Süddeutsche
Monatshefte
1
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Sübbeutfdje Tllonatsljefte
unter TTIitroirkung Don
Jofef rjofmUler, Frfebrfd) Ilaumann, fjans Pfltzner, fjans Ujoma
herausgegeben oon Paul JTikolaus Coffmann
3tDeiter Jahrgang * Crfter Banb
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1905:.. - •
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Januar \As'']m\Y:\\:\\:. V
Jllündjen unb Eeipzig
Uerlag Der SüDbeutfcfcen ülonatsbefte, 6. m. b. f).
Im Bud)banbet bei Georg JTTüller
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THE NEW YORK
PUBLIC LIBRARY
ASTOR. LENOX AND
TIL9EN FOUNOATIOMS.
R 1906 L
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fette
TlpotfreFer, £clbftbctrQcrituno,en 498
2\urt 2lram, IDie Sftufennabef. (grflabfuno, 192
HTay 33u<frner, jMg gfllferperroirruna, . . « « 219
von 33uerFcl, ffunft unb flunftler 425
paul 25u{d>inq, &er ©eneralftreif ber Bergarbeiter im gjttfgflcfrjcj . 254
Peter fcorneliue unb Xid>arb tPagner, Uno,ebrucfte Briefe. fSRit*
geteilt pon gart SPfaria (SorneltuS 15
peter Cornelius, jfaj meiner @rtnnfrunfl3mappe 459
CUFob 3"l»"g £>&t>iS, @in nninberticfrer .ßeÜifler. (SrftaMunfl . . 274
«jane iE>rief*d), £aä (Snfiem ber %>iotoa,ie 485
igrrtft Kaller, s])ort %rtt>ur unb ber geftunaäfriefl, 89
tPilfrelm ^ifefoer, J?anä Jpein$lin. (£r$äh[una, . « , . 1, 97/ 177, 261
Karl tftefd), £ie Qrrroeiteruno, ber ffgchmtngäfrofle 82
£ie Sraofoie be3 3frbeit6perrraQ,3 239
?(S>olf <5rcy, 3ur «ftunbertjafrrfeter Pon @d?tfler$ Seil 361
3WI (grimsFy, £eutfcfic %?ujTf in *Paria 167
»3V 3uä bem £rift 173
Vnartin M&frtt, &ie fturtmfcfren Svenen auf bem %nrialfo!?o(fon,qreg 254
g. P. «£aUf, ©ojialnnan^ieüe SHunbfchau. , . 94/ 174/r258, 338, 434, 514
Qtegmwtb pon ^aueeqqer, ffinbnv 'flnb 'yufledbiabtfe* tri ®ra\ . . 462
Hatl ^cdfel, J?ua,o jgojf in feinem fferboftnia |m »Kidiarb 3Baaner 470
3forl Efreofror «jeiqel, ganbäfrut . T V-\ t 233
VTCar ^ermatiny, 7(n bte ftebaftton üer. &i'foe^f#eri; ^onatäfyefte . 336
Hermann «5efie, X Äarillon: SDttdjaef £dp 94
3n ber alten ©onne. Srjdrjluna. .... 341, 437
Cfoftf ^ofmiller, SfteueS pon unb über ©oetfre 159
„@onne Jftomerä" Eon »flepefi 160
X*cr frriftfle ffic$ 250
$raq,en ber grauenbifbuna, 327
gubroia, ©onflboferä Vornan „Ter r?ot>e (Scftetn" . 330
Hauptmann* @lga 333
3ur edjtßerfeter 432
Valentin 3femann, 3urijlenrum unb Wtofopfrte 312
Xufrolf 7$rau$, £ie Jtunjt $u fefttpeiflen 158
£a3 '8tuttq,artcr ^ubltfum 169
Sfrudier ber ^Bjct^heit unb gd)6nbeit 332
«fteine 3eit unb anberc ffctraditutiflcn 337
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€fttf
pAtil &e £agarS>e, ©dmlfragen 173
Äonrafc £ange, Stuttgarter ©au» unb tfuntfforgen 416
Z. £mt>emann'Äüfjner, ,,$t>oma« Efyatterton" »on Helene «Richter . 427
t^ermattti 4.of$, Dae SSerfafjren gegen ben toürttembergifdjen ¥anb*
tageabgeorbneten $riebrid) «ift 401
Äuöolf £oute, Ulbert ©d)wei$er: 3. ©. ©ad) 511
Paul tttarfop, 2fue bem ?ager bee muftfalifd)en ftortfaritrö . . 92, 163
3u* bem Sager bee mujifalifd)en 9tucffd>ritt$ . . 249
93om fortfrf)rittfid)en 9ttujTf»ereinömid)el .... 329
ftrtebrtd) tflofe, ein neuer 2Künd)ner 431
Suliue Äntefe 510
$vit$ maut^tier, ©pinoja 51
?tt>am XrticfitwUi, Der ÜBuftenreiter. ilberfefct »on 3iegfrieb i'ipiner 449
3ofef Wüllcr, Eine neue 3ean*^aul*2(u$gabe 122
5riebrid> Naumann, ©djulfragen 77
Äletnfaufmann unb ©aren^auä 153
SBeftlage unb <Partct»olttif 214
Sttad) 2fbfd)Iufl ber £anbele»ertrage 317
3eitung$getft 410
9öa* ijt tfa»itaK*mu*? 504
»Satte PfiQner, berliner Stjeater 90
tt>ül>elm portc, Erinnerungen an Maxi »on fitoli 122
«Seinj pottfcoff, Die neuen £anbel6»ertrage 322
Helene Äaff, SWarienfegen. (Sine Siebfrauenlegenbe 282
tt>tU>elm pon 0djjerff,.^3?m ru(fl£ctejapamfd)en Ärtcg 379
Valbert Stiftet* Vä& :W^itf.V$n ?ub»ig »on ©ucrfel . . 453
Ttugufte @upper, 3Bit*-JE>*r Oftm-farb.' (Sti^t 113
6ane Zfyoma, 3n JWfcniM Ä jfrifang ber 70er Sabre .... 40
3tarVu^.9l^^:. : 287
£ut>a>tg £t>oma, ©cfjheVVnbtyfeifarj Erching 10
4ane Crog, Der 3urid>er Sparer SRubolf Voller 252
5rie&rt<£ Zfy. ütföer, ©riefe aue Neapel unb <5i$ilien. «mitgeteilt
»on Stöbert SBifcfjcr 132
(Sin ©rief über ®ried)enlanb. Mitgeteilt »on Stöbert
Sifdjer • . . 221
Äarl Poll, Steoenfon über $ela*quej 432
Xi'3>atö \T>agner, flehe sPeter Eorneliuö.
2llfret> IDalter, ©rief 513
i£rnft \Deber, Erinnerungen an Erwin «Robbe 306
Äarl \t)eitbred>t, iKebe bei ber Einweisung bee 3d>i(Iermufeum6 in
«Warbad). Mitgeteilt »on SKidjarb ffieitbred)t . . 373
3. V. tPtbmann, ffialttjer ©iegfriebe «JJeuejtee 161
£f>at>t>äue SielineFi, ©d)6n Helena 145
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6ans 6ein$lin.
(Srjäfclung von Silfeelm gifdjer in ®r«j.
1.
ÜBenn ber fcergwalb griint unb bic @onne fd)eint, wenn bie ©efunb*
ijnt ffd)'* im ßaufe befjaglid) mad)t unb ber SKeidjtum jum gentfer Ijinaud
fdjaut, fo ijt baö ein geruhige* £afein. Unb ein foldjeä mar bem £errn
bewerfen Hloil gronauer befrfneben. dx faß in feinem ©d)l6ffel mitffieib
unb Jfrnb, alö wollte er fagen : wo gibt eS nod) einen im ganjen Kaltental,
toie id) bin? Xtabei war bie einige $od)ter ©ertrub al$ bai )di6:ute
SWdgblcin jwifdien (5nn$ unb Ü7?ur befannt; um« ju bem, baß fle aud) alö
baÄ reiebfte galt, feinen unerfyeblidjen 3ufa£ bilbete.
£r felbft, ber «#err 2ttoi$ trug ben Jtopf l)od) unb ben 9?arfen fteif.
Söenn (Idi jcmaiib feinem 3BiUen wiberfefcte, fo famen bie 5Borte tyetuor*
gefoßert, eineä immer $orniger al£ baö anbere, b io beren ein ganger 3 nipp
aufmarfdjiert war, ber aud) einen futjnen ÜBiberfadjer in bie g(ud)t fd)lagen
fonnte. 2)e$h,alb wiberfpradjen il)m aud) grau unb $od)ter im aUgemeinen
ntd)t unb faum im befonbern, fo baߣerr2(loi$ in feltener ffieife wirflidje*
Oberhaupt im £aufe war.
Cinmal gefd)al) e$ bod), baß im #er$en feiner $od)ter ber eigene
<JBilIe ju roaebfen begann unb fid) immer fräfttger l)er»orbrangte, fo baß
aud) nid)t bie »aterlidje £>berl)crrlid)feit il)n bezwingen fonnte.
war ein 3Mlbfd)ni$er im Dorfe angefommen, ber ben Auftrag tjatte,
für bie tfirdje eine fyeüige Barbara mit aller ,H mm, bie ihm eigen mar, auö
feinem ?inbent)ol$e ju hauen. (£r hieß J>ane J^einjlin unb war ein 37?ann
oon jungen Sauren, bod) meber oon anfctynlidjer ©eftatt, nod) Ijübfd) oon
2fntliß. (Jr fd)(ug feine ÜBerfftatt in einer geräumigen, heilen Cammer auf,
bie tn. ©runbgefdjoffe beä Sd)l6jfel$ leer ftanb, unb befam aud) in einem
auftoßenben Sttebengefajfe Staunt für feine eigene *8et)aufung. 25ad tat J^err
Xloie ber £>orfgemeinbe juliebe, baß er bem ©tlbfd)ni$er Unterfunft ge*
wdbte, ba fein Vorteil barin tag, ffd) mit il)r gut ju fletten.
£ein$lin würbe nun juweilen »on £errn Hlcii ju $ifd)e gelaben
unb naljra an bem Sttabje ber £au$geno)Tenfd)aft teil. Die* war eine (Sljre
«Übbeutf4c <Wouatftlcftr II, 1. 1
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2
Silbelm gtfcber: #an* #einjlin.
für ihn, ba er bodi nur einen reifigen ®ilbfchni$er barjteUte-, ber noch feine
fefie &tatt gefunben Ijartr, um feine Kunft feßhaft ju betreiben, wie anbere
ihr ebrfameS Jßanbwerf. Doch lieb gewann S?erv 2floiS ben «Ortnjltrt gar
nid)t. renn ber fonnte etwas, waS ihm nicht besagte, ndmlich: wiber*
fpredien; unb genau baS, waS er als erbgefeffener Sperr wollte, baS mochte
auch ber frembe 3u(dufer: red)t haben.
Da gab eS benn StreiteS genug jwifchen beiben, unb jeber fefcte feinen
Kopf auf, baß eS beim 3ufammenftoße nur fo frachte. 3Öie oft »oüte ibm
£err 21loiS baS l'och jeigen, »© ber 3tmmermann bie $ür gefugt Dattel
Hütin er bachte, baß er nur ben Kürjern jiehen würbe, wenn er f¥cf> alt
(gewaltigen auffpielte, unb bap Jpcmjlin ihm ben ©pott alS anbere Stimme cn t
gegen fingen würbe. 60 lief er eS fein, betrachtete aber ftetS mit unlieblichen
Äugen ben ©aft, ber, ob er faß ober ftanb, feine eigene Meinung beroorf ehr tc unb
ton bem Königreiche feinet SBBillenS feinen %Ud SBobenS preisgeben mochte.
Da J^einjlin nun nichts befaß, fo war er im ©efifce biefeS ÜBillenS beinahe
eben fo bcdimütia, wie Jpcrr ÄloiS, ber baju noch bieleS anbere fein eigen
nannte. 3n bem einen aber glichen fleh beibe o6Uig: ob ber Serjtanb auf
bem ÜBege »orauSleuchtete, ober ob ei finfter bor ben Schritten blieb, fo
war eS (tetS ber rechte 5Beg, ben jeber oon it)nen nach eigener Meinung
ging. Die jweifelloS herabwürbigenbe Ärt, wie bann jeber über ben Serftanb
beS anbern bachte, würbe oon beiben mit mdßtger £öflichfeit »erbeeft.
Denn fonjt wdre offene fteinbfchaft jwifchen ihnen unb bie geöffnete Sur
für Jßeinjltn unausbleiblich gewefen.
DaS eine jeboch mußte man bem £einjlin laffen: er blieb fleh treu.
<BBaS er fagte, war er auch immer bereit ju tun; fei eS inS ©affer
fprtngen ober burchS $euer ju geben. Der SBerflanb hatte ihn bon fetner
Tollheit juruef gehalten; aber ber STOut hätte tr>n \\\ jeber begleitet. 9Bic
oft wenn er ins Dorf hinab ging, begann er in ber 3ßirtSjtube, wo er
gerne faß, J&dnbel mit ben dauern, bie fein fyochfatyrenbeS 2Befen boch nicht
recht begreifen fonnten. Denn fle hielten ihn für einen armen <£ch(ucfer
rro$ feiner Kunft, heilige ju fchnifeen. Xber ba flellte fleh ber eher flein
a(S groß gewachfene SWann bem ftdrfflen 58ierfchröter entgegen unb tat fo,
a(S wenn er ftc alle nad> ber ^Hcihe jum ^enfler binauSwerfen fönnte; unb
feine grimmig büfcenben Äugen, fein geflrdubter Schnurrbart wiberfprachen
bem nicht. Die anbern taten bann »erdchtltch, nannten ihn einen 3aunhafen
unb ließen fleh bafür »on ihm mit bem Sttamen eines fcortfentiereS be*
jeichnen. Der SÄut jeboch, ben er für Kraft ausgab, würbe »on ihnen
»oßgültig gewertet, unb er oerließ gewöhnlich mit erhobenem Raupte unb
mit niemals wanfenben ftüßen als lefcter bie UBirtSfiube.
DaS fpdrliehe ©elb, baS ihm feine Arbeit bisher eingetragen hatte,
lieferte ihm burch bie Ringer, atS wdre eS ÜBaffer. (Jr mußte immer wieber
von ber (Jmpfinbung eines &efi$eS erlöft fein, um fleh wohlgemut ju fühlen.
Daju hatte er eine freigebige Ärt trofc feines leeren ©elfcbeutcis. Tin ihm
lag eS nicht, wenn nicht jeber arme Knecht, ber bie 2BirtSfhibe in feiner
Äumefenhett betrat, baS ©las auf feine Kofien gefüllt befam, fonbern an
bem erwähnten leeren ©elbbeutel. Unb baS Kerbhol) wollte ber üßirt auch
nicht übermdßig mit J^einjlinS Schulben füllen. 3ubem war biefer 511
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fiolj, ftd) eine @un(i erweifen ju raffen, unb wenn e* au* nur bie war,
auf ©org ju trinfen. £enn er fyielt fid) feh,r in feinem ©inne für einen
großen Jßerrn, ber \u $uße geht, »eil er ju gut für ben »ierfpünnigen
2öagen ift, aber nicht umgefehrt.
•Oeinjlin* freigebige 3frt ärgerte nebft »ielem anbern Jßerrn 3loi* be*
fonber* einbringlid). renn er mußte ba »er achtlich über ©elb unb ®ut
von einem reben hören, ber ein $abenid)t* mar, ber, menn man SBanfnoten
in $Öorte nn nahen formte, mit bem SDtanbe fd)on ein ganje* Vermögen
»erfd)enft hätte. (£iner, ber mit £epf unb *2>rini prar)(te, al* hatte er
allem fie oon unferm Herrgott ju l'chn befommen, um ben baju gehörigen
®eift unb ba* Jt}erj einzumieten, unb baju fagte: „3Ba* ift ®elb? ?ebt
e*? £at'* einen £bem? 3ff e* nid)t tot unb ber drbt »erfallen? 2fber
ber ©eift lebt unb ba* J^erj lebt; bie finb ©otte* unb fehlen bereinft
borten jurürf, woher fie ftammen. £ntweber tut ba* ©elb gute*, bann
weg bamit, freigebig fein; ober e* ift ein Übeltäter: alfo beffer nid)t b.aben.
3a, ber bumme J^odjmut unb ber fdjiedje ©eij finb mit bem ©elb »er*
fcfjmiftert. Sa* muß ba* für eine $ami(te fein? ©ewiß feine, in bie
id) hineinheiraten m6d)t\ Denn ich, bin ein freier $Mlbfd)ni$er, ber ®otte*
^eilige ben beuten (eben barßellen roiü ju beren eigenem 92u$en. 'ii'er
meine &unft achtet, ber bringt e* ju einer höheren 'Art: ber fagt nicht mehr
jum Veto: lieb* ©rüberl, (aß bir'* nur wohl fein! 3d) l)ab nicht* ba*
wiber. 3ft btr'd recht, fo i)V* mir billig, üßir jwei fahren am heften mit
rinanber. Stein! Die $unft, wie id) fie au*üb', jeigt mit einem befdjeibenen
Meinen Ringer nad) aufwürt*! — Unb alle* ®ute fommt von oben: auch,
ber Siegen unb ©onnenfdjein, ohne bie auf ber @rben nid)t einmal ba*
gebeir/en f6nnt', wa* ba* liebe ©rüberl immer m6d)t': ba* SWaul Poll unb
ben ffianft voll."
£r aß aber mit ©erjagen von allem, wa* auf ben $ifd) geftellt
mürbe. Orr war von Ijeim au* nicht gewähnt worben, ba* gute beffer
haben ju wollen, wie reid)er Vcute Äinb, fonbern hielt alle*, wa* ©Ott
wachfen ließ unb bem SOtagen al* Nahrung jiemlid) ift, für gefegnete
Üftahljeit. Unb ber $ifd) be* #errn Äloi* war nicht übel hcftellt. Dafür
forgte bie feine J£>au*frau. 3Tber bie ©peife, bie ihm fdjmecfte, ju loben,
ba* lag nid)t in «ßeinjltn* Sinne, Daju bünfte er (id) ju vornehm unb
gewann mit biefer Eigenart eben fo wenig ba* #erj ber J$au*frau, wie er
ba* be* $erm gewonnen hatte mit feiner Seife, allem ju wiberfpredjen,
wa* biefer au* feinem ©ebanfenvorrate auftifd)te.
2.
Unb bod), wie #ein$lin war unb wa* er war, ba* oerfdjlug alle*
nid>t*: er gewann, wa* fein anberer vermocht hotte, ba* J?cq ber Tochter.
Unb bie war auch feine $rembe im SKafcchenorben, fo baß ihr ber $(ad)*,
be n fte fpann, Perwirrt gewefen wäre. Sic hatte \)(üc gefdjette Tlugen, bie
reine große 'Anmut au* bem gangen Jpeinjlin h"au*(efen fonnten; benn,
mir gefagt, feine SBanne*fd)6nheit war nicht berart, um ein ffieib ju Per*
bleitben. 5fbcr er gefiel ihr bod) fo fehr, baß (ie bem 2ßillen ihre* Sater*
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4 Üütlbclm gtfdjcr: §ani §eimlin.
entgegenftanb wie eine, »on ber e* ftd) je$t berau*freUte, baß fie ihren
eigenen ©inn befaß, genau fo wie $err 2Hoi* felbft.
freilich hatte Jßetnjlin $u tt>r anber* gerebet, al* ju jeglichem anbern
©efd)dpfe. 3n feiner harten ÜBeife, bie er all weg* nid)t laffen fonnte, lag
bod) Sanftmut eingebettet, wie ein golbfarbige* &üd)(ein in ber (5ien"d>ale,
wenn er mit ©ertrub ju 5Borte tarn. @r jeigte eine 3artt)eit be* (impftnben*,
bie fie an anbern beuten nid)l wahrnehmen fonnte, aber aud) an ihm nicht
fonfi, ber alle* forgfdltig oerbarg, wa* ihn al* weid) erfdjeinen ließ; ta-
gegen mit allem J^erbem, wa* er anbern bieten fonnte, nid)t hinterm
3>erge hielt, fonbern frei heroor rannte. ÜBor ihr fonnte er aber bie
Jpeimlidifeit offenbaren, bie im ©runbe feine* Jperjen* lag unb ihm felbft
unbefannt mar: eine ©utbeit unb 9led)tlid)feit in einem, bie, wo fte £uft
befam, fid) in feiner (Smpftnbung äußerte.
Einmal ging ©ertrub in bie SÖerfftatt, al* er noch an feiner heiligen
©arbara fd)nt$te, bie bereite ben ©echer in ber «£anb hielt, unb ba fprad)
er ju ihr:
„ftrdulein ©ertrub! 3n ben SBedjer l)at eine djriftlicbe SKdrtorerin,
weil fie ihrem beibnifd)en äJater nid)t folgte, mel Ordnen geweint, bie
ffd) ihr alle bann in hunmhfchc ©eligfeit gewanbelt haben. ÜÄir i|t ba*
ÜBcinen fremb unb ba* fachen nicht oertraut, obgleich ich manchmal tue,
all wenn id) ber (ufiigjte SD?ann an be* J^errgott* Safel wdr\ Hbtr einen
Lecher, wo jebc* feine heimlichen Ordnen hinein weint, unb wdr' etf auch
nur eine einzige, mußte man haben: nämlich ba* Vertrauen be* anbern,
in bar eine feine 37?ut)fa( nieberlcgen fann. (Bie haben freilief) wenig
borgen, ftrdulein ©ertrub; aber wenn ©ie folche hdtten, fo miniir' id) wohl
alle* au* meinem £erjen hinaufwerfen, um e* einem reinen ©efdß ju
machen, ba* jebe ©orge oon 3hnen wie fotfbare* ©ut übernehmen unb
aufbewahren m6cht\ Da* i\i nicht in ©cherj gefagt. 3d) bin aud) ju*
jetten ein ernfter STOann, wenn id) eine fdjone 6ceF oor mir UV, bie
burch bie blauen #ugelein be* Herrgott* lichtem Sage juruft: id) fenn'
biaVwie mid) felbft. 9ietn, beileib', ba* tdt mir übel antfehn al* ein
©ilbner \u fcherjen, wenn ich ein fromme* SRenfchenbüb erfchaue mit jwei
lebenbigen ?tppen, bie mir ba* £öd)jte fchenfen f6nnten, wa* id) mir auf
ber SBelt begehren tdt\"
Unb wie er ftd) ju ihr neigte, unb fie an bem warm anfleuchtenben
<$erjen*(hrabl in feinen 3fugen erfannte, baß e* ihm wirflid) ernft war mit
bem, wa* er fagte, bot fie ihm bie unberührten SRdbdjenlippen, unb er fußte
fic feierlich unb innig. (Sr war fo gerührt, baß ihm bie Ordnen in bie
Bugen famen. „Da* ifl bie rechte Sieb1,'' fagte er, „bie im ©lücfe weinen
fann. Unb folcher 3dt)ren braucht ffd) niemanb ju fd)dmen, unb am
wcnigjten einer, ber ein unerfchroefene* #erj im ?eibe trdgt, wie id)."
©eit biefer 3«t h" (t ©ertrub ihn wie ben STOann, bem fie ftd) oerlobt
hatte, unb bem un»erbrüd)liche Sreue ju bewahren, ihre ^)flid)t war.
Da* gab ein Oettern nnb Sprühen bei bem «£errn 3ffoi*, al* ihm
feine $odrter ben feflen @ntfd)luß mitteilte, ben QMlbfdjnifcer unb feinen
anbern jum 3Äanne ju nehmen. Unb fte war ganj feine Tochter; benn bie
Donnerfdjldge: ^lud) unb Enterbung, bie fie au* bem 3orngewitter trafen,
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tffiilbelm gifdjer: §an* £cinilin. 5
glitten wie (Srbfen an ihrem £6pfdien ab. <5ie fe^te ihren Etilen gegen
•ftenrn TTloi* burch unb Lief; ftcb mit ßeinjlin in ber £orfftrd?e trauen, wo
bie ^eilige ©arbara bereit* af* 3nwobnerin »on eben \)txab blitfte unb ba*
9>aar fegnete, ba* feinen SBaterfegen empfing. £ie SWutter fjatte hinter
bem SXücfen trjre* STOanne* eine ©untme »on iljrem eigenen grauengute lebig
gemadjt. £amit fottte ftdj ba* @bepaar ben ®runb ju einem J£>au*balte
legen, beffen weiterer 3u*bau jeboch »on ben Mitteln abging, bie £einjlin
mit feiner £un|t erwerben fottte. £er SWutter tat e* leib, bog itjre Tochter
feinen &aterfcgen empfing; aber fie »ermeebte nicht* bagegen unb fonnte (te
nur felber t>etm(id) »om J^erjen fegnen.
.ßeinjlin überfiebelte mit feiner jungen grau in bie Stab! 3>rucf unb
harrte be* Reichtum*, ber it>m je$t nach bem ©prichmorte : ein ©Ii'tcf fommt
fetten allein, in ben (Schoß fallen follfe. £a* eine unverhoffte ®Iücf war
iljm wirf Ii eh ju eigen geworben: er Ijatte eine eble Seben*gefabrtin gefunben.
£a* anbere ©fuef fam aber nicht. #einjlin blieb arm, al* wäre e*
ibm an ber SBiege gefungen worben, baß e* fo fein muffe. (Seine tfunft
griff nicht weit au«, um bie Seute fpracblo* bor <£rfiaunen ju machen. (J*
war eine befcheibene tfunft, bie mit fchonem 2fntli$e, aber in burftigem
Jtleibe einberging unb fich auch alljufebr wie eine gute (Jnfelin nach ber
2Öeife ber ©roßmutter l)ielt. 60 warf Jßeinjlin feine 2fngel au*, um bie
^eftefler in bie Sßerftfatt ju sieben, bie er ffd> eingerichtet batte. £ocb gab
e* noch ein leibliche* ©rot mit ber .fünft, bie banacb ging unb e* herein«
brachte; unb Jßeinjlin war auch um feine* lieben UBeibe* willen friebfam
geworben uub oertrug fid) mit ben beuten. (5* gab ab unb ju Q3efte(lung,
unb balb fonnte ftch «Oeinjlin für einen SReifier halten, ber fid) in vornehmer
Xrt auch einen ©cljilfen nicht $u »erfagen brauchte.
Diefe J^errlichfeit, bie gewiß nicht oon lauter ©loria umflungen war,
nabm jebod) ein jabe* @nbe, al* leine liebe @f)ffrau im Ätnbbette ftarb unb
ibre* SD?anne* Su|t am ?eben unb feine Siebe jur Arbeit mit fleh in ba*
©rab naljm.
£>a ging e* mit ihm in fcharfem Srabe bergab; unb war e* aud)
nur ein beferjeibener #ugel, auf bem er bi* jefct geweilt, fo fonnte er bod)
bie J&6l)e, oon ber er b^abgeritten, mit SSermunberung mejfen, al* er bereit*
unten war unb feine 2J?6glid)feit fab, wieber hinauf ju fommen. (5r lag
nun wieber mit aller ÜÖelt in Aehtr; unb in ber 3Birt*flube hinter bem
sÜ>einglafe ju trauern, fdjien it>m eine* ebelberjigen Spanne* wurbiger, al*
in ber $Berf|tatt ba* ©ebnifcbeil ju fchwingen.
^Ttte*, wa* ihm au* ber Vergangenheit al* (Sonnenglanj in ba* Jpeute
bereinfchien, war in einem $6d)terlein oereinigt, ba* er auf ben Sttamen
ber »erfiorbenen SÄutter taufen ließ, unb ba* ihn auch nicht bon feinem
3icf*3acf*2Bege abbrachte, fo lange e* flein war; benn ba fonnte e*
nicht reben. Unb al* e* großer würbe unb oerftdnbige ©orte meijtern unb
auch au* \)oibtn braunen .Äugen tfumm bitten fonnte, ba war e* ju fpdt:
.fceinjlin* ÜB ollen flacferte tytv unb ba auf, um fein Tonnen ju entjünben, gab
aber bod) fein $id)t.
<Bo faß er jumeift im rammer unb £unfetn unb hätte ein febmere*
35unbel ©orgen für fein Sehen $u tragen gebabt, wenn er c* (Tch nicht leicht
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2Mbelm %i\d>n: Sani ßeinjlüt.
gemacht unb bie ?afl jebe*mal »on ffd) geworfen hatte, fo balb bie Ijarte
Pflicht ftc ihm auf bie (Schulter legte. (5* war eine armfelige ©eife, in
ber er fein Sehen führte, unb wenn bie Schwiegermutter, grau Sberefe,
heimlich J^itfe anbot, wie* er fte (toi* jurütf.
£>a* Sichterlein wuch* babet auf wie ein ©otte*finb ober ein
9>flänjlein, ba* alle* au* ber (Srbe faugen ober oom Siegen unb ©onnen*
fchein erbitten fann, um fleh ju etwa* i'iebendwürbigem ju gehalten. <£*
mar fchon al* Jtinb auch ftolj genug, mit feinem fdjmalen Seibe ffd) eher
von $au $u narren, al* ficf> bie Wohltat einer berberen Äofi von anbern
angebeihen ju (äffen. 3n ihrem armfeligen ©emanbe trug ffe (ich fo fein
wie ein »ornehme* ftraulein; unb wer ihr &6pfchen (ab mit ben 3ugen,
bie fo hochgemut in bie ÜÖelt hinau*b(icften, ber backte gar nicht, baß biefe*
SRdgblein arm fein f6nne. Sie nahm nicht* unb hatte bagegen merfmürbige
Sachen $u rerfchenfen: ein kacheln ihre* berbfinblichen SRunbe*, einen Sonnen;
ftrahl au* ihren ernjten braunen 3Tugen, wa* jeben erfreute, bem'6 jufiel.
311* ffe größer würbe, führte ffe ihrem SSater ben J£au*halt, fo gut
e* ging, Tegte felber baju bei, »ad ffe mit ihrer £dnbe Arbeit erwerben
fonnte, unb mar ein (Hfle* Sftägblein, ba* feiner Hagen gehört hatte. $ßa*
fte oom ?eben erfaßt, ba* behielt fie bei (Td>. ®egen ihren 2?ater in feinem
jefcigen 3ujtanbe war fie ba* gefcheitere ?eben*gefd>öpf geworben, ohne e*
ihm anber* al* bie unb ba in fanften ©orten ber Ermahnung fühlen $u
laffen. Orr gab ihr recht, o wie gab er tf>r recht! unb tat boch, wa* er wollte.
(Snblicb fchwanb ber ©oben gdnjlich unter ihm unb er fonnte ffch in
ber Stabt nicht mehr auf ben gußen halten.
£a hatte er in einem Dorfe be* £0?urtale* eine merfwürbige 3ßohnung
au*gefunbfcbaftet, bie ihm ohne 3in* überfallen würbe, unb bahin $og er
mit feinem .Hinte, nachbem er ben £raub ber unbanfbaren Stabt »on feinen
güßen gefchüttelt hatte. SSorher aber hatte er bem Sttägblein biefe $Bor)nung
al* etwa* überau* prächtige* gefchilbert, unb er nahm wirflich ben 2??unb
recht »oll, um bie £crrlichfeit biefe* fünftigen ©obnftfce* oor ihren .Äugen
erflehen ju laffen.
„.£6rft, brautet," fagte er, „ba* ijt eine 5>urg, in ber wir häufen
werben, t>et§t .fcumpegg unb hat »ormal* gar gewaltigen Herren gebort,
bie nur $u Stoß hinauf geritten ffnb. $Öir aber werben ju guß gehen.
Dafür ftnb biefelbigen fchon langft gefrorben, unb wir leben noch. Unb
bann haben fleh bie oou ber übrigen $Belt mit ftarfer ^Ringmauer abge?
fchloffen, unb wir bleiben in gutem (trtnoernehmen mit ben anbern. Denn
wo bie Ringmauer geftanben ift, ba weht je$t bie freie £uft über bie paar
S&rocfcn, bie baoen übrig geblieben ffnb. Der $öartturm, ber gar fo
hoffdrtig in* ?anb gelugt hat, war auch «n großer .frerr, — ber hat
»tel grobe ?6cher in feinen fleinernen tWantel gefriegt, burch bie ber Wnt>
aud? unb eingeht. Unb im obern Stocf, wo ber weite SXitterfaal gewefen
ift, ba ücrm6cht, fein «Stuhl mehr ju Treben, unb wenn er noch fo gern wollt',
weiPd feinen ©oben gibt, worauf er feine güße fefeen f6nnt\ 3fber im
untern ©efchoß, ba gibt'* noch ein große* 3immer, wa* gut erhalten ift.
Da fann ich meine 3Berfflatt einrichten, ba* SDett aufitellen unb barin
fchlafen; nnb nebenan tft noch eine fleine Cammer, bie bir paßt, al* war'
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ffitlbelm ftifcber: ßan* £einjlin.
7
fie eigen* für bich gebaut werben. Va werben mir frei barin wohnen. Tiber
ba* ©chonfte ift boch ber 3(u*blicf, ben wir »on unferm ©chjoß haben in
ba* grüne $al hinab, wo bie Sftur ftolj bahinjiebt unb fagt: 33ebnf euch
<9ett! id> geh" auf Steifen. Unb bie prächtigen £oge(, unb bie blauen
fcerge, bie alle ihren eigenen Stopf auffegen! Unb ba* i|t einer, ber mit
ben ffiolfen auf bu unb bu fleht unb bafur zeitweilig »on ihnen eine
.Qaube jum ©efchenf befommt. Da wirft bu nur fo bie 3fugen aufmalen,
Srautrl, unb fchauen, wa* unfer J^crrgott für ein fcaumeifter i\l, wenn er
$erg' aufmauert."
@ie machte ihm bie $reube unb fagte gu attem: „3a, ba* mein' ich
webl/' unb „wirb fchon fo fein, wie bu fagft, Sater;" aber f>errltd) warb
e* ihr troft ber gefchilberten bracht nicht jumute.
3.
(Bit jogen bann in ba* ©chloß, ba* in ber ?eute SD?unb ben efyr*
würbigeren tarnen einer Stuine trug. (5* war um ein unfeheinbare* ©rücf
®elbe* in ben SBefty ber Dorfgemeinbe gefommen; unb ba J^ein^in »er*
(»rochen hatte, für bie Capelle am <pürn einen fraulichen ^eiligen af* Äunfh*
werf in fchntfcen, fo würbe ihm ber 2Bobnj7ft überfaffen, ohne baß er irgenb
einen 3in* in ben ©emeinbefdefef abjuliefern brauste, fct* er ju bem
großen £unjrwerfe Stimmung gewann, fchmfcte er injwifchen Heinere Dinge
al* Äatfchen, (Schachtetchen unb anbere*, wa* in ber Umgebung begehrt
würbe unb etwa* eintrug. Die* tat er aber nur, wenn bie 9?ot brangte
nnb ben ©tohj beifeite fließ. ¥ag etwa* SBünje im .fr an je, fo baß er abenb*
(ich bie 5Birt*|tube im Dorfe mit feiner ©egenwart beehren fonnte, fo fchrttt
»ieber ber ©tolj »oran, unb er »erfchmetbte e*, fich mit folchem unwürbigen
€<hni$elwerfe ju befdjaftigen unb ging (ieber müßig.
3n ber 3Birt*(tube bfltt' man tt>n juerjt al* einen Dorfgenofien, ber
mit feiner äunfr oben im (Schlöffe faß, günftig aufgenommen unb ihm and)
aDe £6flichfeit erwiefen, bie ber D6rferfchaft ;u eigen war. 3(1* er e* aber
beutlich beroorfebrte, baß er ftch für beffer fyieft, a(* ben reichten 5>auer im
ganjen ®au unb ftch nur h^rabgelaffen fyabe, unter ihnen ju (Teert, ba fdjuf
fem hochmütige* 9Befen halb Ärgerni* unb rief fp6ttifd)e iXeben Server, bie
bie ©tubengafre mit großem ftleiße gegen itjn fel)rten.
konnte er bagegen nicht auffommen, fo fchwieg er »erachtlich unb fah,
über bie birfen borftigen Ädpfe ber anbem mit (totjem ©liefe hinweg unb
hinauf nach ber Decfe ber 3Birt*ftube, al* wenn ihm bort jwifchen ben
banflen halfen ba* 3M(b feine* ^ürftentume* entgegenfehimmerte, au* bem
er oertrieben warb, ©o lang er ffch jeboch ®eh,6r »erfchaffen fonnte, war
er rtet* jum ©treite aufgelegt, unb ba* SRechtbaben war fein ^elb, ba* er
mit vier £>chfen pflügte. 3a, wenn er ju SRacht beim ging unb einfam
feinen ©urgbügel binanftieg, ba rebete er laut mit (ich, um menigflen* noch
etnen 5Btberf acher ju haben, mit bem er anbinben fonnte. Unb Ichalt fich,
baß er bem unb jenem noch ju wenig fcharf erwibert habe, unb baß in ber
£aut, bie mit J^aar unb Knochen auf ben Stamen #ein}ltn bort*/ am (Snbe
boch nur ein guter ?app ftetfe; einer, ber anftatt ben Solpatfchen ^fefer
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fflilbelm fttfaer: £an* ßeinjlm.
in* ©eficht ju fchleubern, ihnen SERilch barbiete. 80 ftritt er mit fich unb
fcfjlug mit bem Stocfe in ber Sttachtluft tyerum, al* ftmnte er bort jenen
{wetten «£einjltn treffen, auf ben er fo b6fe war, unb ber ihm tocf) nicht*
anbere* getan hatte, al* baß er mit ihm auf bie $Belt gefommen war.
Einmal jeboch ging bie ©cfcf>tcf)te übler au*. Sie harren in ber Ußirro
flube bie ©ebulb tarieren, al* ftcf> ihnen £einjlin immer mieber al* ein
Durchleuchteter von ©otte* ©naben auffpteltc, ber auf bie Q5auernf6pfe nur
ju fpuefen brauche, bie fo tief unter ihm auf Stiernacfen faßen. Diesmal
erf)t$ten fleh bie »erachteten J?6pfe; bie Raufte, bie immer berb waren, ballten
fleh auf gefährliche SBeife, unb enbltd) griffen f!e ben »ernehmen J^einjltn
unb warfen ihn ohne weitered ©ericht »or bie Sur.
dr flanb wie ber SMifc wieber auf unb woUte (ich grimmig riehen.
Da fah er aber wie einen ÜBalb »on (Speeren bie erhobenen Räufle wiber
fich unb fonnte nun auch mit feinem feinen tfopfe ben groben 3aun nicht
einrennen, fonbern machte fleh auf ben 3Beg, ohne weiter ein Üßort ju »er*
(ieren. Den ©liefen ber Sieger war er balb in ber 9?ad)t entfehwunben,
aber il)r ©elachter »ernahm er noch immer, al* er bereit* auger ©ehirweite
war. §* flang wie eine große Schmach in ihm, im entweihten Heiligtum
feine* Stolje*. Vielleicht hatte er auch bco Haren 5Beine* ju »iel gefoflet;
benn e* uberfam ihn ein Cammer, baß er fein felbjt unb ber ganzen UBelt
überbrufftg würbe. (£r hätte ben Sprung in* tieffte Stteer be* $obe* mit
beiben ftüßen machen wollen. Unb wie er fo ging, glifcerte ba* *D?onblicr)t
in ben «Kellen ber 2}?ur, bie unfern floß, unb rief ihn ju fich.
dt folgte unb lehnte an bem Stamm einer ber alten ÜBeiben, bie bort
über ben Strom hingen. Sr war t6blich betrübt ob be* Schimpfe*, ben er
»on rohen SÖauernfäuften erlitten, unb fchlug mit bem Stocfe in bie Hft,
al* wo0te er einen treffen, ber bie*mal nicht er felbft war. Dann ließ er
ben .Hopf wieber auf bie ©ruft flnfen unb murmelte f laglich:
„Soll ich länger bie Grrbe mit meinem unnüfcen V'cih befenweren? SRein.
Sie hat beffere* $u tragen, al* ich bin. Unb wa* bann, wenn bu bie <£rbe
nicht willft, J£an* J&einjlin, wa* bann? — Da* 3Baffer. Schau, ba* $Baffer
fleht mir jefct beffer an. Da* fließt batn'n in ba* weite STOeer, fo wie meine
arme 3*it in bie reiche (Swigfeit. (Sija, unb jefct hör' ich auch bie Stimmen,
bie mich rufen- 3*Ue* i|t »erjaubert ... ich bin nicht mehr ber <£h«ntnann,
ber ich ntein ?ebtag war ... Die Sttacht itf eine alte #ere unb fchaut mit
bem einen roten SBonbaug1 in* ©affer, unb bie 9Äur lacht mich au*, unb
bie SBurweibel tanjen unb (Ingen: fomm, #einjlin, fomm! wie wohlig wirft
bu ruh'n! — 2Ba* mach' ich noch in ber 2Belt, bem (Te bie @hr' genommen
haben? — SWich hi«a«^f<hweißen! — ©Ott Sater tut auch fchlafcn unb
laßt alle* gefchehen. <5r hat nie feine 3eit gehabt, ffch um mich $u fummern.
®ott Sohn ift SD?enfcf)l>ett geworben, unb bie jerfleifcht ffch fo wie fo felber,
unb ber ^eilige ©eift fommt »ieüeicht erfl in taufenb Sahren wieber."
Äomm, Jßeinjlin, fomm! fang e* ihm »om SBajfer ju.
„3a, wa* fteig' ich ba noch auf bem buefligen Grrbboben hf*um? @&
gibt beffere ?euf, al* ich bin. Wlid) braucht eh ntemanb. 3ch fall' in*
5Baffer wie eine reife ftrudjt »om ©aum, ber am Ufer fleht. SBeil mein
Herrgott fchlaft, muß ich immer wachen unb mich mit meinen ©ebanfen quälen.
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SBilbelm gtfdjer: £and £einjlm.
9
3d* witt aud) einmal fdilafen. £ann mu§ er über midi wadjen, wie eine
SWutter über tr>r fleinedtfinb. Singt nid)t mct)r, tljr SD?urtueiber, id> fomm' fdjon."
aid in berfelben 9*ad)t ein junger ftortfabjunft bed <IBeged einrjerfam,
fo war er nid)t wenig erftaunt, Hilferufe aud bem Strom ju l)6ren. $d
jeigte ftrf> aber fein fo grofled Unglütf, wie fein mitleibiged $erj glaubte.
2>enn ald er jum Ufer eilte, bad mit (reifer ©6fd)ung abfiel, faf) er einen
üÄann mit falbem Veibe im 3Öa|fer ftetjen. 2>ad war an ber Stelle feidu,
fdjog aber tjeftig unb jornig »orbei unb brofjte, ben (Jinbringling mitjunebmen,
wenn ed ihn oorerft gelupft unb ,ju #all gebrad)t.
25er Ijerbei laufenbe SRetter rjatf bem ^Öaffermanne aufd Srocfcne;
unb ba er ^»ein^Itn fannte unb irjn unuerferjrt fanb, fo fragte er ihn, wie
er benn auf bie 2Bafferftra$e gefommen fei, bie talwartd furjrc, ftatt auf*
wart* auf ben fcerg, wo er worjne. J^einjlin fdjwieg »orerft unb feufjtc.
fcr fdjämte fid) nun ben wahren ©runb anjugeben, nämlid), ba§ er einer
Sdtntad) wegen, bie er oon ©auernfauften erlitten, ftd) ein ?eibd antun
wollte. @r jog ed tuelmerjr »or, ju fagen, baß er ju »iel grttblerifcn gewefen
fei, wie er batjer gegangen unb aud Unad)tfamfeit in ben Strom gefallen fei.
„3d) fjab' tjalt einwärtd gefd)aut, Sentfrieb," feufjte er, „unb ber
ÜÄenfd) foll immer auäwärtä fdjauen, wenn er nidjt fallen will. £ad ift
eine £et)r\ bie id) mir merfen will, um funftig feine Dummheit ju madjen."
„XJann ift'd eb, red)t," erwiberte ber junge STOann; „aber fdjlotfern tut
3t)r bod) wie ein armer Sünber. bitten troefenen $abtn fjabt 3br aud)
fdjwerlid) am Veib; aber bad tnad)t nid)td; wenn'd nur bem ©ewitfcn ein*
wenbig warm ift, ba la$t ftd) bad anbere ertragen."
Unb er umfüllte ihn mit feinem eigenen 3anfer, ben er »orl)in ab*
geworfen blatte, um bem Ernten beijufpringen.
„©Ott lorjn'd (*ud), SJentfrieb."' banfte ibjn J^einjlin in weinerlidjent
$ene. „3!?r rjabt mid) wie einen unartigen SBuben aud bem SBajfer ge*
jogen, ber aud Unadjtfamfeit hineingefallen ift. Unb batt' id> Tflter nod)
ein SRutterl, ba mußt1 ed je$t fagen: red)t ift bir gefdnben an beinern ganjen
närrifdjen ?eib. 3Barum rjaft nidjt ad)t gegeben? Unb m6dit' ftd) bod)
r*eimltd) dngften, ba# mir wad gefdjerien ift."
Crr feblug ftd) plö$lid) vor bie Stirn.
„'.Iber id) t)ab' ja ein buttert, unb ein ganj junged aud) nod)! C bie
wirb mid) audgreinen fo ffttig, unb tabei wirb fle mit ben guten 3Tugen lad)en,
baß fte mid) wieber l)eil ftei)t, irjren armen SSater. 3a, meine $raute(! £>er
barf ich ntcfctd #erbed antun. Unb gar ind ^Baffer geb,n! Hui Unad)tfamfeit,
«entfrieb; id) fag'd@ud). 3d) bab» b,alt nid)t aufgepaßt. 3lber mad)t nid)td.
3d) bin je$t »on atten meinen Sunben reingewafdjen in bem heiligen 93ab,
ja, unb werb1 funftig gefd)eiter fein. X5a$ fann jeber; baju ifi niemanb ju alt.
Unb wi§t^, SJentfrieb, weil id) bad SBaffer ju wenig gern gehabt ^ab1 unb
ben 3Bein ein biffel ju feb,r, fo bin id) fo naf) and ^Baffer fommen. 3ft bad
niebt jum ?ad)en? #a, b,a! brr! pub,! aber falt ift mir bod) ein biffel."
„ÜÖicfelt @ud) nur gut in ben janfer ein, J^einjlin. 3(1 @ud) eb
)U weit. Unb ein warnte* 3ranfl wirb'd habetm aud) geben, um @ud) ben
^roft aud ben ©liebem ju treiben. @d fann jebem etwad 3ufalligcd gefd)eben,
unb wirb ihm bod) »on feiner ©rautjeit nid)td weggenommen."
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10
Vubxoiq Sboma: ©djneebenülpfeifen.
„Danf (Sud), tfentfrieb. 3d) bin nid)t gefallen. 5Ba* oom Gimmel
burd) bie ?uft fliegt unb funfejt, ift fein ©tern, fonbern eine Schnuppe.
Unb fo tjt meine liebe ©eeP aud) nur ein Junten Pom £immel$lid)t 3d>
bin aber nidjt gefaUen. 3d> bin wieber aufgeftanben. 3a, wenn ein* nur
immer fetjen fonnt', wo ba* l)inau$ »iß mit bem £eben. <£* benft an bie
^tdjtfcitc unb babei tfebt e* im ©djarten. 3a, wenn'* ftnfler wirb im
Seben, ba fürd)tet man f?dj wie ein Äinb im Dunfeln. $6rt% £entfrieb,
wie ndrrtfd) ba* ift. Die 9Rur, wie fTe baljinflieflt, bat ein ?ieb gefangen :
?utr Qrinfalt, #ein$ltn, gef>* beim unb leg* bidj fdilafen. Unb id) bin bodj
juwartä jum ^Baffer gegangen. 3fr bad nicht jum ?ad)en?"
Unb er oerfuebte mieber in .önterfnt $u fallen; ee gelang ihm aber gar
nidjt. (5$ fam flatt M ?adjen$ nur ein #u|ten tyerauä, über ben er argerlidj warb.
Der anbere erwiberte: 3a, ja, fo gef)t1$, aber nur langfam auf bem
fteinigen 2Beg."
(ix geleitete ibn beimwdrtä.
„3eit haben mir genug, ^einjlin. 2fber ftüfT t)aben wir gerabe ein
jeber nur jwet $um «£ernebmen, unb wenn einer bapon ju ©djaben fdm\.
fo fönnt' man ibn aud) nid)t leicht audtaufdjen. Unb ©teine gibt'* auf ber
Seiten audi mehr al$ harte ©ulben im ganjen SRurtal."
(Scrtfe^ung folgt.)
©d)ncel)enMpfeifcn-
Won ^utroigrSbema in SOtüncben.
„3e$t jünb'n mir un$ g'erfd)t a "Pfeif o, ?ubmig; nadja will i bir
*erjdl)len, wie mir amal in 'e* ©cbneebenblpfeifen ganga fan."
Der 3agbgebilfe ©la$l fdjob mir feinen Sabafbeutel beruber unb id)
nahm eine #anbooll pon bem f. f. SRollenfanafrer.
„Der Änatfer i$ guat," fagte er, „bei SBater bat foan anbern net
g'raudjt, unb ber bat g'wift wa$ perjtanben."
Der ®laäl mar ndmlid) por balb »ierjig 3abren unter meinem Sater
al$ 3agbgebilfe in ber $orberri# angebellt worben.
3uerit hat er feine ftnerfennung erworben burd) ©ebneibigfeit unb
$reue; nad) unb nad) ift er bem wortfargen Dberfärfter ein ^reunb geworben
unb ift e$ geblieben, bid eine* Sage* ber $err SWar Sboma in bem ffeben
©d)ub langen ©arge auf ben ftriebbof getragen würbe.
Ober bamit id) e$ red>t fage, er i)t ihm über ben $ob binauä antjdnglid)
geblieben, unb weift nod) heute fein belfere* Vöb für eine ©adje, al$ ba§ er
ihr naebrühmt, fie hatte oermutlid) bem alten Oberf6rfter $boma gefallen.
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Subwtg Stoma: <Sd)neebenblpfeifen.
11
„fcrennt'd," fragte ber ©ladl.
„£d brennt fd>o," fagte id).
„SRadja paß auf! D6d i& g'»efen ferbigdmal, wie bei iD?uatta be
flca Sutfel auf b1 3ßclt bracht bat: anno 69 glaab i.
Wo ba bamm b^umpen an Partei berfd»ffen g'babt, »ieltcidjt a balb'd
3abr ba»or. 3^6* war a braoer SWenfd) unb a Säger »on ber erften Älaff.
Den t)amm a paar Sadjenauer berfdjoffen, »ta 'r a auf 'n SBorberfopf
auft ganga td. 3lud be £atf*en raud unb net weiter, »ia fünf ©djritt.
Ter Partei t>at an ®'»et)rlauf g'febg'n unb fdjreit no: „3?et fcfraffen!"
Der»eif fyat'd fd» f radit unb ber Partei hat be ganj ©djrotlabung
breben g'babt. <£d bat 'n im Schnall 'neig'ljaut, unb an £at>er, ber babet
g'wen id, ban b' ?atfct)ennabeln in 'd ®'f?d)t g'fprifst, baß er im erfcf)ten 2(ugen*
Wirf nir g'febg'n Ijat. 5Öia 'r a fl g'reidjt bat, fan b' Gumpen fd» auf unb
baoo g'»en, unb fennt bar er foan.
Stto, bei 3?ater bat an SSabruß g'babt, »ia 'd an ©arte! bar)er brad)t
bamm, maustet. Den faubern ©urfeben, ben a jeber Sftenfdj gern g'fyabt
bat. S>ei ber Unterfud>ung bat ma g'febg'n, »ta nah baß ber Schuf, g'men
1«, »eil 'd #emb »orn o'brennt mar »om *Papierpfropfen.
ÜSir bamm an ©arte! in ber -fctnterriß ergraben unb ber «Pater SÖenno
bat in ber ?eid)enreb' g'fagt, baß ba J^immi ben SD?6rber (trafen »erb1.
«Wir r)amm und auf bäd net »erlaffen unb bamm und benft, a bifferl
»cm mir felber mit bte Sadjenauer j'fammrucfen.
3 bab* jum .fceiß g'fagt, eb'nber freut mi foa (Sflen unb Srinfen
nimma, bid i net oan »on bc Kröpfen tji'g'fegt bab\
De Stadjenaucr bamm b6d n>ot)l g'fpannt, baß be ®'fd)id>t nimma
tauber id: ma bat nir mebr g'tjört unb nir mebr g'fpürt, baß oana in 'd
ferner rei' »aar.
Unb (ang fyat ft nir g'rubrt.
£Rad)a am Sftatbcidtag, i »oaß no »ia beut, benf i mir, an ab*
g'fchaffter Feiertag id, »o b' ^Bauern nir arbet'n; ba barf ma j»oamal guat
£bacbt geb'n; unb 'e 9Betta id aa fo »arm g'»en, baß i mit 'n J^et^ aud*
g'mad)t t)ab\ mir gengan an SBerg auf! unb probierend mit 'n Sdjneebenbel*
pfeifen, "An J&eiß id glei redjt g'»en unb mir fan in aller $ruab »eg.
9i 9J?arfd)ieren id müabfam g'»en; ber (Schnee »ar no t)od) unb bat
nimma red)t tragen, »eil ba ©ub»inb a paar Sag gauga id. ©ei
ieben Schritt bi\l einig'fallen famt be ©ebneeretf unb baft an 3lrbet g'babt,
bid ma 'r an #aren »icber außa bracht bat.
Um an ad)ti bin i am *piatj gT»en. Der Jßeiß id »eiter brunt' blieben;
i bab' mt auf ba ©chneib o'g'fe^t unb bab' fd)6 ftaab umananb g'fdjaugt.
ü)?a |Ted)t oen ben ^)fa$ aud in b' ^acbenau abi unb ba id ma »ieber
ber ©artl efg 'falten.
2J?ir fan ©pej( g'»en oo lang brr unb i bab' eabm be Stell bei bein
Sarer juabraebt. (5r bat mir foa «Stbanb* nit g'macbt be brei 3abr, »o er
ba g'»en id. 3tßa»ei fleißi im Deanft unb nüad)tern. 3n ba britten iföodi'
bat a fd» a paar Siroler abg'fangt unb bat 'd oom »Berg oba trandportiert
3 <5d)arni$er id babei g'men, a SKorbdferl a großer. Der bat f« unter '«
ISeg amal flellen motten unb »aar nimma »eiter ganga. 3Tber ber «Bartl
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12
£ufcroui Sppma: S'cbncebcnbipfeifen.
bat 'n fcf»o gangig g'madit; er hat 'n glei nieber g'fcblag'n, baß er b* Jßaren
in b' $6b g'retft bat; nacba i$ ber tiroler wieber ganj banbfam unb
fromm wor'n.
T)H i$ u&erbaupt bad befdjt', Subwig. dlo net lang umfcbaug'n mit
be Gumpen!
Unb ba ©artl i* fo oaner g'wen. @'rebt ganj weni, aba fdjarf,
wenn '$ brauf o'femma i$.
SWit bc Oacbenauer bat 'r aa 6fter »a$ j'tboa g'babt unb bcß$»cg*n
bamm '6 'n aa bakboffen.
die, b6$ id mir all'ö a fo et'g'fatten, »ia 'r i auf bem ^>la$ g'bocft 6i.
3'leßt bon i mir benft, jefct muaß i '$ bo amal probieret mit 'n ©djnec*
benbelpfeifen.
@'rab »ia 'r i o'fanga wiQ, fted) i »ad unter meiner; a paar floane
^eidjten rubren (I unb ber ©djnec fallt oba.
3 fcfjaug fdjarf abi unb rid)ti, glei b'rauf fimmt a Äerl au* 'n liefet
mit an — g'fd)»Är$ten @'f?cbt.
So, benf i mir, flffannbet, ba fd)au \)cx\ £u fimmjt ma je$t g'rab recht.
3 rübr' mi net unb warf, ma* ber ?ump eppa tbuat. Orr bleibt fteb'
unb lurt umananb; nacba fteigt a »ieber gegen rni aufa unb bleibt »ieber
fleh' unb ftroaft an Sdjnee »on fein ©'»ebrlauf oba.
3 bab' d(ct g'moant, i muaßt 'n fenna nad) ba 5'9ur* ^ großer
äamerab mit eefete Sdjultern, unb 9>ra$en fo groß, baß ma 1r au baibeten
$ifd) tnnt1 juabeefen f6nna bamit. ÜÖenn b6d net ba ©agfdjneiber SMafi id,
benf i mir, natba bin i net ba ©laäl. Unb ber feil SMaf? i$ an audg'macbter
¥ump g'»en. Sag unb Sflacbt im SKepier, unb glei firti mit 'n Scfnaffen.
£aß ber mit babei g'»en i$, »ia '* an ©artl burditbo bamm, beö fett
hon i nia anberft glaabt.
©enn i an Äugellauf babei g'babt batt', naeba f)dtt* i glei abi
g'fdjoffen b'rauf. 7(ba 'r a fo bon i »arten muaffen, unb bab' mi gan$ tfaab
gtybt. (5r jteigt allamei bodjer unb jefct bon i f(bon fennt, »o er bi »itt-
Jjinter meiner id a guata 2ßed)fel g'»en. 3>a r>Ätt* er jT oiellcidjt o'fe$en
m6g'n, unb »eil er allamei umg'fcbaugt bat, fan g'»iß no a paar babei
g'»en; be hattet eabm trieben.
@r fimmt atta»ei nacber — »arum raudjft benn it, ?ub»ig?"
„3J?ir id b' «Pfeif auäganga."
„3a, ba muaßt öfter o'junben, ber M nafter I6fdjt gern au«, aba finfebt
t$ er guat. SÖrennt'6?"
„©rennt fd»," fagte id).
„2llfo ber ?ump fimmt allawei nadjer, unb i bab'n febnaufen g'bort.
dt bat f? aa plag'n muaffen. 3fuf breiß'g Scbritt bab1 i'n f>erlaffcri; nadja
fabr i auf unb pumm*! febiaß i eabm mitten in'$ ©'friß.
^en bat 'd um g'legt. dr faUt (Irerfterldngd in ©djnee eint unb
rubrt ff net.
SKannbei, benf i mir, jefct woaßt aa, wia '$ id. 3 bin aber net »on
mein ^>la$ weg, weil t g'moant bab, ed funnt no oaner nad)femma.
<ii bauert net lang, pfeift ber «£eiß. 3 gib eabm ftaab o, unb er
purfebt ft ^narva.
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£u&itM3 Sbomct: ©djneebenblpfetfen.
13
„£o»t a £enbl?" fragt er.
„3a," fag' i.
,Mo i* benn?"
„Da brunt flarft V fag i, unb er fdjaugt abi unb (Ted)t ben Gumpen.
Ta pfeift er burd) bie 3öbn' unb lad)t.
,,©o/' fagt er, „aba 'r a biffel groß i$."
„3e$t bleib bo, ^eiß," fag i, „\ gfaab aßawei, ber id net attoa g'wen.
<5ti no grab tfaab!"
3 lab' mein ©cbrotlauf wieber, unb ber £eiß fe$t fie neben meiner.
2fuf oamal Ij6r'n ma tjuppen, net laut. 3Tba bu woaßt ja, üubwig,
wenn ba Sdjnee liegt, l)6r|t no mal fo guat.
3 gib an £eiß mit'n (Stlabog'n an Kenner, unb er blinjelt rai o.
„#u*upp", tljuatd mieber. £>amaf linW weiter brunt, nacfja weiter
heroben red)tÖ.
3e$t fied) i jwoa, brei, mer Äerl auä 'n Tiefet femma. „SBieri", fagt
ber #eiß ganj flab, „J^ergottfacferament, wenn ma no gr6bere <5d)x&t babei
hatfn, ober gar a Äugel!"
„?aß ba 3«t," fag i, „wenn'6 ben anbern flarfen feljg'n, gengan't
melletcbt juawi."
©o i$ a g'wen.
£>ana oon be oieri bltikt auf oamal |teb unb fdjaugt.
9>ft! mad)t a.
De anbern fyaften, unb er beut' aufr, ju bem *pta$, wo ber g'Ieg'n i$.
2fber fo fdjtau fan'ä bo g'roen, baß'd net fdjnurg'rab brauf $ua fan.
Sie »erteilen ff, unb jiag'n fT wieber in$ Dicfet $'rucf, unb femman in an
Halbbogen aufa. „3e$t," fag i, „#eifl, fdjaug bu Itnfä umi, i nimm be,
wo red)t$ femman. <Sd)iatf net j'balb; oon be Gumpen bat g'miß oana *i
an &ugeUauf babei. Wlix müafien fcbaug'n, baß ma jmoa t)i'(egen. Sladja
id b' 9ted>nung gleicrjauf." (5$ bauert a halbe @tunb. J^ie unb ba t)6r' i
an 2fftl, aber g'fefyg'n bat ma nir.
3e$t fan'ä beroben.
2>on oan (Ted) i b' £aren; er fcfjtabt be £ft auf b' (Seiten unb f)alt an
®rinb aufla unb bordjt. Der #eiß unb i, mir rubren unä net. 3um
©djiaffen i$ no j'weit g'roen.
2Öia ber i'ump nir l)6rt, fimmt er gan$ außa unb gebt auf ben anbern
bi, ber im ©d)nee flacft.
3 giag ganj ftaab auf. Damei fcrjnaUt'S beim J£>eiß unb oana fdjreit.
3e$t bat'* prefffert.
3'fammfcrjaug'n unb fd)iaffen i$ bei mir oand g'roen, unb ben mein'
bat'* g'riffen.
SSon be anbern jwoa tyamm ma nir mebr g'fefyg'n; aber g'rumpelt
Ijat'Ä linf* unb recfctd; be fan fdmell abi über 'n ©erg.
„Drei bamm ma," fagt ber #eiß.
Unb richtig ii ber im ©djnee g'ljocft, ben wo er aufi g'fd)o|Ten \)aU
„3e$t madj'n ma, baß ma weiter femma," fag' i, „mir laffen unö net
fetjg'n, unb be anbren bol'n ealjnere Äamcraben ftbo."
SRir fan $'rucfpurfd)t unb abi; b6d i$ g'fdjwinb ganga, ?ubwig.
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14 (tabioig Spoma: ©djneebenblpfeifcn.
2Öia ma brunt g'men fan, fag' i jum #eiß: „3e$t mad)'n ma 'r an
Umweg unb gengan über b1 3far unb femman von ber anbrrn ©eifn Ijoam.
£a woaß nadja foa ÜRenfd) nir, baß mir jwoa ba tyerob'n g'roen fan."
£>6ä Ijamm mir aa tl>o. 2Bir fan no jrooa ©tunb umganga unb fan
auf ben 5Beg, ber »on ba «£interriß eina füljrt. 3Bia ma auf ber ©tragen
fan, fimmt hinter un$ a ©dritten batjer.
£rr $ater fcenno i* broben g'feffe« unb no a Äapujiner.
„£eiß" fag i „ftp feit ff nir meljr."
3Bia ba ©dritten bei und iÄ, gniaß'n mir, unb i fang glei an 2>ifd>=
füre" o mit 'n ^)ater ©enno.
©ruaß ©Ott unb weht, unb roaö ma fo fagt.
„2Baren ©ie fdjon auf ber 3agb?" fragt ber ^>ater.
„3a" fag i, „mir femman g'rab »on ©djarfreiter."
„T)a$ W id>" fafl* wnb »ein »armer Sag beute" fagt er. „3*
beffer aa, fag* i, SBatfyeid bridjt'ä r>at er foanä, na madjt er oaneV'
»3«/ ja" fagt er, unb abieu!
Unb nadja brai)t er fi no mal um unb fragt: „93on ben SRorbcrn bee*
©artet r>at man nod) immer feine ©pur?"
„9fa," fag' i, „jefct »er'n ma 'r a faam metjr read rau* friag'n.
i* fdjo j'fang Ijer."
„£em (Strafgerirfjt @otte$ entrinnen fie nid)t," fagt er.
„4>offentli" fag i, unb tjab' ma ma$ benft.
£er ©auf jiagt o, unb weg fan1 i.
t)ab' i g'fagt, „jefct l)amm ma glei gar an getfdjtltdjen 3*ug'n,
baß mir auf ber anbern ©eiten roar'n."
(5$ i$ aba nir rau$ femma, unb mir tyamm an #errn $ater ©enno
g'(e$t gar nimma braudjt."
„Unb roaö ii mit bie 3adtenauer roorn?" fragte id).
„De? 9?o, ber ©aber f)at oiel Brbet g'tjabt unb ber £ofta oo SWttten*
malb aa.
©Horben i* foana; net amal ber ©agfdjneiber ©fajT; aba ber bat
@Vr »erloren. (£o »iel l)amm ealjm be ©djrot bo g'mad>t. Unb foan
3agbg't)Üfen !)at ber nimma berfd>offen. 93on be anbern jwoa i$ fpdter
oana feiber 3agbg'!)ilf roor'n unb i$ elenb jHSrunb ganga, auf ba ©ene*
biftenmanb. SWa I)at'n g'funben unter an Raufen ©toana; in ber ©ruft
l)at er an <5djuß g'tjabt, aber nett fo fdjwaar, baß er gtei tot g'wen t*.
I>a fan b' Gumpen tjerganga unb tyamm an mit geldbrocfen juabeeft, baß er
langfam frepiert id."
„2(1), Jßerrgottfaframent!"
„3a, $ubroig, bos id a fd)arfe 3eit g'men in be fed))fger ^abr. Da
fan im 3farn>infel Ijint1 »iel ?eut in ba ©'fdjminbigfeit umi g'roafl, o^ne
9leu' unb 2eib."
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Ungefcrucfte Briefe von Petet Cornelius unb [/
&id>crb tt)agncr.
23tttgeteüt ©on ßarl 2Äaria (Serneliu* in ftreiburg i. 95.
SRein 93ater füllte ticf> ooQfommen al* Sübbeutfdjer, obwohl feine Altern in
H?ertbeutfd)(anb ju £aufe waren, der QSater am Sttieberrbein, bie HRutter in Berlin.
(Geboren warb er ja freilief) in SOtaüt), in Deutfdjlanb* gelbner SRttte. QCn Berlin, wo
er feine Stubienjeit ©erlebte, badjte er nidjt eben gern jurürf. „Sa* falte, frofh'ge
iberlin" — fdjretbt er einmal an feine SRutter — „oerieib mir, wenn id) Deine 93ater«
tfabt läftere, aber id) mag fie nid)t. Smig fern ©on ©erltn!"
3n Setmar fanb er feine jweite Heimat, bie britte unb eigentliche aber erft m
Sien. Da* war bie Stabt nach feinem #erjen unb 6jlerreid) liebte er über alle*,
„lieber!" fd)reibt er an feinen ©ruber darl, ,,id) lebe unb fterbe al* ©ro§beutfd>cr.
Stein D eutfcplanb, nun unb nimmer, ohne bie* herrliche, üppige Ofterreid) !"
SDfit bem ^repmut ber Umgebung bielt fein eigner ftrobmut gleiten @d)ritt unb
palf ipm über ade Srübniffe be* Ceben* binweg. Saren bed) bie fünf Siener 3apre
bie fdjwertfen feine* Ceben*. #offnung*lofe Siebe ju einem SJläbdjen, ba* ibrerfeite
©on einer boffnung*lofen £eibenfd)aft ju — 9t Sagner erfaßt mar, SXanget jete*
fieberen '&i*fommen* unb babei Stampf um iMlcnbung feine* (Sit: ba* waren bie
£auptmomente biefer £cit. £r überflanb fie mit feiner nie ©erfagenben Ceben*gläubigfert
unb ?eben*freubigfett. Sflem ©enu§leben fremb, freute er fid)/ wenn anbere fid) freuten
unb trug gern ba)u bei, wenn er etwa* beitragen batte. Sie er einmal einem armen
frierenben 2ttitreifenben feinen ganien SWantel fdjenftc — nidjt, wie ©t. fWartin, nur
ten halben — fe gab er fid) immer au*.
'Xuf bem Heimwege ©on einer Sd)ülerin, ©on ber er ba* mübfam ©erbiente
Stunbengelb eingenommen batte, würbe er wieber einmal oon einem alten Seiblein an*
gebettelt, unb im ®lücf*gefübl, gerabe etwa* 9ted)te* in ber $afdje }u b«ben, gab er
ibm einen gaiijen ®ulben. Die Qllte banfte ibm mit einem freperftaunten : 93ergelt'*
(Sott taufenbmal! Unb nad) einiger 3eit erfüllte fid) biefer fromme Sunfd). ßr erbielt
einen ©rief 9ltd)arb Sagner*, ber ihn im Auftrage be* Äönig* nad) SWündjen berief.
3apre*gebalt: 1000 (Bulben.
$ro£bem iögerte er, feine „Siener £unbebütte" ju oerlaffen. (fr jögerte flet*,
wenn Sagner ibn )u fid) rief, ©o fepr ibn Siebe unb ©tmunberung in bie SRäpe
Sagner* jogen, ebenfo febr warnte ibn fein Dämon oor biefer SRäbe. ,,©ei Sagner"
beifit e* einmal in ben ©riefen „parte id) feine SRote fomponiert, ba* wußte id) wie
gefepweren" unb ein anbermal: „Sagner* Ätmofppäre pat eine groge ®d)wüle, er oer«
brennt unb nimmt mir bie Vnft." $e länger (Sorneliu* jögert, befto mebr gerät Sagner
in Sut, unb wenn er fd)lie§lid) bem Stufe nad) 2J?ünd)cn folgte, gefenab e* mebr um
ben ^reunb ju befd)wid)tigen a(* au* eignem Antriebe.
3n SÄündjen fublte er fid) in ben erften 3«bren b©d)tf unglücflid). dt litt unter
bem 3wang feiner tXnftellung al*: Sagnerianer in Ägl. Dienflen. Sagnerianer war
er immer gern in — freiem Sinne, er fprid)t felbfl eon fid) al*
„QBon bem blaffen Cifotianer
©i* jum legten $on unb ^>aud),
©erlioj« Sagner» Seimarianer
Unb ein Gorne-lianer aud).
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16
(Scrneliuö unb SBogncr: Ungebrutfte SÖricfe.
Unb eben biefer, ber Gornclianer, »erlangte aud) fein 9ied)t. „3" 9Äünd)en"
fdjreibt er fctbfl einmal, „roar niemand, niemanb ber ba frug, road bifl benn tu für etn
SJogel, unb rote ftngft tu9.44
3u ber unbedingten ©efolgfdjaft, roic fte Sßagner forberte, fonnte er ftd> al#
aud) fd)affenber iiimftler nid)t »ergeben. Denn — roic fagt bod> jener ©falbe in
3bfcn$ „Äronprätenbcnten" — ein iDfann fann ftarben für baö 8ebenSroerf cined anbern,
aber leben fann er nur für baä eigne. Der (Sorueltaner rang mit bem SSagnerianer
in tbm. Dtad) ber Seimarer Euffubrung feinet „Gib" erfennt er, baß er fdjon otel ju
oiel SÖagnerianer geroefen fei. Der (Sornelianer erflarft unb bat ben 9Äut ju fid) felber.
©o fd>reibt er an feine ©djrocfler (*ufe: „. . . ftünfUerifd) bobe id) ©ebenfen gegen
Söagnerü gröfjtcä ffierf, ben Triften, wenn id) e$ aud) ale oofle* STOcifterroerf anerfenne
— mir, meinem Sffiefcn erfdjeütt ber innerfte 9?ero biefer Sadje eine franfbaftc, felbfl*
©ergotternbe, neroenjerruttenbe CiebcSfenttmentalität Eubercrfeiti füblte id) feit meinem
inö £eben getretenen (Sib bie unabroeiöbare 9?otroenbigfcit in meinem ÄunftfdjafTen tu
ber ooflften greibeit }u »erfabren, jebe ©djulfeffel, jeben 3«>ang einer fogenaunten 9ttd)tung
abjuftreifen . . .*
Küd) an SÖagner felbfl fd)reibt er mit berfclben DrTenberjigfett über biefrt fein
„OCbroeidjen com reinen 2ßagnertum" einen ,,eutbuftaftifd)en '.Xbfdjiebäbrief", in bem
er feine Ciebc au«fprtd)t unb fein ^eib.1)
SBagtttt antroortete auf jene aperjcnäcrgiefjtmgen nid)t. (£r rerftanb ed nidjt,
baß ein greunb ibn lieben fonnte unb ibn temtod) meiben wollte. 9»ein 93ater fudjte
injroifd)en febnfud)tig nad) einem anbern Dienfte. (5r bätte mit ber gcringften ©teile
oorlieb genommen, bod) ed fanb fid) feine. Da er fid) aber oor feiner 2Beünarer
©anblung auf ©runb ber 3Eüud)ncr TGijleüung oerlobt battc, fab er fid) gelungen,
— oollig mittellos roic er roar — bei ber ©tätige ju bleiben. Unb fo febrte er nad)
SRünd)en jurürf, roo man ibm eine bauembe %ifirCUing an bem ju grünbeuben
Äonfcroatorium oerfprod)en batte, bie freilid) infolge ber verworrenen l'age sroei oede
3abre auf fid) roarten lief?. Dann fam 9tobe. <£i tarnen bie ©tettferfinger, ju benen
mein ^öater au* ganjem ^»erjen §a unb Urnen fagen fonnte. Da6 93erbältniö ju
23aguer rourbe rubiger, nad)bem biefer fid) fclbft mebr berubigt batte. töeiber SBäbncn
batte ^rieben gefunben in ber @bc. SBenn fte fid) je§t jufammenfanben, gebauten jic
tanfbar ber 2age, bie jle gemeinfam oerlebt. 3»' biefem ©inne bittet SBagncr nodj
in ben fpäteren ©riefen „be* alten «Penjinger greunbe* ju gebenfen" unb ibn lieb ju
beboltcn. Unb fie bebiclten cinanber lieb bid and Snbe. SWod) bore id) meine 9Kutter
mit beroegtem ^»erjen erjäblcu, roie beroegt SBagner fic nad) bem Sobc meinet ^Saterd
in SBaoreutb (1876) begrü§te. ßr fd)lud)jte beftig, oon innerfler Srgriffenbeit übermannt,
unb verlief; fic bann unter ©ebarben böd))len ©d)mer)ed, um roieber auf bie ©übne ju
eilen, roäbrcub meine Butter am 'Ärme unfered lieben ^cunbeö- Stanbbartner jurücfblicb.
'J 5>if «riefe meine« ?Jarer6 an «Ba3ner fonnte id» lei&er niö>t »erejfennid)en. 6ie flnb
verbauten, wie ia) tretfl, bodj »erben fie mir — rtofc meiner Sitte fie einsufeben — corentbalien.
Zc uurCcn aut unerrorfd>üa>en (Mr&noen aua) bie «riefe «on §. Nie(fä>e, ^an« t). «uloro u.
a. terrreigert. SHan retet in Bapreutb fo gern »on ^fliäten ber Kation gegen fcie S3agnerfd>e
«aa>e - foOte e« nid»t aud) umjefebtt ^flid)ten gegen bie Wation geben? Wuf »riefe »on
literariftbem «ert bat bie Sation ebenfogut «nforua> wie auf bie fßerfe ibrer «etfaffet. —
Senigflen« batte man bie Stimme cer Wenfa>lia>reit achten follen. Gin Zehn, ter feinen früb-
verlornen «ater au< beffen befren ©riefen frnnen lernen m6d>te, bitte bie öewdbrung feinet
Sitte oerbient, niebt alt ein ttlmofen, fonbem al« fein ftedrt. — Um tiefe« Unre^t gegen meinen
Safer »enigften« ein wenig wett »u maa)rn, werbe ia> bie ©riefe %Bagnet« in meiner Äu*gabe
eon „^eter ßorneliue 0u«gewäblte ©riefe" (fireitfopf u. Partei, 1905, 2 ©anbe) in ftorm t>on
»nmertungen t5er6ffentlia>en, bamit bie $reunbf<£aft ber beiben ber (MefaiAte angebSre, fo wir
fie war unb wie fie e« um einantev betbtenen. 3m ^olgenben gebe id> einige öeifpiele ber
Sriefe fSagner«.
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(Sorneliuö unb SBagner: Ungebrucfte QSriefe.
17
2Öagner war für meinen 93ater ein ©c^teffat. Sr bat mit ibm gerungen, wo er
mit ibm ringen mujjte, unb lieg fid) gerne oon tbm überwältigen, wo er e« ju lieben
wrmo^te. ©ad 2Bagnertum (in gemäßigter ftorm) war, wie er ed felbfl befennt, bie
äcnfeauenj feines bebend. VHuf bae" 3Berf feiner <Sebnfud)t, bad er nicht mebr oollenben
feilte, auf bie Partitur ber ®un(öb wollte er fd)reiben: 3n ^»rt unb Son SKidjarb
Sagner gewibmet. ©eine Ctebe ju bem großen Jreunb legte er in jene innigen 5Jerfe,
bie er ibm als SStflfbmmgrufj gebietet bat. <5ie finb oieQeidjt noch, nicht allen fiefern
tiefer 3eiffd)rift befannt unb fo bruefe id) fie im 7(nfd>lu§ an ben legten ber ©riefe,
iu tem fie ja geboren, wieber ab.
<5ooiel wollte id> an biefer ©teile fagen. 2öer mebr erfabren will oon $eter
(Serneliue, ber lefe ba* balbe taufenb 55riefe, baö" biefed 3«&r m Cetojig ausgegeben
rrirb unb laffe fid) bad „2Härd>en feine* Ceben*" erjablen.
Peter HovntUus an 6an« »Ott #ulow
ju feiner Vermahlung mit (Softma Ctfjt.
(18. Sugufr 1857.)
<Zin liebefehnfuchtSöolie* H
©tanb ungeloft im ?eben ba,
Unb feinte ffcf) nad) Tonica
33on wegen ber Hannonia.
di fpradj: ein Settton bin ich ja,
O wäre nur mein C fdjon ba!
D Guido, Sttotengrofpapa,
Du 9?otenmad)erm6nd) oon A-
Rezzo unb Du Cacilia,
Du mürbige SWufifmama,
31)r gebet nad) bem Mi ein Fa
3n regelrechter Musica,
© gönnt aud) mir, bem armen H
Die ?6fung in bie Tonica.
Unb balb, wer weiß wie bae" gefdjal),
Sin wunberuolled C war ba —
Dad H war feiner ?6fung nah
3n'd C mit SRamen Cosima.
£) füfe Polyhymnial
0 wunberoolle Musica!
(5$ loft in \!iebcßiinf unb üBeb,
Da* H fleh ganjltd) auf im C.
peter £orneliue an feinen 33rut>er <£arl.
[ÜÖeimar, 19. Dejember 1858.]
3J?ein teurer! Serjeih, baß id) Did) warten ließ, unb Dir aud) Ijeute
nur in furjen Zeilen berid)te.
Die Oper1) würbe erft am SWittwod), alfo Deinem $od)jeit$tag, ge*
geben. — (£$ ifr aUed gut, wie e* gefommen, mein lieber! 3d) bin je&t
') Der ©arbim eon ©agfcafc.
Gütbeutffe SHonats^cfie. II, t. 2
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I
18 Kornelius unb Sagner: Ungebrurfte «Briefe.
ein ÄünfUer in ben 2fugen ber muftfalifchen ÜÖelt, »on bem man etwa« er*
wartet. Die beigefügte Äritif fagt ba$ auch; wenn ihr mel)r Ußarme itnb
©etfl iu wünfehen wäre, fo macht anberfeit* bie anflanbige UrtparteiUc^reir
(ber ©djreibenbe ifl »on niemanb aU bem Stebafteur ©iebermann gerannt),
if)r ad)tung$»olle* £ob um fo ermutigenber. ©iel)|t Du, Du meintejl, id)
foUe mid) burd) ju großen ©eifall nicht »erwirren laffen! Sttun, mein ©efd)icf
will mich ju einem Spanne machen — bad fei)' id) an allem, unb id) werbe
aUeö tun, cö nid)t an mir fehlen ju laffen.
<£$ gibt bem Anfange meiner ?aufbat)n eine wunberlidje ©ebeutfamfeit,
bafl meine geringe 2Öenigfeit ber 3fnflo0 bed entfdjiebenen ©rucheä $mifd)en
Sifjt unb Dingelflebt wirb. ?ifjt wiU — bie tfunfl; Dingelflebt — nur (Td).
Da* ifl ber tfampf. Dingelflebt l)at meine 3ifd)er beflettt. Orr fall jum
©roftyerjog gefagt l)aben: „königliche .£ot)eit! id) l)atte für ben $all, ba$
ba$ Ding nach bem erflen 3(ft ausgepfiffen würbe, ein Sfuflfpiel bereit", wo*
rauf ber ©rojtyerjog eine abweifenbe Bewegung gemacht haben foll. — 3ch
war ben Sag barauf »on ?if$t beim ®ro§l)erjog eingeführt, ber aujjerft
gudbig unb freunblid) gegen mid) war, mir $um ©d)lu# SRuhm prophejeite
unb mir t)er$lid) bie Jßanb gab. — £ifjt wirb feit jenem 3(benb feinen $u£
mc\)T inS Styeater fefcen unb fortan bie ©üljne — Dingelflebt unb ben
©einigen überlaffen. — Der 17. Dezember, ©eethooenä ©eburtdtag, würbe
gu einem glanjenben Triumph für Sifjt unb und. Dingeljtebt hatte einen
Prolog bei mir beflellt, unb id) benfelben jwei Sage »or meiner Äuffüfjruna,
gefd)rieben. #ert »on SRtlbe (ber Kalif, meine eigne 3Bat)l, Dingelflebt
wollte J^errn ©ran$) fprad) ben Prolog mit einer fd)6nen männlichen ©e*
geiflerung, würbe fd)on in ber SRitte »on einem 2fpplau* unterbrochen, ber
burd)aud nur »om ^ubltfum felber ausging. 3um ©chlufl folgte anl)altenber
©eifaU*, in welchen bie ©roflherjogin, folange er bauerte, mit etnfltntmtc.
3d) wartete auf SKtlbed (£rfd)einen, unb blieb im faxten ff$en, bi$ man
nad) mir fdjirfte — wo id) benn fd)leunig l)inauflief, um an STOtlbe* #anb
»or baö sPublifum ju treten. — 23on nun an ging baä Bongert mit einer
SBcihe, einer Aufnahme feinen ©ang, bie un»ergleid)(id) war — biö julefet nad)
einer Ausführung ber A-dur-©»mphonie, wie (Te »ieHeicht nod) nid)t gel)6rr
worben, ein allgemeiner entbuj!afltfd)er 3uruf ?ifjt an feinen $>ult jurüefrief.
2U$arb tDagner an peter Cornelius.
B>art*,] 19 Quai Voltaire 9. Januar 1862, abenbä.
3d) bleibe nun nod) bid <£nbe be* ÜKonatd l)ier, bloß um mein ®ebid)t
— ol)ne neue Unterbrechung — erfl fertig ju machen. 3(1* td) mit bem erflen
2ffr fertig war, wollte id) nur nod) auf ©d)ott$ ©rief warten, um bann fo#
gleich nad) 2Öie*baben aufzubrechen, wo id) mid) auf länger einzurichten
gebad)te. 3n ber Ungebulb fing ich enbltd) ben zweiten 2(ft an; ©djott$
©rief fam unb war aud) nicht gerebe Ijinreißcnb brängenb. ©o »ergnüge
id) mid) nun mit meinen SSerfen, unb am @nbe gelingt^ babei mein (Slenb
£u »ergeffen. 3lurfj graut midj'd bod), fo im SEBinter gleich wieber in eine
neue ^rembe ju geljen: fo bin id) benn heute ju bem (Sntfchluf gefommenr
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Gornelüi* unb 2Bogner: Ungebrurfte ©riefe. 19
für ben fReft be* Üßinter* mid) $u ©ülow* nad) ©erltn $u begeben. 3d)
fann nidjt mefyr au*fommen olme eine $reunbe*feele in ber 9?al)e. — Dann
— r>6re weiter! — Dann, (Snbe $rül)jal)r, benfe id) mir 2ßie*baben barauf»
l)in anjufefjen. Dirne l)Au*lid)e Sttieberlaffung fomme id) aud) nidjt meljr
au«: fooiel felje id) ebenfall* ein. 3d) flimme je$t ganj für ben 9tyein:
neutral. Dabei frage id) nad) 'IBoljlfeilfjeit unb einer bequemen, freunb*
liehen ©oljnung. Da* übrige, unb wie id) au*fomme, ftelle id) bann bem
lieben ®ott anleint. 3n Dienfi gelje id) nun einmal nid)t mieber. —
91un fommt aber bie #auptfad)e: — ^reunb, Du mußt ju mir gießen,
ein für allemal!1) —
Darüber benfe nad)! 5d) habe fdjon brüber nacfygebad) t.
2Ba* mid) betrifft, fo ijV* ganj fertig, üffienn id) enb (id) nod) nid)t
bat)inter gefommen fein follte, welchen einjig magren unb größten
©eminn ba* ?eben abwerfen fonnte, fo müßte id) ein armer
©ünber fein. @in^reunb, ein tiefergiebiger, felbfteigner, unb ju*
gleich, mir burebau* f»mpatr)ifd)er SKenfd). 2ßer folgen ^reunb
»erfennen wollte, ber müßte fein nid)t wert fein.
Der £an* Ijat mir'* fd)on oft nicht glauben wollen, wie feljr id) an
tl)m l)4nge. SWit bem guten Äcrl (jat'd aber J&afen! — Unb Du bift frei
— wie id) glaubte ju »ernennten, wirft Du'* wol)l aud) bleiben. 2ßenn
id) Did) aber bitte, bann, fobatb id) mid) wieber nieberlaffe, ganj
ju mir ju jicben, fo uerftebt fid)'* oon fclbfl, baß ber 3ufunft ba*
burd) nidjt* »orgefd)rieben wirb, ©enug, baß man fid) bie (im ig*
feit babei unwillfürtid) benft. 3d) »erftelje cö bann fo, baß Du ju
mir gehjörfr, wie meine ^rau, baß alle*, ©lücf unb Mißlingen
gleich unb gemeinfdjaftlid) ift, wie e* fid) ganj »on felbjl »erfleht,
treibt Did) irgenbwann ber Sfyrgeij, nun fo l)o(t Did) ber Teufel, ba* fann
bann nidjt anber* feinl — Serfley mid) red)t. Du treib % wa* Du
fannjl, unb td) tu'*; aber immer wie jwei ÜÄenfdjen, bie eigentlid),
wie ein (Sfjepaar, jufammengef)6ren. Da« wirb fid) alle* ftnben.
<Stel)t Dir j. 2Bie*baben nid)t, fo beraten wir einen anbern Ort. 31 m
o nbe fommt mir aud) einmal ba* ©lücf wieber: ba* mad)jt Du
bann mit. 2lber id) benfe, aud) Du follfl ©lücf t)aben. $Benn nid)t?
2Öa* febabet1*? Unter allen UmfUnben ift man fid) gegenfeitig wa*
Dl echte*. — 3unad)fi hoffe id) bemnad), (eben wir un* Anfang comm Cre-
am THhcin, wo Du ja eigentlid) gar ju J^aufe bifl. — 3fIfo gut! Denf nad)!
©ott, wie gern bätf id) bie arme ^uppe2) mit babei! 3d) bin in fo
etwa* oon einer unoertilgbaren naioen SRoralitdt. 3d) fanb' fo ganj unb
a,ar nid)t* barin, wenn ba* 2Bdbd)en mit ju mir fam\ unb mir mär', wa*
ffe gerabe ihjrer «einen netten SRatur nad) mir fein fann. ÜBie nun aber
bafür ben »terminus toeuuit« ftnben? Hd) Gimmel! '* ifl mir Iddjelnb
leib! — 9Bit meiner $rau g?f)t'* gut; fte fd)cint fid) fet>r ju erholen unb
') Tir Briefe 'Saniere (tat grnou noch brn in mrtnrm ^ffi? tffintlichm Origtnalrn
»wbrrgrsrbfn. @te(Im, fcir ba< «Jrth jltni« CS.« )u atrinrm Vatn f iarftrUf n, fint im ^olgrntm
>et Übn^c^tU^ffit ^alNt grfwrrt geferurft »ortrn.
") Co rflegte et Wf Si$te frinrt »irnre ^rrunbrt Dr. etantyatrnrr«, 6etar^inr SRoutc,
|a nrniun.
2»
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20
dornelüt* unb ffiagner: Ungebrucfte «Briefe.
fteUt ftd) recht brao unb oernünfttg an. 2fm §nb' ift einem bod) ba* alle*
angeboren, unb bie arme Atau, bie in vielem mir fo ganj fem Rehr, ift
burd) ba* ?eben*mtfere fo mit meinem ©d)tcffafe oerwachfen, baß id) an tin
ertragliche* Älter für mtd) ganj unmöglich benfen fann, of)ne baß td) e* auch
auf meine grau au*bebne. ©o wirb unb mag fte benn wot)l mit bei un* fein:
Xu wirft ungemein wohltätig babei einwirfen. <Bo rjofft man einmal wieber!
Dein ©rief mar ganj wunberfd)6n. ©o bat mir noch feiner
gefd) rieben! $ür alle* banfe td) Dir. 2(ud) mit bem SDfelobram im
Meiling baft Du »ollfommen meine (ehr früh hiervon empfangenen eignen
(iinbrurfe roieber gegeben: ©djon bamal* bebauerte td) aber, baß e* fjentfd)
fo bumm unb unwtrffam untergebracht mar.
Danf ©tanbhartner* nod) fd)ön für ten 5Beibnad)t*abenb !
IBon meinem ©ebicht1) fann fr Du Dir gar feinen begriff machen: an
bem fann td) gar nid)t arbeiten ohne fd)anb(td) arrogant (mie red)t ha fr
Du!) $u werben. Da* wirb mein genialjte* <probuft: weiter fag' td) Dir
nicht*. S3ieUeid)t fchretbe td) Dir netchften* einmal ©teilen au* unb fehiefe fte. Sieb«
tfer J&immel ! £atte id) nur ein 9?eft, um bie 5>rut fo red)t mit ©etjagen au**
brüten $n f6nnen! — Sttimm Dir ein ©eifptel unb fomm bann ju mir,
wenn td) mteber ein Sftcft !)abe! Oierj! Da habe id) nun D»ern ge*
fd)rieben unb ©lüd gtmad)t, bin berühmt, ja oft r er ehrt unb oon meiert
geliebt unb — ba fi$e id) unb fein «£arjn fraljt nad) mir. $ünf, fed)* Sage
vergeben, ohne baß td) jemanb anber* al* meinen Seltner fp reche. Unb ba*
jtnb bie bellen Sage: benn bann arbeite id) nur, gehe fpat au*, fpetfe beim
Üteftaurant, fomme heim, lefe ober fdjreibe ©riefe. ?c$tere* tue id) heute.
J&ier ()a(l Du einen, unb nun fdjreibe id) nod) einen ^uppenbrief.9) Dann
grüß' ©tanbbartner*.
Erfahre id) fonft nicht* au* 3ßien? 9?un, '* wirb wohl nid)t »icl
©ute* fein. 3(bteu, mein ftreunb, Du ©uter, Siefer! 2eb wor/1 unb
behalt mtd) lieb.
