  philosophische 
Bildung  und  Einsicht.  Man  wird  das 
von  einem  Fachmanne  ja  nidit  immer 
verlangen;  gewiss  aber  muf?  mnn  ^ 
verlangen,  wenn  derselbe  eudgülu^  über 
ein  Gebiet  urteilen  will,  weläi^  dureh- 
an<!  philosophisch  ist,  wenn  es  auch  die 
Grundbegriffe  und  Anschauungen  der 
Mathematik  behandelt. 

Die  betreffenden  Fragen  sind  von 
allgemeinem  Interesse,  besonders  wichtig 
für  jeden  Sehidmsnn,  weWier  nüt  der 
Mathematik,  mit  Ranni  und  Zeit,  mit 
der  Logik,  mit  dem  Unendlichen  liegend 
wie  m  tun  hat.  Und  wer  bitte  das 
nicht  In  meinem  Buche  sind  in  = 
besondere  behandelt:  Die  nicbtenküdi- 
sdien  Geometrien,  die  Frage  der  Binma 
Ton  mehr  als  drei  Ausdehnuni^n,  von 
anderen  Eigenschaften  als  sie  unser 
Raum  aufweist,  das  Wesen  des  Punktes, 
der  Linie,  der  Geraden,  der  Parallelen; 
der  grosse,  lauge,  allgemeine  Streit  Uber 
das  rarallelenaxiom.  Sehr  oft  werden 
auch  in  der  Schule  und  im  gewöhn- 
lichen Leben,  in  fast  allen  Wissen- 
schaften Begriffe  (wie  derjenige  der 
Zahl  U8w^  geometrisch  aasebaulich 
gemacht,  der  verlaaf  von  BreignisBen 
graphisch  angedeutet.  Es  wird  hier 
nntersnobt  der  Gebranch  geometiischer 
Namen  für  Fbrmallogisches  und  Zahlen- 
mässiges  ni\<l  r^cznzt.  wie  leirht  ■Irv- 
selbe  trotz  des  sousugen  grossen  ^ntzeus 
in  Falsches  fuhren  kann.  Femer  ist 
hier  durch  möglichst  einfirbf  Dar- 
stellung der  beiderseitigen  Ansichtn 
die  Mdc^ichkeit  geboten  sich  über  ^ 
Lehre  vom  Unendlichen,  die  Mengen- 
lehre, die  Axiomatik  Kenntnis  zu  ver^ 
schaffen  und  zwar  so,  dass  es  mtH^ieh 
sein  soll  sich  kritisch  eine  Meinung  zu 
erwerben  und  dem  Vururteil  oder  der 
Behauptung  entgegenzutreten ,  man 
müsse  hierbei  höchst  spezielle  Kennt- 
nisse besitzen,  um  überhaupt  urteilen 
zu  köimeii  Freilich  wird  man  Lr^m 
tieferen  Einblick  ton  in  die  Behao]^ 
tnngen  mancher  Faohlente;  und  das 
iQche  ich  durch  das  Buch  auch  dem 
nicht  sehr  weit  mathematisch  Ein- 
geweihten zu  ermöglichoi.  Ein  Kapitel 
über  Stetigkeit,  Genzknrve  und  die 
vielgenAnnt«n  stetigen  Kurven,  die 
keine  Tangentialrichtnngen,  keine  Dif- 
fereatialq«otieatett  bentaen  ioUen,  ist 


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—  467  — 


für  lic  fachmännisch  mehr  gebildeten 
iiifetügt.  Ich  hielt  es  für  nötig,  J^uu 
meklmiBMit  vm  Gefallen  oder  An- 
fallen bei  jener,  hier  scharf  kritisierten 
Riebtang'  von  Fachgelehrten,  khtiüdi 
zu  besprechen,  nnd  ich  durfte  mich 
dabei  anf  die  Arbeiten  sttttsen,  die  ich 
bisher  aof  beiden  Gebieten,  dem  der 
Philosophie  wie  der  (auch  höheren) 
Mathematik  verSffcntlicht  habe.  Die 
Kenutais  dieser  Bücher  uud  Abhand- 
lungen habe  ich  aber  nat&rlich  nicht 
für  den  Leser  vorausgesetzt,  sondern 
suchte  in  dieser  Schrift  selbst  nach  und 
bei  gegebener  Kritik  das  kurz  nnd 
Bchaii  zu  sagen,  was  ich  anstatt  des 
Getadelten  setzen  mSehte.  Hoffentlldi 
l<iuin  nnn  jeder  Leser  tlber  beides  seihst 
urteilen,  wenigstens  aber  wird  er.  wie 
ieh  boffe,  in  aieten  Fngen  eine  bIm» 
Überaicht  nach  der  Lenftre  besitcen. 

Xnrt  Geitsler. 

Friedrich  Bauseh,  Mängel  derAn- 
■ehanungsbilder  und  dieStnff- 
lehrm Ittel.  Hauptverzeichnis.  Als 
Bandschrift  gedruckt.  Kordhauseu. 
Fr.  BtiiMdi. 

Ganz  neue  Bahnen  werden  durch  die 
Stofflehrmittel,  wie  Fr.  Rausch  in  Nord> 
hausen  sie  bietet,  auf  dem  Gebiete  der 
Ix-'hrmittel  für  den  Anschauuntrsunter- 
licht  beschritteu.  Man  hört  öfters,  so 
lieisst  es  in  dem  vorliegenden  Hanpt- 
verzeichnis  von  Stofriehrmittelu, 
mahnende  Stimmen,  die  den  „allzusehr 
ins  Krant  sehiessenden  Plakatonter^ 
rieht",  wenn  auch  nicht  liri^kt  be- 
käupftiu,  m  doch  seinen  praktisch^i 
Wert  anzweifeln.  Folgende  Nachteile 
weist  das  Bild  nnd  steine  BtMiutznng 
im  Unterrichte  auf:  1.  Das  Bild  kaon 
nur  die  Form  nnd  Farbe  der  Gegen- 
stände wipflercreben,  also  nur  den 
Schein  der  \S  u  kiichkeit;  im  Unterrichte 
braucht  man  aber  mehr  als  den  Schein, 
man  braucht  das  Sein  der  Din^e. 
2.  Das  Bild  kann  nur  einen  Augenblick 
zur  Darstellnng  bringen;  Handlungen 
können  nicht  in  ihrem  Verlauf  gezeigt 
werden.  9.  Dtt  Bild  ist  nnr  swel- 
dimensional  und  fordert  vom  Beschauer 
einen  besonderen,  wenn  jMich  nnbe- 
wiwBtai  BenkpTOzees:  INe  tiberMtraoir 
ins  Dreidimensionale.  4.  Das  Bild  ist 
etwas  Totes,  Starres  j  es  weckt  meist 


nur  anf  kurze  Zeit  das  Interesse,  das- 
selbe erlahmt  jedoch  schnell,  so  dass 
ein  Büd  leUiesslieh  langweüi  5.  Die 

Einwirkung  des  Bildes  auf  tlin  Seele 
de»  Kinder  ist  eine  SO  beschräukte, 
weil  die  graphische  Dantellung  nur 
Eindruck  auf  das  .\nge  macht.  6.  Das 
Bild  ist  immer  etwas  mehr  oder  weniger 
Vnwirklichee,  Gemnehtet. 