Dein SRtdjarb.
peter clorrteUus an Dofef etant>l>artner.
3ürid), ben 5. tWat, 1862.
lieber ©tanbr/artner!
3d) bin t)eute, SBontag frül), nod) ganj oo« »on bem Stnbrucf ber
SBißa ©efenbonf, bie td) gejtern gefel)en. 3d) mod)te nid)t weiterfahren,
ol)ne eine Dbee oon Sagner* langjährigem 2ff»l ju haben. Unb benft Ghtdj,
fo wa* paffTert nur Qorneliu*. 3d) f!$e auf ber „$a$", einem fd)6rten
hohen tfinbenotereef auf einer ehemaligen SBefefttgung*fd)anje, jetjt oon
einem botanifchen ©arten umgeben, unb orientiere mtd) nad) meinem
„©rieben" in ber 21u*fid)t, fuche mir ben ©Idrnifd), ben Uri Stotr/ftocf, ben
S6bi, erfreue mich an biefem herrlichen <£eefpiegel, in welchem ftd) gebrangte
©tabtehen, wie gepufcte grauen, betrachten — ba fe$t ftd) ein blonber SRann
') Gtawint ftnb bie SWftflfrfmgfT.
•5 6t mrint rinnt Vxitf an tte „tyw", Mc faon meinte 9»4tr 6tanbbatrnrrt,
Serapbtttf SHautc.
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(Semeliuö unb SBagncr: Ungebrucftc ©riefe.
2i
— in meinrn 3ar>ren — neben mich — jieht ein $afd)enfd)retbbud) bfr*
ran*, laßt feine beiben tfinber um fid) hcrumfpiclen unb fchreibt. (Jrft rebe
id) ihn (Ändere 3eit nicht an — nachher frage ich ihn nad) betn Uri Stoib/
ftoef, wir fetjen bie Äarte im ©rieben nad) — id) frage ihn weiter nad)
allerlei — nad) ©emper — ter fei je$t aud) amneftiert unb fd)on bort ge«
wefen, jefct wieber $urü<f, um bann auf immer ju fcheiben — ihm fchulbe
3urid) »iel Danf — bann nad) ©ottfrieb Äeller — o, ber fei ein fehr be«
liebter, hochgehaltener SKann in 3ürich — bann nad) bem #aufe, wo
Sticharb UBagner gewohnt — ba würbe er warm. Denft'* @ud) — war
ba* ber J&oljfdjneibet, ber jenen Saftftocf au*gefd)ni$t, welchen bie %rau
SÖefenbonf für SBagner nad) ©emper* 3eid)nung machen lief) — ein gewiffer
©ieber, ber obenbrein in ÜÖien gelebt \)at — ba* ältefle $6d)terdjen mar
in SBien geboren — fo war ber erfte SWenfd) — ben id) in 3ürid) fprach,
ein begetfrerter Verehrer »on ffiagner.
IDer jweite war Sffiefenbonf, ben id) bann befudjte. ID bu lieber
Jpimmel — wie »tele* »erflehe id) nun feit geftern unb wie gut ifr e*,
^reunb! ^reunbe! baß ich biefe bumme Steife gemacht habe, mache! ©türjen
©ie fid) in* ?eben, fagte Nicolai ju mir! £) wie recht ffat er! ftnfchauen
— ba* Sehen lernen, weld) einen ©auerfioff, welchen Altern fuhrt ba* bem
©eifle ju! ©ei Hßefenbonf fdjmebte id) in einer au* @rtafe unb
wunberltcher Sngft gemifchten Betäubung. UBie foll id) <?ud)'* befchreiben!
2tü*e* liegt in bem üBorte be* Diogene*, ba* fortwabrenb in mir t6nte:
„Bleranber, geh mir au* ber (Sonne !" <S* liefe ffd) ein ©hafel mit
biefem Qrnbreim barauf bidjten — wenn mir ein Stioal be* Bboni*
in ©eftalt eine* wetßfrawattigen ©ebienten mehr entgegen fchwebte a(*
ging, ben ich ebenfo gern für ben ©rafen ^)erfTgn», al* für «Oerrn ffiefen*
bonf* ©ebienten gehalten tjhtte — „2fleranber, geh mir au* ber ©onnc"
— wenn mir ein ©tubiergimmer — nachbem jener ©onnengott »on einem
i'afaicn mir auf allfeitige* Verlangen meine* ganjen 3nnern unb äußern
ben Staub »on ben miferablen ©tiefein gewifdjt hatte — nicht entgegen*
funfeite, fonbern bunfelte — mit feinen SWbeln, ©Übern, ©ibltothef,
Staffelei, Uhr unb ©erütfehaften, wie nur ein ©oj ober £>uma* ju be=
fd)reiben weiß. — „Sleranber, geh mir au* ber ©onne" — wenn ffch'nun
ber £onig*bürger »or mir entwickelt ber fein Sehen bidjtet, wie ffiagner
feine ©pern, ber »on Kmetita unb Italien fprid)t, wie id) »on ber 3Bot)nung
meine* J£>au*metfter* — „2lleranber, geh mir au* ber ©onne" — wenn
babei feine Rappeln unb Sinben im 9>arfe fdufeln, bie er alle felbft ange*
legt, wenn er mir bann, inbem er mid) ju einer Söffe $ee hinaufführt über
fein 3Rarmortreppenhau*, bie »ier J&ermen jetgt, bie er um ein ©pottgelb
in iHctn hat meißeln faffen, ©ofrate*, ben jungen g6ttlid)en Qluguftu* unb
anbre, unb bie fdjmalen ©latter auftralifdjer ©aume fTd) en passant wie
grüne 33aterm6rber um mein $inn fchmiegen — „2lleranber, geh mir au*
ber ©onne" — wenn er mir bann bei einem ©ouper im britten Gimmel
— benn fein Äeller muß ber erfte fein — wo bie ©utter mit $i* feroiert
wirb — echt d)ineftfd)en See in ed)t japanefffchen Waffen auf ed)t tunguflfchen
Xüdjern — einfehenft unb mir pl6fclid) burd) bie ÜÖunber feiner großen
roten STOappe jum erftenmal im ?eben eine eigentliche 3bee »on Raphael
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22
ßornelüt« unb 2Bagner: Ungebrucfte Briefe.
gibt, intern er mir bie sPfndicbilbcr au« ber ftamtfina in getreuen lofalen
9>rjOtograpt)ien jetgt, ba« ©ortermabl unb wie 3*n« ben Tfmor fußt unb wie
Xpfyrobite bem SBater be« 2CQd ihr Vcib gegen ^fodje f lagt — o wunber=
»olle, nie jum jweitenmal erretd)te SSoßenbung — ja, ob er mid) auf ben
klügeln feine« SXeidjtum« in alle J£6l)en unb liefen ber ©d)6pfung führte,
fage id) bennod) wie mein £>f)m auf ber treppe feine« #aufe« in SXom iljm
fagte: unb wenn ©ie ber (Srjengel SRapfyael wdren, jefct muß id) fpajieren
gelm: „Bleranber, gel) mir au« ber ©onne!" ©el)t, e« ifl Ijeute 9»ontag
unb weil id) meine JBorftabtjettung mit bem beliebten 8Bontag«poftillon
nid)t lefen fann, fo madje id) (Sud) felbft meinen f leinen £an«licf<Ul)lartifel
über «ffiefenbonf.
ftrau SBefenbonf ifl leiber franf. ©ie ifl guter Hoffnung unb e« bat
ffd) ein Jßußen eingeteilt — ber nad) ber Söefdjreibung nidjt ofjne S&ebenfen
ift. $tefe %vau, beren fd)6ne« Sblbilb1) id) faf) — muß in ber $at ein
liebe«, engelgute« 3ßefen fein! ©ie bebauerte, mid) nidjt feljen ju finnen
— id) würbe fo freunbfdjaftlid) aufgenommen unb «£err ©efenbonf Ijat |?d>
fo enrfd)ieben nid)t pfeifenb benommen, baß id) mit #interlaffung meiner
©enfer Bbreffe bie fcitte wagen ju burfen glaubte, mir über ba« SBofjl*
befinben ber £errtn be« #aufe« eine gütige 9?ad)rid)t jufommen ju laffen.
SSon ÜBagner la« £err ffiefenbonf mir einen ©rief, ber leiber bie guten
Vermutungen, bie wir oon feinem ©d)weigen Ratten — nidjt betätigt, Orr
fagt: „2Öo id) einen Sftagel jur fcefefiigung meine« ?eben« einklagen m6d)te
— er will nidjt Ijaften! Unb ber 3rjt fagt mir: £>, arbeiten muffen flr
je$t burdjau« nid)t — ba« jerfhSrt ffe ganj!" ©djreibt il)m fleißig — galtet
©eraphjine jum ©d)reiben an, id) will iljm entweber l)eute nod) ober fogletd)
»on ©enf au« fdjreiben! (5« tut not.
2)enft (Sud): ÜBagner f rf) rieb an ÜÖefenbonf oon metner Damaligen
Steife*) — unb fo, al« ob id) fte auf meine Sofien gemadjt f)dtte! 2)a« ift
fo ein btßdjen Snfjenefefcung ! 3(ber bei ben Äinbern be« ©djaufpieler« daxl
Sofepl) ©erwarb Gorneliu«, früheren ©olbfdjmiebgefeHen in Düffelborf, tft
einmal nid)t« mit Äom6bie — id) jerfl6rte augenblicflid) burd) bie einfädle
SBaMeit biefe 3Uufton. (5« lebe bie 3tufrid)tigfeit!
peter Cornelius an feine 0<*>w>efter Bufannc.
[5Bten, 2Bitte SBdrj 1864.]
SBorgefiern Ijabe id) meinen Gib beenbet. £>od) fel)lt nun nod) eine Ouoerrare
unb biefelbe muß ein tüd)tige«, au«gefüf)rte«, felbfldnbtge« 9Berf werben,
mit beffen ©eenbigung id) mid) wof)l nod; bte ndd)flen jwei bi« brei SWonate
herumtragen werbe. Unterbeffen mad)e id) aber aud) bie SReinfdjrift meiner
l) Wariiloft in fem Bu$e: »i*art Waanrt an SHatt)iU>e Wefmbenf. fcagf*u$6lkrrr
unb 6rtefe.
*) ©roifint ift frinf Seift wn Wim na* »ainj, wo Wagner (tri 6*ert) bie Weiftet*
ftngft wxlai (5. ^rbruat 1862).
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ßornelüi* unb SÖagner: Ungebrucfte ©riefe.
23
«Partitur. 3ur nad)ften ffiinterfaifon Hegt fle bann fertig »or — „in bufynen*
gerechter HbföriW wie #err Dingelflebt an SRidjarb 5Bagner fd)reibt. —
97?it $Beimar ruht e* nun t>er brr «£anb. 'Auf mein Anerbieten, bie
Oper am 24. 3uni unter 3Bagner* Leitung ju geben, mürbe fowobl
ber $ag al* ber Dirigent abfagenb befd)ieben, unb jwar in einem
ganj falten fanjletmafHgen ©rief.1) SWir ifl e* äße«, baß id) burd)
ben Anflog »on bort her, mein SBerf nun fdjnetler al* fonft »oUenbet Ijabe,
unb e* ift mir lieb, ba§ nun feine Überflutung bamit eintritt, fonbern bie
Sacfte rufjig reift. 3d) brenne aud) burdjau* nid)t t>or Verlangen, bie
Sadje gerabe in SEBeimar jur Aufführung $u bringen; obn>ef>t mir'« bort
ben £auptperfonen entfpredjenb, redjt angenehm »Are. 3d) m6d)te irgenb
ein Heinere* beutfd)e* J&oftfjeater finben, wo id) bie ©per felber einjtubieren
unb birigieren bürfte. — 3d) trete bie*mal mit ganj anberen Anfprudjen
auf. 3d) werbe bie 3nfjenefe$ung be* $Berf* mit ben b,6d)fren Anfprud)cn
an 2fu*ftattung, unb mit ber gr6ßten Strenge bi* in* geringste detail be-
treiben, id) merbe eine ©eneralprobe mit ^Beleuchtung ufm. ufm. wie eine
»olle Aufführung »erlangen unb mein ÜBerf bann nod) jurütfjiefyen, wenn
e* nidjt ju meiner 3ufriebenb, eit bargefhtlt wirb. — 3d) Ijabe einmal in
erregter Stimmung ju ©agner gefagt: OBeigt Du, wai id) bin* —
3d> bin ber einjige SBagnerianer. Da* bin id). — Die ftürfttn fagte
einmal bei (Gelegenheit be* ©arbter: „Sie »erben f7d) einen ^lafc neben
Sagner ferjaffen, mie SReljul neben ©lud." Unb fo tjt e*; mit meinem <5ib
ift e* bereit* eine ©abrljett geworben. SWein ÜBerf b,at Stil, großen Srnft
unb bramatifdje* ?eben; e* wirb feinen 9Beg mad)en.
Sufanne! über 3af)r unb $ag wirb einmal mein (5ib al* geflogene
Partitur »or und liegen! De* fei gewifil Dann bin id) frob,, unb e* ift
bod) ein Anbenfen Pon meinem ?eben ba!
SRun aber, im Sommer — im J^erbfl beginne id) ein neue* ®ebid)t!
UBie id) neulid) abenb* fltQjufriebett nad) meiner SBeenbung fpajieren ging —
fat) id) brei Sterne mitten jwifdjen 3Bolfen. Da* ffnb meine brei Opern, bad)t
id>. 9?un werbe id) ein SReifterftucf madjen, nadjbem id) biefe beiben Skrfudje
glucflid) beenbet. Da foll alle* »oll ?aune, ©emüt unb «Wefobie fein — e* fott
alle* jufrieben fein — ber Singer, ber Kenner unb ber Dummjte im <Publtfum.
Denn ber Dummfte im <Publifum ift bod) immer ein ©Ott, unb wenn
er fid) nur für ba* linfe ©ein einer Sanjerin entl)ufia*mtert, e* ift ib,m bod)
eine Art ibeale ©efriebigung — er nimmt bod), wenn nod) fo unbewußt,
Anteil an bem l)6d)ften wa* eine Station b,at unb woburd) fle ewig lebt —
an ibjem Äunftwerf — an ibjem $eiligjten.
*) %tx «rief (ictn 26. ftebruar) lautet: 3n ©rwiberung 3brrt @<$reibenl »cm 15. b. VM.
fttete in ©emäfbeit i>e*fr<r OnrfOfUrfung frinrr ffenigli*™ -öcbftt M (Sro^rrjog«, mrinre
^nätigfre n ^ux)ltn unb ijtxxn oem 23. t>. 91t«. bat Uiurtjnrtnf ttr (hr. f3oMs«borrn mitjutrilrn
We Ctrr, ba§ ^fc^ftrn Orte« über bie $*ih>orffcÜun3 jum 24. 3uni bereit« anberweit oetfugt
werben ifi unb baf bie Direftion brt ^Berrn Bagnet in Qbrer Opft eeteniffhno um fo rcentger
«ngemeffen erf^eint ali ^um fruberen «Verbieten {ufolge, Sie felb(e 3br Werf auf bjeftgrr
^pfbibne baten biriflieten wcUen, vcn» jebenfatM näbetliegenb unb fa^etnafer era^tet »erben muffe.
Üo<^a^tun9<»oU
t>et ©refbtjegl. «i^fif^e «enetoU3ntenbant be« fleftbeatert
(an.) 5- »• «NfteMMt
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24
ßorneliu* unb 28 agner: Unaefcrucfte ©riefe.
5Db id) fein (Streben iibcr brei ffierfe hinau* habe? O ja, auf fteben
flef>t wein Sinn — bod) »er weiß, ob mir ein fo lange* Seben geginnt ifl !
SBit breien fdjeibe id) wenigflen* gufrteben au« ber SBelt. 2lber Du foUft Did)
wunbern — mit ber erften Sjene »on meinem neuen Sert wirft Du feben,
baß id) bidjterifd) iwwer tiefer greife, baß id) auf eine wir nod) »erfdjleierre
— »oOenbete ©d>6nt>ett au*get)f.f — ©ahrenb biefen fünf Darren l)abe id)
mid) merflid) »eranbert. Siel Überreiztheit unb Sentimentalität habe id)
»on mir getan; ffiien t)at wohltätig auf mid) gewirft. 3d) weiß, baß ich
etwa* reifte unb leijlen werbe: geine muflfbramatifdje Arbeiten, unb bag
man tiefe jum ©ejten in ber 3eit ftellen wirb. Da* gibt mir Selbftbemußr*
fein unb Üttut. 3d) bin ruhig, gefunb, oerftdnbig, better.
Da* hat mir nun 2ßien eingebracht; id) fdjamte mid) oft, prafttfd) fo
jururf ju fein, aud) gefellfd)aftlid) — bei Stanbhartner* ufw., bie feljr gut
muflfalifd) flnb, war mir alle*, wa* id) leiflete, immer unter bem (Sanuf.
©efonber* aber batiert ffd) mein Anfang jum au*fübrenben «D?u|tfer von
Sriftan unb Sfolbe SBagner* her. Da übte id) monatelang an bem fd)weren
Söülowfdjen jflatuerau*jug unb friegte ihn bod) nid)t Hein, weif ber eben
fdjon für eine »ollenbet fertige Sedwif berechnet ifr. Da gab id) mich
wieber and ^ingerüben. Da* ging wirflid) gut im 3al)r 61 — 62. Da
aber würbe id) wieber burd) ®enf unb @ib unterbrod)en, ebenfo »orige*
\ahr burd) 3Hünd)en, wo id) wohl übte, aber Fingerübungen bod) ber armen
cllifabett) nid)t, aud) nicht in weiterer perlte, bieten burfte. Dafür nahm
id) f!e aber hier g(eid) wieber auf, nad)bem mein 7sn\; gereift war unb id)
wieber glütflid) bei meinen STOüller* faß, habe id) feit Oftober, alfo fafi feit
einem halben 3ahr, feinen Sag meine Fingerübungen unterlaffen. So btlbete
fid) jum erftenmal aud) mein Dhr für ben $on im Älaoierfpiel, unb icto
übte aud) in Stütfen, bie id) au*wenbig lernte jum erstenmal jebe <£tnjeU
heit bi* jur m6d)Ud)ften 2tbrunbung unb »ollenbung, unb heute nehme ich
immer wieber Dinge »or, bie id) Idngft beifeite gelegt, unb übe fte noa>
einmal neu. Da* hat mir nun aud) ba* lange 3ufammenwol)nen mit Sauffg
genü$t, ba horte id), wie ber übte. 3e£t habe id) fd)on ein Repertoire pon
jwei Sonaten von ©eethooen, fech* Stütf von ©ad), jebn oon Chopin, habe
baneben bie SBiolinfonaten »on $8ad) fo geübt, baß id) fte in ber 2at alle
fed)* recht anftünbig fpiele. So geht1* nun fort; aud) im Spielen vom
8Matt unb ^)artiturfpiel übe id) mid) — nad) ftefterer, eigner u7?ett)obe —
aud) bartn werbe id) meinen #erm Kollegen — nod) ihren 23orfprung ab-
gewinnen — aber mein btßd)en Didjtergenie lernen fte in ihrem ?eben
nid)t. — 3d) lerne ba* #anbwerf nod), mit bem fte fo groß tun — aber
meine Äunfl lernen ffe nie, benn mit ihr bin id) geboren, fie liegt im ©e*
banfen unb im ®emüt — unb ffe haben beibe* nicht — ober fet)r fchwad).
— ÜBien hat mir biefen großen Vorteil ber @infamfeit gebracht — eigentlich
jum erflenmal allein ju flehen — ohne wie in ©erlin auf ßonnerionen
— in SBBeimar auf @(ique mid) ju fiüfcen. Da habe id) in bitteren Stunben
emgefeben, wa* unb wieviel mir fehlt — unb — id) hole e* nad). Sit
SSftaar war tiefe ewige Erregtheit, 3erftreutl)eit, Verliebtheit, ?»rif — in
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ßorneliu* unb SBagner: Ungebrurfte ©riefe.
25
Berlin all biefe -unfcligcn Änei»en*SÖefanntfd)aften — unb unter all biefen
93efannten nid)t ein tieferer ftreunb, ber baä ©ute in meiner Natur burd)
ein fdjarfeS (Singreifen angefpornt hatte, ©ott fei Danf — bort Ijat mid>
mein guter ®eniu$ loägeriffen unb feitbem t>at mein r>6f)crcd Streben erfl
begonnen, id) tarn auä ber ©efellfdjaft oon jiemlid) leeren 3ect)brubern in
bie ©efellfchaft »on £nnfilern erflen Stange*. 3« mein 5Beg mar »en ber
Sorfidjt beftimmt unb fielje ba, fcf>ließlicf) bleibt mir »on bielen bod) einer,
aber biefer eine ift Sagner. (Sr treibt mir auS ber ©djweij, wo er
ftd) bei Dr. SiHe am 3»irid)er See beftnbet. <5r ijt je$t nod), im fünf*
jigften 3ahr, au« fdjmerjlichcn Sanblungen unb Lauterungen hervorgegangen
— aber (Sufanne, er ift fjaft bod) ber ©agner — ber bebeutenbfte *Poet
bei weitem in unfrer 3eit — unb id) fag* Dir, er ift eben bod) ein
brutfebed ©emut burd) unb burd) — in Leib unb Sreub, in$ugenb
unb ©unbe — ein 2D?enfd), ein Äinb, ein ©eniuö! — Unb e$ ijt
bod) $ule$t ein eignet Ding, baß id) cigent(id) ber Sttenfd) bin —
mit bem er fafl einjig nod) ju tun haben mill — id) üerfidjcre Did)
unter un$, bie Lifjt/ ©ülomS uf». ufm. ift er mube, aber mid)
will er immer unb immer. — %H er bie SefenbonW — aber bie*
bleibe ganj unter und — um ein 2ffnl anging, mar id) in feinem ©rief mit
inbegriffen — je$t tjat er fdjon wieber bei Stile* mein 3immer in bereit*
fchaft, unb id) werbe gewiß — wenn aud) erit nad) fopierter Partitur,
Hd)d, ad)t Sod)en bort jubringen. Da fierjd Du — nur wir Äunftler
protegieren einanber; bie SSometjmen unfrer 3eit ffnb gan$ faul. Denfe
Dir, meine Ugarte t)at nie mieber eine ©Übe »on fid) l)6ren laffen. 3«
meinem Lied)tenftein geh' id) nicht mel)r, weif er mit 1 1> r jufammenfydngt —
unb weiß ©ott, üon welchen Dingen ba bie mir auf bem 'Prdfentierteller
gebotene <Proteftion abfangen m6d)te. 2fbje! Unb meine <2alm* luben mid)
enb(id) neu(id) wieber ein, unb jwar warum, weil bie Hohenlohe1) mid) fd)neü
hinter bem dürfen tt>rcd Üttanne*, ber mit SDrben nad) (Schleswig gereift
war, einmal fehlen wollte. Da fab, ffe mid) benn, lub mid) ben anbern Sag
ju fid) fi» «nb hielt cd gewiffermaßen für nötig, mir gegenüber ihr &e*
nehmen gegen bie «Wutter unb Lifjt ju rechtfertigen. %d)l Diefe
Sriftofraten! ©ie wollen nur prallen unb glanjen unb mit fertigen
Berühmtheiten; aber eine $iefe — ein ©treben — ein ©eift — ift nid)t
mehr brin. Sflie mehr geb,e id) biefen Leuten nad); id) bin fo froh,, baß mir
ba* alle* »or meinen ©djwabenjafjrcn flar wirb.
3e$t fei »ielmal* gefußt, grüße bie Bertha unb bie lieben grauen**
leute, bie in bem ftejtfpiel gewiß fo überau* fd)6n mitgewirff.
3d) fchreib Dir balb wieber! Dein 9>eter.
Xid>art> Wagner an peter Cornelius.
[SKariafelb bei teilen, 8. Tfprtl 1864.)
Üftein lieber ^>cter!
Sae mid) eigentlich fo franf unb leben*uberbrufjig gemacht bat, fmb
meine in ben legten 3eiten gemachten Erfahrungen an ben ^erfonen, ba»on,
'} ftürfrin IHarif ten ^cbenlcbf, Zcüttt ttx $urftin «Btttgrnftan.
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26
Sorneliu* unb SSagner: Ungebrutfte ©riefe.
wie wenig ernjt im ©runbe e* mit ber Teilnahme ber allermetften ift! 3n
biefen Sagen nun peinige ich mich mieber bon Stunbe ju Stunbe ber An*
fünft be* ©rieftrdger* entgegen, um auf meine an £)id) wie an Stanbhartner
gerichteten bringenben ©itten wegen einer 9^ad)rid)t über ben Stanb metner
binterlafienen Angelegenheiten, auef) nur irgenbeine Sttotij ju erhalten, ©tanb*
bartner ift fo freunblid), beute wieberum in «Penjing für mid) angefommene
©riefe mir ju überfenben: er fügt bem wieberum auch nicht ein $Bort,
nicht einen ®ruß bei! — ©egreift 3b,r benn nicht, baß mid) bie* mel)r
dngftigen muß, al* bie aHerfdjlimmjte 9*ad)rtd)t felbft? £)ber fdjreibt mir
niemanb bloß be*wegen,( um fld) felbft nicht bie tyein ju machen, mir $ein*
liehe* $u melben? — Über bie* alle* müjjte enblid) aber bod) eine h"$*
hafte ^reunbfdjaft ffegen!
Uli eiche Dichtung e* mit mir nimmt, hängt ganj babon [ab], wie e*
fid) hinter mir geftaltet; id) habe barau* ba* SBormirltegenbe ju entnehmen.
@ef)t alle* fo im Schlechteren fort, wie e* bi*her ging, fo fann id) mir
nicht« ©uted mehr erwarten, ba id) bereit* foweit gebracht bin, jebe* hoffen
für berberblich ju hatten: ™e id) aber in folcher (Stimmung, bie mid) not*
wenbig tief leben*franf macht, ftreube am Äunftfchaffen gewinnen fott, muß
wohl jebermann, wenn er mein Älter unb meine Erfahrungen in ©etracht
jieht, für burchau* problematifd) tjalttn. —
ÜBie tuefifd) aber jeber Umftanb je&t gegen mich »erfuhr, magft 2>u
au* einem wieber erfehen. ÜKit Stanbhartner* erfter ©rieffenbung erhielt
ich au* SD?o*fau ein Schreiben, weicht* mir fagte, baß mein ©rief vom
2. Februar bort am 23. SBarj eingetroffen ift, unb baß mein ^reunb bie*
fehr beflagt, weil, ju rechter 3eit, fehr wohl ein Äonjertjoflu* für mid) ju
arrangieren gewefen fei, befien Ertrag, nach allen Anzeigen, für mid) fehr
borteilhaft au*gefallen fein würbe.
2ßie e* nun gefommen, baß mein ©rief, ben id) jur ©eforgung an
bie *Peter*burger £ofbame einfloß, unb überbejTen richtige 3Beiterbef6rberung
biefe mir berichtete, fo unbegreiflich föüt an meinen 9Äo*fauer ©efdjaft**
freunb gelangte, ift mir fo unbegreiflich, baß id) faft an eine Jtonfptrarion
glauben m6d)te. Üßie bem auch fei, — fehtefte ich meinen ©rief birefr, unb
fam er jur rechten 3eit an, fo fdme id) jefct bereit* wieber bon SD?o*fau
jurücf, mit jebenfaO* fo biel oerbientem ®elbe, um meinen Auejug au*
'Pcnjing mit Anftanb bor ffd) gehen ju laffen. — E* bleibt mir nun aller*
bing* bie Au*ffd)t, baß id) mit einem wohlorganifTcrtcn 3Binterfelb$ug in
SHußlanb nddjfte* 3ahr alle* berbienen fann, um meine ÜÖiener ©chulben
ju befahlen: Die* jebod) nur unter einer SBoraudfefcung, baß ftd) je$t biefe
Angelegenheit bort fo gehaltet, baß ff« mein ©emüt burd) ©efd)dmung unb
Unwürbigfeit nicht atl$ufet)r belallet.
3J?ein 3uftanb ift fehr unheimlich; er fchmanft auf einer fdjmalen
3unge: ein einjiger Stoß, unb e* hat ein Enbe, fo baß nicht* mehr au* mir
herausbringen ift, nicht*, nicht* mehr! —
Ein V td)t muß ftd) jeigen: Ein SÄenfd) muß mir erflehen, ber i t im
energifd) h»*ft, — bann habe id) noch bie Äraft, bie £ilfe ju bergelten:
fonft nicht — ba* fühle id)! —
ftreunb, bie Scbweij ift mir aud) ein Sotenfelb geworben, unb über*
I
(Sorneliud unb ffiagncr: Ungebrucfte ©riefe. 27
aO bm $httt id) geljen fallen, nur gerabe nid)t l)ierl)er, wo alle* mir Bitter
unb grabfeltg ift
Die einjige *Perfon, ben einzigen SÄenfdjen, ber mir gegenwärtig jur
ffiobltat werben fonnte, bitte id) allerbingS jeboef) fonfr nirgenbä antreffen
fennen, ald hier, Da$ ift meine $ßirtin, bie ganj einige ^rau Dr. Littel
Diefe $rau ift über alles ?ob ergaben, mit gar nid)t$ ju oergleidjen, buref)*
auö einjig. UBaö gefcheben fann, um mir ein angenefjmeä, namentlid) auch
jur Arbeit ferjr geeignete* Qlföl $u bieten, gefd)ief)t »oflftdnbig: fle bemüht
fid) fogar aud), mir wenigflen* fooiel ®elb ju »ermitteln, baß id) immer
nod) Ijoffen barf, meinen Sofalglaubigern nadjften* etwa* $u jagten, unb
fomit jebenfaU* etwa* jur ©efferung bed befdjamenben 2fnfdjeine$ meine*
Fortgänge« »on <Penjing beizutragen. Sftdge mir nur btefer 9?u$en nod)
anberfettö, burd) ben mir ganjfid) unbefannten Staub ber Dinge tjinter mir,
effen erhalten bleiben. Da* #rgerlid)fte hierfür ift bie 2Bol)nung*au*bietung:
lenn biefe erft bringt ben mir »erberblidjen ©djrecfen in alle*. ?ieber t)ätte
id> faft ba* £pfer ber »crlauftgen ©eiberjaltung ber ffior/nung nod) tragen
fetten.
(Soll e* nun bod) nod) mieber gefyen, unb — foll e*fid) . . .
machen, fo bebarf id) balb Deine* ©efudje*, lieber *Peter. Du
Hfl mir oollfiänbig an ba* «£erj gen>ad)fen, unb wa* mid) mit
meiner SBebmut erfüllt, ift baß Du mid) nid)t mel)r befud)fh 3d)
ftet>e wegen einiger Srjeaterrjonorare in Untertjanblung: 100 ©ulben finnteft
Du wo\)l fdjnett burd) mid) erhalten, wenn Du ju mir fommen wollteft, wo
tlle* für Did) bereit ift Da* laffe Dir bod) gefagt fein! —
%itUtid)t aber — tfift alle* m<f>t* met)r! SBaljrlid), id) ful)ld, e*
gel)t tief tnnerlid) mit mir ju <5nbe. SOfeine £rdnflid)feit tjilft nad) Gräften
;u biefrr Stimmung. 3d) bin jefct wieber fo matt unb üon meinem SMafen*
leiben böchft geplagt. (©tanbrjartner hat red)t, fld) nid)t mehr um mid) ju
fcefümmern. 3d) bat Did), mir »on itjm bie tropfen »erfdjreiben ju laffen.
6ag" it)m, id) hätte heute begonnen, S3td)»waffer be* SBormtttag* ju trinfen:
id) b6re, ec- hilft aud) gegen QMafenleiben; »ielleidjt ift cd baöfelbe, womit
rr mid) ju gleichem 3mecfe oerfat). 2ld) J^immel! Da* alles* gefd)iet)t nod)
in ber Hoffnung, baß e* überhaupt nod) gehen wirb: ob bie* ber Jvall fein
fann, werbe id) ja nun balb erfahren. 2Bie gefagt: (Jingute*, wahrhaft
l)ilfreid)e* ÜBunber muß mir jefct begegnen, fonft ip< aud! —
€uer furdjtbare« ©djweigen fd)eint mir anjubeuten, baf biefed liebliche
ffiunber je$t unterweg* ifi! —
3bio! ^reunbl — ©ud)' ben guten (5. Sifjt auf; fag' il)m »on mir
— bin1 ihn unb — banfe i^m! —
Umarme ©tanbljartner! — Der 3rme, fo fraftig er ifr, bin id) ib,m
bod) gewiß ju fdjwer! — Unb fo gar feine ^reube b,at er mit mir! <£r unb
niemanb! — Dod) — »ießeid)t häufig! 3Benn glucft, fann ed ib,m ge*
lingen für mid) an$ Äreuj gefd)(agen ju werben. (Sgl. ©ürgfdjaft!)
(5d ifl elenb — unb nidjt einmal tief! — Seb wol)l unb — wenn'*
gut gel)en foll — fo fomm balb $u mir!
Dein SRidjarb.
SRanafelb bei «Weilen. (Santon 3nrt^. 8. Äpril 1864.
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28
(Sorneltud unb ffiagner: Ungebrucfte ©riefe.
&i$«rt> XOaQmv «n peter Corneliue.
Starnberg, 31. ffi*ai 1864.
SKein lieber <Petcr!
3d) fudje meinen 2fbfd)luß ju madjen, um Mar ju wtffen, »ad id)
bcfifce unb welchem id) ju entfagen !)abe. Die (Station meined Scbend, auf
ber id) angelangt bin, erforbert bied: id) muß meine 9tul)e organifTeren, fei
ed — wie gefagt — burd) ©cjty, ober burdt (Jntfagung.
5Bieberr)olt l)abe id) Dir gemelbet, baß id) Ijier afled forgfam für Deinen
Empfang t)ergerid)tet habe. UBir jwci, unb n>er fonjl nod), finnen »6llig
unabhängig einer »om anbern hier neben und häufen, jeber feiner 2frbeit,
feiner ?aune naef^rhnt, unb bod) tft ber ®enuß ber Oemeinfamfeit jeben
2Tugenblicf ermigltdjt. Dein ftlügel, ber mid) nid)t frort, ficht bereit: ein
gefüllter 3igarrcnfajlen erwartet Did) auf Deinem 3inimer ufw. Died,
lieber 9>eter, ifl (5ifer! Diefer »erlangt (Jrwiberung ober — er fdjlagt
»ollflänbig um. — Durd) porged laßejl Du, ber mir auf alle biefe
Reibungen nod) nid)t mit einer 3e»Ic erwibert t)afl, mir fagen, cd tdte Dir
leib, nidjt fommen gu f6nnen; Du r)abe(l Dir »orgenommen, in ben nadjflen
brei STOonaten Deinen (5ib umzuarbeiten unb müßtefl hierfür in ffiien bleiben. —
3Bad ifl nun rattidjer, lieber »Pcter, baß wir über biefed fonberbare
93ener)tnen reben ober — fdjwcigen? — 3d) muß fafl glauben, bad Schweigen
fei bejfer, ba — feljr erffd)tlid) — fyifrunter etmad »erborgen ifl, wad beim
©efpredjen nid)t flar wirb, fonbern im (Gegenteil nur entfleUt unb »ertufd)t
werben fann. — 2(lled im £eben entfd)eibet fd)ließlid) ber unwillfürltd)e Srieb:
wir werben angezogen unb abgeflogen, trofc allem, wad wir fonfl bagegen
t>er»orbringen mögen, ^rage id) wie biefer Srieb ffd) fd)on juoor bei Dir
in bejug auf mid) geäußert, fo fallt bie Unterfud)ung nid)t $u meinem Vor-
teil aud. Wenau beute »or jwei jähren erwartete id) Did) fef)nfüd)tig in
3Mebncb: lange %tit blieb aber jebe Sfladjridjt aud, biö id) »läfclid) burd)
einen britten erfahre, Du t>abcfl Did) »on Saufig nad) ®enf jicl>cn (äffen.
Du baf* 9««J erfahren, wie tief mid) bie* »eriiimmte.
(Stmad ^fr>nlid)rd foll nun biedmal nid)t fid) ereignen; fonbern wir
muffen ald Scanner und offen audeinanberfefcen. —
Deine ©rünbe, medtjalb Du Did) meiner (Sorgfalt für Deine Urbtiti*
muße nid)t anoertrauen willjt, barf id) nid)t gelten laffen. #eute »orm 3at)re
»erlicßefl Du UBien unb gingfl nad) $?und)en, um un gefrort arbeiten $u
fönnen. 'And) id) will f)ier unb je$t arbeiten: ÜÖic Dein (5ib aber meine
Sföeiflerfmger frören follten, fann id) ebenfowenig begreifen, wie bad Ilm
gefe^rte. 3m ©egenteil, mid) beflimmt aud) eine (Sorge um Did) unb Deine
Arbeit. 3d) wünfdjte fef)r — bad fage id) Dir offen — bei ber Umarbeitung
Deiner £>per red)t innig unb traulid) Dir meine 9tatfd)ldge erteilen $u
fonnen. ©illfl Du gerabe bem Did) aber entjieljen, — nun, fo ifl bad
»Sadjc bed 2Billcnd, unb allerbingd laßt fid) Darüber nid)t reben. —
Dod) irrte id) wot)l, ald id) anführte, baß Du »orm 3at)r nad) 2Wünd)en
gingfl, eben um beffer ju arbeiten; »ieUeid)t gingfl Du aud), weil ed Did)
»on ffiten trieb. 2Kir ifl, ald ob Du fo ttwai eingeflanben. Sielleidjt f&flt
ed Dir nun biedmal aud bem umgefeljrtcn ©runbe fdjwer, SBien ju »erlaffen.
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(Sorneliu* unb 2Bagner: Ungebrucfte SÖriefe.
29
9?utt, wo ba* Jpcrj un* bewältigt, bleibt alle* übrige madjtlo*! Seljr ernfl*
lief) muß id) in tiefem fünfte nur münfdjen, baß Du Did) bei biefer ©e*
walrigung nur and) glüdlid) unb ljoffnung*üoll fühjft. Oft bie* nid)t, bann
wäre bod) »ieüeidtf nod) ein &reunbe*rat ju l)6ren, unb n6tigenfatt* ber
©ewalt nidjt fo fetjr au*juweid)en.
Unter allen Umfidnben wäre ein offenere* ©encljmen gegen mid) fd)6n.
Dein jefcige* Serb.alten ijt, meinem @ifer gegenüber, gerabeweg* beletbigenb
unb — al* fold)e* empftnbe id) e* bereit*.
(Somit, lieber 9>eter, mußt Du mir, ber id) eben notwenbig jefet meinen
2fbfd)luß fudje, e* nierjt »erubeln, wenn id) Dir für ganj benimmt biefen
<Ed)luß meiner ftreitenben @mpfinbungen mitteile.
@ntweber ?u nimmft jefct unoerjüglid) meine Grinlabung an
unb ridjteft Did) baburd) für alle 2eben*jeit etwa ju einem wirf«
liefen l)du*ltdjen ?eben*bunbe mit mir ein.
Ober — Du »erfd)mdf)ft mid), unb entfagft baburd) au*brücf*
iid) bem SBunfdje mit mir Did) ju »ereinen. 3m lefcten galle ent*
fage id) Dir ebenfall* gan$ unb »ollftdnbig unb jielje Did) in
feiner ÜBeife meb,r in meine 2eben*einrid)tungen. —
33on bem ©rabe Deine* Vertrauen*, in betreff ber Mitteilung betner
©rünbe wirb unb muß e* ferner abfangen, ob wir überhaupt »om (5d)itffal
ju fernerem $rcunbe*oerferjr beflimmt jTnb. —
Du erfiet)ft Ijierau* eine*, — wie fefjr id) ber Ütutje bebarf. Daju
geb,6rt, befhmmt $u wiffen, woran id) bin: SP? ein jefyiger 3ufamment)ang
mit Dir peinigt mid) furchtbar. <£r muß »ollftdnbig werben, ober
gdnjlid) reißen! —
^offentlid) erfennflDu in biefem (Srnfte ber Euffaffung meine*
3*erl)dltniffe* ju Dir ba* »ollfte ©egenteil »on @eringfd)d$ung.
#er$lid)e ©ruße »on Deinem 9lid)arb.
peter £orneliu« an ferne 0d>rt*fter Öufantie.
[ÜBien, 24. 3uni 1864].
£eil eufe!
— 3e$t wirb e* mit bem ($ib ernft. Orr foß am 18. Dezember in
ÜBeimar gegeben werben, bod) muß id) bie Partitur am 25. 3ugufi abliefern.
v5 o habe id) jefet »ollauf mit ber legten *Keinfd)rift ju tun, bie jugleid) Um*
arbeitung tfh Dod) nun fugt ffd) ©ogen $u SBogen. Ed), id) l>6re wenig
öon braußen. 3ud) ber <5life ®eburt*tag f)abe id) Perfdumt! Dod) in
©ebanfen feiere id) ba* alle*. £eute trieb mid) enblid) tföljler* ®eburt*tag
jutn (Schreiben; obwohl id) nid)t in feiner ©djulb bin, unfre legten ©riefe
freuten jid). Eud) in Deiner ©djulb bin id) nid)t, ©ufanne, benn id) h,atte
Dir furj twr Deinem ©eburt*tag $ule$t gefchrteben. — «Seitbem ifl bie
ÜBcnbung in 5Bagner* <£d)itffal eingetreten. 2Benbung? wofyl faum!
— Leiber finb wir, »ielleidjt für immer, au*einanber. @r fd)rieb
mir: Äomm nad) Starnberg — fomm für immer — ober id) Ijabe
aud) gar nid)t* meljr mit Dir ju tun. — Od) fonnte ba* nid)tein*
getyen — ba ber @ib immer feit Februar fdjon fpufte — unb nun lebenbig
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30
l£ornelui« unb ü'^ancr ; Ungetrucfte Q3riefc.
beranfommt — unb bei ÜÖagner hätte id) feine Siote gefchrieben.
Da« wußte ich, wie gefcbworen. — 3(ud) wdre id) nur eine 3fr t geiftige«
Wlbbel für ihn, ol)ne (Jinffuß auf fein ?eben, foweit e« tiefer liegt.
— Äurj, id) fenbe Dir feinen ©rief mit. Sage, ob man einem ^reunb fo
ein Ober fleßt: entweber aan$, mit Jßaut unb #aar — ober gar nicht. 3 cd
Ijab* mid) ©agner nie aufgebrangt. 3d) freute mid) r>erg(tcf> feiner
^reunbfchaft, mar itym aufrichtig jugctan in 2ßort unb Zat. Tibet
fein ?eben \u teilen — ba« locft mid) nid)t. 3d) fjabe fo wa« burdv
gemacht. SBit ?if$t. Da tat id) aße« nai», au« innerem ?eben«brang.
Unterbeffen bin id) ein SWann geworben, unb miß meinen ÜBinfel in ber
ÜBelt für mid) haben, wie ber £unb feine £ütte. Sftit 2fd> unb tfrad), mit
$ür unb SBiber, mit 9h>t unb Suff — aber id), id) felber. £eü mir, id)
bin ein freier 2Bann — ei feljlt nod) »iel, baß alle* gut fei — aber
fein £6ber, feine Dingel fangt mich ein.
SKom hat aud) wieber gelocft unb geblinzelt. STOag'« nicht. SRit ber
2Tugenoerbreberei unb ©cpdpftel« unb ®efarbindlfe(«. 2fd) fo geht bod) mit
<£urer &om6bie! — 3e$t wirb mein bißchen (5ib fertig. Da« ifl mein ÜBeg.
Da« jeigt mir ba« ©efchicf. 3d) arbeite auf SÖefleßung, mein Sag ifl fd)on
angefefct. $ünfjef)n ^riebrid)«bor frieg* id). SHein <Sd)icffal unb mein Talent
ifl auch ein«, id) nehm'« au« ®otte« »£anb, id) will e« fo unb bin aufrieben.
— 3d) weiß nicht« »on biefer ®enußfud)t, biefem grimmigen 2£atcrialt«mu«,
ber jenen guten greunb am ©chopf hat. Unb wer fleht mir bafür, baß e«
nicht einfl b*»ß* — "*) k& bod) gern mit bem Sifot Champagner getrunfen
— unb gar jefct wieber mit bem Sffiagner. ÜBeiß ®ott, ob id) ba« Söeffere
f uchte unb wa« liefere« wofltc unb ob id) mid) mit 3P?ühe »on allem geifligen
SRetj, aßer moralifchen Hummelei fud)te Io«jureißen, um meinen Qtarbter ju
fchreiben — bann meinen <§tb. Dann aber wa« »iel SÖeffere«. 2tber ba« finbet
man nicht bei Sifgt, fo freunblicb er in, nicht bei 2Bagner, fo tnrannifd) er
feine allein feligmadjenbe ^reunbfdjaft anbietet — fonbern in ffd) felber.
Sufe, bifl Du benn nod) mein, gfaubjl Du benn noch an mid)? Du
unb MtyUv, bem id) aud) »orl)tn fdjrieb: 9?ur fein @d)ißer! „©ie wanbten
treulo« ihre Schritte, unb einer nad) bem anbern wid)!" — SBein, id) weiß,
Dein £erj flecft je$t tief brin. Stecht fo, ba« muß afle« erlebt fein, id) nel)nT
Dir'« noch in jwanjig Sahren nicht übel. Du warft mir überhaupt manchmal
fchon ein bißchen fet>r mabamig — fo, weißt Du, in ber ganzen Umgebung,
je$t Iduft ba« #erj nod) einmal mit Dir ba»on — ad) ba« ifl fdjon —
ba« muß fein. ÜBid) haü Du benn auch in aß jener 3eit faß »crrcöbnt — aber
glaubfl Du, id) »erfleh' ba« nicht, glaubfl Du, id) bin ein fo bornierte« Sieh,
ba« nur gang fo al« fchulbigen Tribut t)in$uucbmeu unb gar ju forbern?
Jßatt' id) bod) aud) brunter $u leiben — wie Du g(eid) »erjwcifclt marü
über jebe ?umperei »om lieben 3beal*^)eter — wie er in ©aljburg faß unb
fein ®elb hatte. 3d> fag' Dir, ©ufe, (aß Did) aß ba« nicht reuen, e« muß
fo fein. ÜBie fd)aut'« nun au«? Unb ifl aße« recht arg? Ober ein bißchen
befier? — 3Benn Du red)t unglücflid) bifl, wa« @ott nicht woße — fo forfche
bod) einmal nad) ben ©riefen »on ber Sefpinajfe,1) auf ba« ©ud) bin id)
>) 3ulir be e. (1732-76) »Lettres« ^ari« 1809.
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(Eorncliud unb 2Dogner: Ungebrucfte Q3riefe.
31
redjt gefpannt — ed muß bad unmittelbarfte im fludbrurf bed Versend fein,
weit über SKouffeau t}inaui. Diefe geiftoolle grau war in einen ganj ober*
flädjlidjen platten Äauj unglütftid) perliebt, wie bie arme ©appljo. 2Wtß*
»erflefje mid) nid)t, aber ein fd)6ned ©ud) ift immer ein SMifcabletter in ben
©ewtttern bed eignen Sebent, ffiie tief würbe ©oetlje mißoerftanben »on
benen, bie fein fflertfyer ju £ataftropl)en Einriß, ©erabe umgefe^rt —
meint fo ein Ijerrlidjer, ewiger ©eift.
@rjal)le Jedermann, baß id) — ÜBalter Scott fefe, unb mit wahrer
freute. 3Bagner empfahl mir einiget — Vu weißt aud) bie weiße Dame
ift aud ihm entnommen — moraud nod) einmal eine gute Oper $u ftnben
fein möd)te. Unb ba bleib" id) nun mdif bei ben paar @in$elt)eiten, fonbern
toiü ben ganjen Dichter fennen. Unb ba bin id) benn bem •ßitmnel grateful
for the care, baß id) bad bißd)en <5ngtifd) weiß, ed ermuntert mid) neben*
bei ju meinen flawifd)en unb ungartfdjen ©tubien — bie 3bee — baß alle*
bad nidjt umfonft ift. Denn au* bem unoerfalfdjten Duett bed Did)terd
fd)6pfe id) bie reidjften @inbrucfe — ed ift bie Stmofpbare aud meldjer ber
ftunfen jur britten Oper fyeraudfd)lagen wirb. 2fud) (5alberon unb bie
Spanier l)abe id) »iel gelefen — aud) ba fegne id) mein bißd)en ©panifd)
— ed oerfd)aft mir Partitur ftatt ÄfaPieraudjug oon fo einem Did)ter.
— 2fud) ben (5ib »on bem herrlichen Salenjianer: ©uillen be ($aftro
lad id) in SWündjen, ein ©tücf oon ©fyafefpearefdjem ©eift, welchem Corneille
wal)rlid) eine 2Tttongeperütfe aufgefefct f>at.
©ei fleißig gefußt von deinem ^>eter.
peter Cornelius an feine tttutter.
ffiien, am 8. Oftober 1864
©onntag morgend.
Siebed 2ttütterd)en!
fÜ?ein fofange »erjogerter ©rief $u deinem ©eburtdtag ift beute feI6|t
nur furj, enthält aber eine gute 9?ad)rid)t, für weldje Du ©Ott »on bergen
banfen wirft.
£ied umfteljenben ©rief oon ©agner an mid)! —
Sieber <Peter!
3m befonbern Auftrage ©r. Sttajeftat bed Ä6nig Subwig II. oon
©apern Ijabe id) Did) aufjuforbern, fobalb Du fannft, nad) STOundjen
uberjufiebeln, bort Deiner Äunft ju leben, ber befonbern Auftrage bed
£6nigd gewartig, unb mir, Deinem greunbe ald ftreunb beljilflid) ;u fein.
Dir ift vom Sage Deiner Xnfunft an ein jährlicher ©ehalt oon
eintaufenb ©ulben aud ber tfabtnettdfaffe ©r. SWajeftät angewiesen.
SSon J&erjen Dein greunb
©riennerftraße dir. 21. 9tid)arb SBagner.
©o ftellt jld) mein Seben auf bie ©djwabenjaljre !)inaud nod) ganj
leiblid). STOein* (5ib ift fertig, nur ben britten 71U b,abe id) nod) abjufdjreiben.
Dad Witt id) nod) in 3Bien oottenben.
SRutterdjen, balb mel)r unb ©uted. Saufenb ©ulben ftnb beffer ald
taufenb SBorte! — ©o baft Du bod) auf Deine alten Sage nod) biefe
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32
SDerubigung! 33ieUeid)t febe id) Did) balb! ©etraumt t)a6e id) »iel »on Dir
in Der lefcten 3ett! SBit ©ruf unb tfuß an bie ©d)iio*!
Dein *Peter.
^id>art> tDagncr an peter dorneüue.
Sttünd)en, fcriennerjtraße 21, 12. Oftober 1864.
lieber <Peter!
3d) banfe Dir, baß Du foramen willft. Deine Berufung r>ierr>er faffe
rcdjt einfad) auf. Wltin f)o!ber $önig, »on befien ©d)6n^eit unb Jßerrlidjfeit
Du Dir feinen begriff machen fannir, war glüeflid), mir alle* $u gemdbren,
wa* id) jur Sollenbung meiner $Berfe bebarf. 3d) ba&e tb"» bie Buffübrung
be* Sflibelungenringe* in brei Sabren »erfprocfjen. <5r tybt mid) b"H« *n
bie ffiolfen, um bort, befreit »on aller £eben*gemeinbeit, nur meiner Äunfl
$u leben. Dod) fann id» nid)t allein fein. ©d)on im ©ommer ifabt id) mir
SÖülom erbeten — er flebelt mit $rau unb Äinb ndd)ften 3Ronat über. Sttun
fehlte |l Du nodi: je$t erbat id) Did) mir; unb bu battefi bie ftreube (eben
fotten, mit welcher ber bimmlifaV 3üng(ing mir auftrug, Did) ju berufen.
— (St erfuhr aber aud) burd) mid), wa* Du außerbem, baß Du mein greunb
bift, nod) feieft. Unb hierauf lege id) befonber* trief. 3d) barf nid)t allein
fein, t)et@t nid)t nur, id) barf nid)t obne ftreunb fein, ber mid) »erfleht unb
mir rjtlft/ fonbern id) muß Diejenigen b<»öen, bie mit mir $um gleichen 3iele
(Ireben, eine neue ©djule grunben, nötigenfalls mein eigne* ©erf »ollenben
f6nnen. Deine eignen ffierfe jtnb mir fomit gleidj widjtig: Du foUft fle
t)ier fd)6n auffuhren f6nnen!
9?od) eine*: id) t)6rte au* SÄainj, baß e* Dir biefen ©ommer fetjr
fd)led)t gegangen fein mußte. Die*, lieber <Peter, muß bod) ein Grnbe baben,
fobalb e* mir gut gebt: Da Du nun nidu ju mir nad) Starnberg fommen
woUteft, wo Du md)t* oon ©orge ober Entbehrung erfahren fjdttefr, mußte
id) enblid) wobl im tarnen eine* Äönig* Did) jum kommen aufforbern. —
.Komm nun, wenn Du willft, erjt im Dezember; ift an biefer 93er$6gerung
^Pebanterie fd)ulb, fo follteft Du f!e $war überroinben: man muß nid)t ^ebant
fein. 3m Anfang Sttooember gebe id) ben fliegenben JßoUdnber unb eine
lefctmalige 2fuffübrung meiner Fragmente, woju ©djnorr fommt. Der
.Sfdnig b«* fcülow eingelaben, l)ier|u bereit* in 2ttünd)en einjutreffen; er
würbe ffd) fet)r freuen, aud) Did) um biefe 3ett fcfjon t)itr ju wiffen. 3e*
bod), wie Du wiflit! —
Sflur bitte id) Did), fd)reibe a(*ba(b an ben tfönig nad) Jpohciu-
feftwangau, wobin er »orgeftern wieber auf 2—3 9Öodjen jurütfgegangen
ift ©abreibe tbm warm unb innig, mit größter ftretyeit: Du wirft ibm ba*
mit fd)ned oertraut werben. SD?e(be ibm bie 3eit Deiner tiberfTeblung unb
— mad)e ibm greube! — 3d) war leythin fafl oerfud)t, oor ibm nieber«
jufatlcit unb ihn anzubeten, ©laub mir; mit bem J\it e* eine ^etoanbtnt*"
— ber i|l nid)t „oon biefer 3Belt". — 2Ufo! bebalt' mid) lieb! 5u' wie
Du willft, unb fei gewiß, baß Du mir teuer bifl.
©rüß' bie gute ^uppe!
2Jon J^erjen Dein iHid)arb ffiagner.
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(Sornelui* unb Söagnet: Ungebrucfte ©riefe. 33
?if$t tjÄtte aud) id) nidjt ju fefyen befommen, wenn er nidjt ben «£an*
aufgefud)t rjütte, ber (>irr franf lag. Gr f)at mir fef>r gefallen, ©ruße SaufTg
oon it)m unb mir: ?ifet fpielte bei mir feine ©iener ©otreen mit »oirflid>
großer ftreube baran unb lobte fic ungemein. 9Ätr banfte er ganj perfänlid)
unb feurigjl für mein Damalige* Anerbieten, Deinen Gib in ©eimar ju
birigieren, »ooon er gehört hatte. 9Äan fann ifym nur barum gram fein,
baß er und fomenig angehört. SKun, ba* bat einmal aud) „feine ©eroanbtni*". 1 )
3d) offne biefen ©rief nod) einmal, weil id) bei abermaliger Durdj*
lefung Deine* Briefe* beutlidjer erfenne, baß Du eigentlich nid)t* oon be*
Ädnig* Berufung wiffen willft. 9?un befcrjwöre id) Did), Dir hierüber feine
icnchen Cyrillen machen. Der ©et)alt, ben Dir ber #6 mg jahlt, fann,
wenn Du null fr, aller 3Belt oerfdjwiegen bleiben. Du empfangft feinen
Sitel, feine SBerpfüdjtung bamtt: e* ift ein reiner 8reunbfd)aft*btenfi, ben
mein ^reunb meinem ^reunbe erweift. AHe* ift hier tbealifd), rein unb ebel!
Ilm ©ottc* willen, fein pebantifd)e* Sftdfeln: fei fo frei unb ebel al* e* mein
Ä6nig ift. Leiter oerlange id) nid)t*! ©eruf)ige mid) hierüber, id) bitte Dtd>!
peter (Corneliue an feinen 35ruÖcr <£arl.
üßien, 26. Ettooember [1864].
lieber Garl!
©eftern abenb um ad)t Uhr Ijabe id) ben britten unb lefcten Aft in
fcer 9leinfd)rift »ollenber. 3n einigen Sagen fann nun alle* nad) ÜBeimar
abgeben. @ben trage id) ben britten Aft unb bie Partie be* Gib $um
©ucfjbinber. 3n ben oon mir felber beforgten einzelnen Partien mit tflaoier*
begleitung ift au0leicf> ber £laoierau*jug ber ganjen Oper enthalten, meldjer
nur oon einem »erftetnbigen Äopijten (wahrscheinlich, oon mir felber) jufammen*
aufteilt ju »erben braucht. Die* erflAre Dir aud) bie lange Dauer ber
Arbeit, id) habe im gangen ettoa 150 ©ogen, Partitur unb #laoierau*jug,
gearbeitet. — Die @»mpatb,ie, obwohl oon ben oerfidnbigen beuten mit SRedjt
in Abrebe gebellt, muß bod) nod) a(* ©efpenft umgeben — benn Dein ©rief war
*twa um bie Seit gefd)rieben, a(* id) oor Ungebulb brannte, ben (e$ten 3>ogcn,
ber nod) eine Ie$te Neuerung enthielt, fertig ju fchen. Seit gejtern bin tdj
rafenb frol), mad)e IManc 511m Sergnugen nad) 3nbien ober nad) 'pari* ju reifen.
Di« SÄündjner Berufung »erfegt mid) feit ^Bochen in eine anftrengenbe
@emüt*fpannung. 9?ur mit Jfampf gewann id) e* über mid) — nid)t ben
£tut)l ju rücfen — bi* bie lefcte Sttote 00m Gib jur Aufführung reif fei.
Sßie bin id) je$t belohnt, ba* gehalten ju Ijaben. 3d) f6nnte je$t in jebem
Augenblicf mit bem übermütig frohften $er|en nad) SBündjen fommen — unb
wäre fonft tote ein 00m 3urm gefallener bort herumgegangen.
Aber eine tteffte ©timme in mir fagt: ©eh/ nid)t b,in! Dicfe taufenb
©ulben jtnb nur eine Sßerlocfung be* Teufel*. Da fagt alle 3Öclt — ja
fca* muß er annehmen, ba* ift bod) enblid) einmal etwa*!
jd) fage: bem Gib nachlaufen, unb feinen ©d)ritt oon ihm meieren
— mit meinen 2Beimarfd)en ftreunben jeben Sag baju braud)en, um bie ©lut
!) Hnfriflung auf tif ftürftin fSittgmflfin, bir rine ©rgnttin ffiagtut« unb frinrt IrunjJ
grerfm war.
©nbbeutfefte SWonatS^cftt. II, I. 3
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34
(Semelüia unb ffiagner: Ungcfcrurfte ©riefe.
rc* bebend in ben »orbanbenen Sttarmorflefc ju bringen. Den Ohrfeig ab*
»arten — unb fo — gan$ burd) bie eigne Schwere, ganj auf mir
felber jtefjenb ben ^)Ia$ im Seben erringen.
3n ffiagner unb mir i\t etwa*, wa* merfmürbig jufammentrifft — ba*
gibt un* ben 3ug jueinanber. 3d) habe Siebe unb große Verehrung für
ihn, unb mürbe ihm aud) t)rr$(i(f) gern bie ©efriebigung gewahren, bei ihm
• i! fein — benn id) weiß — er entbehrt mid).
3fbcr mit Soltenbung bc* @tb trete id) in eine anbre 3eit. 3d) ^abe
je&t mein »olle* ©emußtfeüt, bie »eile fdjwererrungene 2Banne*fraft. $d>
bin jum mufifüoetifdjen Schaffen berufen, unb fyabe bie beiligfte Pflicht —
feinen Qfugcnblicf ju »crfüumen. 3n brei 3af)rcn muß ein neue*, belfere*
ÜBerf »on mir ba fein.
— Da* fann id) nidjt in ffiagner* 9?abe letften. Er fenfumiert
mid). Die taufenb ©ulben be* ÄÄnig* fmb nur eine neue ftorm für SBagncr*:
„$omm ju mir!"
Die fünf Safyre be* 2flleinfein* bflbcn neben aüen Irrtümern unb
Dehlern — bennod) mein ÜBefen geläutert. 3d) bin inbeffen, erft fpüt —
jum Spanne geworben — wie id) aud) fei. 3Bagncr* 3(tmofpl)drc
hat eine große S d) w ü 1 e, er »erbrennt unb nimmt mir bic
V'uft. 3d) l)abe tro£ attebem — am 28. Dftober — einen ©rief an ben
,f?6nig gerichtet, wie 2Bagner c* wünfd)te, annehme nb. Ded) tjabc
id) feitbem »on ÜJ?ünd)en nicht* get)6rt al* Deine SBorte.
Die nächtfen Sage müjfen einen Entfdjeib bringen. — 3d) foll nad>
UB e i m a r, b o r t b i n ift mein entfd)iebenfte* ÜBoOen gerichtet — ba n n n a d>
bortiger Aufführung — mit aller ftreube ju 9Bagn er — jum ©efudi.
Scib alle gefügt »on Eurem ©nfel 9>eter.
2Ue£arfc tPagner an petcr Cornelius.
Sttündjen, 24. Dezember 1864.
Sieber ^)eter!
Dein ©rief belehrt mid), baß id) auf Deine barin enthaltene Angabe, Du
werbejc »ermutlid) am jmeiten geiertage in ÜÄünchen fein, nid)t tfreng galten
barf, unb fürd)te baf)er, Du f6nnte|t fogar erft nod) einen ©rief oen mir ab*
warten motten. — Um meinerfeit* nun nicht* ju »erfüumen, maß Did) mieberum
mit Ungewißst erfüllen finnte, fd)reibe id) Dir biefc* wenige nod) nad) SBien.
Daß Du nod) in ÜBten fetefl, erfuhr id) erft fürjlieh; bi* babm »er-
mutete id) Did) in SBeimar, weil mir bie ©efchaftigung mit ber Aufführung
Deiner Oper bie günftigjte Erf Idrung für Dein Au*bleibcn ober Schweigen fernen.
— Dem &6nig t|t e*, nad)bem er Deinen ©rief erhalten, gegangen wie mir:
er hat geglaubt, atternüchften* Did) »erfänlid) begrüßen ju f6nnen, worauf
er ffd) »on ganjem $erjen freute, nadjbem ihm eben Dein ©rief bic aller*
angenehmften Erwartungen »on Deiner $>erfon erweeft hatte. 3d) gelangte
nid)t baju, über biefe einfache unb natürliche ffiirfung Deine* ©riefe* hina*'*
nod) etwa* anbre* hierüber ju erfahren. 93on ^fiftermeifter* ©efdlligfeiten
wirft Du gewiß bie günfhgen Erfahrungen machen, fobalb Du tjitr btft unb
Did) ihm mitzuteilen Seranlaffung nimmjl. E* ift eben nur wünfd)en*wert,
(Jorncliu* unb ffiagner: Ungetrurftc Q3rtefc.
35
tag Tu Tid) perf6nlid> »oit ber 9iid)tigfeit meiner SBerftcherungen überjeugfr
unb £etn perf6nlid)e* (Jrfdjeinen an feine weiteren Q)ebingungen fniipfeft . . .
Ta$ e* £ir fchwer wirb, »on flBien ju (Reiben, fann ich gut Begreifen,
ba i d) felbft, wie Tu bid) enrfinnjt, eine 3cirfang alle* aufbot, meine SKücf*
feljr nad) SBien ju erm6glid)en. UafJ £u aber wahnetf, e* l)dtte biefe 3n*
hänglichfeit eben „SBien" ber „tfaiferftabt" gegolten, hat mid) in ein feltfame*
Chrftaunen »erfefct. Tu wetflt beffer al* jemanb, wie id) ba* ÜBien, »on
oem ich mid) fdjwer trennte, fofort mir am Starnberger @ee ju refonflruiercn
fud>re : Tu weigt, welchen leibenfehaftlichen @ifer id) baran fe$e, Tid), Jßetnrich
^orgeö, jum ©efuch felbft ©tanbbartner, borthin ju locfcn. Tu mußt aud)
erfahren haben, wie fair unb gleichgültig id) im 3uni b. 3. nad) einem furgen,
nur gefchdftlidien Aufenthalt ÜÖten ben JRucfen wanbte, nad)bem id) bie
Überzeugung gewonnen, batf id) in e t n ÜBien nid)t mit mir nehmen fonnte
— unb »ermedjfelft meine (Jmpfinbungen in biefer SDejiehjung je$t mit ben*
jenigen, bie £ir gegenwärtig in betreff ber „fötiferjiabt" anjufommen fdjeinen?
— 2Öie fonberbar fremb Tu Tid) mir bod) machen willft! — 3Tud) an
Heinrich «Porge* benfe id) »iel unb ernjHid). @r r)ar e* mir, al* id) für
fein J$ierf)erfommen einen ertfen, perfönlidjen 3fnfnüpfung*punft fudjte, red)t
fd)Wer gemacht, unb jiemlich troden unb gefdjdftltch mir eben nur bie Sorteile
feine* ffiiener Aufenthalte* entgegengefefct. Tod) wirb ftd) vielleicht auch
auf biefem $8ege ber (£inigung*punft für und ftnben, unb id) benfe aud>
ihm nod) \u beweifen, welche 3(n$ier)ung e* war, bie mid) im April nach
©ien jururfoerlangen lief, unb baf bte* ganj gewiß nicht ba* menfehen*
gefüllt? Mal ber tfaiferftabt war. —
lieber ^eter! Sttimm e* bte*mal ernfl, recht ernft! 5ßon bem, wa* tyer
— nid)t in „SWundjen", fonbern im Schule btefe* ibeafen 3ungltng*, ben
ba* Sdjicffal jum £6nig »on SBaoern berufen hat, möglich ift, fannfr Tu
Tir in 2Öien feinen ©egriff machen. 2lßed — ba* ©roflte, Sbealtfe! »ber
— ÜRenfchen, tüchtige, hochbegabte, brunftige Sttenfchen »on ernftem ©illen
r-ebarf* baju: allein fann id) nicht*. — -£ier ift alle* gefagt! —
Sann felje id) ©id)? ffion ^erjc„ ^ein ^ ^
peter (tortieltue an 3ofef 0tanS>|>artner!
München, 14. Sanuar 1865 05am*rag).
Sttein teurer ftreunb!
©eftern fyabt id) mit bem £6nig gefprochen. Um biefelbe 3*it faft,
al* id) Tir eben fchreibe. <5r ha*** fefan *i«c ©tunbc »orhjer mit »ier
Herren lange Oefpradje gehabt. Tie erjlen waren jwei (Srafen ^appenheim, in
efterreid)ifd)er Uniform, ein prdd)tiger ^ufar unb ein Snfanterift. Dann fam
ein biefer ftinanjmann unb ein magrer ®elet)rter. Tai ^atf er fd)on furjer ab*
machen fönnen; $u ben ©rafen hdtf er fagen fdnnen: 3ch fenne ja meine Rappen*
heiraer, unb ju ben jwei anbern: X)tcfer, teif bem STOagern a biffl wa* mit.
Tod) enblid) fam id), Pappenheimer an ©effnnung, biefer ©elehrter
unb magreT ^inanjier in einer ^erfon, unb Se. STOajeflat höben mir, glaub*
idj, bemtodj bie langfte »ubienj oon allen gegeben. 2Beißt Tu, lieber,
3»
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36
(iorneltud unb ffiagner: Ungebrurfte ©riefe.
©agner bat nid)t Unrecht in allem, cö tu ein gang befonberer Qttenfd),
?ubwig ber 3weite. — Da* erfte, »ad id) für ib;n tat, nad)bem id) bod)
fd)on einmal meinen ©efyalt bejiehe, ift, baß td) ib,n im ftiHen jum äatfer
»on Deutfdjlanb ernannte, (Sinjelne* weiß id) nicht, fobalb id) einmal oor
irjn trat, fab, id) ib,m nur immer in bie Bugen, wie einem 26wen, ben man
jatjm mad)en will, unb nun fam id) nid)t mel)r lo$, weiß nicht, trug er
(£pauletted unb ©tern unb bergletchen me})r! Xfleä detail fdjmtljt in ben
©efamteinbruef einer be$aubernben ©üte, einer ungetrübten Unfd)ulb, eine*
ibealen t)of)en (£rnfte$. 3d) fagte im ?aufe bee" ©efprädjd: 3d) bin fd)on
ein alter tfnabe bon oierjig fahren, aber <£m. $0?ajefiat $u (eben »erjungt
mid), unb gibt mir Wlüt febr alt ;u werben. Unb bad ift feine "Phrafe;
ed ift it)m gegenüber eine iöabrbcit aui bem #erjen. 3n jeber Sacfe ober
m uttc würbe biefer STOenfd) aUe «£crjen gewinnen, unb jeber würbe fragen:
©er ift ber? ©ie tyeißt er? ©en n er ju einer ©d)lagerei auf ber ©trage
träte unb fagte: ©a$ b,abt ib,r benn, »ertragt eud) boch, geh,' jeber ruhig
feine* ©eg* — e* würbe fo gefd)eh,en unb feiner würbe erfi fragen: ©ad
t)at ber und ju fagen?
«Weine ©tunbe ruft mid) halb ju ©agner $um $ifd) unb id) lafp e*
bei biefer telegraphieren Depefdje bemenben. ©albige Sttadjricht ift boppeltc
Sfladjricht, unb Du bift fomit ber erfte, ber ein brieflich ©ort barüber hat.
3d) mußte ih,m mein £eben erjdl)len; bie ©efdnchte mit bem ©arbier
unb meinem ^iaöfo. ©ir fprad)en von Dingelfiebt, Kemper, bem ©roß*
fjerjog, — ©agner — id) erjagte ib,m bie /\abrt nad) SBafel — nannte
itjm aUe $eilnel)mer. — Orr erinnerte (Id) tXicharb *Pol)l*. ©ir fprachen
»on £if$t, oom (£ib, »on ben Duetten ju biefem (Stoff, von Salenjia unb
©utflen be (§aftro, »om £ot)engrin, ©iegfrieb. Db ©agnei fomponiere? „Da,
baß wir neulid) Neue* au* bem ©iegfrieb mit ©u(ow gefungen tjdtten."
Da* freute itjn. Ob id) auch, tflaoicr fpiele. „EUerbing*, aber nur rabe*
brechenb." <£r fdn'en nad) biefer ©eite wa* »on mir ju wollen. Über bie
SRichtung meine* Gib fagte id), baß für biefe unb wohl eine gute ©treefe
fommenbe 3eit ber Sofjengrtn, wie eine 2frt sPol fei für muflfbramatifche
Aufgaben — aud) in .ömficht auf 3Raß unb 9ttögltd)feit. Daß id) nie
einen 2ot)engrin fdjreiben würbe, aber nad) meinen Prüften etwa* ©ute*
(eiften wolle. 3d) fagte w6rtlid): @w. SWajejtdt! Dd) glaube an mid), unb
bin gewiß, oon Schritt ,51t (Schritt ©effere* ju (eifien. 2ü* ich ba* oon
Vohengrin fagte, glänjten bie Bugen unb er fab fo etwa* neben l)inau*.
B(d er baoon fprad), baß ©agner oielfad) oerfannt würbe, unb beute noch,
nahm fein 2fnt(i$ einen g6ttlid) wehmütigen Buöbrucf an. 3d) unterließ
nicht, gleich nach bem Anfang — in betreff ber Nibelungen — einfließen
ju (äffen, baß jur SoUenbung biefed ©erfed atlerbingd alle guten (Sterne
feuchten müffen, unb baß <Se. STOajefldt bereit« ben heilen Anfang baju ge?
macht t)abe. — SSon ©ülow fprach er 6fter unb fagte fchließlid): ©rußen
©ie ©agner unb ©ütow! Qx ging in bie nächtfe ©tube — bort fab er.
fleh nochmals um, unb id) oerbeugte mich nochmals unb ging.
Die beiben Bbjutanten beglücfwünfchtcn mid) mit freubigen: fflidft wahr ->
auf welche ich nur fagen fonnte: 3a, bae* ift freilich ba* 33efle, wae* id)
btdfjer erlebt.
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(Sornelüi* unb ffiagner: Ungebrutfte ©riefe.
37
2flfo fütrre einjtweilen bte gamilie mit biefen fetten Groden; bie
taute unb 3«tat fommt bann balb! ©eib umarmt »on
@urem (Sorneliu*.
Peter Cornelius an ote «Surft in TDittgenftetn.
SBeimar, ben 27. 3uni 1865.
................. . . . . » . • .
$Öenn id) mir jemanb jur Aufführung bee" @ib l)erbetwünfd)te, fo
waren ©ic e$; meld) einen Triumph bitten ©ie empfunben, ba$ eble, ernfit
SBerf Sfyreö greunbe* nun aud) oon ©elingen unb Beifall getränt ui
fefyeit. 3ch habe erfiaunlid) gelernt an biefem Serfudi, unb habe bem ©roß«
tjerjog auä tiefftem $er$en $u banfen, baß er mir bieä ermoglidjt t>at. @r
benahm fid) »on 3C bi$ 3 außertf gnabig unb freunblid) gegen mid), rief
mid) auf ber ©traße an, mid) feiner $od)ter »orjujtellen, lub mid) ju einem
ganj fpejiellen Dejeuner mit ©raf SSeuft unb 2J?üaer..£artung im rdmifd)en
Hau*, ließ ftd) telegrapbifd) jur erften Sorftettung entfdmlbigen, welche ju
befucf)en er inbe* ben (Srbgroßherjog »eranlaßt tyatte, befudjte bie ^)robe
oor ber jweiten Aufführung unb fpenbete in betben reichen QeifaH, mad)te
entfd)ieben (Slaque, fo wie er mir aud) im ©efprad) nad) ber jweiten Auf*
fübruna, reidjlid) fein ?ob, feine 3ufrieben()eit auäfprad).
Afle Auäführenben Ratten mit (ieigenber Teilnahme bem ©tubium ftd)
hingegeben, 3tcr birigierte mit Q3egeijterung unb Umfidjt; man mar einig
barüber, mein UÖerf fei ba* fdjwerfte, ba* bi* je$t oorgefommen. SXofa
hatte »on ber erften *Probe an mit ber liebendwerteften Energie (Id) itjrer
Aufgabe gewibmet, ehe nod) bie anbern anfingen, ftd) bafür ju erwarmen;
fle tjat jebe ©teile ber ganzen Partie fein burd)bad)t, ober beffer burd)füt)lt,
unb eine Partie au« ber £imene gefdjaffen, für weld)e man ffd) erwärmen
mußte. WieUcidbt gelingt e* mir, 3l)"«n mit biefen 3eilen ein ?ibretto ju*
fommen ju laffen, unb ©ie werben gfeid) herau*finben, wie fd)6n SXofa »tele*
gefungen unb gefpielt t)aben muß. 2)?ilbe ging mit anfänglich großem
5Biberftreben an bie Partie — blieb nod) bi* in bie Hauptproben lau, über«
rafd)te aber bann um fo angenehmer unb inniger, ba er am Abenb eine
o6Qig poetifdje Auffaffung feiner SloKe befunbete, unb in ©Spiel, ©efang
unb Au*fef)en aud) einen (f barafter InnueUte, ber an ffd) ju feffeln »erftanb,
fo baß er in ber großen ©jene be* jweiten 2fftö mit SRofa einen unge#
maditen Erfolg errang, weldjer ba« Durd)brtngen be* SBerfe* entfcfyieb.
tfnopp fpielte ganj ffnnig feinen alten J?6nig fternanbo, SWejfert
fang mit bem Sntrain eine* greunbe*, ?ipp gab al* 93ifd)of fein ©efte*.
Die Sljoriften fpietten nad) »ierjig (Jljorproben ffdjer unb mit ffdjtbarcm
Anteil an mir; id) fehrieb fchon einmal: e« war ba faum ein Her), bad
md)t für ben (Erfolg fdjlug. Dingelflebt Ijatte brei groben mit unermüblid)er
Q(ufmerffamfeit geleitet, unb ba* ®an$e mit bem feinjten ©efd)macf angeorbnet.
3wei SKonate lang, X)urd)Iaud)t, hatte id) an Ort unb ©teile umgearbeitet,
anber* fomponiert, gefurjt, gefhridjen, nod) bi* in bie legten groben. Der
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ßorneliu* unt> Sogner: Ungebrucfte ©riefe.
Qrrfolg war lohnenb, in betben Aufführungen oolljranbig. fünfmal erfd)ten
id) an ber 4>anb ber betben SBtlbe* mit ooller Afflamation auf benfelben
©rettern, »or welchen bamal* fo tjetßcr Äampf tobte. 9*ad) ber Aufführung
hatten wir einen fogenannten „@ib 3auber" im Abler, wo ein frfthttdK*
SSolf öon SDtalern unb ©djaufptelern wäbrenb ber ©aifon feinen <5i% auf*
gefcrjlagen l)at. Den anbern Sag gab mir £ipp, ber ©ifdjof, ein gefr in
feinem ©arten; ba mürbe illuminiert unb fröhlich gefdjwarmt bei faft
ununterbrodjenem geuerwerf. <5ie fegten mir einen Äranj auf, woju Riffen
einige berjlid)e 3*il*n gebid)tet hatte.
• •••••»...«*>.«•« « • ♦ • • • • •
Leiber ftnbet mid) bie ?6fung ber @tbfrage in einem ungeldften
?eben*fonf!ift. Sttad) SWüncfjen mag id) nicht jurucf. Steine bortige (Stellung
ift $u fctjr eine burdj SBagner bebingte. @* ifl mir fünitlerifdje unb etbifdie
SRofwenbigfcit, gretyeit ju erftreben. ©ei ÜBagner bin id) gebunben. gür
bie ©d)6pfungen 3ßagner* feit Sohengrin fjabe id) bei aller Skwunberung
nid)t mehr ba* jaudjjenbe 3a (bie Affirmation!), welche ju einem mit
1000 ®ulben angefüllten greunb gehören, eine Affirmation bie gerabe ber
gebenbe $6nig fo »oll unb ungefd)mäd)t hat, baß er jeben SBerfud) einer
©egrenjung ober rationellen Unterfucfjung berfefben al* einen J&odwerrat
anfefjen müßte. 95 or bem aufgeführten (5ib war »iele* anber*, id) fonnte
fdjwanfenb, guwartenb bleiben; nad) bemfelben i|t e* mir nur ju entfdnebeu,
baß id) in ber ^>robuftion nid)t bie $Bege beö ©d)C»pfer* oon triflan unb
Sfolbe nad)treten fann, fonbcm im Snnerften frei meinen eignen 2öeg gehen
muß. #eute m6gen meine greunbe bie* tabeln; nad) 3al)ren werben ffe einfetjen,
baß id) SRedjt gehabt. 3nbem id) nun noch ntd)t weiß, wohin, nod) ohne
befHmmte SXtdjtung am Äreujwege ftct>e, füllte id) um fo bringenber ba*
©ebürfm* in biefem gekannten aber l'od) nod) ruhigen SWoment mir
enblid), enblid) einmal bie 3eit ju nehmen, einer grau, für weld)e id)
bie innigfre J^ulbigung — bie jauchjcnbfte Affirmation! — habe,
wieber ein ?eben*$eid)en ju geben!
Peter dortieiiu« an 3ofef @tant>fcartner.
SBündjen, 28/12 1867. ©riennertfraße 27 a parterre.
ÜBa* fagjr Du ju mir? 3d) bin enblid) angebellter SKenfd) mit
jw6lfl)unbert ©ulben, fünfjig ©djüler, barunter breißig junge Damen, Cid)
fdjreibe bie* nur fo friool Ijtlt, weil meine grau in ber tfüd)C ift, mir
nid)t über bie ©d)ulter fd)ielen fann), habe grau unb unb 9Ud)arb
«ffiagner hat neulid) $h*e bei mir getrunfen unb f7d), wie id) fagen barf,
ganj wol)l bei mir gefüllt, »erfprodjen Wieb er ju fommen, 6fter bei mir
ju fein, <5r fagte, inbem er ffd) in meinem ganj comfortabel eingerichteten
6alon behaglich umfd)aute: 3a, jefct fomm' id) $u Dir nad) ^enjing! —
3d) fagte ihm: „5Beißt Du, am Draflifchften wirft ba* traumhafte biefe*
tfeben* auf mid), wenn ich i" *er ©djute an ber $afel flehe, bie ginger
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§omriütd unb Uöogner: Ungccrucfte ©riefe.
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refl Äreibe, unb bie $t)ür 6ffnet fld) unb — ber fjfranj1) bringt bie ?ampen
herein!" Da ftimmtc er benn aud) fchr ju, biefe Rampen leuchteten ihm ein!
tu weißt bod), baß ber $ran} feit einiger 3*it Diener ber ^D7uffffcf)ufe ge*
werben i|t, biefer „knappe »om ®eijt", wie icf) it>n nenne. Unb ^orgee* er*
mnerte mid) baran, unter weld)' fabelhaften Umitanben wir je$t bie fünften
©eibnadjten jufammen »erleben! Grften* 63 in «Penjing! 3weiteni 64 in ÜBien!
Tritten* 65 in 3Bünd)en, ctje er wieber nad) fflien juruefging! Vierten* 66
m v2Bien, wo id) gerabe bamal* jur SÖerliojfeier l)infam! fünften* 6? wieber
hier unter fo ungeahnt »erdnberten Umftdnben! Söeibe oerl)eiratbet, firirt,
im SSerfebr mit ©agner, unb wa* 2üle* bajwifdjen: ba* ttf Saufenb unb
£ine raonbbegldnjte 3aubernad>t!
peter clorneltue an Xicf>art> tDagner.
[<5nbe 1867.]
Sritt ein unb laß Dir'* weggefallen
3n meinem $au*, an meinem £erb!
Did) grüßen feine flogen fallen,
Doch mad)t fle Siebe Deiner wert.
Du baft fca* £au* niir Reifen bauen,
Unb mar1* ein .Jpüttdien nur »on Jpoly
3ufrieben barfft Dein 2Berf Du fdjauen:
SWein £au*, Dein ©tolj!
Did) grüßt mein 2Beib »on ganzem J£>erjen,
Die biefe* Jßaufe* guter ©eijt,
Die mir oereint in 2ufl unb ©djmerjen,
SWein Heiligtum, mein ©egen beißt.
Sie ruft 5ißiUfommen Dir entgegen,
Sie ift Dir ganj wie id) geflnn»,
So fei ihr gut um meinetwegen:
SRein 2Beib, Dein Äinb!
Saß e* ein ©tünbdjen Dir besagen,
De* ftreunbe* ®lücf fei Deine Suft,
Der, wa* er froh Dir aud) mag fagen,
(Sin SÖejT're* birgt in feiner ©ruft.
5Bie t)od) Dein SRame aud) ergldnje,
3Bie mandjer Äranj Did) aud) umwob,
SÄein £er$ weiß mebr al* alle Ärdnje:
SÄein #er$, Dein Sob!
$eter (Sorneliu*.
') granj iWrajff, ttv langjährige Xienrr SBagner«.
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3n TCndjen im Anfang bei 70a 3abre.
93on ^oni $boma in St<irl*rube.
„Qtrr bie 9tot ift groß!
Die id) rief, bie ©cifter,
Söerb' id) nun m'd>t (od."
©fit id) mtcf) unterfangen rjabc ju fcftreiben fd)nurrt mir fo Diele*
burd) ben Äopf, — ©djnacfen, bie man woljl ebenfogut totfd)(ageu f6nnte,
ald fle in bie Äffcntltcrjfctt fliegen ju (äffen, — $Bad foll id) tun? — ©oll
id) fo eine 3rt von £ebendgefd)id)te jufammenflutfeln, »on ber man fdjließltcb,
aud) nur fagen fann: „3Tuf feinem ©rabftein ifi ju Iefen: er tft ein 9Benfd>
gewefen". — <5d i(l nur gut, baß id) erft in meinem 64. tfebendjahje mit bem
Schreiben angefangen tyabe. Der Anfang war leid)t, aber nun wo finbet ftct>
ber <5d)luß. „#err bie Sflot ift groß!" SBuß id) benn überhaupt fchretben?
einem tief empfunbenen ©ebürfnid abhelfen? 3d) will ed nur gefielen:
tfhttt id) in meinem 20. ?ebendjahje mit bem ©djreiben angefangen, fo »Are
id) jefct fd)on baran irgenb „jemanb" ald „Qrrjietjer" bem beutfdjen SSoife
barjubieten, einen „3eud" ju fdjreiben ober einen „ffiotan" »on „einem
Deutfdjen". — hinter fo einer Sftadfe oerftecft, f6nnte id) bann getroft alle
Schnurren unb ©ehnaeffn fliegen (äffen, unb wenn ffe bie ^OBctt beldftigen, fo
wirb ber Deutfdje angeflagt, unb id) fTfce in Stüh,* unb fdme ntd)t in ber
?eute SRunb.
3d) habe bemerft, baß bad ^ubltfum (nun fpred)e id) Anfänger fd)on
»on einem *Publifum) meine (5r6rterungen, meine Schreiberei fo auffaßt, ald
ob id) meine ?ebendgefd)id)te fd)reiben wollte, bad erfebrerft mid) — eine
Sebendgefd)id)te fd)reiben, bad ifl bod) ein ganj anber Ding, unb ed gebort
ju ben allerfdjwerften Aufgaben ber ssd)rifttfeUerei — ein „3auberlet)rling"
tft bem ntdjt gewadjfen. — (Eine ?ebendgefd)id)te fdjretben! — 5Benn man
nur erf* einmal mußte »ad bad Seben ifl. 2Bir b,ord)en unb tajlen bod)
alle nur an ben ®ucfl6d)ern rjerum, hinter benen wir bad ?eben bermuten.
3ötr raten bin unb ber, geben und gegenfeitig SRdtfel auf unb fpredjen unb
ftammeln in SMlbern unb Wormeln, bid ber SKörber $ob und fortreißt, ben
wir ja ebenfowenig »erfletjen unb tarnen wie bad £eben. — Sttetn, bad mad
id) fdjreibe tft nid)t meine £ebendgefd)id)te. — 2B6ge man biefe bunten
(Erinnerungen etwa a(d einen ^etbblumenjrrauß betrachten, ber ohne (Snftem
unb 'Jfbffdit lofe jufammengebunben ijt, gepflutft an ber £>berfldd)e, bie fta>
über bem tiefern 2fbgrunb brd Dafeind audbreitet, bie gemacht ift, bamit
man nid)t jeben lugenblitf jum ©djaubern fommt bor ber Unergrunbltdtfeit.
Die tiefere ©efd)td)te bed bebend erlebt ob,net)in jeber STOenfd) felbjt, unb bie
fiel)t fld) wof)l bei aßen fo jiemlid) db,nlid) — wir fennen ffe ja alle bie
alte ©efd)id)te, bie mit Xbam unb (Eoa ib,ren Anfang genommen b,at.
3d) will nur aud unb über meinen tfün (Her beruf einige Mitteilungen
macfjcn, unb wad id) in bejug auf biefen erlebt habe. — Dad UBunber, baß
man überhaupt lebt, biefe aUtdglidtfeit, biefe eelbftberftdnbltdjfeit, bie liegt
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JDand Sgoma: 3" SWündjen im Anfang ber 70er 3flbre.
41
freilich immer im J^intergrunbe, unb id) fomme fo Ietcf>t nid)t barüber hin-
weg. — 2lber man treibt rjalt auf biefem bunfeln 9tdtfell)intergrunbe fein
6pie(; mit bem ?eben? mit flcf> felber? 3ebenfalld mit ben taufenb steinig*
feiten, aud benen fo ein ?eben jufammengefefct ijt. — Die »erben wichtig
genommen, unb (le ftnb ed aud), benn »er entfdjeibet barüber »ad »idjtig
unb unwichtig itf, »ad groß unb Hein ift in ber 3Belt? ©ieoiel J$ei$*
material braud)t nur fef)on bie ?ebendflamme ber tfunft, id) meine fpejtell
bie SKalerei, unb id) »ill fTe nid)t aufjagen aU bie £>le, ?acfe, £arje, ©ummt,
?eime unb anbere Klebemittel mit benen man bie unjdrjfigen ^arbenfdrpcr
auf ber Safel befefu'gen fann unb muß; baju nod) bie ©d)»eine, SWarber,
Dad)fe, uf»., bie bie &orft< unb #aarpinfel liefern. Daruber gibt ed ©udjer,
bie man nad)fd)lagen fann. 2Bir üttaler »ollen ed nur gefielen, baß ed
eine unfer Snnerfted aufregenbe gxage fein fann, ob »ir unfre färben mit
bem Älebftoff bed Ijled ober bed £etmed ober eined anbern auf bie ?ein»anb
befefHgen follen, ob Äreibegrunb, ob £>lgrunb, ob bief ober bunn malen, ob
paftod beefenb ober (afferenb.
5Bid)tig unb un»icf)tig in ber 3Belt! — »er »agt ed barüber 9ud)fcr
ju fein, Sin alter SWnjtifer t>at einmal gefagt:
Sin fd)led)ter ©plitter ©lad,
Sin fd)mu£igtriibed Sßäfferlein,
Sirft und juriief ben sollen ©onnenfd)ein,
SOttt aller Jarbenpradjt umfdjmücft,
£ed ?id)ted £errlid)feil in flet'nften Staunt gerüeft.
(£o fäUt ber ©ettpeit ftdjt
SKobl aud) in unfre SOlenfcbenfeelen ein,
Unb fann und fo nur flar unb tauglid) fein
3Cld ©otted '.Xbalanj, ben und feine ©üte fdn'cft,
Qlld 2B»berfd)ein, rote er aud lieben Sugen blirft.
8c »id id) rut)ig »eiter fd reibeu ohne mid) barum ju fummern, ob
ed »id)ttg ober un»id)tig fei. — üßenn bie 9?ot ju groß »irb, fo »irb ber
SBeifier fid) fdjon jur rechten 3eit einteilen unb bie ©efen in bie Grefe
»eifen. SD?6gen fie je$t immerhin nod) Sffiaffer tragen, (Sd gibt ja 2Ba)Ter
genug.
3m »erlaufe meined Srj&rjlend »erbe id) eigentlid) nur »on ben fd)on
Dal)ingefd)iebenen reben — »on STOitwanberern unb ©egegnenben auf ber
*ebe ndfrraße bie mid) fdjon »erlaffen baben. 2Kan fagt: „$on ben $oten foll
man md)t^ Übeld reben", — id) fomme nid)t in bie Serfudjung bied ju tun,
benn id) »erfpure nidjt einmal großen J£ang bied »on ?ebenben ju tun.
$D?an »irb überbauet milber gegen alle SRenfdjen, »enn man fd)on einige
9J?aic lieben 3oten ind Xngefld)t (eben mußte — ba erfd)einen bie Kampfe
bed bebend, bie jebem auferlegt finb, ob er fTc nun fo ober fo führte um
burdjjufommen recht flein; »er wollte ed ihm nun nod) übel nehmen.