Statt  der  Bilder,  die  ein  Nothrhplf 
minderer  Güte  bleiben,  bietet  die  Lehr- 
mittelhandlmig  von  Kaosch  eine  viel' 
seitinrp  TTeranziehnng  der  Sachen,  der 
WirkUühkeit,  des  Greübar«u  als  Lehr» 
mittel.  „Stofflehrmittet",  werdoi  die 
Anschannngsobjekte  genannt. 

Baosoh  liefert  vortreffliche  Modelle 
tnstt&diselier  KnlturpflanseiL  Sie  sind 
naturgetreue  Miperliche  NeolibUdiuigeii 
der  Pflanzen. 

Der  Knffeenwdg  ist  beispieliwdie 
nach  einem  gleichen  aus  Madras  ein- 

gefUhrteu  angefertigt,  und  die  Mandeln 
at  der  Herausgeber  in  der  Markthalle 
von  Tunis  gekauft.  Die  Kakaofrucht 
ist  auf  deutschem  Boden  in  Afrika 
gewachsen.  Mit  peinlicher  Sorgfalt  ist 
die  Naturtreue  gewahrt,  so  dass  die 
Zweige  fast  den  frischen  vom  Baume 
gepflückten  gleichkommen.  Alle  Teile 
sind  so  dauerhaft  wie  möglich  hergestellt; 
die  Früchte  bestehen  aus  bestem  Papier- 
mache, die  Blätter  ans  Leinenstoff  und 
die  Stengel  ans  Stahldrabt  Bis  jetzt 
sind  enehlenent  Ananas ,  Apfelsine, 
Aprikose,  Banane,  Baum», nllpnzweig, 
Dattelzweig,  Feigenzweig,  Kaffeezweig, 
Kalcaosw^g,  Vandelsweig,  Melone, 
MaiFknl^p-: ,  I'firsichr',  Qnitte,  Tabak- 
zweig, Teezweig,  Tomate,  Weinrebe, 
Zitronenzweig. 

Auch  för  den  Kultui^cschichta- 
unterricht  bringt  Rausch  die  Wirk- 
Uehkeit  in  Form  von  Stofflehrmitteln 
den  Schülern  nahe.  Das  sind  seine 
Modelle  zur  Veranschaulichnng^  vater- 
ländischer Kulturgeschichte.  Die  Nach- 
bildungen wahren  anf  das  Peinlichste 
die  Öriginaltrene.  Eingehende  Er- 
Ifiuteningen  über  Fundstellen,  Auf- 
bewahmngsorte^  Material.  Orössenver- 
hUtniase  nnd  Literatnmaenweise  liegen 
j''il<'Tii  einzelnen  Mfiddlp  l^vl.  Vrai  flon 
Düektionen  der  namhaftesten  deutschen, 
britisdien,  diaiaehtii  und  idrNredlseheB 
M'nseen  bat  Rausch  die  Erlanbn:=*  pr- 
worben,   die  nnterrichüich  wertvollen 


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—    4^8  — 


Objekte  Tinrlihil.l'^n  nnd  als  Ltluillittel 
herauageben  zu  durfeu. 

Hier  finden  wir  folgende  An- 
schaaiuigniiittd:  8tdiik«i].mnineinel, 

Beibefeaerseng,  Bronzescnwert,  Pfluff- 
modell  (ans  der  £iaenseit),  HandmttMe 

gKömerseit),  Woekeu  und  Spindel, 
chlagfeuerztMii?  nnd  Zünlerkäjjtchen, 
Bogeu  und  i'ieii,  iiuttenbergs  Buch- 
dnickerpressd ,  SUtotsriieliei  Sdireib- 
seog  usw. 

FQr  den  Geographieanterricbt  sind 
wertvoll    die  noanktMuammlnngen. 

Die  Saminmlangcn  sind  nach  folgenden 
Gesichtepuiiktea  aofgebant :  Erzeug- 
nisse des  nnbebanten  iMii  ii^  des 
Ackers,  der  Wiese,  des  Gartenbaus, 
der  Viehcncht,  der  Forstwirtschaft,  der 
üruben  uud  Steinbrüche,  des  Bergoaus, 
der  Jagd,  der  Fischeroi,  des  Oewerbe- 
fleisses,  der  Industrie,  des  Handels. 
Dit  Stoffe  sind  in  Bllchsen  mit 
SchraubendeckelTerschloss  oder  in 
Flaiebm  mit  Glasstöpseln  untergebntoht. 
Die  rirffiss.-'  mit  den  Erzeiii^nissen  je 
eines  Ltmdes  stehen  in  einer  handlichen 
degant  polierten  Kiste. 

Fttr  Naturkunde  sind  die  techno- 
logisch-biologischen Stoffsammlungen 
wertvoll.  Die  Naturgabe  Pferd  mit 
8  Büchten  besw.  Flaschen  enthält  ein 
Stück  präparierte Eosshant,  rerschiedene 
Pferdt'zähne,  einen  präparierten  Huf 
mit  Hufeisen,  Bossleder,  Fabrikate  ans 
dem  Fleisch,  Talg,  Schweifhaare  und 
Verfälschungen  derselben.  Natnrgabe 
Gerste  und  die  Bierbrauer  mit 
21  Mummey^  enthält  die  Umgestaltung 
fw  der  Ahre  bis  zum  Mehl,  Malz. 
Malzztuki  t,  dazu  kommen  Hopfon  una 
seine  Bestandteile;  Uefe  undBrandpilx 
seicen  des  Biologische;  tisw.  den  Fort- 
bildungsschulen bietet  Rausch  in  seinen 
Lehrmitteln  für  Gewerbeknnde 
brauchbare  Hilfsmittel.  Durch  diese 
Lehrmittel  lernen  die  Lehrlinge  die 
Terschiedenen  Qualitäten  der  Eoh- 
materialien^  die  YonX^  der  einen  und 
die  Nachteile  der  anderen  Sorte  sicher 
beurteilen.  Eau^ch  hat  fttr  die  ver- 
schiedenen Fachklassen  lein  techno- 
logische Lehrmittel  zusammengestellt, 
die  die  liohato^fe,  Halbfabrikate  und 
die  verschiedeiien  Sorten  denelben 
aeigen. 