Der ©e»altdl)errfd)er $ob ift ber 3(udgleid)er, ber SBerubjiger; — ber
&efd)tt$er berer, bie in fein SXeidi eingegangen »or aller Unbill, bie nad)*
tragenber #aß ihnen antun m6d)te.
„SBon ben Soten foll man nid)td $6fed fagen" fo ein ©prud) f6nnte
faft ald ©egenfafc l)eraudforbern : unb »on ben Sebenben mdjtd ©uted —
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#and Sboma: 3n ?0?tmd>cn im Anfang ber 70 er 3abre.
benn ot)nr Spaß, cd l)crrfd)t eine gewiffe «3cf>cu, fall ein Aberglaube bi cd
jn tun: „Sttan foU niemanb glucflid) preifen por feinem Enbe". ?ob ift
boeb ntcrjtd anbered ald ein ®lucfiid)preifen beffen, bem man cd erteilt.
Dad Sprichwort: „Den Sag nidjt por bem Abenb loben", get>6rr ja aud)
hierher.
Somit ift ed gar nidjt fo ubcl, wenn ein Sd)riftfteller fdjon in ben
fcdjjiger Sabjren ftcf)t. Da ift bic SKcirjc berer, bic ih,n fdjon Perlaffen
haben groß, unb er fann oon iljnen erjagen. — Ein jugenbUd)cr ÜÖanbcrer,
ber frifd) in ben borgen t)tncinfcr>reitet, ift lange nid)t fo gut baran wenn
er erjagen will — bem feine <Bad)t ttf ed mef)r, ju fingen unb ju jubeln.
Siele oon benen, bie auf meinem Sebendwege mitgegangen ober mir
begegnet finb, ffnb fdjon gejtorben — ^reunbe unb fteinbe, <uid) Pon biefen
le$tern fonntc id) rul)ig erjdl)len ohne in Gefahr $u fommen, Ubelö oon
ihnen ju fagen; bic einte f6nnen ja nidjtd bafür, ba§ fte einem begegnen,
unb rote le teilt fann ed im ©ebrange bed bebend paffteren, baf) man irgenb
jemanb in ben 3Beg, in bie Oucre fommt. ©ad fdjabet'd, roenn man ficf>
bann ein paar Sdjimpfworte juruft — bad »ergibt fid) leidjt. Oft tfl ed
aud) ganj intereffant gewefen, 3. 55. roenn fo ein Äritifer mid) mit feiner
SBcidtyeit maudtot gefdjlagen fjattc — mir Spott unb $or>n jugerufen tjatte,
fo fagte id) gan$ ruljig: „D bu rooju ber ?arm? id) madje ja
bod) fo roie id) roill!"
Sollte id) im Elifium fold)e ßritifer wieberftnben, fo roerbe id) lachen
— unb ffe werben mitlachen, benn )Te haben geroifl bort ein fd)6nered Sachen
gelernt, ald bad, womit fie Dinge, bie ffe nid)t oerftch,en fonnten, abjutun
oermeinten.
Tiber id) will nun oon SRundjen erjablen, wohin id) im Sfooember 1870,
mein ©lucf ju probieren, h,in$og — unb id) barf fagen, baß td) bort mein
fd)6nfted Sebendglucf gefunben l)abe, bad mid) 25 3at)re begleitet t>at, bie
fd)6nfle 3cit meined bebend unb bad, wie il)m fdjließlid) aUed oerfallt, ber
graufame Sob Pon mir gerijfen fyat.
SWit Hoffnungen, Erwartungen, ©efurdjtungen tritt man in eine foldie
Stabt — unb gerabc SWundjen l)at einen gef)eimnidoollen 3«uber — Pon
bem id) nicht fpred)en will, weil er allgemein befannt unb anerfannt ift.
Ed ift freilid) je$t fd)on breißig 3af)re l)er, aber idi glaube, baß bad, wad
id) über SD?und)cn fage, aud) jefct nod) gelten wirb. 3d) hatte bad ©efurjl,
in eine 8 tabt eingetreten ju fein, in ber beutfd)ed ©efen in einem Stamm
»oll Eigenheit nod) über gute Ärdfte oerfugt. Die ©aoern, ein froljgemuted
2$olf unb wohl ber funftbegabteftc Stamm ber Deutfd)en — eine Stabt, tn
ber leben unb leben (äffen nod) red)t piel ©eltung bat. Dad oon mir bureb
bie SRot erworbene Unabrjängigfcitdgefürjl fam wol)l hier beffer jur ©eltung
a!d irgenbwo anberd. So, wie in Stfündjcn, fuljlt ftd) ber ÄunfMer bort
in feiner anberen beutfdjcn Stabt. Seilneljmenb ratenbe greunbe er*
warteten mid) bort, unb id) mietete ein redjt fleined Atelier unb wollte in
aller Stille für mid) bleiben — unb fing aud) ein bcftelltcd ®«K> i« „$ebcld
Sttergrn ftern" an ju malen. Einer ber guten ^reunbe fprad) mir aber eifrig
ju, id) muffe in bie ^ilotofdjule eintreten, wenn id) in 37?und)en pormartd*
fommen wolle; id) blatte aber, nad)bem id) ^ilotpbilber gefeljen l)atte, feine
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£and Sboma: 3" Wandten im Anfang ter 70cr $a\)vc.
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tu\i Ijierju — befonberd ber &ofumbuä war fd)ufb baran, id) fonnte mein
funftlerifdjeä gühjen nun einmal in feinen 3ufammcnbaug bringen mit ber
entbeefung Amerifaä, fo fefyr id) biefe Satfadje aud) fdjafcte. 2ßaä foÜte
ich in ber ^>üot»fd)ule? Der gut meinenbe $reunb fam wieber unb würbe
bringenber unb auf meine etwaö feb, wach mutige Auörebe, baß icf) gehört fjabe,
bie ^ifornfdjufe fei überfüllt, *püot» nerjme feine 6d)üler mefyr an, fagte er
mir, er wijfe benimmt, baß icf) angenommen werbe, ©o mußte id) nun offen
beraudruefen unb it)m fagen, baß id) in gar feine <5d)ule mef)r eintreten
wolle. Um »or ihm ntcfjt etwa al« tjodjmutig ju erfcfjeinen, fagte id) üjm,
baß, wenn id) einen ©erater in 9Äund)en brauchte, id) mid) an Siftor SWöller
»enben würbe — ba »urbe er ganj »erbujt: „Äennen <5ie ben? Sttefjmen
8ie (cd) in ad)t, ba$ ift ein (Sgotfh"
freilief) fannte id) iljn fdjon, biefen Heben Sgoiften, biefen SEenfdjen
mit ber »öden, meieren, befyaglidjen Äunfilernatur »oll ©fite — (£goi|t
genannt, weil er ftd) gar nid)t oiel um ben altgemeinen Äunfttriibol
rummerte — rutjig ablehnte, »ad feinem ^ürjlen jumiber »ar, aber fjerjlid)
banfbar, »ofltfanbig neibloä ba$ anerfannte, »ad ihm jum #er$en ging von
funftlerifdjen Dingen; er »ar genußfitdjtig nad) Äunft, er »ar umgänglich,
in ©efellfd)aft, unb mit großer ©ebulb fonnte er jut)6ren, »enn unreife
.»innftweiebeit »or ihm auägeframt »urbe. freilief) fonnte eö bei fo(d)er
©efegenbeit aud) pajfieren, baß er »ie ein Donnerwetter pf6fclid) auf einen
atjnungdlofen tfunjtintereffenten loäfufjr — eö »aren in biefer Art mancherlei
Anefboten im Umlauf — jart unb meid) »ar er freilief) bann gar nid)t mehr,
fenbern »on einer 3frt »on, man fonnte fagen liebendwfirbiger, tjagebudjener
©robrjeit, »ie man tt>r in Jranffurr, »o er ja f)er »ar, begegnen fann.
Durd) ©djolberer, STOußerd ©djwager, würbe id) mit bemfelben befannt
— er bvaätte meinen Arbeiten »olle Smnpathtc entgegen unb al$ id) fpäter ein
Hrineä 'Atelier neben bem feinigen bejog, waren wir in guter greunbferjaft
tagfid) beifammen — er hatte freute an meinen ©übern unb Ärgerte ftd)
nur, baß id), wie eä fo in meiner Art lag, fooiel Angefangene* wieber
jerfWrte — er brofjte: mir einen ©enbarmen ju fe&en.
SÄeine ©Über, bie id) aud Äarlärurje gerettet tyatte, fanben an if)m
einen warmen Anteilnerjmer — unb er faß oft in ber Dammerfhinbe bei mir
im Atelier unb faf) fid) bie ©Über an; ©djulmeifter ober gar tfritifer war
er babei nie — baju war er »iel ju fefjr Ännftler unb al* fo!d)er, wenn
man fo fagen barf, ©enußmenfcb, er freute fid) an allem ma$ feinem Ijocfc
9fbifbeten £un(tgefül)f jufagte. 3d) erinnere mid) nod) febljaft wie fer>r
entjueft er war »on einem fleinen ©Übd)en, ba$ Maxi #aiber in ber 3eit
gemalt hatte, Ämter unter einem bfufyenben ©aum, wie fange unb nachhaltig
biefer (finbruef ihn befd)Äftigt t>at. ©ei ben »orfyin erwähnten Dämmerung**
Atefierfhtnben er$dl)fte er immer »ieferfei »on feinen ^arifer unb anberen
(frlebniffen. JDbgteid) er »on ben ©Übern »on SRareeö nicht »iet fannte,
eqabjte er mir fang unb ausführlich, »on benfefben, fTe regten feine *Pr/antafIe
tttff bädjfte an — er erjarjfte Sßunberbinge »on ©Übererftnbungen, ©e?
Haftungen unb ^arbent)armonien, bie Wlareei gemacht haben foQ — td) fam
aber halb bahintcr, baß feine eigne ^>f>antaffe mit ihm burcf)ging, unb baß
er fefber e$ war, ber biefe ©Über erträumte.
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&an& Spornet: 3n SDfündjen im Anfang ber "Oer 3a&re.
<£r matte bamalä im Auftrage, ntdjt nad) eigner ffiarjl, bie ©fyafefpeare*
bilber J£>amlet, iRomeo, £pl)elie; ein ©ilb jum „©türm" mar tief braun
angelegt, unb bieS lefctere fcfjten t!)n befonberä ju tntereffieren — ed blieb
aber unPollenbet. freilich mar baä illuftrationdartige ^iftortenbilb ihm mcM
Heb unb feine freien SBerfe fd)lugen ganj anbere $6ne an — aber Umfiänbe
unb SSerljaltniffe ftnb oft jmingenb, fo baß ein anberer fjirr nid)t urteilen
fann. dr tat fld) in ber Arbeit gar ntdjt letrfyt — eine gemiffe ©d)mer*
faßigfeit lag in feiner Krt oon Sedjnif — bie freilief) bort mo er fte über*
»unben, ganj munberpoll fein fonnte. £er ©Ijafefpeareauftrag lag aber
bod) mie ein £ruef auf ihm, unb er lehnte ftd) nad) freierer Entfaltung
feiner Ärafte. @r fpracb mir aud) pon Plänen, bie er batte, wenn ber
Auftrag einmal erlebigt fei, fo }. 33. »on einer großartigen ^arbenfpmprjonie
mit jugrunbelegung be$ (&d)(uffeä »om jmeiten Seil be$ gfaufteS.
Um Alfter Mütter bilbete ffd> eine fleine ©ruppe »on ftünfttern, unb
menn ber 9?ame ©ejejfton bamalö fdjon befannt gemefen rodre, fo wäre bie$
n>ot)l bie erjte Sföünchener ©ejeffion gemefen — mir mürben eigentlich
fejejfioniert — benn mir geirrten eben, ob mir mottten ober nidjt, nidjt
baju, mir flanben abfeitä »on ber großen tfunftblüte, bie mit ben ©rünber*
jähren hereingebrochen mar. ftür bie Äunjtyanblcr ertflierten mir nidjt —
alfo eriflierten mir überhaupt nidjt; ed maren aud) nur ganj menige, unb
e$ mar für niemanb »erlocfenb, ftd) und anjufdjließen, ©djolberer, Jßaiber,
©attler, (5»fen, aud) (Steinhaufen unb £eibl mögen, folang SWüller gelebt
fyat, baju get}6rt l)aben. 3n treuer tfunflliebc hielt Dr. SBaperäborfer \u
und, ben id) bei SSiftor Üttüller fennen lernte. Programm hatten mir feinä —
©aneröborfer fam Dahinter, baß „unoerfauflidje ©ifber" fo ungefähr unfer
Programm fei.
3n bied fdjöne 3 ufflt« inen leben mit SSiftor SflüUer trat ein jdljer ©d)luß
l)eran. 3ct> mar im £e$ember 1872 einige Sage unmof)l, unb al$ id) mieber
in* Atelier fam unb STOüller nid)t fanb, ging id) in feine 5Bol)nung, ba lag
er fd)on fdjmer franf ju ©ett unb in ment'g Sagen mar er tot; er mar etma
42 3af)re alt, fein ©rab ijl auf bem ftranffurter griebfjof.
@$ mar für und jüngere &ünjiter, bie in it)m eine 3frt »on §ül)rcr
gefet)en Ijatten, ein red)t fd)merer (5d)lag. <So ©uteä er aud) fd)on gefdjaffen
hatte — fein $Öerf mar nod) nid)t jur »ollen SReife gelangt, benn er mar
einer Pon benen, bie um ber Sadjc millen nad) .ftfarljeit unb S3oHenbung
jtreben.
SSiftor SDfüller mar e$ aud), ber mid) bei 03öcflin einführte — fd)on
Porter hatte er mir von bem QMlb mit ben jmei Jaunen erjaljlt, baö auf
ber 2ludjMung 1869 mar, unb ba$ er für ba* meitaud beflc erfldrte, mad
auf biefer 2Tu$(iellung mar. Da* i(t jefct freilid) nid)t merfmürbtg, aber e*
gefd)al) ju einer 3eit, ba id) »on fpdter ju $B6cflinfd)mdrmern gemorbenen
berühmten «Kaiern ben 2fu$fprud) l)6rte, e* fei Piel Unfuwigeö auf biefer
2fu«ftellung, aber ber ©ipfel ber 9?arrf)eit fei ba* fcilb »on ©oeflin. 3n bejug
auf bie ^altec^nif t)ulbigten mir ineifl ber Meinung, baß e$, um Jtraft ju
geigen, nötig fei, bie $arbe fauflbicf aufzutragen, freiließ blieb ba mand>e6
feinere @mpftnben in ber Secfjnif fchmerem ©rei flerfen — unb id) erholte
mich immer mieber an bem 2lltbeutfd)cn in ber ^inafotljef, an iljrer rut)ig
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§ani Zboma: $n 2Jiünd)en im Anfang ber 70 er Safere.
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oollenbeten Sechnif, mit ber fff fo feierliche ^arbenharmonien erreichten, in
benen eine fo bewußte Klarheit unb 9taumbeutlid)feit herrfduc. STOit 8>6cflin
war ich nun 6fterd, unb befonberd in ber alten *pinafotl)ef, jufammen — er
fprad) fafl nur über $echnifd)ed »or ben ©ilbern unb teilte mir gerne »on
feinen reiben Erfahrungen unb »ielfadjen Serfuchen mit — aud) bei mir
im 2(telier fprad) er flcf> nie über ailgemeined ober ®egenftanblid)ed in
meinen ©ilbern aud, fonbern er fprad) bom ftarbenmaterial unb »on tfontrajb
wirfungen ber $arbe; babei jog er aud ber 3öeftentafd)e farbige ©ollen*
frreifen, an benen er bemonjtrierte — Komplementärfarben erflctrte ufw.
©eim 3rüt)fd)oppen im 2fd)a$, $u bem er mid) ein paarmal abholte,
ging bad ^arbenerftnben fd)on ind ^>r>antafltfd)c, wohl aud) ind ©arfaflifche
über; fo fprad) er baoon, baß für bad 9Mau, wad ihm borfchwebe, ed noch
gar fein ^arbenmateriat gebe, er fud)e banad), 3nbigo fei fo etwad, aber
nicht faltbar — er trug einen bunfelinbigo&lauen SKocf, ba meinte er, man
müßte einmal fo einen iRocf audfochen unb ben ^arbftoff h<raudjiel)en, biefer
müßte bann, in ibl angerieben, wohl bauerhaft genug fein — fo unterhielten
mir und mit gutem £umor unb ber ©chweijerbialeft, ben wir beibe ge*
brauchten, half und babei »ortre flieh. Die ftlugmafdn'ne befebüftigte ihn
bamald fehr unb bad Atelier lag boller SÖambudflabe unb ©egeltüdjer; er
erflarte mir bie ©adje mit 3eid)nungen, aber auch h^r ging ed balb in*
9>h<*ntafttfche unb ind .£umoriftifd)e über, unb ald ich im ©ommer fortging
nad) ©defingen, fagte er, ich falle nur aufpa)Jen, eined $aged fomme er bort
über ben (Jggberg geflogen auf bem SBege nach SBafel. — ©o gerne ich mit
S>6cflin, meifi ©onntagd bormtttag, in bie alte ^inaforhef ging, nach feinem
2Tudfprud) in München ber einzige £)rt, wo man feinen Malern begegnete,
fo folgte id) ihm bodj nicht gerne 3U ben Stembranbtbilbern, bie ihm bod)\t
juwiber waren.
Steffin ging fehr balb nach Italien, fo baß mein 3ufammenfein mit
ihm nur furj war.
SWit Seibl oerfehrte ich »iet unb wir hatten und gerne, jeboeb raerfte
id) ein gemijTed Mißtrauen gegen mich, weil id) im Serbachte (lanb ju
lafteren unb anbere #unftflücfe beim 2ttalen anjuwenben, bie oor feinem
ehrlichen 'Primamalen ihm wie ©ünben erfdjienen.
Der granffurter STOaler @»fen, ber in STOeran bor einigen fahren
geftorben ift, fam ab unb $u nad) München; er war mit Setbl fehr befreunbet
unb fein hodjgebilbeted, unbefled)lid)ed Urteil war und bon bot)em $Bert.
dt war eine wornebmc Sflatur unb malte in aller ©title — fonnte
ffd) aud) faum jum 2Cudjtellen entfchließen; erfl nach feinem $obe famen bie
©Über in bie Dffentlid)feit unb würben gewürbigt, fo baß oiete oon ihnen
in mehreren ©alerien ihre bleibenbe ©tdtte fanben.
STOir ©tdbli war id) oon Äarldrut)e t)<r fdjon befreunbet, er hat ben
Äampf mit ber Sebendnot waefer beftanben, ja benfelben mit einer 2frt bon
grohlichfeit unb Übermut geführt — ein Äinb bon ftrohfTnn unb guter
Saune, babei aber fefl an bem haltenb, wad feine ©ad)e war unb immer
mehr feine flarfe Eigenheit entwicfelnb — er fdjien (Ich gar nicht barum \u
fümmern, baß ihm wenig Znerfennung juteil würbe, unb er hatte recht baran,
fo fehr ed aud) feine ftreunbe betrauerten, baß biefelbe ihm erfl am (Jnbe
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£<md Stoma: 3n Sttüncben im Xnfotlg fccr 70 er 3apre.
fct'ned bebend juteil würbe. 2??ir mar er ein treuer teilnebmenber ftreunb.
Such mit ftrolidjer, einer feftgefügten f»mpatf)ifd)en ©chweijernatur, tfanb
ich in guter ftreunbfchaft, unO id) perfebrte befonberd t>tcl mit biefen beiben.
Dr. ©anerdborferd ©eifhdreichtum war und allen »iel wert, fein
fcharfed Urteil unb treffenbed SBort war eine gute 9Bafe, bie mit ben fahren
immer mehr ©eltung gewann — trofc feinem fdjlagfertigen $Bi$ war er
bod) fein ©pötter, baoor t>at trjn ber f)of>c Srnfi bewahrt, mit bem er bie
Äunfl fo aufrichtig liebte, fein ©tnn war gefunb, unb fo t>at er immer
fegendreid) für bie Grntwicflung bed ©ufen in ber Äunft gewirft, aber gait}
in feiner UBeife ohne Programm, man f6nnte fagen ohne <pian, nur bureb
fein perfönlid)ed ©ein unb burdj perfönlidjen 5?erfeljr — bie oielfachen
«Plane, bie auftauchten, aud) bie 3Cufforberungen, ju fehreiben, bat er feiten
audgefufyrt — er fam fyaft nicht baju. ©anerdborfer ift ein ©eweid bafür,
baß ber perfönlidje Serfetjr bod) noch ber inten(T»|te, wirfungdooHtfe fein
faun — aud) in unferer 3nt/ in ber fo öiele, fogar aud) id), fdjretben.
«Plane würben wohl mand)e gemacht ju einer 3ßirfung in ber £ffentltchfett.
(Siner berfelben war, baß bie ©djriften Tflbredjt Durer« neu berauägegeben
werben foflten, jum Sttutsen ber beutfdjen tfunft — aber wir fanben weber
UDeg nod) Anfang baju. SBartin ©reif — freuen wir und, baß er nod) mit
ben l'ebenben wanbelt — war aud) babei, unb feine Dichtungen waren oon
Einfluß auf und unb Rauben in guter Harmonie mit unferem Denfen unb
Sun. — Und) Du <)>rel erfdjien oft in bem Äreife, ber ^>l)ilofopl) mit ben
gellen ©errangen, bie man nicht fo leicht oergißt, ©eine ©liefe in bie
©elt ber Sttnftif geborten fo recht in bad Äunftgebiet — wenn ed nicht oer-
flachen unb oermaterialifleren foll.
©ut in ber (Erinnerung ift mir ein Dr. ?id)tenftein geblieben, ein
fetner, jliller 9£ann, mit bem id) meiftend im Ghtglifchen Maftet beim iWittagd*
tifd) jufammentraf — aud) machte id) einmal mit if)m einen ftrublingdaudflug
nad) bem ^Ijtcnifee unb nach 2lbell}ol$en. 3ud) mit bem ©djweijer Dichter
?eutl)olb fam id) öfter* jufammen. Da id) nie ©eburfnid nach großem
SSerfehr t)attt, ihm eher aud bem SBege ging, fo war ber Äreid, in bem id)
wahrenb meined SKünchener 2(ufentl)alted »erfehrte, recht flein. 3fber ich
war gerne fröhlich mit ben gröblichen unb war »oll $ebendluft — ßlagenber
ober gar Tlnflagenber war id) n»e, wenn ich je$t aud) einiged erjahle, wie
bie $Birfung meiner ©über in ben Xudfiellungen fid) äußerte. Om $unft*
verein erlebte id) nicht oiel ©uted, viel beflfer ald in Afaridruhe war ed auch
nicht, jebod) war immerhin ein SDfalerpublifum oorhanben unb bad fanb ich
immer nod) gerechter, ald man gewöhnlich anzunehmen geneigt fein fönnte.
^erfönlid) war id) wenig befannt, unb ba wagte id) mid) ©onntagd »or*
mittag wenn id) ©Über audgeftellt tyattt, hier unb ba in ben Jcuniroerein.
$atf immer t)&rtc id) »on Damen unb Herren fchallenbed ©eldchter vor
meinen ©ilbern — feiten etwad ©uted — nur einmal (lanb oor einer
großen ?anbfd)aft breit ein echter SWünchener, ging jurücf unb »or, fd)üttelte
ben äopf unb tat bie Äußerung: Sefct weiß i net — bad ©ilb ift enrweber
audgejeidjnet gut ober mtferabel fd)led)t.
3n ber ©ommeraudjtellung aber »erfaufte id) mehrere ber in ©emau
gemalten ©ilber an einen £ngläuber namend Somad See — ju atterbingd
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#an* Storno: 3'» 9Rüitd)cn im Anfang ber "Oer 3al>rc.
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Heuten greifen — leiber fi"nb bie ©Über, nad) benen id) 9?ad)forfd)ungen
anfleflte, fowie ityr ©eft$er ntd)t meljr aufjufinben; id) l)6rte nur bie SBer#
mutung, baß berfelbe nad) 2fmerifa gegangen fei.
Sdjon oon Düffelborf l)er wußte id), baß id) bei tfunfüjanblern fein
©lücf Ijatte; in Stfündjen, bei meinem mef)rjdt>rigen tfufentljalt, l)at aber bod)
einmal einer eine* meiner ©über gefauft, unb ba* fam fo: 3H* SWttglieb
be* $unfh>erein* r/atte id) ba* ©lücf, ein Heine* ©enrebilb ju gewinnen,
ba* auf 300 ©ulben bewertet mar, id) mad)te mir nid)t* barau* unb (leßte
e* gfeid) umgefehrt an bie 5Öanb. Die ©ewtnnlifle wirb »eriffentlidjt, unb
fo vermutete td) aud) g(eid), warum ber Äunflfjanbler folgenben Sage* bei
mir eintrat unb jagte, er rooße (td) bod) einmal bei mir umfeljen, ob id)
nidjt etwa* für if>n t)abe, id) breite ben &unjh)erein*gewinnjt um unb fagte:
bier! — er far> e* mit einem leiten Mief an unb fagte: ba* ijt nid)t »on
3bnen, id) wiß wirflid) wa* üon 3l)nen r/aben. 9?un ftanb auf ber (Staffelei
ein mittelgroße* ©üb fertig — id) nannte einen maßigen <Prei*, er ging
roieber nad) bem ©enrebilbdjen, unb enblid) würben wir einig, baß er mir
für mein ©Üb unb tfunfh>erein*büb jufammen 100 ©ulben jaulte. Da
t)abe id) gelacht, benn id) bübete mir ein, für ein ©ilb »on mir enblid)
einmal 400 ©ulben gel6ft $u ^aben, ben $unftt>erein*geminn fonnte id) ja,
ba id) ü)m feinen 2Bert beifegte, außer SXedjnung (äffen. 31ber meine greube
dauerte m'c^t lange — nad) furjer 3eit fam ber Äunftljdnbler wteber, td)
freute mid) fdjon unb bad)te, ber wiß nod) mehr — er aber fagte: 3a, «£err
5t)oma, id) fann ba* ©ilb, ba* id) t»on 3t>nen gefauft fyabe, ntd)t behalten,
<Ste muffen e* wieber ^unternehmen, unb al* id) ihm fagte, baß id) nirfu in
ber ?agc fei, »erfaufte ©Über wieber jurücfjunehmen, erflartc er, bann
müffe er ba* ©Üb in bie SRumpelfammer (teUen, benn im ©alon fönne er
cd nid)t laffen, weil jeber, ber ju Ü)m fomme, barüber lad)e. Da* ärgerte
mid) nun bod), unb wir würben fjanbefdeintg, baß td) trrni 100 ©ulben
gab unb er mir wieber mein ©ilb. SKein <£elb|tbetrug war jerfr6rr, nur
100 ©ulben war mein ©Üb wert, ber jhtnih>eretn*fitfd) aber 300. Dtefe*
mein ©üb, jwet ÜÄctbdjen mit 3ieflen, ift »or ein paar Satyren für bie
25re*bener ©alerie angefauft worben.
Da id) je$t einmal ba* ÜBort habe, fo fann td) mid) nid)t oerwinbett,
aud) etwa* barü6er ju fagen, wie bie äRündwer 6ffentlid)e .Hritif ffd) ju
meinen Arbeiten oertjalten bat. Der Äritifer ber 3Tßgemeinen 3*üung war
recht ber J$auptlettf)ammel in ben 70er 3at)ren; berfelbe oergltd) bie Äunft
gerne mit politifcfjen 9)arteibÜbungen, unb fo paßte e* ihm, mid) ben „nicfjt
ralentlofen ©egrünber ber fojta(bemofrafifd)en Maleret" ju nennen, e* tjl
freütd) fcfjumm genug, wenn man für bie Äunflbeurteilung feinen anbern
«D?aßftab anlegt al* ben SBergleid) mit polttifdjeu ^arteibilbungen, aber wenn
bie ?efer fo bumm fmb, wie brr Sdjreiber bo*t)aft, fo leudjtet ümen bie*
ju aflermetft ein. Die £rbnung*parteien in ber Jfunft werben burd) fo ein
Schlagwort auf eine »erberbenbrotjenbe Sföirfung aufmerffam gemalt. —
2>ie SRetnb/eit ber £unftabfld)t wirb »erbdcfjtigt, ober e* wirb »on ber $or*
att*fefeung ausgegangen, baß fte überhaupt nur baju ba fei, berartige
^3arteibi(bungen \u fldrfen, ihnen ]\i bienen unb bergt, ©efagter jtritifer
fdjeint ffd) aber bod) für mid) interefftert ju l)aben; er ließ jiemlid) bireft
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§ani Sfroma: 3n SWündjen im Qfafang fccr 70 er 3ä^-
burd) einen gemeinfamen SBefannten mir bie ftrage »orlegen, wenn man
nur mußte, n>o id) benn eigentlich mit meiner CTalcrci hinauärcellte. SBorauf
id) in »oller Überzeugung antwortete: Ei, id) tt>iU gar nirgenbö Ijinaud —
id) forge nur, baß id) bei mir fefber bleibe.
2Tber ba* ifl nun einmal bie <5orge, bie ffd) gar manche um bie Äunft
machen — baß (Te wiffen möchten wad (Te benn eigentlich will — unb benen
ed gerabeju unheimlich bei ihr wirb, wenn ffe ffd) feinem ber 3wecfe, ber
ihnen gerabe am #erjen liegt, einfügen will.
@o fommt e* auch, baß ein Sttaler auf bie ftrage: „Sftun fagen ©ie
einmal, wa$ wollen <5ie eigentlich mit biefem fcilbe?" bie fdjnobberige UnU
wort gab: „Ei, oerfaufen will id)'*."
2Öenn ein SWaler nun gar nach ber allgemeinen SWeinung be$ Äunfi*
üereinäpublifumä, wie e$ bamalä war, offenbar „unoerfauflidje Silber"
malte, fo fam ihm ba$ fd)on faß bebenflid) vor unb gerabe bie, welche
am wenigflen baran benfen fonnten etwa* ju faufen, fdjrien am drgfkn
baruber.
SBcn ben anbern tfritifen will id) nicht* weiter fagen; eine in einem
v^ofalblatt fing an: „SWeifter Äler l)at wieber audgefMt." — Ein paar
Ausnahmen gab e$ freilid) aud) bamal* fd)on, bie ernfthaftere Erwägungen
anbellten. Einmal befam id) ein anonomeö (Sonett $ugefd)icft, etwa bahin
lautenb, meine Frechheit fei groß, baß id) e* wage, mein Sttadjwerf golb*
umrahmt »or ba* 9>ublifum ju bringen — mit bem ©djlußreim
„Streif Ääflcn an unb ©chretn,
©od) Daö Skalen, bad laß fein."
E* war 3ufall, baß id) mir ein paar ©olbraljmen angefdjafft !)atte,
um ©Über barin au*juftellen — id) tfeHte \\t fonft aud) fcljr oft in ein*
fad)en J£>ofjleifien aud.
Dergleichen ©ehaffigfeiten haben mid) aber nie »iel angefochten, ich
arbeitete unoerbroffen unb freute mich an allen (Schönheiten be* ?eben*,
ber £unfl unb ber herrlichen 9?atur SWünchen*; — id) war unempftnblid)
unb unoerwunbbar — hatte nicht einmal befonber* viel Sttalehrgeij, unb id)
hatte meine ©adje auch bann nicht »erloren gegeben, wenn id) fy&tte muffen
ftreidjen „haften an unb Schrein".
3m (Sommer 1813 fnupfte id) bie erflen granffurter ©ejiehungen an,
bie burd) (Sdjolberer unb SSiftor Kuller angebahnt waren. Ein fünft?
freunblid)er ^ranffurter Tlrjt, Dr. Otto Eifer, befreunbet mit biefen
beiben, fam ju mir, fah ein paar ©Uber im Atelier, ohne baß fle ihm einen
befonberen Einbrucf ju machen fchienett, unb wir »erfehrten in gemeffen
herfömmlicher ffieife — ein paar Sage jpater fam Dr. Eifer wieber ju mir
in* Atelier, unb ba war er oon gan$ anberer 3frt, ooll J£>er$ltd)fett unb
aufmerffame* Eingehen auf ba«, wa* id) atbtittte. Er h«t mir biefe auf*
fallenbe Änberung fpdter fetber erfldrt. Er fyattt juerfl im Atelier, wo icf)
aud) uidit »iel ju jeigen ^atte, feine aUjugroße SWetnung »on meinen
SMlbern — ben anbern Sag ging er in bie 2lu*ftellung — ba fah er mehrere
größere SMlber, bie ihm einen befonberen Einbrucf machten, unb er fagre
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§ani Stoma : 3n SKündjen im QCnfang ber 70er 3apre.
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in feinem Begleiter: „Uba, nun weif) idi, wo Sfjoma feine ©ad)en ber hat,
©ad ift e$, »ad er antfrebt" — neugierig ging er t)in, ben Siamen $u lefen
»on meinem SBorbilb, ba ftanb aber £an* Ztfoma barunter.
3d) folgte nun ber tiberau* freunblidjen Ginlabung Eifere* unb ging
im J&erbfie nad) granffurt; id) malte pueril ba* «Portrdt feiner grau, bann
ein paar Ätnber feiner SSerwanbten unb nod) einige anbere — fo ben SBaler
©urniß, ben id) fd)on bei meinem genfer Bufenttjalt fennen gelernt Ijatte —
bie 3tit »erflrid), unb id) wollte wieber nad) SDNkndjen juruef, aber ba war
tnjwrichen bie (Spolera ausgebrochen, unb mein greunb trat nun al$ 2(rjt
auf unb ließ mid) ni*t abreifen, aber er ermutigte mid) [ehr, meinen $Bunfd),
Italien $u (eben, anzuführen. 3m geuruar ging td) mit Ulbert Sang
borthin. Dod) ba wdre ein neue? Jfapitel n6tig unb wenn meine Sefer
gebulbig genug finc $ujut)6ren, fo crjdhle id) oieUeid)t ein anberma( baoon.
3d) war »irr Monate in 3ta(ien; in SRom mar id) mit meinem alten £unft#
fd)ulfreunb Sugo wieber jufammen — er führte mid) in bie Kampagne unb
überall l)in. 3m folgenben #erb|le malte id) mit @rnft ©att.'er in ©d)weinfurt
in einem 5Beinberg$turm SÖanb* unb Decfenbilber mit Semperafarben. 3n
granffurt malte id) benn im UÖinter im £aufe be$ #errn Hier, ©erlad) in
einem ©artengimmer Sanbfdjaften an bie tfödnbe, ging aber im grül)ling
»ieber nad) SBündjen, wo e* fo weiter ging, wie id) »ortjer fdjon erjdtjlenb
teilweife »orgegriffen habe; id) malte bann einen Sharon unb oiele anbere
©Über, Die grublingätage 1876 waren für mid) fetjr glucflid)e, ein grofee*
Unabt)Angigfeitdgefül)t in bejug auf Seben unb Äuntf beberrfebre mid), jugleid)
war e$ aber aud) bie ernftefte 3cir meineä bebend, eö* war gewiffermaßen
eine ^rufungdjeit bar über, ob bie ©runbfdfte, bie id) im Seben gewonnen
babe, flid)baltig feien. 3m (Sommer war id) meifl in Edingen ober im
©djwarjwalb broben, aud) einige $Öod)en in bem fd)6nen malerifd)en ©djaff*
häufen unb war meifl fchr fleißig mit ©tubienmaten befd)dftigt. 3m
«£trb|t 1876 ging id) wieber nad) granffurt, wol)in injwifd)en aud) mein
greunb Steinhaufen ubergejtebelt war unb wir arbeiteten ben SBtnter über
in einem gemeinfd)aftlid)en Atelier. 3m 3uni 1877 führte id) meine Siebe
jum Traualtar in ber eoangehfdjen tfirene in ©defingen, um bann im J^erbfle
ganj nad) granffurt uberjuffebeln, mit grau, mit SWutter unb ©djwejter in
ein Heineä befdjeibene* #eim — aber bie ©onne ber Siebe leuchtete barin
unb trug baju bei, ba§ alle Ärdfte, bie in bejug auf meine funftlerifdje
@nrmtcflung in mir lagen, jur Steife gelangen fonnten. SKuhe, 3ufriebrnl)ett
warben mir befeuert, (litte frohe Xrbeit war mein Seil — an ber meine
rebenögefdfyrtin, felbft jur auäubenben, talentooUen Malerin geworben,
Irbenbigjten Anteil nahm — wie nichtig würben ba all bie fritifdjen Angriffe,
benen td) aud) hier auögefefet war, mad harten biefe ©berflddjenbemerfungen
für S&ebeutung, wie wentg flimmerten mid) aud) bie 9Ufü Gerungen, benen
meine Silber von ben beutfd)en #unftgeno|fenfd)aft$au$ftellungen in ©erlin
unb Düffelborf auegefegt waren — td) fdjidte einfad) nid)ts mehr t)tn —
nur in «Kundjen war id) einer freunbltd)en Aufnahme fkher unb fd)icfte
immer ©Über auf bortige Ausfüllungen. 3n granffurt war bie 3eit bee
Äampfed, ber ©türm unb Drang, in bem id) bie 3al)re l)er, »on benen tc^
bidt)cr erjdhlt habe, lebte, abgefd)lo(fen, ti war griebe, griebe in mir, griebe
•ÄÜbbc'.itfdjf UJonats^cfte II, 1, 4
50
£anS Sboma: 3n 9Bünd)en im Wang ber 70 er ^apre.
um mid) — funfunbjmanjtg glücflidje 3ab,re, bie" ber ©Knitter $ob mir bic
£cbert$a,cfabrtin grauiam entnp.
Dod) mein <Srjal)Ien ifl fd)on »fit über Sttündjen t)inau$gelangt unb
e* taud)«t bif granffurtfr ®fftaltfn auf, aud) ba»on flnb fdjön »tele tjetm*
gegangen, unter itjnen aud) mein treuer, tapferer ftrcunb Otto Öifcr.
3um ©d)lu# bemerfe id), baß »on £ampf unb tfrieg, »on ©türm unb
Drang unb bewegten (Sreigntffen jiemlid) leid)t $u erzählen ift, baju brauefit
man fein gefd>ulter (BcfjriftflcÜer ju fein, bie ©adje mad)t fid) faß »ou fclbft,
bie <5ad)e biftiert bireft in bie $eber unb ber l'efer lieft ci aud) gerne.
3Benn id) in ben vier Tfrtifeln, in benen id) erjafylt habe, gebulbige 3ub,6rer
gehabt tjabe, fo liegt bte$ am ©toff — wenn e$ aud) fein Ärteg war —
eine $rt »on Äampf ift jebe (Sntwitffong. 3tuf)ige 3uftanbe beharrlichen
^rieben* ju fd)ilbern, ba$ ift etwa* red)t fdjwere* — h/icr müfte ber <Sr*
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»fiter fagen fann, al* ungefähr fo: Sorgefiern war'* fd)6n, geftern aud),
b,eute nod), morgen wirb** »ieber fo fein unb aud) übermorgen; ober: id)
ijabe gemalt, id) male unb id) werbe malen.
3fu$ foldjem „9*id)t$" etwa* madjen, ba fangt erfi ber ed)te ©d)rift*
(lefler an. Darum fann id) ed nidjt wagen, ein weitere* Äapttel „ftranf*
furt" meinen <£rjdl)lungen beijufugen.
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Spinoza.
Von Fritz Mautbner in Grunewald bei Berlin.
Seit Lessing ist das Ansehen Spinozas im Wachsen begriffen.
Vorher redete man von ihm „wie von einem toten Hunde". Hundert
Jahre lang wagte fast niemand den Namen Spinoza anders als unter
Verwünschungen zu nennen. Und dabei waren seine Bücher so gut
wie verschollen. Es war schwer, auch nur ein Exemplar der Ethik
des Maledictus Spinoza aufzutreiben. Nach Lessing haben Herder
und Goethe in Spinoza ihren geistigen Erlöser gesehen, und man
kann wohl sagen, dass unsere deutsche Weltanschauung, wie sie
sich seitdem auch noch durch Sendling, Hegel und Schopenhauer
entwickelt hat, teils spinozistisch sein will, teils spinozistisch ist.
Darin aber übertrifft Spinoza alle Denker vor ihm und nach ihm,
dass er wie keiner vor oder nach ihm die Notwendigkeit, die
lachende Notwendigkeit alles und jeden Geschehens immer und
ohne Ausnahme empfunden und ausgesprochen hat, und dass ihn
dieser Hohn des Weltlaufs, diese objektive Heiterkeit der Weltgesetze
nicht erschreckt, sondern zur Förderung einer unzerstörbaren subjek-
tiven Heiterkeit des Denkens geführt hat. Spinoza hatte wohl unter
allen Menschen, die je ihr Denken auf die Nachwelt gebracht haben,
zugleich die tiefste und die hellste Weltkenntnis, aber er besass eine
schlechte, ja recht eigentlich eine verkehrte Erkenntnistheorie.
Ich möchte empfehlen, einmal einen ganz neuen Auszug von
Spinoza zu veranstalten. Man lasse doch sämtliche Beweise einfach
weg, dazu alle die Lehrsätze, die nur die Lücken des Systems aus-
zufüllen bestimmt sind. Man ordne dafür die Zusätze und Erläute-
rungen, die Vorreden und Anhänge hübsch zusammen, man füge
aus seinem grossen Traktate und aus seinen herrlichen Briefen das
Nötige hinzu, und die Welt wird den unvergleichlichen Philosophen
endlich lesen können. Denn so liegt die Sache bei Spinoza: wo er
sich gehen lässt, steht ihm die eindringlichste Sprache zur Verfügung;
wo er unter der Laune seiner eigenen Erkenntnistheorie steht, wo er
also durch Begriffe und Logik Erkenntnis schaffen will, da sinkt er
eigentlich noch unter die Scholastiker hinab. Diese hatten wenigstens
ihre konventionelle Sprache gemeinsam und konnten einander ver-
stehen — was man so sagt. Spinoza schlägt seine gewaltige und per-
sönliche Weltanschauung an das Kreuz einer persönlichen und dennoch
konventionellen Sprache und wird immer da dem neueren Sprachgeiste
unverständlich, wo er klar zu sein glaubt wie ein Mathematiker.
Er hat die Scholastik darin überwunden, dass er wirklich keine
Autoritäten kennt. Er zuerst kritisiert die Bibel, er zuerst weist auf ver-
gleichende Religionsgeschichte und schon auf Indien hin, er zuerst wirft
sowohl den Piaton als den Aristoteles ab. Aber leider kennt er auch
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Fritz Mauthner: Spinoza.
nicht den Zweifel Descartes. Wäre Spinoza ein Skeptiker gewesen,
wie ja doch die Juden geborene Skeptiker sein sollen, seine Bücher
wären der Schlussstein menschlichen Denkens. Auch er aber unterlag
dem Fluche des Menschengeistes, auch er glaubte an eine Erkenntnis
durch Begriffe. Seine Bücher sind dogmatisch geworden, weil er an
die Erkenntnis glaubte, weil er die Erkenntnis nicht nach ihrer Her-
kunft fragte. Für Spinoza gehört die Möglichkeit der Erkenntnis von
Ewigkeit mit zur ewigen Natur. Seine Weltanschauung ist der höchste
und freiste Naturalismus und steht hoch über dem beschränkten Ma-
terialismus, der auf ihn folgt. Der Materialismus vermag das Denken
nicht zu erklären; Spinoza versucht es gar nicht. Der Materialismus
aber ahnt seine eigene Beschränktheit wenigstens; Spinoza steht
ahnungslos vor den Widersprüchen seiner Erkenntnistheorie.
Wer ist denn sein erkennendes Wesen? Er setzt Gott und die
Natur einander gleich und sieht im einzelnen Menschen nur eine
flüchtige Erscheinung Gottes oder der Natur. Sein Gott hat kein Ge-
hirn, keine Sprache, sein Gott hat keinen Verstand; und sein Mensch
ist eine Erscheinung Gottes oder der Natur. Wer kann also etwas
erkennen?
Und was soll da erkannt werden? Gott oder die Natur ist un-
endlich und ewig und unerkennbar, und ausser Gott oder der Natur
gibt es nichts Erkennbares.
Hat also Spinoza mit seiner Erkenntnistheorie recht, so besitzt der
Mensch, so besitzt auch Spinoza kein Denkorgan, diese richtige Welt-
anschauung zu begreifen und zu beweisen; hat aber Spinoza oder irgend
ein Mensch Erkenmnismöglichkeit, so muss die Theorie Spinozas falsch
sein. Dieses traurige Dilemma scheint mir unwiderleglich.
Wie zum Trotz will aber Spinoza seine Lehre nicht nur in Be-
griffen mitteilen, sondern sie geradezu nach der Methode der Geometrie
beweisen.
• *
Hier nun kommt es mir darauf an, Spinozas Zeugnis für meine
Anschauung durch seine Bedeutung und seinen Charakter nach seinem
Werte zu bestimmen, sodann Spinozas Sprachauffassung in Theorie und
Praxis klarzulegen. Weil aber die grosse Schwäche von Spinozas Haupt-
werk gerade in dieser ganz unmöglichen geometrischen Methode liegt,
also in der Darstellung oder der Sprache, darum scheint es mir nötig,
vorher zu sagen, was diesen ausserordentlichen Mann zu einem so ver-
hängnisvollen Fehler verführte. Es waren zwei Irrtümer, die aber eigent-
lich ein einziger Irrtum sind: er überschätzte den Wert der mathematischen
Methode und den Wert der Logik. Da und dort besteht der Fehler
darin, dass er glaubte — wie übigens alle Welt glaubt — das Denken
durch Erinnerungszeichen führe über die unmittelbare Anschauung hinaus.
Er war in diesem Glauben nur konsequenter als alle Welt.
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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Die Überschätzung der geometrischen Methode war zu Spinozas
Zeit ganz natürlich. Wird doch die alte Euklidische Geometrie heute
noch fast unverändert auf allen Schulen gelehrt und als das Muster
von sichern und eleganten Beweisen, von einem zuverlässigen, fort-
schreitenden Denken gehalten. Schopenhauers Darlegung, dass diese
Art von Geometrie unser Wissen nicht bereichere, ist so gut wie
vergessen. Oder sie wird, wie jüngst geistreich von A. Pringsheim,
in ihrer antimathematischen Tendenz bekämpft. Schopenhauer ging
freilich von den Subtilitäten aus, mit denen Kant alle Raumbegriffe
der Wirklichkeitswelt absprach und für Formen der reinen Vernunft
erklärte; aber Kant beiseite hatte Schopenhauer auch Recht. Die
vielbewunderte Methode des Euklides und seiner tausend Nachahmer,
nämlich von einigen einfachen Sätzen auszugehen und aus ihnen die
verwickeiteren zu beweisen, diese Methode ist recht schön für Lehrer
und Schüler; Wissenschaft ist sie nicht. Gerade die einfachsten Axi-
ome brauchen zu ihrem Begreifen die schwierigsten Begriffe und werden
darum neuerdings auch bestritten, sind also keine Axiome mehr. In
den Beziehungen der Raumgrössen gibt es kein Nacheinander. Jeder
Satz lässt sich insofern umkehren, als in diesen Beziehungen Ur-
sache und Folge immer wechselseitig vertauscht werden können. Setzt
man im Dreieck die Gleichheit der Winkel, so folgt die Gleichheit der
Seiten; aber ebenso wird die Gleichheit der Winkel zur Folge, wenn
man die Seiten gleichgesetzt hat. So ist das Lehrgebäude der Geometrie
durchaus nicht das Muster fortschreitenden Denkens. Euklides musste
allerdings mit irgendeiner Anschauung beginnen; er hätte aber ebenso-
gut oder vielleicht besser, mit der Anschauung vom Würfel oder von
der Kreisfläche beginnen und seine ganze Geometrie von da aus er-
schliessen können. Ebenso hätte Spinoza mit seinen gewaltigen An-
schauungen von der notwendigen Verkettung alles Geschehens anheben
müssen, anstatt mit den weitesten, leersten und umstrittensten Axiomen
von der Substanz, der Ursache, dem Sein und dergleichen, wenn er
nicht die Euklidische Geometrie irrtümlich für das Muster eines wissen-
schaftlichen Gebäudes gehalten hätte. Sein zweiter Irrtum bestand darin,
dass er, wie die Methode der Geometrie, die Logik überhaupt über-
schätzte, d. h. das Denken oder die Sprache. Es folgt nämlich ganz an-
schaulich aus dem sprachkritischen Gedanken, dass die geometrische Methode
— so mannigfaltig und schülermässig sie auch ist — doch auch nicht entfernt
von andern Wissenschaften erreicht werden kann, die als Werkzeug der
Mitteilung die Sprache allein besitzen. Wohl sind die Beweise des
Euklides wieder nur Mausefallenbeweise, bei denen der Lehrer am Ende
die Maus hervorzieht, die er vorher hineingetan hat. Sie bereichern
das lebendige Wissen nicht, aber sie haben doch Beweiskraft von Fall
zu Fall. Diese Beweiskraft der Geometrie nun rührt immer eigentlich
von der beigegebenen Zeichnung her, die sich zu ihrer mathematischen
Erklärung jedesmal verhält wie die Wirklichkeitswelt zu ihrer unmittel-
baren Anschauung. Da ist Irrtum ausgeschlossen. Ein Philosoph also,
der ohne Überschätzung der Worte die geometrische Methode nach-
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Fritz Mauthner: Spinoza.
ahmen wollte, dürfte sich gerade niemals von der Wirklichkeitswelt ent-
fernen und müsste bei naturwissenschaftlichen Erscheinungen stehen-
bleiben. Und hätte Spinoza sogar anstatt des Euklides und seiner Geo-
metrie sich die höhere Analyse zum Muster nehmen können, die gerade
damals ohne Wirklichkeitswelt und ohne Zeichnung zu rechnen anfing,
so hätte er doch selbst diese abstraktere Sprache der Mathematik mit
der allgemeinen Sprache niemals erreichen können, weil die mathe-
matischen Zeichen eben das besitzen, was menschlichen Worten immer
fehlt — : die vorherige Verabredung, die strenge Geltung für jeden einzelnen
Fall und die Messbarkeit ihrer Verhältnisse. Und auch die Analyse
hätte überdies zur Erklärung der Wirklichkeitswelt eine schlechte Methode
gewiesen. «Aus rein Analytischem kann nur wieder Analytisches, es
darf daraus nichts spezifisch Geometrisches gefolgert werden." (Alois
Riehl: H. v. Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant.)
Ich glaube also bisher gezeigt zu haben, dass dieser in seiner Welt-
anschauung freiste aller Denker in seiner Darstellungsform gebundener als
die andern war. Wieder aber wäre es gefehlt, ihn um dieser Unfreiheit
willen tadeln zu wollen. Es gehört untilgbar mit zu dem Charakter-
bilde dieses einzigen Mannes, dass er bis ans Ende ging, wo er irrte,
wie er bis ans Ende ging, wo er die Wahrheit sah. Alle Denker vor
und nach ihm haben das Denken oder die Sprache überschätzt; alle
hätten gleich ihm dieses Werkzeug nun im Sinne der Überschätzung
mathematisch gebrauchen müssen, wenn sie konsequent gewesen wären
wie Spinoza, wenn sie ehrlich wie er unerschütterlich an ihren Glauben
geglaubt hätten, wenn sie nicht heimlich ein schlechtes Gewissen gehabt
hätten beim Gebrauch ihrer Sprache. Spinoza allein hatte kein schlechtes
Gewissen; er war so gross, dass er gewissenlos sein durfte, d. h. un-
beirrt von Vorurteilen. So wurde der ärgste Ketzer unbeirrt zum Dog-
matiker. Nicht einmal der Umstand beirrte ihn, dass er selbst, und
lange vor der Abfassung seiner Ethik, die geometrische Methode an-
gewandt hatte auf seine Darstellung der Lehren des Descartes, der doch
damals von ihm innerlich schon überwunden war. Man muss fragen,
und man hat gefragt, wie ein solcher Mann Sätze, die ihm überwunden
schienen, mit dieser untrüglichen Methode habe beweisen können? Man
hat sogar gesagt, es liege darin eine Art Humbug. Man hat dabei ver-
gessen, dass Spinoza den Zweifel des Descartes eben nicht kannte oder
vielmehr sehr fein von dem grundsätzlichen Zweifel des Skeptikers unter-
schied. Man hat aber vielleicht noch eine Kleinigkeit übersehen, auf
die ich aufmerksam machen möchte. Seine Ethik will Spinoza, wie das
Titelblatt verspricht, nach geometrischer Methode (ordine geometrico)
beweisen ; auf dem Titelblatt der Grundsätze kartesianischer Philosophie
verspricht er nur, sie auf geometrische Art und Weise (more geometrico)
zu beweisen. Der Unterschied ist unabsichtlich, aber er ist der von
Ernst und Spiel; an der Wahrheit der Ausgangssätze des Descartes, dieser
kartesianischen Teufelchen, konnte Spinoza zweifeln, an der mathematischen
Kraft des sprachlichen Denkens zweifelte er nicht.
Und vielleicht lässt sich der Tiefsinn Spinozas dadurch retten, auch
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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in seinem schweren Irrtum, dass man diesem übermenschlichen Denker
einen fast übermenschlichen Gedanken zutraut, wie denn bewusste Be-
scheidenheit lehrt, alles für des Lehrers Gedanken zu halten, was im
Schüler durch des Lehrers Worte angeregt worden ist.
Spinoza hat zu dem ersten Teil seiner Ethik, zu der Lehre von
Gott, einen Anbang geschrieben, eine Erklärung, die ebenso bewunderungs-
würdig ist, wie der Text selbst verschult und angreifbar. In dieser
überzeugenden Anmerkung will er wie immer die um Menschenschicksal
unbekümmerte eiserne Kette der Notwendigkeit darstellen und den Glauben
an Zweckursachen und damit jede Form theologischen, ethischen, ja selbst
ästhetischen Aberglaubens mit der Wurzel ausreissen. Niemand ist bis
zu dieser Stunde über den Geist dieser Anmerkung hinausgelangt. Die
Revolution aller Wissenschaften im i9. Jahrhundert Hesse sich her-
leiten von diesen Sätzen: „Nachdem die Menschen sich eingeredet
hatten, die Welt und der Welt Lauf sei ihretwegen da, mussten sie an
jedem Dinge dasjenige für das Wichtigste und Wertvollste halten, was
ihnen am nützlichsten oder angenehmsten war. Daher mussten sie
sich diejenigen Begriffe bilden, mit deren Hilfe die Welt zu erklären
wäre, die Begriffe: das Gute, das Schlechte, die Ordnung, die Unordnung,
das Warme, das Kalte, die Schönheit, die Hässlichkeit. Und weil sie
sich für frei hielten, entstanden die Begriffe: Lob und Tadel, Sünde und
Verdienst.* Man horche wohl darauf, wie Spinoza hier mit einem grossen
Atemzuge nicht nur die Grundlage der Kirche, die Lehre von der Zu-
rechnung, umbläst, sondern zugleich die Ausgangsbegriffe der Ethik, der
Empfindungslehre, insbesondere der Ästhetik, wobei es noch gar nicht
ausgemacht ist, was alles noch mehr durch Abstreifen der Begriffe
.Ordnung und Unordnung" in seinen Grundlagen erschüttert sein mag.
In diesem selben Zusammenhang hat Spinoza das stolze, in seiner Ruhe
alles niederbeugende Wort gesprochen: „Das Fragen nach Absichten in
der Natur, d. h. nach Zweckursachen und den Ursachen der Ursachen,
müsse schliesslich immer zurückflüchten zu einem Willen Gottes, diesem
Asyl der Unwissenheit (ad ignorantiae asylum)," wobei zu beachten ist,
dass Spiuoza hier unter Ignoranz fast ohne Bosheit die Tatsache des
Nichtwissens versteht.
In diesem selben Zusammenhange klagt nun Spinoza, der Glaube
an Zweckursachen (und an das, was drum und dran hängt) hätte für sich
allein hingereicht, der Menschheit die wahre Einsicht für immer zu ver-
schliessen; da habe glücklicherweise die Mathematik, welche sich nicht
um Zweckursachen, sondern um das Wesen und die Eigenschaften der
Raumgestalten kümmert, den Menschen eine andere Norm der Wahr-
heit gezeigt.
Hier nun scheint mir die fast übermenschliche Anschauung für einen
Augenblick entschleiert zu werden, die den Spinoza unbewusst zu seinem
mathematischen Denken führte. Tief im menschlichen Wesen begründet,
in dem Schein seiner Willensfreiheit nämlich, ist seine Sehnsucht nach
einer Absicht in der Natur, nach einem Gott. So grausam, ein solcher
Moloch ist diese Täuschung in uns, dass — wie ich zeige — auch der
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Fritz Mautbner: Spinoza.
Darwinismus sie nicht überwunden bat. Ja, ich scheue mich nicht, es
auszusprechen: Dieser Glaube, diese Sehnsucht an eine Absicht in der
Natur ist in uns unzerstörbar, die Absicht in der Natur ist in den
Menschen eine angeborene Idee, was ich deshalb ruhig sagen kann,
weil ich dazu behaupte, dass Ideen oder Begriffe darum nicht wahr
sein müssen, weil sie angeboren sind. Angeborene Ideen sind
falsch, wie jemand eine Truhe mit falschem Gelde erben kann, oder
einst vollwertiges Geld erben, das inzwischen entwertet worden ist.
Niemand hat wie Spinoza diese angeborne Idee bekämpft, und wenn
er in diesem Kampfe nach der mathematischen Methode griff, so hatte
er dabei vielleicht den folgenden Gedankengang: In der Mathematik gibt
es sicherlich keine Zweckursache. Die Gleichheit der Seiten folgt zwar
z. B. aus der Gleichheit der Winkel; ebenso folgt die Gleichheit der
Winkel aus der Gleichheit der Seiten. Hätte Spinoza seinen Scharfsinn
an die Erkenntnistheorie gewandt, er hätte aus der Umkehrbarkeit aller
solcher mathematischen Sätze die Ahnung schöpfen müssen, dass auch
der Begriff Ursache, logische Ursache, für solche Wechselbeziehungen
ein sinnleeres Wort sei. Ihm aber war es in genialer Einseitigkeit bloss
um die Vernichtung der Zweckursachen zu tun. Da konnte er den Ge-
danken fassen, dass Zweckursachen — wenn sie schon in umkehrbaren
mathematischen Sätzen ausgeschlossen sind — noch sinnloser sein müssen
in der Ursächlichkeit des Wirklichen, weil diese Ursächlichkeit sich in
der Zeit vollzieht und sich daher nicht umkehren lässt. Auch wo wir
die Zeitfolge nicht wahrnehmen, in der Wirklichkeitswelt nehmen wir
sie unbedingt an. Wenn wir den Hahn am Gewehr berühren und im
selben Augenblick der Schuss kracht, so „wissen" wir dennoch, dass nach-
einander, in der Zeitfolge also, die schnappende Eisenspitze das Zünd-
hütchen getroffen, der Funke das Pulver entflammt und das Pulvergas
die Kugel herausgetrieben hat. Ist nun in der umkehrbaren Beziehungs-
folge der Raumverhältnisse schon der Zweckbegriff nicht unterzubringen,
um wieviel weniger in der Zeitfolge der Wirklichkeitswelt, wo doch un-
entwurzelbar die Ursache der Vergangenheit angehört, der Zweck aber
etwas Zukünftiges sein müsste. Dieses konnte nach Spinoza die
mathematische Methode lehren. Aber vielleicht noch mehr.
Die mathematischen Gesetze sind ewige Gesetze, weil sie zeitlos
sind. Spinoza liebt den Gedanken, dass auch die Gesetze der Wirk-
lichkeitswelt ewig seien, dass man jede Einzelerscheinung unter dem
Gesichtspunkte der Ewigkeit betrachten müsse. Wie nun, wenn auch
die Wirklichkeitswelt, das Wirken aller Körper aufeinander in tiefstem
Grunde zeitlos wäre? Umkehrbar wie die Mathematik und darum zeit-
los? Wie wenn die Mathematik durch diesen Gedanken die arme
Menschheit von dem Wahnsinn der Zweckursachen befreien könnte?
So mag Spinoza Unsagbares geahnt haben. Aber er vergass da-
bei — wie ich es eben vergessen musste — dass die Worte der
menschlichen Sprache Zeitloses nicht ausdrücken können, dass unsere
Worte Zeichen sind, Erinnerungszeichen unserer Empfindungen, immer
nur Erinnerungszeichen für das, was uns erscheint, dass also keine
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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menschliche Sprache sich losreissen kann von dem Widerbaken der
Zeitfolge und der Ursache, mit dem die Wirklichkeitswelt unser Gehirn
hinter sich herreisst. Und der Begriff der Ursache ist zuletzt nicht
wirklicher als der Begriff der Zweckursache; nur dass wir es nicht
sagen können, weil wir die Umkehrbarkeit der sogenannten Zeitfolge
nicht fassen können.
Kaum die dunkle Ahnung kann ich hinzufugen, dass die Absichten
in unserm sogenannten Selbstbewusstsein — die wir so gern auf die
Natur übertragen, und die in uns den Schein der Willensfreiheit er-
zeugen — sich vielleicht doch so als zeitlos erkennen lassen, dass wir
sie als gedachte Zwecke erkennen, also als dasselbe, was auch die
andern Vorstellungen sind. Wenn wir begreifen, dass der Ablauf
unseres ganzen Lebens nur ein Auf und Ab auf den ausgefahrenen
Gleisen unserer Nerven ist, dass unsere Vorstellungen wie unsere
Willensbewegungen nur einander aufhebende Nervenzuckungen in um-
gekehrter und vielleicht umkehrbarer Richtung sind, dass — wie schon
Spinoza gelehrt hat — Wille und Vorstellung eins ist, dann werden
wir wohl den Gedanken mit lächelnder Trauer umarmend festhalten
können: Wie unsere eigenen Absichten doch nur Erinnerungen
sind, unsere künftigen Zwecke also etwas Vergangenes, so ist
unser Leben zeitlos, zeitlos die Wirklichkeitswelt.
Und so steht hinter dem grossen Irrtum Spinozas, seine Sprache
einer mathematischen Anwendung fähig zu halten, eine noch grössere
Ahnung dessen, was wir in unserer bettlerfrechen Sprache Wahrheit
nennen.
* *
•
Es fällt schwer, bei einer so übermächtigen Erscheinung erst
noch nach der Glaubwürdigkeit zu fragen, bevor man ihr Zeugnis an-
ruft. Es ist als ob der Leiter einer Gerichtsverhandlung seinen Vater
oder seine Mutter nach dem Namen fragen wollte. Und es fällt
schwer, Spinoza gegenüber die Eigenschaft zu benennen, die für seine
Glaubwürdigkeit bürgen könnte. Unbestechlichkeit, Ehrlichkeit, Tapfer-
keit, Wahrheitsliebe, alle diese schönen Worte und Namen von Tugen-
den zerplatzen wie Seifenblasen, wenn man an ihnen Spinoza zu Ende
denkt, der (im 36. Briefe) einen Muttermord, wie ihn Nero beging,
kaltblütig und mit Verwerfung des Begriffs „Böse" unter die Natur-
ereignisse rechnet, wie man auch wohl ein einzelnes unregelmässig
geformtes Blatt nicht ethisch verurteilt. Es heisst darum nicht zu
weit ausholen, wenn wir es so ausdrücken, dass Spinozas Einsicht nie-
mals nachweisbar von den dreierlei Absichten der gemeinen Mensch-
heit getrübt war, nicht von Liebesgier, nicht von Hunger und nicht
von Eitelkeit. Nur wie der Schatten einer Legende zieht eine Neigung
für jene Clara Maria über sein Leben hin. Bedürfnislos wie ein echter
Orientale verdient er sich seinen Bissen Brot mit einer Handarbeit,
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Fritz Mauthner: Spinoza.
die ihm doch zugleich wissenschaftliche Übung war. Und seine Eitel-
keit ist so gering, dass er es mit Verachtung trägt, verachtet zu
werden, und man von ihm wohl mit grösserem Recht als von seinem
jüngern Zeitgenossen Malebranche sagen könnte, er habe die Wahrheit
gesucht durch jeden Verruf hindurch und jeden guten Ruf (per in-
famiam et bonam famam). Zum Erweise seiner Absichtslosigkeit,
seiner sittlichen Hoheit, dürfte man von jedem andern als von Spinoza
sagen, braucht man nur daran zu mahnen, dass und wie es Spinoza
ablehnte, als Professor an einer deutschen Universität mitten unter
Verfolgungen ein äusseres Lebensziel und Sicherheit vor Not zu
finden. Der Kurfürst von der Pfalz, der Bruder von Descartes' Prin-
zess Elisabeth, wollte ihn zum ordentlichen Professor der Philosophie
an seiner Universität Heidelberg machen. Spinoza sollte, wie das in
der Welt ja zuweilen vorkommt, der Vorgänger seines Nachlesers Kuno
Fischer werden. Man versprach Spinoza Lehrfreiheit in vollstem Um-
fang und deutete nur bescheiden die Erwartung an, „er werde sie
nach dem Vertrauen des Fürsten nicht zur Störung der öffentlichen
Religionseinrichtung missbrauchen (qua te ad publice stabilitam Religionem
conturbandam non abusurum credit)".
Spinozas Antwort ist einfach. Er lehnt ab, zunächst, weil er
nicht weiter denken zu können meint, wenn er junge Burschen unter-
richten müsse. Dann aber auch, weil ihm kein Kurfürst die Gewiss-
heit geben könne, er werde nie den Schein der Religionsstörung auf
sich laden. Der Religionsstreit entspringe ja nicht aus regem Religions-
eifer, sondern aus allerlei gemeinen Leidenschaften.
Diese heiligende Absichtslosigkeit durchzieht überall Spinozas
Leben. Ähnlich wie Lessing verdirbt es Spinoza tegelmässig mit
beiden Parteien, zwischen denen er wählen müsste; nur dass Lessing
die Grösse seines Charakters mit Bitterkeit bezahlt, Spinoza sie durch
Heiterkeit krönt. Man könnte sagen, Spinoza sei als Jude in der
glücklichen Lage gewesen, sich um christliche Pfaffen und um ihre
Scheiterhaufen nicht bekümmern zu müssen. Im Jahre 1663, da Spi-
noza sein erstes Buch herausgab, das Buch über Descartes —
wurde Descartes selbst auf den päpstlichen Index verbotener Bücher
gesetzt. Man könnte sagen: Was ging das den Juden Spinoza an?
Für die Kirche war die Lehre Descartes wahrscheinlich darum nicht
annehmbar, weil der Begriff der Einheit aller Substanz der Mythologie
von der Transsuhstantiation (beim Messopfer) widersprach. Die Götter
waren eifersüchtig aufeinander; dem konfessionslosen Juden konnte das
gleichgültig sein.
Gewiss war es günstig für Spinoza, dass er aus dem machtlosen
Judentum austrat, und nicht aus dem mit Brandfackeln bewaffneten
Christentum, als er eben die Kirche verliess. Es machte ihn auch
wohl innerlich freier, dass er in reiferen Jahren gewisse Legenden
(von einer unsterblichen Seele und von überirdischen Engeln Gottes)
nicht erst langsam abzustreifen brauchte; der zum Rabbiner aus-
gebildete Jüngling hatte im Alten Testament keine eigentlichen Dogmen
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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darüber gefunden und hatte die Vorstellungen der christlichen Scholastik
darüber nicht früh genug kennen gelernt, um für Lebenszeit transzendent
zu sein. Eine ganze Anzahl mittelalterlicher Wortfetische konnten ihm
den Verstand nicht verrenken wie einem Descartes noch. Gewiss war
es gut für ihn, dass seine nächsten Feinde nicht Dominikaner mit ihren
Scheiterhaufen waren, sondern nur armselige Rabbiner, die ihn anspien.
Der ganze Abstand zwischen christlicher und jüdischer Glaubenstollwut
liegt darin, dass die erste verbrennen durfte, die zweite aber nur an-
speien. Gewiss hätte man einen christlichen Spinoza in Stücke ge-
rissen, wenn er christlichen Glaubensrichtern mit somatischer Ironie
geantwortet hätte, wie Spinoza — man erzählt es — dem Rabbiner
Morteira: »Spinoza habe bei ihm Hebräisch gelernt, so möge denn
der Rabbi jetzt an ihm excommunizieren lernen." Gewiss ist es ein Be-
weis der Ohnmacht seiner Gegner, dass die Juden einen Spinoza, auf
den sie jetzt gein stolz sein möchten, durch die schmutzigste Be-
stechung, durch das Anerbieten eines Jahrgehalts von tausend Gulden
zam Schweigen zu bringen suchten.
Aber am 27. Juli des Jahres 1656 wurde doch in der Synagoge
von Amsterdam der grosse Bann über Spinoza ausgesprochen, wohl ge-
merkt, nachdem zuerst das Attentat auf seine Seele durch die Bestechung
und wohl auch ein Attentat auf sein Leben vorausgegangen war. Wir
kennen durch Gutzkows Theaterstück den Eindruck eines solchen ohn-
mächtig-blutdürstigen jüdischen Bannfluchs. Wir kennen jetzt auch den
Wortlaut dieses Cherem, wo es nicht ohne eine gewisse Poesie der
Bestialität unter anderm heisst:
„Nach dem Urteile der Engel und dem Beschlüsse der Heiligen
bannen, Verstössen, verwünschen und verfluchen wir den Baruch de
Espinosa mit der Zustimmung Gottes und dieser heiligen Gemeinde im
Angesichte der heiligen Bücher der Thora und der sechshundertdreizehn
Vorschriften, die darin geschrieben sind; mit dem Banne, womit Josua
Jericho gebannt, mit dem Fluche, womit Elisa die Knaben verflucht hat, mit
allen Verwünschungen, die im Gesetz geschrieben stehen. Er sei verflucht
bei Tag und sei verflucht bei Nacht! Er sei verflucht, wenn er schläft,
und sei verflucht, wenn er aufsteht! Er sei verflucht bei seinem Ausgang
und sei verflucht bei seinem Eingang! Der Herr wolle ihm nie verzeihen.44
Die Worte dieses symbolischen Anspeiens konnte Spinoza, so em-
pfinden wir heute, ruhig verachten. Aber es blieb nicht bei Worten
allein. Der .Cherem" schloss mit einer vollständigen Verfemung des
Opfers. Die Lebensmöglichkeit soll ihm genommen werden. Niemand
soll «vier Ellen weit" von ihm verweilen. Auch seine Schriften werden
verboten und die Rabbiner schämen sich nicht, als ob sie Dominikaner
wären, auch den weltlichen Arm gegen Spinoza zu lenken. Spinoza war
damals erst 24 Jahre alt. Nicht lange vorher, als der achtjährige Knabe
in der Rabbinerschule die Bewunderung seiner Lehrer erregte, hatte ein
ahnlicher Cherem den feurigen und begabten Uriel da Costa dazu ge-
trieben, seinem durch Rabbinergeifer beschmutzten Leben mit einem
Pistolenschuss ein Ende zu machen.
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Fritz Mauthner: Spinoza.
Das war es, was Spinoza seinem Judentum äusserlich verdankte. Ihm
freilich vermochte jüdischer Pfaffenmund nichts anzuhaben, ob der Mund
Worte sprach oder schäumte. Wir müssen ihn uns vorstellen, wie er
mit der Weltverachtung eines Heiligen durchs Leben ging. Noch im
Tode mag er diesen Ausdruck festgehalten haben, was dann einem immer-
hin anständigen Gegner Anlass gab, unter das Titelbild einer Lebens-
beschreibung Spinozas zu setzen : Der Meister des ersten Lehrgebäudes
unter den feineren Atheisten, der Fürst der zeitgenössischen Atheisten
habe sein unseliges Leben geschlossen mit dem Ausdruck der Ver-
dammnis im Gesicht (characterem reprobationis in vultu gerens).
Schon Hegel hat auf den Doppelsinn des Wortes hingewiesen, wie
denn reprobation im Französischen heute noch sowohl die passive Ver-
worfenheit als die aktive Missbilligung bedeuten kann. Für Verworfenheit,
für Verdammnis mussten Pfaffen den tiefen Zug von Verwerfung oder
Verdammung halten, mit dem Spinoza in die Einsamkeit ging, um —
nicht für die Juden — für den weltlichen Arm eine Verteidigungsschrift
zu schreiben, aus der dann der grosse theologisch-politische Traktat ge-
worden ist.
Dieses Buch geht uns hier nur so weit an, als es das stille Helden-
tum, die heitere Todbereitschaft Spinozas, deutlich beweist. Nur Lessing
wieder hat 100 Jahre später, wo freilich nicht mehr so leicht verbrannt
und ermordet wurde, in ebenso freier Weise zugleich gegen die Ortho-
doxie und gegen die „Halben" gekämpft. Der Gegensatz zwischen den
Orthodoxen und Rationalisten hier und der ernsthaften Bibelkritik dort
liegt offenbar darin, dass die ersten beiden Parteien — so sehr sie
einander hassen — von demselben Grundsatz ausgehen: es könne in
der Bibel nichts Falsches stehen. Dass die „Ganzen" daraus den Schluss
ziehen, es müsse also jedes Bibelwort wörtliche Wahrheit enthalten,
dass die halben Pfaffen nur folgern, es müsse jedes unhaltbare Bibelwort
darum bildlich oder sonstwie anders gedeutet werden, — das ist gleich-
gültig; ernsthafte Bibelkritik war erst möglich, wenn man die Möglich-
keit zugab, die Bibel könne Falsches, könne Unsinn enthalten, wie jedes
andere Menschenwort. Dies hat Spinoza ausgesprochen ; ohne ihn sind
Voltaire, Lessing und Strauss nicht zu denken.
Wieder 100 Jahre nach Lessing hat diesen klaren Satz Anzengruber
am einfachsten und lustigsten wiederholt („Der G'wissenswurm", I, 8).
Der Bauerntartüffe beruft sich auf ein Bibelwort. .Wird doch kein
Unsinn g'schrieb'n stehn?!" fragt der geplagte Grillhofer. »Und
warum net?« ist Dusterers Gegenfrage, in der der ganze theologisch-
politische Traktat zusammengezogen scheint. Dass es der fromme Bauer
ist, der diese vernichtende Frage stellt, ist ein recht Lessingscher,
genialer Zug. Und ich kann aus eigenem Wissen bemerken, dass
Anzengruber den theologisch-politischen Traktat auf einer Sommerreise
in der wohlfeilen Übersetzung gekauft und einen übermächtigen Eindruck
erhalten hatte.
Diese drei Namen können zugleich als Beispiel dienen, wie im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein mit Beifall aufgenommener
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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Schlager sein konnte, was hundert Jahre vorher selbst einem Lessing
von seinem Fürsten das Verbot theologischer Schriftstellerei eintrug,
was zweihundert Jahre vorher den Verfasser des theologisch-politischen
Traktats in Lebensgefahr brachte. Die Aufregung gegen ihn war so
gross, dass er sein Hauptwerk bei seinen Lebzeiten nicht drucken lassen
konnte. Der ganze Sturm galt ja nur dem Traktat. Und eben in
dem Jahre 1675, als Spinoza in dem freien Amsterdam vergebens einen
Verleger für seine „Ethik" gesucht hatte, lag alles so ungünstig, dass
selbst seine Bewunderer ihn zu einer Art Widerruf bewegen wollten.
Es war einer, den Spinoza seinen Freund nannte, Oldenburg, der ihm
schrieb, „man" nehme besonders Anstoss an Spinozas Gleichstellung
von Gott und Natur, an seiner Verachtung der Wunder und an seinem
unklaren Standpunkt zu dem Gottmenschen Jesus Christus. Und noch
schöner als der Traktat, der vom Buchhandel als Schmuggelware be-
handelt wurde, zeigt den ruhigen Mut Spinozas die Antwort, die er nicht
viel mehr als ein Jahr vor seinem Tode, ein schwindsüchtiger Mann,
an den zudringlichen, ängstlichen Oldenburg nach London richtete.
Was den ersten Punkt anbelangt, so bekennt er sich offen zu seinem
Pantheismus; wer aber glaube, Spinoza verstehe unter Natur eine tote Masse
(massam quandam sive materiem corpoream), wer ihn also (nach unserm
Sprachgebrauch) für einen Materialisten halte, der verstehe ihn nicht.
Was die Wunder anbelangt, so dürfe sich der Glaube nur auf die Weis-
heit der Offenbarungen stützen, nicht auf ihre Wunder, d. h. auf
Ignoranz. Darum unterscheiden auch die Christen von andern Religionen
(es ist mir, als ob das Original von Lessings Nathan nicht der subalterne
Mendelssohn, sondern der Spinoza dieses Briefes wäre) nicht die Treue,
die Liebe und andere Früchte des h. Geistes, sondern allein eben die
Meinung (opinio), weil auch die Christen ihre Religion auf Wunder
allein gründen wollen, also auf Unwissenheit, die die Quelle aller Bos-
heit sei. Was endlich die Menschwerdung Christi anbelangt, so erklärt
der Jude Spinoza ganz ausdrücklich, er könne den Sinn der Worte nicht
verstehen ; er bekenne offen, dass ihm solches Reden nicht weniger ab-
surd vorkomme als ein Geschwätz von der Quadratur des Zirkels.
So verdirbt es Spinoza mit allen Parteien. Was heute alltäglich
ist, war damals eine seltene Tat. Er verlässt das Judentum und schliesst
sich den Christen nicht an. Er verlacht den Rationalismus in der
Theologie und ist in der Philosophie so sehr Rationalist, glaubt so fest
an den Wert der Vernunft, dass er den herrschenden Dualismus über-
windet und damit die eigentlichen Cartesianer, die er dumm nennt, aufs
äusserste reizt. Er wirft das Gebäude aller Frommen um, und bannt
doch für alle Folgezeit die beschränkten Materialisten — vier Ellen
weit — von sich fort. Dass er dabei im Traktat dem Alten Testament
feindlicher scheint, als dem Neuen, ist wohl aus seiner gründlicheren
Kenntnis desselben zu erklären. Nirgends ist die Einsicht von irgend-
einer Absicht getrübt. Nicht im Leben, nicht im Denken, nicht in der
Philosophie, nicht in der Politik. Denn auch als Politiker ist Spinoza
ein reiner Charakter. Da die Oranier in den Niederlanden fast könig-
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Fritz Mauthner: Spinoza.
liehe Macht gewinnen, da sie ihre Gegner, einen Oldenbarneveld und
die de Witt bald gesetzlich, bald ungesetzlich ermorden lassen, schreibt
der gebannte Jude Spinoza zugunsten dieser aristokratisch-republi-
kanischen Partei, und verficht doch wieder (mit Hobbes) die Staatsallmacht
über der Kirche. Und diesem allmachtigen Staate endlich spricht er das
Recht ab, die Denkfreiheit zu beschränken.
So ist er ein Denker ohne Furcht und Tadel, mir ein klassischer
Zeuge.
* «
Nur ein dunkler Punkt ist vorhanden: Spinozas Gottesbegriff.
Wie wir wünschen, Spinoza hätte uns seine Weltanschauung ohne seine
Beweise gegeben, d. h. seine Gedanken ohne seine Sprache, so wünschen
wir auch, er hätte das Doppelspiel, das Gott der Natur gleichsetzt (Deus
sive natura) und willkürlich bald „Gott" und bald „Natur« sagt, auf-
gegeben und das Wort .Deus" mit allen schwerfälligen und sophistischen
Definitionen und Folgerungen dieses Wortes uns erlassen. Wir haben
den Eindruck, Spinoza habe da nur vorsichtig gehandelt und sich selbst
ein Hintertürchen offen gelassen, durch welches er die Schüler aus
seinem Hause, der Natur, zu „Gott" hinauswerfen konnte; während doch
sogar Kant weniger stolz war und das Hintertürchen der Moral öffnete,
um Gott dadurch wieder als Herrn einzuführen und ihn sein System
umwerfen zu lassen.
Es wäre aber unhistorisch, Spinoza unsere Denkgewohnheiten
unterzuschieben. Wir sind jetzt gewöhnlich in den Jahren, wo man im
Glauben konfirmiert zu werden pflegt, mit den Begriffen: Gott, Engel
u. dgl. schon fertig. Wir brauchen nachher das Wort »Gott* nicht
mehr, wie wir nachher nicht mehr vom Storch sprechen. Man bedenke
doch, dass wir darin wieder um ein Wort ärmer oder um eine Freiheit
reicher geworden sind als z. B. Lessing und Voltaire, die das Wort noch
emsig hin und her wendeten, um seinen Inhalt zu finden. Es wird bald
die Zeit kommen, wo die völlige Hohlheit des Begriffs Substanz oder
Materie erkannt sein wird. Für Spinoza war Substanz (übrigens identisch
mit Gott) noch der höchste Begriff, und wir nehmen ihm diese Scholastik
nicht übel. Warum wollen wir ihm den Gottesbegriff schlimmer deuten?
Wir sind diesem Begriff gegenüber zu nervös. Die Geschichte
des christlichen Gottesbegriffs erzählt eine solche Fülle von Dummheit
und Trug, von Gewalttat und Feigheit, dass wir uns über jeden freien
Kopf ärgern, der diesem Begriff auch nur die geringsten Zugeständnisse
macht. Und bei Spinoza werden wir — aber nur, weil Spinoza uns
gelebt hat — die Empfindung nicht los, ihm sei, wie einst dem Epikuros
die Götter nur die Lückenbüsser der Kenntnis waren, sein Gott besten-
falls nur ein altes Wort für das neugefundene x, für die Unbekannte,
die natura naturans (die wirkende Natur), auf welche die natura naturata
(die Wirklichkeitswelt) als letzte Ursache hinzuweisen schien.
* «
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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In jüngeren Jahren war ich geneigt, Spinoza einer Feigheit zu
zeihen. Schopenhauer hatte mich irregeführt, der (Par. u. Paral. I, 77)
dem Juden Spinoza, gegen den er bei aller Bewunderung das Wort vom
foetor judai'cus gebraucht, geradezu Unaufrichtigkeit vorwirft. „Eine
Schwierigkeit besonderer Art hat Spinoza sich dadurch aufgebürdet, dass
er seine alleinige Substanz Deus nannte; ... er tat es, damit seine
Lehre weniger Anstoss finde.*
Das ist unhistorisch geurteilt, wie gesagt. Das Wort Deus war für
Spinoza noch ein Begriff aus der Welt des Denkens; es konnte ihm
noch nicht einfallen, das Wort zu veräussern oder es wegzuwerfen
wie einen alten Kaftan. Er hielt es für seine Pflicht, den Begriff zu
verinnerlichen, ihn von abergläubischen Zutaten zu befreien, den Kaftan
zu reinigen. Und wahrhaftig, seine Definition des Gottesbegriffs war
nicht vorsichtig. Uns ist sie störend, weil wir des Wortes nicht be-
dürfen, weil es sich als ein störendes Synonym zwischen uns und
Spinozas Natur schiebt; wir wissen, dass unser Denken über die natura
natu rata hinaus nicht bis zur natura naturans gelangen kann. Aber
geheuchelt hat Spinoza darum nicht. Sein Deus hat nicht gehindert,
dass er bei Lebzeiten und noch im Grabe der Fürst der Atheisten ge-
nannt worden ist, dass man bis auf Lessing — wie gesagt — von ihm
redete, „wie von einem toten Hunde".
Der Gott Spinozas hat nichts mit irgendeiner religiösen Anschau-
ung zu tun; sein Gott ist ein irreligiöser Begriff. Spinoza sagt einmal
tief und gross: Gott zuzumuten, dass er das Gute allein schaffen (also
nach guten Zwecken allein handeln) könne, nicht auch das sogenannte
Böse, heisse ihn von etwas Fremdem, von der menschlichen Idee des
Goten abhängig machen; es sei für Gott weniger schlimm, ihm Willkür
zuzutrauen, was Spinoza doch wieder für töricht erklärt.
Dieses Leugnen aller Zweckursachen, aller Absichten (bei Gott
oder der Natur), dieses Betonen der ausnahmslosen Notwendigkeit der
Welt, das wie Beethovens Siegessymphonie vernichtend zugleich und
jubelnd über uns hereinrauscht, dieser Grundgedanke Spinozas, den er
auch seinem Gott nicht erlässt, scheidet seine Lehre wie von allen
Denkern vor und nach ihm, so auch von aller Religion. Darum besteht
ja die Religion nicht vor der interesselosen Einsicht, weil sie immer
Interesse ist. Auch der Judengott hatte bei seiner Weltschöpfung einen
Zweck; er schuf die Welt für den Menschen. Natürlich! hatte doch
der Mensch sich ihn zu diesem Zweck erdacht. Einerlei, ob hier oder
drüben: immer verspricht Religion etwas, sie will also immer etwas
Künftiges, einen Zweck. Immer nennt sie einen wollenden Gott, dem
sie den sollenden Menschen gegenüberstellt. Gott will, dass ich solle.
Ich soll, damit Gott wolle, mir wohl wolle.
Weniger gemein lehren die Philosophen dasselbe. Immer ist ihnen
der Mensch das Mass der Dinge, ohne dass sie es immer wissen oder sagen.
Weil der lebende Mensch Erinnerung oder Sprache besitzt, weil er mit ihrer
Hilfe die ewige Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft auseinander-
halten kann, darum verlegen sie die Zukunft auch in die Wirklichkeits-
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Fritz Mauthner: Spinoza.
weit und lassen sie durch Zwecke oder Absichten auf die Gegenwart
wirken. Alle sind sie teleologisch, alle bis auf den einen Spinoza. Alle,
wenn man von den grossen Skeptikern absieht, den wahren Alleszennal-
mern. Piaton und Aristoteles sehen in der Natur Zwecke verwirklicht und
auch alle Neuen kehren zu den Absichten des alten Judengottes zurück.
Kant selbst stellt, nachdem er gross die Unerkennbarkeit der innern
Weltordnung dargetan hat, doch wieder eine erkennbare, höhere Welt-
ordnung, die moralische auf, ein kategorisches Soll neben den Willen
des moralisch erschlossenen Gottes. Ja sogar die gottlose und gottes-
mörderische Welt Schopenhauers soll noch etwas, wenn auch nur die
Weltflucht. Einzig und allein der Deus Spinozas will nichts, er hat gar
keinen Zweck, weshalb der Mensch auch nichts soll. Der Mensch hört
auf, das Mass der Dinge zu sein. Weder dürfe man etwas gut nennen,
weil Deus es angeblich gewollt habe; noch dürfe man glauben, Deus
habe das und das gewollt, weil es gut sei. Die Aufhebung des persönlichen
Gottes ist im Deus Spinozas fast noch besser erreicht, als im .Stoff« der
Materialisten, der sich »aufwärts* entwickelt, also zweckvoll, besser als
im „Willen* des Atheisten Schopenhauers, der schon nach seinem Namen
einen Zweck „wollen* muss.
f Ganz scholastisch freilich kommt Spinoza dazu, seinem Deus die
Erkennbarkeit abzusprechen. Jede Bestimmung sei eine Verneinung;
denn jede Bestimmung einer Definition gehöre nicht zum Wesen der
Sache, sondern sei im Gegenteil ihr Nichtsein. (Omnis determinatio est
negatio; determinatio ad rem juxta suum esse non pert inet, sed e contra
est ejus non esse.) Es ist also jede Definition, ich würde sagen: jede
Erkenntnis, nur eine Umgehung der Wirklichkeit. Darum kann auch
das höchste Sein, auch Deus nicht erkannt werden, darum können wir
uns von seiner Persönlichkeit, von seinem Wollen oder seinem Verstände
keinen Begriff machen. Spinoza kennt wohl das Wort „Persönlichkeit«
(vocabulum personalitatis, Cog. met. II. 8) aber er kann sich durchaus
nichts dabei denken. Was seine Persönlichkeit sei, werde Deus wohl
erst am jüngsten Tage seinen Gläubigen enthüllen, fügt Spinoza hinzu,
und mag bei diesen Worten wohl besonders scharf den Charakter
reprobationis im lächelnden Gesicht getragen haben.
Der unendliche, undefinierbare, unpersönliche Deus hat also gar
keine Individualität; und so gehört zu seiner Natur auch kein Verstand
und kein Wille, wobei Spinoza die tiefe Einsicht besass, dass der Wille
nichts dem Verstände Entgegengesetztes, sondern gleich ihm Vorstellung
sei. Spräche man dem Deus Verstand und Wille zu, so käme das auf
eine willkürliche Benennung hinaus, da des Deus Verstand und Wille von
unsern gleichbenannten Seelenkräften himmelweit verschieden sein müssten,
himmelweit, wie etwa das Sternbild des Hundes am Himmel und der
Hund, der unter meinem Fenster bellt. Nur die Worte seien gleich.
(Ethik I, Lehrsatz 17, Erklärung.)
Es tut nichts, dass Spinoza auf scholastischem Wege zu seiner ein-
heitlich grossen Weltanschauung kommt. Auch Jesus kam auf einem
Esel; und Spinozas Weltanschauung war in ihm, bevor er sie sich be-
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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wiesen hatte, wie wir ja wissen, dass der Satz früher ist als das Wort,
der Schluss früher als die Prämissen. So ist es auch gleichgültig, dass
Spinoza sich und die geometrische Methode quält, um in seinem Deus
die gewaltige Vorstellung von der Weltkette der durchgängigen Not-
wendigkeit und das Menschenwort Freiheit zu vereinigen. Ausser dem
Deus gebe es nichts, es sei also nichts vorhanden, von dem er bestimmt
werden könne, also sei Deus frei; und da doch Notwendigkeit zu seinem
Wesen gehöre, so sei es eine freie Notwendigkeit. So sinnlos konnte
selbst Spinoza Worte aneinanderreihen. Es fiel ihm noch nicht ein,
eben aus solchen Gründen Gott zu leugnen, weil nämlich Freiheit zu
seinem Begriff gehören müsste, wenn er existierte, und weil es doch auf
dem Weltenrund nichts gäbe als die eherne Notwendigkeit Einerlei.
Wie die mathematische Methode die bis zum Extrem getriebene Ver-
irrung Spinozas ist, der ärgste Missbrauch des Worts, so ist das Mathe-
matische seiner innern Weltanschauung bewunderungswürdig. Sub specie
aeternitatis, zeitlos also, geht die Welt aus Deus hervor, nicht als Schöpfung,
nicht als Folge, vielmehr — so möchte ich sagen — als Eigenschaft,
wie die Gleichheit der Radien aus dem Kreisbegriff, wie die 2 R gleiche
Grösse der Winkel aus dem Dreieckbegriff. So kann Spinoza (im 60. Briefe)
schreiben — hart an der Wahrheit vorbei, aber gewiss ganz aufrichtig:
„Auf die Frage, ob ich von Deus eine so klare Idee habe wie von einem
Dreieck, antworte ich mit ja. Fragst du aber, ob ich von Deus ein so
klares Bild habe, wie von einem Dreieck, so sage ich nein.* Nur dass „Idee"
nicht mehr sei als .Wort*, wusste Spinoza nicht. Er war Piatons Ideen-
lehre gegenüber nicht Nominalist genug.
Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass in dieser Über-
schätzung der Ideen zugleich Spinozas Darstellungsmängel und seine Ab-
hängigkeit von der höchsten Idee beruht, von seiner höchsten Idee, von
seinem Deus. Und immer wieder muss es beklagt werden, dass die
stolze Gewissheit von seiner Weltanschauung ihn an ihrer sprachlichen
Form nicht zweifeln liess. «Wer eine wahre Idee hat, der weiss auch,
dass er eine wahre Idee habe und kann an der Wahrheit der Sache
nicht zweifeln." Nach Spinoza offenbart das Licht sich selbst und die
Finsternis, und die Wahrheit prüft sich selbst und das Falsche. Wahre
Vorstellungen sind ihm über jeden Zweifel erhaben, denn sie seien
nicht stumme Gemälde, sondern das Denken selbst. In diesem Ver-
trauen auf Ideen oder Worte ist also Spinoza ganz aufrichtig, wenn ihm
der Begriff seines Deus ein Herzensbedürfnis ist, wenn ihm von da
aus alles überaus klar zu werden scheint, wenn ihm auf der Stufen-
reihe der menschlichen Erkenntnis sein Deus als das Höchste und beste
Wissen, als die intuitive Erkenntnis erscheint. Er hat vergessen, dass
diese eine unmittelbare anschauliche Erkenntnis sein muss und dass er
von Gott wohl einen so klaren Begriff hat wie von einem Dreieck,
nicht aber eine solche Anschauung (imago).
In der von ihm gelehrten Stufenfolge der menschlichen Erkenntnis,
die ihn zum Deus führt, sehen wir Spinoza gewaltig um die Wahrheit
ringen. Er zwingt sie nur nicht, weil seine Waffen Worte sind, die
eübbcntfäc WonotS^cfte. II, 1. 5
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Fritz Mauthner: Spinoza.
Wahrheit aber ungreifbar, weil wortlos. Es ist der Kampf des Menschen
mit der Wahrheit ein Kampf des Bären mit dem Adler; das plumpe
Tier kann die Erde nicht verlassen, das Wort
Ich glaube aber nicht, dass ich Spinozas Vorstellungen entstelle,
wenn ich seine Stufenfolge der Erkenntnis mit Worten meiner Sprache
auszudrücken suche; Spinoza wäre tot, dürfte man ihn nicht übersetzen.
Die erste Stufe ist die Erkenntnis durch Worte. Diese führt
notwendig zum Irrtum. Spinoza muss dabei geahnt haben, dass diese
Abstraktionen, die er darum verworren nennt, immer nur tastend und
versuchend um die Wirklichkeitswelt herumjagen, nie. aber in sie selbst
eindringen. Wir könnten die Begriffe oder Worte mit den deutschen
Ulanen vergleichen, die im Aufklärungsdienst eine ungefähre Vorstellung
vom Gegner heimbringen, aber niemals stark genug sind, sich auf ein
ernsthaftes Gefecht einzulassen.
Man hat diese erste Stufe der Erkenntnis ganz richtig dem Stand-
punkte des naiven Realismus gleich gestellt, der all das und nur das
für wahr hält, was seine Sinne ihm von der Welt erzählen. Nur kann
ja der naive Realismus noch nicht wissen: dass diese Angaben der
Zufallssinne wie die gesamte äussere Welt so auch das gesamte innere
Denken allein ermöglichen, dass dieses naive Weltbild sich auch in dem
Wortvorrat und in den Formen der Umgangssprache ausprägt. Die erste
Stufe der Erkenntnis ist die der menschlichen Gemeinsprachen. Erst
durch Bildung einer wissenschaftlichen Sprache (man sagt gewöhnlich:
durch das Entstehen von Wissenschaften) wird die nächsthöhere Stufe
erreicht.
Die zweite Stufe der Erkenntnis ist die der wahren Vernunft,
welche die Dinge wesentlich unter einem gewissen Gesichtspunkt der
Zeitlosigkeit betrachtet. So möchte ich den berühmten Satz von der
Spezies der Ewigkeit wiedergeben. (De natura Rationis est, res sub
quadam aeternitatis specie percipere. Eth. II. 44.) Denn die Welt begreifen,
heisst das eherne Band ihrer Notwendigkeit begreifen. Lückenlos ist
diese ewige Kette der Notwendigkeit. Eins folgt aus dem andern, aber
nicht logisch, auch nicht in der Zeit. Zeitlos wie die mathematischen
Gesetze, zeitlos wie die Gleichheit der Radien aus dem Kreisbegriff, so
zeitlos und darum ewig folgt das eherne Band der Welt aus dem Substanz-
begriff des Deus. Und so scheint mir erklärt, was Spinoza unter dem
Gemeinsamen verstanden habe, unter dem, was auf der zweiten Stufe
der Erkenntnis den Dingen der Welt gemeinschaftlich, was darum ewig
ist (illa quae omnibus communia, vergleiche Eth. II. 38 — 40). Kirchmann
und andere haben unter den Communia wieder nur Begriffe verstanden,
Kuno Fischer (I, 2, S. 479) hat gar keine Erklärung versucht. Spinoza
aber gibt (Eth. II. 40, Anm.) deutlich zu verstehen, dass er unter den
Begriffen oder Universalien der ersten Erkenntnisstufe diejenigen
Abstraktionen sich denke, die blossen Bilder, die sich der einzelne
Mensch je nach seinem Verhältnis zu den Gegenständen, nach seinem
Interesse, nach zufälligen Eindrücken mache. Der eine denke sich
unter „Mensch" das Geschöpf mit dem aufrechten Gang, der andere das
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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Tier, das lachen kann, oder das zweibeinige Tier ohne Federn, oder
das vernünftige Tier. Ebenso gehe es mit den Begriffen oder Universalien
«Hund* oder „Pferd*. Darum führt ja eben die erste Stufe mit ihren
Begriffen zum Irrtum; darum können die Communia der zweiten Stufe,
darum kann das Gemeinsame in den Dingen, das zur Wahrheit fuhrt,
nicht in Begriffen bestehen oder in Worten. Und wenn ich communia
mit „Gesetze* wiedergebe, wenn ich mir Spinoza so erkläre, dass die
Einzeldinge und die von ihnen abgeleiteten Begriffe an der Zeit kleben
and darum vom Irrtum nicht loskommen, dass allein in den zeitlosen,
mathematischen Beziehungen der Dinge, also in ihren ewigen Gesetzen,
die Wahrheit stecke, so glaube ich einen Augenblick über Spinoza, indem
ich ihn richtig verstehe, hinausgekommen zu sein. Doch nur einen
Augenblick. Das Wort .Gesetze* ist uns nur vertrauter, weil es ein
mythologischer Begriff neuerer Prägung ist; Spinoza war weiser, da er
nichts weiter behauptete als „etwas, was den Dingen gemeinsam* sei.
Der Inbegriff dessen, was auf dieser zweiten Stufe erkannt wird
als das Wesentliche, Zeitlose, Gemeinsame der Welt, ist für Spinoza das
Wirkliche, die wirkliche Natur, die natura naturata; darüber hinaus
erkennt er auf der dritten und höchsten Stufe intuitiv im Deus die
Einheit aller Gesetze, das Bewirkende, die wirkende Natur, die natura
naturans. Ich glaube bestimmt, dass Lessings Maler (Emilia Galotti I, 4)
diesen pantheistischen Gottesbegriff übersetzen will, wenn er von der
»plastischen Natur* spricht und — ganz Lessing — zweifelnd hinzufügt:
„Wenn es eine gibt."
Die dritte Stufe der Erkenntnis möchte ich freilich am liebsten
noch freier so übersetzen, dass sie den Trug der Wissenschaften, den
Trug der vermeintlich erkannten Gesetzmässigkeit in der natura naturata
durchschaue. So gefasst wäre Spinozas „Intuition* der Zweifel an dem
Werte der wissenschaftlichen Sprache, der Weg zur resignierten Skepsis.
Das hiesse aber, über Spinozas heitere Weltanschauung einen dunklen
Schleier werfen, seinen frohen Glauben in einen Unglauben, seine
Sehnsucht in eine Negation umwandeln. Spinoza, der Fürst des
Atheismus, der Verfasser des Über pestilentissimus, ist in seinem
Empfinden kein Skeptiker.
Spinoza zweifelt nicht an der Erkennbarkeit der natura naturans,
des Wirksamen, das freilich auch für uns nicht weniger begreiflich ' ist,
als die natura naturata, als das Wirkliche. Ihm ist die Welt ein Buch.
Auf der ersten Stufe buchstabiert das Kind gedankenlos; auf der zweiten
Stufe fasst es die einzelnen Sätze, auf der dritten Stufe versteht es den
Sinn des Ganzen. Wir aber wissen, das wir niemals über das Buch-
stabieren hinauskommen.
So glaubt Spinoza ganz ehrlich und aufrichtig seinen Deus zu ver-
stehn. Und weil es ein pantheistischer Deus ist, weil er nichts anderes
ist, als die Welt selbst, und weil Spinoza Freude hat an der ehernen
Weltkette, darum liebt er seinen Deus. Denn Spinoza hat die Liebe
scheinbar so nüchtern und doch so tief erklärt als: Fröhlichkeit, verbunden
mit der Vorstellung ihrer äussern Ursache. (Amor est Laetitia concomi-
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Fritz Mauthner: Spinoza.
tante idea causae extern«; Titillatio igitur concomitante idea causae extern»
Amor est. Eth. IV, 44 Anm.) Er fühlt den Deus in der ganzen Welt,
auch in sich selbst, als Ursache der Welt, als Ursache seiner selbst
(nämlich Gottes sowohl als Spinozas), und so liebt er ihn, seine mystische
Weltseele, er liebt ihn mit übermenschlicher Liebe, mit lächelnder
Resignation, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, ohne Eifersucht, er liebt
ihn, wie man die einzig Geliebte lieben würde, wenn sie zeitlos und
körperlos wäre, ein Gedankenbild. Spinoza wäre nicht, der er war, der
grösste und heiterste Denker, wenn er nicht bei allem Scharfsinn doch
die blaue Blume gepflegt hätte, die letzte Zuflucht des gequälten Denkens,
die Mystik.
Diese Heiterkeit verliert, wer nicht in den mystischen Abgrund
springt, wer jede Mystik für das Asyl der Verzweiflung hält und die
Verzweiflung nicht fürchtet, wenn der heilige Zweifel zu ihr führt.
Noch einmal also: Spinoza hat in gutem Glauben an den Wert der
menschlichen Sprache den Begriff »Gott" so ruhig untersucht, wie den
Begriff „Substanz"; er hat in beiden etwas Wirkliches erblickt, und so-
gar in beiden ein und dasselbe: das Wirksame. So ist sein Deus kein
Grund, auf seine Aufrichtigkeit einen Verdacht zu werfen; wohl aber ist
sein Deus das erste und stärkste Beispiel dafür, wie sich Spinoza wohl
in seiner Weltanschauung über alle Zeiten erheben konnte, in seinem
Sprachgebrauch aber niemals sicher war, zurückzusinken in die Scholastik.
* *
*
Spinoza wurde so durch seine Theorie der Erkenntnis, weil ihm der
Zweifel fehlte, weil er die mathematischen Wahrheiten (wie ja auch noch
Kant) für belehrende, systematisch belehrende Kenntnisse nahm und
weil er an der Existenz der höchsten Essentien oder Begriffshülsen
festhielt, — Spinoza wurde so zu der unfruchtbaren Darstellung seiner
Lehre verlockt. Aber den unerhört tiefen Blick in das eiserne Räder-
werk der Natur zu tun, hinderte ihn keine Theorie; und in den genialsten
Apercus hat er der Folgezeit den Weg gewiesen. Sogar über seinen
unerkennbaren Gott sagt er einmal (und verrät damit ahnungsvoll eine
köstliche Verachtung der Sprache): es wundre ihn nicht, dass man dem
Deus gern menschliche Eigenschaften andichte; »denn ich glaube,
dass ein Dreieck, wenn es sprechen könnte, ebenso sagen
würde, Gott sei hervorragend dreieckig, dass ein Kreis sagen
würde, Gott sei hervorragend rund" (60. Brief).
Dieser Ausspruch mit seinem übermütigen „hervorragend dreieckig"
(Deum eminenter triangulärem esse) ist weder von Kant noch auch
von Feuerbach überboten worden; er ist nur zu begreifen, wenn wir
annehmen, Spinoza habe den unscheinbaren Zwischensatz „wenn das
Dreieck sprechen könnte" in seiner ganzen Ironie gefasst. Wir Menschen
sind Dreiecke, die sprechen können ; Naturwesen, die so wenig imstande
sind, ihre Notwendigkeit anders als durch Worte zu begreifen, dass wir
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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dieser Notwendigkeit selbst menschensprachliche, also menschliche Eigen-
schaften andichten.
Zur klaren Schärfe ist Spinoza in der Frage der Sprache leider
nicht gelangt. Es ist schon gesagt worden, dass er drei Stufen der Er-
kenntnis unterschied, dass nach ihm die erste Stufe, die der Begriffe oder
Universalien, zum Irrtum führe, die zweite aber erst zu einer Wahrheit;
ich habe das .Gemeinsame" dieser zweiten Stufe in den Gesetzen der
Natur zu finden geglaubt, aber Spinoza — der unter den Rabbinern ebenso
eifrig Naturwissenschaften betrieb, wie Descartes unter den Jesuiten —
vermeidet das Wort, und lässt die Möglichkeit offen, auch bei der zweiten
Stufe an Begriffe, an seine unerklärten adäquaten Begriffe zu denken.
Mir aber scheint es gewiss, dass seine ganze Darstellung (Eth. II pr. 40
sch. 1, 2 und pr. 41) zu dem Schlüsse führen muss und auch ihn führen
musste: die von der Wirklichkeitswelt abstrahierten Begriffe sind es,
unser Denken also ist es, was uns verwirrt, was uns irreführt, was
unsere Vorstellungen fälscht. Unsere Irrtümer kommen von den Worten
oder von der Sprache her.
Für diese Ahnung Spinozas und dafür, dass ich mich auf ihn als
einen Eideshelfer berufen kann, finde ich einen Beweis in der Art, wie
er zuverlässig den Sprachgebrauch der Scholastiker verlässt oder gar
verächtlich fortschiebt, wo seine Weltanschauung klar und fest ist. Wo-
für das grösste Beispiel seine Leugnung der Willensfreiheit ist, eben
sein sieghafter Gedanke von der Lückenlosigkeit der Kausalität, ich möchte
fast sagen, von der Undurchdringlichkeit der notwendigen Kette der
Natur. Schopenhauer hat 200 Jahre später ein geistreicheres Buch über
die Unfreiheit des Willens geschrieben; der Beweis ist bei Schopenhauer
ebenso scholastisch, weil von der Apriorität des Kausalitätsbegriffs aus-
gegangen, also eigentlich gar nichts bewiesen wird; und in der Kritik des
Willenbegriffs selbst, also des Wortes „Wille", bleibt Spinoza unerreicht.
Ihm ist es gewiss, dass unsere Begriffe nur verworrene Bilder der
Wirklichkeitswelt sind; die verworrensten sind natürlich die allgemeinsten,
abstraktesten Begriffe, und wenn er also die berühmten Universalien
(Begriffe) schon als für die Erkenntnis unbrauchbar denunziert, so kann
er mit den transzendentalen Kunstausdrücken (termini transcendentales
dicti) noch weniger anfangen. Als Beispiele solcher transzendentaler
Kunstausdrücke, d. h. solcher Worte, welche über die Erfahrung hinaus-
gehen oder vielmehr den Zusammenhang mit der Anschauung verloren
haben, als Beispiele nennt er zunächt nur drei: Wesen, Ding, Etwas
(Ens, res, aliquid). Aber er lässt (Eth. II. 48. Anm.) keinen Zweifel
darüber, dass ihm auch andere höchst abstrakte Worte zu der Gattung
solcher unnützer Lufterschütterungen gehören. „In der Seele gibt es
keinen unabhängigen oder freien Willen," sagt er an der Spitze des
Paragraphen; er beweist es logisch, also schlecht; dann aber fügt er
hinzu, ebenso könne man beweisen (ebenso behauptete er also), dass es
in der Seele keine unabhängige Fähigkeit des Denkens, des
Begehrens, des Liebens usw. gebe. Also seien alle diese Begriffe
Einbildungen oder blosse Worte, so sehr, dass ein ,Vt. stand4* oder ein
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Fritz Mauthner: Spinoza.
„Wille" sich zu unsern wirklichen einzelnen Vorstellungen oder einzelnen
Willensakten verhalten, wie der Begriff der »Steinität* (Lapideitas) zu
einzelnen Steinen, der Begriff »Mensch" zu Peter und Paul.
Die Bedeutsamkeit dieser Stelle leuchtet ein. Spinoza erhob sich da
über seine eigene Sprache und vermochte so, indem er überhaupt die
Existenz eines »Willens* beiseite schob, die Unfreiheit der menschlichen
Willensakte fester anzuschauen, als 200 Jahre später sein Kritiker
Schopenhauer — wie Spinoza auch durch die Auflösung des Begriffs
der Vollkommenheit, also durch Streichung dieses Wortes (Ethik IV,
Einleitung) Kants spätere Kritik der Beweise für das Dasein Gottes
überflüssig machte, wie er von Rechts wegen auch der Existenz der
2000 Jahre alten »Ideen* Piatons für jeden Philosophen hätte ein Ende
gemacht haben müssen. Er war der einzige Denker, der Ernst machte
mit dem Begriff der Notwendigkeit; und wenn es bei den Alten eine
Unklarheit war, dass sie ihre Götter unter eine über ihnen stehende
ävayxriy unter das Fatum beugten, wenn es bei Schiller und seinen Mit-
strebenden ein Spiel des Geistes war, sobald sie von einem allherrschenden
Schicksal (über Göttern und Menschen) sprachen, so war Spinozas Deus
wirklich unfrei, wie er verstandlos war, weil dieser Deus oder Natura
ernsthaft und wirklich ohne Zwecke gedacht wurde. Der Begriff des
Zweckes widerspricht schnurstracks dem ernst genommenen Begriff der
Notwendigkeit oder Kausalität. So gehört bei Spinoza der »Zweck",
der »Wille«, der »Verstand* so gut wie »Wesen*, »Ding* zu den »Trans-
zendentalen," zu den leeren Hülsen ohne Inhalt, zu den blossen Worten,
die unfruchtbar sind für die menschliche Erkenntnis.
Spinoza war in diesen Einsichten nicht konsequent. Er konnte
seinem System zuliebe ganz zuversichtlich von denselben transzenden-
talen Worten darauf losschwatzen, konnte von den Attributen seines Deus
erzählen, als ob er mit ihm und ihnen einen Scheffel Salz gegessen hätte,
dann aber konnte er wieder zu verstehen geben (Eth. I, 4, Def.) dass
die Attribute der obersten Substanz doch nur in unsrem Denken (d. h.
für uns in der Sprache) zu finden seien und in dem (27.) Briefe an
einen strebsamen, treuen, jungen Verehrer konnte er gar lachend (es
ist gewiss etwas Scherz mit dabei) die Erklärung beifügen: man könnte
sich ganz gut eine Substanz unter zwei Bezeichnungen oder Namen
(d. h. Worten) denken, wie ja auch der dritte Patriarch sowohl Jakob
als Israel geheissen habe. Worte, Worte, Worte sind ihm die verehrungs-
würdigsten Begriffe und Eth. II, 48 u. 49 erkennt er sogar Verstand
und Wille für zwei Worte, die nur ein und dasselbe besagen; Verstand
und Wille sind Jakob und Israel. Insbesondere der Wille (voluntas) ist
nichts und nicht mehr als die einzelnen Willensakte (volitiones).
So löst Spinoza allein die Frage nach der Willensfreiheit, indem
er die Worte ihres Sinnes entkleidet. Wie das Dreieck, wenn es sprechen
könnte, sich seinen Gott hervorragend dreieckig, höchst dreieckig denken
müsste, so würde der geworfene Stein, wenn er denken könnte, von
seinem Entschlüsse, seiner Freiheit, durch die Luft zu fliegen, sprechen.
(62. Brief. Nach der Ausgabe von Gfroerer.)
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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Überall da, wo sein System ihn nicht scholastisch machte, ver-
zichtete Spinoza auf den Gebrauch von transzendentalen Begriffen. Ihm
waren die handelnden Menschen dem Schein der Freiheit unterworfen,
wie der geworfene Stein; und wie dem Schein der Willensfreiheit, so
dem Schein aller andern Ideen oder Ideale. Denn das darf nicht ver-
schwiegen werden, dass der Selbstdenker Spinoza die Platonischen
Ideen, die unser Ideal geworden sind — wie wir schon bei den Be-
griffen gut und schön gesehen haben — nicht anerkannte.
Denn hinter ihm im wesenlosen Scheine lag, was uns alle bändigt —
das Ideal. Er hat sein Hauptwerk nach dem Beispiel seines Vorgängers
Geulinx (nachträglich) Ethik genannt, canis a non canendo. In seiner
undurchbrechlichen Kette der Notwendigkeit hat das »Sollen«' so wenig
Platz wie das „Wollen". Er stellt keine Ideale auf, ganz anders als
bei Hegel ist alles vollkommen, was ist; es ist vollkommen, weil es
nicht anders sein kann, als es ist. So kennt Spinoza auch in seiner
Staatslehre keine knechtenden Worte; er glaubt nicht an einen Idealstaat
(wie vor ihm Hobbes), nicht an einen Idealmenschen (wie nach ihm
Rousseau); und die Utopisten der Gegenwart, die Sozialisten, können
sich darum nicht auf Spinoza berufen.
Seine Ethik predigt keine Moral. Ausser sich findet der Mensch
dieselbe Notwendigkeit wie in seinem Innern. Nur Freudigkeit erzeugt
die Erkenntnis von Deus oder der Natur, nicht das Bewusstsein eines
, äusseren Gebots. Und in sich selbst findet Spinoza nicht, was man
| ein Gewissen genannt hat; er kennt es nicht. Mit einer Überlegenheit,
für deren volles Verständnis wir vielleicht heute noch nicht ganz reif
sind, geht er in dem ruhigen Abschnitt „von den Leidenschaften" über
das Gewissen hinweg. Alles führt er auf Schmerz und Freude, also
auf unsere Natur zurück. Gegenwart und Zukunft werden eins vor
seinem Blick. Freudiges erwarten heisst hoffen, Trauriges erwarten heisst
fürchten. Ein Gaudium ist es, wenn das erwartete Traurige nicht ein-
getroffen ist, wenn die Furcht unbegründet war; wenn aber die Hoffnung
unbegründet war, «wenn wir uns blamiert haben", so empfinden wir —
Gewissensbisse. (Conscientiae denique morsus est tristitia, opposita
gaudio — gaudium est laetitia, orta ex imagine rei praeteritae, de cuius
eventu dubitavimus.)
Wer über diese Worte erschrickt, wer es nicht für möglich hält,
dass Spinoza wirklich diesen Ärger als Gewissensbiss aufgefasst haben
soll, der ist wohl nicht reif für Spinoza oder für die Lehre von dem
Unwert der Worte.
Die posthume Geschichte des Spinozismus, die Geschichte also
seiner Wirkung auf das Geistesleben Europas, ist ein neuer Beleg dafür,
dass bei Spinoza ganz besonders zwischen der genialen, intuitiven, bildlich
wahren Weltanschauung, dem gewaltigen Apercu, und dann der schwer-
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Fritz Mauthner: Spinoza
fälligen, diskursiven, unverdaulichen Form, dem hilflosen Wort zu unter-
scheiden sei.
Dass man nämlich noch vor etwas mehr als 100 Jahren von Spinoza
allgemein verächtlich geredet hat, ist wohl gewiss zurückzuführen auf
den Einfluss des grossen Dictionnaire historique et critique von Pierre
Bayle. Dieser bedeutende Mann war bei aller historischen Gelehrsamkeit
und aller skeptischen Kritik, bei allem Geist und allem Freimut doch
dadurch eine mittelalterliche, eine unmoderne Gestalt, dass er für die
neuen Lebenskeime kein Verständnis besass, so tapfer er auch Sterbenden
den Gnadenstoss gab. Zieht man von Lessing ab, was in ihm dichterisch
und ahnungsvoll zu Goethe führt, und zieht man weiter manches ab,
was uns teuer ist, so bleibt etwas wie Pierre Bayle noch übrig.
Trotzdem ist der Hass Bayles gegen seinen grossen Zeitgenossen
(4 Jahre nur nach Spinozas frühem Tode und dem Erscheinen der Ethik
wurde Bayle Professor in Rotterdam) nur schwer verständlich. Ein Hass
liegt vor. Der mächtige Skeptiker, dem sonst so gern die leichte Ironie
zur Verfügung steht, gebraucht gegen den atheistischen Juden die stärksten
Ausdrücke. Er nennt sogar den theologisch-politischen Traktat, den man
doch die Bibel von Bayles Lebenskampf um die Denkfreiheit nennen
könnte, ein Ii vre pernicieux et detestable; er wirft in seiner geistreich-
spielenden Weise Spinoza wirklich zu den Toten und sagt: II n'est pas
vrai que ses Sectateurs (seine Schüler) soient en grand nombre. Tres
peu de personnes sont soupconnes d 'ad herer ä sa doctrine; et parmi ceux
que Ton en soupconne, il y en a peu qui l'aient etudiee; et entre ceux-ci
il y en a peu qui l'aient comprise et qui n'aient ete rebutes des embar-
ras et des abstractions impenetrables, qui s'y rencontrent.
Dieser Hass ist nicht mit dem gewöhnlichen Widerwillen der Halben
gegen die Ganzen zu erklären; denn Bayle war in seiner Art kein Halber
und er ahnte vor allem nicht in Spinoza den Ganzen. Darin aber, dass
er das nicht ahnte, dass er den Spinoza nicht verstand, liegt die Er-
klärung. Er hielt sich an die Worte des Philosophen und verstand die
neuen Fragen des Mannes nicht. Als ob er nur die schwächsten Sätze des
Spinoza gelesen, als ob er sich nur um den schrecklichen methodischen
Aufbau und die Beweise gekümmert hätte, nennt er das „System" la
plus monstrueuse Hypothese qui se puisse imaginer, la plus absurde et
la plus diametralement opposee aux notions les plus evidentes de notre
esprit. Und er verteidigt sogar den Deus gegen Spinoza. Was die
heidnischen Dichter Infames gesungen hätten gegen Jupiter und Venus,
reiche noch nicht heran an die furchtbare Vorstellung, die Spinoza uns
von Gott gebe; denn im Altertum habe man den Göttern doch nicht
alle Verbrechen und Schwächen zugeschrieben (doch), nach Spinoza sei
nichts auf der Welt handelnd oder leidend als der Deus, auf ihn beziehe
sich aller Schmerz und alle Schuld, alles physische und moralische Übel.
Wenn Gott und die Welt nur eines sei, alles in Gott, dann sei es ein
falscher Satz, wenn man sagt: »Die Deutschen haben 10000 Türken
erschlagen* — ausser man verstehe darunter den Sinn: „Gott in Gestalt
von Deutschen habe Gott in Gestalt von 10000 Türken erschlagen.*
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Fritz Mauthner: Spinoza.
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Bayle kann so wenig von der Vorstellung eines persönlichen Gottes los-
kommen, dass er eben gar nicht merkt, wie gut er durch die beabsichtigte
Parodie gerade den Gedanken Spinozas trifft. Alle spöttisch gemeinten
Beispiele Bayles treffen zu. Jawohl, so hat es Spinoza verstanden. Gott
betet zu sich selbst, Gott verweigert sich die Bitte, er verfolgt sich, er
isst sich, er schickt sich aufs Schafott. Und die Beispiele sind um so
besser, als sie deutlich zeigen, wie Spinozas Deus an der Sprache
scheitern rausste, die ihn individuell, also mit Willen und Verstand be-
gabt zu denken nicht umhin konnte.
Es ist dem Pierre Bayle sofort gesagt worden, das er Spinoza nicht
verstanden habe, und seine Antwort darauf klammert sich erst recht an
Worte; und wie da seine Kritik im einzelnen gewiss recht behalten
wird, so ist sie im grossen unzulänglich, rückständig. Es läuft darauf
hinaus, dass Bayle sich unter den Spinozistischen Begriffen „Substanz*
und „Modus" nichts Deutliches hat denken können, womit er wohl leider
recht hat, wobei er aber übersieht, dass man Spinozas heitern Einblick
und Eintritt in die lachende Notwendigkeit der Welt verstehen kann,
ohne sich um die Definitionen von Substanz und Modus zu bekümmern.
Und so endet Bayles Klage und Anklage mit den tragikomischen Worten:
Si Ton n'entend pas cc qu'il veut dire par lä (dass Gott nämlich die
einzige Substanz und alle andern Wesen seine Modifikationen seien)
c'est sans doute parcequ'il a joint aux mots une signification toute nouvelle
sans en avertir ses lecteurs. Wie alle Entdecker neuer Ideen tun und
tun müssen, füge ich hinzu.
Diese Stellung Bayles zu Spinoza und den ungeheuren Einfluss
Bayles auf ein ganzes Jahrhundert muss man vor Augen haben, um zu
verstehen, wie Spinoza in Deutschland wieder auferstand, wie die drei
wahren Führer des neuen deutschen Geistes, wie Lessing, Herder
und Goethe sich zu Spinoza bekannten, wie Moses Mendelssohn —
damit auch hier die Tragikomödie nicht fehle — nach der Legende vor
Schrecken darüber starb und wie von Deutschland aus Spinoza auch
Frankreich gewann, um endlich von Schelling und Hegel in seinen
Fehlern übertroffen, in seiner Hoheit parodiert zu werden.
Ich setze als bekannt voraus, dass Fritz Jacobi, Goethes Freund,
nach dem Tode Lessings zuerst einen kleinen Kreis, dann ganz Deutsch-
land mit der Mitteilung überraschte, Lessing sei Spinozist gewesen, dass
jenes Gespräch (zwischen Jacobi und Lessing) zu köstlich Lessingsch
ist, um nicht Silbe für Silbe echt zu sein, dass Moses Mendelssohn der
schon als Jude auf diese Entdeckung hätte stolz sein müssen, in seiner
Erklärung „An die Freunde Lessings" (1786, nach Mendelssohns Tode
erschienen, im Jahr von Goethes italienischer Reise) zunächst seine Un-
kenntnis Spinozas, sodann seinen durchaus subalternen Sinn und endlich
seine vollständige Albernheit bewies, ich setze ferner als bekannt voraus,
dass Goethe durch alle diese Vorgänge sofort und später zu reichen
Mitteilungen über sein Verhältnis zu Spinoza veranlasst wurde.
Ein Gedicht Goethes, „Prometheus", hatte die Lessingschen
Äusserungen und so den ganzen Aufruhr veranlasst; Mendelssohn hatte
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Fritz Mauthner: Spinoza.
auch nicht verfehlt, das Gedicht, da er den Verfasser nicht kannte,
für eine Armseligkeit zu erküren, das Lessing wohl unmöglich gelobt
haben könnte. Aber nicht dieses Gedicht allein war spinozistisch, Goethe
war es durch und durch. Als junger Mann war er wohl durch Bayle
auf Spinoza aufmerksam gemacht worden, sofort hatte ihn die Einheit
von Gott und Natur tief ergriffen und vielleicht hatte es ihm eine der
gelehrten Notizen angetan, in der von dem Epikuräer Alexander erzählt
wird, er habe die Dinge der Welt, die Formen, die Erscheinungen
mit dem Peplon, mit dem Kleide der Gottheit verglichen.1) Durch
Jacobi, dann durch Herder und endlich durch die geliebte Frau von
Stein Hess er sich zu einem tiefern Eindringen in Spinoza verlocken
und von da ab bleibt Spinoza sein Leitstern. In welchen Fragen? Als
alter Herr hat Goethe einmal an Zelter geschrieben, die Männer, die
den stärksten Einfluss auf ihn genommen hätten, seien: Shakespeare,
Spinoza und Linne gewesen. Es ist klar, dass der Dichter sich Shake-
speare, der Naturforscher Linne verpflichtet fühlte. Worin war er ein
Schüler Spinozas? Ein Philosoph wollte er niemals sein und die Form
der »Ethik" musste ihm widerstreben, wie er das Werk denn auch
niemals im Zusammenhang „studiert" hat. Auch seine Religion, im
Sinne eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses, suchte Goethe nicht
bei Spinoza. Im Rausche der Neuentdeckung konnte Dalberg an Herder
schreiben: »Spinoza und Christus, nur in diesen beiden liegt reine
Gotteserkenntnis,« konnte Lichtenberg sagen: „Wenn die Welt noch
eine unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universalreligion
geläuterter Spinozismus sein." So unfreier Enthusiasmus (bei Lichten-
berg sehr merkwürdig) war Goethes Sache nicht. Worin war er ein
Schüler Spinozas?
Der Einfluss Spinozas auf ihn ist ungeheuer; es wäre eine Seminar-
arbeit ersten Ranges, diesen Einfluss einmal im einzelnen nachzuweisen,
im Faust, in der Lebensbeschreibung und vor allem in der Lebenshaltung.
Auch an Huldigungen für Spinoza fehlt es nicht. Im dritten und vierten
Buche von „Dichtung und Wahrheit" ist und bleibt Spinoza der Heilige,
zu dem Goethe aufblickt. Goethe selbst hält den ethischen Einfluss
Spinozas für überwältigend, die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus
jedem Satze hervorleuchte. „Wer Gott recht liebt, muss nicht verlangen,
dass Gott ihn wiederliebe,* dieser Ausspruch mit seinem Ideenkreis er-
füllt sein ganzes Nachdenken. Wie schon im Bayle die Beschimpfung des
Denkers neben der Anerkennung des „Partikuliers" Spinoza sein Misstrauen
erweckt hat, so geht ihm jetzt die Lehre des Amsterdamer Juden zunächst
durch seinen Charakter auf. In dem schönen Eingang des vierten Buches von
„Dichtung und Wahrheit" hat Goethe am klarsten ausgesprochen, wie er
sich durch Spinoza habe in allem Handeln bestimmen lassen. Jeder kluge
Mensch habe noch zuletzt ausgerufen, dass alles eitel sei. „Nur wenige
Menschen gibt es, die solche unerträgliche Empfindung vorausahnen und, um
allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen
*) Für Goethe-Philologen: „. . . wirke der Gottheit lebendiges Kleid".
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Fritz Mauthner: Spinoza.
resignieren. Diese überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen, Ge-
setzlichen und suchen sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüst-
lich sind, ja durch die Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben,
sondern vielmehr bestätigt werden. Weil aber hierin wirklich etwas
Übermenschliches liegt, so werden solche Personen gewöhnlich für Un-
menschen gehalten, für Gott- und Weltlose, ja, man weiss nicht, was
man ihnen alles für Hörner und Klauen andichten soll . . . Denke man
aber nicht, dass ich seine (Spinozas) Schriften hätte unterschreiben und
mich dazu buchstäblich bekennen mögen. Denn dass niemand den
andern versteht, dass keiner bei denselben Worten dasselbe
was der andre versteht, dass keiner bei denselben Worten
dasselbe was der andre denkt, dass ein Gespräch, eine Lektüre
bei verschiedenen Personen verschiedene Gedankenfolgen
aufregt, hatte ich schon allzu deutlich eingesehen, und man
wird dem Verfasser von , Werther' und , Faust' wohl zu-
trauen, dass er, von solchen Missverständnissen tief durch-
drungen, nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann voll-
kommen zu verstehn, der als Schüler von Descartes durch
mathemathische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel
des Denkens emporgehoben, der bis auf den heutigen Tag
noch das Ziel aller spekulativen Bemühungen zu sein scheint."
Da haben wir den Gegensatz zwischen Bayle und Goethe. Bayle
macht dem Denker dessen Umwertung alter Begriffe zum bittern Vor-
wurf und versteht ihn nicht, weil er sich trotzdem an den Buchstaben
hält; Goethe durchschaut die Wertlosigkeit überhaupt der
Sprache und versteht Spinoza eben darum, weil er sich nicht
an den Wortlaut hält. Er ist ein Spinozist, aber nicht als sein
Schüler, sondern als ein Verwandter. (E. Caro, „La Philosophie de
Goethe": II est de sa famille bien plus que de son ccolc.)
Wenn es aber die Ethik Spinozas allein gewesen wäre, was Goethe
fürs Leben fesselte, warum brachte er den philosophischen Juden (in
seinem Ahasver-Plan) in direkten Gegensatz zu Jesus Christus? Warum
wurde Goethe damals ein dezidierter NichtChrist? War „grenzenlose
Uneigennützigkeit" nicht auch die Ethik Jesu Christi? Wollte Goethe
sich nur von der Kirche befreien, warum dann sein Hass gegen das
Kreuz selbst?
Weil Goethe eben nicht die Ethik Spinozas allein bewunderte,
sondern in ihr weit mehr, als er sich logisch klar zu machen gewohnt war,
eine Welterklärung fand. Spekulative Bemühungen waren nicht Goethes
Sache; er verhielt sich ablehnend gegen Kant, so oft auch Schiller die
Kategorien der reinen Vernunft anzupreisen suchte, er schob Schopenhauers
„Welt als Wille und Vorstellung" stillschweigend beiseite, trotzdem ihm
der Verfasser nahestand. Er hatte sich bei der Weltanschauung Spinozas
beruhigt, er war bei ihr „stille* geworden, wie „Gott oder die Natur".
„Sie ist weise und still."
Für die Behauptung, dass Goethe im Spinozismus das Apercu
seiner Weltanschauung gefunden hatte, dass er det Wiedererwecker
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Fritz Mauthner: Spinoza.
Spinozas werden konnte, weil ihn das Wort nicht kümmerte, dass er
aber im Spinozismus dennoch für Dichtung und Naturbetrachtung das
ewige Licht sah, dafür hat er selbst kaum irgendwo einen stolzern,
überlegenem und köstlichem Ausdruck gefunden, als in seinem Brief
an Herder, aus Rom, vom 23. Oktober 1787 (Ital. Reise). „Ich
habe immer mit stillem Lächeln zugesehen, wenn sie mich in meta-
physischen Gesprächen nicht für voll ansahen; da ich aber ein Künstler
bin, so kann mir's gleich sein. Mir konnte vielmehr daran gelegen sein,
dass das Prinzipium verborgen bliebe, aus dem und durch das ich
arbeite." Aber auch sein Prinzipium freilich ist ihm, wie jedes Prinzip,
eine Hypothese.
Und noch ein Beleg ist jüngst veröffentlicht worden. Die wenigen
Blätter, in denen Goethe sich — nachdem er an „guten Abenden" die Dinge
mit Herders und der geliebten Frau durchgesprochen hat — doch mit
Spinoza metaphysisch auseinander zu setzen sucht.
Sie sind von Suphan (im 12. Bande des Goethe-Jahrbuchs) ver-
öffentlicht und können uns lehren, wie hoch die führenden Geister jener
Zeit über dem Literaturgebrodel unserer Tage standen. Mit Ehrfurcht
und Sehnsucht muss man jener Tage gedenken. Nicht müde wird Goethe,
Spinoza wieder und wieder zu lesen, sich alles klar zumachen, nur
um es der geliebten Frau einfach wie eine Blume vorzulegen, und
nicht müde wird Charlotte, von dem geliebten Lehrer zu lernen. Man
war besonders Reissig im Dezember 1784. Aber Goethe hat kein eigenes
Exemplar des Spinoza; Herder schenkt ihm das seine und sendet es am
Christfest, am 25. Dezember, dem Geburtstage auch der Frau von Stein.1)
Und der Generalsuperintendent und Prediger Herder begleitet das Buch
mit folgender Widmung:
Deinem und unserm Freund sollt heut den heiligen Spinoza
als ein Freundesgeschenk bringen der heilige Christ.
Doch wie kämen der heilige Christ und Spinoza zusammen?
welche vertrauliche Hand knüpfte die beiden in eins? •
Schülerin des Spinoza und Schwester des heiligen Christes
Dein geweihter Tag knüpfet am besten das Band.
Reich ihm seinen Weisen, den du gefällig ihm machtest,
und Spinoza sei euch immer der heilige Christ.
>) Darauf natürlich geht der anmutige Scherz, der sie eine Schwester des
heiligen Christes nennt; es ist bässlich von Suphan, dass er es auf ihre Frömmig-
keit bezieht.
^TkW^T.W i|iw7JVT>.*7^* i t.^^rf.^^T.^TTtW ' PkW »KW « F.W IM IKW PfWI W < nW IKW ^.WT^Wr*
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Schulfragen.
Von Friedrich Naumann in Schöneberg.
Die Geister von Osnabrück und Münster sind wieder da, füllen die
Luft und verwirren die Seelen. Überall streitet man um die Konfession.
Kommt her, ihr Kinder, ihr sollt Konfession haben ! Jedes Kind soll eine
Konfession haben ! Sobald es 6 Jahr alt ist, soll es entweder lutherisch
sein oder katholisch.
Mein Kind, was ist deine Konfession?
Ich bin ein Kind.
Das ist jetzt gleichgültig, du sollst deine Konfession sagen!
Ich habe keine Konfession; ich bin ein Kind.
Auch Kinder müssen Bekenntnisse haben, gerade die Kinder!
Aber ich habe noch keines.
Dann werden wir dir ein Bekenntnis besorgen.
Ja, bitte, ich möchte auch ein Bekenntnis haben, wenn alle Kinder
ein Bekenntnis haben müssen, ein schönes Bekenntnis.
Du bekommst ein schönes Bekenntnis. Wir schreiben ins Buch,
dass du lutherisch bist.
Warum gerade das?
Weil dein Vater lutherisch ist
Mein Vater sagt, das alles sei Wassersuppe.
Hat er das öfter gesagt?
Ja sehr oft, fast alle Tage.
Dein Vater ist aber trotzdem lutherisch; irgend etwas muss doch
jeder Mensch sein.
Mein Vater sagt, dass ihm gar nichts an allen Pfaffen gelegen ist
Das ist sehr traurig aber lutherisch seid ihr doch!
* •
Der Vater geht nach einiger Zeit zum Pastor und sagt:
Herr Pastor, ich will austreten.
Aus der lutherischen Kirche?
Ja, Herr Pastor.
Wollen Sie katholisch werden?
Nicht im geringsten, ich will aus aller Religion austreten.
Aber, Mensch, Sie können doch nicht ohne Gott leben wollen?
Will ich vielleicht auch gar nicht, ich will nur den Religionsunter-
richt los sein für mein Kind.
Aber den werden Sie ja gar nicht los, auch wenn Sie austreten.
Was, den werde ich nicht los?
Nein, denn auch Dissidentenkinder müssen den Religionsunterricht
besuchen.
Und, was geschieht, wenn sie ihn nicht besuchen?
%
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Friedrich Naumann: Schuirragen.
Polizeistrafe, gerade wie beim Impfzwang. Der Staat zwingt zum
Religionsunterricht.
Also der Austritt hilft gar nichts?
Bei uns nicht; in Württemberg würde er jetzt etwas helfen.
Nun, dann bleibe ich also in der Kirche.
Und Ihr Kind bleibt im Religionsunterricht.
Und ich werde ihm zuhause auch Religionsstunde halten. Verstehen
Sie, Herr Pastor, . . . Religionsstunde !
Nicht lange nach diesem Vater kommt ein anderer Vater zu dem-
selben Pastor und spricht über den Religionsunterricht seiner Kinder:
Ich möchte sie am liebsten herausnehmen.
Warum aber eigentlich?
Weil ich die kalte schulmässige Behandlung der Religion nicht mag.
Bei mir ist alles warm und innig, so soll es auch bei meinen
Kindern sein.
Ja, aber die Lehrer sind doch nicht schlecht, ich kenne sie ja alle,
es ist keiner darunter, der nicht tüchtig wäre.
Mag sein, lieber Herr Pastor, aber meine Frau ist auch ganz un-
glücklich über die Lehrbücher.
Was hat sie denn gegen die Lehrbücher.
Sie sagt, es ist keine Andacht drin; sie ist eben halt eine Frau.
Und Sie selber? Was sagen Sie?
Ich wollt* meine Kinder aus allem Religionsunterricht herausnehmen.
Was geht die öffentliche Schule der Religionsunterricht an?
Nichts geht er sie an! Die Schule ist weltlich. Herr Pastor,
ich nehme sie heraus!
Das können Sie ja gar nicht. Sie sind gezwungen, Ihre Kinder in
Religion unterrichten zu lassen, so wie der Staat es will.
* •
Und der Pastor machte einen weiten Spaziergang durch den Wald.
Fr ging unten durch die Eichenbüsche, bis er an die Stelle kam, wo
die durchstochenen Erdwälle liegen. Diese Wälle waren in früheren
Zeiten durch Fronarbeit aufgeworfen worden, um mitten im Walde
fürstliche Karpfenteiche zu machen, als aber 1848 die Revolution kam,
hatten die Bauern die Deiche zerstochen. Jetzt also ging der Pastor
auf dem weichen Gras der zerstochenen Wälle : wie doch alles anders
wird auf Erden! Man sticht an allen Deichen herum, von rechts und
von links. Das gehört zum Schicksal. Ist doch nichts, das lang be-
stehet, alles Menschenwerk vergehet und fährt wie ein Strom dahin.
Es gibt keinen einheitlichen Glauben mehr, nicht einmal in einer und
derselben Konfession. Jeder Kopf glaubt etwas anderes. Ich will nicht
sagen, dass heute weniger geglaubt wird, als früher, aber es wird un-
regelmässiger geglaubt. Die GlaubensbegrifFe decken sich nicht mehr.
Das macht es so schwer, den Glauben in den Schulen zu unterrichten.
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Friedrich Naumann: Schulfragen.
79
Wo alte einförmige Bevölkerung ist, mag es noch gehen, wo aber
Mischung ist, allerlei Volk, da gibt es nichts mehr, was alle gemeinsam
glauben. Daran können auch wir Pastoren nichts mehr ändern, wollen
es vielleicht gar nicht einmal. Der vielfältige Glaube ist unbequem zu
verwalten, aber er ist wahrhaftiger als die Einförmigkeit. Das Peinliche
ist nur, dass man den vielfältigen Glauben nicht klassenweise unter-
richten kann. Was machen wir mit der Schule?
* •
*
Es ist gut, dass Sie kommen, Herr Lehrerl Ich habe mich den
ganzen Tag mit Ihnen beschäftigt.
Was habe ich denn nun wieder getan?
Nur gutes, nur gutes! Was mich beschäftigt hat, ist der Wunsch
einiger Eltern, ihre Kinder aus dem Religionsunterricht zu nehmen.
Es werden nicht viele Eltern sein.
Nein, nicht viele. Aber mir will scheinen, dass sie nicht ganz
unrecht haben.
Wird vielleicht von mir und meinen Kollegen der Religionsunter-
richt nicht richtig gegeben?
Im Gegenteil, vereintester Freund, ich bin überzeugt, dass er von
Ihnen und überhaupt bei uns sehr gut gegeben wird.
Was also haben dann die Eltern auszusetzen? Wir tun unsere
Pflicht, und ich darf versichern, dass wir sie gern tun. Das
ist keine blosse Redensart. Ich gebe keine Stunde so gern wie
den Religionsunterricht.
Es ist ähnlich wie mit der Predigt. Wir predigen von Herzen,
aber es passt doch nicht für alle.
O, Herr Pastor, etliches passt doch für alle ! Das grosse Gebot
der Liebe passt für alle. Das Gottvertrauen in allen Lebens-
lagen, die Dankbarkeit, die Ehrlichkeit . . .
Ja, aber die Wunder, die Gottessohnschaft Christi, die Rechtfertigung . . .
Ich meine, ein paar Wunder kann jedes mit in Kauf nehmen. Ich
unterrichte die Wundergeschichten nicht besonders gern, aber sie
gehören einmal zum Ganzen. Machen Sie es anders, Herr Pastor?
Nicht sehr viel anders, aber ich bin dabei unruhig, denn Wunder
sollen entweder mit Inbrunst oder gar nicht vorgetragen werden.
Kalt gewordene Wundergeschichten sind etwas Hartes für die Seelen.
Ja, wieviel kaltgewordene Wundergeschichten werden in allen
Schulen vorgetragen!
Auf Staatsbefehl! Die Kinder werden bestraft, wenn sie dabei fehlen.
Nein, die Eltern werden bestraft, wenn sie die Kinder fehlen lassen.
Verehrter Herr Schulrat!
Gestatten Sie, dass ich mich heute in einem nicht amtlichen Briefe
an Sie wende ! Ich weiss, dass Sie eine amtliche Anfrage nur im Sinne
der auch mir bekannten Regierungsverordnungen würden beantworten
80
Friedrich Naumann: Schulfragen.
können, die den Schulzwang mit Strafandrohung auf den Religionsunter-
richt ausdehnen. Diese Verordnungen sind die notwendige Konsequenz
der älteren Auffassung, die in der Konfession nur eine Ausdrucksforra
der Untertänigkeit sah, so dass man es nur korrekt fand, dass bei
Konfessionswechsel des Fürsten die Untertanen auch wechseln mussten.
Bei solcher Auffassung war die freie Verfügung der Eltern über die
religiöse Erziehung der Kinder von vornherein ausgeschlossen. Der
Fürst machte den Glauben. Da nun aber diese ältere Auffassung im
allgemeinen aufgegeben erscheint, da der Grundsatz, dass der Staat
konfessionlos sei, sich immer mehr Zustimmung erobert hat, so darf
wohl mit Recht gefragt werden, ob es zeitgemäss und sittlich richtig ist,
auf dem Gebiete der Schule Bestimmungen festzuhalten, deren Voraus-
setzungen heute nicht mehr zutreffen. Ich frage auf Grund bestimmter
Vorkommnisse in unserer Gemeinde: glauben Sie, dass man genötigt
ist, die bestehenden Vorschriften über die Ausdehnung des Schulzwanges
auf den Religionsunterricht unter allen Umständen aufrecht zu erhalten?
Würden Sie mir raten, als evangelischer Geistlicher, meinen Einfluss
in dieser Richtung geltend zu machen oder kann ich, wozu ich aus
religiösen Gründen mehr neige, unter der Hand ein Verteidiger der
individuellen Freiheit in Religionssachen sein? In alter und stets neuer
Verehrung Ihr
. . ., Pastor.
Verehrter Herr Pastor!
Es gibt Dinge, die man nicht anrühren darf, wenn man ein gutes
Gewissen behalten will. Dazu rechne ich leider den Religionsunterricht
innerhalb der Sphäre des staatlichen Schulzwanges. Wie Sie sich denken
können, bot mir meine seitherige Tätigkeit schon viel, ja allzuviel
Gelegenheiten, Entscheidungen zu treffen, die ihrer Natur nach etwas
Unvollkommenes in sich tragen mussten. Meist musste natürlich das
formelle Recht über religiöse Bedenklichkeiten siegen. Ich gebe Ihnen
ohne weiteres zu, dass Religion eigentlich nicht als Lehrfach wie Schreiben
und Rechnen behandelt werden sollte. Die einzelnen Eltern, die sich
aus Unglauben oder besonders vertieftem Glauben gegen den normalen
Durch schnittsbetrieb des Religionsunterrichtes wehren, haben nach meiner
rein persönlichen Empfindung durchaus recht. Es Hegt eine unnötige
Härte darin, dass der Staat, der schon soviele andere Dinge schematisiert
hat, auch die religiöse Erziehung der schulpflichtigen Kinder unter sein
Schema bringt. Als Einzelmensch würde ich dagegen protestiert haben,
wenn meine Kinder, als sie noch jung waren, in einen Religionsunter-
richt hineingepresst worden wären, der mir und meiner Frau nicht ge-
passt hätte, ja ich bin jetzt fast noch in Versuchung, als Grossvater für
meine kleinen Enkelchen zu protestieren, die ganz reizende Kinderchen
sind, goldige Würmer. Aber was hilft das alles ? Wenn ich auf meine
Schreibstube gehe, habe ich den Staat zu vertreten, der da ist, und
dieser, dieser Staat ist trotz allem Gerede noch heute der Konfessions-
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Friedrich Naumann: Schulfragen.
81
Staat. Er kennt keine Elternrechte auf Privatreligion. So gut mein
Sohn zum Militär rauss, so gut muss er vorher in seine Religionsstunde.
Das ist eigentlich ganz gottlos, denn Gott will sicher keinen Religions-
zwang mit Strafgeld und eventueller Strafhaft, aber Professor Sohm hat
ganz recht: der Staat ist ein Heide! Ein Heide ist erl Als Heide
zwingt er die Kinder in den konfessionellen Unterricht. Das klingt sehr
merkwürdig, aber, ich kann mir nicht helfen, christlich kann ich gerade
diesen Zwang nicht nennen, obwohl es meine Pflicht ist, ihn durch-
zuführen. Und da es meine Pflicht ist, kann ich auch ausseramtlich
Ihnen nichts anderes mitteilen, als dass ich jeden Fall von Umgehung
des Gesetzes verfolgen lassen muss, der mir zur Kenntnis kommt. Man
ändert solche Dinge nicht, indem man sich ihnen im Einzelfalle zu ent-
ziehen sucht, sondern indem man hilft, die geltenden Anschauungen vom
Staat in seinem Verhalten zur Konfessionalität umzugestalten. Das ist
es, was ich Ihnen in alter Freundschaft bestens empfehle, wobei ich bleibe
Ihr treu ergebener
, Schulrat.
Guten Morgen, Herr Pastor! Ich muss dringend mit Ihnen sprechen.
Was gibt's, Herr Lehrer?
Denken Sie, ich habe den O. auf drei Wochen vom Religions-
unterricht der Oberklasse ausschliessen müssen! Der Bengel
verdirbt mir die ganze Klasse. Er sagt, dass er nichts glaubt!
Das aber geht nicht, das ruiniert die ganze Disziplin. Jetzt mag
er sehen, wie er ohne Religionsunterricht fortkommt!
Wie alt ist der O.?
Er wird Ostern 14 Jahre, ein tüchtiger Bursche. Ich mag ihn
sonst ganz gern, aber er wird von seinen älteren Brüdern
geradezu toll gemacht. Die lassen ihn das verrückteste Zeug
lesen. Ich kann es ihm doch nicht verbieten!
Haben Sie schon einen ähnlichen Fall gehabt?
Nein, niemals. Es ist der erste derartige Fall. Was soll ich tun?
Berichten Sie an den Herrn Schulrat.
Und was wird der Schulrat antworten?
Er wird sagen, dass es unstatthaft ist, den O. vom Religionsunter*
rieht zu dispensieren, da dieser Unterricht ein Zwangsunterricht
für alle ist.
Ja, es muss aber doch Ausnahmen geben.
Passen Sie auf, es gibt keine!
eübbeutf*e 3Wonot#Wte. 11,1. 6
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£>ie Erweiterung oer Wohnungsfrage.
Sin @pilog ium granffurter ffiobnungäfongrefj.
Den granffurter JlÖobnungäfongref; baben bie Sageäjeitongen fo audfu^rlic^ be»
(proben, bo§ |>irr ein eingebenbeg SRcferat über bie QSerbanblungen nid)t gegeben ju werten
braud)t. Der ebrenoollen Bufforberung, an biefer Stelle über «bn ju berieten, roifl td>
alfo einfad) baburd) nadjfommen, ba§ id) einige töemerfungen madje über ben 'Pnnft, an
bem ber ftongrefj bie fog. SSBobnungäfrage gefunben bat; — unb an bem er fie, wie
id) fofort binjufüge, aud) gelajfen bat. Seine QSerbanblungen baben fiargeftellt, wie
weit toir j. 3- im ffiobnungdwefen finb. Sie fonnten naturgemäß nid)t flar
ftellen, wobin wir geben follen, ober wie weit wir j. 3- nod) »on» 3»*l f»"6-
(£d war eine impofanteSBerfammlung; impofant burd) bie 3«bt ibrer Setlncbmer unb
burd) ibre 3ufammenfe£ung : Über 900 Ceute auä allen berufen : ^Beamte, ©clcbrte, £bge«
erbnete, Söorflänbe gemeinnügiger Vereine unb ©efellfdjaften ; aud allen Parteien, von ber
äufjerften SHed)ten btd jur au&erften Cinfen; Männer unb grauen; ade einig in ber Uber«
jeugung, bafj ein guter Seil ber SBoblfabrt unfereä 2)ater(anbeö baoon abbänge, ba§ bie
SDKfjftänbe im ffiobnungdwefen gebelfert würben, uneinig freilt'd) in ber grage, wo bie
Sd)ulb an biefen SOttpanben liege unb in weldjer ffleife ibnen abjubelfen fei.
Dap eine fo(d>e QSerfammlung feine Stefolution faffen fonnte, liegt flar jutage. (iine
Dtefolution fprid)t au$, worin biejenigen, bie |te faffen, einig ftnb; ma$ von ibnen gemeinfam
erfhrebt wirb. Die auf bem 2Bobnung$fongre§ QSerfammelten waren aber einig nur in bem
2Bunfd>e nad) einer Q3efferung ber gegenwärtigen SobnungSoerbältnifFe, bie ja in manchen
fünften — j. 53. bejüglid) ber feblenben ©obnung*reoif»on — fogar bem $au«« unb
©runbbefi$er«93eretn, unb beffen Sortfübrer, #erro Hartwig, reformbebürfrig erfdjieneu.
über SDfenfdjen, bie fid) )ur gemeinfd)aftlid)en Qtbreife auö einem befttmmten Ort
treffen, tonnen bedbalb nidjt ju einer gemeinfd)aft(id)en geftftettung beä Ja-l* ober Snb«
punftd ber Steife oercinigt werben. 2öad für bie einen bafc ift, ift für bie anbereu
ein unwillfommener, wenn aud) unocrmeiblid)er Umweg. Q3ebeutung£ooU für bie, bie
e* angebt ift nur, ba§ feiner eon allen an bem «ßunft bleiben mifl, wo er jefct ift!
9J?it anberen Sorten unb obne S3üb : Der Äongrefi bat gejeigt, bafj bie öffenrlid)e 2Reinung
beute bie SRotwenbigfeit ber Reformen im 5öobnung*wefen begriffen unb ergriffen bat.
Dad ift feine wid)tigfte 8tu§wirfung, bie in anberer Seife unb burd) nod) fo oft
wieberbolte SBobnungöbebatten in ^arteüißerfammlungen, 93eretnen, 93erbänben ufw.,
unb burd) nod) fo bäuftge Ceitartifel ober 93rofd)üren nicht bätte erreid)t werben fonnen.
Daneben bat er aber aud) Anregung gegeben nad) allen Seiten. Qi gibt faum eine
ber oielcn 2Bobnung*fragen, bie nid)t btofutiert worben .wäre. Die Bobnung*ftatiftif,
bie Q3auorbnungen, ber Stäbtebau, bie ©Obenreform, bie 5Bobnung$frage ber Dienftboten,
bie gragen beä SBaufrebirt unb ber Q3efd)affung ber ftaufapitalien, bie ffiebnungänot
ber ©ielföpfigen gamilien, bie Aufgaben ber 3noalibeneerfid)erungen unb ber Q3augenoffen>
fd)aften, bie Q5ebeutung beÄ (Srbbaured)td ufw. ufw., furj, aße SBobnungdfragen famen
jur DiÄfuffien, fretlid), wie mir fd)etnt mit Qtudnabme einer einjigen, aDerbingd berjenigen,
bie faft al* bie wid)tigfte, wenn md)t ald bie einjige, ald bie SBobnungSfrage aufgefaßt
werben fann. Unb oon biefer Sobnungdfrage foK nun bitr furj gefprod)en werben,
von ber grage, bie fid) fofort aufbrängt, fowie man einmal baran teuft: 2Bae
ed benn für SBobnungen finb, bie bfute gebaut werben? — bie oon bei*
Statiftif gejäblt werben, ju bereit rid)tigcr ©ruppierung bie tiel erörterte Lex.
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SKunbfcpau.
83
Adickes unb bie S&auplcme unb Strafen » Alignement* ufw. bienen feilen; ju
beren billiger £erftellung bie #ilfe ber töerficperungäanfi'alten, ber fo oielfacp gc*
forberten ftäbtif<pen äppotbefenbanfen ufw. in Anfprucp genommen wirb. Sad finb
e* für Segnungen, bie ber Unbemittelte benufct? Die Antwort lautet, ba
felbftoerftänblicp eine ©<pilberung einjelner befonberö fcplecptcr Sßepnungen pier niept gegeben
werben (cd: eö tfnb biejenigen Sffiobnungen, bie er bejablen fann. SDtan bejaht mit
fem Arbeits lobn; auSnabmämeife mit bem gatrjen (Cffijierc, Beamte, dichter ufw.,
bie reidje grauen baben); in ber 9tege(, — nämlicp alle, bie gum ?eben$unterbalt auf
ben eigenen Srwerb angewtefen fmb — mit einem Seil be* Arbeitölobn«. ftür fie, alfo
für bie ungebeure SDteprbett unfereö Q3olfc* ifl bie SfÖDpnfrage £obnfrage, wie id>
bie* bereit* 1886 in meinem bem herein für ©ojialpolitif erwarteten ®utacpten über
bie Ar anffurte r 2Bobmiug$oerbaltniffe auägefprocpeu babe. 3ebe SBopnung, mag fte baulich
befepaffen fein, wie fie will, wirb fcf>(ed> tr wenn bie SDttete einen ju großen Seil bc£
Arbeitslohn» bed 3J?ieter$ »erjebrt. <£t banbelt fiep alfo nur barum, ju miljen, wieoiel
bie SRieter, b. b. in ber überwtegenben SOfcbrjabl ber ftälle bie ocrmögenelofen, auf ben
Höpen Sagelobn angewiesenen Arbeiter bejablen formen. Ober, um bie ??rage noep
tofitioer \u ftellen, ba mir willen, bar} ber Arbeiter in ben beutfepen @ror}ftäbten einen
£obn oon faum 3 2Jtf. bid boepftene" 4 STOf. täglich, oon 16 bid allen falle 21 Wlf.
wöchentlich bat, unb ba mir meiter annebmen, bat} er oon biefem £opn bod> nicht mein
als etwa ben 5. ober 4. Seil für SWiete oerauägaben foflte: ffielcpe SBobnungen fann
man für 3,50 bi* 6 «Dcf. wöchentlich, für 14 bid 24 3Rf. monatlich bauen?!
2J?an menbe niept ein, bar} bie grage ju allgemein gefledt fei; ba§ fie nur für
einen bestimmten Ort, unter SBerucfftcptigung ber Sßobenpreife, ber SBaulaftcn, ber greife
ber ^Baumaterialien ufm. beantwortet werben forme. SBenn ei möglich ift, bie „SBobnungen"
obne 55erücf|tcptigung aller lofalen SBerbältniffe ju jäblen, noch befh'mmten, jiffermä§igen
SOterfmalen (3immerjabl, ©tecfwerföjabl ufw.) ju gruppieren unb bicraue 3 cb In fie ju
iiepen, fo if! e$ auch möglich, unfere Jrage }u Retten, ffluv bar} man ju ibrer SBeant»
wortung fiep barüber flar fein mut}, wie jur „Sobnung" nocp ganj aubere Dinge ge*
boren, ald biejenigen, bie flatiftifcp erfaßt werben fönnen: bie 3ftitbewpbnerfcpaft im
•fraufe, ber bauliche unb fonfh'ge Jnrtanr beo" ©runbfrucfS, tai perföulicpe 93erbältni$
iwifepen Bietern unb £au$berrn, bad räumliche 2ßerbä(tni$ }mifcpen SBobnung unb Arbeite
ftätte ufw. ; unb cor ädern bie (Geeignetheit ber gemieteten SRäume felbfl jur Erfüllung t'bred
3metfe* al* „fflobnung", b. b. al* räumlicbe ©runblage brt gamtlienlebend unb ber Stoiber»
erjiebung, al* bie »Stelle, an ber ber gamilienoater naep ber Arbeit Slube unb naep bem
Berufe bie 9R6glicpfeit }ur Erfüllung feiner Früchten gegen ben (Staat unb gegen fiep
felbfl ftntet. Unb gerabe in biefer -Ouificht bat ber $ongre§, wie ich glaube, }war wenig
thecretifebe (Erörterungen, aber wichtige Q(nfcbauungen gegeben. Die SOobnungdbeftcbtigungen,
bie am britten Sage ftattfanben, geigten gewiffermaf? en empiriftp, wad jurteit im Sobnungd*
wefen, fpe}iefl beiüglict) ber arbeitenben Älaffen, geleiftet wirb, ftranf^irt i(l bie ©tabt,
bie gerabe in biefen Dingen binter feiner anbern <&tabt Deutfcblanb* jurücfflebt. 2Bir baben
mit einem gewiffen nicht ganj mibe rechtigten ©tolje ben ^remben gejetgt, wie bie SBobnungd-
fürforge in ^ranffurt nirfit nur bem lufäfligen belieben ber ^n'oatbauuntemebmer über«
lamm ifl, fonbern wie — au§er ben beiben grö§ten Arbeitgebern, bem Sifenbabnftdfu* unb
ber ©tabt, bie für ibre Arbeiter ffiobnungen bauen — au<^ ©errojfenfcbaften, gemeimtü$ige
®efeUfd)aften unb gro^e, mit £ilfe ber ©tabt ind ^eben gerufene (SrwerbagefeUftpaften
)iöj an ber SBobnungäfürforge beteiligen.
Unb wie wäre bie Antwort aufgefallen, wenn gefragt worben wäre, wae* auf
biefe Art in ^pranffurt geleitet wirb?1) Der 93erfaffer biefed Auffand, ber felbfl an ber
Verwaltung ber größten gemeinnü^igen Sßaugefettfdjaft ^ranffurtd, ber Aftien*Q3augefe(J*
') Sa«? ?!i*t : k i f cir 1 1. Xi-r Umfang tti iitttt obre inbirrrt 6ffrntlicprn ißebnun^e-
haut in $ranffurt 10 nanu Ii* genau befannt; für unfrrr (üertaung femmt ti aber auf tu
BffAafenbett, nia)t auf bi« 3apl ber fc rrftfUten «chnungen an.
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84
fcbaft für Heine Segnungen beteiligt ift, wirb faum in QÖerbacbt fommen, baS ©eleitfcte
gering ju febä^cn. 3d) b<»be, als id) ben im SBeftenb ber ©tabt gelegenen, oon ber
erwähnten ©efctlfchaft erbauten fog. Srbbaublpcf am britten Äongrefctag ben Äongrefj*
befuebern oorjeigte, mit (Genugtuung gebort unb nicht abgelehnt, wenn mir gefagt mürbe,
baf? biefcS Bauwcfen mit feinen, in 73 Käufern ©erteilten 263 Arbeiterwobnungen, mit
bem „93ereinSbauS", ben ©arten, ©pielpläßen, Bleid)plä§en ufm. als eine SDtoflcranlage
ju betrachten fei, bie bem Beften gleichsehe, waS bisher auf bem ©ebtete ber Arbeiter«
2BobnungSfürforge geleiftet würbe. Aber gcrabe, meil ich ben 2Öert beS ©eleifteten md)t
©erfenne, balte ich eS für um fo notroenbiger, nicht nur ju fragen, ob bai oon biefer
ober anberen ©efellfchaften ©eleiftete beffer fei, als waS ben Arbeitern fonft geboten
werbe? fonbern ob ei bem genügt, waS beute bereit* auf bem ©ebiet ber Arbeiter*
SffiobnungSfürforge geforbert werben muft, unb erreichbar fein follte? Tili nebenfad) lieb
betrachte ich hierbei, ba§ gar manche ber oorgeieigten Sobnungcn, mSbefottbere auch
manche in bem ermähnten Baublocf alS überfüllt betrachtet werben fonnte, wenn man bie
3apl ber gamilienglieber mit ber 3abl ber Üuabratmeter ober Äubifmetcr in* 93erbältnid
fefct. S)ie Uberfüflung ber einen 20obnung wirb ja möglicherweife ausgeglichen burch bie
geringe Äinbcrjabl auf bem glur ber 9?ad)barwobnung ober in ben anbern ©torfwerfen ; unb
jebenfallS ift eine „überfüllte" ©obnung in einem gut oerwalteten $aufe, wenn ber SBietpreiS
noch genug oom Arbeitslohn jum Anfauf oon Nahrungsmitteln jurürfläfH, beffer, als eine
feinenfaüS oiel größere SBopnung ju höhcrem 'Preis unb in einem überfüllten oerwabrloften
©ebäube. <£ine anbere ffiabl haben ja gerabe bie rmberreieben gamilicn nicht!
Aber aQeS waS in granffurt gejeigt warb, fowobl in ben fechS Baublöcfen ber Aftien«
Baugefellfcbaft, als in benen ber betben neuen (StwerbSgefedfchaften, granfemAllec unb
Dellerhof, bei benen bie Statt gegen gewiffe ©egenleifhiugen bie ©arantte ber gefamten
©bligationenfcbulb übernommen hat, ober in ber oor funfjig 3abren oon. 93arrentrapp ge*
grünbeten gemctnnüfcigen Baugefellfcbaft, waren ber #auptfad)e nach nichts als 3»eiiimmer*
wohnungeu; Wohnungen oon jmet 3»mt"crn mit Äüd)e unb ohne £üd)c, Sßobnungen
oon brei SRäumen ohne Küche. SRuu finben Och jweifelloS ade tiefe Sohnungen in baulich
gut auSgeftatteten Käufern, jebe bat ihren befouberen Abort, Bobenfammer, Äetler, oiele fi ne-
nnt Babcetnrid)tung, bie ben SDHetern abwedjfelnb jur Verfügung fleht, aOe entweber mit
großen $öfen oerfehtn ober an breiten tpromenabenftraßen gelegen, fo ba§ eS ben Minbern
an $ummelpla$ nicht mangelte, bie meiften auch &*m $rct'S nach für Arbeiter erreichbar.
ffier aber meinen follte, baß hiernach ja adeS SRotmenbige getriftet werben
fei, baß eS ftd) einfach barum hanble, in allen beutfehen ©roßftäbten bie 3abl folcher 2Bob*
nungen fortwährenb ju oermehren, woju man ja nach oon ^Joble am Anfang beS
ftongreffeS oorgetragenen, oiel angegriffenen, aber nicht fachlich miberlegten Berechnungen, auf
bemSege \u fein fcheint, ber möge ftd) nur flar machen, junäcbft, baß B. bem Arbeiter, ber an
bie Aftienbaugefeöfchaft für fleine SBobnungen, — bie biet als typifcbeS Bcifpiel für bie
^eifiungen beS mobernen gemeinnü^igen SBobnungSbauS genannt wfrb — für 2 3immer mit
3ubehör aber ohne Stiebe bie für granffurt außergewöhnlich bittige Wtieie oon 14 — 17 5Äf.
monatlich jablen muß, für fid) unb feine gamilie, alfo für jwei bis fechS, fieben unb
mehr ^erfonen, eben bod) nur etwa ber gleiche Betrag wöchentlich, alfo nicht oiel über
2 9J?f. täglich oerbleibt, unb fobann, baß er fchltefHid) für bie 'Mete oon 14—17 SDJf.
nichts weiter hat, als eben jwei 3immer! Sie wirb eS, wenn bie grau ober ein Ätnb
baS Bert hüten fotten? fflo ftnbet er ober feine grau, wenn fle einmal mübe ober
ärgerlich finb, 9tuhe unb Behagen? — benn baS bürftige, häßliche, häufig gan| unge»
nügenbe SRobiliar hilft nicht befonberS oiel, um bie SBobnung „wohnlich" |u machen.1)
' ) $crftH<ntrr tr< «uffldit«rat« tirür (Mf ffltfcbaft trar früher ferr ^inan|tniniftrr Dr. SRiauel,
unb ift jr et Ux ^orft^mbr bei Vtxtmt 9fria>«»o^nung<arff|, ^rrr 6h- ^iillgartcn. Dir örffUfcDafr
hat M ie|t runto iO(M fBobnunam erbaut, bir in fr<h< eaublocf« »rrtrilt nnt
•) *er baulich ned) fc gut brfchaffme Raum »irb |ur „Sobnuna" erf» burch ba« Wobtliar,
ben flaulrat. ©efr^lichf Kebnun9«furfor8f «h«' 9<faUtyn ^au«rat<fa)u| ij» unbenfbar. %et
s
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Sttmbf^ott.
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Sie feil er cd anfangen, um in bem engen Staum unb in bem engen £aufe auch mir
einmal in Stube ein $8ud) )u lefen? Unt wad tut er, ba bie EBobnungeu fämtlid) weit
tnt rem 3cntn,m ©tabt mit beren «23ilbung£anftalten, wie auch oon ben Verfamm*
lung*fälen, ©efd)äft«bäufern ufw. entfernt ftnb, um ben Qfnteil an ben futturetten ©ütern
unt an ben öffentlichen Dingen gu erlangen, auf ben er ein Üledjt bat? Die fflobnungö*
fürferge, wie fie gewebnlid) geleitet wirb, fümmert fid) um alle tic\c
Singe nid) t. ©ic liefert »wei gdjlafjimmer, ben Stritt, einige SWebengelaffe unb über*
laft ei bem Arbeiter, in biefen jwei 3tnitncr" iu „wobnen". Der lange Arbeitstag
fergt ja freunblicherweifc bafür, ba$ nid)t oiel in ber „SBebnung" „gewebnt", b. b- gc*
lebt werben fann; unb jum ©Olafen reicht ber "XMai^ wobt aud!
©erabe in tiefer «Begebung mup unb wirb fid) hoffentlich eine föanblung oelt»
lieben. Die Eigenart ber „Aftien^augefellfchaft für Heine Sobnungen" unb bie bc*
fenbere Aufmerffamfeit, bie fie beäbalb mäbrenb bed ÄongreffeS cor ben anberen architef*
tcm'fd), baulich ufw. minbeftenö gletd)ftebenben SBcbnungägruppen erregten, berubt gerabc
barauf, ba§ fie ftd) ber diotmenbigfeit biefer Erweiterung ber Sßobnungöfürforge
bcirupt tfl. Sic fdjafft Q5e}iebungen jwifdjen fid) felbfl unb ibjren Bietern, bie burd)
bie für jebcd $aud gcwablten C b manne r, unb burd) bie au* biefen Obmännern in
jebem 93locf gebilbeten 3tticterau«fd)uffe an ber Verwaltung teilncbmeu, nachbarlidjc
tftrertigfeiten felbftänbig entfdjeiben, Anträge bciüglid) ber Verwaltung an bie ©efeHfchaft
ridjten rennen ufw. ©ie fdjafft ferner Söejiebungen unter ben Bietern felbfi. Diefe
fmb vereinigt jum gemeinfd)aftlid)cn Anrauf von Noblen unb Kartoffeln, wobei bie ©e*
fcllfcrjaft ben größeren Seil bc$ Äaufpreifed {intMeö vorfd)ie§t, um ben ütttetem ben
«.emetnfd)aftlid)en 3*e|ug im großen ju ermöglichen, ferner W für bie SDctcter burd)
ein Übereinfommen ber ©efellfchaft mit bem #au$pflegeverein bie ßaudpflegefaffe ge»
arünbet, an beren Verwaltung bie Bieter teilnebmen, unb bie ibren SDKtgliebern unfere
^ranffurter Erftnbung, bie #au$pflege, b. b. bie gürforge für Orbnung unb SReinu'd)«
feit im J^au^balt in Ratten von Stranfbeit ber Jpauäfirau, kniet. werben bie ?J?ieter
iu einer Art SBettfampf vereinigt burd) bie von ber ©efeüfchaft eingerichteten *)3rei$*
rertetlungen für bie befte Pflege ber ©artenbeete, bieju ben Jffiobnungeu geboren ufw.
(Inblid) aber bat bie ©efedfdjaft eine SÄeibe Einrichtungen getroffen, bie alle 2ßob =
iiungen gewifFermafjen ergänjen unb allen SDcietern gleichmäßig Utt Verfügung fteben.1)
3n jebem SBaublccf ftnb f leine Q3ibtietbefen oorbanben, aud benen «Bücher entlieben
werben fönnen. $n etnjelnen beftnben fid) voflftänbige, gut auögeftattete Cefe {immer.
3n mehreren «Baublecfen, befenberd in ben erjentrifd) an ber efrlid) unb meftlid) an ber
Teripberie ber ©tabt gelegenen, finb in befonberen, mitten im QSlecf oon ber ©efellfchaft
errichteten fog. „Vereindbäufern", Ifrippen, Slinberborte, ftnaben« unb SWäbchen borte
eingerichtet unb befinben fid) Vortragdfäle, in benen »on 3eit )u 3eit unentgeltlich ju*
gangliche Vorträge (Volfdoorlefungen) abgebalten werben, ginjelne biefer ©äle |lnb
neuerbingd ju einer Art oon SRufeen eingerichtet worben, wo gute, ibrem ©egenflanb
nad) intereffante 93über (Kupferfh'd)C, ^olifchnitte, 9tabierungen ufw.) unb außerbem bie
neuerbingd fo vielfach erfd)iencnen, ben Unbemittelten nod) fafl gänjlid) unbefannten 9le*
rrobufticnm tiafftfcher unb moberner ffierfe audgebängt finb. ©erabc biefed Volfdmufeunt,
für bad bie Anregung in bem nad)abmen$merten, bauptfäd)lid) burd) 5. E. ^ordfall -)
^ttfammrnbanj trt fBobnung^fragr mit brr SHobiliarfrage ifl vtm trutfe^rn Herrin für Hrmnu
. ].iie unt SSobltärigfrit auf @runt> mtinti Krfrratc) utrr bie fBobnun^frage t>cm ^tantfuntt
tn 9rmrnrf)rgr bereit« 1888 anerfannt »erben. (€a)riften fcrt herein«, 0eft 2 62, 8rtrjij.
tvmdet unb $umHot.)
') iibnlidftt, eirlleicbt in ber einen ober anberen Qejirbung ?JoUf emmnere«, wirb geleitet }.
tn Stuttgart com herein für ba< f3oM ber arbeitrnben ftlafTen; in ISien oon ber Iraner*
?rrani ^efrrb --^ubilöum^ 3tiftun^; in 8eip|ig oem »erein Oj»b'im; ferner oon ber gemein«
»üfigrn CaugenoffenfCbaft in ^Jofen, bem (Berliner ®par» unb Cau»?Jerein ufw.
*) 9€ gejiemt fic*, ben «amen biefrt Wanne« $u nennen, fa>n um trtiriUen, weil er in
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86
Shinbfcbaii.
mitten in bem fd)limmflen ©ewirr oon Arbeiter»obnungen ju 3Rancbeitcr errichteten
'Jijttccitö Art »ERufeum gegeben wart, fanb bei ber SÖeficbtigung nach fem Äongreß Den
ungeteilteren Beifall unb bie einmütige 3ufhmmun3- 3m Srbbaublocf, ter etwa eine
halbe Staat* »eftlid) ter ©tabtyeripberie unb ooQftanbig ifoliert liegt, fotl ber fo auS«
gemattete VertragSfaal unb ber anftoßenbe tfefefaal ben SRietern regelmäßig }u befh'mmten
Stunben unentgeltlich als Älublofal jur Verfügung gefteflt werben. DaS alle« jufammen
itf gewiß iiicbt wenig. Sine gamilie, bie bei ber AfrienbaugefeQfcbafr, unb inSbefonbere
im (Jrbbaublocf wohnt, ift einer Sleibc oon ©orgen lebig, welche bie Unbemittelten fonft
brüefen. S&tttige 9Jfiete, ootle ©elbftänbigfeit bem Vermieter gegenüber, ber ja nicht,
nie in ben berühmten ftruppfdjen SSobnungen, jugleid) Arbeitgeber ift; unb baju 'Anteil
an ber Verwaltung unb beSbalb ©idjerbeit »or willfürltcber Äünbigung ; ferner £ilfe bei
ben ©torfungen im £auSbalt, nie fie fonft burd) jebe Äranfbeit ber ßauSfrau beroor*
gerufen werben ; bie £0* ög Ltcbf ett, f ulturcllc Anregungen in unb unmittelbar bei ber SBobnung
in fütben, baS aOed finb Dinge, bie ben Bietern in 'ßrioatbäufero nicht, unb auch in
gemeinnützigen ©efeUfdjaften, sWgenoffenfchaften ufw. faß nie gebeten werben. Scheinbar
beftebt alfo hier eine Ausnahme oon ber Siegel, bie mir oben auffaßten, baß nämlich
bie SRietc für eine auSreicbenbe Sobnung, bie oom Arbeitslohn bejablt »erben müßte,
com Arbeitslohn nirf)t bejablt »erben fann. Aber bie Ausnahme ifleben nur eine jebeinbare.
Die Afh'enbaugefcllfchaft nimmt ade, in Reußen freiließ nid)t febr belangreichen
^ricilegien ber gemeinnü^igen S&augefeflfcbaften in Anfprud); fie bat eS oerftanben, ftcb
billigen ®runbbefi£ }u oerfchafFen — teils butd) billigen Anrauf, teils furch günftige
ßrbbauoerträge ; fie genieß biOigen Ärebtt für ihre #opotbefenfd)ulb ; fie }ahlt ihren
Aftionären bödjflenS Dioibenbe; fie nimmt unentgeltliche Arbeit in rcidjflem
Sttaße in Anfprud) — eS »irb ihr j. 55. bie ganje Zuleitung unb faufmännifche
Direfrion unentgeltlich gewährt, — unb trofcbem reiben bie 2Rieten, bie fie forbert —
14—17 3Rf. für jwei Limmer, 18—26 3Rf. für jwei •flmmtt unb Äücfce ober brei
3immer ohne Äücbe — eben nur hin jur 3<»blung ber „ffiobnungen", b. b. ber 3«nmer
felbft. ©oflten alle jene anbeten Sinrichtiingen oon ben SRiete rn befrrftten werben,
fo müßte bie SDWete wefentlid) erhobt werben. Die ffiobnungen würben ben Vorjug
beS bittigen greife« oerlieren, fie würben für bie Saglöbner unb ungelernten
Arbeiter, bie je£t bie SRebrjabl ber Bewohner bilben, unerfebwinglid). Unb um*
gefehrt, wollte bie ©efellfcbaft bie billigen SDJietpretfe aufrechterhalten, fo fonnte fte bie
Soften aller jener „2BobnungS*(£rgänjungeii" nicht ben Bietern auflegen, fonbem mußte
fid) bie Littel in anberer Steife oerfebaffen. DieS ift ihr erfreulidjerweife auch ge-
lungen, teild burd) großartige ©efebenfe, bie ihr jum 35au ber VereinSbäufer gemacht mürben,
teil* burd) jufällige ©ewinne beim Verfauf oon ©ruubeigentum, teils unb cor allem
burd) baS freunblicbe Sntgegenfommen ber ftranffurter gemeinnü^igen Vereine: beS
ÄrippenocreinS, beS Vereins für VolfSfinbergärten, beS Vereins ft'ir Äinberhorte, beS
Vereins „^ugenb^irforge", ber in einigen ber SSaublorfS befonbere AufenthaltSfäle für
bie fcbulentlaffenen jungen Ceute eingerichtet hat, ber Vereine für VolfSbibliotbefen, beS
Vereins Äleingartenbau, beS «^auSpflegeoereinS ufw., — weldje Vereine wieber gar
nid)t in ber tfage gewefen wären, ihre Sätigfeit fo auSjubehnen, wenn fie nid)t oon ber
©tabt }u bem Snbe namhafte ©uboentionen empfingen. SaS geleiftet würbe, ift gewiß
fein £uruS unb foflte allen Unbemittelten jur Verfügung (leben; unb bod) fonnte, was
geletftet würbe — unb hiermit f ehren wir juin AuSgangSpunft jurücf — , nid)t gcleiflet
werben mit ben 3.50 SR f. bis 5 ober 6 SR f., weldje Lohnarbeiter oon ihrem
Socbenoerbienfl im bejien ^alle für bie SRiete abgeben formen. 3elb|l
wenn alfo bie Jranffurter Älein*2Öohnungen, bie wir biw «IS ©eifpiel heiauSgegriffeu
»irlrn €ctnftf", inSbef. in feinon nrurfrm Sua): the improvement of the dwellings and
surroundings of the people; The exaraple of Germany (Vlan$t$tt 1904) in fo fad>*
funfcigrt »flfr feinen eanMlmten tlf fünfte fc^tltert, in emen unfr« «ommunalt>mraltunä in
enalifebfn pcr<u|ifbm ifh
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3lunbfd)au.
87
baten, n>t'rflid> allen 2(nferberungen rntfpräd)en — tatfäcf>ltcf> flnb einige überfüllt, unb
anbere boben anbere $e bler, bie ber ardn'teft mit »ollem SBewugtfein begangen bat, um
billig $u bauen — , fo mären fie nur Qluänabmen, bie bie SRegel betätigen.
©o lange e$ aber nid)t gelungen ift, in anberen, auf rein wirtfdjaftltcber SBafi*
berupenben Sebnungftunternebmungen jene Cetftungen ju erreichen ober }u übertreffen,
fe lange bleibt ale" Antwort auf bie ju Wang biefe* Auflage* geftetlte ftrage: äöeldje
®obnungen fann man ben tfobnarbeitern bauen? nur ber ©a& belieben, baä
e$, fafld billiger ©runb uub ©oben unb billige* Kapital jur Verfügung ftebt, burd)au*
möglid) ift, jwei 3immer, oielleid)t aud) jwei 3»mm"' unb ftüd)e mit 3"bebor berju*
fteüen. „Söobnungeergänjungen", um biefen 'Xudbrucf ju gebrauten, fönnen oou
ben Arbeitern nidjt bejablt werben, unb waä oon Tfrbeiterwobnungen in gro§en
«täbten obne fold)e (Jrgänjungcn geboten wirb, fann eben nur bann alä gut ober
genügenb bejeid)iict werben, wenn man für ben Arbeiter unb feine Jamilie jwei 3immer
ober jwei 3immer unb Äüdjc für gut genug halt.
5Bad folgt auö bem allen? Jnncuto~t nur, bafj bie 2öobnung*frage nidjt gel ölt
ift, aud) wenn wirflid) bad (frbauen oon Söobnbäufern 5ortfd)rittc gemacht bat, wie fid)
lici aud ben tyoblefdjen 3«blenreibcn ;u ergeben fd>eint. 3um „2Bobnungd"bau gebort
mebr, al* baä SÖauen oon Käufern; ber Arbeiter fott nid)t „baufen", fonbem „wobnen";
unb ber #äu(erbau ift nur ein Anfang unb fein Snbe für bad, wad auf bem ©ebiete
ber fflobnungdfurforge )u tun ift. Unb gerabe bedbalb war aud) ber SÖobnungdfongrep
treter unnötig nod) ein 9>?i§crfolg. Die Unjufriebenbeit, bie oielfad) jum Xudbrurf fam,
fctrobl wäbrenb bed Kongreffed ald nad) bemfelben, botte ja ibre Unacto einfad) baritt,
bat? man vom Verbauten fem einer mirflidjen ffiobnungdnot beutjutage, in weit
beperem SD?a(je ald früper, aagemein überjeugt ift. Über ben Umfang biefer
SWot wollte man ficf> nid)t burd) ftatiftifdje Tabellen wegtäufdjen laffen, bie nur
über bie 3abl ber fog. Söobnungen, aber nidjt über beren 3ufr*nb Budfunft
geben; unb bie Teilung biefer 9tot erbofft man m\to länger oon all ben SRitteln
unb 3Ritteld)en, ted)nifd)er, bi^u-mütov, polijeiltdjer, juriftifeber unb finanzieller Dcatnr,
bie indbefonbere am imeiten unb britten 2ag bed tfongreffed bei ben Debatten über
ben preufjtfdjen Söobmtngdgefefcentwurf ober über bie Äapitalbefdjajfung erörtert würben,
derartige Detailfragen mag man fünftig $ad)fongreffen ber Xrd)iteften, kommunal*
beamten, Q5anfoerftänbigen ufw. ober allenfalls ben &eftionäfi$ungen überlaffen. Die
^(Menarfigungen bed fünftigen jweiten ffiobnungdfongrejfed aber werben in erfter Cinie
ber erweiterten Sffiobnungd frage gelten müffen, bie meto mebr lautet, wie mau
ben #audbau oerbifligt, fonbem: Sie man „SBobnungen" fdjafft, bie ben 'Än*
ferberungen genügen, bie ein Äulturoolf bejüglid) ber ©tätten erbeben mu§, an beneu
bie Urjette unfered fojialen bebend, bie ^amilte, fid) entmicfeln fofl, unb aud benen ba*
fünfrige, in ber TLvbeit tüd)tige, jeber geiftigen Anregung offene, freie ©efd)led)t beeoor*
geben foll! Q((lerbingd fonnte biefe erweiterte Sobnung&frage erft gefteQt werben,
nad)bem ber erfte SBobnungdfongre§ bewiefen bat, wie allgemein ber 2Bunfd) nad) ber
grunblid)en Teilung bed ffiobnungdelenb* ber Unbemittelten geworben ift; unb wie man
beutjutage bod) bie 33erfud)e immer mebr ablebnt, bie jid> bemüben, bad grogc ffiobnungd-
Problem aud feinem 3ufammenbang mit ben fokalen ©runbfragen lodjurci§en, um e*
in einen Raufen politifd) neutraler unb fojial unbebenflidjer Sinjelfragen ju oerwanbeln:
„tic ffiobnungdfrage ift SJaufrage, töobenfrage, Ärebitfirage, grage bed ©täbtebau* ufw.
— furj: atted, nur nid)t eben S ob nungd frage!"