Ich  kann  jedem  Lehrer  uud  jedem 


Schulleiter  nur  cmpf-'-hlen.  s'irh.  diese 
prächtigen  ätoälehrmittel  eiam&i  an- 
zusehen, er  wird  dann  sicher  wünschen, 
seine  T^ehrmittelsammlung  durch BnBSdl 
vervollständigen  zu  lassen. 

W*  lätfUtlfj  Wie  ich  mit  meinen 
Kleinen  rechne.  £ine  praktische 
Anweisung  för  den  Beehenrnttenricbt 
im  Zahlenkreise  von  1— Mit 
sahireichen  Illustrationen.  Thiliiog^ 
Teriagaanatilt  W.-Jtm.    fß  Seiten. 

Der  Verf.  will  mit  helfen,  dass  um 
den  Rechenunterricht  sich  Lust,  FrL  U  le. 
Heiterkeit.  Eifer,  selbsttätige  Miiarbeit, 
aufmunternder  Erfolg  gruppiere.  Schlag- 
fertiges Rechnen,  meint  der  Verf.,  wird 
bedingt  durch  die  iiirweckung  eines 
allseitigen  Interes.ses.  Die  Exempel 
bietet  er  darum  in  dem  fttr  die  Kinder 
gewiss  interessanten  Gewände  von  aa- 
^-e wandten  Aufgabeu  ixi-;  dem  Er- 
khrungsgehiete  der  Kleinen  dorcb  Dac^ 
zt^lnng'  der  NaturtTpen  dmeb  Ton  nud 
Zpirhnnnr:.  mit  Stäbchen  und  selbst- 
gefertigteu  Tonkugeln  nsw.  wird  die 
Selbattätigkeit  der  Kinder  in  boliem 
lUsse  gefördert.  Die  Au8?rnTi^r??toffe 
„in  geschichtlichem  Gewände  stehen 
anschMnoid  isoliert  neben  dem  An- 
schauungsunterrichte, wenigstens  findet 
man  keine  Andeutung,  in  welchem 
Verhältnis  zu  ihm  (iie  Sachgebiete 
des  Rechnens  stehen.  Ob  übrigen.s  die 
Becheufertigkeit  durch  Beschäftigung 
mit  interessanten  Qegenständen  in  der 
Weise,  wie  es  der  Verf.  vorschlägt, 
erzielt  wird,  ist  zu  bezweifeln.  ÜMr 
den  eigentlichen  psycholoßrischeu  Vor- 

Sangbeim  Kechnen  ierfahren  wir  durch 
en  vetfuser  nlchte.  Des  wire  aber 

^ende  Lösung  der  im  Eechenuuterrichte 
in  Frage  kommenden  FroUeme  blrten 
will 

Ich  möchte  hierbei  hinweisen  auf 
die  2,  Anfl.  die  treOiehen  Bnebes  Ton: 

Heraann  Haaaey   Zur  Methodik 

des  ersten  Rechenuuterrichts. 
Langensalza,  Beyer  &  Sühne  (Beyer 
luuin). 

Hier  finden  wir  nicht  nur  einen 
praktisch  erprobten  Lehrgang,  sondern 
auch  eine  klare,  dnrcfadachte  psvcho- 
|ng;i.sche  Darlegung  öber  das  Zahl- 
vorstellen  und  das  Hechnen.  Ich  halte 


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—   4^9  — 

nach    eingebender  Vergleichnng  der        Ich  empfehle  sehr,  beide  Sehriftili 
Mhlreicben  Schriften  ttber  den  ersten    einmal  gründlich  zu  yergleicben. 
BedMumtenicht  den  Weg,  wie  ihn        „     .  „ 
Bmm  meUlgt,  tttr  d«ilest«L  NMmborg  Henpric b. 


Elngeguigeiie  Bfteher. 

(Betpreebnag  votbebalten.) 

HemaJI,         Geschichte   der  neueren  Pädagogik.      Oslcrwicck  1909.     Zickfcldl.  Pr. 
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Uf0r,  Chr.,  Vorschule  der  Herbartischen  Pidagogik.   Neu  herausgeg.  voo  J.  L.  Jetter. 

10.  umgeub.  «.  venu.  Aufl.    Dretden  1909.  Blqrl  4t  lUeauiieicr.  Pir.  geb. 

2.85  M. 

Dmitsebe  KMNttrzlehang,  im  Auftrag  dct   detttidieii  LaadcMiiMebiistes  ftr  den 

III.  Internationalen  Kougrcss   zur  Förderung  des  Zeichen-  und  KunstuntcniditS 
(LoadoQ  1908)  veröifentlicht.   Leipzig  I908.   Teubner.   Pr.  geb.  2  M. 
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ItofMffiBrt  Eräehung  der  moderoeo  Seele.  Leipzig  I908.  Kliokhardt.  Pr.  geb.  5  H. 
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Budde,  Prof.  6.,  Schiücrselbstmorde.    Hannover  1908.   jSoecke.   Pr.  I  M. 
DtelarMi  JU  I>cr  Lehrplaa  der  Volknebiile  dt  Qrgulniitt.  Leipiig  1909.  Nemaidi. 
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Relnirkens,  J.,  Praktische  Jugendfllrsorge.    Esscn-R.  1908.  Reinirkens. 
Horn,  0.,  Erinnenmgea  Hir  seine  Kinder  und  Freunde,  aufgezeichnet  von  seinem  ältesten 

Sohne.    Crefeld.    Worms  u.  Lüthgen. 
Woll6r«  Dr^  Zur  Methodik  des  geographischen  Unterrichts  in  der  Volksschule.  Langen- 

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Gr.  Liehterfelde*Beriin.  Fr.  geb.  4,7$  M. 
MtSler,  Dr.  K.,  Moderne  Verimn^fen  nuf  pbilosophiscb'innthenintiscben  Gebieten. 

Ebikon  1909.  Alpwacht, 
Y.  Brookdorir,  Dr.  Bftron  Gay,  THc  Kunst  des  Verstebens.   Osterwtedt  1908.  Ziek> 

fcidt.    Pr.  br.  0,60  M. 
Moderne  PhllOSOpllie,  herausgegeben  von  Dr.  M.  Apel,  Band  4.    l>arwin,    6  Aufsätze. 

Herlin  1909.    „Hilfe."     Pr.  I  M. 
ZtittObrift  für  Experinentelle  Pidagogik  usw.,  herausgeg.  von  E.  Menmann.   Bd.  7. 