2Öem biefe fragen bidber ald bie „ffiobnungdfirage" erfd)ienen, ber benfe baran,
wie oft fid) und beim fflanbern jeigt, ba§ ba§, wad wir oon ber fterne für ba« ©ebirge
felbft bielten, in ber 2Öirflid)feit nur ein #öben|ug war, ber erftiegen werben mu§te,
lamit ber SMitf über bad }u erflimmenbe ©ebirge frei werbe.
dlun fann aQerbingd nod) eingewanbt werben, ba§ bie ?öfung beffen, wad biet
ale erweiterte 2Bobnungdfrage bejeid)net wirb, in fid) unmöglid) fei. 2ßenn ber Arbeit*«
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lobn bem Arbeiter md)t gefkttet, ben 35etrag au#gugeben, ber notwenbig ift, ftamit fetner
gamilte eine nsirflidjc £eimftätte, eine 2öobnuna, im eigentlid)en ©inn gefdjaffen »tro,
fo würben tod) bie Cobnerböbungcn , bie bem Arbeiter größere STh'ttel jur
Verfügung Retten, oer allem, wie aud) auf bem SBobnungäfongref? mebrfad) beroor*
gehoben würbe, mieber jur Verteuerung ber £erfteflung ber SBobnungen, alfo ju
erneuten SWietfletgerungen fübren. E* tfl oietleid)t geftattet, auf btefen Etnwanb
noch mit einigen SBorten einzugeben, fd>on um beämiflen, weil gerabe er jetgt, wie febr
bie SSBobnfrage Cohn frage ifi, wie eng ba$ 2Bebnung$problcm mit bem ©runb*
Problem unferer gefamten Volfömirtfdbaft, mit ber ^rage oem Arbeitslohn im 3ufammen«
bang flebt.1) ©etten bem Arbeiter tffiobnungen jur Verfügung geftefft werben, bie mebr
bieten, alö bie üblichen jwei 3««!»"« mit ober ebne Äüdje, fo muffen bie ftcRen, bie er
nid>t aufbringen fann, unb bie oon ber ©emeinnü^igfett, tyrioatwebltätigfeit ufw. nur
ganj auSnabmäwcife )u befd)affen finb, oon ber 6ffent(id)feit aufgebraßt werben, fei co,
tag }u ber Stoftenbecfung bie ©efamtbeit ber «Steuerzahler berangejogen werben, fei ei,
ba£ bie ftoften engeren 3ntere(Fentenfreifen, j. 55. ben Arbeitgebern, ber ©emeinbe, ber
^rooinj ufw. aufgelegt werben. Dad fönnte j. 03. gefdjeben burd) Vorfd)riften beö
3nbal«, baf? »war ber Qkuunternebmer beim SobnungSbau gewiffe ©cfunbbcitd* ober
eidjerbeitd«, ober baupolizeiliche ober ftraf?enftatutarifd)e Vorfd)riften }u erfüllen bätte,
tag aber aufjerbem ber Arbeitgeber, beffen Untemebmen bie Errichtung oon Arbeiter*
wobnungen notwenbig madjt, ober bie ©emeinbe, innerhalb beren bie Arbeiter mobnen,
für bie 2Bobnung#ergänjungen (Grippen, Äinberborte, Arbciterfafinoä, ©piel* unb 5urn-
pläfce, Cefejimmer) )u forgen bätte. X)te$ wäre prinjipiefl nid)t einmal etwad SReueS,
fonbern nur bie Verallgemeinerung einer Verpflichtung, beren fid> bie großen Arbeit»
geber unb tie ©emeinben fd)on jefct nid)t gänilid) entjicben rennen; unb e$ bebeutete
oom (Btanbpunft ber VelfSwirtfchaft auS nidjtd anbere*, ald ba§ auS öffentlichen
Mitteln Stiftungen befd)afft würben, bie nicht aßen (Staatsbürgern gleidjmä§ig,
fonbern einer Äategcrie, ben gamilienoätern, in erfter Linie jugut fommen. ©er
Arbeitslohn ift gleid) bod) für ben Cebigen unb für ben $anulieneater. Der Lebige
fdjlagt fogar im Wettbewerb um bie Arbeit ben gamilicnoater au* bem ftelbe, weil er
billiger arbeiten fann. Die Erfläntng: ,,3d) fann nid)t mebr Lohn geben unb mufjte
beSpalb ben X., ber baoon mit feiner gamilie nidjt leben fann, entlaffcn", wirb febr oft
gegeben, unb ebne ba§ ftd) biejenigen, bie fie abgeben, ber in ibr liegenben ©raufamfeit
bewu§t werben, ©er ©a§: „©leidjc Arbeit, gleicher Lohn", ber prioatrcdjtlid) uuan*
fcd)tbar ift, fledt eben oo(föwirtfd)aftlid) ben wunbeflen $unft unfereS ganjen fatalen
©nftem* bar: ber gamilienoater fotl für ffiobnung unb Erhebung feiner Äinber, b. b.
ber fünftigen Staatsbürger Vorforge treffen, unb man gibt ibm bterfur lebiglid) ba*=
felbe Arbeitdeinfommen, baö aud) ber Adeinflebenbe bliebt ! 3Ran bat in ben legten
3abrjebnten in allen Stulturflaaten bem abjubelfen gefud)t. Wian bat fpejieQ bem Ver«
grateten bie @d)ul(a^en erleichtert burd) Unentge(tlid)feit bed ®d)ulge(bd, in ber <2d>wei$
aud) burd) Unentge(tlid)feit ber Lehrmittel. SWan unterflü^t t'bn, wenn er ald SHeferoift
eingejogen wirb. Die beutfd)en Verficherungdgefe^e gewähren nidjt etwa unterfd)ieb*lod
au Cebigc unb Verheiratete biefelben Ceiflungen, fonbern fie feben wenigflend in gewiffett
gälleu befonbere Ceiflungen iugunften ber Angehörigen beä Verftd)erten oor. 3" »ieleit
Äantonen ber ©djweij wirb burd) bie Einrichtung ber unentgeltlichen SBcertiguug ben
^amilienoätern eine £afl abgenommen, bie in Deutfd)lanb beim ^ob oon ^inbem ober
auberen arbeitöunfabigen Angehörigen fchwer empfunben wirb. Ed banbelt ilch nur
*) Huf Im Sttnytc$ fanb $rau 8tlp Sraun anfÄnflUd) Warfen fSitfrfpruct) unb fpäter
Iff baftrn 93*ifaU, all fu feie S^rag» aufwarf, wie ft<6 fcenn beute t>ai „«ebnen" cer Dlenfr«
toten larfäcfcii* grftaltr. (^an| ähniut ging tt mit, all id) 1890 auf ber Qerfammlung bei
Vrreinl für ttnnrnrjlrge ju ^ranffurt bie Wcbiliarfragr mit ber fSobnunglfragr in 3ufammen>
tiang brachte (»gl. -J5*ft 13 ter Berbanblungen, 0. 66—18»). Über tie ftrage tem «rteitllebn
tgl. meine €4>rift „3ur «titif tel WrbfttlMttragl".
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SRunbfdjau.
89
Carum, ba*, ma* auf bem (Schiet be* ©djulwefen* unb be* ©efunbbeit*wcfcn* gefegeben
ift, aud) für ba* 2öebnung*wefcn gcltenb }u madjen; öffentliche Sinrid)tungen ju treffen,
bie e* ben gamilienoätern gcftatten, tro$ ibre*, ba* be* tfebigen nid)t übertfeigenben
Einfcmmen*, ted) ten 3(jtcn tte Sebnung*fürforge ju leiften, bie ber beranwad)fenten
©eneration im öffentlichen 3ntereffe jugewenbet werben muf;. Sie gorberungen alfo,
bie bejüglicb be* ©ebnung*wefen* nten vom rein humanitären ©tanbpunft gefteflt
werben muffen, bie aber jurjeit »on ben *pri»atbauun*ernebmern mcM erfüllt werben
fennen, benen bödmen* eiujelne, jufäüig im Q3efi$ befenberer aHirtel beftnblidje, gemein«
nu$tge ©efeüfdjaften unb einjelne befonber* fapitalfräftige Arbeitgeber — biefe freilid)
rielfad) mir auf Üefteu ber ©elbftänbigfeit ibrer Arbeiter — }it erfüllen oermegen, —
biefe gerterungen ber erweiterten $8ebnung*fürforgc bewegen ftd> burdjroeg auf
$3abnen, bie unfere $olf*wirtfd)aft bereit* jefct befd)ritten bat unb auf benen fic ber
9?atur ber ©ad)C nad) ftet* weiter wirb fertfdjreiten miiffen.
Ser fünftige 23Bobnung*fongrefj wirb letztere* ©piel baben al* ber erfte, wenn
er neben bem ©tubium ber (Jinjelfrageu, bie ber £auptfad)c nad) bie Erleichterung be*
^aucne betreffen, aud) tiefer Hauptfrage ben gebübrenben 9taum lagt.
25er Arbeitslohn ber tfebigen unb ber gamilienoäter ift ber gleiche. 2Öa* bat ju
gcfd>eben, um bem gainilienoater tro| biefer ©leichbeit be* Einfommen* bod) bie Art
ber 93Bebnung*fürferge ju ermöglichen, bie im öffentlichen ^ntereffe geforbert werben
mufc? 3n biefem ©inne ift bie Sebnfragc Cobnfrage, unb biefe gragc mufj auf bem
iweiten 2Bebnung*fengre{j m'cf>t geleft, aber erörtert werben!
grauffurt a. iD?. ©tabtrat Dr. glefdv
*
Port Zvtfyur imb ber ^eftungerrteej.
Sföenn aud) «Port Artbur, teffen naber gall fd)on lange unb wieberbolt proppejeit
werben iff, beim Srfcheinen biefer ^eiien nun cnblid) nad) mouatelauger SÖeftürmuug
erobert werben fein follte, fo erregt biefer ;atu- Kampf um bie geflung bod) nod) nad)«
baltige 95ead)tung. Senn e* ergeben fid) au* ibm eer allem jwei Cepren, beren $5e*
rcd)tigung in neuerer Seit nid)t mepr atigemein anerfannt werben waren: einmal, bafj
fturmfreie unb energifd) oerteibigte $5efeftigungcn felbft unter rücffid)t*lofe(ler Aufopferung
iabllofer 2Renfd)enleben nicht ebne wettere* geftürmt werben fönnen; fobann ba§ bie
SSMCerftantefraft einer mobernen geftung f^M *en beutigen gewaltigen Artifleriewirfungen
gegenüber eine fo bebe ift, ba§ fte aud) burd) bie intenfiofte Q3efd)ie(jung allein nid)t
gebrochen werben fonn, ba§ fie vielmehr aud) beute nod) ben Belagerer ,ur Anwenbung
be* förmlichen Angriff* jwingt, b. b. jum #eranfommen mittel* Caufgräben bi* jur
Sturmentfernung unb jum ©türm au* biefer legten Stellung erft, wenn bie ©türm*
firetpeit befeitigt unb ißrefdje gefd)offen ift. — 3»>m 93erftänbni* eine* folgen geftong**
friege*, wie er fid) um 'Port Artbur abfpielt, muf? mit einigen Sorten auf ba*
©efen ber mobernen ©ürtelfefhiug eingegangen werben. Ser ^la^, ber gebalten
werben foü, wirb ton einem ©ürtel oon flurmfreien, im grteben oöflig au*gcbauten
( „permanenten") Sßerfen — gort* — in einer Entfernung oon ca. 10 km umgeben,
fo bafj ber ^lafc felbfi möglid)ft oor einer gleid)jeitigen «Befd)ie^ung mit ben gort*
gefd)ügt ifr, jebod) wirb bie ©elänbegeftaltung für ibre Anlage oft wefentlid)e Ab*
weid)ungen bebingen. Siefe gort*, be(lebenb au* fturmfreiem 2Ba0, ©raben mit »or*
liegendem ©laci* unb mittel* 93eton unb $anjer bombenftd)eren Unterfunft*räumen
unb 3Raga)inen, bilben ba* ©erippe ber Hauptfumpfftellung ber gefhmg; tiefe teil*
weife im ^rieben oorbereitet, aber erft bei Eintritt ter Armierung »ößig au*gebaut, wirb
taturd) »creoaftänbigt, ba0 bie 3wifd)enräume ber gort* burd) Infanterie* (©d)ü$engraben
ober Heinere SBerfc mit bombenfid)eren Untertreträumen) unb binter biefen burd) bie ^aupt*
artilleriefteüungen (^mifdjenbatterien'' in offenen Serfungen ober unter $anjerfd)u$)
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3tunbfd)au.
gefdjlojfen »erben. — Die (Sturmfretbfit ber SBerfe wirb burd) ben ca. 8 m tiefen,
10 m breiten, burd) SDlafdjincngewebre, SKeooloerfanonen ufw. betriebenen ®raben er*
reicht, unb burd) Anlage oon t)rabtne£en, 93erpfäblungen, ©rtiben, SWinen oerftärft. —
Die $auptfeftung*gefd)üt>e finb: lange 15 cm Äanonen al* ftlacfjbabngefdn'iGe gegen
bie erften 3Cnmarfd)linicn bc* ^Belagerer*, nur 2 — 1 in ben gort*, ba biefe ein leichter
2U faffente* ^iei bieten; 15—21 cm #aubi§en unb SWörfer in ben 3tt>ifd)enbatterien
al* ©teilfeuergefd)ü£e }um #auptfampf gegen bie SBelagerung*artitlerie. diu tätiger
93erteibiger unter energifd)er gübrung wirb nun aber nidjt warten, bi* ftd) ber Äampf
um bie ©ürtclmerfe entfpinnt, fonbern er wirb mit allen oerfugbaren Gruppen bem geinbe
entgegengeben unb ihm ba* 93orgelänbe, foweit feine *Befd)afFenbeit e* juläfct, tn günfh'gen
tBorpofitionen fo lange wie möglid) fireitig machen; ebenfo wirb er uad) erfolgter
(Sinnabme oon gort* ober Durd)brud) burd) bie 3ro»f<h*nftellung fi<f> wenn möglich in
neugefdjafFenen Stellungen babutter, unb fall* nod) eine äernummadung oorbanben fein
foüte, in biefer }u balten verfugen. Siefer furjen ©fiijierung einer @ürtelfcfhjng*oertctbigung
entfprecbcnb entfianbeu bie erbitterten Äämpfe auf ber Sanbengc bei fttntfd)au (40 bi*
50 km oon ber geftung entfernt) am 26. 2Rai, fowie in ber golgejeit um bie oiel*
fachen QSorpcfttionen (u. a. am Sungwangbo unb auf bem ^upilatfu am 2Bolf*bügel bi*
jur 6utfabud)t, bei Tafufdjan unb ^alitfcbwang), he bie $Selagerung*artiflerie enbltd) eine
gejtdjerte unb wirfunq*oolle Qtuffletlung fanb unb ber langfam fortfdjrettenbe Angriff
mittel* Caufgräben, SDtfnen unb ©efd)te§ung gegen bie eigentliche £auptfampfftellung ber
gefhmg, alfo gegen ibre gort**(3Jnrtellinte beginnen rennte, etwa oon Snbc 3ugufl ab.
Diefc ©teflung erftrerft fiel) auf felftgen, 2—300 m boben »Öergjügen oom ®olbenert
4>ugel an ber Cftfufle über bie Drad)cnbcrge im ülorboften unb bie tXntfen- ober Tafelberge
im fRorbmeften bi* jum Tfnfcbluffe an bie Tiger^nfel im ©üben; ba ibre (Entfernung im
Sterben unb SWorbmeftcn jum Teil nur 3 — 6 km oon ©tabt unb #afen beträgt, fo
tlnb le&tcre ber SBefdjicfjung au*gcfe£t. Der £auptangrifF fd)eint fid) jurjeit gegen bie
SJcorboftfront ju richten — wann bie bortigen gort* ((Srlung, Äifuan) fturmreif fein werben
unb ob nad) ibrer Srftürmung nod) weitere Stellungen oon bem tapferen $ommanbanten ge«
balten werben fonnen, bangt bauptfäd)lid) oon ber nod) oorbanbenen pbofifeben unb pfoebifchett
5Biberftanb*fraft ber burd) ftranfbetten, ©efed)t*oerlufte unb furchtbare 'Xnflrengungen
fidjerlid) ftarf jufammengefcbmoljenen unb erfd)öpften belbenmütigen &efa$ung ab.
granffurt a.STO. im 9?ooember. SRajor galler.
*
berliner Xfceater.
ebafefpeareo „Die luftigen ÜBeiber »on SBinbfor" im „ffituen $f)*ctt«-"
3um bemu§ten©enu§ ber SRatur gebort btegregte Steife; ebenfo jum ©enu§@barefpeare*.
Stinber unb Silbe mögen einen 3«^9<»rten ober bie SRegclmäfngfeit einer 33ud)*baum*
allee für böber erad)ten al* ben ffialb unb bie $eibe; worüber berjenige nur lad) da
fann, bem bie tRatur etwa* fagt; tiefer wirb aud) ber jftatur feine "Borfchriften machen
wollen unb fie tabelu, ba§ fie nicht lauter 9?iagarafäfle unb (SbimboratTo*, fonbern aud>
Difleln, Spaden unb Siefen beroorgebradjt bat. Da* (fntiürfen au ber Diatur beflebt
barin, ba§ man eben bie 9?atur füblt, |ld> ibre* ffialteno, bes ©cbetinntioollen, weld>e*
bmter ibren ^>eroorbringungen (lebt, bewußt wirb, nid)t in bem ©rab ibrer Ceifhingen,
beffen 2öertfd)ä|ung bem perfonlidjen @cfd)macf unb tßebürfni* unterworfen ift, äbnlid),
wie fid) oottfommene £uuft gefallen laffcn mu§, nad) allen möglichen in tbr enthaltenen
Momenten beurteilt ju werben, bie mit Äunftgenuf? nid)t* jm fd)affen haben; bie ©renje
bed 9?aturgenuffe* ift nidjt iwifchen einer impofanten unb einer einfachen tfanbfdjaft, fonbern
gwifchen einer 9?aturlanbfchaft unb einer ^appbecfellanbfchaft.
©bafefpeare, ber unerbörtefte aOer Sorttramarifcr, ber immer lebenbiger wirb,
beffen Serfe man beute nod), tro^ 300 fahren ohne ba* SWebium be* Äunfberftanbe*
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<jfme|jen fann, — mai man oon feiner Srfdjeinung jener $tit jagen fann — er, bei
itm man jtd) immer informieren möchte, roie bie $D?enfd)en eigentlid) fmb, wenn einen
bie S3eebad)tungen be© Ceben©* über fcen menfd)tid)en iSbarafter im 3ticfjc laffen, —
«bafefpeare, ©en fcem ©djopenbauer fagt: „man fann fagen, ber ganje ©bafefpeare ift
weiter nid)t$, otd ein 2ttenfd), ber fogar toadjenb tun fann, toa* mir aüe träumen t fori neu:
5?enfd)en nad) ibrem Sbarafter reben laffen" — biefer ©bafefpeare bat bei ber ^Berliner
ittrarifdjen Äritif nidjt ©iel ©lütt SRufcte ftd) ber £amletbid)ter anläfilid) einer 3tuf*
fiibruna, ©on „Äabale unb Ctebe" fagen (äffen, — unb jrnar ©on einer ber angefebenften
unb flügften Jebern Berlind — bog bie Sragif beä £iebe»paareS in „3lomeo unb 3"««"
nidjt glaubmürbig fei, fonbern man ba# ©efübl tti 3ufafl« babe, namentlid) ©erglidjen
mit ber wirflidjen Sragif ©on Cuife unb gerbinanb, fo febnte fid> neuerbingä, bei einer
Xuffübrung ber „luftigen SBeiber" ein febr fübn breinfdjlagenter unb gelefener 5urm Iridjter
nach ber HÄufif SWicolaid unb 93crttd. liefen öffentlichen Urteilen von „berufener"
Seite reibt fid) in meiner Erinnerung jwangleä ein tritteS von unberufener ©ette an.
»ar ©or einigen 3a&ren bei Ärofl; gegeben mürbe ber „©ommernadjWtraum".
Stach ©d)lufj fagte am 3u*gang ein berliner #err, inbem er ftd) bie ©alofdjen
anjog, mit lauter Stimme ju einem Sßefannten wörtlid): „t>ad ©tücf ift von beneiben**
»erter Dummheit, aber auägejeidmet gefdjrieben."
©er 9&ertunterfd)ieb jtoifd)en beu Srauerfpielen unb ben Cuftfpielen ©bafefpeare*,
iirucheu „SRidjarb III." unb ben „luftigen Seibern" ift einleuchten t für Summe mit für Jffiiffenbe,
freiUd) jebem auf anbere QCrt. ©ärmerer fdjeint e* fdjon mit ber Srfenntniö ber $bnlid)feit
»u lieben : baf? nämlid) beite? ©bafefpearefdje Äunft ift, unb Dajj al* fold)e „Qie luftigen
Seiber" ebenfoioenig befrittelt werben barf, mit eine weniger fd)öne ©egenb in ber Statur.
3d> babe midi mäbrenb biefer au$ge$eidmeten Stoffübrung ber „luftigen Söeiber"
md)t nad> SRicolai unb tBerti, fenbern nad) einem neuen 'ßolijeioerbot gefebnt: namlid)
tem, taf, SBerfe, bie aU bramatifdje jur fflelt gefommen fmb, gar foldje, bie ton SReifteru
unferer Literatur abftammen, m'djt ju Cpernterten „oerroenbet" merben bürfen. 3Ran
fann au* bem ©d)i©ein feine Surft m adieu, ebe man e* gefd)lad)tet bat, unb man fann
fein ©rama von tunftwert in eine Cper ©ermanteln, ebne fein £eben )u jerftören.
©erortigen 2J?anipulatienen liegt objefti© üi bejug auf ba* Serf bie ülidjterfenntni*
ber fd)»erflmiegenben $otfad)e jugrunbe, ba§ man ein Äunftroerf nid)t in gorm unb
>bolt ierlegen fann, tiefe von jenem uidu trennen; fte beibe eriftieren eigentlid) gar
rutft fepariert, fenbern bebingen fid) gegenfeitig, bilben iufammen einen lebenbigen Vetb:
Sine elenbc QCuffajfung, ba§ man bie ,,^>anblung" ober bie „Jiguren" binübernebmen
fenne in ein anbereä ©erf, unb bann ju glauben, tiefe feien nod> biefelben. 3n 2Birflid)feit
fuib nur bie Sttamen biefelben, unb bie äußerlichen Vorgänge, bie ald „|>anblung" ©eltung
auf 'Äbnlicbfet't ober Öletdibeit baben fotten, fnit leere hülfen, meil fie nid)t aud ben
£r>arafteren, mit fie im Criginalftucf gejeübnet finb, beroorgeben. 3U biefer ^c^iwing
aber gebort eben \tlti Sort, jeber Jufammenbaiui, jeber Vorgang, aüti, aded in ber
?id)tung. SBaä ©bafefpeare barftellt, ift uubt ein biefer SRitter, ber in fd^mu^ige
Säfdye oerparft wirb, unb ein paar febr übermütige unb bod) tugenblidje ^auen,
fenbern ... ja eben ba«, road fein Serf und fagt unb je«9t, nidjt* anbered, unb
bort genau ba auf ©bafefpeare ju fein unb ftunft ju fein, too man e* erjäblen, be*
tdjreiben, übertragen, fomponieren ufro. fann. 2Ber bied nid)t einfiebt, ber gebe aller*
ttngd lieber in bie Cper ,,©ie luftigen Sffletber" oon Nicolai, ober in bie Oper „gaU
ftajf" oon ^öerti; ba bat er mebr, nämlid) nod) SWufif.
©ubjeftwe aber, in bejug auf ben „Umarbciter" refp. ben Stomponiften, ber ben
Suftojj |ur Umarbeitung gibt, gefprodjen, jeugt bie in SRebe ftebenbe Unfitte oon bem
8d)limmften, »ad t$ im ^unftprobujieren gibt, nämlid) oon Unnotmenbigfeit, alfo
eigentlid) SnU5**™!- «34> f"t*>* wir einen Opemftolf", ,,3d) roill roieber mai dltuti
arbeiten", tiefe unb äbnlid)e ©etanfen liegen ber SÖ3abl eined in irgenbeiner gorm
f*en ©erliegenfceu ©tücfed jum ^mtd ber Cpernfabrifation jugrunbe. ©abei ift ba*
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JRunbfdjau.
bödjfte unb beftc unb berübmtefte ber Literatur bem literarifd)«muftfalifd)en ^Itcffdjnciber
gcrabc gut genug, benn cd leitet ibn bie (Erwägung: „bat ber ,©tofp in biefer ,$orm'
bauernben Erfolg, fo wirb er cd aud) (womöglid) erft red)t) baben, wenn BJlufif babet
ift, bie an fid) gefaßt"; fo muffen ©bafefpeare, ©oetbe eben behalten. 2Öcld)C ©alerte
oon 3errbilbern unferer Did)ter»3Äeiftcrwcrfe weift md)t unfre Cpernbübne auf! ©a§
managen tfomponifteii biefer Srjcugniffc talentvolle unb an fid> lebendfäbtge SWufif
baju eingefallen ift, mad)t ben ©d)merj für Ginfidjtige nid)t geringer. SQBenn $umor
ntd)t eine fo bobe, unb baber feltene (Sigcnfdjaft wäre, fo tonnte man ben Qfmbroiie
Sbomadfdjcn „#amlet", wie er ba ift, ald ibeale ^amlet-^arobie auffubreit.
'.Xber leiber mürben alle in t)eutfd)lanb aufjutreibenben £eutc, bie für tiefe Äomif 93er*
ftänbnid bätten, fein Opernbaud füllen fönnen.
Tiber biefed Sbema ift fo rcidjbaltig, fo aftueß, ba§, um fid) barüber nur einiger*
ma§en oollftänbig ju äußern, man ein fleincd Bänbdjen allein füllen fonnte. £»er
foH ja eigentlid) über bie Berliner ^(uffübrung ber „luftigen Sciber" gefprod>en werben.
Um biefe bat fid) bauptfdd)lid), unb jmar in boppelter Sigenfdjaft ald Bearbeiter
unb SXegiffeur £Crr 9lid)arb Sallentin oerbient gemacht. X)er Bearbeiter, ber mit bent
(Jrnft unb aIcu; bed $bilologen beibe englifebe Originale uutereinanber unb mit ben |U«
gänglid)en bcutfdjen Ubcrfcfjungcn verglichen unb teilmeife neu überfe^t bat, batte an bent
bübnenfunbigen SRegiffcur einen ocrftänbnideotlen Bunbedgcnoffen, ber äffe bie foftlidjen
©erbbeiten, bie fo febr ju bem ©til unb ber ©timmung biefer Sicbtung geboren, aud)
mirflid) fpredjen, unb bie pbtlifterbaftc ©runbfeirbung nid)t im Bud) fteefen lic§. (Jinen
befonberd erfreulichen Bemeid bierfür gab bie ©djlufificne im ©inbforparf ; fie erinnerte
einen ©ort fei ©anf oon ber Oper weg, bie an biefer ©teile bie roiüfommene ©clegenbert
ju iO?ard)enprad)tentfaltung unb bem unoermciblid)en Ballett fab. ^>ier aber fab nur,
roic cd fid) gebort, bie 28inbforer ©piefjbürger in grotedf alberner SRadfcrabe fid) erlufh'gen.
'■XUerbingd — eine Bearbeitung ift immer nur eine Bearbeitung, unb bie Ceftüre
einer nod) fo bübnenunmöglidjen, aber oollftänbigen, auf fein Sort oerjidjtenbcn Über-
legung fagt bod) nod) gar oieled, road fonft verloren gebt. (Jinoerftanben aber mit bem
©tanbpunft, unfer Cuftfpiel oon ber Bübnc aud «u genießen, fann man bie 93aflentinfd)c
Raffung nur freubig bcgrii&en.
2Ber genicfjen moQte, fonnte ed bei biefer Ttuffübrung; ben wirb cd aud) weiter
m'djt geftort baben, baf? j. B. bie beiben Titelrollen ui jung audgefatlcn waren, unb
bem fonft ungemein fomifdjen unb liebcndmürbigcn galftaff (Angeld) mand)c animalifd)eu
(Sigenfd>aften feblten, bie wir und ju biefer ftigur benfen. ©länjenb befefct waren faft alle
Heineren iHollcn, fo bafj man feine befenberd beroorbeben mÖd)te, bie Derogationen entjücfenb
ed)t, unb cd ging oon ber ganzen Q3orfMung etwad wie 3t\U unb Cofalftimmung au*.
*2öer geniefjcn wollte, fonnte ! 2öcr aber 9ttcolai will, fommt jc§t auf feine 9ted)nung :
3n ber £ofoper wirb je£t bie fomifd)«pbantaftifd)e Oper: „Die luftigen Sßeiber
oon ffiinbfor" oon Otto Nicolai neu einftubiert.
Berlin. £and <Pfi§ner.
*
2(116 oem Hager bee mufitalifdym 5ortfd>rttt0.
geli r STOottl in 9Küncf)en: »orn ^rinjregentf n*5l)cater unb ben
bort ju lofenben Aufgaben.
©d)werwiegcnbe 93erbienfte bat fid) Srnft oon «Poffart um bad feiner gür»
forge anvertraute $nftitut erworben. 3(nerfennung ift ü)m in reichem 2)?a§e geworben;
am böd)ften aber wirb man ed t'bm einmal banfen, baf er bie Berufung $elir S^ottld
nad) 9Wünd)en burd)fe^te. Mottle Ttmtdantritt bebeutet, baf? einer, bem bie rechte
Sinfid)t, ber redjtc Smft unb bie red)te Äraft tu eigen finb, in planoofler Arbeit auf
bem weiterbaut, wad SRidjarb Sagner unt ^>and oon Bülow an ber 3far gcfd)affen
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IRunbfchou.
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baben, unt top bie 93?ünd)ner 4?ofoper je§t mieberiim bie ^ütjrung ber beutfcben
8^wefterinfh'tute übernimmt, (Jtwad com iD?DttIfd>cti ©eifte lebte fepon in ben erfolg*
gefronten ^eflauffubrungen SDcojartfcher unb Sagnerfcger fflerfe oom ©ommer 1901,
an beren Vorbereitung ber geniale Dirigent nur erfl einen febr bcgrenjtcn "Xtitcil
nebmen gefonnt hotte. 9Bit elementarer 2Bud)t fdjlug ber nad) bem bebeutfamen
Vorbtlbe SBaircutbd obne Unterbrechung bargefteflte „Jltegenbe -£>oflänber" ein. 3btd)
bic JBtebergabc bei „iRinged" gebieb, bei flaffifd) flarer, fletd bie groge £tnic wabrenber
©Iteberung bed rbotbmtfchen ©efamtgefügeS, mad bie Orchefterlcifhing betraf, ju
berrltdjer Voöenbung. @leid)wertiged »erben im nädjftcn 3«t>re bie Sänger auf ber
©jene be* «prinjregentemSbeaterd bieten, fofern — worauf man mit Beftimmtbeit
rennen barf — burd) erforberlid)e StteuengagementS, 3u6fd)eibung ntd>t mebr genügenb
teiftangöfä biger Künfller unb unau&gefe^te foftematifche pflege eiueä ebenfo gefänglich
fdjonen unb auögefd)liffenen wie bramatifd) einbrurfdootlen Vortraget bad ^erfonal in*
jwiferjen eine grünbliche 9teorganifation erfäbrt. ffiic oon ber Äritif allfeitig mit Stecht
betont würbe, mären in ber golge ©äfle ju tiefen geftauffübrungen allein in bem
Jfaüe beranjujieben, tag fie an ben Vorbereitungen in beren oollem Umfange teil»
nahmen unb \~idj ben ©efefcen ber fünfllerifchen 4?au$bidjiplin unbebingt fügen ui
wollen erflärten. 3n*gleid)en einigten fid) alle fachoerflänbigen Beurteiler auf bie Vor*
fchläge, im näd)flen 3 cm m er bie 'Xnjabl ber Q(uffubrungen etwad berab)uminbern,
neben bem „9u'ng" womöglich nur jwei anbere $öagnerifd)r Söcrfe }u bringen, mit ben
auf fünf Soeben auäjubepnenben Sbeaterferien fepon gegen SDHttc 3""« i>» beginnen,
unb fd)lieglid) bie jpfltfd)e Vorführung ber Opern SKoiart* auf eine anbere, gleichfalls
t urch ftarfen grembenbefud) begünfh'gte 3ctt bed ©pieljabreö, etwa bie legten Äarneoald*
wodjen, ju oerlegen: all ba$ im 3ntoeffe bei lebtglid) burd) bie gebiegenbfte Vor-
bereitung aufrecptjuerbaltcnben SHufed ber Vorfteflungen. fHücf tlcr>tltd> bei genialen
mufifalifcben Oberletter$ fei nod) bem ffiunfcpe 'Jutäbrurf gegeben, bag er, eben weil
er ber SRann banacb, ifl, bie weitgepenbften Hoffnungen ju oerwirflichen, fid) aud) für
bie ^eriobe ber fteftauffuprungen nid)t aUjuoiel aufbürben möge, £euer waren gelir
Sßeingartner unb Arthur Stiftfd) al$ ©aftbirtgeuten eingelaben worben. 2öein»
gärtnert Leitung beä „Sriflan" werfte aud) bei benen, bie feiner Ruffafjung ber Partitur
nur bebingt beipflichteten, bae" lebhafte Getanem barüber, bag biefe geborene, böepft
üttpulfioe Sbeaternatur feit geraumer ^tit nur mepr oon Äonjertfaalabonnenten gefeiert
wirb. $äufd)en nidjt alle Vorjeid)en, fo wirb fid> SÖeingartner in abfebbarer 3eit
»ieber ein aQBirfungdfreid eröffnen, auf ben ihn bie oor)üglid)ßen Sigenfcpaften fetner
reichen Begabung bin weifen. Sttififd) bebt inäbefonbere aöcd Uprifd)e in ben „aWeifter-
fingern^ mit feiner anmurooUen, halb wienerifchen, balb flawtfd)en ©rajie unb feiner
belifat fdjmiegfamen Crcheflertechntf jur J^eube empftnbungöootler ^>brer jart unb fein»
finnig beraud. Die SXegie — Oberleitung : (Srnft oon ^Poffart, beooQmäd)tigte STOinifter:
Q(nton Sud)* unb JBiOp ffiirf -~ lieg einen febr begrügenSmerten 3ug jur 33er»
innerlichung augenfällig peroortreten. Die flarfe Stnfd)ränfung ber böcbfl unrunfllerifchen
9tampenbeleud)tung oerbient aüee Vrb! $m 3Rafd)tnenwefen )eigt fid) ber neue
Dtreftor Klein fd)on jeyt erftnbung^retd)er alö fein Vorgänger, ber burd) gehäufte, beö
öfteren unangebrachte Komplimente oerwbhnte unb fd)Ueglid) tn ber SHourine Herfen ge*
bhebene Cautenfd)läger. 9?ur cor bem ,,3U»«1" ntoge fid) ber febr begabte 4?err Älein
hüten ; beim „geuerjauber", beim Branbe SalbaM unb beim Drad)enfampf will fflagner
bie ft nnoolle Qlnbeutung, nid)t bad oerblüffeube üemute ©d)auf)ürf. 9cid)t ber
$3ud)ftabe ber 7(norbnungen tei TO? eifere, fonbern ber ©eifl feined Dramad unb fetner
SWuftf ftnb hier maggebenb. 3" Nu Verwanblungen be* „SÄbeingolb" wären bie
lifchenben, bie Orchefterwirfungen unter allen Umflänben beeinträdjtigenben Dämpfe
füqlid) burch gut bemalte, geräufd)lo* ju banbbabenbe SKebelfdjleier oon »erfd)iebener
Dichtigfett ju erfe^en. - Die TffufHf be« £aufe* ift je|t red)t gut; 2Rottl bat in ber
Xuffleflnng fcer 3nfkumentalgruppen Vcrfd)iebene* aufd iwerfmäfeigflc oeräubert. Die
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t»on mir bereit* im 3abre 1888 nad) ber erften SBatreutber Aufführung ber „SRetfter*
linger" aufgefteUte ftorberung, ben unteren ber beiben ba* Drcheftcr überwölbenben
Scballbecfel beweglich }u machen, ift nunmehr im ^rinjregcntentbeatcr auf Anorbnung
Itaffart* burch *Prof. Sittmann mit beftem ©einigen oerwirfltcht morben. SBei $onfä§en
uub Einjelftetten, bic einen größeren ©lanj unb eine bellere, intcnfwere Ceud)tfraft be£
Crchefter*, infcnberbeit ber SBlechbläfer, erforbern, fdn'ebt fid) jener burch eine mufifalifchc
J&ilfdfraft bebiente Decfel unter ba* SBübnenpobium. Einige ©eifpielc: 93orfptel su
Den „Stteifterjmgern", ©emitterjauber im „SRbetngolb", „fRitt ber Salfüren". Sttit
bem beginn be* 33üpnenbialoge* wirb ber Decfel ncitnrh'ch wieber oorgejogen. Da er
bei leichter S&ewegltcbfeit aud) jur $älfte ober oiertcl*weife, furj beliebig weit eingefteüt
werben fann/ ift bie Einrichtung/ gewiffermaßen al* grojjee Orchefter*gortepebal, in
Jufunft noch ber mannigfachften 'Xu*bilbung fäbig.
Die in allem unb jebem ftilgerecbte tßorfübrung ber ffiagnerifcfjen Dramen ift
bie eine ber beiben bebeutenben 3eitaufgaben, bie SRottl in biefem £aufe löfen wirb.
Hud) bie jwette wirb er mit ber ihm eigenen Energie unb greubigfeit be* Schaffen*
in Angriff nehmen: bie naturnotmenbige Einbürgerung ber ©erfe eine* Schilling*,
f iiHiut unb SRicbarb Strauß in bie Spbäre be* '^mpbtthcatcr^ unb be* oerbetften
Crchefter*. Darüber ift be* weiteren auch an bicfer ©teile noch etngebenb jii fprechen.
Ebenfo über bie SReformen, bie SRottl im «Bereich be* SWünchner Äonjertleben* anbahnt.
SRom. tyaul SRarfop.
*
21. RarriUon, tTlid>ael 4>ely (Berlin, ®. ©rote).
SDiichael ^elo ift ein armer Schlurfet, Sopn eine* Sargfchreiner* unb einer
£anbftreicherin, geboren in einem fleinen SRcft im Cbenwalbe. Dort, unb jwifchenein
eine Seile am babifchen Sberrbeiu, fpiclt feine einfache ©efchichte. Er wirb wie fein
93ater Schreiner, aber nicht ein Cump unb Säufer wie biefer, fonbern ein rechter Äerl,
fleißig unb genügfam, unb cd ficht au*, al* wolle e* ihm gelingen unb gut geben,
'über Q3auernftol) unb Q3auemtro§ ift ftärfer unb läßt ben Einbringling nicht auffommen,
fein tfampf bagegen — jugleidj eine Ctebe*tragöbie — enbet mit einer völligen SWieber*
läge. Doch ftnbet er nach ftürmifeben unb elenben fahren ben berben Sroft be* Ent*
fagen* unb SRichtmebrwünfchen*, unb in ärmlichen ©crbältniffen blübt ibm auf feine
alten Jage noch ein befd?eibenc*, ruhige* ©reifenglücf.
Da* ift ba* einfache ©erippe ber ©efebühte. Aber Äarriffon bat bie gebulbige
unb fröhliche QCrt be* rechten Erjäbler*, er ftürmt nicfjt einem ^ieit ju, fonbern wanbert
behaglich eine feböne Straße obne Eile entlang, bleibt bei lieben ftleüiigfeiten fteben,
läßt fich ba einen 2Bü> unb bort eine gamiliengefchichte erjäplen, unb äße* tragt er mit
berfelben epifchen |)eiterfeit unb 9tobe oer. ©o würbe aud ber Erjäblung ungewoCt
ein prächtige* Stücf SSolfigefchichte, in allen J^f*™ unfc lebenb. Dtefe 'Xrt »cn
Suchern ift rar unb wenn ein* oon biefer Sorte fommt, mu§ man banfbar fetn unb
e* im Einzelnen nicht mit ber ©olbwage prüfen wie ein Qfrtiftenftücfchen. dQach ftrtng
literarifchen Siegeln ift ba* Q3ucf> freilich nicht gemacht, aber e* ift erlebt unb natürlich
gewachsen, fo barf e* wobl auch «in paar Sfnollen haben.
©aienbofen am SJobenfee. ^ermann ^effe.
*
$inan$mnbfd>au.
2au\cnl J^äben führen oon ben äußeren Ereigniffeu in ^>anbe(r ^nbuftrie uub
^inanj )u ben mobemen Jorberungen bc* foiialcn güblen*, ba* ftch ja immer mehr jur
— ^flicht ju oerbid)ten beginnt. 3" biefem ^inne oergeben faum einige ^age, ohne baß
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SJtuntföaii.
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fid) un* au* Nachrichten oon ben oerfdn'ebenflen ©ebieten (Jrwägungen aufbrängen, bie
ben fletncn HHann unb nid)t mehr ben großen betreffen.
©o beuten bie Offttcfcn bei ben ©chilberungen ber 9teferoiflen*Unruben in SRußlanb
immer nur bie Ärieg*angft jener Unglürflicrjen an, »äprenb e* ficf) bobei in erfter tfinie
um ba* Brotlo*»erben bann ber jurürfgelaifenen gamilien banbelt. Staatliche ftonb*,
um ben (enteren auch nur einigermaßen beijufpringen , gibt e* bort nid)t. Sie frembeu
3ricrmer auf bie rufllfche Xnleipe, meiere ja bilb fommen mar?, haben alfo nicht einmal
bie ©enugtuung, mit ibrem ©clbe irgenb etwa* ©ute* ju ftiften. Senn 5Vt— 6 «ßroj.
einmal »ieber mit feinem (Selbe tu machen unb )ti wiffen, baß biefe Rimberte oon neuen
9Mionen, teil* in Siebe*pänbe »anbern, teil* jur Vermehrung oon 9Äaffenmorben in
ber 3»anbfdjurei bt'enen füllen — ©ebanfen biefer Q(rt mürben ju einem SÖiberftreit im
3nnern ber fiapitalrflen fuhren, Äapitaliften aber, fo lange man fie nicht ju pocbpolitifcbeu
Stanbpunften qerabeju jmingt, überfd)(agen nur bie Sicherheit unb bie Rentabilität ihrer
Anlage. 3bnen bierau* einen Vorwurf machen ju wollen, märe erft bann gerecht, fobalb
(Sefcpäft unb ©mnpatbte iufammenfaOen tonnte, ©o ibeal unb im gefänglichen ©inne:
gewagt banbcln aber unfere ©efeflfchaft*gruppen noch nicht, unb mann »erben fie über*
baupt fo hanteln?
» *
*
Da* Stillegen oon 9*ubrjed)fn ferjeint feinen »eiteren Verlauf leiber jiemlich
fampflo* }u nehmen. Dcaturlicb »äre e* einigermaßen ju rechtfertigen, fall* bei nabenber
(£rfd>cpfung einjelner (Kraben, bereu Schließung et»a* oorjeitig ffottfänbe. Allein in
manchen fällen \\\ ba bod) ba* Spiel gar }u burchfichtig! 3Ran bejaplt nämlich 3ed)tn
mit »iiiigen ober interefficrten Vorftänben red)t pod), um fic ju fcpließen unb t'bre Be-
teiligung bann oom ©onbifate ;n erbaltcn. Sntmeber alfo parte eine berartige 3ecpe im
QSerpältni* »n ibrer Jerberungdfäpigfeit eine ju große Beteiligung oom ©nnbifat erbalten
unb e* müßte bie* unterfuebt unb forrigiert »erben, ober fie ift fo oiel »ert, al* ber neue
Käufer wirflid) iablt, unb bann müßte unfer größter Verfauf*oerein 'Xnftant*a,efiibl
genug haben, fid) nid)t bei berartigen Verfcpiebungen al* quantite negliable be=
bantein *u lajfen. Sie preußifepe Regierung oerleibt fepon feit ^apren feine Äon*
jefiionen mehr an Vermittler, fonbern nur an wirflicpe Unternehmer; unb fie bat
bamit einer gefährlichen 3wifchentätigfeit ein @nbe gemacht. Sbenfo follte unfer
fenft in vielen Singen gut geführte* Äoplenfonbifat bie Beteiligungen an ber ©e»
famtprobuftion nach ber ?eifhing*fä bigfeit ber ©ruben unb ben bei ihr — befchäftigten
ftanten, »enigften* fo oft e* geht, repartieren. 3ft c* *>Dd) jum Staunen, wenn ein=
ielne QCftiengefeflfchaften ihre 3***« ie^t für l70<proj. au*bicten, »o bie Ceifhing einen
(eichen fyrei* nimmer rechtfertigt. S* wirb bemnadj nur bie Beteiligung ju oerfaufen
gefueht unb man bat noch nicht gebort, baß fo eingepetmOe Summen neben ben
3fnonären, auch ben vielleicht bann brotlo* gemachten Erbettern jugute fommen.
%if bem Liener Kongreß oerteilte unb oerfchenfte man bie Cänber nach ©eelen, e*
faeint, bafc man heute, 90 3apre fpäter, in SRpeinlanb»5BelTfalen ebenfo rücfficht*lo*
aber Arbeiter oerfugt, — über ihre <f ntlaffung ober ihre Verfcpiebung. Bieber hat unfere
Regierung pierju nicht reept Stellung nehmen motten.
Sie großen 3nterefFeiigememfchaften fünf wichtigften djemifcheii $abrifen —
in beehrt, granffurt, Cubmig*bafen, Slberfelb unb Treptow — h«ben bei ben wiffai»
Zärtlichen (Jbemifern ber betreffenben Caboratorien nicht unjutreffenbe Beforgniffe heroor=
gerufen. Denn ein 3fa*taufch ber patente bürfte bei bem naturgemäßen gortfehreiten
jener alliierten ©efeflfehaften felbft ba iunebmen, wo bie* oon oorneberein gar nod>
nicht oergefehen worben ifl. Damit bürften felbftoerllänblich nicht attein oiele ^ngeflettte
überflüfftg werben, fonbern oon ben regelmäßigen ©epäliern hinweg, würben fi<h «ud>
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3tuntfd)au.
viele Chancen auf neue unt möglicher Seife gewinnbringenbe (Srpntungen oermintern.
^Natürlich bitten folebe Herren tie neuen Bereinigungen wobl ganj gut gefunten, wenn
nur Die Arbeiter unb nicht tie SBeamten tabet }u furj fernen, aber wedbalb fönnte man
von ©eutfehen eine ©olibaritat »erlangen, Die aud) bei ten Gnglantern, Amerifanern
unb granjofen bidber ntd)t ju ftnben ift. Cetber »erben auch bie Arbeiter feinen Stufen
von jenen 3ntereffcngemcinfcbaften baben, benn fobalb wie bier bie Stonfurrenj ein«
4,efd)ränft mixt, brauet fitt) auch bie gabrifation ntd>t mebr ben Curuä einer anbern
o(e }iemlid) genau vereinbarten Sätigfeit ;u erlauben. 9?od) febärfer gehalten fid> tiefe
Sßebenfen ta, wo bie fontrabterenten (Sefellfcbaften Srgänjungen in fid) tarfteöen. ©ie
*d benn j. 55. unwabrfd>einlich wirt, tajj bie £öd)fter garbwerfe ihre ^erfleflung oon
Seerfarben unb beren Vertrieb fortfejjen, uad)bem (Saffella ton ihnen bie Mauren im
foloffalen SD?a§ftabe bejiebt; — eben wegen ber oon ibm fabrijierten Anilinfarben. Unb
tennod) finb tiefe 3ufammenfcblüffe in einer unferer glanjcnbften 3ntuflrien rationell,
fo tafj ti fentimental Hänge, bem etwaige fojialpolittfcbe feigen ald gleichwertige gaftoren
gegenüberjunetten. ©ie Vereinfachung ter betriebe ift eben ntrgentö aufjubelten, unb
bie Ceibtragenben muffen fid> cernünftigerweife red>tiettig nach einer Ausfüllung ber
1?ü(fe nmfeben, obne rein wirtfchaftliche Steuerungen al* perfenltc^e gärten aufjufaffen;
notabene folange folcfje nid)t ganj unnötigerweise mit im Spiele finb.
* *
*
©er Jffiablfieg JRoofeeelW flellt eine fo überwältigenbe SRebrbeit bar, ba§ man
«n bem 2Biffen ber amerifanifchen Nation nicht )weife(n tarf, fowobt bie impertalifh'fcb*
«Politif fortfefcen ju laffen, ald aud) im Snlante felbft bie Sruft* aufiredjtjuerbalten.
Snbem feit längerem trüben faft alle ©efdjäfte wieber recht gut geben, war oor allem
ber Arbeiter nicht in ber fiage, neuen Srperimenten — gegen bie Sruftä, wie fie £err
<J3arfer in Auflebt (teilte, gleichgültig ober gar freutig entgegenjufeben. Qamit
finb aber tie vielfachen ©emalttätigfetten tiefer Bereinigungen nicht gerechtfertigt, oor
terem getreuen Abbilt wir b öffentlich bebütet werben bleiben, -fall* unfere ©rofjbanfen nicht
noch faoitalämäcbtiger, alfo auch fapitaläübermütt'ger werben, ald fie bie$ beute bebauer»
<id)erweife bereit* ftnb. ^nteffen noch wichtiger ift tie merfwürtige ßrfchciuuug, tat}
tie mittleren unt fleinen Älaffen wenigften* in ten amerifanifchen ©tätten auch nicht*
gegen jenen ertremen Sdjutyotl einjuwenten baben, ter fit nun fdjon feit 3«bren taran
rerbintert, oiele ©aren aui ter Cremte billiger ju bejieben. §enn Sruftd unb auch
nur emtgerma§en freie Sinfubr fd)lie§en fid) fh'Öfcbweigenb aud. ^mmrrbm iil e* nicht
<jan| fid)er, bog nad) tiefer SRid)tung bin bie Verbraucher in ter Union ibre bisherige
Unentwegtbett beibehalten werben. fäme ta auf eine Agitation an, tie bieber eben
«och trüben gefehlt bat.
granffurt a. 3R. ©. o. £alle.
u» IM BAJK (AXfc C
»erantwortltdi für i>m fo)ialpoUtif<ficn Zeit: Örtebrt* 9laumann in ©Aöne&era; für ben ü6rißen dn^olt:
*out «tfoloui doffmann in SWüniften.
3Ia<fibni(f ber einjetnen Scitraae nur airtjug&wetfe unb mit gmonet CufOcnoMgofie gefiottet.
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5am 6ein$lm.
Srjäbumg von SÖübelm ftiföjer in ®raj.
4.
¥entfrieb führte feinen ©d)u$iing ben J?ügel hinan, wo ba$ a(te
$urggemauer lag, auf einem 2Öege, ber Dorn Strome her ber näcrjfte, aber
gewiß nid>t ber befte war. JßeingHn ft6hnte unb ging fdjmer, fo baß ihn
jener fräftig unter ben Htm greifen mußte, um ihn ju jtufcen. Snblid)
Kimen ue eben an. 33on ber äußern Sormolbung waren nur jwei jieinerne
Pfeiler $u beiben ©etten geblieben. Durd) biefe fonnten fTc frei gehen unb
aud> burd) einen mir ®rad bewadjfenen £of. Den Eingang jum ©em&uer
» ber innern fcurg »erfd)(oß eine l)6^eme Sur; bie mar jugleid) bie Pforte
ju Jßeingfin* fcerjaufung.
„$brt% Sentfrteb," fagte er; „bie Sur f?$t md)t auf; f!e Ijat eine
Surfen. Der ©djwellflein ift faf* abgefdjliffen »on ben $ußen berer, bie
ha ein-- unb ausgegangen jtnb unb bafur je$t ausruhen im tiefen ©d)(af.
fcürft (gud), ba liegt ber edjluffer in ber Grefe unter ber Sur, unb fperrt
auf, bamit wir in meine Kemenate fommen."
Der anbere tat wie ihm geheißen mürbe, unb fcMoß bie Sur auf.
er mußte ftd) nod) burd) einen fünftem ®ang mit bem 6d)Ä$iing rjintappen,
bid biefer „Jßalt!" rief. „Da wohnt ber jefctge Burgherr, #and J&eingitn.
vrbei mar7 er fd)on genug; aber wenn er nur immer ben rechten SBerfranb
$tVl Da fefylfd. ^leüeidu tyat'd unfer Herrgott fo wollen, weit ja fein
Sperling »om Dadje fallt or>ne feinen ©iflen. 2lber auf ben Äopf gefallen
bin id) bod) nicfjt, fonbern wie'd mir fdjon fd)fccf)t gegangen ift immer roieber
auf bie ftüß\ 92ur fjeut mit ber SBur, ba l)at'$ mid) gehabt. 0»ußt nid)t6
baoon weiter fagen im Dorf brunten unb auöwdrt*, ?entfrieb."
„Sttein, id) nid)t," »erfprad) biefer.
Onjroifdjen Ijatte J^einjltn bie Sur aufgefltnft, unb fie traten leife
auf ben 3erjen ein, »eil er e$ fo gebot, um fein junget SWutterl, rote er
fagte, ntdjt ju werfen, bad in ber anftoßenben Cammer fcrjltef.
„Die Stauern mit et) btcf genug, baß fte nirf)td l)6rt, unb fte hat einen
gefunben ©d)Iaf. Unb wir tun je$t nur fo roifpern, l)6rt*$, ?entfrteb! Unb
2. n :;.:vi)c SRotiaJgQeftC II, 2. 7
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Sicht märten foDen mir auch. Da jlel)t bie tferje in ber (Srfe. 9?ur Rab!
— 2fu »et)! Wir ift fort."
Sentfrieb machte Sicht unb fat), baß er ftcf> in einem breiten SRaum
befanb, beffen ®em6lbe burd) einem TOttterpfeiter getragen mürbe, unb
in melcbem flcf) ba* ©otmgerate genug fparlid) ben ©liefen barbot. Allerlei
#anbmerfd$eug lag umher, unb #oljgeftalten tauchten auä bem Ddmmer
auf, al* hAttm jTe Veten unb moDten ihren S0?cifler bemillfommen. Der
mar aber fchmart unb ftohnte: „Daß ich mich legen fonnt'!"
3n einer tiefen £cfe M Staunte* mar ein Vorhang gefpannt unb
babinter mar 4?cinjline Siegerftatt. Senrfrteb half ihm, fid) gu entfleibcn.
Doch faum lag er unter ber X'ecfe, al& ihn ber ftrofr ftfuitteltc, bem fieb
febmerer 3ftem gugefeflte, unb bie gange 2lntmort, bie ?entfrieb je$t befam,
mar ein Stöhnen. J£>einglin lag mit gefdjloffenen "Äugen ba.
9lun febien bie Sache bem jungen Wanne boeb nicht geheuer. Gr
fam fleh recht unbebilflieb »or unb baebte, ba muß SXat gefdjaffen merben.
So nahm er ben Seucbter mit ber £erge, fa!) f?d) um unb entbeefte eine
fchmere eichene Sur, bie über unb über mit breitfopfigen SRdgeln befdjlagen
mar, ging barauf ju unb flopfte (eife an. H\l fleh aber nad) einer ©eile
EÖartene nicht* regte, bruefte er entfcbloffen auf bie Älinfe unb trat mit
bem V i cii r in ber Jßanb in ben anftoßenben Staum.
m mar eine gemdlbte Cammer, nicht ju groß. Ddmmernbe J^efle
fiel burch ein br itee" reichlich vergittertet $enfier ein, benn Draußen glänzte
ber Üttonb am Sftacbtbimmel. Taö SBobngerdte oerfebmanb in ber Dunfel*
heit, fo baß Sentfrieb baoon gar nichts (ah. 3fC»er er fah gegenüber an ber
9Banb ein Säger unb ein Wdbcben, bat fleh, von bem Äergenfdjeine gemeeft,
aufrichtete. Ta& J^emb mar ihr oon ber Schulter jurucfgeglitten, ber roeiße
£al* erfchimmerte unb unter ihm breitete fid) bie, mie au* Warmor ge*
fchnittene feine unb Polle ©ruft, bie noch eine UBette bunflen £aare* Pon
bem Jfopfcben empfing. 3n ihrem 2fntli$ fat) er Porerft nid)t* mebr ale bie
großgeiffneten Bugen. 2fu* biefen blifcte ibm aber halb ein 3orhfeuer
entgegen, ba* in ber Dämmerung be* ®emache* mie fat>Ird Sternltcbt
erglangte, ale bat Wdbcben ftd) ber 2fnmefent)eit M fremben Wanne*
bemußt marb.
„Steh auf," fagte er, „ber Sater ift franf."
Sie hüllte fleh, mie fte aufgerichtet im ©ett faß, mit ber Xecfc hie
|um 4>alfr unb rief gebieterifch mie eine gürjtin: ,,©et)t r>inau4! 3cf>
fomm' gleich."
Senifrieb trat oermirrt in bie äußere Stube gurücf, fprach aber nod>
mit getdmpftrr Stimme burch bie Surfpalte: „Dem Sater ift mae gefdiehen.
3ch bab' ibn gefunben unb tftim gebracht. <£$ gebt ihm ntebt gang gut.
dr braucht einen ©eiftanb."
Unb er fcbleß bie Zur gdnglicb.
@& bauerte nicht lange, unb fie fam angefleibet berein unb ging, ol)nc
ben Enroefenben gu beachten, gum Sager be$ SSatere, ber im gieber fdjmer
atmete.
Sentfrieb t}ub mieber an: „3a, baß idf* fag. Dein Älter ift in*
Sßaffer gefallen. 3u maä muß benn bie Wur fo nahebei fließen! TLUx fie
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iwt anber«wo eben feinen $la$ al« gerate ba ju 2al ju gef)en. £>b'«
beinern ?flten fdjaben wirb, weiß ich nicht. @« tft ihm gad) bie Äalt'
gefommen unb bie Jßifc'. 3ßirb ein f leine* fiebert fein. 3* hab' iljn auf«
irorfene bef6rbert; ba« ijt meine ganje Sünb\ Dann t>at er fd)ier nid)t
m6gen allein getjn, fo l)ab' id) iljn herauf geführt. 3(1 ba« nid)t red)t
getan, fo muß mir'* Ijalt unfer Herrgott »erjetyen. 2fnfonften muff id)
mid) auf eine Straf »om Gimmel gefaßt mad)en."
Da« SWabdien beugte ffd) über ben &ater, legte bie £anb auf beffen
Stirn, um feinen 3uftanb $u prüfen unb fprad), olme ffd) nad) Sentfrieb
fnnjumenben: „3* oanf (Sud) für bie 9ttül)'."
Unb bann fe$te fte in gebietenbem $one f)inju: „Unb jefct faßt und
allein. 3d) »erb* fdwn alle* beforgen unb il)m mit Pflege beiftel)n, bie e«
lidjt wirb, ©utc 9tad)t!"
„deinetwegen/' erwiberte er. „3Benn Slyr alle« felbfl rieten f6nnt,
foU'« mir redjt fein, ©ute SRadjt!"
Unb bod) blieb fein $u$ wie im ©oben feftgewurjelt, unb fein ©lief
haftete an bem fdjlanfen Vcib be« SWAbdicn« unb an ihrem 3nt(i$e, ba«
itfia Ijalb jugewenbet mar unb in feinem Umrifle lieblid) fdjien wie ntdjt«,
wa« er juoor gefel)en Ijatte. (Sine Selmfud)t überfam iljn, nod) ju bleiben,
mit iljr $u reben unb gemeinfam ffd) über ba« Säger be« Äranfen ju beugen,
aber fle fagte nod) einmal entfdjieben: „3dj bitf (Sud)! — ©ute 9*ad)t."
Dann erfl nahm er feinen Danfer, mit bem er £einglin umhüllt hatte,
»on ber Stabilere, wo er je$t btng, warf iljn über bie Sdjulter, fagte
fanft: „fcetjüf ©ott!" unb entfernte ftd).
„Safra, fafra!" badtfe er ffd), al« er brausen in ber SWonbnad)t ging;
„bat biefer Jpeinjltn ein faubere« $6d)terlein! Unb bernfeh tun fann fle
wie eine gebietenbe $rau. Da« füge ©effdjt mit ben ftoljen 2lugen! Sie
muß ja nod) jung fein wie ein 9tofenfn6fper( unb gibt ffd) bod) tote eine
»iiiig (Srwadrfene mit ihrem; fo muß fein unb nicht anber«, al« toie id)'«
gebiet', ffiie alt mag'« benn fd)on fein? (Stwa fo um ffebjeljn Ijerum,
fd)A$' id). J&enrgott! bie tjat mir'« fo gad) angetan! 3d) neljm'« mit;
freilich nur it)ren Sdmtten. 2lber ber folgt mir überall tjin, too id) gel)',
ba« weiß id). Unb ber Sd)atten t(l ein fcilb, ein fd)6ne« $rauenbilb.
£afi bid) fo lang erwehrt, fcub, unb je$t Ijaf« bid)."
So fdjritt er baljin, unb fein Sinnen war erfüllt oon bem «Mb be«
SRÄbdjen«.
5.
Sie faß am ?ager be« SSater« unb prüfte beffen 3Ttemjüge forglid).
gr fd)ien nun ju fdilummern. Sie ftanb auf unb fad)te im «Küchenraum
^euer an, bereitete einen $ranf au« l)eilfamen Ärdutern, bie jum l)au«ltd)en
©ebraudje im ©anbfdjranfe lagen, unb brad)te bie bampfenbe Schale an
ba« Sagnr be« Äranfen. Sie wartete nod) eine 3eitlang, bann rief (Te
fetfe: „SSater!" unb er fd)lug bie Äugen auf. SSerwunbert blirfte er auf ffe
unb erfannte ffe a(«ba(b. fön ?ad)e(n erbellte fein ganje« 'Xntti* unb bannte
ollen ©ram barau«. @r fd)ien nid)t mel)r franf gu fein al« er glürfltaj:
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ffiübelm #fd)fr: £an* tfeiiulin.
„brautet!" flufterte, unb nahm gerne ba* I)eilfame ©ebrau, ba* fte ihm
einflößte.
„@* ifl guter See," ermunterte ffe it>it.
„ftreüidj, wie foUt' er nidjt gut fein, wenn er »on bir fommt,4*
flufterte er.
211* er au*getrunfen hatte, fleUte ffe bie ©djale auf ben $ifd), faß
bei ihm nicber unb befühlte ihm bie ©tirn, bie Jieberhifce funbete, unb
fprad): „Sieg* nur rut)ig, Sater, unb fd)laP, bi* bie Sonne fdjeint."
dt äd)jte: „$5i* bie Sonne fd)eint, freilief) ! SDh'r ift fle alleweil lieber
a(* ber SWonb. Der ifl b6*, hat mich in* SBaflfer »erführt. Da* barf
niemanb wiffen . . . meine Srautel fdjon gar nid)t. ÜBie bätt' id) mein
Jpcrjblattcl fon nett allein in ber SBelt jurütflaffen! ©uter ©Ott, oerjeilj
mir alle*, »ad id) gegen b einen SXat hab1 begeben wollen! 3d) hab1 ben
fturwifc nidjt laffen f6nnen. ©er1* l)6rt, wirb meiner fpotten, wie bie
SWurweibel; bie \)bvy id) wieber »on weitem herauf (Ingen: #einjlin i\\ ein
Siarr! Unb ber SKonb lad)t fld) »ott barfiber, baß id) nod) ein 9*arr bin,
unb t}&tV bod) genug lang 3eit gehabt, $u Vernunft ju fommen. Unb ba
hat mid) ber Sentfrieb heraufzogen. "
„Sentfrieb" — murmelte fte.
<&r fprad) weiter in flaglid) wimmernbem 2one: „2Benn id) fug1:
€rbe, tue bid) auf, fo gefd)ieht** gewiß nid)t, außer wenn id) fterb\ — Xber
ba* 3Baffer tut ftd) immer auf, wenn id) hinein fpring\ Unb wie id)
brin gefejfen bin, ba haben bie ^elberbäume fld) ben ©ucfel »oll gefacht.
9lur baß nicht $um Sanken angefangen haben nor lauter ^reub\ ftreiltd),
fo ein $3aum wurzelt feit; fann nur mit bem Stopf macfein, wenn ber
ffiinb weht, al* wenn'* ihm nicht red)t war', baß er ihm um bie Ohren
blafen tut. Xber ein üRenfd), ber al* ein ©djwacber benft, wirb leicht
entwurzelt — unb ifl SÄenfd) gewefen. — Der gefdjeite SWenfd), ja, ber
bin id) nidjt. Der 5Bein im opf war ber SBegweifer jum 3Öaf[er. — 3d)
bin im 2öirt*hau* gefejfen, aber luftig bin id) nie gewefen. Der ©ein
hat nur ba« $url aufgemacht unb mir ba* ©ilb meine* inneren 2Äenfd)en
gejeigt: e* war ein trubfeliger. — 31nbere haben ihn nid)t gefehen, aber
id). Unb bann hat ma* in mir gefungen, etwa*, wa* bätt1 fein fönnen
unb ifl nicht geworben. Der QBenfd), ber id) nid)t geworben bin, ber hat
in mir gefungen . . . 91 übe fanft! 3a, jefct fingen bie STOurweibel wieber
. . . 5Bie wohlig wirft bu ruhn! ... 3a ... ja .. . wohlig."
(5r fd)(ummerte ein.
Die Tochter laufet) tc feinen Btemjügen, unb fle waren leichter unb
regelmäßiger al* Porher. 3o faß fle beruhigt bei ihm. SSon ber .tterje,
bie auf bem 2ifd)e brannte, fiel ein fd)wad)er rötlicher Strahl auf $ein$lin*
magere* 21ntli$, ber jugleid) ba* lichtbraune £aar be* SKäbdjen* nergolbete
unb bie jungfräuliche (Stirn erfdjimmern ließ, wätjrenb bie $Bange im
©chatten blieb, ©o faß fle ffnnenb unb bmad^tt ben ©djlummer be*
Sater*, wie eine gute ©eftalt, bie bem gew6t)nlid)en SWenfd)en unfld)tbar
bleibt; unb in ihrer jungen Seele rang bie Äraft mit ber Trauer unb ge*
wann ben ©ieg.
Gr lag einige Sage ju ©ette, fdjwad) genug, um ftd) nidjt erheben ju
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formen. ©a!b fprad) er mit feiner 3od)ter r>e0ffnntg^ halb gab er fid)
trüben $nfd)auungen bin, bie in ihm auffliegen unb ihn mie 2Öolfen um*
moben, t>ie bem tiefen Vuftfrrife ber Vergangenheit enttauditen. @r ging
auf alten Seben«flraßen einher, auf benen üfien (ängjt ®ra« geroad)fen
rcar, unb hörte alte Stimmen, bie ben Frühling feinet bebend burd)t6nt
hatten unb je$t fd)on lange im üßinbe erworben waren, ber über bie Ghrbe
al« ©eijt ber SBerganglid)feit webt. (Beine £inbl)eit flieg »or tym auf wie
ein grünes £üanb, »oll fclütenbaume, bie au« ber $erne minften; unb er
fat) einen Änaben unter ibnen manbeln, ber mißmutig ju ir)nen aufblitfte,
»eil er ftd) badjte: nid)t« mer)r af« ba«, blüljenbe ©aume?
Unb ber Änabe mar unjufrieben mie ber fpatere STOann, unb beiben
galt nid)t«, »ad ffe befaßen. Söeibe faben nidjt auf bie «£anb ber freunb*
heben ©egenmart, bie erma« brachte, fonbern auf bie gefdjloffene ber 3ufunft.
Unb al« biefe 3ufunft an bem Spanne oorüberfdjritt, mar bie Jßanb ge*
öffnet, aber leer. — 3mmer flog ber 3Bunfd) über ba« 3ifl l}*nau^ unD
fanb fid) jenfeit« in ber 2eere, »on roo fein ©ieberfommen mar unb er
erflerben mußte. 2(ud) ba« mirflidje ®ut, ba« ihm befcfrjteben mar, fein
«ffieib, Ijatte er nid)t fo gefd)ü$t jurjeit, ba er ffe al« fein Eigentum um*
fd)ließen fonnte, mie bamal«, ba er ffe al« fcf>ter unerreichbare« 3i*l feiner
©eljnfudjt erb tiefte.
Ute ©ünbe ber Unjufriebentjeit fanb er in feinem Innern mie einen
$einb, ber i!)n fned)tete unb blenbete, fo baß er bie r>eilige grifcfje ber
©egenmart nid)t ju fefyen befam. £)a« unmittelbare ,£eroorfprießen au*
bem bunflen (£rbcngrunb in bie tylle 3eit, mie e« nur ber ©egenmart eigen
ifl, blühte an feinen getrübten 2fugen oorbei, um ju melfen unb in ba«
©rab $u ftnfen. Unb tabti !)otte er biefe oermegene 3nfd)auung ber eigenen
2Bid)tigfeit im SBerfjaltni« ju ben anbern, al« harte ir)m ein boöfyafter
Tarnen einen unfid)tbaren ^ußfcbemel gewimmert, auf bem er fid) über bie
anbern erhaben bünfte, ber aber nur ihn täufd)te unb feinen fonfl*
2Bte oft tjatte er oermeint, baß ba« ?eben itjn nur be«t)alb munb
gefd)lagen t^abe, meil er mit bem tfopfe an bie Decfe geftoßen fei, unter
ber bie übrigen gem6r)nlid)en 3)?enfd)en olme ©djaben einrjermanbeln. Da«
Ungemorjnlidje, ba« er fid) jumaß, t)atu ir)n aber nie *u einem feilen ©e-
ftfce fommen laffen, auf bem er mit $Beib unb Äinb fußen fonnte; e« mar
eine 2lbfonberlid)feit feine« £>enfen« unb ntdjt eine alle« übermdltigenbe 35e*
fonberbeit feine« Ä6nnen«.
(Sdjon a(« fleiner £nabe meinte er mebr a(« bie anbern ju oermigen
unb fonnte aud) oon ber berbflen «£anbgrciflid)feit, mie fie fldrfere Raufte
bieten, nid)t überzeugt merben, baß er jemanbem an ^eibeÄfraft nadjfletje.
Unter feinen trübem mar er ber ,ft lein fle an SBudjfe unb ber Ungebarbigfte.
©ein Sater übte im @nn«ta(e ba« ©emerbe eine« Maurerpolier« au« unb
baute ©auern unb Äleinbürgern ifjre befdjeibenen ©otjnflütten. dr fam
babet ju feinem großen Q3efi$fianbe unO fonnte feine Äinber nur mit
fdjraafen Mitteln auf bie eigenen $üße flellen. Unb biefer Äleinfle, ber jmar
aufgemerften ©eifle«, aber aud) ber unl)anbfamfce unter ben <56l)nen mar,
ber moüte S5ilbfdjni$er merben. (£r mar ber Liebling feiner 9Butter, unb
ffe braä)tt e« bar)in, baß er nad) ©ruef ju einem 9)?eifler in bie ?er)re fam,
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Stl&elm gtfd>er: £an* #einilin.
ber ald namhaft galt unb bie Äirdjen in ben Adlern mit tüchtigen SBerfen
»erforgt trotte.
SBei ihm hielt e$ aber Spant «£ein$lin nicht alljulange aud, ba er aU
ein von ©Ott jur Freiheit befhmmter Sttann aud) nicht in ber ^ltedjtfchaft
eine* Vchrlincjö über bie 5Baßen auäbauern fonnte. Uno ba$ 3tfaß bellen,
maö ihm ju trag lief) fcfjien, mar halb ooü.
So fchrte er fd)on nach jahreäfrift heim aU einer, ber biel gelernt
hatte unb »or allem bieä: bie Schule für ein armeä ©efyaufe ju halten, bad
Sd)necfen beherbergen f6nne, aber feine 3fbler. 211$ junger 2fbler flog er
jeboch aud) ntc^t meit, fonbern gefiel ftd) im 95atcrt)aufe mieber alä SBefl*
boefer. dt arbeitete in eigener Meinung fleißig an feinen Äunftmerfen.
Die* ging, fo lange bie SÄutter lebte.
£d fam aber bie 3ett, baß aud) fte 2lbfd)teb nehmen mußte »on biefer
(Jrbentrift, unb früher alä man »ermutete. Denn fle mar nod) nid)t von
ber Vaft ber jähre befdjmert, fonbern hatte über ihrem ßaudmefen rufiig
gefianben biö furj vor ber 3? it, mo fle ftd) legen mußte. (£ö fam un»erfehen$
über fte; unb ba fle immer mehr fitr bie Sangen forgte, alö auf ftd) badjte,
fo hielt ffc ftd) fo lange nicht franf, bi$ ber 2fr$t bad ©egenteil fagte, unb
bie ^üiße, bie fee nid)t mehr tragen motlten, ihm recht gaben.
JDb fte mohl mußte, baß cö nun ernfttid) ju fcheiben galt oon allem,
ma$ fie liebte? unb auch »on ihrem Jßand, ber bor bem ?ager ber SÄutter
mit ©eforgmd ftanb, aber nod) meit entfernt mar üon ber &urd)t, ffe ju »er*
lieren. Sie bliefte ihn ftumm an, benn baä Sprechen fiel ihr fdjon fdjmer.
konnte er lefen, ma* in biefem QÄutterblicf gefdjrieben ftanb? — ÜBie mirb ed
bir im Leben ohne mid) ergehen? DaS mar bie jlumme ftraQt ber Sterbenben.
(Sä erging ihm aud) ju»6rberfi nicht fonberlid). Denn ber Sater,
ber nod) ein SRann in Vollreifen fahren mar, nahm ftd) nad) bem 3obe
ber erften $rau eine $ weite, unb Jßant befam eine Stiefmutter, SKit ber
fonnte er fleh gerabe fo gut »ertragen mie ein geborener ^rinj mit einer
jtuhmagb, bie ihn meiftern miß. Crr uberließ ihr baä ©efilbe, frfnitteite ben
Staub beä SBaterhaufeö »on ben Jvußen unb ging in bie 3Belt, fein ©lücf
ju fuchen. Da$ mar fdjon lange t)tv. 3e$t häufte er unter alten Steinen
al* freier ©urgherr, lag aber gerabe etwa* unpaß ju ©ette.
6.
(fr erhob ftd) jmar mieber nad) einigen $agen unb gebachte ju arbeiten;
aflein baäÜBerf mollte ihm nid)t »on ftatten gehn. Orr faß lange Stunben
mißmutig unb trubftnnig, ohne ftd) ju regen. Nahrung, bie ihm bie Tochter
bereitet hatte, nahm er »orerjt gar nid)t unb bann nur auf ihre liebreiche
3urebe; gefiel ftd) aber balb mieber in feiner SBerfunfenheit, fo baß fte
ermtlid) begann beforgt $u werben ob feined bumpfen 3uftanbed. £ie
Littel $ur Lebensführung, bie ftetä fnapp bemeffen waren, gingen rafd) auf
bie Sftetge, unb bie fleinen Sd)ni$arbeiten, mit beren (frtofe ber genugfame
^»au^halt bejtrttten mürbe, fdjtenen ihm fo fremb gemorben gu fein, wie bie
Äiefelfteine einem ©olbarbetter. Qrnblid) ließ er ftd) auf »ieberholte ©itte
ber $od)ter mieber gerbet, etmad ju reben.
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„3a, Srautel," fagte er, „ed freut mid) I)alt ntd)td ntel)r."
„2Cber fd)au nur, SSater, burd)d ftenjter, wie ber ©wnmer brausen
grünt unb blüht wie in einem ©arten ©otted, unb bu fifcft ba ald ein
Srubfeliger, bem ein Unrecht gefd)el)en ift. 2(ber bie ©efunbljeit tfl ja
aud) wieber gefommen. 3Bad ift bir benn gefdjeljen?"
„9ttd)td, nidjtd. SWußt nid)t bauen reben, Srautel. 3a, wenn bie
Srbe ein ©arten ©otted wär', fo müßt ia meine $reub1 aud) barin blühen,
wenn aud) nur ald ein fleinwinjiged SMümerl, unb id) müßt' fle finben.
3fber ed ift nidjt fo, unb id) bin ein armer STOann, ber nid)t$ ftnbet. 3a,
wad fou" mid? freuen? 3d) mag fdjon burd)d genfer fdjauen, wie'dbraußen
grünt unb M&tyt. 3ber id)! 2Öie ein ©rad, bad am borgen grün war
unb gu Bbenb oerborrt ift, fo bin id). Sad itf mein? Steine ©ebanfen;
unb bie get)en immer in einem UBirbel l)erum in eine $iefe — in bad
2fUertieffte, wad ber STOenfd) benfen fann: in bad ©rab."
„Eber, 93ater, beffer i|Vd bod) ju arbeiten, ald fo traumverloren $u
ftfcen. 2Bdbrenb ber 2frbeit fann eind aud) benfen, aber fretltd) nidjt fo
Srauriged, wie bu gerebet Ijafr. Sad paßt und beiben nid)t. ÜÖir ffnb
arm; aber fo lang wir von anbern beuten nidjtd braud)en, fmb wir reid)
genug. 2Benn bu arbeiten tdtft, Sater! X)ad m6d)f bid) gletd) freuen unb
wie ein ©alfam auf eine 5ßunbe fo auf betn trübet ©emüt mtrfen. Unb
nid)t nur bie «einen ©adjen allein! ©djau, ber heilige Öartfyel, ben bu
ber Sorfgemeinbe für bie ©ergfapelle perfprodjen t)aft, ber fteljt nod) immer
bort in ber ddt ald ein falber unb wartet, baß bu it)tn ju einem
ganjen Seben oertjilfjt. Unb bamit tjaben wir nid)t nur unfern 3ind für
bie ÜÖofjnung reblid) bejaht, fonbern fte geben und nod) etwad brauf,
tjaben (ie gefagt. Unb bad fommt unferm £audl)alt jugut. ©olTd etwa
nid)t fein?"
„aber gewiß! 2fuwei), wad tjab' id) früher gejammert, baß meine
^reub' aud) nicht als ein fteined QMümerl auf biefer@rben blühen tdt! £n
tift ja meine ftreub*, braute!, mein einjigeö Äinb. Unb bu blül)ft ja wie
ein 9t6ferl bid jum Gimmel auf, baß bie (£nget felber fdjmunjeln, wenn fte
bid) anfd)auen; benn fte m6gen gern ein guted SBenfdjenfinb fefjen, eind
mit fo einem treuen £er$en, wie bu $u beinern Sater f)aft."
„Unb badfelbige treue £erj tdt1 bie fd)6ne fcttf »orbringen: SBater, gel)
an bie Arbeit!"
„3(ber freilid), braute!. 2(n bie Arbeit! @d gibt md)t$ fd)6nered.
Sa liegt mein ganged ?eben barin. 3cf) werb'd eud) fd)on geigen, ihr
©auernfladjel! — 2fn bie Arbeit! 3Bie Ijab1 id) nid)t gleid) baran gebad)t!
£ad gibt bie ©efunbbeit unb vertreibt bie fdjwarjen SRucfen, bie mir fonß
im Äopf fummen. £aft vtö)tf braute!. $5er l)eilige Söartljel foll leben,
unb mein $6d)terl baneben — 3ud)l)e! 3fn bie Arbeit!"
Unb er fprang auf, ftampfte auf bie Siele mit einigen f erfeit 'Zau\
frfintten, fdjnaljte mit ben Ringern baju, unb näherte f!d) ber unfertigen
£oljftgur, um am ffierfe weiter ju fd)affen.
£>od) pl6&lid) f>ielt er inne, griff fld) nad) ber ©ruft, ald l)&tte er
einen jal)en ©rid) empfangen, ließ ben Äopf flnfen unb flagte: „<2rd gel)t
einmal nid)t. «Wüßt mid) nid)t bringen, 5rautel. 3d) bin ein armer franfer
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2Bü>lm frfacr: £an* £eiit|lin.
SBann; nid)t audwenbig, aber inwenbig. ÜBad id> benf, ifl nidjt gefunb,
»eil id) an mid) felbfl benfen muß. STOein Arbeit! 3a. ©oft* mir1« einer
Har legen, 311 wad bad ganje Umeütanberrennen nu$ ifl. <£d ifl in mir ein
groß ©eljeimnid »erborgen; aber ed fagt mir nid)t$, fo lang id) feb\ (£d
muß ein anbrer fommen, ber'd fyeraudhjebt and mir: ber $ob."
Unb er ließ fTd) auf einen Reffet in ber Sftafye bed ftcnfrcrd nieber
unb blieb htiflcö ft$en. Wlit bem mageren Kntli$t unb bem grau an*
gelaufenen (Sptfebarte faß er nun in ber $elligfeit unb »ar »ie eingerußt
in ben (Sdjatten, ben er aud feinem 3nnern Ijeraufbefdjworen tjatte.
Vergebend rjub bie Sodjter »ieber an, tr>n mit guten unb trifllidjen
Üßorten aufjuridjten; ed »erjtng nidjtd bei ifjm. (Sr fdjüttefte nur
ben $opf.
,,3d) bin finbifd), Srautef, id) weiß ed. <£d ifl »of)l bolb, ein Äinb
ju fein, aber finbifd), ein Älter — »ie ndrrifdj! 3a, id) !)ab' einen ©c*
fdjmatf in mir, ber ifl bitter, »ie bie ÜBarjrrjeit — baß id) geboren bin."
Unb er bfitfte »erfunfen oor ffd) ind 2eere.
2)ie $od)ter fam ftcf> felber l)Üflod »or, ba ffe mit aller 3urebe nid)t
»ermodjtr, ihn aufzurichten, draußen sogen am Reißen (Sommertage ÜBoffen
auf, ber Donner rollte, SMifce jutften unb J^eingltn faß immer unbe»eg(id).
<£rfl ald ber Siegen r>erabraufd)te unb bie furjle £uft fjereinjlrid), flanb er
auf unb (teilte ffd) an bad offene ^enfler.
(Sie meinte nun, baß cd ihm fd)aben »erbe, ald einer, ber furjltd)
nod) franf gelegen »ar, ffd) ber falten ?uft audjufefcen. dt folle jefct mit
feiner ©efunbfjcit flug »erfahren unb nid)td batwn auf* (Spiel fefcen.
„flttad)t nid)td, Srautef," erwiberte er. ,,3d) fdjau Ijinaud, wie bie
SBolfen über bie ©erge jieljen unb bie ©otitT ffd) mül)t l)er»or$ubred)en.
3d) fe^ fle nod) ntdjt, aber weit brunten funfeit bie «Kur fdjon. Dad
SBaffer fjat bad ?id)t fdjon erfdjaut, wad mir fel)It. SRir ifl ed eben fein
^reunb, mir gibt ce nidjtö — bad ?id)t. Unb ber 3infen bruben bat aud)
ben üffiettermantel abgelegt unb ben Jtopf frei gefriegt. Der ifl mit ©olb*
fdjein beflreut, ald wenn er ein Sungerer war' unb nid)t nod) »eit dlter,
ald wie id)."
Jßeinjtin ladjte; bann fut)r er gefprdd)ig fort:
„Unb Ijinten wirb'd immer lidjter. ©in blauer SKürfen nad) bem anbem
frretft ffd) unb beljnt ftd), ald wenn bie Herren ©erg' wdljrenb bed SBetterd
gefd)Iafen rjdtten, unb ftd) erfl 00m (Sonnenfdjein werfen ließen. Unb je$t
fdjauen fle wieber neugierig in bie SBelt unb in ben Gimmel. 3a, ich
m6d)t' fdjon aud) in ben Gimmel ald ein Iebenbigcr ©cifl, ber ben toten
Veib abgelegt fyat, wie ber 3infen ben ÜBettermantel. 3tber id) müßt* »or*
erfl erlöfl werben aud allem Srübfal. Unb bad erl6fenbe ÜÖort müßt' mir
nod) einer jufluftern, bameil id) im Ceben bin."
<£r fann eine $Beile nad) unb fagte traurig: „'Aber wer? Unb wenn
er'd tdt, einer, ber in mir ift unb ber ju mir fprdd)' im $raum ober im
ÜÖadjen, fo ifTd $u fein für mid), unb mein £>l)r ju grob baju — id) f6nnt'
cd nid)t I)dren. Unb ber 3infen ifl ja aud) weit t>om Gimmel weg, unb
id), ber id) ganj Hein bin, nod) weiter. Unb ber Gimmel felbfl ifl 2uft,
nidjtd ald ?uft; unb wenn id) ju ®erid)t fdß' über einen, ber £and J?»ein$Iin
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2Bilpe(m ftifacr: £an* £eütjlin.
105
l)eißt unb fragte it>n: ffia« bt(t bu? id) »ertDettcr ineinen Äopf barauf, er
m6d)t fagen: ?uft."
„Unb wenn ich, Sater, gum 3eugen angerufen wurb* in ber felbigen
Sad)', fo m6d)t id) frei au«fagen: ber mit bem genannten tarnen t)at bie
SBaljrbeit nidjt gefprodien."
,,©er), ^raute^ mußt e« nid)t fo flreng nehmen. Sftur ein einziger
I)at bie Wahrheit funbgetan, ba« ifl unfer $err @briflu«, unb bem ift fie
nid)t geglaubt morben Pom Pilatus. — 3a, bie Wahrheit ift wie ein unter«
irbifdjer Strom im ^arfl; man l)6rt fein SRaufcben, aber man fleljt tt>n ntdjt.
(Jr wirb erfl ftditbar, wenn er in ba« SD?eer einfliegt. So wirb bie $Bal)rt)eit
erft fid)tbar, wenn fie in bie Swtgfeit einfließt, au« ber ffe gefommen ift.
Unb fo f6nnen mir Sttenfdjenfinber erft im Bugenblicf be« $obe« bie
3ßaf)rt)eit feljen, ntd)t etjer. 3a, Srautef, fo ijft mit beinern armen
SSater. SWußt md)t gleid) fjerb fein. — Unb fd>au binau«, wie'* je$t
fd)6n geworben ift."
Sie ldd)elte: ,,3d) auf ben Siatcr fjerb fein? Da müßt' fd)on eine
anbere an meiner Start r>ter flel)n, um ba« fertig ju bringen."
Unb fie trat an« genfler unb Mitfte fyinau«. CT xs mar ein freunblidje«
S3ilb, maö fld) ihren 2(ugen barbot. 2fu« bem Sttebet tauchten bie blauen
©ergntefen, al« lau c n fie bie meinen ?afen »on fld) geworfen, beren 3i»fef
nod) ju ihren güßen bie 2flmen unb .Oed) triften bebeeften; bod) fo, baß ba«
©rune um fo heller jwifdjen it)nen Ijerocr fd)immerte unb ftd) »on ber
bunfleren grtrbung ber ©albberge abhob. 3n ba« nod) bid)te fdjwarje ©e*
w6lfe, ba« »on bannen jog, flreute bie Sonne reidjlid) it)re ©olbfarben, bie
am Stanbe rätlid) »erblaßten; unb ein ferne« ©ergbaupt, über ba« ba« ®e*
wälfe fjinwegjog, warb »on »iolettem Schimmer um!)aud)t. Unten ba« $al,
überfat mit weißen Rufern unb ©elften unb »on ber fträmenben 9Äur
burdjgldnjt, lad)te frifd) unb buftig berauf ju bem alten ©urggemduer,
burd> beffen ftenfler gwei arme «Wenfdjen in ©otte« SBelt blirften:
Sater unb Sodjter.
„£aö ift and) Wahrheit, wa« ba braußen liegt," fagte bie £od)ter,
„unb fd)6n ift. Unb mir wirb1« leichter um« #er$, wenn id) fie fet)\"
„9led)t l)aft, Jrantcl. ÜBenn1« nur im ©rujtfammerl brin, wo bie
lebenbige U\)t Sieftacf mad)t, immer fo lidjte 5Bal)rf)eit gib1, bann fönnt'6
braußen freilief) fd)6n fein. 3fber wie, wenn1« brinnen finfter ifl unb nid)t ein
tiä)ttl brennt? Da fann aud) ba« 2fug' nid)t r>ctt flauen, weif« mit ber
Dunfell)eit »on innen »ertjÄngt ifl, bie au« bem Stübel fommt. 2H« wie
id)! — 25er 3Beg, ben id) nid)t gegangen bin, liegt aud) in ginfiernt«;
fonfl wdr1 er tagfjell. 2Öa« f)dtt' id) werben f6nnen! <5in Stern tfat bie
bret SBeifen au« bem SWorgenlanb ju ibrem J&eilanb gewiefen; aber wer
!)at mid) gewiefen jum ©runnen, barau« id) meinen Srunf febenbigen
Gaffer« \)ätV fd)6pfen fönnen? ^a, weil id) ein Un weifer bin, hat mid>
etwa« ju einem anbern ^Baffer geführt. Damal«. Ca« <5twa« ift mein
Ungef durf. Da« ifl mein Stern."
Unb er ließ fid) wieber auf ben Seffel fallen unb »erf)uDte fein 3fntli6
mit ben J^dnbcn.
Die ^od)ter ging leife au« bem ©emadje.
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106
31$ er aufblicfte, fat) er fie nicht mehr unb rief: „Srautel, bift nimmer
ba? — Stecht ift mir gefdjehen. 5Brnn id) jahn* unb grein', ald wdr' id)
ein Bettler, unb hab' bod) mein Äinb, meinen 9teid)tum. Unb ihre Butter
war aud) gut ju mir, mein liebe* 2ßeib, aber fie ift halt gejtorben. 3a, ja — H
7.
•Oemjlin fonnte fid) nod) immer nicht jur Arbeit aufraffen. Der
tfrdmer im Dorfe, ber ihm bie «einen <5d)ni$fachen abnahm, mahnte aud)
fdjon; aber nod) met)r ermahnte bie 9*ot, bie in ber ©urg eingefehrt mar.
Die 5od)ter behalf ftd) fo gut fie fonnte, fe$te jum <£fien »or, wa* fee aud
bem 3wingergdrtlein, bad fte angelegt hatte, an Äohl unb anberem ©emufe
gewann. Hn ©rot fehlte eä nid)t, unb ber fteinerne 3i<t)brunnen, ben nod)
ein fd)6neä (bitter gierte, gab ben füMüen Jrunf herauf, ben fld) ein
Durflenber wunfehen mod)te. Sföit fleinen weiblichen 9?dharbeiten, bie fie
ben wohlhabenben Bäuerinnen (eijiete, bie aber nur (ehr fpdrltdjed (Srtrdgniä
brad)ten, leitete fte aud) einen bunnen ^aben 5Baffer$ auf bad $riebwerf
ber 3ßirtfd)aft, um eö im ©ang 511 erhalten.
Jpctnjlin war aber ein 9Äenfd), von bem ©Ott fein Xnt(i$ abgefehrt
hatte; unb ba war ee" auf bem 5Bege finfter geworben, fo baß er bie Vnft
jur Arbeit nicht finben fonnte, unb wenn er ftd) aud) ein $id)t(ein jur £Hfe
angefteeft hdtte. Dod) eine« l)alf. <5r t)atte gar fo fdjwere Sorgen, bie
itjm ben Äopf füllten, unb e$ fehlte ber ©orgenbredjer: ber 2Bein, ber fie
fortfdjwemmte, fo baß £einjlin wieber ju ertrdglidjen ©ebanfen gelangen
fonnte. Diefe @rwdgung, bie nur feinem befferen SWenfdjen $u paß fomraen
foflte, fchuf eä, baß er mit (Seufjen feine fleinen ©chnifcarbeiten wieber be*
gann unb bamit ©elb in bie ©urg brachte, um auä ber ©urg wteber in bie
SRieberung ber anbern f)inabfleigen ju f im neu: tnd üßirtöbauö. 'Aber bie
SÖirtäftube, wo man ihn fo fd)nöbe »erfannt hatte, mieb er; ffe ju betreten,
»erbot il)m fein eingeborener 2Tbel. @r fud)te bie ndchjte Drtfchaft auf, bie
eine ©tunbe abwdrtä im $ale lag unb beehrte bort bie ©aflftube mit feiner
3nwefenl)eit. (5r war aud) »orfichtiger geworben unb befliß fld) einer fühlen
3urucfl)a(tung, inbem er ben 2fbftanb jwifdjen fld) unb ben SÖauerugdjten
burd) feine vertrauliche 2(nfprad)e oerfdjwinben ließ unb mit ber "Antwort
aud) nod) eine £ecfe jwifdjen ffd) unb bem $rager wachfen ließ.
©oldje 3urucf()altung mußte aber bem feinen ©eifte bod) wie eine
fteffel bünfen; unb ba war ?entfrieb ein begrüßter ©efeße, wenn er ffd) bei
ihm am ffiirtätifche einfanb, wie er e$ ju tun pflegte, aU er einmal bie
(Gelegenheit wahrgenommen hatte. Dae* war bod) ein 2Äann aud gutem
«£aufe, ber bie ©djule befudjt, Prüfungen im ^orfimefen abgelegt hatte, unb
mit bem ed jTd) unbefchabet ber eigenen 3Burbe reben ließ, gentfrieb ging
mit ihm aud) am fpdten 3benb hfintmdrtö; unb obgleid) Jpcinjltn fleh »or
nichtd in ber ffielt fürchtete, aufgenommen vor ber eigenen Unjufrtebenheit,
fo war e$ ihm bod) genehm, biefen feften Begleiter burd) bie einfame
Muräne an feiner Seite $u haben.
2fud) fonnte er ftd) ihm mitteilen, unb ber 2Beg erlernen halbmal fo
furj unter ber Grinwirfung eine* guten 3wiegefprdd)d, bad allerbingd fld)
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Sttyclm fttfdjer: £an* £einilm.
107
nicht auf jweie gfftcf>m&^tg verteilte; brnn Jßetnjlin fprad) afö ber ältere
für ftcf> unb ben ©efabrten. £r fd)6joftc babei bie ©ebanfen aud feinem
bujlern Jßerjen, wie auö einem tiefen Ziehbrunnen, in baö Siditreid) feine*
Äcpfed berauf; wo f!e bann fid) freilief) juweilen fremb gehabten, wie ©e*
fdjepfe in einem ihnen nicht jufagenben Elemente.
8 c- fagte er, alö fie im 3benbbammer beimmdrtö gingen:
„<2ebt, Sentfrieb! Dort tjupft ein graueS SBeib burd) bie 3fo\ SBißt
Oljr, wer'* ifl? Da* ift bie 9lot. ftreilid), wer jung ift, wie 31)0 fier>t
ffe nicf)t. S3or bem »erbeeft fie ficrj nod) mit ihrem Sftebelrocf. Unb bann
habt 3l?r ©runb unb ©oben al$ SBaterderbe. 3ber id) fef>e ba$ graue SBeib
fdjarf roie mit Vudtfaugen, unb ffe winft mir mit ber #anb unb ruft:
£einjlin fomm! — 3d) mifl ir>r aber nid)t folgen. Denn, tf&tVi, üentfrieb,
weswegen? 3ft etwa bie Sttot meine 9Butter? greilid), etwa* muß fein.
<£* ifl nicht red)t geheuer. Serwicbene 9?ad)t bat mir geträumt, unb read?
3di feb' ein riefige* ÜBeib auf bem Untbeamilein fißen, bat eine große Äugel
im <£cboß, bie ftreicbelt ffe al* wie ein 3arterl unb (acht unb fagt: ba* ifl
bie <5rbe. Unb wer war'*? Die grau 9?ot, bie uralte SRiefln. 3e$t fdjau!
liegt bie gan$e drV im ©djoß be* SXiefenweib*, warum foUf id) nicht ihr
8cbn fein? 3fl ba wa* bagegen einjuwenben? 3d) mein1 nicht."
Der junge SRann i)6rte ib,m gebulbig ju unb backte babei an etwa*
lieblichere« al* an ein graue* 5Beib. (Sr fnehte aud) je$t #einjlin guweilen
tn ber SBurg beim, ba er mit ibm eine £rt greunbfdjaft gefdjloffen hatte,
um e* fid) gejlatten ju f6nnen. 3Cber bie Sodjter erwiberte feinen ©ruß
nur gemejfen unb fanb balb ©elegenbeit, fid) au* ber ©tube ju entfernen,
um nad) ber ÜBirtfd)aft 31t feben. Dann tr6flete er ffd) bamit, baß fie ihn
ned) ju wenig fenne, um »iel auf ibn $u geben, unb boffte, baß er mit ber
3ett mebr bei ibr gelten werbe. Unb ihm war'«, al* hatte er fein Sehen
lang feine anbere »on ber ©eiberart gefehen al* biefe ba, bie, fo fdjlanf
fie war unb wenig Dlaum mit ihren Keinen ftüßen einnahm, bod) feine ganje
©elt au*fullte.
Unb er bad)tt, baß ffe ihm einmal gut werben muffe, fonfl fei e* ge;
fehlt. @r wollte ihr nur einmal in bie braunen 3ugen fchauen unb ihrer
Stimme laufchen, wie ffe $u ihm fv rechen fonnte; mehr nicht: aber ba* er«
reichte er nicht. (S* fdn'en, al* wenn fie ihm abgeneigt mdre, unb ba trottete
er ffd) wieber, baß ihr jugenblidje* ÜBefen nod) jeber (Jinwirfung nerfdtloffen
wäre, bie »om QÄanne auf ba* 3Beib ausgehe. Denn ?entfrieb fonnte fid)
mit %üq für einen halten, auf ben fd)on »iele tjubfebe Weibchen erwartung**
00O geblicft hatten, freilich war feine barunter wie bie ba im alten fcurg*
gemduer mit ihrer lenjhaften 3Öeiblid)feit unb mit bem ©tolje eine* oor*
nehmen grauleind. (5r fühlte fid) beinahe fehuebtern, wenn jTe in ber 6tube
»eilte. Seine ganje ungebrochene Äraft, bie ihm fonfl bei 3orn unb %rtnU
in ben 3lugen h'rauÄlohte, warb bei ihrem Snblicf oon ber ©eforgni* im
3aume gehalten, ihr $u mißfallen. Unb er tytU fie mit feinem 3Borte $u*
rücf, wenn fie ffd) entfernte. 3uwei(en fat) er fie burd) bad ofene genfter
braußen im J^ofe fchrciten. Da erfd)ien ihm baö 6be mit ©raö bemaebfenr
©eldnbe wie ein ^)arabie^gÄrtlein, unb er bachte, er muße fein ?eben »er*
lieren, wenn er nicht ju ihr in ben ©arten gelangen f6nnte.
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108
©«Mmgifcber: §ani £ein|lin.
8.
SBorerfl tarn er jebod) nur bi$ $um fl^e« 3ief)brunnen, an beffen ©itter
auÄ (5ifenlaub blüljenbe* ©eflrdudje empormud)*. $urm unb <Pala$, bif
ihn einft umfdjfoffen, warm jerfaßen unb bübeten rin fablet unb bftnbe*
SWauermerf, baä vor hohem 2flter ganjlicf) abgeflorben faxten. 3u biefem
«£ofe, ber nad) ber Seite beö Xbljangä offen Tag, fahrte ein ©feig herauf,
ber feiten begangen würbe, ba er $iem(id) fleÜ war. £entfrteb fam aber
frür) morgend be$ 2Beged Ijerauf unb fat) bie Zoster, wie ffe ben @imer
an ber Äette empormanb, um au$ bem tiefen UBaffer beä 33runnen$ ju
fdjopfen. Die weißen nur wenig gebraunten 2Trme leudjteten in ber ?uft,
unb ber Seib bed jungen SD?dbd)en$ f)ob fid) fdilanf unb frdftig oon bem
blutjenben ©eflrdudje ab, alt fTe am ©runnen ir)r $agewerf begann.
?enrfrieb grüßte fie unb erbot fld), ir)r ju Reifen. <5ie lief e* fdjweigenb
gefdjetjen, baß er nad) ber Äette griff unb in rafd)em 3«ge ben dimtr fjer*
auffdrberte, ben er auf ben fleinernen SHanb beä ©runnenä fleflte. 2fl$ <ot)n
ber Arbeit bat er um einen 3runf bei guten ©afferä, ba ftd) ihm bie
fommerlidje $t$e fdjon am frühen 2age beim Xufflieg fühlbar gemacM unb
er Dürft befommen habe. (5d befanb fid) in einer Sttifdje ber S&runnen*
einfaffung ein fleiner irbener Sedier, unb fie fd)6pfte bamit auä bem fühlen
Üßajfer beä (Simerd unb reichte it)m ju trinfen. @r tranf freubig; e$ war
ein ^abetrunf, ber it)n erfrifd)te unb bod) wieber erwärmte. @$ war wie
ebler 2Bein, wad er fdjlurfte, weil fie e$ iljm reidjte.
9*un gab er if>r ben ©edjer jurürf unb fpradj: „Da$ r)at mir rooijU
getan wie eine red)te ©otteägabe. Unb 3l)r teilt fofdje ©nabe au«, braute!.
Da fonnt 3t?r freilief) flolj fein, unb unferein* wieber befdjeiben. SBergelf*
©Ott immerhin!"
(5$ war ein ©trafen in feinen fetten 2fugen, ald er bie« fagte.
Die großen braunen Sterne unter ber weißen SRdbdjenflirn btttften
thn jebod) fair unb ruhig an.
„<ii ifl gerne gefd)er)en," antwortete fie.
„3a, wenn'ä nur fo wdr': gern! Dad ifl ein 2B6rtet, fann fo tief wir
ber Brunnen ba fein unb einen mit febenbigem SBaffer erquiefen, unb wieber
oft ifl eS nidjtd ali ein 2Bort: e$ fommt »om ¥eben, gibt aber fein ?eben."
„SBenn 3t)r ein jebe* ©ort g(eid> umfetjren müßt, um ju fernen, ma*
IjerauSfdUt, bann ift** beffer, gar nid)t ju reben."
„Äber, braute!, id) tu1« ja nid)t. 3d) benf mir rjaU fo: ÜBer gute
tfßortc fjat unb gibt (Te, ber gibt bamit aud) ©onnenfdjein. Dad ifl freilidy
etwa« gar Äoflbared: baä belle fei 6 fr, wad unfer Herrgott ju geben r)ar.
3(ber freilid), ba hinunter in ben Brunnen bringt fein ©onnenfdjein."
„SBeil ber Sörunnen ju tief ifl, unb be$t)alb ijl er aud) fo fuf)I," er*
wiberte fie.
„Äühl unb tief wie bein Jßerg, brautet", fagte er leife.
©ie raud)te ben Ärug, ber jur ©eite flanb, in ben (Simer, füllte itjn
unb fprad):
„Die 9BeIt ifl weit unb r)ett genug. Dort foU eind ©onnenfdjein fud)en
unb nid)t im ©ruunen, unb audj nid)t anberdwo, wo ein* unbefannt tfr.~
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ffiilbelm gtfdjrr: £an* £einilin.
109
„Wo bu ftehft, brautet, ift bie SBelt h«&% fonfi nirgenb*."
Sie trat einen Schritt jurucf.
,,3d) bin bieder am fcrunnen immer allein geftanben. (5* wirb ftd)
auch funftig fo fd)itfcn."
„SD?igg6nnft bu mir bie Web1? 3d) mdcht* bir ja in altem ju willen fein
unb bir bienen wie einer J&eiligen, unb bu bift t)erb auf mid)."
„Um herb auf (Süd) ju fein, müßt' id) (Sud) früher gut gemefen fein.
Da* war nicht; weber ein* nod) ba* anbere," antwortete ffe unb redte (Ich
in ihrer ganzen (%6£c empor.
<5r fühlte e* bumpf in feinem 3nnern gemittern; bod) bejwang er ftd)
unb fprad) fanft:
„Tu fdjaujl ben Sag au* guten 'Augen an, warum nicht aud) mid)?"
<gr trat naher unb jtanb wieber *>or il>r mit feljnfuchtig leudjtenben
Augen.
Sie wich jur (Seite.
„3e$t fdjau' id) auf einen, ber mir ben 3ßeg oerftetten wiß," fagte fle.
„3a, fann** benn für und nicht einen gemeinfehaftlichen $Öcg geben,
wo wir ju jweien in ^rieben neben einanber gehn f6nnten? SO?ir mar' ba*
ein ©lud, ein fo ubergewaltige*, baß id) bir aud) baoon abgeben mußt1 unb
bu müßteft e* nehmen, ob bu willft ober nid)t, unb mit mir glucflid) fein."
Sie machte mit ber linfen J^anb eine abmeifenbe ©ebarbe.
„©er geben miß, wo man nicht* braucht, unb einer, ber ungerufen
fommt, bie beiben fftnnen wieber gehn, woher ffe gefommen ffnb. Da* wirb
bann fdjter etwa* wie ein ©lud fein."
„Äannft bu ju einem SKenfcbfn, ber bid) lieb hat, wie fein Seelenheil,
fo hart reben?"
Sie faßte ben £enfel be* ooflen SBafferfruge* mit ber Stechten, unb
»enbete fld) oon ihm ab.
„Der ÜBeg gel)6rt mir, ben id) gel)', unb feinem anbem. 3ft Sud)
ba* hart, fo fann id) nicht* bawiber tun."
dx hielt ffe jurücf, inbem er ihren 'Ann berührte:
„#6r* mid) an, Srautrl! 2Ba* id) bir fag', ba* muß id) fagen. 3d)
fann nicht anber*. J£»aft ma* gegen mid), fo ift meine Sieb* ftarfer al*
beine Xbgunft; unb bie fann bei bir nicht anbaurrn, fobalb bu mid) beffer
fennen wirft. 3d) bin immer ein freubiger SRann gewefen, unb bu wißft
mid) jefct gu einem machen, ber mit unferm Herrgott greint unb mit ber
ffielt in Unfrieben lebt. Du bift bie befte für mich, bie id) finben fann; fo
fann id) nicht ber «Schlechtere für bid) fein. Schau, Srautel! wenn'* in
einer Kirchen ju lauten anhebt, fo gibt gleich bie ©lotfe in ber anbem
Antwort. Unb wenn id) an bid) benf, ift mein #erj wie eine Äirdje —
fo gib mir aud) bie Antwort: ein gute* ©ort, ba* wie ein heilig** ©locfen*
gelaut Hingt. Söiflft?"
Sie bewegte ba* #au»t »erncinenb.
„Schau, id) bin bir freilich nod) fremb; aber Sreue unb 9teblicbfeit
werben einem balb oertraut, unb bie haby id) ju bir: Ußie foUf id) bir bann
nod) fremb fein? kennen wirft mich freilich rrft recht, wenn bu mein liebe*
SÖetb fein wirft — fdjüttelft ba* ftnftere 6pfel? üBenn ich aber Witt?" —
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110
fflilbclm Jifcber: £ant $einjltn.
Dann fprach er mieber fanft:
„Sftcine ©utljeit muß bie beine werben, unb bann bift auch gut gu mir,
gelt, Srautrl? 3a, faa/ ja!"
©eine blauen 2lugen feuchteten mit flarfer Siebe auf ffe nieber, bie
bie ©impern gefenft t>teft; aber |!e fühlte ben »erjehrenben ©traf)! burcr)
il)rc Siber brennen, fo baß baoon eine ©cbmüle in irjre junge ©ruft einjog,
vor ber ffe wie »or etwa« ftrembem in ihrem innerjlen ©efen erjitterte. Sie
erljob rafch bat #aupt unb fagte mit fefter ©timme: „9?ein."
Unb ffe entfernte fid) mit bem ooflen ©afferfruge unb fdjritt feiert
unb flolj aufgerichtet bat)in.
©ie liebte it}n nicht; fle mußte auch nicht, »ad Siebe mar. 3h* lenj*
haftet £erg mar ju ernfl im Sehen gemorben, um ffch, fern jeber linben
Suft, bem blühen ben ©eibetglüefe: ber Siebe ju erfchließen. £uch |firnte fle
Senffrieb, meil er fle bamalt in ber Sttacht uberrafcht unb ihr gleichfam ben
«Oauch ihret jungfräulichen Seibet mit ben ©liefen geraubt l)atte. ©ie fchien
fleh in ihrem innem ©efen gerecht ju fein unb nicht gegen einen anbern
hart, ber ihr fremb mar. ©ie fonnte et mohl miffen, baß Sentfrieb unter
Scannern alt fraftig tch6ne ®eftalt h<worragte; aber bie ©ehnfucht nach
ihm regte ffch auch nicht traumhaft in ihrer jungen ©ruft, bie gumeift »on
flifler Trauer unb ©orge um ben Sater erfüllt mar. Sentfrieb follte tTrf>
lieber um anbere freubigere ftRabchen bemerben, alt ffe et mar; f!e ginnte
et ihm unb jeber anberen. Xber ihr £er$ fchmieg auf bie merbenbe Siebe,
unb bie ©arme, bie baraut auf fle einfrrimte, fonnte gleichfam ihre Jpaut
oerfengen, aber nicht burchbringen. Sie mar für ihren Sater ba unb für
fonft niemanb auf ber ©elt.
9.
Diefer, ber Sater, hatte fleh noch immer nicht ju oofler SÄtigfett aufraffen
f innen, obgleich er einfat), baß feine Trägheit ein Dorn mar, ber ihn felber
(lach. €t fchien ihm, alt mare etmat an feiner ©pannfraft gebrochen unb
baß et bafür feinen Ärjt gäbe, um et mieber einzurichten, alt ben $ob.
3njmifcben lebte er jeboch; unb bie f (einen ©chnigroerfe trugen gerabe genug
ein, um bat ©irtfcbafttfchifflein über ©affer ju halten unb bem Steuer*
mann ju einem ®lafe flaren ©einet ju oerhelfen, bat fleh ohne ©unber
vervielfältigen fonnte. X5iefe ©ohlfahrt nahm aber ein unoermutetet Grube.
Der tfrämer im Dorfe faufte bie fleinen ©ebnigereien gern, »eil fle
»on feinen tfunben um ein befcheibenet ©tuef ®elbet begehrt mürben; unb
er befchiefte auch SRdrfte bamit, mo ffe alt (Srjeugniffe einer heimifchen Äunfl
noch mehr in 2(nfehen ftanben.
„Dat £anbmerf mo0en mir ihm legen," bachte jeboch ber Häuptling
bet Dorfet, ber ben Sitel einet ©emeinbeoorflehert führte, unb bie ©ebanfen
fo lange in feinem Äopfe ju m&ljen pflegte, bit ffe in bie rechte Sage famen.
„3uf bie ©eife bringt ber J^einjlin nie jumegen, mat er unt treulich }u*
gefagt hat unb mofür er ohne 3int in ber ©urg ftyt: nämlich unt in bie
£apeUe am sPnni ben ^eiligen mit feiner Äunft ju fteQen. Xber et muß
ih«t bat ^intertürl beim Gramer gefperrt merben, baß er bie 9?ot ffeht, bie
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'itMlbcIm Jftf<her : X)an$ JOct'u jlm . 111
leben lang bei ber »orberen $ür fleht, unb baß er ernfllich anhebt ju ar*
betten, um ffr ju »erjagen. Dann grljt fTe gleich, wenn fte ernfte Arbeit
ficht; baä fann flc nicht auäflebn."
2ffled bieä rourbe bem Äramer mitgeteilt, ber unter ben <£rfefenen im
State ber Dorfgemeinbe faß: nämlich, baß er bem £einjlin feine ffeinen
6cbnt$fachen nicht mehr abnehmen bürfe; unb er fonnte nichts triftige*' ba*
toiber »erbringen ali ben eigenen Sdjaben, ber aber bieämal bem ©emein*
roeble juliebe nur mit falbem ©liefe fofle betrachtet »erben. <5o würbe
bem £einjlin, ber vom feinblichen Schicffal hart belagert würbe, ba* ©chlupf*
pf6rtletn oon außen »errammelt, unb er mußte in fetner ©urg gefangen ftfcen.
<£* fehlten wieber bie Mittel jur notwenbigen ?eben*füt)rung unb aud>
ju hochgemuten Betrachtungen, benen er ftch gerne hinter einem ©lafe 2Beine*
l)ingab unb inmitten berer er al* ein ftarfer Mann auf ba* fleinliche ®e*
tTiebe ber ffielt beeabjufeben pflegte.
Der Jframer hatte e* ihm in guter 2frt beigebracht, baß er ihm feine
Sachen nicht eher abnehmen bürfe, bi* Jßeinglin nicht feiner Verpflichtung
gegen bie Dorfgemeinbe nachgefommen fei. Unb er ermahnte ihn, je eher
je beffer mit bem SBerfe ju 9tanb ju fommen, weil bann nicht nur bie Äunb*
fchaft jwifchen ihnen beiben r>ergr(trflt fein werbe, fonbern Jpemjltn auch eine
flingenbe @t)r«igabe al* 3ufchuß »on ber ©emeinbe ju erwarten \)abt.
3fber bem beider £an* furchte ftch tief bie ©tirne bei biefer wohl*
gemeinten Mitteilung; feine Äugen fprüf)ten ba* fteuer be* beleibigten @b*<
gefübl*, unb fein Munb floß über in fhr6menber Webe ob be* J^ochmute*
ber Dorfleute, bie ftch oermaßen ihm »orjufchreiben, wa* er tun unb laffen
folle. (5r wanbte bem Gramer ilcij ben SRücfen, entfernte fleh unb flieg feinen
fturgbugel hinan mit bem zornigen ©ebanfen, je$t er ft recht nicht am 5Öerfe zu
fchaffen; fonbern e* lieber barauf anfommen ju (äffen, baß fte ihm bie
SBobnung auffagten, unb ftch einen anbern ©i$ ju erwählen.
Tiber biefer im ))ti$tn 3orne au*gefochte ©ebanfe erwie* ftch al* wenig
nahrhaft, al* er »om fcharferen Suftjug ber Überlegung getroffen würbe»
ffio war biefer anbere £ochjT$ ju finben? Die ?anbfarte bezeichnete ihn
nicht, ©o fam er ju bem @ntfchluffe, ber an ber ©achlage wenig etnberte:
nämlich trofcig ju bleiben, wo er war, unb nicht* ju arbeiten.
3undchft mußte e* bie Tochter wieber t)bxtnf wie unangemeffen ba*
Serbaltni* ihre« Sater* ju ben Dörflern fei, bie ftch nicht* angelegener fein
ließen, al* ihn, ben hochgemuten Mann, ju quälen. ©o hatten fte auch bie
fco*beit wiber ihn erfonnen, ben einzigen ©efcheiten im Dorfe, ber «Oeinjlin*
t&ebeutung erfannte: ben Krämer aufzuwiegeln unb ihm abfpenjtig ju machen.
6ie gebachten bamit einen Mann wie ihn, bi* jur SRiebrigfeit ihre* ©ebote*
}n beugen, unb ihm ihren $BiUen aufjubruefen, al* wäre er $Bach* für ba*
fchale Dorfjtegel. ©eil ihrer »iele im Ülate (aßen, glaubten |Te mit ihrem
lufammengefchloffenen unb »ereinigten Serftanbe ihm beijufommen, ber nur
ein einzelner fei. 2lber wenn h«nbert ^reujer einen ©ulben aufmachen, fo
geben hunbert Äreujerf6pfe, wie bie, noch immer feinen £opf oon (5belmeta0.
fr welle ftch ebenfogut »or ihren ^>flug fpannen laffen wie ein 3ugtier,
al* ihnen nachzugeben. <5ie foüen einen «Kann feineägleichen noch fennen
lernen, ben bie ungerechte ffielt plagen, aber nicht erniebrigen f6nne.
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112
ffiüfcflm ftifd)«: : #an6 $etnjlüi.
Vabci fdum er r>efttg im gewölbten ©emadje bin unb her, unb
flampfte juweilen mit bem ftuße auf, al« wollte er etwa« SBibrige« unter
ffet) vertreten.
Die $od)ter l)ielt e$ in iljrem ©inne burdjau* mit bem Dorfburger*
meifter, ber £ein$ttn an feine 2*erpflid)tung mahnen, unb felbft, mit ben il>m
billig fdjeinenben Mitteln, nötigen wollte, fte ju erfüllen. 2CUein fte burfte
bie* nid)t frei »erlautbaren, um ben SBater nid)t $u frdnfen. Da* gr6ßte
vOcrjclcib hätte fte it)m angetan, wenn fte benen red)t gegeben hätte, bie er
für feine ©egner hielt, unb nid)t ihm. So mußte fie gebulbig feine in
ftoljem Seibe oorgebradtten klagen anhören, bie ftd) trieber n>ie ein bunfler
Sorljang vor bie 3ufunft legten unb ihr ben troülidieu 2fu*blirf benahmen.
Sic wagte nur bie fanfte ©emerfung feiner flurmtfd)en Siebe entgegen
ju fefcen: „3 ber, Sater, Arbeit, bie ein* fann unb bie einen be*balb freut,
wie bie beinige, bie ifl ja immer gut, von wem fie auch geheißen wirb. Du
bift alleweil in beinern ©igen, wenn bu foldje Arbeit ant)ebft. Unb ein
grember, ber bid) ju beinern Eigentum fdjicft, meint'« oielletdjt bod> nid)t
fo Wimm mit bir, al* e* beim erften SMtrf fdjeinen f6nnt\"
Da mar aber fdjon fteuer im ©ad).
„O bu mein ©Ott, braute!, wo tyafl beine Bugen?" rief er. „$Bte
willfl e* benn anber« fet)en, al« wie'* ifl? eine 8>o*t)eit gegen beinen Sater.
3bm ba* Vebcn noch (eibiger ju machen al* e« fdjon ifl. Wltin einziger
$rofl war immer, baß bu e* fühlen fannfl wie mir jumut ijt, nidjt Hüffen.
Da* fag' id) nidit, aber fuljlen. "üBifFcn rann'* nur einer, nad) beffen SXat*
fd)luß ein jebe« 20?enfd)enteben unter biefer Sonne bem ®rabe |uget)t; ja,
nad)bem e* ba* lieber burd)gemad)t hat, ba« mit bem erflen Xtemgug
anbebt, ber ein junger nad) ?uft ifl; bann ein junger nad) 91al)rung;
bann fyater nad) etwa* anberm, feinerem; aber immer ein junger na$
etwa«, ber nie gefüllt wirb, bi« er nidjt julefct »om $ob erfdttigt wirb unb
auftjdrt ju fein. Sßiffen fann'* nur ©ort, wa« in mir ifl. ©arum bin
td) fo, wie id) bin? «£atf id) nidjt anber« fein f6nnen? Die (Bonne gel>t
ju SKorgen auf unb ju Xbenb nieber; aber ba« $or ifl jugemadjt worben,
wo meine Sonn1 aufgegangen war'. 3d) hab1 fte nicht gefehen. ÜBarum?
Sie ftrag1 ifl tiefer al« alle ^Baffer, bie in ber Grrben ftnb unb and $age£*
(id)t fommen, um al* Duellen $u $al ju rinnen. Denn bie Antwort auf
bie grag' wirb nie al* Duell an* $age*Iid)t fommen, fonbern immer in
ber liefen oerborgen bleiben."
dr feufftte fd)wcr unb fubr bann fort:
„3a, warum ijt e* mir immer fo ergangen? 3d) bab' ja aud) was
9ted)te* woßen. Unb i>aV ben rechten 3ßeg nid)t gefunben. ÜRir t)at ber
Sßegweifer gefehlt. Die red)tc ©timme war gewiß ba; aber id) war nid)t
wad). 3d) bflP1 gefd)fafen. SÄein ^eben war ein fd)werer ©d)Iaf. Unb
bie ©rimm' tjab' irf) nidjt »erflanben. Unb bod) muß id) fie »erfleben; benn
fie tft ja mir gegeben worben unb feinem anbern. @ö ifl meine (Stimme.
(5ija, id) muß fte vcrflehn, wenn nid)t jefct, fo fpdter. ÜBenn ber fommt,
ber jeben junger flittt, unb ba« Sebenöfteber aufbort unb wir wieber ge<
funb werben: wenn ber Job fommt, bann werb' id) bie StimnT Gerüchen,
aber nidjt el)cr. 3a, ja, fo ift% ^rautel, mit beinern armen Sater."
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X ©uppcr : Sic ber Äbam ftarb.
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9hin famen il)r bie Sranen in bte Äugen, a(* fie ii)n »einen fafc.
Unb fie triftete ihn, wie fie nur Pennte, beteuerte ihm Ijcrjlirf?, baß jeber
fein ©efd)luß von ihr geachtet werbe, unb baß fie beibe ja nid)t anber*
rennten, a(* e* mit einanber gut ja meinen. So habe fie cö aud) mit bem
Änftnnen gut gemeint, baß er ba* ihm gebotene 5Berf ju (Snbe führen fottte.
9Brnn e* ihm aber nidjt in ben 3BiUen eingebe, fo werbe fie ihre Meinung
aud) nid)t gegen bie feine fenen.
„3a, ja, bu bift mein liebe* $6d)terl," fagte er unb troefnete ftd) mit
bem $afd)entud)e bie Äugen; „unb je$t fann id) wieber (ad)en, benn bei«
©efidjtel ifl ein fonniger ©rönnen, wo bie ©djatten baib barnber l)inweg
gleiten, unb e* gldnjt wieber au* beinen Äugen bie lid)te ©utljeit ju
beinern 23ater."
(Sortfefcung folgt.)
XOic bei Zbam jtarb.
©füie »on X ©upper in Sali».
3d) war babei al* ber Äbam ftarb.
3wei 3age vorher hatte man mid» ,511 bem dauern gerufen. 3dj fpanntr
weinen Schimmel ein, fuhr hinauf auf bie raube Jpchc, auf ber be* Äbam*
J?cf jwifdjen ben fdjlediten gcbrenbejtanben liegt, fab mir ben 97?onn an
unb wußte, wa* cd gefd)lagen hatte.
Xm anbern Sag fanb id) ben Äranfen beffer. Gr !)atte foeben »oro
23ett au* für jmeitaufenb «Warf 9>a»iert)olj au* feinen ffiälbern »erfauft,
ba* wirft auf einen ©auern »on Äbam* ©orte (iimulierenb.
Äm britten Sag tarn id) jufi $um Sterben.
©tili unb oerlaffen lag ba* #au*, nur ba* jungfle ber Äbam*finber,
ba* aud) wieber ein Äbam war, umtanjte in ber ©tube be* SSater* ©ert
unb merfte nid)t, baß ein anberer Sanier mit £ippe unb ©tunbengla* im
begriff war, anzutreten.
„Oucf Satter, guef !" jubelte ber flad)*f6pftge ©ub unb jeigte bem
SDtann eine felbftgefertigte ^)eitfd)e. Äber ber anbere, ber UnfTd)tbare, fd)ien
bem ©auern aud) etwa* ju jrigen.
2ßa* e* war, weiß id) nid)t. 3d) weiß nur, baß ber SUfann auf ber
©ettflatt, in ber er bie langen ©eine nid)t »oUfidnbig au*frretfen fonnte, an
bie niebrige, getundjte Decfe ftarrte mit ganj großen, glajigen Äugen unb
für feine* Süngften <Pettfd)e feinen ©lief übrig fyatte.
Da f)ieß id) ben ©üben l)inau*gel)en. Äber er reefte nur bie rote
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X ©Upper: 2öie ber Ubam darb.
3unge berau* unb ging nicht. 9hben bem weißgeftriebenen Schrdnfdjen in
brr bintcnlen Stubenecfe fauerte er (7* auf ben ©oben, hefte aud ben
Scbranffdrtern ÜBfirfelbecber unb ein febmierige* äartenfpiel, fchlug mit
ber Keinen ftaufi auf bie Diele unb febrie, fein tftüci Äinberftfmmcben $u
feltfam Reiferem Zcn jwingenb: „Trumpf rau$!"
Der Sftann auf bem ©ett grinfle. (Sin Polle* Machen tarn nicht
mehr Ijeraud.
(5* ift auch feine Sache jum Sachen, mit 46 fahren bapon ju muffen
unb acht mutterlofe, noch nidu perforgte Ätnber bahnten ju lajfen. ©e*
fonberÄ, wenn man wie ber Äbam ein SKann mar, groß, ftarf nnb gerate
wie ein 28ie*baum, mit einer berben ?eben*fraft unb Sehen äfreubigfeit nnb
ber brutalen SBelt* unb Dafeindliebe eine* eifernen ©auernfärper*.
„Star bem 31bam fo't fleh $ob unb Teufel furchte," fagten bie Dorf*
leute, al* ffe harten, baß er auf bem legten Jager liege. 21ber biefe beiben
ffnb riebt furebtfam. ÜBenigjten* ber $ob nicht. Da* fann ich bezeugen.
Unerfchrocfen ging er bem ©auern ju Seib, 3d) ftanb baneben, hatte meine
paar ÜEirturen jur J£anb unb fam mir por wie ein winjiger 3werg, ber ben
fjeranfdjreitenben liefen in bie Stiefelfchdfte jwieft, um ir>n im Saufe auf*
juljalten.
Sffiie e* bann ber Teufel mit ber Sttacblefe gehalten tuit, fann td) nicht
fagen. Der Pfarrer, ben ich fonfl al* einen Qttann Pon 3Bort fenne, bat
am ®rab behauptet, be* $oten Seele ruhe in Ootte* #anb.
Eber fo weit ffnb wir nod) nid)t.
3flfo ber Äbam lag unb ftarrte an bie Decfe. 3d) framte am $ifcf>
lautlo* in bem armfeligen Brfenaf, ba* unfereinem jur SBerfugung (lebt,
wenn e* gilt, ben legten Fußtritt, ben legten £ieb unb Stoß be* (gewaltigen
ptefleid)t ein wenig abjufcbwdcben: ein bißchen itber, unb ein bißchen
Äampfer unb ein bi*cben piel pon bem ®efül)l elenbefter Unjuldnglicbfeit, —
wie ba* eben fo ift, wenn ein Doftor foll leben helfen unb nicht einmal
weiß, wie man frerben hilft»
Da perlangte ber Äbam pldfclid) nach bem Pfarrer.
Sticht* lieber al* ba*.
3d) frhe in ben geifHtcben Herren fchon fo wie fo aQejeit unfere
naturlichen 2(ngrenjer; aber an Sterbebetten laffe ich ihnen unbebingt ben
Startritt, ©efonber* wenn einmal mit Äampfer unb ither ufm. nicht* mehr
ju machen ift
3ch fage alfo ju bem fleinen 2fbam in ber Stubenecfe, er fott fchneU
feine ©efcbwtfter unb bie Sttagb rufen.
Der blonbfepftge Spieler wirft erft noch mal <Pafch, bann fchleubert
er unwiUig bem imagindren Spielfumpun ben ©ecber hin, ruft: „Du fommfr,
Bichel!" fpringt auf unb ftretdit jTch über bie Seberhofen.
fan\c\ ftrcfr er bann bie #dnbe in bie Safeben unb erfldrt: ,,D' ©ret
unb '* Hnnemeile unb b' Jtdtter fenb in be tfrummbtre, ber Bichel unb
ber Ptrieber fchneibet #aber, unb ber Joanne* holt mit 'em Safob Stange
im hintere «fitalb!"
„Unb bie Stfagb?" frage ich Dringlich.
„Die ifdjt porig mit ihrem Scha$ tjintcr ber Drefchmafcbin' g'jianbe."
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X Suppcr: 5Bie ber 71 fr am ftarb
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£aS ifl alle* gan$ in ber ©rbnung fo. 3um Äartoffelljolen, jum
£aberfchneiben «nb ©tangenfüljren get)6ren bie rüfligen Gräfte ber (Teben
©efdiwifler. £en tobfranfen Sater einige Sttachmittagäfrunben tjinburd)
Zuteil, baö fann ber 2(bam mit ber SWagb, bie fo wie fo nicht oom J£aufc
weg barf, weil baö Siel) im 8taU auf bie ©tunbe f)in fein Butter braucht
unb gemolfen fein will. SD? an wirb boch in einem rechten &auernt)auö bem
Stet) nicht* abgeben (äffen, 9?icht einmal im „J^euet" ober in ber (Srnte;
»tel weniger, wenn nur ber Q>auer flerben will.
3d) ging and ßammerfenfler unb rief ber 9£agb. <5o tüchtig ber
fletne Äbam fdjon im Marren* unb «ffiürfelfpiel ifl, fo wenig bringt man
ir>n baju, etwa* ju tun, ju bem iljn ber ©eifl nidjt treibt.
„fcdrbele," rief id) in ben £of hinunter, „rjole fdjneU ben «Pfarrer,
bein Setter will Serben."
„Setter" nennen bie DienfHeute bort oben ben J^errn be* #aufe$.
Unmutig fab, ba* 33arbele auf. $Öer wollte it)r ben 3orne*blicf per*
argen. Jfticnt jeben Sftachmittag fonnte fie fo ungefl6rt bei ihrem grieber
neben, unb gerabe heute mußte ber Sßauer nach bem «Pfarrer perlangen!
2(ber ffe ging trogbem. Da* fcarbele ifl noch lange feine pon ben
i&cfjlimmflen.
Sangfam breiteten ficf> 21brnbfd)atten über bie $6r)e brausen. Son
weit l)er, Pom äfllichen $ori$ont rücften ffe Ijerüber. 5Bie bunfle 9?ebel
famen fie angewallt, ungeheuer, unfaßbar mit leifem, fd)leid)enbem Äagen*
tritt. 3d) flanb am ftenfler unb far) ffe fommen. hinter mir Ädjjte ber
fcauer, rollten bie «EBürfel unb tiefte bie alte Ut)r.
Steinen biefen Gimmel, ber über ber ©trage brüben in be* Ockfen*
»irr* fchmufcigem ©afltlall ftanb, horte id) mit ben Dufen fcharren unb
fd)lagen, al* wolle er jum 31ufbrud) mahnen. 2fber id) rebete mir ein, id)
fc*nne ben 93auern, betfen fieben altere Äinber fo orbentlid) bei ber Arbeit
waren, mdu allein lallen, um nun auch mrinerfeit* meiner 'Arbeit weiter nach5
jugeben. Unb überbie* intereffferte mid) ber Ball, riefer $aÜ, in bem
einer, ber mit ber legten ^afer, ber legten $Öurjel feine* gangen (Sein* unb
«IBefen* am farten* unb Würfel,? wein* unb meibburdjfefcten Seben l)ing, fleh
mit bem $ob unb bem «Pfarrer au*einanberfe$te.
©o blieb id) benn unb fab bie 2f benb* unb bie $obe*fd)atten naberrüefen.
3m J£of würbe e* jegt laut. Xsie ©efdjwifler famen rjeim Pom Xefer
unb ÜDalb.
3d) fal) unb l)6rte, wie bie ©6l)ne bie £)chfen au*fd)irrten unb forglieb
unter Dach brachten; aber id) rjörte nicht, baß einer ben f leinen 3bam, ber
au* bem Äammerfenfler bliefte, nad) bem Sater fragte.
„Der Doftor ifl bo", fdjrte ber Q3ub, ba murrte bie ®ret, inbem ffe
ffcf> bie fotigen ©cfyufye mit bem ©taQbefen fauberte: „<5cho wieber!"
(Sie hatte recht. 3d> hätte fönnen ruhig ben ®ang fparen; ihr Sater
wäre auch ohne mid) in ber 9?acht, bie jent rafd) Ijeraufjog, geflorben.
Älappernb, al* Ratten jte ßoljfchurje an ben müben Büßen, famen je$t
bie ©efchwifter naeheinanber in bie niebere ©tube. Sie brachten ©tallbüfte
unb ben fcharfen Oerud) Pon frifdjer, feud)ter @rbe mit. Da« ifl fein guter
©eruch für 6terbenbe. ^ie leife, ferne 2fl)nung ewig ftd) erneuernben «eben*,
8«
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X ©upper: ffiie ber Qfoam ftorb.
bie barin liegt, fafiVn fte nicf)t mefyr; nur »om nafyen ©rab rebet ju ifyneii
ber (Srbgerud).
Unruhig breite ber ©auer auf feinem £ager ben Äopf.
„<So, fenb ihr bo?" fragte er gleidjgültig.
„'t ©drbele Ijolt be Pfarrer/' erjabjte mid)tig ber 3üngfte.
Da ging et burd) bie fleben anbern wie ein wudjtiget, plumpe*
Srfdjrecfen.
„©rot)!'* benn e fo?" fragte aud> ber $rieber, ber faft fdwn fo lang
war wie fein SBater unb mit feinen jweiunbjwanjig 3af)ren in fur$em ber
#ofbauer fein würbe.
„Ä6nnet ©e iljm benn nir metj gea?" wanbte fTd) bat »nnemeile
an mtd).
jd) fagte bat alte Sprudle in »om $ob, gegen ben fein Jfraut ge*
tracfifcn ifl; aber mir entging nidjt, wie trogbrm bie klugen ber fiebert einen
SKoment lang ffd) »oll ®eringfd)d$ung auf tmct> richteten. Die ©ret ent*
jünbete jci.it bie Vampe über bem Eifert, nahm bem fleinen 2foam üBürfel
unb .karten aut ben J^anben unb legte beibeö auf ben hoben 33orb über
ber $üre, reo bie $6pfe mit faurer SWifd) ftanben. SlatloÄ, »erlegen unb
»erfdjeud)t ftanben bie ©efdwifter. Seit weg »on bem fdjmalen ©ett an
ber ffianb gelten fle fld), alt brob,e »on bort r)er ©efatjr.
Durd» bie warme 9tad)t jog je$t bünner, müber ©locfenfiang.
,,D' ©etglocf lautet/' fagte bat 21nnemetle.
,,D' ©etglocT lautet," wteberljolte leife ber ftrieber.
(St mar, alt feien plÖBlidi aüe biefer Xblenfung froh. 3m Äreit
umftanben fle ben Sifdj. Die fchwieligen, jungen J&anbe fdjlangen ftd>
tneinanber, tief neigten fcd> bie Ä6pfe.
„Xbamle bet'!" fagte bie ©ret.
„$ef bu!" gab ber ©ub jurütf.
Unb bie ©ret betete: „Siebfter SWenfdi, mat mag bebeuten biefet fpare
©locfenlauten? <&i bebeutet abermat beinet Sebent 3iel unb 3at>l ! Diefer
Sag hat abgenommen, halb wirb aud) ber $ob t)erfommen. Drum, o 2)?f nfd>,
fo fd)irfe bid), bafl bu jterbeft feliglidj."
„31men," fagte idj. (St fam mir fo in bie Steele in biefer <5tunbe.
©te fat)en wieber alle ju mir her. 3d) glaube, mein 21men hat fle aut ber
31nbad)t gebracht. Der ©auer liebt feine 3mpro»ifationen.
jciit flang bet sPfarrherrn roud)tiger ©djritt im $(ur. 3d> habe biefen
<5d)titt in man diem Qtauernfyaut auf ber Jjohc gehört, unb jebetmal bat er
mir ein inner(id)et ?dd)eln abgenötigt. 2Bar et bod) eigentlich nidjt bet
Scannet 6d)ritt, fonbern nur ber Schritt feiner breiten, plumpen, ndgrl*
befd)(agenen fcauernjtiefel, bie ein armet ©djur/madjerlein ber ©emeinoe
nad) beftem SBiffen unb Tonnen mad)en burfte, bem pfarrl)errlidjen ®elb#
beutel ebenfo julieb, nie bem alten «Kannlein, bat wenig Arbeit fanb in
einer ©egenb, wo bie golbene Sugenb faft bat ganje Satyr l)inburd>
barfuß lief.
Det ^farrljerrn eigentlicher Schritt hdtte leidet, fidjer, feelenrubja,
fd)lid)t fein müffen, ein <&d)titt, ber nie flraua^elt, nie eilt unb nie in
bie 3rre geljt.
X @upper: Sie ber Sbam florb. 1 17
Der Pfarrer flopfte unb trat ein. dr »artete fein herein ab. <£t
wußte, baß man tr>m ba* al* eine ganj unnötige, ja ungeifHidje ©orneljtn*
ruerei angerechnet t)Ätte.
<£r grüßte aud) bie ®efd)wifter nur furj, reifte mir nur flüchtig bie
«£anb. Der 3bam wollte fierben; — alle* anbere ging tr>n nicht* an.
tiefer Dorfpfarrer in ben unmöglichen ©tiefein unb bem »ertragenen
3fnjug, biefer berbe, fnochige «Kann mit bem rötlichen «öocf*bart, ber au«,
fleht, al* »erbe er nur flehen gelaffen, um ba* «Xafleren ju »ereinfadjen,
er nr einer »on benen, bie nie ba* Unnötige unter ba* Nötige mengen.
(5r $og ffcfi ben Stuhl an be* Äranfen ©ett, nahm bie fdjwielige,
fdjon erfaltenbe «öauernl)anb in feine jwei großen, leben*warmen J&anbe unb
fragte: „£ennft mi no, ftbam?"
3ch weiß, baß biefer fierbenbe «£auer in feinem berben Reben ben
Pfarrer nur bem TKccf unb bem tarnen nad) gefannt hat. 3d) trcijg, baß
er ihm nur eine 21rt beiläufiger Xd)tung entgegenbrachte, bieweil ber
geiflliche J£>err nie burd)* Dorf ging, oljne baß bie langen ftlügel feinr*
SXocfe* aufgebaufcht waren »on allerlei guten ®aben, bie tfranfen unb
3hrmen beftimmt unb jugebadjt waren. «ißa* ein Pfarrer, wa* infonber*
fftit biefer Pfarrer fonfl noch ju geben bat, ba* hatte ben 2(bam nie »iel
gefümmert.
Tiber jefct fab ich am ©lief ber trüber werbenben Äugen, baß ber
«£auer beim Pfarrer etwa* fuchte, ba* mit aufgebaufd)ten «Jtocftafchen nicht*
JU tun hatte.
„C, #err Pfarrer," fagte er leife unb fdjwcr, wie ein angflgequalte*
Äinb „o «JÄutter" fagt.
25a fefcte ffcf> ber Rotbärtige juredtf. «JTOir fab e* au*, al* legte fleh
ein gute« «pferb in« 3eug, weil e* ben ©erg ahnt, über ben bie fdjwere
guljre gebracht fein Witt.
„21bam," fagte er, „jefct frißf* burd) e' bunfel* ®aßle gelje! Eber no
l'friebe, Äbam, '* geht alleweil ber £eimat jul ffiijfet 3ljr no »on ber
Äinberlehr' l>er, wie unb wem wir (Shrifremenfdje lebe unb fterbe foHet?" —
Der «Sauer ftarrte mit feitwdrt* gewenbetem .topf am Pfarrer »orüber
in* Rampenlicht.
Rautlo* ftiU war'* in ber bumpfen Stube.
Da Hang e* noch einmal eintönig von be* Pfarrer* «Jföunb: „«ißiffet
Cshr nemme »on (Surer Äinberlebr' Ijer, wie unb wem wir <5f)riftemenfd)e
lebe unb (lerbe follet?"
«JBarum foH id)'* leugnen? — «JÄir lief ein leife*, falte* ®rauen über
*en Surfen. «Keine «Kutter fachte ich l)er»or, bie fromme, tote, alte, unb
meine eigene „Äinberlehre", unb id) befann mid), id) würjlte blifcfdjneU mein
eigene* innere auf, ob benn etwa id) an be* erfaltenben Bbam* ©teile bort
gewußt IjAtte, wa* biefer «öauernpfarrer fö jdr» erfragen wollte.
Steine Äugen hingen an 2(bam* SWunb: mir war, al* muffe ber
Antwort geben, aud) für mid).
'* ifdjt lang' !>er, J^err «Pfarrer!" flang e* je$t ganj mübe.
,,(ang' i»V* her" rief aud) etwa* in mir.
Der «Pfarrer fd)üttelte unmerflid) be* «dauern J^anb. 9*id)t wie ein
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X ©Upper: SBic ber £&am jhrb.
Söorwurf ober wie eine Ärgerliche Erregung fal) e* aui, oiel eljer wie eine
Ermutigung.
„'* ifd)t lang' l)cr; aber'* gilt immer no, wie'* bamale* gölte tyot:
£err 3efu, bir leb' id), bir leib' id), bir tferb' ic^!"
®ang fd)lid)t fprad) ber Pfarrer, ob,ne jebed ^atljo*, wie man SBarjr*
Reiten fprtd>r^ nid)t ©orte.
3lm Sifd) brüben fd)lud)$te auf einmal ba$ 2lnnemeile laut auf. Der
f leine 3lbam fragte: „'Ann cm eile, worum Ijeulit?" 2fber er befam feine
Antwort unb mad)te ftcf> ndljer tjer an* ftußenbe Uinti 2Sater* ©ett.
Der .Äranfc ftüfcte pl6$lid) ben Äopf auf ben Ellbogen unb blirfte
mit aufflatfcrnber Äraft bell in be$ Pfarrer* @eftd)t.
„So folPe* fei, #err Pfarrer; wenn** aber dtt meiner Lebtag bei mir
net fo g'wefe ifdjt, wie folPe* no im Sterbe werbe?"
3d) fal) ben Rotbärtigen an unb war froh, nur ber Doftor ju fein,
von bem man über Kämpfer unb Arber l)inaud nid)tö mehr oerlangen fann.
Aber ber Rotbärtige jutfte nidit. (Seine Xugen blitften flar wie {■«
vor hinter ber ©rille, unb tfatt in ©aufd) unb ©ogen eine gute probate
Verhaltungsmaßregel für fold) ein ©auernfterben $u geben, fagte er ganj
einfad): ,,<£ud) brueft ebbe*, 3bam. ?abct ab, ftreunb, labet no ab. SBentt
3f)r bei mir ablabe w6ttet, na follet bie ©übe unb 2Rable au* ber Stub*
stehe; wenn 3t)r aber beim liebe Herrgott bireft ablabe wollet, f6nnet j^r'ö
aanj in ber Stille abmale, unb i will halt mit @ud> bete."
Um ben, »on fdjwarjen ©artjtoppeln umgebenen SÄunb M ©auer,
rloa, ein 3tg »on Stolj.
„Die ©übe unb SRäble unb au ber Doftor follet no bobleibe! 5
bau meiner Lebtag nir bo, wo mer net mijfe berf. fflo g'rnb g'fpielt bau
i bic unb bo, ober über be Durfi trunfe. <&n b'Äirdj bin i au net oft
gange, 'ö bot mi immer g'fdjläfert bo brinne. Sfto bau i ät6 benft: Xbam,
fdjlofe fannjl bafyeim bejfer. 3fber fonft Ijan i nie nir a'g'jteUt, wa* mer
net wiffe berf."
Der Pfarrer fal) oor jtd) l)in. 3d) fal) feine großen, weißen $iuger
unruhig ffd) bewegen, wie e* bei beuten jutrifft, beren Jßirn rafd) unb
intenfto arbeitet.
„So, fo," fagte er, unb er für ad) plöyüd), unb wie mir fdjien unbc
wüßt, t)od)beutfd): >,3ljr habt alfo ntdjt* befonberee ab$u laben. Aber Ab am,
xö) bittt Sud), beffnnt (Sud), habt >r nie lieble* gebad)t, gerebet unb gc ■
l)anbelt? Denn 3t)r müßt wiffen: Die Sünben, bie gegen bie £iebe gefyen,
ba* |lnb £umeifl bie verborgenden unb immer bie fd)Werften in eine* SWenfdten
?eben. Da* ftnb bie Sünben, bie nidjt ruf)ig fierben laffen, benn ,bie
Vicbr ift bie ©rößefte unter ihnen'; unb wer biefer ©roßeften in* ©eftdjt
fd)ldgt, ber fann nimmer jum ^rieben fommen, utdit im Veben unb mdjt
im Sterben."
Sief unb »ott flang be* Pfarrer* Stimme, wie ©locfenton.
Die ©ret, ba* robufle ©efen mit bem StaUbuft in ben Xr6cit*Heitarit,
fd)ob fid) an mir »orbei jura Sterbelager, nahm ben 3ipfft tr>rcr leinenen
Sdjürje auf unb troefnete bem ©auern, ber immer nod) auf ben Pfarrer
ftarrte, ben Sdjweiß oon ber Stirn.
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TL. Supper: Sic Der Xtam farb.
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„Satter," fd)lud)$te ba$ 2lnnemeile, unb bie ©üben ftanben mit feit*
fam l>tlf(ofen ©efidjtern beifammen.
9iur ben fleinen Äbarn fal) id) auf finen Stut)l Uttum unb nad)
ben weggelegten SÖürfeln fingern. <Sr tarn ofenbar am Totenbett brd SBater*
nidjt auf feine Äoflen. 25er ©auer legte (cd) jurücf unb jldtjnte auf.
„So, fo," fagte er jweimal, „fo, fo!"
Dann, al$ fei ifyut jefct ein richtiger ®ebanfe gefommen, feierte er fid»
wieber bem Pfarrer ju. $ßad in feinen weit offenen Äugen gefdjrieben
tfanb, fdnen mir eher eine Xrt naiver SRcugierbe ju fein, afö brünfttgeö
J&eiläoerlangen. „SWei 3Öeib, b'tfatter, t)an i aUbott1) Mauel Meinet
Sie bed, Jßerr Pfarrer?"
Der iXotbarttge nirfte faum merflid).
„3 f)an fe au immer tyärt nag'laffe mit ber irbet."
^Bieber niefte ber Pfarrer.
„®elb l)an i il)re au ner »tri gebe."
Der Pfarrer niefte.
„3 ijann fe au nie mttg'nomme, wenn i j'Sttarft ober fonit über ftelb be."
Der Pfarrer niefte.
„3 i)an ir/re net oft a ®'wanb fauft."
Der Pfarrer niefte.
Ded dauern Stimme mürbe mit einem ÜÄale dngftlidjer unb weinerlicher.
„3 I)an iljre nie en 3ßef in* $aui to unb ffe J)ot bod) fo »iel
Jtinber fyau muffe."
®anj reglos faß ber Pfarrer.
„3n jebem Äinbbett t>t fe mujfe am britte Sag »ieber raue\"
Der Pfarrer rührte |Tdj nidjt. 2Btr ballten ffdj bie ftaufte. 3d) fenne
fie aügugut, btefe ^Bauernregel mit allen itjren folgen.
„31)* »aret ein Unmenfd), 2(bam," fagte id) laut.
Sie faijen alle $u mir l)er, erflaunt über bie weltliche öintmfdjung.
fflax ber Pfarrer blicfte nicht auf. „Sßeiter," murmelte er.
Xbam fuhr unruhig mit ber #anb auf bem rotgeflreiften Ted bat hm
unb t^er. Seine Stimme Hang je$t wie ein Ijetfered Sd)lud)jen. „2Bie
ber leijf jJ?u fomme ifd)t, mei Xbamle, t>ot fe am britte Sag* net ufftchc
wälla. fflo ifd)t mir ber Sern fomme, ine" SR6fJle bin i nunter, inö Unter«
berf, unb wie i bort fffc' unb tattV, fommt b' ®ret unb fait : — — — '*
„SDiidicl, bu £errgott$lump, bu bift am Stid)!" rief in biefem Xugen*
Mief ber fleine 3lbam »on ber Dfenbanf f)er, wo er oertieft in fein Spiel
mit ben wieberergatterten harten flanb.
3d) far> beö" 'Pfarrer* @eftd)t einen 2lugeiroTwf lang »erjerrt, wie
wenn ein grofler Sdjreefen ober ein jdt)er Sdjmerj barüber l)inge$ucft wäre.
Der ©auer aber beefte bie £anb über bie 3lugen unb ftdljnte: „£> tfdtterle!"
@ine Sßelt non ®ewiffen*qual lag in bem 5Öort. 3d) wanbte nud) um unb
fat) in bie Sttadjt buiauo, bie in fdjwerer, [rfimarjcr 3Bud)t jtd) an bie f leinen
Scfyetoen t>erbrängte. Unb in ber Sd)wdr^e ba brauf en fah id) baö $Betb'
(ein mit bem bünnen £aar|opf, bem Äropfanfaß, bem faltigen, reijlof en
') %ann unl wann.
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X ©Upper: SBie ber Qttkwn ftorb
@effd)t. Och fat; ffe flehen mit iljrem fcbmachtigen, ju $ob' gefchunbenen
?eib, unb ich fah fle auf einmal wadtfen, wadrfen, warfen ju einer SRieftn,
bie Unmenfd)liche« burch ein Wenfchenleben fchleppte.
3cf) bin fein reicher Wann; aber ich l)atte in jenem Bugenblicf fjunbert
3tfarf gegeben, wenn id) be« Xbam« $dtter, bie ich bei meinen fahrte r
über bie J^che fo bu$enbmal im Ärautacfer ober im Äornfelb hantieren fah,
nur ein eingige« Wal ein gute«, ein anerfennenbe«, ein bemunbernbe« ©ort
gejagt hatte. Tiber ba« ©eiblein f)attt midi nur immer fdjeu gegrüßt, id>
i!)r nur gleichgültig gebanft. Scheußlich/ biefe« ©efüfyl, ein bt6ber ^cMing
gewefen ju fein, unb nichts mehr gut machen ju fonnen.
©er ^Pfflrrer (tanb auf unb fuhr (Tch burch bie langen, »ollen J^aare,
bie in einem braunen Schopf über ber breiten Stinte lagerten.
M3d> weif," fagte er traurig, leife, „b* Äatter ift ganj allein
geftorben."
Die ©efchwifter am $ifd> unb ®ret neben ihrem Sater »einten mit
einemmal taut auf. 31« fei ihnen ber halboergeffenen Wutter $ob pl6$lid>
in ein ganj neue« Sicht gerüeft, fo gebarbeten ffe ft<f>. Dem $auer auf
jener £6he gilt nur ber laute Scbmerj für echt.
Vir Pfarrer minfte abweifenb mit ber Jßanb. <£r beugte ff* über
ben Sterbenben: „Saget 3hr immer noch: ,t han boch nir bo, wa« mer
net wtffe berf?* ©i|fet3l)r jefct, wa« ba« h«ß*/ gegen bie Siebe fünbigen?
3bam, 3bam, Ohr feib wohl ein belafleter Wann unb tut gut, abjulaben
vor ©otte« Shron. Denn cd ifl wahrlich ein fdjmaler Durchlaß, burd) ben
einer beim $ob hinburch muß, unb wer folch ein ©ünbrl von Siebloftgfeit
4>ncfeparf tragt, wie %i)r, ber mag leidjt flecfen bleiben."
Der fcauer flirrte bor fleh h»n. 3ch glaubte bei bem fchledjten Sicht
bie beginnenbc Agonie ju erfennen. Sticht mti)v bie brennenbe Dual lag
auf bem ©e(td)t. Wir fchien fa|r, at« raufd)ten bie fyodjbeutfchen ©orte
be« Pfarrer« bem £>f)r be« Jtranfen »orbei.
3Tuf einmal »erjerrte fleh ber Stoppelmunb, al* wollte er lächeln,
„fcünbel trage, be« fa' mei' Äatter, bie nemmt en fdjo," fagte er ganj
tangfam, wie au« einem Sraum hcrauö.
Jh flirbt," fchrie bie ©ret plofclich auf.
Der fcauer riß bie Tfugcn weit auf, al« habe ihm biefer 9tuf ein
Sraumbilb oerfcheucht.
J?err Pfarrer," feufgte er.
Der Wotbart fuhr in bie Ijintere SRocftafche. 3<h glaube, ba« war bei
ihm ein ganj inflinftioer ©riff, wenn er jemanb feufeen hotte. (Sin D6«djen
^leifchertraft brachte er tjeroor, fleefte e« wieber ein unb framte weiter.
<5nblich fchien er ba« Stechte erwifdjt ju baben. dr Ijielt mir eine Heine
ftlafchr h»n mit tiefbunflem ©ein.
„3d> barf boch? @« < mein Sterbwein. 3cf)nj&^rigcr Sofaier."
3ch niefte. ©er wollte biefem armen Dorfpfarrer wehren, einen ©ein ju
»erfchenfen, bon bem bie $lafd)e fünf öfierreichifche ©ulben ober noch mehr
feftet. 311« ,Sterbwein* fonnte er (Tcher nidjt« fchaben, fo wenig wie mein
Kämpfer nü$en würbe.
Der Pfarrer goß ein ^afdjenbecherchen »oll unb führte e« bem 3fbam
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X Wupper: SBie ber 3lDam ftarb.
121
an bie kippen, intern er ifjm forgfiefj ben müben Äopf fyocf)^ierr. Der «Bauer
fdjlurfte unb fchlucfte.
r„3ft>!** fagte er „afj," ale »ad)e nod> einmal alle* Sebenäberjagen auf.
Xann mtfdjte er fTd) mit jitternber £anb bie kippen ab unb meinte: „De*
tfcfjt mei SRachtmohl1) g»e\"
3uf ber Ofenbanf flapperten bie SBurfel unb rollten fotternb jur Srbe.
XJie ®ret na!)m bie ©djurje »om ®eftdjt unb rief: „3afob, nemm bod> bem
fcueble bie Söürfel."
£a ffüfcte ftd) ber «Bauer nod> einmal auf ben Ellbogen. „Raffet bod>
mei' «Büeble," murmelte er, ,/* ifdjt fdjo fo e g'fcheit'* «Büeble! Sbarale,
fontm' t)er, ^barnle!"
Die Stimme be* SWanne* brad), feine* jüngjlen Jtinbe* Sttame mar
ber lefcte ?aut, ber au* bem ©toppelmunb fam.
Stit bem SKotbart fchritt id) bie freile, bdfe treppe hinunter, @ine
©taßaternc gab fümmerlichen <5d)ein, unb au* ber (Stube oben gellte ba*
©einen ber UBatfen hinter un* her.
3d) mußte »teber auf be* Pfarrer* genagelte ©tiefei Ijerdjen, bie fo
f<fm?er unb brutal auf bem «£ol$ ber treppe fnirfchten.
3m J?of jtanben wir beibe (tili, }6gernb, »erlegen fajt, al* müßten mir
mdu recht, wie man nad> folgern Sntermejjo au*etnanbergeht.
„@* muß aud) folche tfauje geben!" fagte ich, um nur etroa* $u fagen.
X)er Pfarrer nahm meine #anb, gang haftfg, ganj impulfto, wie au*
einer großen, inneren «Bewegung Ijerau*, bie er nicht mehr jurütfbrangen
fenntr. „®ott fei ©auf/ fagte er mit »erhaltener (Stimme, „®ott fei Danf,
baß er ba* »on feinem 21bamle nod) gefagt hat! ®ute fflad)t\" Damit
fiapfte ber Rotbart burch* £oftor hinau* in bie dladft l)ine»n. Die ganje
lange ®ajfe hinunter ^6rfc ich feinen plumpen Schritt, bi* ifm bie Dorf*
hunbe uberflafften.
SRein Schimmel trottete feinen 5Bcg burd) bie ^infterni*. 3d) glaube,
ich ließ ihm gang unb gar bie 3ägel. Über meinen Xngren$er an Jtranfrn*
unb Sterbebetten mußte id) nad)benfen. Um .Harten unb ffiürfel regte ber
(ich nicht auf; aber wenn er ein .Hörnchen ?iebe, nur folcb ein armfelige*
Börnchen ha I btierifrf>cr Väterliche fanb, bann gitterten ihm bie £anbe.
<S* muß aud) folche Äauje geben.
^ bf wt Ol Q b l •
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Üirinnetimgm an Barl von pifcoll.
<8on ffitlbelm forte in granffurt am 2Bam.
•
<S& ffnb etwa ,jcbit Safyre Ijer, baß id) s))ibott in granffurt fennen
lernte. 5Benig Ghrlebniffe haften mit fo unoerminberter 8;rtfd)e in metner
Erinnerung wie ber Äugenblicf, ba ffd) auf mein Klopfen feine Xtelierrür
öffnete unb er »or mir ffanb. ©ogletd), nod) el) er etmad gefprochen, burd)*
orang mich bie (Smpftnbung: biefem Spanne naljjufommen, mußte ©emtnn
fein für* ganje Seben. Stticht eigentlich fd)6n, Ijatte feine (Srfcheinung etma*
ungemein Bnjietjenbed. £ie hochaufgefdjoffene fchmale ©ejlatt machte in
tljrer »ornetjmen ®efd)meibtg?eit ben Sinbrurf be$ 3Bot)lproportionierten.
Über ber fraftig gefdjmungenen Sttafe ftanben bie 2Tugen eng bei einanber;
ffe fdjauten energifd), wie alä ob fle mit 3angen jugreifen fännten, babft
lebte bod) im ©lief fo »iel t)erj(id)e Jreunblichfeit, fo etma$ frohltd) Schaff*
hafteÄ, baß bad forfchenb (Sinbohrenbe jebe 'Scharfe ju berlieren, ja meltnehr
ftd) in etmaä Grinfchmeichelnbeä $tt »ermanbeln fdn'en. Tic bebeutenbe
SMlbung beS STOunbeä mürbe burd) ben ein bieten befenljaft üppigen
Schnurrbart nid)t ganj jugebeeft.
3d) l>abe faum jemanb getroffen, ben nicht gleich ber erfte 3Cnblicf
$anj für 9>ibou* eingenommen l)dtte. ©eine 3rt ju fpredjen mußte biefeit
künftigen (Sinbrutf nur »erftirfen. 9»an füllte fofort, er mar ftcf> burdjaud
flar über alle* wao" er fagte, e« ftanb äße* greifbar anfchaulid) oor feinem
£enfen, allee* trafen hafte, aUti teere güUmerf fehlte feiner Siebe, bie ftrt*
nur einjig auf bie (Sadje abgelte unb jebed perf6nlid)e 3ur*<Sd)au*ftellen
uermieb; babei mar fein Buöbrucf hodift einfad), läßlich* bequem, unb ber
fompatt)ifd)e .klang feiner (Stimme befam burd) bie roienerifche ^arbung ber
3uöfprad)e nod) einen neuen, bei uns f>ierjulanb, mo ber prettßifche
Oargon ftd) tAgftcf) breiter macht, boppelt mtttfommenen SKeij. 3n feinem
SBefen unb ©ef)aben fdjien atlee" unmittelbare 2ftatur, nie and) nur bat
leifejte Enflopfen »on etmad ©emadjtem, ©emofltem, trgenbmte ©eabftchtigtem.
©o »ie er ffd) gab, fd)ien er ftd) geben ju muffen, unb jebe anbere QJtög*
lidjfeit einfad) audgefd)loffcn.
3d) hatte ihm gegenüber fein gan* gute* ©emtffen. 'Auf einen 3Tuf*
fafc über 3Rar6e$, batb nach beffen $ob in ber „ftranffurter 3*itung" »er*
öffentliche t)atu er mir Don «Parte au$ fein ,Mar&tibüd)<l" *) nach SKom
gefd)icft, ba* id) jmar mit bem größten @enuß gelefen, ihm bafür ju banfen
aber »erbummelt Ijatte. Unb je$t fam id) auch nur &u ihm, um eine Xn«
frage unfereä gemeinfamen greunbed Arthur ^olfmann, ber f?d) bamald
juerft auch ber SRalerei jugemanbt hatte, audjurichten. 3uf6 Siebendmürbigffe
half er mir über bie Heine Verlegenheit meg, unb balb maren mir im an -
genehmflen ©chmaften. (5r mar nicht nur ein ooUenbeter spiauberer, er bt*
Hui ttx fBrrf »tott einti Äunfrl««. (Jhrtnnerungfn an -ö ani «on Vlat€ti. — tai
«uO)lrin, nur aW Wanufftipt für ^trunbc af fcmcf r, ifr leitet wenig brfanut graorbrn. KrutrudT
unt Übergabe in ben BuAbanpet »5re ff$r }u wunf*en.
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Silpelm «portt : (Erinnerungen an Äarl »on tybofl.
123
faf bie gerate bei folchen fehl anjuerfennenbe ©abe, auch ben Partner ju
einem freien 2Jon*ber*2eber*wegreben ju bringen. Crr legte baumle, bie
legte J&anb an baä ©ilbnie4 bce* fpater burd) einen UnfaU fo traurig mus
?eben gefotnmenen graulein Goflmann, ba* nun feit einigen fahren eine
3ierbe unferer ©tabelfdjen ©alerie bilbet.
3unachit war ee" bae" 3ntereffc an ben 2J?aree$fd>cn ©ejlrebungen, wa4
un$ balb einanber naher braute. sBir machten aHmocfjentlid) jufammen
einen großen Spaziergang, unb nadjbetn er Pon <£ad)fenhaufen weg auf bie
Dorfen betmer (Shauffee gejogen war, »erfehrte ich, wie auch meine 2Äutter,
viel in feinem behaglich gafilichen #au$, bem bie fyeranroadrfenben fech*
bübfehen unb fingen Äinber noch einen befonber* anmutigen ©ehmuef »er*
liefen.
<£r n>ar ferjr mttteilfam, unb fo erfuhr ich mancherlei über fein
frühere* Veten.
3n ber Äinbljeit fyatte er mit feinen Altern — ber Sater war Oberer
oiterreidjifdjer ©enieoffater unb tfarb a\i ftelbmarfdjaO — Ijduftg ben 2fuf*
enthaltfort gewechfelt. 3fm langften fcheint er in ^rjmdl, bann in SXajtatt
geblieben ju fein. 25ie (Srjiehung war ferjr itreng. dt erjagte gern, wie
it>m einmal ein ©emü*, ba$ er nid)t hatte ejfen wollen, pueril am 2(benb,
bann anbern tag* jum grubfiücf, barauf beim SBittagejTen immer wieber
in neuer 3fufwdrmung alÄ einzige* ©ericht fei »orgefefct worben, bte er |Tdj
benn bod) entfehloß, eö reinlich aufkehren. «Seine Schulbilbung empfing
er auf bem £abettent>au£ in 9Biener*9*euftabt. 2fu*juoiel lueit er nicht ge*
rate von bem, wa$ ihm borten beigebracht worben. £ennoch bewahrte er
ber 3nfta(t eine gewiffe Anhangl ichfeit unb begab ffd> noch »on ftranffurt
au* $u einem Jubiläum borthin. £aö Sßteberferjen mit vielen £(a)Ten*
fameraben, nach mehr aW breiß ig Sabren, tat ihm feljr wohl, unb er er*
jählte mit einer 2frt fchalfhaftem <Stolj, baß er ber ftcflmejTe fogar bi* jum
echluffe mit anbarttiger Führung beigewohnt. @onf* wollte er »on Äirch*
lichem ganj unb gar nicht* wiffen. (£r bebauerte oft, baß ihm bie flaffifdje
(b. h- öie ©pmnaftalO ©Übung »erfagt geblieben. Doch fannte er bie
«£auptwerfe ber griechifchen Literatur au* Überfefcungen, namentlich für
ferner war er, ale- ed)ter 3Rar6eöfd)uler, begeijiert, auch $h"*9&to** &og
ihn lebhaft an t^erobot fannte er, fopiel ich mich erinnere, nicht), unb
von einer Aufführung ber ariftopbanifchen „5B6gel", burch Marionetten in
'parte«1) fprad) er als oon einem ber nachhaltigen bramatifchen (£inbrucfe,
bie er erlebt. gür rncnfd>ltct>*frcif 2lu*bilbung feine* ©etfled meinte er
am meiften bem 3>urgtl)eater mpfliduet ju fein, ba* er alö Leutnant au
abenblid) befudjte. 3n fpdtcren fahren ha"* « gleichfalls noch für ein
gute* ©chaufpief viel übrig. Unter ben neuereu Dramatifern fdjäßte er
vor allen 6hAfrfpeare, SWolifcre unb ©rillparjer. ©eru unb banfbar er*
innerte er jich ber ^6rberung, bie er auf ber £rieg$afabcmie burch bie Pon
•jefef ©eilen geleiteten Übungen im Deutfd) -Schreiben unb Sprechen er*
fahren. <5eiue erfle ©arnifon war Serona, bei (5uflo^a t)at er im ^euer
gefianben. 9Wit »ierunbjwaniig fahren war er J&auptmann im ©rofen
») «iftrn öfrUfct fcaribrt fintrt mart in *re Vie litt^raire »on Unatclt $wncr.
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Sötlbelm ^orte: Erinnerungen an Äarl oon tybofl.
©eneral|tab. %wti Satyr fpdter, 1873, machte er, auf f)6f)fren ©efehl, eine
mehrmonatliche 3nformationereife burd) bie geftungebegirfe im Elfaß, wobei
er al* SKaler auftrat, <£ei e$ nun, baß er ffd) in biefer Wolle fo gut ge*
fiel, ober in feinem wahren Auftrag fo wenig: genug, er fam mit bem feften
Entfcfcluß nad) ©ien jurütf, bie militdrifche Saufbahn, auf welcher ihm,
aller Söahrfdjeinticbfeit nach, rafchee SBoranfommen unb fd)6ner Erfolg ficher
waren, gegen bie hmfHerifche ju oertaufchen, auf weiter bem fall mittel i efen
jungen STOann ohne allen 3wetfel lange 3af)re ooll Entbehrung unb Sttot
gang ffcfjer beoorftanben. X>iee mögen biejenigen bebenfen, bie fpdter, al$
er in fefyr guten Serhdltniffen lebte, fp6ttifd) meinten, wer fo in ber ffioöe
ft$e, ber f6nne ftd) ben ?urue intranftgenter Überzeugungen ohne SXucfficbt
auf Erwerb leidjtlid) ginnen. Er bat nicht nur, bem julieb wae er für
feinen »abreit &eruf hielt, eine gldnjenbe 3ufunft jur Seite gefdjoben,
fonbem jahrelang feiner funftlerifchen Überzeugung uiltebe gebarbt, unb
wo ee ihm nicht fdjwer gewefen wäre, nad> ber üttobe oerfduflicbe Silber
ju malen, jog er, um feine ©effnnung rein ju erhalten, oor, f?d) mit £o*
pieren unb Sprachunterricht fauer genug burchjufd) lagen.
Er ging, naebbem er bie Einwilligung feiner Eltern erlangt, nad>
SWünchen,1) wo er $B6cflin feine 3eid)nungen unb Stubien oorlegte. Der
riet ihm, feine Äfabemie ju befucfjen, oielmeljr fogleid) nach Italien ju geben
unb bor allem fein ©ier ju trinfen, unb nahm it>rt bann in ftlorenj al*
Schüler an. ^iboll erinnerte ftd) ftete mit Vergnügen unb Danfbarfeit ber
im Söorfltnfcficn Äreid oerlebten 3at)re, bod) ben ?ehrer, ber alles feinen
gewahren ju f6nnen, wonach ber 3ünger ftd) nur (ebnen mag, ben fanb er
er |t in J&anö oon 9Rar6e6. 3Bie er biefen oerftanb, wie er ju ihm fianb,
bae hat er felbtf in ben bereite* ermahnten „Erinnerungen" gar fdjdn bargelegt.
3u 9tom war er eine 3eitlang Sefretdr bee SKaltheferorbene; er gab biefe
einträgliche Stelle, bie ihn bod) nur maßig in Xnfprud) nahm, unbebenfltch
wieber auf, al$ er erfannte, baß ed ffch fdjwer oereinigen laffe, jugleid) ein
gewiffentyafter Beamter unb ein gemiffenfyafter Äunftler ju fein.
©alb natft feiner SSerljeiratung ging er nad) Suremburg, ber Heimat
feiner grau, oon ba nod) einmal für längere 3eit nad) SRom, bann auf
»erfdjiebene 3ahre nad) ^aris. ©a$ ihn baju bewogen, barüber tyat er ftd)
nie fo red)t beutlid) auegefprodjen. Sicher ijt, baß SD?ar6e$ feinen 2Beg*
gang, in ben erften Reiten wentgftene, ale eine Jfrt Fahnenflucht anfaty.
Unb wot)l nicht gang mit Unrecht: baä in ^arie entflanbene $ami(ienbilbni6
unb nod) mehr eine ©ruppe Suremburger JDfftjiere (bie Sommermonate »er?
brachte er bamale meiftene auf einer SBiHa bei ?uremburg) jeigen unoerfenn«
bar eine gewiffe 2Cbfet)r oon ber ftrengen SD?ar6e6rid)tung. ©pater, ale er
wieber au6fd)lteßlid) ju biefer jurüefgefehrt war, wollte er oon ben beiben
Arbeiten nid)t meljr oiel wiflen. 3n ^>arie, wo er einen fdjweren Snffuenja«
anfaQ aufyuftetjen hatte, oon bem er fld) nie wieber }u gang ungetrübter
©efunbheit erholte, fdjeint er ben Umgang mit Kollegen im wefentlidjen auf
ben trefflichen 2tuguftc SÖoularb eingefchrdnft ju haben, ber ihre greunb*
fdjaft mit einem wunberooHen ^ortrdt ^>iboUÄ feierte.
') 6in eorfcft9*9a«gfnft ftufenttjalt in ÄatWrufs ifr tbnt 1?flon8 für frinr (ffnrtricflutij.
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2öilpelm «Porte: Erinnerungen an Äarl oon tybofl. 125
?H$ bie Söhne tnö Älter famen, wo 0 c auf beutfehe Erfüllen über?
ge!)en follten, anfang* ber neunjiger Sabre, entfehieb er fld) für ^ranffurr,
einmal weil e* oerbAftni*maßig nah bei ?uremburg liegt, wo feie Altern ber
?\rau noch lebten, unb weil, na* bem Sftrubau be* &täbe(fd)en 3nftttute*,
bie Atelierfrage fchr günftig ftanb; bann weil er eine Abneigung gegen bte
großen beuffeben Äunlrjentren hatte, wabrenb ihm bie burd) bie Älteren
granffurter tfünftler, wie ©urnifc, ©cbolberer, $eter ©eefer, ©urger
vertretenen felbftanbigen Dichtungen »iel fpinpatbifcber waren; oon nidjt
geringem Einfluß auf bie ffiabj ftranffurt* war enblid) aud) bie Anmefen*
hett .LMiie ihcmaö bafelbft.
Die* (Tnb im großen bte äußeren Daten feine* 2efren*.
3nbem id) mid) nun aufebtefe, einige* tum feinem ffiefen unb feiner
Art ju erjdblen, will fid) auch hier bie alte ©emerfung aufbringen, baß wir,
fo lange wir etwa* noch heften unb täglich und baran erfreuen Finnen,
beffen ÜBert nie feiner ganjen ©r6ße nach fo recht inne werben. Erfr ber
Srrlufl Fl drt und Darüber auf. Aber wenn wir bann unternehmen, bte ©e*
beutung be* unwiederbringlich SScrfchwunbrnen un* ju vergegenwärtigen
unb au*jumeffen, fo fommen wir über Allgemeine* faum binau*, benn fajl
alle* beftimmt ©rfonbere ijl in bem ungleich aufnehmenden unb launifd) be*
wabrenben ©ebachtni* oerblaßt unb ineinanbergefloffen. Äeiner, ber je mit
3>ibo0 einige 3eit oerfebrte, wirb in Abrebe (teilen, baß er burd) ihn be*
beutenbe $6rberung erfahren; boch im einjelnen oon ftall ju gafl nachjuweifen,
wie unb wann, wirb faum gelingen. Die 2Birfung wirb man gewahr, bie
demente au* benen ffe nach unb nach jufranbe gefommen, oerfagen fld)
ber Etnitcbt. Unb nun gar rrfr, wenn man ju anberen baoon fprechen unb
ihnen burch mübfam matte 5Horte eine ltorjtellung oermitteln foQ oon bem
unmittelbaren 3auber einer gei(rreich*bebeutenben unb im t)6d>flrn Sinne
lieben*würbigen ^erfdn lieh feit!
Eine S^ene oor allem ift mir in ber Erinnerung geblieben, bie, wie
mir fcheinen »10, ben ganjen 9>iboll jeigte. ©ei einer Abenbgefellfchaft in
befreunbetem £aufe hatte ihn eine Dame wegen feine* eifrigen Sttiefcfche*
©tubium* aufgewogen unb in feefer raune gefragt, ob er benn all beffen
©ücher, bte er fid) angefchafft, aud> gelefen habe. Er ging better auf ben
Scherj ein, obwohl bergleichen wenig nach, feinem ©efehmaefe war. 21* bie
Dame aber oon SRie$fche ju reben fortfuhr, wie jemanb, ber gang ent*
fchieben gar nicht* wn ihm gelefen hatte, unb fleh auch noch anbere sPerlonen
in* ©efprad) mifchten unb babet geigten, baß ffe ihre Äenntni* oon ber
Sadie wohl aud) nur einigen 3eitung*arttfeln unb populären Vorträgen Oer*
banfttn, ba bemächtigte jld) ))tboll* eine wachfenbe Erregung, ^eibenfchaftlid),
wie id) ihn fonft nie gefeben, bli^enben Auge* entwicfelte er bie Vebre oom
„libermenfchen", oon „Senfeit* oon @ut unb ©6fe", unb fchlug alle bie jum
Seil recht fchorfftnnigen Einwürfe fetner bialeftifch gar nicht ungewanbten
©egner gewud)ttg $u ©oben, bi* er julefct einfttmmig al* 6ieger proflamiert
würbe. Er jog (td) balb jurürf unb hatte feinen Triumph mit mehrtägigem
Äranfenlager ju büßen. Die 3urücfgebliebenen bewunberten in*gefamt nicht
nur feine ungeheure ©tcherftelligfett im ganjen Sttiefcfcbe, fonbern fail nod)
mehr, baß er, unjart geregt, im r>t^tgflen Äampf, mit oibrierenber ©timme
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126
Sßilbelm «Porte : (frimterungen an ffarl von $ibou\
unb fyäuftg am £6rpcr jitternb, feinen Tlugenblitf aufgegärt fjatte, »oHenbeter
Äaoalier ju bleiben.
©eine ftarfe Erregung fam aber jum grogen Seil baljer, baß ed tt)m
in ber Seele juwiber toav, bebeutenbe, Ijofje fragen gleichfam ju Sücfen*
bügern für bie gefeUfchaftlidj'Oberflachliche tfonoerfation gemacht ju feljen.
JDbn>ol>r er e* gern mit tarnen ju tun fjatte, natürlich, ba er überall fo*
gleich fetjr beliebt mar, fo meinte er bod), ben grauen mangle e$ an Sinn
für ernfte Sad)lid)feit, unb }og eigentlich $D?annergefeflfd)aft »or, aber e$
follten aud) nur wenige fein unb forgfdltig auÄgclefen, bamit man wirf lieh
ein »ernünftig ©ort reben f6nne. Qrine wafjre Verachtung tyatte er für alle
bie, bie ben SÖinter burd) in jebe IBorlefung laufen unb augerbem Stjeater,
Jtonjerte, &unftfalond aud) nur befuchen, um bann uberall fo ein bigchen
mitfebmägen ju f6nuen. 9?ur ba$ mit faurer 3Äül) Erworbene fyatte in
feinen 2lugen 3Bert, unb aHed fernen, bae* noch einen anbern 3wccf »erfolgt
alä ben, bie eigne <Perf6n liebfeit ju erweitern, galt il)m nicht*.
Sein Drang, fid) nach »ielen Seiten t)in ju ergeben, war fo grog, wie
feine $at)tgfeit baju. <&r Ijatte nicht £la»ier gelernt, ja fannte nicht einmal
bte Sttoten, bennoch mochte, wa$ er gelegentlich nad) bem ©el)6r ober
pljantaflerenb auf bem glügel »ortrug, aud) »erwöljnte 2fnfprüd)e beliebigen.
3lm Schachbrett war er ein gefürdjteter ©egner, fd)wierige Aufgaben ju lofen
ober SWeifterfptele ju fiubieren fein groger ©enug. Wlit bem £>fftjier*rocf
Ijatte er feinedwege* aud) ba$ Sntereffe on ernften militdrifd)en Dingen ab*
gelegt; er lad gerne neuerfd)ienene 3bl)anblungen jur Strategie unb Saftif,
unb häufig auf Spaziergängen lub tf>n eine befonbere Serrain befchaffentjett
ein, einen ftrategifcb'taftifcben @rfur$ jum bellen ju geben, wa$ jeberjeit
anregenb unb lehrreich war. 3n ber ^>t)i)flf wugte er grünblid) 93efd)eib,
befonber* auf bem ©ebiete ber ©pttf »erfolgte er aufmerffam neue ^>ubli*
fationen; mit berfelben Veiehtigfeit f)ielt er au$ bem Stegreif einen f leinen
SSortrag über bie ©?et!)oben, bie Wcbtgefchminbigfeit ju meffen, wie er etwa
bie ©runbjüge ber Differentialrechnung entwitfelte. Die neuere ©efebiebte
war itjm mel)r al* nur in grogen 3ügen fret$ gegenwärtig, namentlich in
allem, wa* ben erften Napoleon betraf, fannte er fid) tüchtig aue*. Seine«
SBercjaltniffed jur Literatur ijt fchon gebacht. 3m ©oettje war er »iel bt*
wanberter ale* ber gebilbete Deutfdje burd)fd)nitt(id) ju fein pflegt. Dod)
bie #auptbefcbaftigung ber Stunben, ba er nicht »or ber Staffelei jtanb,
get)6rte ber s])hilofophie; unb biefe Stunben mehrten ftd) in ben lefcten
Sauren leiber burd) tjauftgee" Unwol)lfein. SBon Schopenhauer war er auä*
gegangen unb harte auch bie tfririf ber reinen Vernunft, wie ber Urteilt»
fraft anbauernb ft neuer f. 9ange6 ©efd)id)te be£ 9J?ateriali$mu$ hielt er fetyr
hoch. Doch ifl eä bejeiehnenb für feine ganje 2(rt, bie überall barauf hielt,
felber jugefehen ju t)aben, bog er meljr enjöflopdbifcbe Äenntniffe in ber
©efd)id)te ber 9>t)ilofopt)ie eigentlich gar nicht befag. Montaigne, ben id)
ihm ferjr prie^, fonnte er feinen rechten ©efehmaef abgewinnen. Iffiie fchon
angebeutet, »ertiefte er ftd) bann in SRiegfche. 9?ach biefem in ©unbt.
Spater wanbte er fTd) ju Tlüenariud unb ÜÄad).
Diefe wechfelnbe pl)ilofopl)ifche ?eftüre wirfte bei it)tn jebod) anberd
al* bei ber 9J?ef)r$al)l ber pr)ilofopr)ifd)en ?efer, bie fid), in reiferen Oaljren
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SBilpelm 'Porte : Erinnerungen an Star! von ^tbofl.
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roenigftenö, burch bad neu $ennenge(ernre nicht mehr (eicht in ben einmal
erworbenen ©runbanfebauungen beirren (äffen. @r bagegen febwor jebeöma(
ruef halrlcö \u ben Jahnen M Rubrer*, bem er ftcf? gerabe anvertraut hatte;
er trieb eifrig ^ropaganba für baä, wa* ihm je$t baä ^Richtige febien unb
»erfocht ei mit ber ganjen Äraft unb ©emanbttjeit feinet ©eilte*. <Sr fonnte
babri atlerbingd geltenb machen, baß e* auf bem 2ßeg jur (Jrfennrni* fein
©tiO(ler;en gebe, baß jebe* gortfebreiten ba* 23erlaffen bc* »oiigen ©tanb*
»unfte* einfließe unb baß bie wahre Freiheit be* ©eijte* eben feine leichte
Bewcgltchfeit fei. <£r Ijdtte noch fagen fonnen, baß bei ber Unmöglichkeit
wirflieben Srfcnnen* alle unternommenen SSerfudje julefct gleichwertig fmb,
unb jeber mit bemfelbcn Siechte beanfpruchen fann, auf ben Schüb erhoben
;u »erben. 3ber ba$u war er im ©runb feine* 3Befen* oie( ju bogmarilch.
err war eben in biefem Betrachte börfifc beftimmbar unb oon ben Umfldnben ab*
bangig, unb fo jeigte er in einer mehr miffenfchaftlicben Betätigung ben
edjten, für wechfelnbe Gnnbrütfe |ret* offenen, anfebmiegfamen j?ün|t(erfinn,
wäbrenb ihm nmgefchrt häufig vorgeworfen würbe, er »erfahre in ber tfunfr,
bie ihm bekanntlich al* bie anbere (fönthetifchc) Seite bc* (£rfcnnrni*rriebc*
galt, alljn wiffenfcbaftlich, atlju fehr al* nüchtern reebnenber Denfer. 3Bir
groß biefe Beflimmbarfcit gelegentlich war, m6ge barau* erhellen, baß er
einmal, ©oethe* Farbenlehre unb jugleid) bic SRemron* burdjgehenb, eigene
lid) immer bem jule&t ©ehdrten Stecht geben wollte unb fleh, auch am Snbe
nicht entfebeiben mochte, vielmehr meinte, e* muffe bod) ein Kompromiß
berjufrellen fein, inbem beibe Behren unjweifelljaft feb.r viel ^Richtige*
enthielten.
2Benn man ihm nun fo bic eigentliche unb l)6d)fle Selbflanbigfeir
nid)t juerfennen fonnte, fo war e* bagegen bemunberung*würbig, wie er
fleh in foldje frembe 2fnfd)auung*weifen hincinfuhlcn, ffe fleh bergeftalt ju
eigen machen fonnte, baß er ffe mit wenigen einfachen ^Borten ben anbem
(rid)t faßlich bargufleUen oermochte, in einer Klarheit unb lüberflchtlicbfrit,
mit fo »erblüffenb ficherer Fühlung für bie Xngelpunfte, baß feiner Dar-
legung »6u*ig ber ©ert einer felbftanbigen 9Rad)fd)6»fung jujufommen
fdjien. ©er ihn fo über bie fomplijierteften Zwinge reben horte, ber
mußte glauben, feinem einbringenben ©eift I6fe fleh auch ba* SBer*
wicfrlfle ju einfachen ?inien auf unb bie* fo einfach 2fngefcbaute gehe
ganj müt)e(o*. gleicbfam »on felbfl, in ben einfachen unb barum ber
leicbnenbfrrn 3(u*brurf ein.
Uiefe ©abe be* eminent flaren ©liefe* unb be* eminent einfachen
3(u*brutf* war wobj ba* digentümlichfle, #er»orjiecbenbfre an ihm, unb fa
fdjien er recht eigentlich baju befeimmt, gu (ehren. °sd) glaube, wenn ihm
an irgenb einer tfunftfchule ein £ebrerpofien wdre angetragen worben, fo
wärbe ct fich, ali in einer ihm burcbauS gemäßen, wiüfommenen ÜBirffamfeit
fehr glüefüch gefühlt haben, unb ©chule wie 8d)üler waren auch n»d)t fchlecht
bahrt gefahren.
3n biefer ^Ähigffit «nb in feinem Crange, fld) lehrenb mitzuteilen,,
jeigte ^ibott eine fiarfe SScrwanbtfcbaft ju 9)?ar6ed. Unb feine^wegd nur
hierin. 3ebe geifrige @inwirfung fe$t ja eine gewiffc ©eifteenerwanbfehaft
«nb ©efenÄdbn lichf eit »oraud, weil ein anberer bod) nicht* in un$ erjeugen
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SBtlbclm $orte : Cfrinneiunqen an 5Url oon fy'DoÜ*.
unb hervorrufen fann, ald waä, ber Anlage nad), fdjon in und fterft; freilief)
aud) mag btefe Anlage, wenn ber richtige (Srwecfer ausbleibt, ewig weiter
fd)lummern. SRan barf bemnad) rool)I fcMießen: je umfaffenber unb ein*
bringiidjer bie (Jinwirfung, befto groger Die SBerwanbtfdjaft. Äeiner »on
benen, auf bte SWar6ed (Hinflug gewann, bat fld) it)m fo eng angefdjloffen,
fo ganj Angegeben, wie 9)iboll. ÜBteber fafl bi* jur »älligen Aufgabe ber
©elbftänbigfeit: mehr benn einmal hat er geäußert, er betraute feint
Lebensaufgabe für »oUflanbig erfüllt, wenn er, unter 2krjid)t eigenen
<frfinben$, nichtt anbered tue, a(* SRaräedfdje Entwürfe in bejfen ®etft
aufführen.
«£ier ift nun jugleid) bie ©teile, wo beibe weit, weit auöeinanbergefyeu»
SD?ar6e$* fünftlerifdje* Leben hatte feinen eignen, ungeheuren Inhalt; fein
Leben unb Schaffen brehte fteff um ein Problem, ba$ in ihm felber tnt*
fproffen unb groß geworben, ein Seil »on ihm fefbfl, nad) feiner 6d)d$ung:
ber befre, wertüoUjte war: er rang nad) einem überführen, aber felbjt <je*
wählten, »on ber inneren SRotwenbigfeit ihm aufgebrungenen 3iel. ^iboß*
fünfHerifd)e* Leben Ijatte einen »on außen erborgten 3nhalt; bad 3«f
war ihm »on einem anbern geflecft, e$ war julefct, wenn man wi0, ein
gufaUigeö.