Leipzig  1908.    O.  Ncronich.    Pr.  geb.  8,50  M.,  im  Abonnement  6,50  M. 
PUagogitOhe  Monograpblea,  herausgeg.  von  Dr.  E.  Meumann.    Bd.  V:  Experimentelle 

Untersuchungen  über  qualitative  Arbeitstjrpen,  von  Dr.  L.  PeifTer.    Leipzig  1908. 

Nemnich.    Pr.  geb.  8.50  M.,  für  Abonnenten  der  2^tschrift  „Experimentelle 

Pädagogik"  6,80  M. 

Dffaer,  Dr.  IL,  Dns  Gedächtnis.   Berlin  1909.   Keutbcr  u.  Reichard.   Pr.  3  M. 


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EneyKlopidisohes  Handbuch  der  Pidagoglk,  faemnig.  von  W.  Rdn.      Avtf.  S.  Bd. 

Langensalza  1908.    H,  Beyer  u.  S. 
Koch,  Der  S  :  ui-  irten.    StuttgWt    FfMx,    Pt.  O^J  M. 

Rttinluurtft,  Or.  med.  L,  Wie  enilbren  wir  «ni  am  cweckminigiten  uod  biUiptea? 

Ebenda.    Pr.  0,75  M. 
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V.  Drtialtkl,  Prof.  Dr.,  U.  Seebaum,  H.,  Oer  Mensch  in  seinen  BeziehoagCB  zur  AwM«- 

wdt.    Leipzig  1908.    Quelle  &  Mcycr.    Pr.  geb.  I  M. 
Xaoh,  Prof.  Dr^  Die  Volks-  und  Jugendspirle  n.^ch  den  Gmadsitm  de»  Zcntwhw- 

schuties.  Bielefeld.   Helmich.   Pr.  0,40  M. 
Report  of  F^deat  Butler  to  tbe  Tnistces  of  Golnmbk  Uaimninr.  Nov.  tgoS. 
Reiener,  Fr.,  Grundzügc  einer  allgemeinen  Mcthodeokbi«  dc»  Ünteniditci^  a.  AdL 

Leipzig  1908.   Tcubner.    Fr.  geb.  5  M. 
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Aue  anserm  SohulMie^  vom  LebierkoUecimn  der  Stidtiielien  Rediefaole  za  Haipc. 

Haspe  1909. 

V.  Rohrsoheldt,  IL,  Pkeiaiiidiei  VolkudiiilardiiT,  8.  JahrK.,  s.  v.  3.  Heft.  Berlin  1909. 

F.  Vahlen.    Pr.  des  Jahrg.  (4  H.)  5  M. 
DeuteOher  Frühling.    Eine  Halbmonatsschrift  für  freies  deutsche«  Volkstum,  KuHnr- 
WiwePtChaften  und  KtlUtUpelilik.    Hcrausgeg.  von  Graf  Paul  von  liocnsbroech 

u.  a.    I.  Jahrg.,  Heft  l/a.     (908.   Leipog,  Verlag  Deutiche  Zokimft.  Pr. 

viertel].  3  M, 

Mite,  Dr.  L,  Lehrbuch  der  Chemie  flir  höhere  Lehranstalten  oiid  com  Selbstuntcrriclit. 
2.  Teil.   Ausgabe  A  n.  B.  Drcadea  1909.  Bleyl  &  Kaeaineier.  Fr.  geb.  2,80  M. 

n.  2,50  M. 

Volkmar,  Prof.  Dr.  E.,  Lehr^^aog  der  Chemie  auf  methodischer  Gnmdlage.  Gunea, 

Roth.    Pr.  geb.  0,80  M. 
Saolisze,  Dr.  R.,  Elnftnirang  in  die  chemisehe  Teehnik.   Leipzig  IQ07.  Teobocr. 

Pr.  2  M. 

Klingeihölfer«  Prof.  H.,  Leitfaden  der  Phvsik.  Glessen  I908.  Roth.  Pr.  geb.  a  M. 
Meyer,  K.,  Naturtehre  (Physik  «.  Chemie)  (Ibr  höhere  Midchensdraleo.    5.  veib.  n. 

Venn,  Aufl.    Leipzig  T908.    Freytag.    Pr.  geb.  3  M. 
Tidy,  Ch.  M.,    Das  Feuerzeug.   Bearbeitet  von  P.  Piannensdunidt.   Leipzig  I907. 

Tenbner.  Pr.  geb.  a  M. 
Book,  H.,  Die  Uhr.  Grattdiagen  mid  Technik  der  Zdtmettttng.  Letpds  1908,  Tenbner. 

Pr.  geb.  1,25  M. 

Moyer,  Dr.  M.  W..  Der  Mond,  unsere  Nachbarwell.  Stuttgart.  Frankh.  Pr.  I  M. 
Hlotorthiir,  L,  Naturkunde.    Ein  Handbuch  Hlr  Lehrer  und  Seminaristen.  Berlin. 

W.  Gerdcs  u.  Hödel.    Pr.  geb.  2,2$  M, 
BaadOt  F.,  Getteiaaknnde  u.  Er^eachiehte.    3.  AnA.    Halle  1908.  Sduoedd.  Vr. 

Niemann,   G.,   u.  Wurthe,  W.,  Präparationen  für  den  naturgeschichtlichen  Unterricht. 

0    !  V  ck  1908.    Zickfeldt.    Pr.  geb.  5  M. 
Solo«  Prof.  K.,  Unsere  Honigbiene.  Stuttgart.  Kosmos,  Gesellschaft  der  Nattufrennde. 

Pr.  1  M. 

FISricke,  Dr.  K.,  Kriecluicrc  und  Lurche  Dcutschland.s.    Ebcndn,    Pr.  t  M. 

Koemoe.    Band  VI,  Heft  5—9.    Ebenda.    Pr.  jährl.  2,80  M. 

Sekineil,  Prof.  Dr.  0.,  B.Fitooheii,  J.,  Flora  von  Dentschland.  $.  Aufl.  Leipzig  1909. 

f,)uellc  &  Meyer.    Pr.  geb.  3,80  M. 
LakowiU,  W.,  Flora  von  Nord«  und  Mittel-Deutschland.   3.  umgearb.  Aufl.   Berlin  1908. 

Friedberg  n.  Mode.  Pr.  a,8o  M. 
IMRilas,   Dr.  M.,   Kry-ptn^amen,   Algen,   Pilze,   Flechten,  Moosc  Ubd  Faimpflsaaea. 

Leipzig  1908.    Quelle  &  Mcycr.    Pr,  geb.  1,25  M. 
BlOOimit  Lt       Fflanzenbestimmer.  Stntt|^,  KosmoSi  Firankh. 


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flirvCKC.     Fr,  ;;rlj.   1,  ^(1  M. 

KoWAiOWiiii,  Or.  6.,  Einführung  in  die  Infinitesimalrechnung.   Leipzig  1908.  Teubncr. 
Pr,  1,25  M. 

IMntaoh,  Dr.  C,  \'icrstelligeIo|^t]iniiieh4rigonoinclriadieTddn.  $.  Anfl.  GotlmigoS. 

l'bicmann.    Pr.  I  iL 

StbriMrl,  Dr.         VienteUige  Taldn  nnd  Gegcntnieln.    Leipitg  1908.  Gfliebcn. 

Vr  o.So  M. 

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gearb.  u.  stark  vcrm.  Auri.  Dcsdcn,  Bleyl  u.  Kaemraer.  Pr.  geb.  «,70  If. 
Quilisch,  H.,  Kaumlehre  für  Volkschulen.  I.  Teil.  Leipzig  1908.  O.  Maier.  Pr.  ijoM, 
Braune,  A..   Raumlehre  Rlr  Volks-,  Bflrger-  u.  Fortbildungsschulen.    9.  u.  10.  Aufl. 

Hall    ujoS.    Schroedcl.    Pr.  0,90  M. 
Ulfer,  Prof.  Dr.,  U.  A.  TreSOhor,  Gewerbliches  Rechnen.  Ausg.  B  in  i  Heft.  Ausg.  C, 

Holzarbeiter,  i  Heft;  Bauhandwerker,  i  Heft.   Leipzig  1909.  KünkhardU 
ftOMler,  J.  K.,  u.  Fr.  Wilde.  Beispiele  und  Aufgaben  zum  kaufmSnniacJien  Rediam. 

I.  TeiL   S.  Aufl.    HaUe  1908.    Geaeüat.    Pr.  geb.  2,40  M. 
Meyer,  J.,  Recitenfibel.   Ausg.  L.    i.  u.  3.  Heft.    Ausg.  A.     i. — $.  Heft.  ScfbafT 

hausen  I908,  Schoch. 

RIttlMtler«  AaLf  Praxis  des  grundlegenden  Kcchenunterrichts.    I.  Teil.    Halle  1909. 

Hemaan  SchroedeL  IV.  geb.  3,50  M. 
lüliitolinidt,  M.,  Die  M-issenschaftliche  Methode  ZOT  Erlonndg  fremder  Sprachen. 

Hannover  1909.    J&necke.    Pr.  l  M. 
Stlrarar,  F.,  Wörterrmeichni«  m  den  griechisehen  ObongtbOchem  ton  Prot  Dr. 

O.  Kohl.    1.  u.  II.  Teil.    Hall.  ir,o8.    Waisenhaus.    Pr.  t  M. 
Kroll,  Dr.  W.,  Geschichte  der  klassischen  Philologie.    Leipzig  1908.    Göschen,  l'r. 
0,80  M. 

Qmy,  C,  1.  Boenier,  0.,  Hialoire  de  ta  Uttäntnre  Fian^se.  Leipzig  190&.  Tenbncr. 

Pr.  geb.  s  M. 

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Pr.  geb.  1  60  M 

WaaeerzielMr  a.  Goatard,  L'Avare.    Ebenda.    Pr.  geb.  1,50  M. 

InMT,  K.,  Sammlung  französischer  und  englischer  VolktUedCT  flbr  den  Sdudgebnildl. 

Marburg  1909.   Elwcri.   Pr.  geb.  1.25  M. 
Peeobler,  Prof.  A.«  CaaMrieiPkriiienoes.  Berlin  I908.  Langeniekddu  Fr.  geb.  1,25  M. 
Borger,  Dr.  A.,  Die  französischen  Wfirter  genooniachen  Vnfma^  St  Pttlten  1909. 

Sydy.  Pr.  0^85  M. 


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Klftpperioh,  Prof.  Dr.  L,  i^  hambcrs's  Hiaitorj-  of  Eogland.    Glogau,  Flanmiag.  tt, 
peb.  1,40  M. 

AotMiM-Be^el,  Eagliscbe  SpnchlekK.   Aug.  B.    7.  Aufl.  Uatmtafie.  Hdle 

Gesenms. 

Rnm,  Dr.  R.,  italienische  Tttebeagniiiiiiitik  dci  N«li(ctcii.  Fieib«s  1908.  Bkkfiü 

Pr.  geb.  1,25  M. 

UMllMket   LetetMoh   fir  Lehr«rMniMre,  benmif.  tob  Ue.  Dr.  Gebhw^ 

Dr.  Neubncr,  O.  Müller,  Dr.  Togel,  II.  Teil,  von  Dr.  Tögd  u.  Lic.  Dr.  GcUMf^ 
Dresden-Blasewitz  I908.   Bleyl  &.  Kaemmerer.   Pr.  geb.  3,8s  M. 
V.  JIwriMt  R.,    Landeslmade  der  Kepoblik  BraslHen.     Leipzig  1908.  GflsdMU 

Pr.  80  Pf. 

ÜUHM,  Dr.  Fr.,  Zur  EinfUhroog  in  den  erdkundlichen  Unterricht  an  mittleren  nad 

bMieren  Schulen.   Halle  1908.  WaMim.  P^.  3  M. 
Oppmiann,  E.,  Geographisches  Namenbadi.      verb.  AdL  Hannover  igoft.  Uet/tt, 

Pr.  geb.  3,60  M. 

Bmtoell,  Dr.,  Die  Hdnat.  Landeikimde  von  KOnjgreich  Stdma.  Ld|Mie.  Dcgcaei; 

Pr.  70  Pf. 

PoblO»  P.,  Laadcskuodc  %'om  Kouigrciche  Sachsen.    Leipzig  1908.  Klinkhaxdl. 
WllWiChtffe,  Oberflfichengestaltung  des  notddenladiien  Flachlande«.  3,  Aufl.  Slall|H^ 

J.  Engelhom,    Pr.  10  M. 
SobSnke,  K.  A.,  Aus  der  Sagenweit  der  Alten.    3.  Aufl.    Durchges.  von  Dr.  H,  QodioL 

Bt  rl;ii  iQoS,    VVinckclmann  &  S.    Pr.  geb.  3  M. 
IMaiMr,  Dr.  Fr^  11.  RM|«r,  Dr.  F.,  Lehrbuch  der  Geschichte       die  böbeica  Ld«^ 

aaftalten  in  SfidwestdentsehHmd.    4.  u.  S-  Teil.   Halle  1908.   Buchandig.  dei 

Waisenhauses.    P.  2  40  M.,  2,70  M, 
Soyftrt,  Dr.  B.,  GeschichtUche  Erzählungen.   Vorstufe  zu  Neubaucrs  Lehrb.  der  Gcsck 

Ebenda.  Pr.  f,6o  M. 
SsteA,   K.,    T-chrbuch    der   Geschichte,     für    I^rKparandcnanstaltcr»    bearbeitet  voa 

Dr.  H.  G.  Schmidt.   3.  TeiL   Geschichte  des  Altertums.  Leipzig  Teubocr. 