(5in wifTenfdjaftlid)** Problem fann ohne 3w>rifef ganj im @inn unb
(Seifte beffen, ber eö aufgefteflt bat, aud) »on einem anbern geldft werben.
<£in fun(llerifd)ed fchwerlid), benn hier ift bie ^erf6nftd)feit fdjließ lief) ade*.
Die übrigen »on 2Rar6eö beeinflußten ftnb, bei allem tiefen 2>anf gegen
ben SWeifler, fd)Iießlid) bod) ihre eigenen $Bege gegangen. ^iboll wollte
immer* wieber, (Bdiritt für ©djritt, in bie ^ußftapfen 2Äar6e* treten. 2Hd id)
gegen tr>n ben "Äudfprud) Hebbel* erwdbnte, man f6nne ebenfowenig ba fort»
fahren ju bidjten, wo ein anberer aufgel)6rt habe, wie man ba fortfahren
fonne ju lieben, wo ein anberer aufgebort habe, ba ldd)elte er, aber fein
®effd)t nahm einen fafl traurigen 2fu#brucf an. (Sr bat jwar nie ba»on
gefproeften; id) glaube boeb, baß er bieä 2fbbdngigfeit$»erhdltniä zuweilen al*
fd)were ©ürbe empfanb; »ielleidjt ald etwa* julefct bod) Unnatürliche^. £>b
nicht hier bie Ldfung ber &rage ju fachen wdre, warum er mit feinem
einzigen ber flreng in SWaräedfdjem ®eifi gearbeiteten ©Uber $um 'Jlbfchluß
fommen fonnte? (Sich hatte er tncUetctn befriebigen rennen; ben in ihm
lebenben, treibenben Weift 20?ar6ed niebt. SBir gingen einmal »on (Jppftein
im Saunuö nad) Appenhain hinauf. Unterwegs gefeilte fld) ein britter
SWann ju und, wie fld) aud bem ©efprdche balb ergab, ein Stichenlehrer,
ber in feinen SÄußeftunben aud) malte; er fprad) fr6hlid) »on biefem feinem
Sbun unb fdjien mit feinen Leitungen fehr jufrieben unb glucflid). <pibott
ließ fld) in ein technifche* ©efprdd) mit ein, ohne fid) über bie baraufhin
geäußerte Vermutung: er möge wohl aud) Stöaler fein, ju erfldren. @r fprad)
mit einer, aflerbing* »on bem anbern faum bemerften, überlegenen Sromr,
wie id) fle nur bie* einige STOal an ihm beobachtet habe. 31$ wir wieber
allein waren, fagte er: „ÜBie ift ber SWann ju beneiben, ber feine *Öe*
fdirdnfthcit nidjt einmal ahnt unb »on feiner höheren fünfilerifchen 3?er*
pflid)tung, »on feinem jwingenben Problem geplagt wirb." 3ch begegne
biefem Jßerrn nod) jefct häufig in ber <Promenabe, er fleht nod) »iel jufriebener
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SStlbflm ^orte : Srinnerungen an Äarl oon ty'bofl.
129
aud alä bamate unb wir grüben und jebeämal fchr freunblid). ^iboQ rühr
tiun feit batb »ier 3abren fdjon bei ber @eftiu$»»ramtbf.
(5id)er tfdttt er, »on jener erwähnten «Parifer (£»tfobe ganj abgefe^en,
öftere" Änwanblungen, ba er anberd empfanb unb bad)te, ald mit ber tfrengen
«D?aree$rid)tung »ereinbar fdjeint. @r war bann fet)r geneigt, bem ©egen*
tfanb al* foldjem (aber nur malerifd) genommen, nidjt etwa al* „sujet"
ober poetifdi*no»elliftifdier 3nt)alt ber Äompofition1) r/6difte ©ebeutung unb
SBert jujuerfennen. (5r fagte »ob,! aud) : ,,2fd), fo in ber ÜBelt fjerumjujiel)«,
unb n>o einem etroaö gefaßt, eä tale quäle (>erunter$uma(en, ba£ märe
bod) aud) etwae*, be$ bebend wert." 3n ber $at, bic ©ebeutenbjten unb
in jebem Sinne erfreu lirfifren feiner Arbeiten unb bie, wo er fid) »on ber
SD?aree$fd)en £oftrin metjr ober weniger entfernt: bie SMlbnifie, »orab
^räuletn (Soffmann unb feine (Sartin ; bann bie reinen ftgurenlofen Vanb-
fdjaften, bie italienifd)en unb befonberd bie ©einkaufen
3fber bennod) fe^rte er immer wieber ju bem juruef, wai man bte
<5rbfd)aft 9Baree* nennen f6nnte. 3d) weifl, man foß feine Vermutung
wagen, ber man nid)t burd) irgenb erwad $atfad)lid)e$ wenigften* einen
^d>ein »on ©egrunbung ju geben »erm6d)te. Unb bod), wenn man ff*
9>iboß feinem ganjen ßbarafter nad) vergegenwärtigt, feine ©egeifterungä*
fdbigfeit, feine SXitterlidjfeit, fein #erjen$bebÄrfnid, bem al* richtig @r--
fannten jum ©iege ju »erbelfen, fo fönnte man mol)l auf ben ©tauben
fommen, er habe, »on ben STOarcieäfdjen ©ebanfen bezaubert unb gefeffelt,
g(eid)fam wie ein ©elobniä getan, bad vom STOeifler unooßenbet Jj? in ter! a (Jene
mit aßen Äraften weiterzuführen, unb aud) bann an bem ®el6bniö fejb
gehalten, ald er ernannte, bie ?afl fei für feine Schultern $u fdjmer. renn
ed)te Sttannee treue war ein ©runbjug feinet ffiefenä.
dt war ftd) be* SBerte* unb ber ©ebeutung feine* ©treben* w»f)l
Gewußt, barum mußte e* ihn frdnfen, fo wenig Serftdnbni*, gefdjweige 2tn*
-erfennung ju ftnben. 3mmer wieber erwog er, ob er nid)t jur fteber greifen
unb auäfutyrlid) barlegen foße, wa* er, in ben ©atjnen Wlaxtti\ bejwetfe,
worauf ti, mit S0?ar6e*' 2fugen gefeben, in ber Äunft anfomme. SBteßeidjt
wäre e*, angefleht* be* Mancherlei, wa* feitbem über biefe fcinge ar
fdjrteben worben, red)t gut gewefen, wenn er, ber am befern SÖiffenbe,
biefen Söorfafc auögefufyrt hatte. ©d)lie§ltd) bann meinte er bod) immer
wteber, ,H umt fei ja fei her Sprache unb muffe ganj aßein für ftd) felber
reben unb jeugen.
jn ben legten fahren, ba aud) feine ©cfunbheit immer fd)wan!enbrr
würbe, niflete ffd) mer)r unb mebr SSerbüflerung in fein fonfl fo freie* unb
frot>e$ ©emit. (5* war fo »iel im mobernen ?eben, wa* tr>n abfließ. <5r
träumte bann wol)I gerne »on einer fieinen einfamen 3nfet irgenbwo in
fublid)eren beeren wobin er fld) mit einigen ©leidjgeffnnten jurucf$&ge, um
in einem freien, natürlichen, arbeitdfrol) ber ©d)6nt)eit gewibmeten Seben
glucflid) \u fein. So fdjrieb er mir einmal: „Diefe* ewige 2fnftoj}en muf
unwirfd) mad)en unb in ber Überjeugung befldrfen, baß man feine beffere
ffrfenntnid in biefer gebenebetten 3eit nur fdjwer ober gar niö)t an ben
') ötrra la4, ycai lit ^ranjefm morceau peint nfnnrn.
®fiftbeutf6c aRonati^eftc. II, 2. 9
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130 SBilbelm 'Porte: Erinnerungen an ftarl ton ^ifcott.
SWann bringt, tfeinc »arjre Seilnabme, fein 2Eut ber Überzeugung, afle*
auf ®naben> unb $roteftion6megen, allee hinten herum nad) peinlichem
Sorteü unb perf6nlid)er Eitelfeit, mit ber efetyaften Sftaafe ber «OeucWet
»orm ©eftdjt, al* »ertrÄte man l)6t)ere Sntereffen. Diefe* SSoff wirb jeben
gunfen reinen SttenfAentume' auf bem Erbenrunb erliefen. 3dj »Are
glucflid), »enn id) ben t)it$$tn ©oben niemaW betreten Ijdtte, unb »erbe-
mid) nadjften* auf ba$ befannte Etlanb flüchten."
Eine ber legten Äußerungen, beren id) mief) bon it)m erinnere, wenicj
über ein 3at)r vor feinem 2 ob, mar biefe: „UBenn nun fpater einmal einer
mein ÜBerf betrautet, (auter 3Tnföfce, nid)t$ botlenbet, fo mag er roof)( benfen:
aud) ein armer #erl unb ein »erbettelte* Leben. 2fbcr bie überall auf
meinen SMIbern freubig t)ervorgIu(}enben drangen mod)ten rcohl ale* Sinn-
bilb gelten, baf aud) in mir bie SebenSfreubigfeit mächtig geglüht hat."
9lad)»ort ber Stebaftion.
93or furjem mürbe ben tfunfrfammlungen bei bagerifdjen Staates bad Cebenämerf
Karl oon 'ßiboüö einverleibt, inbem fünfunbjwanjig Hilter tcü 2Jfalerd neben ben
Herfen feinet Lcbrers unb greunbed 3RareeÄ in ber ®alerie ju Schiesheim bei SRundjen
Qtuftfeüung fonben. Der Sßerfaffer ber bier oeröffentltdjten Erinnerungen war einer ber
2Ränner, mit benen «piboll wäbrenb feiner ftranffurter ^aljre am meiften oerfebrt bat;
er i(l baber fid)erltd) wie wenige imftanbe, ein SBilb beä berrlidjen aJcanneä aud eigener
Tlnfdjauung ju jeidmen; c& fei mir geftattet, einige 3üge, gleidrfafld aud eigner *Än«
fd)auung, t>mjujufügcn.
yitcüi pbilofopbifdjer Entwirflungdgang oon Schopenhauer ju Soenariu* unb 2Had>
entfprad) feiner 9lid)tung aufd anfd)aulid>$atfäd)lid)e unb war für ihn eine «Befreiung 001»
ber SNetappoftf. E* war eine wirfltdje (Entwirf lung: b. b- eine immer reinere 3fuögeßaltung
ber in ihm liegenben £Raturanlagen, nicht wa* man fo gemeinbin Sntwicflung nennt
unb waö nichts tft ald Sßeränberungen in ber geifh'gen Soilette. demgemäß glaube id)
aud) nicht, baf? ^tbott bei längerer Lebensdauer ben (Btanbpunft von Qtoeuariuä etwa
oerlaffen baben würbe unb glaube femer, ba§ er, auf biefem Stantpunft angelangt,
felber probuftrö war. ©eine 3fafjeid)nungen mufjtcn feiner Qtnorbnung gemäf? ©erkannt
werben; oermutlid) bat er in ibnen ben Äampf um Befreiung oon ber SDletapbofif in
felbfiänbtger 3©eife fortgefefct; nad) einer gelegentlichen Äußerung oermute id>, ba§ biefer
Äampf ficf> fpejied gegen bie in ben ©orten ber Sprache liegenbe SÄetapboftf gerichtet
bat; Sßorte unb ibre (Gruppierung ju bem, rcas man geiftreid) unb wifcig nennt, waren
ihm wertlos ; wertvoll nur „bee* bebend feiige Cuft".
Da$ gleite wie oon $iteUt pbilefepbtfcber Entwidmung fdjetnt mir oon feiner
runjtlerifd)en ;u gelten. 3tor ba§ man bier nod) mebr geneigt fein wirb, in bem 1k\»
fdjlufc an einen Cebrer ein 3"'d)en oon Unfelbflanbigfeit tu erblicfen. QCber biefer 8ebrer
war 9)?arecä; für 9)?areed unb für ^iboll war bie 'Äufgabe ber 2Ralerei etwad DbjefttoeiSA
gegeben burd) bie 9?atur, bad Tluge unb bie Littel ber Malerei. Die ^Jerfon beö
Malers1 war für fte nur ein 3"Urument, wie ^infel unb Palette, bie man reinbalten
mu§, um gut malen ju fonnen. ®o erflärt ed fid), baf nad) ber 3nfd)auungdweife
biet er beiben ber eine anfangen fonnte }u malen, wo ber anbere aufgebort batte. Sine
<5d)ule ber iOcalerci, wie ed in früheren Sabrbuuberten weldje gegeben bat, wäre nad)
«pibofl* QTuffaffung aud) beute möglid). „Sd fommt nur barauf an, ba§ gute Silber
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SBilbelm tyorte: (Erinnerungen an Äarl oon ^tcc-O.
131
gemalt werben, »er fie malt, if! gleichgültig" fagte er gelegentlich. 'Xu&i lern (Steine*
punfte von SHaree* märe er nad) metner Überzeugung ftet* treu geblieben. SBenn er
im legten Sommer feine* bebend im ©cnu§ ber erreichten ted)nifd)en Stufe mieber
eine SReibe »on «Silbern nad) ber SWatur gemalt bat, fo glaube t'd), tag ihm bt'e* bod)
immer ©tubium unb Srbolung blieb, aber nie Ceben*jmerf »urbe: ba* mar ibm bie
3(u*fubrung oon ftompofttionen im Sinne von 2War£e*. (Beine Eingabe an biefen
l'ebrcr hatte nicht* ftomantifdje*, beruhte auf ftarer Sinftdjt, wie benn überhaupt
.Klarheit unb Cbjeftieität ©runbjüge feine* SBefen* maren.
Um )u ifluftrieren, mie febr ^ibofl äu§eren Sinmirfungen jugänglid) gemefen ift,
teilte mir Dr. $orte oor furiem nod) folgenbe* fletne (Srlebni* brieflich mit: „^Jiboll
mar anfang* ein großer ©egner be* SRabfabren*, er mofierte fid) bei jeber ©elegenbeit
barüber, fanb e* gefcbmacflo*, unäftbettfd) unb namentlich für ftünftler ganj untunlich
(9Bolfmann urteilt noch jefct ebenfo). T)a befud)te ihn einmal 2fbolf #ilbcbranb unb
prie* mit großer ffiärme bie tDorjüge biefe* Sport*. Hit ^iboß mir ba* crjablte,
fügte er binju: ,roenn ba* einer mie £>iltcbraiib tut, fo bürfen'* mir anbere mobl
auch4, unb fanb al*balb fo oiel ®efd)macf baran, baß er auch mich baju überrebete."
Wttieuttt jeigt biefer fletne 3ug in ber $at nicht nur, baß «jSibotl febr beeinflu§bar
gemefen ift, fonbem auch, w melcher 3(rt er e* gemefen ift. dt batte in ftth eine
uneinnehmbare fteftung, unb ba er ba* mußte, gab er leichten Sinne* ein $ußenmerf
auf, wenn jemanb e* baben wollte. Die eben erjäblte Ttnefbote ]eigt, mit meiner
£ieben*mürbigfett er e* tat. 93on tiefem perfönlichen ^aubtv geben bie oorflebenben
Erinnerungen ja einen «Begriff; eine ooflfommene 93orftetlung »on ihm — barin bin
ich mit bem »erfaffer einig — fönnen ffiorte überhaupt nicht geben. Ofttc bie «piboC
im Sehen gefannt haben, ©erfteben bie Smpftnbungen (Sbiron*, al* gauft ihn nach
£erfule* fragt . . .
Vergeben* mühen fid) bie Sieber,
©ergeben* quälen fie ben Stein.
^» CMjm r ■* 1» La >■ lmj» La Mi La 1 iajs l^a LaJoi La^m cajbl Lajai cajbl Lajai La^ai Lajn Lajat La 1 La lai cajat La i
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Briefe aus Neapel und Sizilien.
Von Friedrich Th. Vischer.
Mitgeteilt von Robert Vischer in Göttingen.
Wir haben Fr. Vischer im ersten Jahrgange aus der schwäbischen Heimat
über Bozen, den Gardasee, Verona nach Venedig begleitet; von da durch die
oberitalischen Städte nach Florenz und Rom. Nun werden wir ihm im zweiten
Jahrgange nach Neapel und Sizilien und dann durch Griechenland zurück nach
Triest folgen.
* »
Neapel.
Meine lieben Freunde!
Ich habe jetzt das ernste Rom mit dem epikureischen Neapel ver-
tauscht, und ihr sollt noch einmal von mir hören, da ich von nun an
längere Zeit nicht schreiben kann.
Der Abschied von Rom ward mir so schwer, wie allen, welche
in Rom einige Zeit verweilen. Als ich zum letztenmal von der Höhe
des Kapitols auf das alte Forum, auf das Kolosseum, auf die Kampagna
hinab und hinaus sab, als ich mir sagte: das alles siehst du nicht, gewiss
nicht wieder, — es war ein Abend wie Rosen, die Sonne glühte im
Untergehen wie Blut auf den Ruinen — es war mir, als müsste ich
von einem Gliede meines Lebens, von einer Braut scheiden. Mit dem
Gefühle, dass in dieser Stadt durch eine Fülle neuer Anschauungen mein
inneres Leben sich neu geboren hat, wird ihr Bild, ihr ernstes altes
Heldenantlitz unverwüstlich in mir leben. In den letzten Wochen hatte
ich noch zwei Ausflüge gemacht. Der erste nach Frascati und Albano
im Albaner Gebirge wurde durch Sturm und Regen vollständig verderbt,
und mit missmutiger Laune stand ich an der Stelle des alten Tusculum,
wo einst Cicero seine langweiligen Questionen geschrieben, des alten
Alba Longa usw. Desto schöner war der zweite Ausflug nach Tivoli
mit dem herrlichen Wasserfall des Anio, dem gratiösen Tempel der Vesta,
jenen klassischen Stellen, die der alte Horaz so sehr liebte. Zwei Ge-
dichte, die ich beilege, mögen ein kleines Bild von dem geben, was an
diesen Stellen in mir vorging.1) Lasst euch nicht irren, wenn sie etwas
melancholisch und säuerlich klingen, sondern betj achtet es eben als ein
Zeichen von Gesundheit, dass ich diese Dinge jetzt ausspreche, dass
so mancher kranke Rest, den ich seit Jahren in mir trug, so mancher
Knoten von nordischer Düsterheit und Unzufriedenheit mit dem Leben
jetzt aus mir herausschwitzt. Du, 1. Strauss, magst sie nach Gutdünken
auf demselben Wege wie die anderen bekannt machen oder nicht, je
nachdem Du sie wegen ihres vielleicht zu subjektiven Inhalts für geeignet
*) S. Fr. Vischer, Lyrische Gänge, Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt,
3. Aufl., S. 70 ff.
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Vischer: Briefe aus Neapel und Sizilien.
133
hältst.1) Eigentlich sollten sie nur Teile einer grösseren Sendung sein,
deren übriger Inhalt ganz heiterer Art ist, aber ich finde im Strudel
Neapels nicht Zeit, das Entworfene auszuführen.
Noch eine Szene aus Rom. Eines Mittags kam die Strasse,
in der ich wohnte, ein sehr schönes Mädchen herunter, todesbleich,
stöhnend, wankend, die eine Hand in die Seite gedrückt; an der nächsten
Kirche sank sie zusammen. Es war ein Mädchen, das den Malern
Modell stand, das schönste unter allen Modellen. Ein eifersüchtiger
früherer Liebhaber hatte ihr auf den Treppen im Hause eines Malers
aufgelauert, als sie eben vom Modellstehen kam, und ihr 7 Stiche ge-
geben; die meisten hatte sie pariert, der letzte hatte sie in die Seite ge-
troffen. Glücklicherweise ging er nicht tief und sie genas. Als ich
mit meinem Hausherrn über die Geschichte sprach, fand er diese Justiz
des Liebhabers vollkommen in der Ordnung. — Ein Russe wurde abends
in der Stadt angefallen und schoss den Räuber sogleich über den Haufen.
Am 18. Februar reiste ich ab. In der Chaise sass auch einmal
wieder ein Pfaffe, ein junger Mensch von 21 Jahren, doch schon geweiht,
sonst niemand, hintenauf war eine Kiste mit der Garderobe eines
neapolitanischen Pulcinell, daher man auf der Mauth zu Fondi nachher
mich für den Pulcinell hielt. Das Wetter war schön, die Aussichten
herrlich. Am 19. ging es durch die pontinischen Sümpfe, wo ich eigen-
sinnig gegen die allgemeine Regel schlief, ohne die mindesten üblen
Folgen. Mittags erreichten wir Terracina am Meere. Hier beginnt nun
erst der rechte Süden; Orangen in grösserer Menge, in den Hecken an
der Chaussee Kaktus, Alöen, zum Teil mit den hohen Blütenstengeln,
Palmen. Die Schwalben schon da. In Terracina bestieg ich die Trümmer
der alten Burg des Theodorich, und sah von der hohen Bergspitze auf
das blaue Meer, auf die duftigen Inseln, zwischen Palmen hinunter. —
Im Volke beginnt schon der neapolitanische Charakter, ungeheure Leiden-
schaftlichkeit, beständige Genusssucht in Lumpen. Wir übernachteten
in Molo di Gaeta, schon bei den Alten durch seine Schönheit berühmt.
Auf dem Wege dahin hatten wir noch einen wunderlichen Auftritt. Der
Kutscher hatte sich verspätet und fuhr tief in die Nacht. Es fiel ein
Pferd, er hielt lange an und hatte mit den Strängen zu tun. Ich war
während des Stillstands ein bisschen eingeschlummert, als ich plötzlich
über lautem Fluchen und Schimpfen aufwachte und dabei im Mondschein
einen Gewehrkolben glänzen sah, den ein Reiter unserem Vetturin
wütend in die Seite stiess. Ich riss wie der Satan meine scharfgeladenen
Terzerolen heraus, die ich seit jenem Auftritt bei der Pinie in Rom mit
mir zu führen für gut fand. Es war aber ein berittener Gensdarme,
der zornig war, weil der Vetturin auf seinen Anruf Werda nicht ge-
antwortet hatte. — Molo di Gaeta ist gar herrlich schön. Das Gasthaus
Hegt in der Villa eines Fürsten unmittelbar am Meere. Ich ging, während
mein Pfäffchen längst schlief, in dem Garten im Mondlicht auf und ab.
') Im Morgenblatt. S. VI. Heft des ersten Jahrgangs dieser Zeitschrift,
S. 477, Anmerkung.
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Vischer: Briefe aus Neapel und Sizilien.
Die goldenen Orangen hingen duftend und so dicht in den Weg, dass
ich ausbeugen musste, sie nicht abzustossen. Unten im Meer sang ein
Fischer zur Arbeit. — Mein Frühstück in Neapel sind 6 — 8 Orangen,
die freilich schon etwas teuer sind, da die Ernte vorbei ist, — sie
fallt in den Januar, unmittelbar nach dieser kauft man 4—8 um 1 */, x.,
jetzt kostet eine 1ji x. Sie sind hier von einer Süssigkeit, wie nirgends
in Ober-Italien, ihr blosser, edler Duft hat von jeher gewaltig auf meine
Phantasie gewirkt u. mich nach Italien entrückt.
Nach vielen Plackereien mit 3 Doganen kam ich den 15. spät
Abends in Neapel an und hatte sogleich die liebe Not mit einem Logis,
indem ich in 5 Gasthäusern keine Zimmer fand, der Kutscher ungeduldig
fluchte und die Facchine ein horrendes Trinkgeld für das Tragen meiner
Effekten verlangten, aber um so weniger erhielten. Überhaupt schlägt
mir mein alter Feind, der böse kleine Zufall, manches Schnippchen. In
Rom fiel ich in den ersten Tagen so heftig aufs Knie, dass es auf-
schwoll und ich heftiges Fieber bekam. Ich ward bei meinen Freunden
zum Sprichwort als ein Hans Unstern, dem böses Wetter, allerhand
kleine Hindernisse immer auf der Ferse sind. Hier in Neapel warf am
3. Tage ein Einspänner mit mir um. Ich bin jetzt zum 6. Mal in
meinem Leben umgeworfen worden, niemals gelinde, aber so heftig noch
nie. Der Kerl war mit neapolitanischer Tollheit im Karriere gefahren
und hatte einen Umrang zu kurz genommen. Ein Frankfurter, der mit
mir fuhr, ein knochiger breiter Bursche fiel auf mich. Ich sass eine
Viertelstunde recht miserabel ohne Atem in einem nahen Kaufladen,
während mein Begleiter mich untersuchte, ob nichts gebrochen sei. Ich
war gottlob ganz geblieben, spüre es aber noch in allen Rippen. Nehmen
wir dies als ein gutes Omen, überhaupt soll mich mein Feind, der böse
Puck, nicht unterkriegen.
Neapel ist ein Paradies; es verhält sich zu Rom wie Anmut zur
Würde. Alles strotzt von Segen, Mandeln, Feigen, Wein, Zitronen,
Orangen, Datteln, Johannisbrod (dieses gibt man Pferden zu fressen),
selbst eine Menge exotischer Pflanzen gedeiht. Jetzt blühen Feigen,
Mandeln und Pfirsiche. Das Meer in einem unendlichen Farbenreiz
vom tiefsten Blau und Grün, Silber und Gold bis in tiefes Purpurrot
spielend. In blauem Dufte die Inseln Capri usw. Und hoch der
Vesuv; er fällt in der schönsten Linie, die irgend ein Berg in der Welt
hat, von der einen Seite nach dem Meere hin, von der anderen nach
der Campagna felice — den segensreichen Fluren des alten Campaniens.
Wie sein Land, so ist auch der Neapolitaner grundverschieden vom
Römer, genusslustig, stets ein leidenschaftlicher Mimiker, ein entsetz-
licher Schreier, aber viel weniger gefährlicher, watschelt er durch seinen
Toledo, lehnt er an den Strassenecken, schläft er auf dem Strassen-
Pflaster und lässt Gott einen guten Mann sein. Geschrei und Gedräng'
auf den Strassen ist wütend, die Verkäufer überschreien sich, dass
ihnen die Stimme überschlägt. Leider viel wirkliches Elend u. äusserste
Verdorbenheit. Fast ganz nackte Bettler wälzen sich am Boden und
zeigen die ekelhaftesten Gebrechen heulend zur Schau; von den Kupplern
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Vischer: Briefe aus Neapel und Sizilien. 135
und Kupplerinnen, die sich abends auf der Strasse an einen hängen,
rausste ich mich schon mit reellen Stockschlägen befreien. Der Neapo-
litaner Iässt sich Prügel gefallen, der Römer zieht das Messer bei der
blossen Drohung. Wer das Taschentuch in der hinteren Rocktasche
trägt, darf sicher sein, dass es gestohlen wird. Die schönen Trachten
der Matrosen und des Volks überhaupt sind ganz im Verschwinden be-
griffen. Die Gegend von Neapel ist das uralte Vaterland der Pulcinelle,
und man findet in dem kleinen Theater S. Carlino eine herrliche
Nationalkomik. Hier bringe ich fast alle meine Abende zu. Neulich
machte einer einen Stotterer, dass es zum Bersten war. Das Volk
müsste köstlich sein, wenn die Menschen nur ein Tausendteil von dem
für es täten, was die Natur für es getan hat. Italien fehlt vor allem
die Schule, die Verpflichtung, die Kinder darein zu schicken und die
rechte Belehrung derselben. Doch lassen wir dies Kapitel, ich würde
gar nicht davon reden, wenn das Elend nicht so ganz gross wäre. —
Durch das Getümmel schreiender Matrosen, durch das Geschrei und
Gekreische der Verkäufer, das Gerassel der tausend Fiaker ging ich
neulich die Strasse am Ufer hin und gelangte auf einen kleinen Platz.
Hier steht eine Kirche, del Garmine. Da ist hinter dem Hochaltar, in
einer unscheinbaren Ecke, ein Stein, dessen lateinische Inschrift dir sagt,
dass an dieser Stelle Conradin von Hohenstaufen begraben liegt. Du
gehst etwas weiter und gelangst auf einen grossen Platz, largo di
Mercato. Hier steht eine Kapelle. Sie ist auf der Stelle gebaut, wo
der unglückliche Jüngling hingerichtet wurde. Noch zeigt man eine
Säule mit einem Kreuze, das seine Mutter errichten Hess, die auf die
Kunde von seiner Gefangennehmung mit reichem Lösegeld nach Neapel
eilte, aber den Sohn schon tot fand. Daneben ist der Steinblock, auf
den er das jugendliche Haupt unter das Henkerbeil legte. Es rieselte
mir durch Mark und Bein, ich meinte, diese Stelle müsste ringsum auf
jeden, der vorübergeht, Schauder des Todes aushauchen, aber un-
bekümmert braust und lärmt draussen die tobende Menge; der Vesuv,
der dort drüben leichte Rauchwolken aussendet, sah damals ruhig, wie
jetzt, auf das entsetzliche Schauspiel herunter, er garte nicht in seinem
Feuerbusen auf, die Rotte der entsetzlichen Würger mit seinen Flammen-
strömen zu vernichten, diese spart er, um den stillen Fleiss der Winzer
und das Glück der Familien zu zerstören. Da gedachte ich des Schick-
sals, des Menschenloses. Doch eine Spur tiefen Mitgefühles hat sich
im Volke erhalten. Es geht die Sage, dass der (beständig feuchte)
Platz wegen der vielen hier vergossenen Tränen niemals trocknen könne.
Leider bin ich nicht zu günstiger Jahreszeit hierhergekommen.
Gerade im Februar pflegt sich hier nachträglich der Winter einzufinden.
Die Fruchtbäume sind, obwohl zum Teil blühend, und die immergrünen
Oliven, Orangen, Zitronen usw. ausgenommen, noch nicht grün, und es
fehlt daher der Landschaft ein wesentlicher Teil, anders als in Rom,
wo die grossen Linien und die öde Fläche mit wenig Vegetation gerade
wesentlich sind. Ich habe hier sogar das erstemal in ganz Italien Schnee-
flocken fallen sehen, freilich ohne dass sie liegen blieben. Der Vesuv
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Vischer: Briefe aus Neapel und Sizilien.
hat eine weisse Mütze auf. Es war in den ersten Tagen dumpfheiss,
jetzt schneidend kalter Wind. Ich kann die vorgehabten Ausflüge nach
Pompeji, Pästum, den Inseln noch nicht ausführen und verliere Zeit.
Inzwischen studiere ich das Museum. Da sind nun die Ausgrabungen
aus Pompeji und Herculanum besonders wichtig. Darunter führe ich
euch zur Unterhaltung folgende Gegenstände aus dem häuslichen Leben
an, alle an den genannten Orten zum Teil neuestens ausgegraben:
1. Küchen- u. Tischgeräte — von einer Tafel, die eben für 4 Personen
gedeckt war, als der Lavaregen die Stadt überraschte: Herrlicher
silberner Trinkbecher mit Weinlaub und Trauben in Relief. Silberne
Model von Törtchen, wie unsere Biskuittörtchen. Äusserst feines
silbernes Sieb oder Seiher. Grosse silberne Seviceplatte wie die
unseren usw. Anderes: Die niedlichsten Ge fasse, Wasser warm zu
machen, eines eine Burg, eines einen Seehafen mit Turm vorstellend.
Grosser Trichter. Schnellwagen, woran das Gewicht eine kleine
Büste ist. Tortenmödel wie unsere Gugelhopfen formen. Höchst ge-
schmackvolle Kohlengefässe. Eine Reihe feiner Instrumente, um Kuchen
am Rande zu beschneiden, wie unsere Fastnachtküchlein. — Von Speisen
wurde noch gefunden: Brotlaibe in einem Ofen, Backerei wie Hefen-
kränze, versteinertes Öl, versteinerter Wein in ihren Gc fassen, Eier
auf einem Kohlenbecken in der Asche, Obst, Getreide, alles noch ganz
erkennbar. 2. Andere verschiedene Geräte: Tintenfässer, bronzene
Schachtel eines Chirurgen mit allerhand Instrumenten, eine Menge
Lampen und Kandelaber von den edelsten Formen, Spindeln, Wirte],
ganz wie die unseren, zierliche Massstäbe, Fischangeln, runde
Laterne mit Gläsern (überhaupt die herrlichsten Glasgefässe). Glocken,
auch grosse, wo der Klöpfel an einem ehernen Ring anschlägt, sehr
komplizierte Schlüssel mit den Schlössern, bronzene Stiefelabsätze,
gläserne Trögehen von Vogelkäfigten. 3. Spiel, Toilette usw. Schöner
goldener Damenschmuck worunter namentlich grosse Bracelets, in
Form einer Schlange, Ringe, Balsambüchschen in zierliche goldene
Formen gestellt usw. Eine Menge von Steinchen für Kinder zum „Auf-
tätscherles«, sog. astragali (man kennt das Spiel aus alten Gemälden).
Zierliche beinerne Theaterbillets und Kontremarken, diese in der Form
von kleinen Entchen. Von silbernen Spiegeln eine Menge.
Fortsetzung d. 7. März.
Obige heitere Schilderung muss ich in ziemlich verdrießlicher
Laune fortsetzen. Ich habe nämlich durch schlechtes Wetter 15 köst-
liche Tage rein verloren. Der Januar war in Neapel wie ein Sommer-
monat. Jetzt nach der Mitte des Februar fiel es dem Himmel ein,
schlechtes Wetter zu machen — nicht gewöhnlich schlechtes, sondern
recht eigentlich impertinent schlechtes, beständigen, ununterbrochenen,
eisigen Sturmwind. Zu Hause mag man nicht sein, der Sturm dringt
durch die schlecht verwahrten Fenster, Kamine gibt es in Neapel sehr
wenige, auch mein Logis, mit herrlicher Aussicht auf den Golf, den
Vesuv, die Insel Capri, hat keines, Kohlenfeuer reicht nicht aus, man
hat steife Hände und kann nicht schreiben, auf dem steinernen Boden
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Vi scher: Briefe aus Neapel und Sizilien.
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beständig kalte Füsse. Und doch ist es» draussen noch widerwärtiger.
Der Lärm des Windes betäubt Sinne und Kopf, die Augen entzündet,
die Ohren flammend, nun dazu das Gewühl der Strassen, dass man
keine halbe Minute seinen Weg verfolgen kann, sondern ehe man sich
versieht, von der einen Seite der Strasse auf die andere verschlagen
ist, das tobende, rasselnde Gedränge der Chaisen, dass man jeden
Augenblick einen Pferdekopf auf den Schultern hat, das wütende
Geschrei dieser leidenschaftlichen südlichen Volksmenge — alles er-
träglich, ja unterhaltend, wenn man zugleich die dazu gehörigen Schön-
heiten des Südens geniesst, aber unerträglich ohne diese. Ich eile von
Rom weg, weil ich pressiert bin durch meinen kurzen Urlaub, verlasse
meine dortigen Freunde, die später auch hierher kommen, und mit denen
ich die Ausflüge Neapels angenehmer und dreimal wohlfeiler gemacht
hätte, lebe in dem teuren Neapel verstimmt, ohne Rat, wie ich nur den
Tag totschlagen soll — versäume das Dampfschiff, das heute nach
Palermo ging — weil ich nämlich Neapel doch unmöglich verlassen
kann, ohne die klassischen Punkte seiner Umgegend gesehen zu haben,
— u. muss nun vielleicht noch 4 Wochen warten, bis ein anderes
geht. Ich habe nicht leicht unangenehmere Wochen verlebt. Ich
werde aber diese verlorne Zeit bei meinem Urlaub natürlich aufrechnen
und hoffe, das Ministerium wird ein Einsehen haben.
Zwei kleine Ausflüge habe ich diesem Wetter doch abgerungen,
freilich so dürftig, dass ich den zweiten wiederholen muss. Der erste
ging auf den Vesuv und nach Herculanum. Ich habe das Ersteigen
nicht so schwierig gefunden, wie man es darzustellen pflegte, wir sind
auf den Blaubeurer Felsen schwerer u. gefährlicher geklettert. Der
Krater ist ganz anders, als ich mir ihn vorstellte; ich hatte gemeint —
und ihr wohl auch — , man sehe, oben angelangt, in den schwarzen
offenen Schlund. Aber der Krater ist, so lang kein Ausbruch statt-
findet, geschlossen, nur durch Ritzen dringt an verschiedenen Punkten
der schwefliche Rauch hervor. — Eigentlich ist es mir ein weit
grösserer Genuss, an der herrlichen Linie, die der ganze Berg bildet,
mein Auge zu weiden, als so die Nase auf seiner Spitze zu reiben.
Ja ein grosser Ausbruch, das wäre freilich etwas. Herculanum liegt
nah am Fusse des Bergs und wurde bekanntlich nicht wie Pompeji
von einer Wolke Asche und kleiner Steine, sondern von der
fliessenden, nachher fest versteinerten, Lava zugeschüttet u. ist eben-
daher viel schwerer auszugraben; zudem steht das Städtchen Resina
darüber, u. man muss das Fundament der Häuser schonen. Das
Theater ist nicht, wie der andere bis jetzt offen gelegte kleine Teil der
Stadt, ganz ans Licht gebracht, sondern wie ein Bergwerk unterirdisch
zu sehen. Da steht man auf den alten Theatersitzen oder auf der
Szene u. hört über sich die Wagen der lebendigen lichten Welt rollen-
Ist das nicht seltsam? Mehr mündlich.
Dem Vesuv habe ich oben doch Unrecht getan, er ist Haupt-
ursache der ungemeinen Fruchtbarkeit aller Umgebungen.
Dienstag den 3. März kam Scirocco, ich ergriff schnell den günstigen
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Vischer: Briefe aus Neapel und Sizilien.
Schein milderer Witterung, fuhr nach Castel-a-Mare und ritt von da zu Esel
nach Sorrent, dem berühmten Paradies von Fruchtbarkeit. Aber mein
Unstern wollte, dass der Scirocco wieder in scharfen Nordwind um-
schlug, und ich hatte keinen Genuss, als den Anblick der sturm-
bewegten Wellen, wie sie fürchterlich an den Klippen brandeten. Ich sab
diesem Schauspiel stundenlang mit ein paar Schifferiungen in unmittel-
barer Nähe zu. Mein Rückweg nach Castellamare war ein wahres
Ringen mit dem Sturm, gegen den ich mich mit ganzer Gewalt an-
lehnen musste, um nicht gewaltsam zu Boden geschmettert zu werden,
u. der mir beständig meinen Hut zu nehmen beabsichtigte, welchen
doch ich bezahlt habe, nicht er. Dennoch sah ich am anderen Tage
Pompeji, das mir am Wege lag, obwohl der Sturm fortwütete und mir
Genuss und Stimmung verdarb. Freilich ist der Eindruck so mächtig,
dass er sich dennoch gegen die Konfusion der betäubten Sinne be-
hauptete. Kann es denn etwas Poetischeres geben, als durch die
Strassen auf den Trottoirs einer vor 2000 Jahren verschütteten und
wieder (zum vierten Teile) ans Tageslicht gebrachten Stadt zu wandern?
Hier ist eine Weinschenke — man traf Töpfe und anderes Geräte
noch am Platze, hier der Laden eines Ölkrämers — man fand noch
die Kasse mit der Münze, die grossen Ölgefässe stehen noch frisch
erhalten, hier die herrlichen Badeanstalten, dort die Tempel, das Forum,
am Tore ein Schilderhaus, worin man Skelett und Waffen des wach-
stehenden Soldaten fand, im Pflaster der Stadt noch die alten Wagen-
geleise, und es warf mich plötzlich in volle Illusion, als ich um eine
Ecke biegend, einen von Ochsen gezogenen Wagen begegnete, der
Schutt fortführte, — dort siehst du ein Haus, von mutwilligen Knaben
des alten Pompeji mit Fratzen und kindischen Inschriften besudelt.
Durch was uns die Alten vollständig beschämen, ist ihr Farbensinn und
ihr Geschmack in Gefassen. Jedes Haus, jede Wand in den gewähltesten
Farben schimmernd, jedes Gefäss künstlerisch behandelt, um den Schein
des gemeinen Bedürfnisses zu entfernen, ja mehr schön als bequem.
Da sind die alten Brunnen, du siehst wie von gestern die Striemen,
die die Kette in den Stein rieb, dort Kalk, eben angemacht zum bauen
usw. Ich muss noch einmal nach Pompeji.
Ich verlebte darauf bei schlechtem Wetter wieder unerfreuliche
Tage, bis es am 8. wieder klar wurde. Sogleich ab nach Cumä usw.
mit 3 Begleitern, worunter Sick von Stuttgart, an den ich empfohlen
bin und der die Dienstfertigkeit selbst ist. In dem alten Bajae, einst
dem Sitz der höchsten Schwelgerei römischer Kaiser und Höflinge,
wo Villa an Villa sich an den reizenden Golf drängte, jetzt wüste, von
schlechter Luft verpestet, speisten wir treffliche Austern vom See
Fusaro, wo die besten gedeihen, mit edlem Sizilianer Wein. Ich könnte,
wenn ich Talente dazu hätte, mich hier leicht zu einem Feinschmecker
erster Klasse ausbilden; aber meine plebejische Natur wird die feinste
Pastete niemals einem Teller guten Sauerkrauts mit Schweinefleisch
und Blutwurst vorziehen. — Ist die Schererei von Bettlern, von
Kerlen, die sich als Ciceroni, oder mit Eseln, Pferden, Chaisen, Alter-
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Vischer: Briefe aus Neapel und Sizilien.
139
tumern anbieten und meist nur mit Prügeln abzuweisen sind, in Neapel
und der Umgegend überhaupt unglaublich, so ist sie in Bajae am un-
glaublichsten. Wir haben uns durch ihre Reihen ordentlich durch-
gehauen. Du siehst dich kaum um, u. du hast 5 bis 6 Ciceroni hinter
dir, die nicht gehen, bis du einhaust. Du kannst nicht hier stehen,
etwas betrachten, dich auf einen Weg besinnen, sogleich schreit dir
ein Kerl ins Ohr, ob du keinen Führer brauchst usw. Und doch ist
das Volk an sich nicht so schlimm, nur durch Armut und durch die
Fremden selbst verdorben.
Montag den 9. fuhr ich nach Salerno und da nahm ich den an-
deren Tag ein corricolö (zweirädriges Chaischen) nach Pästum, der Stadt
der üppigen Sybariten, wo jetzt nur noch die Trümmer der Stadtmauern
u. 3 höchst interessante griechische Tempel von der alten Pracht zeugen
and ein fiebergelbes Volk auf verpestetem Boden in elenden Hütten
haust. Im Heimweg beim Absteigen wollte mein Vetturin, ein wider-
licher, roher Kerl, das Messer gegen mich ziehen. Ich hatte nämlich
im Heimweg herausgebracht, dass der Barbar nach einem Weg von
6 Stunden und in einer Zeit von 4 Stunden Ruhe in Pästum die Pferde
nicht hatte saufen lassen. Es war unterwegs nicht mehr möglich, ' da
sie einmal im Schweisse waren. Ich machte ihm harte Vorwürfe, und
um ihm ein besseres Beispiel zu geben, kaufte ich einem Jungen, der
eine Art schöner Seevögel, die dort häufig sind, 3 gefangen mit zu-
sammengeschnürten Füssen, die Köpfe herabhängend trug, diese ab und
Hess sie fliegen. Mein Kutscher lachte mich aus. Als ich ausstieg,
verlangte er ein Trinkgeld. Ich sagte ihm, er brauche nicht zu trinken,
er solle den Durst nur auch versuchen, da er die armen Pferde habe
schmachten lassen. Er erwiderte in groben Ausdrücken, ich verstehe
mich nicht auf Behandlung der Pferde, das Trinken wäre ihnen
schädlich gewesen; ich hiess ihn eine Bestie, er warf mir höhnisch
Weichherzigkeit vor, und ich, weder geneigt, mich mit ihm herumzu-
schimpfen, noch mir seine Insulten gefallen zu lassen, gab ihm einen
Faustschlag aufs Maul. Er wurde still und bleich und griff in die
Tasche an das Heft eines Messers, ich trat zwei Schritte zurück, griff
auch in die Tasche und Hess den Hahn einer Terzerole knacken, wo-
rauf er sich eines besseren besann, aufstieg und fortfuhr. Die Gefahr
var aber nicht so gross, da die Neapolitaner nicht so zu fürchten sind
wie die Römer. Auf dem Rückweg von Bajae hatte ich eine ernst-
lichere überstanden. Ein Pferd schlug über die Deichsel, wurde toll
u. lief durch, schoss mit dem Wagen an die niedrige Mauer, die uns
von dem, an zackigen Felsen aufrauschenden Meere trennte; Sick
sprang heraus, ich bewog aber die anderen mit mir sitzen zu bleiben,
da Herausspringen immer das Gefährlichste ist; wirklich hielten die
Pferde bald und die Gefahr war vorüber.
Von Salerno ging ich den andern Tag zu Fuss nach Amalfi, dem
durch seine Schönheit so berühmten Amalfi. Es war ein lauer Tag,
der Weg schlängelt sich am schroffen wilden, aber doch höchst frucht-
baren Gebirge hin, links in der Tiefe immer das Meer, der schöne Golf
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Vischer: Briefe aus Neapel und Sizilien.
von Salerno, die fernen Ufer mit blauen Bergen, segelnde Schiffe.
Es war so recht frühlingsmässig; die Buchfinken versuchten ihre
lustigen Reiter-Reveille, konnten es aber noch nicht recht und blieben
öfters stecken, der Zizigäg und anderes kleines Volk stammelte die ersten
gebrochenen Laute — das war so heimatlich, so deutsch, dazu die Felsen-
formationen wie in Blaubeuren, in Salzburg, Tirol, mitunter spitzige
Dächer in den Dörfern, die Begegnenden eine Seltenheit in Italien —
grussen. Einer sogar servo umilissimo, Eccellenza, in der Luft war
jener feucht moosige Geruch des Gebirges, der mich ganz nach Tirol
versetzte. Weiher kreisten in der Luft. Aber nun: Orangen und
Limonen zugleich ihren Duft in die Lüfte giessend, Wälder von Oliven,
an- den Ufern fremdartige Turme, an deren felsigen Grund das Meer
brandete, draussen weit die unendlichen Wasser, kurz Italien, seine Natur,
sein phantastisches Mittelalter. Mir war seltsam, wunderbar zu Mut, ich
ging im hellen Traum weiter. Von Amalfi will ich nichts sagen, als
dass es an wilden, ungeheuren Felsen mit tiefen Grotten am Ufer hin-
gebaut ist und doch alle Vegetation des Südens hat. Stellt's euch vor
so gut ihr könnt, und lasst aus eurem Bilde die elenden Menschen
weg, deren Hunderte, wie Bremsen über ein Pferd, bettelnd über dich
herstürzen, Bettler fast nackt mit Beulen bedeckt, deren mancher vor
Hunger u. Krankheit unbeachtet in einem Winkel hinstirbt. Einst eine
grosse Stadt und Republik, reich, glänzend, mit Venedig wetteifernd.
Hoch im Gebirge nicht weit entfernt lag eine zweite Stadt, Ravello,
mit wundervoller Aussicht, jetzt verwüstet und zu einem elenden Nest
herabgesunken. Ich sah mit Interesse die Überbleibsel byzantinischer
Gebäude. Auf einem freien Platze sassen zwei modern, doch arm
gekleidete Herren u. sonnten sich, — mein Führer sagte mir, dass
dies die Trümmer des einst zahlreichen und sehr begüterten Adels der
Stadt seien. '
Von Amalfi über das hohe Gebirge einen schwierigen Weg auf
spitzigem Steingerölle auf die andere Seite der grossen Landzunge nach
Castellamare u. von da, denselben Tag noch, zum zweitenmal, nach
Sorrent, im ganzen 1 1 Stunden mit einem Butterbrot u. 8 Orangen, aber
höchst vergnügt, einmal wieder Fusstouren zu machen. Ein ordentlicher
Junge trug mir den Mantel u. unterhielt mich durch naive Fragen. Von
Castellamare nach Amalfi wählte ich der schönen Aussichten wegen den
schwierigeren, einsamen Weg an der Höhe der Berge hin, denn nun
hatte ich wieder den Vesuv u. den Golf von Neapel vor mir. Hier
schloss sich ein alter Mann an mich an, der ein Stück Thunfisch, in
Castellamare gekauft, an einem Baste trug, das ihm jeden Augenblick in
den Kot fiel, worauf er es torkelnd, denn er war betrunken, wieder
aufhob. Er wollte mir rückgängige Angst vor dem heute von mir zurück-
gelegten Wege machen u. sprach mit trockenem u. mühsamem Aus-
spucken immer von latri (Räubern); ich entdeckte aber, dass er eigent-
lich mich für einen hielt, denn als ich zufällig an einen Schirm schlug,
dass er etwas rasselte, taumelte er an die Felsen und sah mich ganz
gespässig an. Wir schieden aber in guter Freundschaft. — Nun sah
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Vischer : Briefe aus Neapel und Sizilien.
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ich Sorrent im glühenden Abendlichte bei klarem warmem Himmel.
Auf einer Ebene von nicht allzugrossem Umfang, deren Grund aus
Lavafelsen in den schönsten Umrissen des Ufers ins Meer vorspringt,
kocht hier die Sonne des Südens den strotzenden, öligen Segen aus,
von hier aus wandern die meisten Orangen und Limonen nach Neapel
u. ins Ausland, hier hängen einem die goldenen Früchte fast in den
Mund. Die Abendsonne schien durch das dunkle in grünem Feuer
glühende Laub auf die brennenden reichlichen Früchte. Es war mir
nicht leicht sonst so ganz italienisch zumut. Den andern Tag nahm
ich eine Barke nach der Insel Capri, mehr um sagen zu können, ich
sei dort gewesen, als aus wirklicher Neigung, denn die berühmte blaue
Grotte, ein wirklich hübsches Theaterstückchen der Natur, muss man
doch wohl gesehen haben. Auf dieser Insel schwelgte Tiber, noch sind
merkwürdige Trümmer seines Palastes zu sehen. Am meisten Reiz für
mich hatte die Fahrt hin u. her, denn das Meer ging ziemlich hoch, das
Schifflein schoss tief und dann hoch über den Wellen, von 4 Ruderern
durch jede Drohung des ungestümen Elements kräftig hindurchgerissen.
Anfangs hat man schon ein bisschen „Mohren",1) denn die Wellen, die
von weitem klein scheinen, kommen bei nicht bedeutendem Winde doch
mannshoch gegen dich, u. es dringt sich der Gedanke, dass das Meer
keine Balken hat, lebhaft auf, aber bald begreift man, dass ein Schiff
so leicht nicht umschlägt, u. erfreut sich dann eines sehr energischen
Zustandes.
Nun alle meine Freunde, lebt wohl auf lange Zeit, denn ich komme
so spät als möglich nach Haus, denkt an mich, behaltet mich lieb, ich
bin viel bei euch, der Süden bietet vieles, aber keine Freundschaft.
Zum Schluss noch ein italienisches Charakterstückchen. In Bajae
schmeichelte ich einem Hunde, sogleich kam ein Junge her u. schnurrte
in einem Atem 5 bis 6 mal her: questö canl a due anni, date mi qualchZ
cosä. (Der Hund ist 2 Jahre alt, geben Sie mir ein Trinkgeld.) In
Sorrent wohnte ich in einem Wirtshause, wo ich mit der Familie des
Wirts in sehr gemütlichem Verhältnis lebte, es schienen u. sind wohl
auch herzgute Leute, dennoch logen sie mich an, die Barke nach Neapel
koste viermal mehr, als sie wirklich kostet, nur um den Schiffern einen
Gewinn zuzuschanzen. Es ist keine Treue in dem Volk, ja sie wissen
kaum, dass es eine gibt.
Machen wir's besser, addio. Mit dem nächsten vapore nach
Palermo.
Neapel, d. 18. März 1840.
P. S. Über die Brandung im Sturm zu Sorrent lege ich einen
poetischen Versuch bei, in dessen Gesellschaft denn auch die beiden
andern im Morg.-Bl. stehen mögen. Ein anderes kleines Ding mag dem
subjektiven Tone der ersteren zu einigem Schutze dienen.*)
») Furcht.
•) S. ersten Jahrgang, VI. Heft, S. 477, Anmerkung, und Fr. Vischer, Lyrische
Ginge, S. 82 und 72.
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Vischer : Briefe aus Neapel und Sizilien.
Meine Lieben!
Einen stürmischen, unangenehmen Tag in Syrakus will ich benützen,
euch vor meiner Abfahrt nach Griechenland noch einmal Kunde von
mir zu geben. Denn ich unterhalte mich gerne mit euch u. denke, so
viel Grosses u. Schönes ich sehe, doch viel, ja immer an die Freunde,
in deren Gesellschaft ich alles verdoppelt geniessen würde.
Ich habe seit meiner Abfahrt von Neapel ein merkwürdiges Stück
Leben durchlebt. Das erste war ein nicht unbedeutender Sturm auf
der Überfahrt nach Palermo. Es fing an mit einem Tone, den ich nicht
anders beschreiben kann, als wie wenn Tausende u. Tausende von
Trommlern Sturm trommelten, dazu ein feines scharfes Pfeifen der Taue.
Die Wellen hoben sich furchtbar u. schlugen häufig auf das, obwohl
hohe, Verdeck. Das Schiff schien jeden Augenblick umschlagen zu wollen,
u. da es keinen Kiel u. eine schwache Maschine hatte, so fürchteten
die meisten Passagiere für ihr Leben. Ich stand, dankbar meinem guten
Sterne, dass es mir vergönnt sein sollte, dies majestätische Schauspiel
zu erleben, auf dem Verdecke, mich an den Tauen haltend, bis es Nacht
wurde. Nun Hess ich mich in die Kajüte führen (denn das Gehen
war ohne Hilfe bei dem starken Schwanken des Schiffes nicht möglich).
Hier sah es schlimm aus; die meisten waren schon lange seekrank, u.
zwischen das allgemeine Erbrechen hörte man Klagen, Ausrufe der Angst,
ängstliches Fragen nach dem Wetter; dazwischen krachten und ächzten
die Balken des Schiffs u. stampfte eintönig die müde Maschine. An
meinem Bett, oder richtiger Hundsställchen, knieten 2 Kapuziner, be-
kreuzten sich, beteten, jammerten o poveretH noil Siamo perduti! Siamo
perduti! O S. Maria, S. Antonio! u. was weiss ich, welche Heiligen sie
noch anriefen. Ich für meine Person befand mich körperlich vollkommen
wohl, ass mit dem grössten Appetit u. trank herrlichen Syrakusaner,
ohne mich von dem Schwanken des Schiffs, das Sessel, Gläser u. alles
jeden Augenblick umwarf, noch von der schlimmen Tafelmusik des all-
gemeinen Erbrechens stören zu lassen ; ja ich rauchte beständig, so gut
war der Magen. Als ich in meinen Stall gekrochen war u. die Laterne
der Kajüte immer mehr nach der Seite hing, lief mir der erste Schauder
über den Rücken, denn es ist eine wirklich höchst unheimliche Vor-
Stellung, zu den schleimigen Molusken, den hungrigen Haifischen, den
Meerspinnen u. anderem Volk so hilflos hinabgeschleudert zu werden
in die kalten Wellen; aber die Feigheit u. das elende Jammern der
anderen brachte mich sogleich wieder auf die Beine u. ich hielt dem
einen Kapuziner, dem ich erlaubt hatte, seinen Kopf auf mein Kissen
zu legen, u. und der mich mit seiner spitzigen Kapuze öfters in der
Nase kitzelte, eine wohlgesetzte Strafrede, dass er, ein Geistlicher, so
ein schlechtes Beispiel von Mutlosigkeit gebe, während wir Weltlichen
uns ruhig u. vernünftig zeigen. Nach dieser rhetorischen Leistung schlief
ich fest ein, u. als ich den anderen Morgen erwachte, hatte der Sturm
sich gelegt, wenigstens war die Gefahr vorüber. Ich war wieder der
erste auf dem Verdeck, es war noch ein Lärm, ein Wüten, das Schiff
schoss noch herauf und hinab, dass einer, der dies nicht mit dem viel
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Viseber: Briefe aus Neapel und Sizilien.
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stärkeren Ungestüm des vorigen Abends vergleichen konnte, dies für
völligen Sturm gehalten hätte. Ein Zug von Delphinen scherzte neben
dem Schiff. Die Passagiere krochen allmählich, wie klebrige Fliegen, die
von der ersten Wärme auftauen, mit grasgrünen, erdfahlen Gesichtern
hervor, ein Offizier streckte den Kopf aus der Gardine seines Betts,
stierte mich an u. sagte: Aber Sie hab' ich beneidet 1 Wir alle krank,
u. Sie haben gegessen wie ein Wolf, geschlafen wie ein Sack u. dazu
noch immer geraucht! Ich setzte mich auf dem Verdeck auf einen Sessel
u. schlief ein bisschen ein, aber das Schiff schwankte noch so stark, dass
ich plötzlich samt dem Sessel das Verdeck entlang rollte, zu allgemeiner
Heiterkeit.
Endlich zeigte sich Palermo, das herrliche Palermol Kennt ihr das
eigentümliche Aroma, das Sizilien für die Phantasie hat? Da tauchen
alte Phönizier vor dem Geiste auf, schöne Griechen folgen u. bewohnen
in herrlichen Städten die reizenden Ufer, braune wilde Karthager fallen
ein, es folgt der stolze harte Römer, nach Jahrhunderten stürzen sich
Araber mit der Fahne des Propheten auf die Insel u. bauen seltsame
Paläste, goldstrotzende Moscheen, küble Gärten mit herrlichen Grotten,
aber auch sie halten nicht aus, der kühne blonde Normanne unterwirft
sich alles, u. endlich — kommen unsere schwäbischen Kaiser u. regieren
lange Jahre friedlich das schöne Königreich. In der Kathedrale von
Palermo liegen die Hohenstaufen Heinrich VI. und Friedrich II. begraben,
u. ein seltsames Gefühl verband mir den wohlbekannten Berg meines
Vaterlandes mit diesem fernen Punkte Europas.
Aber was mussten wir erleben? Palermo, sage Palermo, in dieser
Nabe von Afrika, Palermo, wo im Januar die Blüte beginnt, wo 6 Wochen
früher die Gesellschaft O. Müllers von der Sonne dunkel gebräunt
wurde — ringsum alle Höhen mit Schnee bedeckt! Es ist in Sizilien u.
Italien dieselbe Klage wie in Deutschland, dass seit 5 Jahren statt des
Frühlings ein zweiter, ohne Beispiel rauher Winter einzutreten pflegt.
So sollte es mir denn nicht bestimmt sein, das schöne Palermo in dem
seiner Landschaft angemessenen Charakter der Luft u. Beleuchtung zu
sehen, ich verlor durch Warten wieder kostbare Tage, sah aber an Alter-
tümern antiker Skulptur u. mittelalterlicher Architektur viel Bedeutendes
a. Belehrendes. — Ich war einmal in Sizilien, ich konnte mich nicht
entschliessen, es zu verlassen, ohne Segeste, Selinunt u. Girgenti ge-
sehen zu haben, u. machte mich mit einem Russen, Hludoff aus Peters-
burg,1) auf den Weg. Wir hatten 2 Maultiere u. 1 Pferd, der Maultier-
treiber ritt 1 der Tiere, welches zugleich das Gepäck trug. Eine Reise
von 12 Tagen auf völlig ungebahnten Strassen, durch tiefe Moräste,
durch angeschwollene Bergströme, jetzt 3 Stunden in kaltem Platzregen,
jetzt tagelang vom Sturme fast zerfetzt, jetzt von der Sonne Siziliens
halb gebraten. Zweimal blieb mein Maultier mit mir im tiefen Moraste
stecken u. fiel zusammen, einmal fiel das gepackte Maultier mit dem
muletiere,1) dieser unter das Tier, u. es ist ein Wunder vom Himmel,
') Vgl. Fr. Vischer, Altes und Neues, Stuttgart, Bonz, III, 1882, S. 302.
*) Maultiertreiber.
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Vischer: Briefe aus Neapel und Sizilien
dass er nichts gebrochen hat. Die Maultiere sind sehr widerwärtige
Tiere, äusserst schwierig zu leiten, suchen immer den schlechtesten Weg
aus, sind ungegrifft, rutschen und stolpern beständig. Da hiess es auf-
gepasst, wo oft ein Pfad von 1 Schuh breit, schlüpfrig vom Regen, an
einem Abhang hinführte. Am schwierigsten war der letzte Fluss zu
passieren, fiume delle Platane. Als wir an den Furt kamen, trafen
wir wehklagendes Volk am Ufer. Es war soeben ein Maultier er-
trunken u. der Reiter mit Mühe gerettet worden, die arme Familie,
deren einzige Erwerbsquelle dieses Tier war, war ruiniert; der Mann
hatte sich über das tote Tier geworfen und jammerte mit der Leiden-
schaftlichkeit dieser südlichen Naturen, jenseits am anderen Ufer Weib
u. Kinder. Am Ufer war eine Anzahl von Männern um Kohlen ge-
lagert, die zur Unterstützung u. Rettung aufgestellt waren. Diese
wateten nackt neben uns durch den Strom, um im Moment, wo ein
Tier strauchelte, es von der aus dem Gleichgewichte gekommenen Seite
anzustemmen. So kamen wir glücklich hinüber. Am vorletzten Tag
hatten wir glühenden Scirocco; mein Gesicht ist dunkelrot gebrannt,
die Haut schält sich ab u. ist mit blutenden Schrunden bedeckt, eigent-
lich gebrägelt. Den Tag darauf eiskalter Wind, dann anhaltend u.
gründlich eindringenden Regen. Endlich hier in Syrakus angekommen,
mussten wir uns gestehen, dass wir alle. Strapazen eines Feldzugs er-
fahren haben, u. dass uns nur noch eine Schlacht fehlt, um jeden Zu-
stand gewaltsamer Beschwerde, der den Menschen treffen kann, zu
kennen. Und doch sind wir zufrieden, denn wir haben Herrliches ge-
sehen. Eine unglaubliche Vegetation; die Wolfsmilch z. B., bei uns ein
kleines Stäudchen, wird hier ein kleiner Baum, unter der indischen
Feige kann man wegreiten, eine Pracht von Blumen blüht wild. Oft
ritten wir am Ufer des Meeres hin, mitten im Schaum der Wellen, des-
selben Meeres, wo einst Odysseus mit seinen hauptumlockten Achäern
irrte, lagerten uns dann auf einem Hügel, speisten ein Kaninchen u.
tranken den sizilianischen Feuerwein aus einem Topfe noch ganz von
derselben Form, wie Geron, Dyonis, Agathokles es getan. Unter den
historischen Punkten zeichnet sich besonders Girgenti aus, wo noch
2 Tempel der reinsten griechischen Form in ihren Hauptverhältnissen
erhalten auf das Ufer des Meeres herabsehen, andere in Trümmern
malerische Gruppen bilden. Von den Trümmern des Jupitertempels
wisst ihr, dass eine einzige Kannele einer Säule bequem die Schultern
eines Mannes in sich aufnimmt; wären die Säulen vollkommen, so
brauchte es 20 Männer, eine Säule zu umfassen.
Einmal wurden wir durch Regen in ein von der — Chaussee! (hätte
ich bald gesagt) — ganz entlegenes, von Fremden nie besuchtes Dorf ver-
schlagen. Herr meines Lebens! welche Neugierde! wie Wilde! Wo wir
uns sehen Hessen, schleppten wir wenigstens 100 Menschen hinter uns.
Wir flohen in die Kirche u. fielen hier einem neugierigen Pfaffen in die
Hände, der uns sogleich nach der Konfession examinierte u. zu diesem
Behuf uns an den Altar führte, dann uns vorschlug, mit ihm vor der
Hostie niederzuknien, was er denn sogleich vormachte. Ich sagte ihm:
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Thaddäus Zielinski: Schön Helena.
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wir glauben an Christus, pflegen aber überhaupt nicht zu knien, u. ich
hoffe, wir werden uns, wenn wir nur sonst keine Spitzbuben seien,
einmal alle im Himmel wiederfinden, worauf wir uns empfahlen u. der
Pfaffe von dem Volke ausgelacht wurde. Im Wirtshaus wurden ein Paar
Winterschuhe aus Seilband als höchstes Kunstwerk menschlicher Industrie
bewundert.
Nun Gott befohlen! Ich schäme mich fast, so oft von euch Ab-
schied zu nehmen, ihr wisst, ich kann es sonst nicht leiden, aber es
sei eine Art voraus geleistete Busse dafür, dass ich jetzt, ehe ich nach
Triest komme, nicht wieder schreibe.
Ganz euer
Syrakus, d. 26. April 1840. Fr. Vischer.
' r»^ IM iKW >T.W) 'T.W it.W ' T.W i r.Wrrt.WrT* '•^.^^.»^.'•^.W^T.Wvf.Wvf.'lT^'i <OT7*W
Schön Helena.
Von Thaddäus Zielinski in St. Petersburg.
Als Faust sie in die Wirklichkeit zurückzaubern wollte, jene
wunderbare Frauengestalt, an die sich als Liebeshuld der Jahrhunderte
der Name der »Schönen* geheftet hatte — da musste er den un-
heimlichen Gang unternehmen, der ihn zu den »Müttern" führte. Es
steht auch heute damit nicht anders; wer sie erringen will, muss ihm
nach an jene Schauerstätte, die kein Wo und kein Wann erlaubt. Die
Kunde aber, die ihm dort wird, lautet also:
Es war um den Beginn dessen, was nie begonnen hatte; der
ewige Gott besann sich auf seinen Ursprung; da er es getan, graute
ihm vor dem Ende dessen, was nie enden sollte. Um es fern zu
halten, schuf er den Menschen — vielmehr den Übermenschen, den
vom Weibe geborenen Helden aus göttlichem Samen. Ein geheimnis-
volles Wort, dem Urquell alles Seins entstammend, hatte ihm offenbart,
nur durch einen solchen, der, dem höchsten Gott entstammend, ihm
nichts als seinen Ursprung verdanke, könne des Götterreiches Ende
aufgehalten werden. So begann des Übermenschen Wallen auf Erden
— ein Gegenstand steter Sorge für seinen Erzeuger, der ihm doch
nirgends Hilfe leisten durfte . . . Des erbarmte sich seine himmlische
Tochter, die Göttin der ewigen Jugend und Schönheit; freiwillig ent-
schlug sie sich ihrer Göttlichkeit, um dem Götterheiland in seinen Ge-
fahren als treue Genossin und Beraterin helfen zu können. Lange
€nbbeuti*e *Ronot8$eftr II,* 10
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Thaddäus Zielinski: Schön Helena.
hatten sie Glück, der Held und die Jungfrau; da fügte es das Ver-
hängnis, dass sie selbst in die Gewalt der finstern Mächte geriet, von
denen dem Götterreiche der Untergang drohte. Die Jungfrau war bei
den Riesen gefangen; der Gatte und der Held, beide von ihren Scharen
begleitet, mussten alles dran setzen, sie zu befreien. Schon war die
starke Burg der Riesen gebrochen — da geschah das Unerwartete. Sei
es Tücke der bösen Feinde, sei es Verhängnis : der Held vergass seiner
hohen Genossin und entbrannte in Liebe zu einer schönen Tochter des
feindlichen Stammes. Nun wandelt sich die Liebe der himmlischen
Jungfrau in tödlichen Zorn; durch ihren Rat fällt der Götterheiland, von
der Waffe des Feindes getroffen; sie besteigt mit ihm den Scheiterhaufen,
dessen Glut beider Seelen zur Hölle entführt, und „der ewigen Götter
Ende dämmert ewig nun auf".
Das ist die Ursage der europäischen Menschheit. Nach der
Völkerspaltung wurde sie von vielen vergessen; aber die Hellenen be-
wahrten sie treu. Als auch diese sich in Stämme spalteten, wurde auch
die Ursage verschieden gefasst und ausgestattet. Zeus als höchster Gott
war allen gemeinsam ; aber den einen hiess der Götterheiland Herakles,
seine Beschützerin im Himmel Athena und auf Erden Deianira; bei
andern lauten die drei Namen Jason, Hera und Medea; bei den dritten
Meleager („der unglückliche Jäger*), Artemis und Atalante; bei den
vierten endlich Achill, Aphrodite und Helena . . . Das stimmt nicht
ganz zu dem, was uns Homer von Achill und Helena erzählt — ja,
die Mütter, Mütter 1 's klingt so wunderlich.
Was Homer erzählt, wissen wir alle. Helena ist die Tochter des
Zeus; aber ihr Gatte heisst nicht Achill, sondern Menelaos. Dass sie
geraubt ist von Paris und den Troern, wider ihren Willen geraubt,
daran hält auch er fest in den ältesten Gesängen; später auch nicht
mehr. Und Achill ist ausgezogen, sie zu befreien aus der Gewalt der
Troer; warum er es getan hat, weiss er selbst nicht recht (I 152 f.,
Jordan): ' 1
Nimmer bewogen ja mich die waffenkundigen Troer
Herzukommen zum Kampf: mir taten sie nie was zuleide.
Und er ist es auch nicht, der sie befreit. Zwar die Ilias schliesst für
uns mit der bedeutsamen Zusammenkunft des Helden und des Troer-
königs; erst aus späteren Quellen erfahren wir das weitere. Er kann
die Geraubte nicht befreien: ihm hat es eine Tochter des Troerkönigs
angetan, Polyxena, in deren durchsichtigen Namen wir die Todesgöttin
erkennen. Diese Liebe wird für ihn verhängnisvoll. — Und wenn wir
nicht ferner wüssten, dass die Spartaner Agamemnon als Zeus verehrten,
und dass nach einer festen Sage Achill mit Helena vereint auf den
Inseln der Seligen wohne — es würde uns schwer fallen, in der
homerischen Fassung die Ursage zu erkennen.
Diese homerische Fassung wurde nun die verbreitetste in Hellas.
Es kam dem Dichter nicht darauf an, durchaus die ursprünglichen Züge
festzuhalten ; seinen Fortsetzern noch weniger. Ich habe bereits erwähnt,
dass nach der ursprünglichen Dichtung Helena als gewaltsam geraubt
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Thaddäus Zielinski: Schön Helena.
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erscheint; doch später erschien es weit dankbarer, den physischen Zwang
durch einen psychologischen zu ersetzen. Helena hat sich rauben lassen:
Aphrodite hat sie betört. Und so lebt sie in Troia, ihrem neuen Gatten
Untertan, scheel angesehen von dem ganzen königlichen Haus, dem sie
den Krieg als Mitgift gebracht hat . . . nur Priamos selber ist wie „ein
Vater stets gütig" gegen sie, und auch ihr heldenhafter Schwager
Hektor steht zu gross da, um durch Scheltreden die Tiefgebeugte und
Reuige vollends in den Staub zu treten. Helena, die reuige Sünderin
— das ist das Bild, das wir aus den späteren Gesängen der Ilias
gewinnen.
Als solche konnte sie in ganz Hellas auf Teilnahme und Interesse
rechnen — nur in ihrer Heimat, nur in Sparta nicht. Sparta kannte
die Zeustochter Helena als Göttin — im benachbarten Therapne stand
ihr Heiligtum, und manches Wunder wurde auf ihr Eingreifen zurück-
geführt. Nicht nur, dass ihre Flamme den Schilfern bei Gewittern als
ein rettungverheissendes Zeichen auf der Mastspitze erschien — „Helenas
Feuer" lebt noch heute, christlich umbenannt, als „St. Elmsfeuer" nach
— auch persönlich erwies sie sich den Hilfesuchenden hold. Eine
hübsche Geschichte von ihr erzählt Herodot. Einem vornehmen Spar-
taner war ein Töchterchen geboren worden, ein Kind von äusserster
Hässlichkeit. Beide Eltern waren unglücklich darüber; die Wärterin,
von stiller Hoffnung geleitet, trug es täglich ins Heiligtum der Helena
nach Therapne und flehte die Göttin an, dem Kinde die Missgestalt zu
nehmen. Eines Tages nun, wie sie gerade den Tempel verlassen hatte,
trat eine hohe Frau auf sie zu. »Was trägst du auf dem Arm?" —
„Ein Kind." — »Zeig es mir." — „Nein, das darf ich nicht, die Eltern
haben es verboten." — „Tu's dennoch." Das Wort muss wohl zu ge-
bieterisch geklungen haben; die Wärterin wagte es, das Tuch zu lüften,
das die Schande der Eltern vor der Welt verbarg. Die Fremde aber
streichelte das Kind und sagte: „Das wird dereinst das schönste
Mädchen in Sparta werden." — Und so wurde es auch.
Das war die Göttin Helena. Und die sollte einst als reuige
Sünderin in Troia gesessen haben, angstvoll sich vor dem Zorne des
Volkes bergend und mit noch grösserer Angst dem Tag der Entscheidung
entgegensehend? Das wollte man nicht glauben. Aber wo war die
Autorität, die den grossen Sänger der Vorzeit Lügen strafen konnte?
Eine solche Autorität gab es: es war Delphi, die geistige Vormacht
Griechenlands während der Jahrhunderte, die der Erhebung Athens
vorausgingen. Delphi konnte Helena dichterisch retten, denn ein
grosser Dichterkranz stand ihm zu Gebote — alle, welche die lyrische
Poesie der Griechen ausbauten; und Delphi wollte es auch tun, denn
es war Sparta hold. Wie es aber geschah, darüber wird uns folgendes
erzahlt :
Ein Dichter des griechischen fernen Westens, mit seinem Sänger-
namen Stesichoros genannt, hatte den Helenastoff nach homerischem
Vorbild in Balladenform bearbeitet und die Heldin als Treulose, Männer-
umbuhlte hingestellt; bald darauf verlor er die Sehkraft. Da nahte ihm
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Thaddäus Zielinski: Schön Helena.
ein wunderbarer Gast aus dem Eiland, auf dem Achill mit Helena ein
seliges Leben führend gedacht wurden; die Blindheit, sagte er, wäre die
göttliche Strafe für den Frevel, den der Dichter an Helena begangen
hätte. Stesichoros ging in sich und dichtete seine berühmte .Palinodie«
— die erste dieses Namens, einen echten »Widergesang". Auf die Ur-
sage freilich, die ihm selber schwerlich bekannt war, konnte er nicht
zurückgreifen; es galt dem homerischen Pfad möglichst treu zu bleiben
und dabei doch die Ehre der Heldin fleckenlos zu erhalten.
Dazu bot sich ein delphisches Hausmittelchen ungezwungen dar — das
Motiv des Trugbilds. Helena ist nicht dem Paris nach Troia gefolgt —
die Götter haben sie nach Ägypten entrückt und an ihre Stelle ein
Trugbild geschaffen, das sich denn auch vom Entführer gehorsam
rauben Hess. Zehn Jahre lang wurde um des Trugbilds wegen Krieg
geführt ; auch Menelaos merkte den Irrtum nicht, als er nach Eroberung
der Stadt die falsche Helena in die Arme schloss. Doch auf der Rück-
fahrt fügte es sich, dass sein Schiff von den Winden nach Ägypten
verschlagen wurde; da trat ihm seine echte Gattin rein und treu ent-
gegen, das Trugbild aber zerfloss in die Luft, aus der es geschaffen war.
Also die „Palinodie* des Stesichoros; ihre Nachklänge finden wir
bei Herodot und Euripides, viel Einfluss hatte sie trotzdem nicht;
als die Zeit der politischen Mythologie vorbei war — und das geschah
um die Wende des vierten Jahrhunderts, als Griechenlands Freiheit ver-
loren ging — da trat die reine Poesie wieder in ihre Rechte. Die reine
Poesie, allerdings — rein nicht nur von politischer, sondern auch von
ethischer Tendenz. Die ethische Dichtung des fünften Jahrhunderts
hatte das frevelnde Paar Paris und Helena mit der Schmachkrone belohnt
und dafür dem gekränkten Gatten ihre Teilnahme zugewandt in Worten,
die ihresgleichen in der Literatur suchen. (Aesch. Ag. 391 ff.,
Droysen.)
. . . Doch er, beschimpft, sonder Zorn, sonder Vorwurf, schweigend,
Süsstrlumend, die er verlor, zu scbau'n, —
Er wihnt voll Sehnsucht, der Meerflucbfgen Geist
Walte noch, wie sonst, im Haus.
Schöngemeisselter Bilder
Anmut ist ihm zuwider;
Seines Auges verlor'ne Lust
Aller Liebe Verlust ihm!
Und träum verwebt, trauerreich umschweben
Gestalten ihn, seines Grams wunderboldcs Trugspiel.
So trughaft, wenn du Liebstes wlbnst zu schau'n,
So fluchtig deinen Hlnden entfloh'n,
Verfliegt, verschwindet dir mit leisem Flügel
Dein Traumgesicht weit in Schlafes Weiten.
Jetzt wurde es anders. Die romantische Poesie der Nachblüte wandte
sich ab vom verlassenen König und sparte alle ihre Kränze für den
kecken Jüngling, der um der Schönheit willen Macht und Weisheit
dahingegeben hatte. Paris war der Held der alexandrinischen Poesie;
an ihn schössen die gesprengten Elemente der Ursage an, so dass er
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Thaddäus Zielinski: Schön Helena. 14g
geradezu an die Stelle des ursprunglichen Achill trat. Und noch in
anderer Hinsicht war die alexandrinische Romantik die Synthese der
früheren Poesie; hatte die Zersplitterung des hellenischen Volkes zu
einer Brechung der himmlischen Jungfrau und des Übermenschen geführt
— wir haben das Paar als Herakles und Deianira, als Achill und Helena,
als Jason und Medea, als Meleager und Atalante kennen gelernt — so
sammelten sich nun die gebrochenen Strahlen zu einem, wenn auch
nicht mythologisch so doch poetisch, einheitlichen Bilde. Das Bild aber
sah also aus:
Als Paris zur Welt kommen sollte, träumte seiner Mutter, sie
brächte einen Brandscheit zur Welt, der das ganze Haus in Flammen
setzt ... ich unterbreche die Erzählang nicht gern mit gelehrten Notizen,
muss aber doch betonen, dass der Brandscheit aus der Meleagersage
stammt. — Infolgedessen lässt ihn sein Vater Priamos aussetzen; durch
ein Wunder gerettet, wächst er in den Wäldern der Ida zum Jüngling
heran. Dort, als junger Hirt die Herde seines unerkannten Vaters
weidend, fesselt er durch seine Schönheit eine Nymphe des Ortes,
Oenone . . . Auch hierzu eine Notiz: Deianira, die Jungfrau der He-
raklessage, wird uns Tochter des Oeneus genannt, und nichts anderes
als „Oeneustochter" will auch der Name Oenone besagen. Im übrigen
ist sie zauberkundig wie Medea und eine Jägerin wie Atalante; sie pflegt
liebevoll den jungen Königssohn, verrät ihm seinen hohen Ursprung und
unterweist ihn in allem Wissen; als echter Waldknabe führt er mit
ihr ein glückliches Leben in den Schluchten der Ida, bis die Stunde des
Verhängnisses kommt. Er wird zum Richter auserwählt in dem Schön-
heitsstreit der drei Göttinnen; und seit er die göttlichen Gestalten ge-
sehen, verblasst in seinen Augen die Anmut seiner Waldesbraut. Er
sehnt sich nach der Verheissenen, die das irdische Abbild der Aphrodite
ist; traurig gibt ihm Oenone das Geleit zu seiner Meerfahrt, deren
unheilvollen Ausgang sie ahnt. Sie lässt ihn ziehn: »in höchster Not",
sagt sie ihm beim Abschied, „kehre zu mir zurück.*
Das war das Idyll; es folgt das Epos. Wir kennen es alle: Paris
zieht nach Sparta, wird von Menelaos freundlich aufgenommen, lohnt
ihm die Gastfreundschaft mit dem Raube seiner Gattin, bringt seinen
Eltern Helena als unheilvolle Schwiegertochter ins Haus. Wie gründ-
lich sind doch die Rollen vertauscht! Wie Paris an die Stelle des
Helden der Ursage getreten ist, so hat Helena ihren Platz an Oenone
abgetreten und ist zu jener Erdenbraut geworden, die den Helden zum
Treubruch verleitet und die Ursache seines Untergangs wird. — Es
entbrennt der troianische Krieg; zehn Jahre tobt er, hüben und drüben
fallen die besten Helden, zuletzt ist Paris der einzige Hort der be-
lagerten Stadt. Kein Lebender kann ihm widerstehen — ein Toter ist
es, der ihm zum Verhängnis wird, Herakles, der schon einmal, zu seiner
Ahnen Zeit, seine Heimat erobert hatte. Fern auf Lemnos weilt der
Mann, der den sichertreffenden Bogen des Herakles spannen und seine
giftgetränkten Pfeile versenden kann; er wird geholt, und die Stunde der
Vergeltung ist da.
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150
Thaddius Zielinski : Schön Helena.
Das Epos ist zu Ende; das Drama beginnt. In blutiger Schlacht
empfängt Paris die entscheidende Wunde vom Pfeile des Herakles. Er
weiss, was das bedeuten will: in höchster Not gedenkt er der treuen
Freundin seiner glücklichen Jugend. Wieder umfängt ihn der Waldes-
schatten der Ida; ein Waffengenosse eilt voraus in die kühle Grotte, in
der Oenone ihre zehn Wttwenjahre vertrauert hatte. Nun kann sie
kommen; der Todespfeil hat ihr das Anrecht auf den Gatten wieder-
gegeben. Ob sie aber auch kommen will? Zu mächtig ist das Gefühl
der Kränkung in der Verlassenen ; mit bösem Wort entlässt sie den
Boten, der dann dem Todeswunden die trostlose Nachricht bringt. Doch bald
darauf hat sie die Reue übermannt ... sie verlässt ihre Behausung, eilt
zur Stätte hin, wo sie den treulosen Freund wiedersieht. Es scheint
zu spät: entseelt liegt er auf der harten Erde . . . Nicht zu spät für
Oenone und den Zauber, über den sie gebietet. Sie zwingt die kaum
erst entflohene Seele in den starren Leib zurück, schon atmet die Brust,
schon röten sich die Wangen, ein dankbares Lächeln umspielt den
Mund, die Lippen regen sich, sie flüstern ein Wort — Oenone lauscht
in qualvoller Spannung — es ist ein Name: der Name „Helena" . . .
Zornig springt die Retterin auf; Paris sinkt in die Arme des Todes
zurück, aus denen ihn nunmehr niemand befreien kann.
Es ist Nacht; die wenigen Genossen, die der Spur des Helden
gefolgt waren, die Hirten und Jäger des Ortes machen sich auf, ihm
einen Holzstoss zu schichten. Es fallen die Tannen der Ida; der Holz-
stoss ragt, der letzte Hort Ilions hat seine Ruhestätte gefunden. Da,
als die Flammen bereits seinen Leib umfangen hatten, tritt ein ver-
schleiertes Frauenbild aus dem Walde hervor. Zum letzten Male nähert
sich Oenone dem Geliebten; diesmal, um seinen Tod zu teilen.
Das war die letzte Ausgestaltung der Helenasage bei den Griechen;
wer sie gegeben hatte, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, vermutlich
Kallimachos, das Haupt der romantischen Schule. Wir kennen sie nur
aus abgeleiteten Quellen, unter denen ein Spätling, Quintus von Smyrna,
an erster Stelle zu nennen ist.
Wir werden wohl nicht anstehen, dieser romantischen Helenasage
das Attribut der „schönen" zu belassen; es wäre auch nicht wunderbar,
wenn neben ihr die naive homerische Büsserin manchem blass und farb-
los erschiene. Und doch — sieht man genauer hin, so ist es das Trug-
bild der Helena, das die Götter den Dichtern und Künstlern ausgeliefert
hatten; sie selbst hatten sie an den raumfernen Ort entrückt, bis „der
ewigen Götter Ende ewig aufdämmern" würde . . . Wohin, das wissen
wir bereits: zu den Müttern.
Und sie kam allmählich heran, die Götterdämmerung; der längst
besiegte Osten schickte seine Heerscharen, den siegreichen Göttern den
Haft der Welt zu entreissen. Es ging dabei wundersam zu. Ein uralter
Wettstreit im Jordanland zwischen Juda und Israel, Jerusalem und
Samaria, Sion und Garizim — er erneuerte sich in grossem Massstabe
auf der Weltbühne, deren Mittelpunkt Rom war. Simon der Samarite
zog westwärts, ein neuer Paris, die Weisheit und Schönheit der hei-
Thaddäus Zielinski: Schön Helena. 151
lenischen Kultur zu gewinnen . . . doch nein, wir drücken uns zu abstrakt
aus: was er gewinnen wollte, war Helena. Er trat an die Stelle des
Übermenschen, um mit Hilfe der himmlischen Jungfrau den Göttern
ihre letzten Schlachten schlagen zu helfen. Simon und Helena — das
ist das zauberkräftige Paar, das den Jüngern Christi kämpfend entgegen-
trat: .Helena selber will er von den obersten Himmeln der Welt zurück-
gegeben haben, die Herrin, die allwirkende Wesenheit und Weisheit,
um derentwillen die Hellenen und die Barbaren einst gekämpft hatten . . .
um ein Trugbild der Wahrheit; denn die wahre war damals beim
obersten Gotte." Die Worte, die ich soeben zitierte, stammen aus
einem hochbedeutsamen Buche, dem ersten Romane der Christenheit,
den die Tradition dem Schüler Petri beilegt, Clemens, dem zweiten
Papste von Rom. Dieser war der Sohn eines vornehmen Römers,
genannt Faustus; sein Bruder Faustin war, durch eine jüdische Pro-
selytin Justa aufgezogen, zuerst dem jüdischen Glauben gewonnen
worden, dann aber in die verderbliche Gesellschaft des Magiers Simon
geraten, der ihn beinahe um sein Seelenheil gebracht hätte; zuletzt
triumphiert doch Christus. Aber es kostet einen gewaltigen Kampf;
Simon ist alles Zaubers kundig, «falsch Gebild und Wort* stehn ihm
villig zu Gebot; um die Brüder empfindlich zu treffen, weiss er ihres
Vaters Faustus Gestalt zu verwandeln, dass ihn alle, Söhne und Gattin
eingeschlossen, für Simon ansehen . . .
Das sind die „Homilien" des Clemens. Ihr künstlerischer Wert
ist gering; wer aber die Idee von der Einkleidung loszulösen weiss,
der wird den Seherblick bewundern, mit dem hier Helena als Symbol
der griechischen Schönheit und Bildung auftritt in dem äussersten
Kampf, der um die griechischen Götter gekämpft worden ist. Nun, es
wurde bald still um sie; unter dem Banner des Kreuzes ging die
Menschheit in die Werdezeit des Mittelalters ein; Helena kehrte auf
lange zu den Müttern zurück.
Trotzdem blieben die Homilien des Clemens ein im Mittelalter
vielgelesenes Buch; man erbaute sich am Geschicke des Gottsuchers
Faustin, der im Judentum aufwächst, dann dem Magier und seiner
Helena verfallt und zuletzt von Christo erlöst wird; aber es fand sich
keiner, der diese mächtigen Wertstücke gestalten konnte; dazu war die
Zeit noch nicht reif.
Sie wurde reif, als die alten Götter erwachten. Die Renaissance
drang siegreich in Florenz ein an den glänzenden Hof der Medici; dort
von Savonarola zu Grabe getragen, entfaltete sie in Rom ihre Herr-
lichkeit ... es schien eine Zeitlang, als habe Simon der Magier selber,
der grosse Gestaltenwandler, den Stuhl des Petrus und Clemens be-
stiegen als Alexander VI. Borgia. Und nördlich der Alpen drang sie
vor, überall die Freiheit der Persönlichkeit entfesselnd, überall dem
Menschen das stolze Recht zusprechend, mit eigenen Kräften nach der
Vollkommenheit zu streben, nach Wahrheit, Tugend und Schönheit.
Das war der deutsche Humanismus. — Grollend trat ihm der alt-
christliche Geist entgegen: mit eigenen Kräften nach Wahrheit,
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152
Thaddäus Zielinski: Schön Helena.
Tugend und Schönheit streben? Wo bleibt dann die Gnade, die
Sündenvergebung? Es gab einen neuen, erbitterten Kampf: die Re-
formation schlug den Humanismus zu Boden. Nun wurde mit einem
Male die alte Legende verständlich: Faustin der Gottsucher, Faustus der
Verwandelte — das war der Held der neuen Zeit; dass sich zu dem
alten Namen ein Träger fand in der Gestalt eines „schwäbischen
Gauners", mag die Erweckung der Sage beschleunigt haben, ist aber
im übrigen ohne Belang. Also: Faustus heisst der Mann, der sündhaft
nach der Vollkommenheit strebt; dadurch kommt er in die Gewalt des
bösen Feindes, des Gestaltenwandlers, der ihm das Ziel seiner Wünsche
in Helena vorgaukelt; Faust und Helena sind von nun ab ein un-
zertrennliches Paar. Und beide gehören der Hölle an : der Geist der
Reformation ist ein strenger Geist, in ihrem Himmel ist für den Über-
menschen kein Platz.
Soweit das Volksbuch von Dr. Faust. Es wurde von nun an nicht
mehr vergessen ; aber die Existenz, die es im reformierten Deutschland
führte, war doch eine recht schemenhafte. Die alten Götter hatten
keinen dauernden Sieg nördlich der Alpen errungen; von der Faust-
sage fanden nur die Zauberstücklein des Puppenspiels rechten Anklang
im Volke. So ging das 17. Jahrhundert hin, so über die Hälfte des 18.
Da wurde es anders.
Die Geister der Renaissance waren nicht tot: sie hatten nur ge-
schlummert, des Tags gewärtig, da sie ins Leben treten sollten. Es
ging wohl bunt her, als es geschehen sollte: die Schwarmgeister der
Sturm- und Drangzeit lärmten um die Wiege der neuen Götter, wie
dereinst, nach der kretischen Sage, die Kureten um die Wiege des
Kindes Zeus. Allmählich aber rang sich die neue Idee zum Dasein
durch — die Idee des neuen, des dritten Faust, der sich in ehrlicher,
eigener Arbeit die Vollkommenheit gewinnen will. Und das war zu-
gleich die letzte Erscheinung der Helena, die auch hier, ihrer alten
Bestimmung treu, dem Übermenschen helfend und fördernd, zielsetzend
und wegweisend zur Seite steht. Faust, der böse Feind, Helena — sie
sind wieder beisammen, die Gestalten des Volksbuches; aber eins ist
anders geworden. Es gilt nicht mehr als selbstverständlich, dass Faust
der Hölle anheimfällt; aus dem Munde der Engel schallt ihm das Wort
entgegen: wer ehrlich strebend sich bemüht, den können wir erlösen.
Das war die Erkenntnis Goethes. Ob sie lange die Erkenntnis
des 20. Jahrhunderts bleiben wird, steht dahin; möglich, dass Sturm-
wolken sie wieder verhüllen. Das wird traurig sein für diejenigen, die
diesen Sturm erleben und nicht überleben werden, aber die Menschheit
als solche darf ihrer Zukunft sicher sein. Mag es noch so nahe
scheinen, das Ende dessen, was nie enden soll — früher oder später
wird sie doch, als der Vorbote einer neuen Sonne, Helenas Feuer
leuchten sehen.
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Kleinkaufmann und Warenhaus
Von Friedrich Naumann in Schöneberg.