Pr.  geb.  2  M. 

SpMMBn,  Dr.  C,  Der  Grschichtsunterncht  in  :ii:^prfiihrtrn  !  ektioncn.    7.  Anfl     I  Teil. 

Die   HohenzoUem    von   Kaiser    VSilhcim   Ii.    bis    zum   Gros&cn  Kurtürstco. 

Halle  1908.    Gesenius.    Pr.  geb.  3,80  M. 
WaIgMd  u.  Teokienbnrg,  Deutsche  Geschichte  für  Schale  vodUam.  II.  Aufl.  A«ig.A» 

Hannover  1908.    Meyer.    Pr.  geb.  1,20  M. 
Zander,  H.,  GeschichlsUbellen.    3.  verb.  Aufl.    Leipzig  1907.    Tenbner.   Pir.  40  PC 
Or.  Steide  U.  Dr.  Mpfert  Lesebuch  für  den  deutschen  Geschichts-Unterr^chU  5.  TdL 

2.  Aufl.   Dresden  1909.   Bleyl  &  Kaemmerer.   Pr.  geb.  1,20  M.  • 
EMuui,  Th.,  Friedrich  Wilhelm  IV.  Kteig  m  Pkauaen.  n.  vcm.  Anfl.  ÜM. 

Eulitz.   Pr.  geb.  1,60  M, 
Gerber,  Prof.  L,  Englische  GeieMehte.  Leipzig  1908.   Gfiidieii.  P^.  geb.  0,80  M. 
Hommel.  Prof.  Dr.  Fr.,  Geschichte  des  alten  Morgenlandes,    Ebenda.    Fr  o  So  H 
Devrient  Or.  L,  llifiringische  Geschichte.   Ebenda  1907.   Pr.  geb.  0,80  M. 
Reha,  N.  8.,  Denttche  Vollafeite  tnd  Vcdlndtten.    Leipzig  1908.    Tenbner.  Ik 

geb.  1,25  M. 

Weadl^i,  IL,  Deutsche  BUrgcrkunde.   Leipzig  1908.   Freytag.   Pr.  geb.  t  M. 
NMbaiar,  Or.      Kleine  Staatalebie  für  btthci«  Ldinnlallen.  Halle  1909L  Mbc 
handlnng  d«t  WaiaeDhauc«.  Fi,  50  Pf. 


Dnak  f«B  A.  Btota  4  8«ha  in  Vaaabuf  a.8. 


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m 

PreiH  des  Jaliiganges  (sechs  Hefte)  Ü  Mark 


MOV  17 


Padagodiscbe  Studien 


Ueraosgegeben 


von 


Sehulrat  Dr.  M.  Schilling, 

UnlgL  BmbtaMliallnHrtorto  BoeUitt. 


Settitei  Ben. 


A.  AMuuldlflate«. 

I.  L.  Kftbler:  Um 

II.  Pctcr  Zmig:  Über  die  Axifnahmo  In  dl» 

Stellung  der  Q«gcbeuh«it  des  Kindes. 

m.  O.Kob1tter«riDMiUolo(liiteFMM»taB 


B.  Kteiaere  Beltrlfe  und  MUteUanf«ii. 

Fr.  Frank«:  Bcricbi aberdle4l. 


Betal»  and  lUw  dto 


J.  F.  Berlmri»  »ImilUhe  Werk«. 

Dr.  K)i  r t  G •  iister:  Modme  ▼«rifroBiM  wf  yblkMplilMlMa«UMMMHMkni 

Gebieten. 

Pr{«drleb  Bmnteh:  llla«ri  d«r  AaMknaafiMId«»  oud  «e  StaCtohmUteL 

W.  Hf.nc  k:  Wo  leb  mit  iDeinen  Kleinen  icclinc. 

Hermann  llasae;  Zur  MelUodik  dw  ersten  IWobenunlörrichts. 


Dretden-BIftMwitz. 

Veftag  TOD  BIfljl  ft  Kaeiiunerer  (Inb,  0.  SdamlMudi), 

1909. 


PrelB  des  einzelneu  HeftM 
MO  Mftrk. 


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Der  Beaehtung  UBsrer  geehrten  Leser  empfehlen  wir  die 
inliegenden  i'rospekte  ibigeuder  i^kmeu; 

1.  T.  Trautweiir»«»»«  Pianoförte-FÄbriJk  6.  O. 
b.  a  Berlin  W.  6d,  Uipzigerstram  6. 

Ii.  Mruut  Wunderlieli ,    Pädagogischer  Verlag, 
Iieipsis,  Rossplatz  14. 


Bfe  nächsten  Hefte  der  ,,PüdAgo^8clien 
Studien^  werden  u.  a.  folgende  Beiträge 
fi  bringen:  Ä 

'  '   Dr.  M.  SchiHlng,  Die  Foilbüdungsschule  und  die  Volks-  '  ^ 
schale  in  ihren  gegenseitigen  Beraehnngen.  £in  Bei- 
trag snr  Orgamsation  der  FortbUdangsschnle. 

B—    Frau  von  Kostitz -Wiilhvitz,  Über  Ziel  und  Entwickiiuig 
dfis  haoswirtschaftlicheii  Unterrichts.  (  | 

Dr.  A.  Zieeliaer,  Äathetisch-Efhisches  nnd  Pädagogisdieft 
bei  Herbart. 

Dr.  Fr.  Schulze,  Frauen  im  OeschicbtaunterhchL 

ST  SelmldirelLtor  Hartmano»  E^bfldnngnchnle  nnd  tt 
1 1      Jugenderziehung.  \  | 

Schaldirektor  Czerwenka,  Die  Beurteilung  einer  IJuter- 
riditsstonde  im  Lichte  der  modernen  pftdagoglscbeii 
Wissenschaft 


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^  Anzeigen.  ^ 


Preis  der  2-^e8p.  Petitzeile  30  Pfg. 
Bei  2-mahs:er  Aufnahme  lö*/o,' 
bei  4  X  250/0  ""«1  bei  ßx  40  »/o. 
(Auflage  z.  Zt.  1500  Ex.) 


Beilatrej^ebühr  M.  15.—.  Für  das  Bei- 
heften M.  3.76  extra.  Garantie  «lafilr, 
(ia88  jedes  Heft  höchstens  5  Pro.-pikt- 
betlagen  entb&lt,  und  da.sa  die  Prosjtekte 
sorgfältig  auf  das  Heft  verteilt  werden! 


Nachweift  von  Stoffen  zu  jeg- 
licher Art  pldagogisoher 
Arbeiten  vermittelt  der  Lehrer 
R.  Materne  in 'Snhl-Neundorf 
gegen  M.  0.60  In  Briefmarken. 


Wir  bitten  unsere  geehrten  Leser 
um    freundliche   Beachtung  des 
::  Anzeigenteils. 


Bei  Bestellungen  wolle  man  sich 
stets    auf    die  „Pädagogischen 
: :  -  Studien"  beziehen.    : : 


Seltenes  Angebot 

Es  ist  uns  der  Verkauf  eines  vollständigen 
Exemplars  des  „Jahrbuchs  des  Vereins  für 
wissenschaftliche  Pädagogik"  übertragen  worden 
und  zwar  isämtlicher  bisher  erschienenen  41  ßande 
mit  Erläuterungen. 

Hierzu  die  Bemerkung,  dass  wir  schon  mehrfach 
von  Bibliotheken  beauftragt  worden  sind,  Tollständige 
Exemplare  des  genannten  Werkes  aufzutreiben,  —  es  ist 
uns  das  bisher  nie  gelungen.  In  der  Regel  fehlen  einige 
Bände  der  ersten  Jahrgange,  die  einzeln  auch  zu 
höchsten  Preisen  nicht  mehr  aufzukaufen  sind. 

Anfragen  werden  unter  der  Chiffre  St,  B.  an  den 
unterzeichneten  Verlag  erbeten. 


Dresden-Blasewitz. 


Bleyl  &  Kaemmerer 

Iiih.:  0.  Schambach. 


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Der  Scborscbl  und  seine  Sireicbe 

2$  beitere  iuerii$te€r2lMiiNgeii  fir  aiejNgeid 

von  £.  Ceicbmann,  Cebrer;  illvifrierf  vei  60.  IDiblberd 

157  Seiten      Preis  sd)ön  gebunden  IT}.  1.60 
erschien  soeben  in  zweiter  verbesserter  und  vermebrler  üutldfle. 

Schorschls  Streiche  finden  pioh»'r  viel  Anklang  we^n  -It 
anmutigen  Erzählunt^weise,  dea  origineileu  Inhalts  uml  der  warmen 
Anteilnahme  des  Erzählen.  Das  Buch  ist  Kindern  wie  Erwachsaua 

sehr  zu  empfehlen,  zumal  auch  das  Äaesere  ausprechrnd  ist 

(Kritik  über  die  erste  Auflage  in  der  Allg.  Deutschen  Lehrerze itung.  1905  Ho.  5t.) 

Das  Bücbtoin  eignet  sich  besonders  aucji  sebr  als  WeihnafibtagescbeolL 
Durch  jede  Bnchhaiidlaiig  zu  besielien. 

NOrnberg.  FHedr.  Ksrn'wh«  BichlMlIg. 


Kürzlid)  ersd)ien: 


illifgaben  %\  das  gewerblicbe  KccDneii 
in  de»  f  «d^kiirieii  der  f  ortblldHNgsuDMe 

von  ]•  eckardt,  KaNrtleHrtr. 

6.  f>ett.    für  die  IDctallarbeiferhurse  —  1.  Kur?      Preis  40  Pfg. 

7.  5(tt«   Für  die  mecbaniker-  und  n2asd)inenbauerkiir<e       t.  Kues  — 

Preis  40  Ptg.  ttmfaiia  je  48  DrudiseiUii. 

Enthaltend:  Vermischte  Angaben,  Proswiitarechnuug,  Längen- 
and  Flächeiiberechnung,  (j^wichtstäbellen  und  EinkaafskalkiilatioiieiL 

M»  fte  für  dif>  R;irkfikur.«5e,  Fleischer-,  Kellner-,  Holzarbeiter-, 
Sclilosscirkurse  in  ähnlichen  i'roislag'en  wie  üben,  sind  bereits  früher 
erycbieneu,  während  das  letzte  Heft  (ö)  für  die  Flaschner-  und 
Installateure  im  Dezember  zur  Ausgabe  gelang 

Die  2.  und  3.  Kurse  diestr  Bewerbe  erscheinen  1909. 

J  >tü\  h  jt^de  Buchliaudlun;^  —  aucli  auf  kurze  Zeit  zur  Ansicht  — 
zu  beziehen. 


uurr.berg 


Friedr.  Komische  Bucbhdig. 


I 


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l(ir(li(«9i!(liiclitli(li(S  tcsttucli 

für  Ohei  klassen  höherer  Schulen  von  Dr.  E,  Thrändorf 
und  Dr.  H.  Meitzer.  I.  Teil:  Alte  und  mittelalterliche 
Kfrchengeschichte  von  Dr.  H.  Meitzer.    2.  Aufl. 
Dresden,  Bleyl  &  Kaemmorer.  167  8.,  1,80  M.,  geti.  1,00  H. 

Wir  freuen  iuih,  dass  das  mit  viel  Floiss  und  Saclikenntui» 

gearbeitete  Buch  atkou  nach  3  Jabren  seine,  sweite  Aofloge  erlebt 
Bt.  Es  ist  eine  Tonftgliehd  Ersiiutiuig  zu  jeder  Kireheiig«echichte, 
sofern  es  von  allen  Hauptpersonen,  kircbllcbeu  Einrichtungen,  Lebren 
nnd  Gcacbehntssen  ttberbanpt  cbaiakteristiscbe  anthentisohe  literarische 
S    Proben  Torfilhrt.  Toa  Clemei»*  ym  Bern  Berieht  Aber  das  Bude  des 
Petras  und  Paulus  bis  zu  Pabst  Sixtus'  IV.    Ablasabulle  von  1476. 

Ea  ist  erstaunlich,  welche  Belütienbcit  in  der  kirchiiehen 
Literatur  dem  Bfichlein  zugrunde  liegt,  und  wie  durch  diese  zeit- 
irendssischen  Worte  die  GMteltea  der  Kirehengesctaiehte  Leben  nad 
Farbe  bekommen. 

-Wir  gehen  einer  Zeit  entgegen,  in  der  man  die  Kirchen- 
ijf'sohif  iitp  zur  alli^femeinon  Bildnnc:  rechnen  wird",  so  schrieb  vor  einem 
hiilbeu  Jahrhundert  der  kla^sisiche  Kirchenhistoriker  des  19.  Jahr- 
hunderts, Karl  von  Hase.  Sein  prophetisches  Wort  wird  mehr  und 
mehr  wahr :  wer  auf  Bildung  Anspruch  macht,  mus.<<  mehr  von  ihr  wissen 
als  Leitfaaenweisheit,  mnss  zurück  zu  den  Quellen;  hier  in  diesem 
Bnclie  htfren  wir  sie  naschen.  (Nmw  biiuw  «w  aaddeatHhiaiid.  Jauison.) 

^u===^  "  " 

Der  Katecliismusunterriclil 

PrSparationen  von  Sfsimlrat  Dr.  R.  Stande,  Seminar* 

direkter  in  Coburg.  Dresden,  Bleyl  &  Kaemmerer. 
I.  Teil:  I.  Hauptstöck,  3.  und  4.  Aufl.,  2.50  frob.  3  M.; 
3.  Teil:  3.—^.  Hauptstück,  2.  und  a  Aufl.,  i,äU  M., 

geb.  2j.)it  M. 

Bas  sweite  HanptstSck  (Glaube)  dieser  treflUeben,  edlen  und 

fr  in -innigen  PrÄparationen  haben  wir  rJ08.  S.  annezeit^ :  hier  lili^c-n 
nuu  Uebote,  Vatenuuer,  Taufe  und  Abendmahl  nach.  Es  ist  bekannt, 
dass  der  Verfasser  den  Herbart'schen  Gmndsfttsen  baldigt;  er  bat  sie 
auch  hier  ansrf wendet,  ni  hr  scbablonenni;l«!?iir,  sondern  frei  und 
geistvoll,  mit  packender  Auächiiulichkeit,  gemütlicher  Wärme  und 
erbaulicher  Kraft.  Fragen  und  Aufgaben  dienen  ttberaU  xinr  Be- 
feskignr^r  nml  Verknüpfung  des  Lebrstoffs*. 

Die  chriatozentrische  Tendenz,  die  wir  früher  schon  hervor- 

gehoben,  findet  sich  auch  hier  unverkürzt ;  selbst  die  Behandlung  der 
eb(-te  ist  crestimmt  auf  den  Ton:  Dmch  f'hristus  zu  (rottl^  In 
jedem  ilauj^'tstück  erscheint  das  ganze  Evangelium,  nur  je  von  einem 
andern  Gesichtspunkt  betrachtet. 

Das  Werk  ist  eine  bedeutsame  Bereicherung  der  Katechismos- 
literatur,  ja  es  bedeutet  einen  Einschnitt  in  der  Gescfiicbte  der 
Methodik  des  cv.  Keli£ri,)nsunt«  riirlits  rilierlniiipt.  Wir  empfehlen  es 
den  Theologen  unter  ousem  Lesern  eindringlich  zu  ernstem  ätudiom ; 
es  wird  jedem  nene  Erkenntnisse,  nene  Antriebe  bringen. 

(Mcii»  BtSttBr  IM  ättddcttUAUad.  Jvtt  ISOS.) 


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Soeben  erschien 


W.  Fick:  Erdkunde 
Band  1U.*>  Europa. 


\   >Xit  ?*^a  ^bbilcluni^en  im  Text, 
KBUBS  \  Auf  feinstem  lUustratioiisdruckpapier.  Umfang 
I  .L.l....l\  ("^^^  Seiten). 

LCRl  ttUfil  \  ^  *^  l^nwandjpOuMdeH  M.  4JS0. 


Riebt 


dpr  Chßinifi  \  *^  iw»1ter,  ▼emehrter 

Uul  UllunilB«  \  verbesserter  Auflat^e   vinlicijentl  -  /  „         •  i« 

Ein  Lehrgang  anf   \  V.\  \  ontlililt:  ^Oie  Alpen  und  Süd    /  UrOUlMlilli 

muderuer  Grüiidlogt-  v  j»..»^ — .u  o.ia  — nr  q    ,    /  3 

nach  modenfln  Gnmd'  enuiait:  „miiiei-  uaa  /j^.,  CM»fKllflnM« 


Aiisgalie  B 

Lehrerbiiduugsanstalten : 
Systematische  anorganisohe 

rhrniir   ml(    Eirtscfilagg  der 

Elemente   der  Minermlogie 
(mit  teo  in  d«it  Text  ge- 
druckten Figuren). 


NerMMtMUMd**  (M.  8.- 
g«b.  M.  8.60). 


schule  u.  Lehrplan. 
Eint  Denkschrffl 

TOB 

vlitih  ;  Vt.  M.  SchUlInf 
UuchUts  i.  8. 

P?-,;.w  M.  1.50. 


Seminare. 

Hi   ll-  L_-..-i,',4jon  rnn 

Lio.  Or.  fieblianlt,  ev,  i^eiu 
in  DreBden-Friedrielietadt 
Oskar  Müller,  c?.  Sera,  zu 
Zäcjiopau.  Or.F.  Neubner, 
kath.  Bern,  au  Bautaen. 

Dr  H  Togei,  v  s  n>  /  Beiträge  zur  Mettaoilik 


Fritz  Lehmensick: 

Bis  Priiiip 

des  SelitiiaiiBBS. 

I. 


Prof.Dr.E.Thrändorf: 


zu  i^iriiA. 

II.  Teil: 

iPiidagogiscIi 
Lateinisches 
Lesebuch. 


Pn  in.  hrosch. 
iffb.  M. 

Hm. 


*  «  ♦  ♦  * 


Pas   Prlnsip  des  Selber 
tiudeus  in  seiner  Anweji 
dung  anf  den  entteu 
ipxaiBlnatemelrt. 

des  Reh'gionsunterrichts  an  \DaaPrhlt17d.seIbft■ 
l-■•t.  o  L  I  \  find.  II-    m   -  Hier 

höheren  Schulen.        \  DarchfiUuna« 

is  den  baiÜBdi 

Heft  ll.*>  Alte  und  mittel-  \  v:,' r 
alterliche  Kirchengeschichte  \  '^i?' 


M.  1.60,  gchiin>h  }i  }[.  2.- 


*)  NI5.  a  Urft  1  rntld  'lt:  ..DleSoziflle  Frage  In  Prima**  (M.  1.25). 
b)  Dieses  zweit»  IJcrt  der  „BtuLrÜge  aur  Methodik"  korrP!?pritidi*»rt  mit 
dem  ersten  Teil  de^  beruiu  Lu  Zweiter  Ajiflage  vorüegeudeii  ^Kirehea- 
flffaoMalrtlioliM  iMbwIit  m  nvMtrMMtnr,  AHs  wi  «ttiitallMMt 
KMaHMeldolite"  (M.  L80«  ««b.  IL 


1. 


TOD  A.  Biete  *  Boina  Iii  tftmbWf  b.  & 


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I 


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