Noch in keiner Zeit hat sich die Bevölkerung so stark zum Beruf
des Kaufmanns gedrängt, wie in den letzten Jahrzehnten. Die nächste
Berufsstatistik wird uns ein ganz unverhältnismässiges Anschwellen der
im Handelsgewerbe beschäftigten Personen zeigen. Da es aber noch
mindestens 2 Jahre dauern wird, bis die neuen Ergebnisse hergestellt und
verarbeitet sind, so bleibt uns heute in diesen wie in ähnlichen Fragen
nichts anderes übrig, als auf die beiden früheren Zählungen von 1882
und 1895 zurückzugreifen. Dieselbe Tendenz, die jetzt nach allgemeiner
Beobachtung vorherrscht, war schon damals stark bemerkbar. Wir geben
die Zahlen aus den süddeutschen Staaten. Es waren im Handels-
gewerbe tätig:
1882
1895
Bayern
172000
249000
Württemberg
50000
70000
Baden
50000
75000
Hessen
31000
46000
Elsass-Lothringen
52000
63000
Sa.
355000
503000
Das heisst: während die Zahl aller Erwerbstätigen überhaupt in
Süddeutschland von 4872000 auf 5476000 wuchs, also um etwas
über 12°/0, stieg die Zahl der kaufmännisch Beschäftigten um fast 42°/,,!
Ein Viertel des ganzen Zuwachses an Erwerbstätigen wurde
kaufmännisch. Und diese merkwürdige Erscheinung ist keineswegs
auf Süddeutschland beschränkt. Es gibt norddeutsche Gebiete, in denen
sich das fast gewaltsame Drängen zum Handelsstand noch sprunghafter
zeigt als im Süden, ganz abgesehen von den Seehandelsplätzen, die ihre
eigene Geschichte haben.
Was ist die Ursache dieser Erscheinung?
Die nächste Erklärung liegt darin, dass in der Tat das Bedürfnis
nach Kaufleuten stärker wächst als die Bevölkerung, da die Quantität der zu
verhandelnden Waren schneller anschwillt als die Zahl ihrer Hersteller.
Auf den Kopf jedes einzelnen Kohlenarbeiters, Spinners oder Tuch-
arbeiters kommen im Jahre 1895 mehr Meter und Zentner als 1882 und
heute wieder mehr als damals. Alle Arbeit, auch die landwirtschaftliche
wird intensiver. Und in demselben Masse wächst der Verbrauch. Es
wird auf den Kopf mehr gegessen, getrunken, gekauft als früher. Wenn
also im Handel keine Arbeitsersparnis eintritt, so braucht er mehr
Menschen, um diese grösseren Mengen zu disponieren. Aber die Tat-
sache selber, dass der Handel die Steigerung zur grösseren Intensität
nicht mitmacht, muss zu denken geben. Warum bleibt er im Tempo
zurück? Ist gerade er, gerade der Handel am wenigsten anpassungs-
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154
Friedrich Naumann: Kleinkaufmann und Warenhaus.
fähig, während man doch sonst sagt, er sei so biegsam, schmiegsam,
gewandt und gelehrig?
Der Handel ist biegsam und gelehrig! Von welchem Handel gilt
das? Von dem Handel, den der eigentliche Kaufmann treibt! Das aber,
was die Statistik als Handelsgewerbe bietet, umfasst sehr verschiedene
Arten von Handelstätigkeit. Es enthält die modernsten, besten Formen
des Geschäftes, aber auch die ganze Menge hilfloser Kramerei, die heute
noch wie eine böse Dornhecke zwischen Produzent und Konsument
liegt. Diese ist es, deren Arbeit nicht intensiver wird. Gegenüber
dieser Schicht ist Bauerntum und selbst Handwerk fortschrittlich. Das
macht, weil jeder glaubt, Kaufmann sein zu können, der eben imstande
ist, eine Ladenmiete zu zahlen oder ein Zimmer in einen kleinen
Schauladen umzugestalten. Die niedere Kaufmannschaft ist heute das
ungelernteste Gewerbe, das es gibt. Wer irgendwo verkracht ist, fängt
einen Kram an. Die Handelsreisenden bauen ihm ihre letzten Waren
auf seine geborgten Regale. Das ist es, worunter der bessere Kaufmann
leidet. Er hat die minderwertigste Konkurrenz. Man denke doch, was
sich alles Zigarrenhändler nennt, ohne eine Spur Warenkenntnis zu
haben, wer alles den Vertrieb von Nahrungsmitteln in die Hand nimmt,
ohne Kunde und ohne eigentliche Reellität! Die kleinen Geschäfte
schiessen überall in die Höhe. Jeder städtische Neubau bringt neue
Ladenräume und in jeden Laden zieht irgendein Mensch, der vom
Verbrauch der übrigen leben will. Einer zerbricht da und verliert seine
paar Groschen, aber ein anderer schiebt sich an seine Stelle, und die
Preise aller Waren müssen für diese Kleinhändler beim Einkauf un-
verhältnismässig hoch sein, weil unverhältnismässig viel unsicherer
Kredit das ganze Kleingeschäft durchzieht. Nicht jeder kleine Kaufmann
gehört zu der jetzt beschriebenen Sorte, denn auch die Tüchtigsten
fangen klein an, wenn sie wenig Geld haben, aber die Masse der kleinen
Verkäufer sind volkswirtschaftlich eine Last für die Gesamtheit. In 70°/0
aller Handelsbetriebe sind 5 Personen und weniger beschäftigt. Das
muss nicht so sein, aber es ist so. Die Arbeit, die von einem Geschäft
geleistet werden könnte, verteilt sich auf zwei oder drei. Hier werden
volkswirtschaftliche Kräfte einfach vergeudet.
Wir sagten eben, dass 70° 0 aller deutschen Handelsbetriebe Klein-
betriebe sind. In Süddeutschland sind es noch mehr; in Bayern 77°/0,
in Württemberg 77°/ü, in Baden 71°/0, in Hessen 73°/0, in Elsass-
Lothringen 77°/0. Die höchste Höhe der Kleinkrämerei erreichen das
Ländchen Hohenzollern und die Pfalz mit 87°/0 und 84°/0. Es ist
also die Frage des überflüssigen kleinen Handels in be-
sonderem Sinn eine süddeutsche Frage. Soll man ihn schützen,
pflegen, oder soll man ihn gehen lassen, wie es von selber gehen will,
oder ihn absichtlich verkleinern, verderben?
Das ist die alte „Mittelstandsfrage*, aber sie taucht hier in ganz
besonderer Weise auf, denn hier dreht es sich nicht um ein an sich
zurückgehendes Gewerbe wie bei vielen alten Handwerken. Der Handel
geht keineswegs zurück, ist nur mit allzuviel Menschen überladen.
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Friedrich Naumann: Kleinkaufmann und Warenhaus. 155
Nicht die Maschine zerstört den kleinen Handel, nicht das Warenhaus
an sich, nicht der Konsumverein für sich, so sehr man auch auf diese
alle schelten mag, der kleine Handel zerstört sich am meisten selbst
durch massloses Wachstum seiner Teilnehmer. Nur weil er durch
diese Masslosigkeit des Menschenzustroms in sich selbst krank geworden
ist, fällt er der Konkurrenz jeder gut organisierten Form grösseren
Handels zum Opfer. Man denke sich, dass alle Wünsche der Mittel-
standspolitiker erfüllt, dass die Warenhäuser zu Tode besteuert und
die Konsumvereine zum Sterben kontrolliert seien, was würde dann das
Bild sein? Alle die tausend und abertausend Kleinhändler würden sich
noch immer gegenseitig das Brot wegnehmen und würden täglich an
Zahl zunehmen. Und dann erst würde der Kleinhändler wissen, wer
sein bösester Feind ist. Will also der Kleinhandel auf alter Zünftler-
grundlage etwas für sich fordern, dann mag er sagen: wir wollen eine
Begrenzung unserer Ziffer wie es in verschiedenen Landesteilen die
Gastwirte haben oder fast überall die Apotheker! Das würde an sich
kein schlechter Plan sein, wenn er im Zeitalter des Verkehrs möglich
wäre. Allein schon die Tatsache, dass der Versendungshandel nicht
verboten werden kann, lässt jeden derartigen Mittelstandstraum als
vergeblich erscheinen. Aber die Frage bleibt: wohin soll es führen,
wenn im Jahre 1882 auf 100 Einwohner ein Handelsbetrieb kam, im
Jahre 1895 aber schon auf 82? Es müssen Ausschaltungen gemacht
werden! Entweder die Polizei schaltet aus oder die Unbarmherzigkeit
der freien Konkurrenz. Was ist das bessere? Beides ist im Laufe
der Geschichte probiert worden und der zweite Weg hat sich für unsere
Verhältnisse tatsächlich als der bessere erwiesen. Es liegt Gesundung
im unbarmherzigen Spiel der Kräfte. Die tüchtigen Kleinkaufleute
können selbst nichts anderes wünschen als eine bitterharte Durch-
schüttelung ihres Berufes, bis die faulen Äpfel vom Baume gefallen
sind. Und diese Durchschüttelung besorgt das Warenhaus. Es tötet
den mittleren und kleinen Handel nicht, aber erschwert dort, wo es
besteht, denen das Geschäft, die ohne Warenkunde und kaufmännische
Schulung handeln wollen. Gewiss, auch ein reeller, gelernter Mann
ira mittleren Geschäft geht einmal durch das Warenhaus zugrunde.
Kein Gesetz wirtschaftlicher Auslese arbeitet ganz reinlich. Im ganzen
aber kann man annehmen, dass die unsichersten Auchkaufleute aus-
gemustert werden. Deshalb gibt es auch vom Standpunkte vernünftiger
Mittelstandspflege aus kein falscheres Beginnen als den Krämerstand
absolut schützen zu wollen, ohne doch seine Zahl begrenzen zu können.
Da man die Zahl nicht begrenzen kann, muss man die natürliche
Verdrängung eines Teiles von ihr geradezu wünschen, damit der bessere
Teil überhaupt leben kann. Ganz pünktlich arbeitet ja freilich auch
in anderer Hinsicht diese Auslese darum nicht, weil sie die allerunterste
und allergeringste Schicht zu wenig trifft. Das aber ist nicht zu ändern.
Vom Verbrauch derer, die gar keinen regelmässigen Bedarf haben, kann
ein geregelter Handel nicht bestehen.
So wunderlich mischen sich im Kampf ums Dasein die Verhältnisse,
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156 Friedrich Naumann: Kleinkaufmann und Warenhaus.
dass unter Umständen die wirtschaftliche Härte das einzige Mittel zur
Besserung ist. Alle Untugenden, von denen der mittelalterliche Handel
voll war, und von denen noch heute der orientalische Handel überfliesst,
haben sich in kleiner und ängstlicher Gestalt im ungelernten kleineren
Handel erhalten. Hier gibt es unter Umständen noch falsches Gewicht,
beabsichtigte Täuschung, unsichere Preise, um die erst noch gefeilscht wer-
den muss, hier ist das Borgen zu Hause und oft die Unsauberkeit. Diese
Untugenden hat der grössere Handel nicht, und zwar nicht deshalb, weil
seine Inhaber moralischer sind, sondern weil einfach das grössere Ge-
schäft alle diese kleinen Künste und Mängel auf die Dauer nicht verträgt.
Das Warenhaus kann nur bei Barzahlung bestehen und ist schon darum
bei seinem Eindringen in den Handel eine erziehende Macht. Es über-
lässt den andern Händlern die Wahl, ob sie sich als Spezialgeschäfte für
schlechte Zahler auftun wollen oder dasselbe System wählen. In vielen
Provinzialstädten beginnt erst von dem Tage an ein wirklich kaufmänni-
scher Betrieb, an dem die neue Konkurrenz aufgetaucht ist. Man sieht es
den Schaufenstern an, dass jetzt gearbeitet wird. Und von da an, wo der
Kleinkaufmann selber schafft, rechnet, lernt, wo er intensiv wird, ist
er keineswegs rettungslos der schwächere Teil gegenüber dem Waren-
hause. Gerade im Handel mit dem Publikum tut die Persönlichkeit
eines tüchtigen Kaufmannes grosses. Das Warenhaus ist und bleibt
unpersönlich, der richtige Platz für Massenartikel, keine eigentliche
Heimat für Dinge, die mit Geschmack und Besonderheit ausgesucht
werden. Mögen auch allererste Warenhäuser wie Wertheim bis zum
feinsten Luxushandel vorschreiten, das Durchschnittswarenhaus bleibt
bei aller Fülle von Dingen etwas unfein in seiner Leistung. Wie oft
klagen Damen über die Gleichgültigkeit der Verkäuferinnen oder Ver-
käufer, denen das Eigeninteresse fehlt! Hier hat der kleine, tüchtige
Kaufmann einzusetzen. Er wird mitten in der Neuzeit nicht versinken,
was aber versinkt, ist das Geschäft, das in keiner Richtung mehr leistet,
als das Warenhaus.
Was aber wird dann aus den Menschen, die sich jetzt ohne
alle Kenntnisse und Fertigkeiten in den Handel drängen? Irgend
etwas müssen sie doch tun. Und irgend etwas werden sie auch
tun können, solange wir gute allgemeine Wirtschaftsverhältnisse haben.
Wir haben in den letzten Jahrzenten einen solchen Bedarf an Menschen
gehabt, dass wir nicht nur allen unsren Nachwuchs in Arbeit stellen
konnten sondern auch Ausländer in grosser Zahl hereingezogen haben.
Immer entsteht neuer Bedarf, aber freilich in abhängigen Stellungen.
Das ist der schwierige Punkt. Viele Leute werden deshalb Händler,
weil sie nicht abhängig werden wollen. Der alte ehrenwerte Selbstän-
digkeitstrieb des früheren Wirtschaftswesens sträubt sich gegen den
Unterordnungsgeist des heraufkommenden Zeitalters. Das ist einer der
tiefsten Gründe des unnatürlichen Anwachsens selbständiger Klein-
kaufleute. Man fürchtet, sich sozial zu degradieren, wenn man in
bezahlte Stellung geht oder in ihr bleibt. Aber so menschlich ehrenvoll
doch dieser Trieb ist, er stösst sich an der harten Wirklichkeit. Die
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Friedrich Naumann: Kleinkaufmann und Warenhaus.
157
neue Zeit schafft Platz für abhängige Menschen. Das ist ihr un-
veränderlicher Charakter» den wir zunächst als Tatsache hinnehmen
müssen. Wir haben gar keine Möglichkeit, den Prozentsatz freier Wirt-
schaftspersonen willkürlich zu vergrössern. Was wir können, ist nur,
die Lage der Abhängigen zu bessern und mit Garantien persönlicher
Freiheit zu umgeben. Das ist unsere sozialpolitische Aufgabe. Je mehr
Fortschritte wir in dieser Hinsicht raachen, desto eher werden sich die
Personen, die heute einen verzweifelten Kampf um ihre wirtschaftliche
Eigenexistenz führen, in das Gebiet der neuen Organisation hinein-
stellen können. So lange der abhängige Mensch ein sozial gedrückter
Mensch ist, wird das Streben mit Hingabe des letzten Restes an Arbeit
und Kraft etwas eigenes anzufangen, nicht aufhören.
Und hat nicht die Frage auch noch eine ganz andere Seite? Wir
haben bisher von den Personen des Handelstandes gesprochen, aber
noch nicht von den Käufern. Diese Käufer sind das ganze Volk, die
Mehrzahl des Volkes aber lebt vom Lohn. Sie trägt ihr erarbeitetes
Geld zum Kaufmann. Jede unnötige Verteuerung der Ware oder unnötige
Verschlechterung der Qualität ist ein Abzug am Einkommen der von
knappem Verdienst lebenden Menge. Ist es recht, dass der Kleinhandel
so zunimmt, dass er als Druck auf den Beutel der Arbeiter empfunden
wird? Der Arbeiter kann gar nicht anders als sich seinen eigenen Waren-
vertrieb in der Form von Konsumvereinen herstellen, wo nicht das Waren-
haus die Steigerung kaufmännischer Intensität bereits herbeigeführt hat.
Konsumverein und Warenhaus sind Parallelerscheinungen. Dort wo in
einem Handelszweig das Warenhaus sitzt, wird sehr schwer der Konsum-
verein aufkommen und umgekehrt. Beide aber finden dort ihre Grenze,
wo der sonstige Handel auf der Höhe und nicht von überzähligen Per-
sonen überbesetzt ist. Die Gefahr, dass aller Handel von den Gross-
betriebsformen an sich gerissen wird, liegt in der Gegenwart nicht vor.
Dafür ist der Zustand in England ein deutlicher Beweis. Dort, wo die
Konsumvereine eine hohe Ausbildung und lange Geschichte haben, ist
es ihnen doch nur gelungen ein knappes Siebentel der kaufenden Be-
völkerung zu umfassen. der Käufer ist frei für den privaten Handel,
ein genügend grosser Bestandteil, um nicht in helle Angst zu geraten.
Der beste Schutz aber für diesen Handel ist, dass er sich selber refor-
miert und säubert und damit seiner volkswirtschaftlichen Aufgabe
gerecht wird.
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Äritif bi* jefct nod) nid)t burdjgebrungen. £>er $age$fd)riftfteller, ber ^ournalift w»
engeren Sinne betrachtet bai 3uru^alten mit ber eigenen Meinung als 3«d)en »on
Sd)wäd)e ober Unwiffenbeit, unb ba er ftd) unter allen llmftänben rcrpfltcrjtct fühlt, ju
ben Starten unb ju ben 2öi(fettben )it geboren, fo rebet er jebnmal clu-r über Sütge,
ecn benen er nid)td ©er ftebt, ober bie ber SRebe gar nid)t wert ftnb, alä baß er fid>
einmal felbft jum Sd)weigen oerurteilt. S)a* ftnb nun freilief) gar befannte Singe, an
benen fid) fd)wcrlid) etwa« äitbern läßt, folange ba« liebe «Jhibtifum mit biefen 3uftänfcen
jufrteben ift. Ceiber nimmt aud) bie dftbetifd)e Äritif bei ibren engen Begebungen jur
$age$prcffc bavan teil. Sd fommt in unfrem 3c,to'ter ,,ur n0(*> fe&r friten oor/ ^fc
wirflid) bebeutenbe Srfdjeinungen totgefdjwtegen werben: befto bäujtger ereignet e* fid),
baß unbebeutenbe lebenbiggerebet werben. Q5ct einzelnen Äritifern bat fid) ba« $5e*
bürfnte, neue Talente ober gar ©eniee ju entbcefen, ju einem förmlichen Sport ent*
wtcfeit. Dad $eer ber ©etanfenlofen pflegt bann ben Sboru$ ju bilben, unb ber
äußere Srfolg eine* 33ud)e* ift fertig: bie Station bat — jum minbeften auf einige
3abrc — wieber einmal einen großen Siebter, ©egen biefe Äranfbeit bei Sabrbuncerte«
ift bie remünftige SOimberbeit ebenfo obnmädjtig wie gegen ben Unfug literarifd)en
Sltquenwefend unb ^euntfebaftäbienfted. 'Xber bie üppofttion bat wenigftenö eine
äBaffe in ber $anb: bie Äunft ju febwrigen. Sutern SBudje nü§t oft genug fdjon bie"
bloße Satfadje, baß ciel barüber gefd>rieben wirb, ©auj folgericr/tig wirb bie Neugier
be6 «Publifumö mebr auf ein ffierf gefpannt, an bae ganje Spalten bei Säbel* ©er»
fdjwenbet werben, ald auf ein fold)e*, bai mit wenigen ^eiien gedrängten Cobe* abgetan
wirb. £eutjutage entfdjeibet ja oielfad) in ber Literatur nid)t fowopl bie ftrage, ob gut
ober fd)led)t, al* bai 3)?aß bei SenfatioueQcit.
Sin flaftlfay* Bcifpiel bierfür bat uni in jüngfter 3eit ber Jall „©60 Strafft"
geliefert. Sin Stoman, ber immerbin eber etwa* über bem Durdjfdjnirt al* barunter
ftebt, fid) im ganjen aber auf ber mittleren Vinte bält, wirb burd) eine unerborte buch«
bänblcrifd)c SWeflame jum Serf ritte* ©enic*, jum Bud) unfrer ^eit geftempelt. Sine
SReipe unfrer erften literarifd)en SWamen leiftett, wenn aud) unbeabftdjtigt, fo bod) nidjt
gang obne Sd)ulb ber gabrläffigfett, ben 3fl>fid)ten bei 93erlcger* 93orfd)ub, ein großer
Seil ber Äritif gebt mit, unb fo wirb ein äußerer Bombenerfolg erjielt, ju bem ber
innere äöert bei 93ud)e* in feinem SJerbältnid ftebt. Sine Cppofttton erbebt ftd) ba=
gegen: fte etttfad)t bie glamme nur nod) ftärfer, jiebt bie allgemeine tXufmerffamfrit
nur nod) in erböbtem ©rabe auf bad Streitobjeft. SWan mod)te glauben, SBibcrfprud)
fei in tiefem galle gerabeju eine ftttlidje ^flidjt, Sd)meigen fbnne alö 3uftimmung auf*
gefaßt werben, ^mmerbin ! Selbft auf biefe ©efabr bin wäre ei beffer gewefen, Selbft»
überwinbung iu üben unb )u fd)weigen. Difficile est satiram non scribere: aber
bad Sd)were ift meift jugleid) bad 93erbienft»ofle.
<£i gibt jweifcldobtte ^äQe, in benen bie perfönlid)e Sbrc Srwiberungen unbebingt
erbeifdjt. 3m übrigen ift bie Tfntifritif »om Übel, weil adju oft ba« ©egenteil be*
bamtt 53ejwecften errctdjt wirb.
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SRuntfdjau.
159
Qfaiö tiefen mit ähnlichen Srwägungen oeritd)tet eine fletne Tlnjabl oomebmer
3eitfd)riften auf ©ud)fritif überhaupt ober lägt foldje l)od) nur in ganj befdjränftem
9Ra§e ju. Sie fteUcn fid) tamit in bemugten ©egenfafc jur $age*pref[e. Selbftoer»
ftantlid) mu§ unt wirb eö ©üd)erbefpred)ungen geben, folange Sucher überhaupt ber»
geftettt werten. 'Aber man feilte fte nidjt auf tie SRaffe obllig belanglofer Itterarifdjen
Sn'cheinungen auStebnen. ^ctenfallp gefd)iebt einer 33erbffent(id)ung, tie ganj unt gar
nidjtd taugt, fdjon baturd) unoertiente Sbre, tag fte überbaupt angejeigt wirb, mag
tie SRejmfion fo ungünfKg fein, aii fte »ifl.
Qi bat freilid) feine guten ©rünte, warum ftd) tie ^ournaliftif auf tie Äunft
\u fdjroeigen wefcer in «§tnfid)t auf SBudjfritif nod) im allgemeinen einlaffen miß. Die
ganje grage mirt j nie tu ju einer eolfewirtfd)aftlid)en. SByKf'fünftig über alleS, wad
brate überflüffigerweife ted weiten unt breiten befprodjen wirb, gefd)ioiegen werten
follte, fo müßten eine 3(njabl SMätter ibr (Srfdjeinen einfteQen oter tod) ibren Umfang
auf fete .üulftc retujieren. Dad märe natürlich; für tie 3J?cnfd)bett unt ibre Multnr fein
Unglücf. Tiber als weitere unerläglidje golge würten siele SDfcnfdjen um ibren QÖertienft
aebradjt werten. Da* wäre fd)limm jum min teilen für tie betroffenen. Die Stunft
te» Schweigen ö" mügte fid) ibnen fd>lte§ttcf> in eine Äunft tcä hungernd nmwanteln.
Unt ta niemant gerne bungert, fo wirt oorauöfid)tltd) tie papierne Sintflut fo balt
nutit abfdiwellen, oiel ober tie Slunfl ju fd>weigen in einem mehr unt mebr anwad)fenben
9tecefd)waQ untergeben, btd — min bid er einmal fommt ter grogc Älatteratatfd)
unfrer moternen 5fultur.
Stuttgart. -Kutolf Siraug.
*
Heues von imb über <25oetl>e.
Sßirflid) D?eue* oon ©oetbe? Da* nun wobl nid)t. Tiber fein ©ricfwedjfel
mit 3e,ter/ 6fr mrt fcen 3«bren immer teurer unt für minter bemittelte ©üdjerfreunbe
unerfd)wingbar geworten war (im legten Kataloge tee" berübntten TfntiguariaW oon
ffidgel ift er mit fünfjiq. 3Rarf notiert), ift nun bei SHeclam erfebienen unt um trei 2Barf
ju baben. Lubwig ©eiger bat tie trei Q3änod)en berauSgegeben, eingeleitet unt mit
'ünmerfungen, Stamen» unt Sad)regifter oetfeben. Der alte maefere Reitet mag fo
turd? tie 3leclamfd)e ©ibliotbef eine Sßirfung tun, tie ter Originalausgabe nie
befdneten mar. Die Briefe ©oetbe* an 3elter, oor allein aber aud) tie 3elterö an
©oetbe, geboren jum '.Xüerfoftbarften, ma$ tie Deutfdjen an Spifteln ibr eigen nennen,
unt fie bellten gewig bed Äbftlid)en ntd)t wenig. Xl$ beitrage jur (£rfenntnid ©oetbeS,
otö fd)onfte$ Denfmal ted tüchtigen, braoen unt gefdjeiten geltet, ald Dofument jwei*
irattrcigigjabriger greunbfdjaft eine* ganj ©rofcen mit einem jum miuteflen nid)t Äleinen,
ol* ©piegelbilt te* Damaligen ©eifteälebend entlid), fmt tiefe ©riefe oon einigem ffierte.
— 3n gewiffem Sinne ebenfo neu ift bao" erquifite SÖäntdjcn, in tem 20. o. @eitli($
@oetbed kleinere Qtuffä^e in "Xu^wabl oereinigt bat. Unter ten SRubrifen Äultur»
aefd)id)te, Literatur, Äunft, SWaturwiffenfdjaft, Religion fintet ter Cefw neben lieben
alten SBefanuten aud> unerwartet 9?eued aud ter großen ©opbienaudgabe. Der Sßrucf*
mannfdje Verlag bat tai bud> ebenfo jterlid) wie oornebm>fd)lid)t audgeftattet. Ü77an
freut fid), fo oft man* in tie £)ant nimmt unt fann nid)t trin lefen, obne Seite
für Seite angeregt ju werten. 'Hui aüen Lebensaltern ©oetbed ift etwad aufgenommen:
»om jungen Stra§burger geuergeift, ter @rwm nnt Sbafefpeare in ftürmifd>en $pmnen
preift, oom gclaffenen Spanne, ter nod) ten Äopf ooll ^taikn unt UntiU bat, oom
aeifen alten ©oetbe. — Sin origineller Sammelbant ift aud) tad fd)mad)tige, in wunter*
fd>öned braune* teter gebuntene 53üd)lein, ta* in Q3rufttafd)enformat tie Leiten te*
jungen Söertber*, tie ©riefe aud ter Sdjweij, tie Unterbaltungen teutfdjer Q(udgewanterten,
cte guten ffieiber, tie 2öablocrwanttfd)aften unt tie Diooeüe entbält: 611 Seiten »u<
160
9iunbfd)au.
fammen. Da* lief» fid) natürlid) nur burd) enorm feine* Rapier erreichen. Da* »er*
wenbete belgifdje Rapier ift etwa* fräftiger unb »aber, al* ba* oon ben (Snglänbem be*
nü^te India Paper. Der Drucf ift flar unb faarf unb fd)lägt nid)t burd). Da§ man
beim Umblättern ad)t geben mufj, oon ben jarten Seiten ni.tr jwei unb brei auf einmal
ju menben, ift ganj gut: ber l'efer wirb fo erinnert, ba§ Cefcn eine fubtile, (angfame
unb nad)benfhd)e ftunft ift. ©oetbe* SRomane unb SRooellen, Sßanb I in biefer
Ausgabe bebeutet einen gropen gortfd)ritt im beutfdjen ©udjwefen. ffienn wir fo unfere
großen ©djriftftetter in |ierlid)ften $afd)cnau*gaben erbalten (bie ®efpräd)e mit @cfer*
mann, ber ©rünc ^einrieb, bie 93o§fd)e #emerüberfe$ung feien hiermit befonber* »er*
gefdjlagen), um wieeiel bequemer roirb e*, auf ©pa|tergang unb SÄeife, in ©ommerfrifeben
unb SBäber fo ein feberleicbte* Ding mitjunebmen unb geifh'ge 9tabrung unb (Srquitfung
überaQ bei fid) ju baben. Der 3nfc^r^9 erwirbt fid) burd) biefe „©refjberjog tiBitbelm
Srnft *.Xu*gabe" ein 5terbienft, ba* fidjer burd) bie ^teilnähme ber Station belobnt mirb.
©t* jeftt ftnb ©oetbe*, ©d)iller* unb Schopenhauer* ffierfe in '.Äu*fid)t genommen. —
©oetbe ift ba* ©änbdjen betitelt, in bem Wlax Diej feine auf 93eranlafiung be*
Söürttembergifdjen ©oetbebunb* gehaltenen Vorträge oereinigt l)at: tBorträge eine* grünt»
lid) belefenen unb felbftänbigen SRanne*, in benen wü flute? Einbringen in ben ©egen«
ftanb mit ber mannen, feef jugreifenben 3(rt be* münblicben Vortrag* jufammen ein
erfreuliche* SBilb gibt. Hein gani genaue* $3ilb oiefleid)t: 2fiertber fommt ein wenig ju
fd)led)t weg, unb in ber berüchtigten „ffiette" gauft* fe^t fid) Die$ mebr mit Anflehten
anbercr über ©oetbe aueeinanber, al* er ©oetbe* 'Änfidjt felbft auflegt. 2Ban foüte,
wenn man über einen Dichter febreibt, nichts gegen frembe Meinung, fonbem nur bie
eigne auf* ccutlichile fageu. 2cbr wenig „Literatur" benugt aud) ebrtftopb 3t rempf
in feinem erften Seil Der junge © oetbe (©oetbe* Ceben*anfd)auung in ibrer gefdjid)t*
(ufeen Sntwüflung. UBie ba$ Q5ud) oon Diej, in Stuttgart bei gremmann erfd)ienen). (fr
rennt oor aflem ©oetbe felbfl ; befonber* gut bat er fid> in ben ©riefen eingelefen, bie er
al* Dofumentc au*breitet, wie er* gerabe braudjt. Gr bat ganj feine eigene 3(rt, ftd)
ben Dichter, fein Cebeu, feine SGBerfe, feine greunbinnen unb fein ^ublifum jurcd)tjubenfen.
freimütig fagt er feine 2J?ciuung; felbfl wo er rüffelt, ift nid)t* 'Pfäfftfcbe* im $abel.
Der ßeipjiger ©oetbe mu§ fid> oon Diej ein wenig, oon S^rempf ganj gebörig rüffeln
laffen. Vielleicht ju Unrecht, ^flanje unb Sier mad)en in ibrer frühen (Jntwicflnng
eine mebr ti)pifd)e 3e't burd), bi* ba* Sinjigartige burd)brid)t: warum nid)t ber SWenfd),
ber geniale SDienfd) aud)? 9lid)t* ift natürlicher, al* ba§ aud) ©oetbe fo gut wie jeber
Bie altflugc, tätpifdje, abmingäoolle, oorau*nebmenbe SWulu*jeit burd)lebte; baß feine
l'cipn'ger 3*brc gegenüber benen be* 5ra«fturter Äuaben etwa* Sopifdje*, mebr
gemeine*, ben Q)iograpben fojufagen Snttdufd)enbed jeigen. >m QSerftänbni* ©oetbe*
tragen Diej unb (5d)rempf bei, jeber in feiner Ert: Diej mebr naeb ber äftbetifd)en,
Sdjrempf nad) ber religiö**pbilofopbifd)en ©eitc bin. ©eibe ©üd)er feien empfoblen.
9ȟnd)en. 3. ^>ofmiller.
»
Unferen Cefern bringt biefe* $eft bie im erften angefünbigte 3«>rtfe§ung ber SBriefe
^riebrid) 33ifd>er*. Der JiiNitl bat un* ein ©ud) auf ben Sifd) gelegt, ba* aud) in
bie beiben ©ried)enlänber fuhrt, in bie Graecia magna unb bie eigentliche ^>e(Ia*:
^ubwig ^coefi* „©onnc Horner*", ßin amüfante* ©fiijenbud) im 3"t«n9cnlW/
nad) Siencr Q(rt bem ©orrwi^ mebr bulbigenb al* un* immer gut unb gefdrniacfoofl
beud)t. 'Jlber bafnr wieber frifd) unb unbefümmert, bunt, unb nicht anfhrengenb )u lefen.
<£* plaubert oon allem iOiVq liehen unb Unmöglichen; fnbrt oon '.Xtbcn nad) Eleufi*,
iO^ofenä, Sirpn* unb Olompia, fogar auf ^tbafa ; bann bem ber nad) Palermo, nad) ben
@ried)enftabten (Segefta, Selinunt, ©irgenti unb ©irafu*, bi* e* ba enbigt, wo 93ifdjer
ju neuer gabrt au*iog : in Neapel. 3(1* mobernfte Srganjung ju 93ifd)er* ©riefen mag
e* manchem ?efer einige red)t oergnüglid)e ©tunben bereiten. (93erlag oon 'Xbolf ©onj
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3lunbfd)au.
161
in «Stuttgart.) "Xm dnbe merft ber tfefer erft, wieoiel geograpbifd)** unb ardwologifcfee*
iSiffen biefer leicbrftnnige £eoeft fo nebenbei befiftt, unb mit weld) lteben*würbtger Hxt
er* mitzuteilen wen}. % £.
*
Walser &itgfvitbs Heuefto.
3ion unferem in $artenfird)en (SBapern) lebenben ?anb*mann, bem Didjter
SBaitber Stegfrieb, ber fid> mit feinem £rftling*merfe, bem Stünftlerroman „$ino SWoralr"
auf wabrbaft glänjenbe ©eife in bie beutfche SBettetriftif einfübrte unb feitber in nid)t
|u rafcber ftelge — benn er, wabrlid), ift fein SRomanfabrifant! — anbere fdjbne SBüdjer
folgen lief, unter benen feine gemütooüe 3efingereriäblung „©ritli SJrunnenmeifter" wobl
ben erften $la$ einnimmt, oon biefem retd) begabten 9J?anne ift un* wieber ein fflerf
befeuert werben, ba* er, obfd)on e* äuferlid) ben Umfang eine* SRoman* bat/ in richtiger
€barafterifterung be* Snbatte* unb ber gorm „SWooefle" genannt bat. «Betitelt ift e*
„T)te grembe" unb im Verlag S. $irjel in Ceipjig furjlid) erfebienen.
t)ie neuefte Dichtung ftedt unfere* @rad)ten* oon allen feinen Schöpfungen bte
botbfte Stufe erreid)ter bid)terifd)er Steife unb 93odenbung oor. 3a, auch abgefeben oon
ben eigenen bi*berigen Ceiftungcn be* fljerfaffer*, ift biefe Otooefle namentlich burd) ibre
bartnonifebe Schönheit ein SNeifterftücf erften SRange* unb fomit eine ber bebeutenbften
Srfdjeinungen in ber SWooefliftif unferer Sage.
Unfere Sage — '< fie red)t ju würbigen, mu§ man weiter lurüefgebn. SSHe wir
bei ©ottfrieb ffefler* SÄoman „Der grüne ^einrieb" unmiHfürltd) ben 33ltcf jum „Sßilbelm
SRetfter" jurücflenfen, in bem SBerfe be* großen 3üricber X)id)tero bie gamilienäbnlicbfeit
mit bem ©oetbefeben Vornan erfennen, obne ba* fpätere ffierf be*balb im fchlimmen
Sinne für epigonenbaft ju balten — oielmebr erfd)eint e* al* ber ftarfe Sobn be*
19. 3abrbunbert6 mit ben 3u9e,t tcs> 9ro§en 93ater* au* bem 13. 3abrbunbert — , fo
fd>eint mir Saltber Siegfrieb* SRooede „Die grembe" fcurd) gebeime SBanee bichterifeben
Q51ute* innig oerbunben mit ©oetbe* anberm SReman, ben „Sabloerwanbtfd)aften".
^öoblgemerft! fein ftoff lieber 3ufammenbang ift ba, wenigften* feiner im 4»>auptmotio.
(f* banbelt |id> in ber SWooefle um fein (Jbeproblem, weber um (Jbebrud) nod) um feit»
fame Neigungen, bie fid) freujen. ©ad Sbema ber SHooeQe Siegfrieb* ift ber tragifd>e
Untergang eine* jungen Sdjmeijer* oon ebler frafroofler Urwüchfigfeit burd) ben feiner
fonft oortrefflicben Sttaturanlage oerbängm'Sooö bcigemifdjten Dämon be* 3abiornd. Unb
eine fthene 3(udlänberin — „bie grembe" ift alfo nidjt im @egenfa$ ju „^eimaf' atö
ÄeUefttomort, fonbern al# perfönlidye ©eieidjnung ju oerfteben — bringt bie glamme
bed 3«bjorne jum furchtbaren %iebrud> burd) bae Spiel, bad fie mit bem oon tbr mit
neugieriger S&egebrlicbfeit angelocften unb }ule$t oerfebmäbten Jüngling einen Sommer
lang treibt. 3ur Seite aber ftebt bem Unglücflicben, bei bem man an ben ^antaliben
Cteft benfeu möd>tc, ein treuer ^Jplabrt, ein fieb ibm mit Selbftaufopferung bmgebenber
^reunb, ber ibn warnt, ba er jene einjige Sd)wäd)e be* anbern fennt, ber ibn in
|ora,enber $reue bütet, aber uile&t ba* Sd>limmfte bod) nid)t oerbüten fann.
?0?an (lebt: mit ben „ffiabloermanbtfdjaften" ift ba ftofflid) fein 3ufammenbang.
3ber wad un* an jenem alten unb in ber $ed)nif oeralteten SBerfe ©oetbe* immer
nod} entuicft: ba* einem feinen Quartett äbnlicbe 3ufAmmenfpiel weniger 'ßerfonen, beren
$nbioibua(itäten unb (Ibaraftere in ibrer ooüen 9Renfd)lidifeit bi* in ade Siefen au**
gefd)6pft werben unb al* ©eftalten eine* intimen Drama* in wunberbarer ^Jlaftif oor
un* fteben, ba*felbe ift e*, wa* mit ber ooflenbeteren Sedjnif ber JWeuieit unb mit mdjt
geringerer ^(nfdjaulicbfcit, aber gemäg bem fd)öneren, reineren Sbema Siegfrieb* an=
mutenber, wobltuenber in ber 9?ooeQe „Vit grembe" un* oor 3ugen tritt unb ben
inneren 3ufamtne',bang mit ©oetbe* Vornan oorftedt.
3n ben JHebenurnftanben tritt bann aflerbing* aud) eine ftojflid)e 'jfbnlid)f«t jutage.
Subbfutfdw »lonot^efte. II, 2. 11
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162
3(unfcfdiau.
iffiie ber JRoman, fo fpielt aud) bie SRooefle auf einem #errenft$ in länblicher Umgebung.
Unb ber für ©oetbe ftete" fo bejeichnenbe 3ufammenbang aud) einer erfunbenen gabel
mit ben ftarf betonten realiftifd)cn Elementen, bie fid) aud folcber Umgebung, aud ber
Canbfcbaft, aud ben S3efd)äftigungen ber 2D?enfd)en, aud ibren fleinen Reiben unb greuben
ergeben, ift in 9Baltber Siegfriebd Stooefle in momögüd) nod) ftärferem SWage oorbanben.
SRur ben iitcn mir und im eigenen 6anb; bad #errfd)aftdbau$ liegt auf audftdjtdreicbem
#ügel über einem Sdjmeijerfee, unb jum Seil burd) fein äauptmotio felbft ift ber Dieter
oeranlagt morben, im ®egenfa$ }u bem fremben Fräulein, bad im #erjen bed jungen
Sd)toeijerd fo groged Unheil anrichtet, fchmeijerifcbed SBefen in allen feinen Sigentüm Ud
feiten mit ftarfem 58irflid)fettdftnne fräfrig jur ©arfteßung }u bringen. 2Ber bie ÜlooeCe
lieft, mirb in mannen fleinen 3u9en n0(*J «ntere ^iebungen jur @oetbefd)en Sichtung
erfennen; aber nid)t tiefe fleinen 3"9C, bie grogen Linien fteflen bad moberne 2öerf
in nabe ©eiftedoermanbtfcbaft mit ber genannten Schöpfung bed grogen ©idjterd unb
mein nur mit biefer einen, — aud) etmad an bie flaffifcbe SReinbeit unb Stube ber
„3phii?enie" ©emabneHbed ift in ber ein 3Benfd)enfd)icffal fd)ön unb ftifl jum tragifeben
'Xudgang fubrenben SRooelle Siegfirtebd. Sir baben ed mit mobernen (Ebarafteren ju
tun unb mit ben £ebendoerbältmjF<n unferer Sage; aber $un unb Waffen, $anbeln unb
l'eiben biefer 3Renfdjen ift mit antifer £infad)beit unb ©röge gefdjaut unb bargefteUt.
Steuere beutfebe ©ramatifer baben ben Brauch euigefübrt, bad ^erfonenoerjeiebnid
ibrer Stücfe niebt mit bem Sorte „<Perfonen" fonbern „3Renfd)en" ju übertreiben
(SNai $albe jum Beifpiel). iPiit grögtem fechte bürfte bied ffialtber Stegfrteb tun,
märe feine Diooelle ein ©rama. QtUe in ibr oorfommenben ^erfonen fmb mabr unb
lebendoofl gefchaute SRenfdjen. ©ad burd) bie gefchäftliche S\nm bergenommene, etmad
oergrämte Oberhaupt ber gamtlie, bie gute forgenootte, aber jebem Sonnenläcbeln gern
fid) jumenbenbe SRutter, bie alte in ben #audfobn vernarrte 9»agb SWarianne, oor allen
aud) bad jebtnabrige Sd)mefterd)en ©ottfriebd, biefed entjücfenb frtfdic, marmberjige junge
©efd)öpf mit feiner Scbulmäbd)eneiferfud)t auf bie oornebme frembc ©ante, bie bem
abnungdooflen fttnbe bie Ciebe bed Bruberd ju entjieben fdjeint — man ift bei aflen
btefen grogen unb fleinen feilten alfobalb fo iu £aufe, ald ob man feit ^abren mit
ibneit unter bemfelben ©adje gemobnt bätte. 9lid)t erft ;u reben oon ber pfod)ologifd>
tiefen Srfaffung ber brei #auptgeftalten, bed fträuleind unb ber beiben Jreunbe! Unb
mie (ebenbig finb bie TCnläffe unb Begebenheiten erfunben, bie baju bienen, alle biefe
S0?enfd)en in £anblung i" ü'^cn unb bie ftataftropbe (Bebritt oor Schritt vorzubereiten !
©ad fügt fid) alleö fo natürlich unb ift bod) fo funftreid) mobl bebaut, eine Sntmuflung
mit allmählichen Steigerungen, bie fein Stagnieren ber £anblung julägt unb bod) aud?
feine totUfürlid) getoaltfame Strömung bemtrft bid ganj julefct, mo bann atterbingd unb
mit oollem Stecht auf bem £öbepunft ber fribenfaSaften ber giug ald Äataraft ftcb in
bie Sicfe ftürjt.
Dad einjige, mad bie ftrttif an tiefem SKeiftenoerfe vielleicht in $rage fteflen
fönnte, ift bie 4?erbcifubnin^ ber fdjrecf liehen JVataftropbe bura^ jmei bem Zufall anbeim*
gegebene Beobachtungen bed enr ahnten Sd?meftercbend ©ottfriebd, bie bad Äinb im £orn
audplaubert. ©od; ift gerabe bei biefem 'Xudplaubem bed entrüfteten Ü02äbd)end ber
Sboroftcr cined fid) natürlid) gebenben ©d)ulmäbd)end biefed Tflterd fo munberbar richtig
beobachtet, bag man auf bie mitfpielenbe 3ufäfligfeit, bie nod) feinedmegd eine auger bem
Bereich bed Möglichen (iegenbe Unmabrfcheüt(id)feit beigen barf, fein groged ©emiebt
legen mirb. Somit bleibt ber Sinbrucf befteben, bag mir ed b«er mit einer oollenbet
fd)onen nooelliftifcben Dichtung oon reinftem, ebelftem ©ehalt jn tun haben, bie auch »"
fprachlicher Begebung bie böchften 7(nfprüd)e an ein barmonifched Äunftwerf erfüflt unb
icnan cen sLKetHenoerren cer ciierarur iprer i£>anung pciiujapien Iii.
Bem. 3. 93. SBibmann.
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163
2tue oem £ager oee mu\italifd>en ^ortfcfcritte.
8on ber pfpdjolo gtfchen #ritif. — Unferc fcunbeSgenoffen in
j6fterreid). — ©egcn bic «Weiningcrei in ber u cftaudftattung.
di gab eine $cit — fic liegt nod) nid)t fejjr meit jurütf — , ba man bie SWufif*
fd>riftfte0er fdjlanfweg in brei ©nippen einjuteilen hatte: in tüchtige ftadjleute, benen ei
leiber nidjt gegeben war, weh in gemcinoerflänbltd)em Dcutfd) )ad)gemä§ auä}ubrü(fen,
in braud)bare geuilletoniflcn, benen bebauerlidjerweife bic Sonfunft ein S3ud) mit fieben
Siegeln blieb, unb enblid) in arme £d)lucfer, bie mcber für muflfaltfd) gelten tonnten
nod) \u (abreiben oerftanben. ?«$terc klaffe irar bie jablretd)fte. JRafd) ifl eä bcffei-
geworben. 3Rebr unb mebr »erfd)winben bie ebrenbaften, ober ungefd)i(ften ^ebanteu
wie bie flogen Sämlinge aud ben SXetbcn ber aHufirfritif, unb an t'brc ©teile treten
frifd)C, ebrgei|ige, nid)t feiten febr ebrget'iige junge ©elebrte, feie mit bem „würbigen
*$ergamen", baju mit fontrapunrrifeber Secbrnf unb £armonie(ebre mobl oertraut finfc,
ferner eine auägebebntc, meift afabemifd)c &ilbung befifcen unb eine red)t gcfdroieibigc
i^eber fubren. Damit barfö jeboch nod) nicht abgetan fein. 933ir braueben ben Jort
fd)rittdrntifer. Unter biefem wäre burdjaue1 nidjt ber 3J?ann ju »erfleben, für ben bie
®eltgefd)id)te erfl mit Söerlioj beginnt, unb ber allem ©ewagten, obne tHucffi<r>t auf
feinen in baldigen SÖert, fdjon barum allein SÖabn ju fdjaffen fudjt, weil ei eben gewagt
4t HÜ gut moberne, oll richtige gortfdjrittärritifer würben otelmcbr foldje aniufeben
fein, bie beöbalb ber ^ufoinft eifrig entgegenfhreben, weil fie in allen widrigeren Kapiteln
ber {Rergangenbctt gut Q3efd)eib wiffen. Deren Dartfellung man nicht anmerft, wie viele
fOtubc fic bie erforberlicben ftrengen ©tubien auf biftorifd)em unb äflbetifd)cm ©ebiet
getoftet baben. Die nidjt al* ©erfen mit fid) unb ibrem ®til fofettieren: ibre Arbeit
oerfd)winfcct fonft mit jecer abgeblapten URobe. Sie enblid), wad bie äauptfadje ift,
ftd) als geborene ^Jfodjologen auärceifen. Denn moberne Äunftbetradjtung ifl oerfeinertc
^fpdjologte.
Die brei Tutoren, über fceren juleßt erfdjienene Söücber id) bicr einige* in Äürjc
lagen fann, finb mebr ober weniger ©eelenforfdjer unb *33?alcr. 33erfd)ieben nad) ©aben
unb Temperament, aber fid) jum gleiten fortfd)rtttlid)en ^riujip befennenb, ba§ man
eifrigft „oor ber 9?atur ftufeieren", alfo in jebe* f<baffenben ffünftlcr* Seit*, ?ttf}t-
unb (Sbarafterfpbäre ftd) bingebungdooll einleben mup. SWid)t nad) $ainefd>em unb
3o(afd)em dlejeot, intern man mit f ü hier fBered)nung in oerfd;iebenen iOiilieue gefd)trft
berumooln'giert, fonbem nad> beutfd^er Tivt: intern man fid) in ben SERann feiner SBabl
bU fdn'er jum Treue balten oerliebt, bi* |ur edjtcn, gegen ^(nfed)tungen gefeiten Dauer*
freunbfdpft, bic aud) gebier unb Mängel mdu überfiebt nod> gar befd^önigt, oielmebr
fufi an ber Q3ercttngung von SUibmwürbigem unb &d?mad)em, wie fie bie mtintnetl
funfl(erifd)e ^rfd)einung aud) auf böbtrer unb bocbiler ©tufe faf) immer barfleUt, feine
ehrliche menfd)(id)e wie artifrifd)C freute bat unb befunbet. 2t> fprid)t 91ubolf ^ouie
über ben legten großen ©pmpbonifer beä »ergangenen 3«brbunbert^, Smfl Decfep über
brn erften bebeutenben mobernen fyrifer, 9Bilbelm Äienjl über ben SOfcitfer bed 3»u|lf*
brama*.1)
Wtit feinem ,,'Änton ^ruefner'' bat Couid ein runbed, fpred)enb abnlidje«, in ber
bödjft wirffamen aber nie äu§erlid)»effeftooflen Verteilung »on Cid)t unb ©chatten ganj
audgejeiebneted dbarafterbilb gegeben. (Sin ©elingen, baö um fo bober anjufd)(agen ifl,
alö ber 3onbid)ter, ber, wenn man «£d)ubert aufnimmt, mebr ald irgenb ein anberer
im @oetbefd)en QSerflanbe „eine SRatur" war, fein Dafein unb fein ffierf erft oor wenig
*) Kubolf 8oui<, „Unten Brurfnet". (®wrg Wüaer, Wüna)en u. 8eir|ig. 1905.)
Cfrn^ fcrcffj, „^ugo ©elf. II. Canfc: $uao Seif« 2<bajffn. (6a)u^« & Scffflrr, Bmin
u. 8rtpjt8. 1904 ) «Stlbrltn »irnjl, „Äi^aro «agnrr". (Wumtrn, IHra>brim. lüOJ.)
11*
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164
?Runbfd)au.
Jabren befd)lo§ — wad ei nc-d) auenebmenb fdjwer mad)t, ibn vom ungefähr in bie
rüstige biftorifdje perfpeftroe i" ftetten. 3ft bie* fioui* je$t fdwn geglücft, fo liegt ba*
rce-bl baran, bafi in ibm ^bilofopb unb lünftler ftd) »ortreffliefc ergänjen. Der füb*
teutfehe ftunftfritifer von ^Begabung fehvettet burd) Meint unb ©djopenbauer ju einer
fowebl freien ald fic^ren fünftlerifdjen Srfcnntnid »or; ber norbbeutfd)e bleibt mitunter
in ber $büofopbie fterfen. Die wirflichen unb bie fd)einbaren 20iberfprüd)e in »Brurfner»
SBefenbeit, bad 32ai»e unb bae" Raffinierte, baä £erotfd)e unb bad ©d)ulmeifterlid>e, ber
überfübne, nur im ©tanbe ber äftbetifd)en llnfdnilb unb Unfultur aluef lid? curch
iufiibrenbe <8erfud), einen fompbonifd)en ©traup in ber ©ermenbung »on ©äffen au**
jufed)ten, bie aud ber neuen muftfalifd)*bramatifd)en 9tüftfammer entlebnt fmb — unt>
ald (£nbergebnid, bie unumftöfjlidje Sarfadje eine« barmonifdjen runfllerifcben ©efamt*
ertraget bei burdjgebentd bebeutenben, aber faß burdjgebenbe' fragmentart'fd)en dinieU
leiftungen: ad bad bringt fiouiö mit gewinnenber SÖärme, mit fluger, biöfreter SBerct*
famfeit anfd)aulid) unb überjeugenb uir Darfteilung. Umfaffenbere, bai SBerbältni* »on
UrfaAen unb SBirfungen ©ompbonie für ©»mpbonie nod) genauer abmägenbe 33rucfner*
SBiograpbien merben fpäter erfdjeinen — aber faum je eine, bie, wie bie »on 2ouie,
in befonbero glücflidjer SJtifdjung bei gefdjeiten unb bei gebobenen Soncd gefdjrieben
ift unb baber im Cefer eine angenebm temperierte Stimmung bei längeren nad)bämmern
läßt. SRod) beffer ale" ber „SBerÜoj" ift bem Q3erfaffer ber „SÖrurfner" geraten. Stur
eine Jrage fei geftattet. Stenn aud) ein Äünftler »on bebeutenber Anlage feine aCU
gemeinen SBilbungdintereffen bat, wenn er aud) nidjt bai auegefprodjene SBebürfni*
empftnbet, fid) berjenigen geiftigen (Jrrungenfdjaftcn feiner $eit \u bemächtigen, bie
außerhalb bei ©onbergebieteö feiner engeren $atigfeit liegen: wirb nicht, wenn id) fo
fagen barf, ber fubltmierte ©eift feiner Spodje f urch taufenb ^oren in feinen Drgamömu*
einbringen unb fid) in ibm auswürfen, aud) obne baß er ein flared S&ewußtfein baoon
babe? Q(ud) bort, wo bae* ©enie balbgefd)loffenen '•Xugee' am Ceben eorbetfcfjreitet, jiebt
ei »ermöge beä magnetifdjen 3aubfr* oeT geiftigen $otenj ton überallher
Äräfte an.
Sine nid)t gleid) fdjmierige, aber barum wabrlid) nid)t leitete Aufgabe bat fid?
<£rnft Decfeo in feinem „£ugo SQ3clf" geftedt. JUicb er ift ber rechte 3Rann für fie.
t'cuiö bat beute bie Autorität bei fertigen ^fpd)ologen; Decfen braud)t al* ^erfonlid)fett
nur nod) etwad mebr Srfabrung, bie ftd) bier in Erfolg, bort in Refignation umfe£t,
um ald »ollreif ju gelten, braud)t ald ©d)riftftefler nur nod) ein wenig Übung, um
aud) bei legten in feiner Äunft ganj mäd)tig }u fein : nämlid) bie 5)arftellung rbptbmifd),
in fleti moblgefugten Proportionen auftubauen. 3m übrigen ift ber mir »orliegenbe
iweite SÖanb feiner Solf*^iograpbie ein SKufterftürf einer in jebem ©trid) inbioibua^
lifterenben, aud) bie geringften (Sin)elbeiten an rechter ©teile forglid) {ufammenreibenben
ifbaraftenflif. Die fdilidite, »on jeter fopbiftifd)en ^ünftelei freie Q5eweidfubrung lägt
feine Cürfe offen, ©ie bat mid) gelebrt, fo mand)ed am 28erfe ^>ugo Sffiolfd böber ju
werten, ald id) e* bidber »ermodjte. 3(ud) für mia^ ift ber SBiebererwerfer gRorifee,
ber tiefftnnige unb tiefinnige Deuter bed fpanifd)en Cieberbudje* eine ber liebendwerteften
Srfdbeinungen ber gefamten neueren 2 onfmtft. Unb jugleid) ein reformierenber ©eift,
ber in erftaunlid) jarter Differen|ierung beö muftfalifchcu !2(udbru(fd»ermögend oft b~le
größten feiner Vorgänger übertrifft. 9lur ein ©enie »ermag ia^ in 2Bolf immer nod)
nid)t )u feben, will fagen einen ^ünftler, bem bie o'MPiiaticn einen mufifa(ifd)en ©e*
banfen leibt, beffen ©rope unb ©ewalt alle* umwirft — »on ber 3(rt wie ba* $bema
ber h-moll Juge aud bem erften Q5anbc be* wobltemperierten Älaoierd, ober wie ber
Eingang ber Ouvertüre jum „Don ©io»anni4/, ober wie bad Sälfungenmoti», ober
wie eine %tjab( wabrbaf^ göttlicher (Singebungen in 5chnbcrte ,,©interreifeM. Dod) bat
ja bie i02urifgefd)id)te fd)on öfterd ben ^Beweid bafür geliefert, baß Sräger unb Hui-
geftalter nad)wirfenber Reformgebanfen nicht jugleid) auch ftorppbäen ber (Srftnbungdfraft
fein müffen. 3d) benf mir, wenn ein $onbid)ter auc^ über jene* ^ö^fte »erfügt, bann
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;Rundfd)au.
165
bat e« den ?aufd)enden einmal ju treffen, wie Äronion« SÖli£, da§ er in den Staub
ftnft, geblendeten SMirf«, anbetend.
Äann id) mid) fomit Herfen nicht in allem anfdjliefjen, fo bab id) t cch an
feinem SBud> berjlid)e pjreude — al« an einem fd)enen Serf moderner pfpd)ologifd)er
rtrmfunft, die, indem fie da« ©efdjaffene analpftert, und ein treue« Spiegelbild der
5eele de« Schaffenden gibt, Sehr glücflid) ifl aud) die 3&ee, durd) einander gegen»
über gefteüte fttetenbeifpiele e« red)t augenfdtlig }u erweifen, wie oiel tiefer die 3nter*
pretation Solf« in da« 3J?arf de« gleiten @edtd)te« eindringt al« die eine« Adolf Senfen,
ftolrmann, $3rabm«. 8?ur Sgnag 55rüff, der Corfcing com Sd)ettenring, ifl der @bre
fced) wohl nicht würdig, mit <$ugo SBolf in einem Atem genannt }u werden. 3um
legten ift nod) eine« an Secfen« «Biographie beroorjubeben : die außerordentliche ®e=
«citienparngreu cer Arpeueieconu. «ai© im oor nimi langer ^en cem portren/itcven
„Sdnlaneder" (Jgon oon Äomorjpn«fi« — aud) einer Hoffnung der aufdrehenden pro*
cuftioen Sfririf unter dem fdjmarjgelben Banner! — al« id) diefem Meinen gehaltvollen
^Rojartbud} ein ©elettwort in die Dffcntlid)feit gab, ftellte id) dem reid)«deutfd)cu £efer
einen $pp »or, den ihm die oberflächlichen Allerwelt«beobad)ter bi«ber unterfd)lagen
hatten: nämlid) den de« nidjt nur funftbegetfterten, fdjnell angeregten und oielfeitig an-
rc^encen, loncern jein Jtonncn auep tn irran/er, irrenger .arpeu meurencen uno iteigerncen
X>eutfd)ofterreid)er«. Sßiele getreue £efer de« „Äunftmart«" wiffen wobl, dag SRidjard
£atfa, der unermüdliche, ideenreiche SDhifirredafteur diefer 3eitfd)rift, in *Prag lebt, aber
nidjt, dap er geborener Deutfcbbbbme ifl. Die Mitglieder de« „Allgemeinen deutfe^ett
Wufifoerein«", die ftd) heuer in hoffentlich red)t anfebnltcbcr 3«bl jur fefittd>en grub«
iabr«fabrt ruften, werden ju ©raj nid)t allein mit originellen fcfjaffcnden und hochbegabten
au«übenden, fendern aud) mit energifdjen, jähen, fritifd)en Vertretern de« mufifalifd>en
^ertfd)ritt« in Oftcrreid) gute, für beide ieile fruchtbringende 3wicfprad)e hatten. Smfl
Decfep und Silbelm ftienjl haben dort mit fchönen idealen Erfolgen da« 2Berf der
'lufflärung, der 2Bagnerifd)en ©eifle«fultur weitergeführt, da« ^iedrid) ton $au«egger,
der QSater der pfochologifchen ftunfftritif, und fein treuer ©enoffe Jriedrid) £>ofmann,
der heften SBapreuther einer, im harten fiegreid)en Äampf gegen miderfrrebende Elemente
einleiteten und fefl begründeten.
Aud) Silhelm f ien|l tat fid) in der 2Bagner*t8ewegung de« deutfehen ©üdoftene
oon Anbeginn rühmlich heroor. Der @ad)e, die er oertrat, diente er al« Ärttifer wie
al« geftaltender ^ünfHer. Der £omponift ^ienjl ift in Deutfd)(and unterfd)ä^t worden:
er hatte den (Srfolg feine« „(£oange(imannM gegen fid). SBeil er einmal in guter ?aune
mit dem großen fhiblifum ©chmolli« tranf, nahm fid) diefe« hcrau«, ihn fortgefe^t ju
dujen und fd)led)tweg al« 93olf«opem*Äomponiften ju betrachten. 3»tt Unred)t. 3cad)
ffiagner haben bi« auf den heutigen Sag wenige mit dem Problem de« neuen 3ttufif*
drama« fo ernft und fo fd)wer gerungen wie Äienjl in feinem „£eilmar der ülarry/ und
befonder« in feinem „Don Quirote". SQBird der Steif de« le^teren, der nur auf den
erflen SBlicf fpröder erfd)eint, al« er in SBabrbeit ift, in der gorm einer grandiofen
mufifalifdjen Sragifomodie wohl erft oon einem nod) Stärferen endgültig für die $übne
erobert werden, fo bleibt dod) da« Sagni« Äienjl« ein hod) anerfennen«werte«. 9?id)t
wenige fluge ?eute und im gewohnten $äh'gfeit«rrei« folid eingefdjulte Opern«
referenten machten e« (id) an diefer Partitur erft Rar, daf? man al« überjeugter iWad)*
folger SBagner« aud) andere dramatifdje 26ne an)ufd)lagen oermoge, al« Srlofung«-
und iDttnnefänger*3Rotioe. ^« wäre unnatürliche e« wäre allen ^ntwicflung«gefe^en
zuwider, wenn die heute für die Q3übne fd)reibenden Sonfe^er nicht im SBefentlichen
die mufifalifd)e Sprache 3Bagner« redeten; befremdlich ift e« hingegen, daß ihrer fo
eiele fid) oon feinen Stofffretlcn immer nod) nid)t redjt lo«lbfen fonnen oder wollen.
£ter hat die naturgema§c (fmanjipation oon 2Bagner einjufe^en. Äienjl fud)t nid)t den
t)id)ter ffiagner nad)juabmen — er oerfteht ihn. X)a« fam ihm je^t aud) bei der
Abfaffung feiner ffiagner«i8iographie juftatten. (St gebt hier nicht oon der 20?etapbpfif,
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3lunbfd)au.
nidft oon mehr ober miuber brocftig geworbener .öiftorie au*: er hält ftd) an bte 33übne.
dr gibt und ein anfebnlid) ©tücf 'Pfocljologic be* Sbeater*, be* 2Bagnerifd)en, baore utbifdxn
Theater*. Da* tot not. Aüiuoirl über ben SDtafter be* SWufifbrama* ift, jenfett oon
Drd)efter unb €d)nürboben, in t>ie blaue ?uft hinein gefdjrieben morben. Ätenjl lä§t
und nie oergeffen, baf? Sagner* ©eftalten, fo febr ba* menfd)lid) ffiabre in ibnen
triumphiert, bod) ed)te unb rechte Bürger ber Seit ber Bretter ftnb — wa* ihren
ffiert wahrhaftig nid)t minbert. Sarin fdjeint mir ba* £auütoerbienft feine* Bud)e*
ju liegen. Unb eben n>ei( e* Jtonfrete* grab unb fd)lid)t au*fprid)t, »erben SRufifer
wie Caien au* fetner Seftüre gleiten Sttu^en jieben. Damit foff nid)t gefagt fein, ba$
Äienjl fid) unb und nicht aud) ju tbealen ©pbaren ju erbeben oermag. Da* wirft
bann um fo mebr, al* e* mit Bebad)t nur feiten, gleicbfam in Atigenblicfen be* Au*-
raften* gefd)iebt, wo oon £od)warten be* ©ebanfen* au* fid) ein bcträdjtltd) ©rief
jurütfgelegten SBege* frei, gut, unb in freubt'ger, bureb ben ©ewinn neuer Stnftdjtett
erjeugter Stimmung überfebauen läjjt.
9?ur in einem ift mir Äienjl* „2Bagner" ntcrtt recht — unb, ba§ id) e* nur frei
berau*fage, aud) ber „Brucfner" oon Coui* unb Decfeo* „ßugo 2Öolf" nid)t. FWämltdh
in ben 3fl«ft™t»»>na»$8eigaben. ttn», weil fic in ihrer ted)nifd)en $erftettung
mangelhaft, ober weil fte ungefdjtcft au*gewäblt mären. Bi* auf oerfdjwinbenbe Au*=
nabnien ift ba* feine*weg* ber gaö; e* oerftebt ftd) ja aud) oon felbft, ba§ etn alt*
bewährter Verlag wie ber ©d)ufterfd)e unb etn friferjaufftrebenber tote ber SDcüüerfd)e
ben SRuftfjreunben nicht* 3Jfittelmä(jige* bringen. Jßtelmebr muf? id) mtd) im 3ntereffe
ber Ausbreitung einer oornebmeren äftbetifcfjcn Äultur überbaust gegen bie Aufnahme
oon Sfluftrationämaterial «" **n Sert biograpbifd)cr Arbeiten erflären. (S* gebt mit
bem beutfd)en Ccfer ähnlich mie mit bem beutfeben Sbeaterbefudjer ; je mebr (£fel*brücfen
man feiner fßbantafie baut, um fo weniger jeigt er fid) geneigt, mit bem ©erfaffer eine*
gediegenen Skrfe* folgered)t mitjutenfen. Unb er ift in tiefen Dingen wie ein Mint:
te$t man ihm beute brei <£d)ad)teln mit Spteljeug oor, fo begebrt er morgen neun.
Da* SReiningertum auf ber <&iene mit feiner „biftorifd) treuen" Deforation*fereret unb
bem gefamten bunten Srötel jerftreuenber, bie Aufmerffamfett be* 3ufd)auer* oon ber
•6auptfad)e, oom Drama abjiebenber 3[ufjerlid)feiten bat bte beutfdjc Bühne herunter«
gebracht unb ben ©efdjmacf be* Sbeatergänger* oerfladjt. Da* Einbringen fcer 9Reiniugerei
in bie Bud)au*ftattung fann nod) fd)limmere folgen baben: e* oerfdjräuft unb oer>
flimmert bie einjige oerbliebene ©elegenbett, fid) mit bem tßublifunt in emften fragen
obne ©tbrung au*einanberjufe^en. 9Ran blie* unferen SRitbürgem fo lange unb mit
fold)er Atemfraft ein, fie hätten in unferer brangooflen, fd)neUebigen (5po<be hofften*
für bie 35rofd)üre, ben Ceitartifel, ja eigentlid) nur für bie Depefd)e nod) ein wenig 3«t
übrig, ba§ fte, fofern fid)'* nid)t um einen beutfdjen ober franiöftfd)en SDtoberoman
banbelt, überhaupt nur nod) mit $Biberftreben jum Q3ud)e greifen. Unter btefen Um
ftänben ift e* bod) bie benfbar fd)led)tefte Sriiebung*tafttf, fie formltd) baju anjuletten,
einen 33anb in einer fleinen QSiertelftunbe oon 33ilt gu 33ilb ju burd)blättem. De*
weiteren: ein SWann, ber etwa* auf ftd) hält, läft fid) nid)t in* ©ort fallen, aud) nid)t
oom 3ctd)«cr °*cr ^Pbotograpben; bie Autoren würben bc*balb ihre ©djriftftetlerwürbe
am heften wahren, wenn fie fid)f ben $Mlberfd)murf unb «fd)nacf im $ert oerbäten.
23ifi anberfeit* ber Verleger ein Übrige* tun unb ift er in ber Sage, fad)bienlid)e*
illuftratioe* Material in tabellofer Au*fubrung beijufteuem, bann möge er felhige*
am ©d)luffe be* 58anbe* in einem Anbang oereinigen — nad) bem nachahmenswerten
SDcuftcr ber „SWufif" unb be* „Äunftwartd". Die btlblidjen «Beigaben würben bann
in ba* ©ebiet ber erläutemben Anmerfungen oerwiefen fein, bie, al* Zotigen, Auf*
rribungen oon Daten, 2iteraturnad)weifc ja aud) fonft )wecfmä#igerwetfe in einer
vBd)luibeilage jufammengefa§t werben, tamit ber aIuh ber Darfteilung be* i5ud)e* feine
Unterbred)ung erleibe. Autographierte Briefe unb $arriturau*fd)mttc gehören tn bie
gleidw Äategorie. Aöenfall* mag einer Biographie ein $itelporträt »orgeheftet werben.
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3lunbfd)au.
167
3c tokioter bie SRtttel finb, mit benen bie ffunftfritif ju arbeiten lernt, um fo
lebhafter empftnbet man ten Söunfd), aud) in ber ftoftümfrage bed S8ud)ed ©tilmibrig*
feiten befeitigt ju feben. ©er Äunftfdjriftfteller fott fünftlerifd) oeranlagt fein. 93erfugt
er nicht über bie ©abe, burd) bie fuggeftioe Sraft bed regten ©ebanfend unb bed
re*ten ffiorted bie 2Defend|üge fetner gelben, bie Siatur, aud ber fie fd)bpften, bie
3Renfd)en, bie ibnen ald fteinb ober greunb gegenübertraten, bie ftämpfe, bie ju befteben
ibr <£rbcnlod mar, oor unferem inneren 3uge lebenbig b*raudwad)fen ju laflcn, bann
tut er gut baran, feine ^eber bem ©ermanifd>en SRufeum in SWürnberg ju über«
antworten unb unter bie 03ud)binber ju geben.
SOtöndjen. ^3aul OTarfop.
*
3Deutfd>e tttuftf in Pari».
3m ©etriebe bed $aged entgegen und (eicfyt bie &eränberungen bed geiftigen
bebend, weil fie fid) nidjt ruefweife, wie etwa friegerifdjc Sreigniffe, oottjieben. 9lad)
längeren 3rilabfd)nitten tft man überrafdjt, wie fidjer bie 9Jlad)te bed ©eifted wirren.
2Ran lieft in beutfdjen 3eitungen unenblid) oiel tflatfd) aud ^arid. @ine vernünftige
Sufflärung müfjtc ben Deutfdjcn gegenwärtig immer wieber jum SBemu&tfetn bringen,
wad ibre SRuftf im 3udlanb oermag. ©ewifj finb bie ^ranjofen muftfalifd) ebenfo be-
gabt wie wir. Tiber ibr Ceben geftaltet fid) neroöfer, aufregenber a(d bad unfre, unb
carum finb bei ibnen ^erfonlid)feiten wie SBagner, QSrucfner, ffiolf, bie ber Sinfamfeit
bebürfcn, in lefcter 3eit nid)t mebr beroorgetreten. ©araud folgt, ba§ bad ©ebiet aller
rrnfte« unb eblen 2Xuftf ben Seutfd)en gebort, gretlid) fträubte man ficb anfangd
an SRadjbarlanbe, unb bie Erinnerungen bed Ärieged gefeilten jur ©d)am ben £a§.
fcunoureur fefcte SBagner aufd Programm feiner Monierte gegen bie ffiut bed blinben
Uolfed, unb bie ©fanbale bei ben Cobengrinauffübrungen bed 3abred 1891 finb noch
m mancher ©ebad)tnid. Sann fam, wieber in ber ©ro§en Oper, bie ben fidjerften
3Ba§ftab bed Sertfdjrittd bejeidjnet, 1893 bie Söalfüre, 1895 Sannbdufer. 2»an be«
rubigte ftd). «Rur bie fran|öfifd)en ffomponiften unb «erleger, bie fid) fd)mer gefertigt
laben, febrien ober intriguierten. Diefe SWotwebr ber Herren ©t. ©aend, SXeper ufw.
tu" oollfommen cerftänblid) unb man braucht ftd> moralifcb nicht barüber )U entrüften.
ifber man barf aud) offen fagen, wad wabr ift: ba§ bie fad)lid>en SÖebenfen jener
ehque gegen SÖagner unfad)lid) finb unb lebtglid) bem Äampf umd ©afet'n entfpringen.
3ed) ben ©iegedjug ber 2Bagnerfd)en fflerfe oermodjte bie ©erjmeiflung ber Sucfc
fompeniften nidjt aufjubalten; 1897 erfdjienen bie SOteifterfinger, 1902 ©iegfrieb, unb
14. Dej. 1901 Sriftan unb Sfolbe in ber ©roften Oper. t)ad ©rama ber £iebe mar
fa>on 1897 in Aix-les-Bains, bann 1899 oen Camoureur unb nad)bcr oon (£ortot
Üemfd) aufgefübrt worben. Tic gro§e Oper oereinigt ade crbenf(id)cn Littel ber Seit-
ftabt, unb bad ©ebotene barf ald bie oberfte ©renje beffen gelten, wad ber franjöfifa>c
@eift nach 5 ii fit äffen oermag. f a ifl unter Saffaneld ^übrung ein blenbenb fd)6ned
Crd^efter, ba finb Darftetter (3folbe : ©ranbjean, 2riftan : Sloarej ufw.), bie ficb «brer
Juifgabe in ©efaug unb 3ptel mit größter (Strenge unteqieben, ba ift eine Q(udftattung,
in welcbcr Direftor ©ailbarb gefd)id)tlid)e Äenntniffe, ©efdjmarf, *Bradn ber SWalerei,
bar äoftume jeigt. Dad (Srgebnid bietet in mancher Q3euebung 93otlenbeted. 9h'e,
anfer in guten i5aoreutber Qluffübrungen, erinnere id) mtd) fold)e %>unftlichfeit bed
Blborbmud »ernommen -,n baben, bei oöllig freiem, leibenfd)aftlid)em Ttudbrucf. Unb
ntrgenbd glaube icb, wirb oon ben ©arfteQenben bie innere .ßanblung bed ©ramad
fo folgeriebtig bem Buge überfefct, wie burd) bad ©piel ber franjofifcben ©anger.
Dagegen würbe bie ftenifebe ^ebanblung fettend ber 9tegie, unb aud) ber *pinfel bed
IRalerd mebr bem ©lanj bed ,,^aged/y, ald ber SBeibe ber „fiiacht" gerecht, um bie
ffia^nerfeben ©ombole anjumenben. 33et ber ©teile : Sur nous retombe, nuit d'exstase
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SRunfcfd>au.
fällt ein greller 3Ronbfrrabl auf bie Siebenten, eine unangemeffene 9temtni^e>U
ftauft. Da war bie ©ternennad)t in 2Bien weit berrlidjer! Dort erntete man im
©inn Qlppiaö mit wenigen 3Jhtteln ©timmung, in ^3ari$ jog bie ©tele spracht ba unb
bort oon ber ©ad)e ab unb jerflörte bie ©timmung. Sine ibea(e Jöiebergabe bätte
von ber franjö|tfd)en Qlugenfunfl bie Vorteile ebne bie dtacr/teile beruberjunebmen. «Bei
fo(d>en Srftauffubrungen feilten alle ma§gebenben Streife oertreten fein; aue ben t&c*
richten ber ftänbigen ftorrefponbenten, bie an $arifer GS inbriufe (ängfl gemöbnt fmb,
oermag ber Deutfdje wenig für fid) ju bolen. Sttamentlid) unfern ©ängern, bie unter
bramatifd)em ©efang immer noch bie geflogenen «Betonungen einer borten, ungejdjmeibigen
tteble ju oerfleben lieben, wäre ber «Befud) franiöfifd)er Sriftanauffübrungen oon gro§em
9&n>en: fie würben beffer al* burd) irgenb eine tfebrweife bie ©irfung me(otifd)en
©efangS erproben.
Huf 9. Dejember war in ber tfomifdjen Oper 2Bagner$ ^(iegenber $oQanber
alt (Jrftauffübrung (genauer al* ffiieberaufnabme nad) 7 ^abren) angefefct, mufte
aber auf Snbe Deiember oerfchoben werben. 93tclleicbt ift ed feine Unmoaltmfnt.
ba§ in einigen 3«frn«bnten foroobl bie @ro§e wie bie Äomifae Oper bie £auptwerfe
Sffiagnerd bringt; aud) Don ©tooannt wirb an beiben 3nftituten aufgefubrt.
borte ald SeporeQo -penn gug£re, einen ftünfiler aflererflen Stange, ber mir jum
erftenmal baä gab, wa$ ich oom Diener Don ©tooanntö erwarte. 3(ud) fann >d) nidjt
unterlagen ju erwähnen, baf? bie franjöjlfcbc Uberfe^ung weit fadjlidjer ifl ale unfere
oon TClbernbeiten, logifdjen unb mufifalifdjen ffiiberfinnigfeiten erfüllte beurftbe, bie man
in SWojart« Urheimat boren mup. ©olange fid) baö* beutfd)e ^ublifum gefallen lä§t,
ba§ ber 'Äußfcrucf oon ättojartä SDiufif burd) heterogenen $ert oerbunjt wirb, follte e$
fid) nicht untergeben, SDfojart )u (oben; benn nicht* ifl unerträglidjer all tae £ob oon
Unoerftänbigen. 93on SWojart borte id) im Cteberabenb ber grau SRarie Olentne b^dbeim
aud) ein beutfd) gefangene* Cieb; e* war bae 93eild)en, unb 13 anbere ©oetbelieber,
in Kompositionen oon ©djubert, ©djumann, Ciijt, Solf, baju einige SBolfe aue bem
9R6rife unb Sid>enborffcpfluÄ. Die* alle* mürbe in beutferjer ©praaje oorgetragen. gur
ÜBolf liegen bie Dinge in <ßari6 überbaupt au^erorbentlicr) günfh'g. ^outarel, 9)ebafteur
am iOJcneftrel, bat ben (Sorregibor fchon überfe^t, unb eine Xuffubrung an ber M onufchen
Oper wirb oon urteildfäbigeu beuten für audfid)tdooQ gebalten. Senig i(l bii je^t für
55ru(fner gefdpbra; bod) würbe feine JRaffigfeit ben ftranjofen ebenfo wie bie Sßolfi,
balb imponieren. Ctdjt bat in ben legten 3abren immer ftärfere ©egenliebe gefiinben.
ißor furjem f onntc bie gauflfinfonie breimal bintereinanber in ^ariÄ aufgefubrt werben !
71m it. unb 18. Dejember borte im altebrmürbigen (Sonferoatoire bad eingefrifene
^Publifum ber Konjertd bie erfte QCbteilung bed (ibriiln* (mit nur 2 fleinen ©trieben).
3ud) mup id) noch erjäblen, ba§ ich oor ber Hauptprobe }um ^riflan ©elegenbeit hotte,
im (Soncert Kolonne SBeetbooen« 7. ©infonie unb S8ad)6 21. Äantate ju boren. Kein
3weifel, ein ^Jarifer ©onntag bietet mebr beutfd)e 2»uftf als ein berliner ober iDJnnchener.
Unb fo wenig baft Konjertleben an ben SBerftagen tiai beutfd)e au $8etriebigfeit erreicht,
flafftfd>e i0?u)1f wirb metletcht ebenfooiel wie in einer beutfd)en ©roßftabt geboten: üb
notiere aud ben Programmen, bie id) im QSorübergeben fab ! Q3eetbooend Missa sotemnis,
alle Q5eetbooenguartette, SBeetbooen* ^ioloncedfonatc op. 69, ißad)d Dmoll-Suite für
»ioloncett attein, ©ad)d Äoniert für 2 93iolinen, Cidjtd balge glifabetb- «Bei ßbeoiaarb
geno§ id) ein ^änbelfonjert, unb fo gebt e* weiter. Die ÜÄuftf ber SReuefien, oon
Vincent b^nbn, SBruneau ufw. wirb gerne gebort, bat aber, wie id) mich überzeugen fonnte,
weber bie 'Xnitebungdfraft noch ben «Beifall, ben ein beliebige^ 2Bagnerfon}ert mit 100 mal
gefpielten „SBrudjfhjrfen" aufweift. 93on ©d)itlinge, Pfi^ner, SReger, Gabler ufw. wiffen
bie graniofen nod) febr wenig. Sber oon SÄ. ©trau§, ber ja mit Erfolg feinem 9tubme
lebt, ©ooiel id) wei§, wirb bie Domestica aud) in ^5arid aufgefübrt werben. Die
franjöftfd)e $ageefritif fd)eint mir, wie bei und, auf tbeoretifd)e, printipiede fragen oiel
iu oiel ©ewid)t ju legen; gortfdjrrtt ifl bae beiberfeitige 5elbgcfd)rei — al« ob ein
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Btntbföaa. 169
cd)ter, gro&er ftüuftler hinter bem ftortfd)ritt berliefe, ftatt ba§ ber ftortfcbritt eine
$egl«terfd)einung feine« febbpferifchen ffiefen« ift. Über Sriftan muften felbft «Bruneau
unb 2Renbe« nidjt fooiel '.Xnjtebente« ober 3ntereffante«, wie id) erwartet hatte; einjig
©abriel gaure gab tm ^igaro fachlichen, anfd)aulid)en Q3erid)t. ©ie unter*
gtorbneten Sttätter, beren c« ©iele giebt, ferjeinen in $ari« jum Seil auf ber Stufe
unferer fyromnjprefFe britten ftang« ju fein.
Stuttgart. Äarl ©rundfo.
*
üDae Stuttgarter Publicum.
2Ba« iß ba« ^ubltfum eigentlich? Die äRenge berer, bie babei fuib. Jffiobei?
'Äo irgenb etwa« lo« ift in ber 6ffentlid)feit. 3m befonbem bie ©umme ber Scbauenben,
$örrnben, ©eniefcenben. Sine bid)t aneinanber gebrängte ßerbe, eine feft jufammen=
flebenbe 2Raffe. (Jtwa« turdjau« Unperfonliehe«, ba«, obgleich e« au* einielnen «Perfenen
gebtlbet wirb, tod) in folebe nietjt wieber aufgelöft werben fann. «Seine Jiifammcit*
fe^ung ift in jebem Aall wiederum eine anbere. So gleist e« einem (Sbamäleon, ba«
in allen färben fdn'llert, einem ©ebirg«bad), ber an* unb abfd)willt, einem ©ummibaO,
brr ftd) aufblafen unb }ufammenbrucfen lafjt. Schließlich rin begriff, unter bem fid)
lebe« etwa« anbre« corftetlt, ber einem jwifdjen ben Ringern burd)fd)lupft, wenn man
ipn feftbalten will.
Darum baben aud) bie Urteil«fäbigen von jeber bie ©erfdjiebenften SReinungen
rom ^ublifum gebabt. 'JCrifteteled bä(t tiefe« in feiner ©efamtbeit für einen befferen
Siebter über funftlerifd)e Seiftungen al« einjelne, weil c« al« otelfufjige« unb etelföpfige«
»löefen eben aöe« 3)erftänbni« oder einjehien Seile eine« Stunftwerfe« in fid) fdjliefje.
€t hatte freilief) §tüenen oor |id> ! Dagegen ©oetbe, ber @eifte«ariftofrat: „Da«
fytblifum ift im ganjen nidjt fähig, irgenbein Talent ju beurteilen ; benn bie ©runbfä&e,
wonad) e« gefdjeben fann, werben md)t mit un« geboren, ber 3ufftU* überliefert fie
nicht; burd> Übung unb Stubium aflein fonnen mir baju gelangen."
Die SRenge berer bie babei jtnb! £eid)t befommt ber urfprünglid) tnbifferente
begriff einen Stid) in« Üäd)erlid)e, Spöttifd)e, 93eräd)tUd)e. Da« rein Quantitatioe
wirb jum Oualttatwen. 3" biefem Sinne rechnet fid) natürlich geiftig niemanb |um
itoblifum, mag er ftd) aud) forperlid) mitten barunter befinben. SRan fann be«balb
aud) ftet« ungeftraft ba« ^ublifum oerladjen : bie ^Betroffenen fh'mmen unfeblbar in ben
-Octrn mit ein unb lad)en felbfl mit, entweber weil fie gar nid)t merfen, ba§ fie baju
geboren, ober »eil fie fid) nur au« Diplomatie nid)t anmerfen laffen motten, bafj fic fid)
im 3nnern getroffen fühlen.
Da« ^tiblifum im engeren Sinne finb bie Seilnebmer an öffentlichen Sd)au*
Heilungen. <£« gibt ein fold)e« auf ben ^abrmärften unb 3Ra«fenbälIen fo gut wie in
ben Äonjertfälen unb $b«otem. Da« f uHtfum im engften Sinne ift ba« Speaterpublifum.
Die Sd)aubübne bat fid) aUmäblid) unter ben ebleren öffentlichen Vergnügungen jur
mtd)tigften emporgearbeitet. tRirgenb« lagt fid) barum aud) bie 9?atur be« ^ublifum«
fo gut mie im ^beater ftubieren.
Da im Sbeater unb bei fonftigen Sdjauftellungen, folange e« 2Renfd)en gab unb
geben wirb, biefelben erregenben 9Romente gemirft baben unb wirfen werben, fo bat ba«
$ub(itum aller Reiten unb Golfer feine gemeinfamen SRerfmale. Qtber bod) unterfdjeibet
ce fid) wieber nad) bem Jcit-- unb mebr nod) nad) bem Q3olf«d)arafter. Daburd) gewinnt
Da« ^uMtfnm jeber ltu(turepod)e, jebe« Canbe«, jeber Stabt wieber feine eigentümliche
^bpfiognomie. 3« Deutfd)lanb jumal mit feinen fdbarf au«geprägten Stamme«« unb
«jjrovinjialfulturen treten bie Unterfd)iebe befonber« beutlid) beroor. 3m SRorben unb
hn Süben, am SRbein unb an ber Donau laffen fid) fpeiififcrje Äennjeidjen au«finbig
machen. 9Ran geniest in Äoln anber« al« in 2Ründ)en unb äufert in Hamburg feine
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31unbfä?au.
$et'lnabme ntd)t auf gleite Seife rote in Berlin, roobet man natürlich feine Stubien
mitten in ber Saifon machen muß, nid)t etroa jur SHeifejett, roo ber ftrembenjufluß ben
(ofaten ßbarafter eined ^ublifumd aufbebt.
Dem Stuttgarter $ublifum baben bie Q3efonberbeüen bed fdnoäbifdjen Stammeft'
djarafterd unb bie eigenartige (fntrmcflung ber roürttembergifd>en Kultur ein befttmmted
(Gepräge aufgebnitft. 3« Uberetnjtimmung mit ber äußeren Scbroerfäfligfcit ber Schwaben
bilbet bad Stuttgarter $ublifum eine jäbc SBaffe, bie nidjt leirf)t in Bewegung ju fe£en
itf. (£d feblt nii)t foroobl an regem Sntereffe ald am »ermögen, foldjed jum Sudbrucf
ju bringen. llberbied ift bie innerlich oorbanbenc gäbigfeit, fid) ;u erroärmen unb }u
begetftern, burd) einen jur ©eroobnbeit geworbenen ©eift ber Verneinung, ber Ärttelet
unterbunben unb unterbrürft. 'Xber auch biefer bricht neb nicht in lauten Stunbgebungen
ibabn, oerfd>afft fid) oielmebr nur in engeren Greifen ©eltung. 3J?an erlebt baber ün
Sbeatcr cbenfo feiten Sudbrucbe ftürmifdjen Q5eifatte, ald man entfebiebene 3etcben bed 9Riß-
oergnügend ju boren befommt. Der fleißigfte $beaterbefud)er roirb faum jemals 3euge eined
großen Sbeaterffanbald ober aud} nur eine* lärmenben Durd)fa0d geroefen fein. Efled oo0*
jiebt fid) in glatten, manierlichen formen. Dad .Hkitfchen bleibt in ber$auptfad)e ben (Halene
befuebem oorbebalten, bad 3M£hen »O0enbd, bad ohnehin nur eine untergeorbnete SRoOc
fpielt. 9?ad) ber Vorfte0ung bat mau ed gar eilig, jur ©arberobe unb nach .öanfe ober
ind SReftaurant ju gelangen. 2Bcnigc baben eine felbftänbige 2Rcinung, nod) fleiner itf
bie 3abl berer, welche eine foldjc ju äugern ober gar baran feftjubalten roagen. Die
meiften roarten ab, bid fte oon ben 3eüungen eine Direfttoe crbalten. Der Srfolg oon
fReubeitcn fann bemgemaß in ber Siegel erft am anbern Sage burd? bie Ärtti'f fefigefteDt
roerben. 3m ^oufc felbft — benn bad Stuttgarter *Publifum ifl im ©runbe genommen
rooblrootlenb unb gutberjig — roirb fogar ben erbärmlitbften Stücfen ju einem freunb*
litten 'Xd)tungderfolge oerbolfen, über ben ed aber aud) rotrflid) gute nicht leidjt binaud*
bringen. Der wohltemperierte QJeifatl fteigt bödmend bann btd jum Siebegrab, roenn
man weiß, baß ber Vinter anroefenb iil; benn auf ben Xnblüf etned folgen t'icb mehr
ober weniger oerlegen oor ber HÜmad)t bed ^ublifumd oerbeugenben ©unbertierd brennt
man in Stuttgart nod) mebr ald anbermärtd.
Srft in neuefter 3«t bat fi<h bier eine Ert oon ^rcmierenpubltfum gebilbet. Die
richtige Sbeaterffobt ifl aber Stuttgart immer nod) nid)t. 3m ganjen ift ber 93oben für
Äonjerte günfh'ger, unb biefe, bie roäbrenb ber Saifon einanber in roilber #aft jagen,
beanforueben eine große Summe oon ©clb unb 3«t. llbrigend laffen ftd) im Äonjert*
faal über bad Stuttgarter f uhltfum fo jiemlicb biefelben 93eobacbtungeu roie im Theater
aniletlen. Diefem halten fid) roeite Äreife grunbfä^ttd) fern. Vor allem bie ftreng
fird)lid) ©eftnnten, bie tyetiften, an benen in Stuttgart noeb nie Langel geroefen ift.
Sie berfen ibre 3erftreuungdbcbürftriffe oielfad) audroärtö: ftd) im peimatlitben Äunfttempel
W jeigen, biefe für fie ^rgentid unb bbfeö Sßeifpiel geben unb im gottfeligen Ceben*--
roanbel roaufen. Sbenfo oermißt man unter ben 3"fd)auern bie jablreid)e SBeamtenfdbaft
faß oodftänbig — fei eö aud Langel an Jcit ober an ©elb, ober roeil bie Beteiligung
an berartigen ©enüffen für unoereinbar mit bureaufratifd>er SBürbe gebalten roirb. 3*ben«
faü^ entgebt bamit bem Stuttgarter ^>ublifum ein Slement, bad bureb feine Bilbung
baju berufen roäre, jenee auf eine böbere Stufe ju beben.
3ube(fen ift bad Verbältnid ber Stuttgarter jur Sd)aubübne im Caufe oon
©enerattonen flarfen Sdjroanfungen unterroorfen geroefen unb bie ^Jboftognomie be4
^Publtfumd feinedroegd btefclbe geblieben. Dad roürttcmbcrgifcbe J^oftbeater bat fttb erfl
im 3abre 1780 ju einem ©efd>äft$tbeater umgeroanbelt. babin roar ber (Antritt
frei, bad ^ubltfum beim Canbedberrn ju ©aft. Sin foldjeo Verbättnid fd)lo§ natitrli4f
oon oornberein jebe freie SRetnungdabgabe aud. Qütd) in ben ©lan^eiten ber rein böfifaen
^beaterbaltung unter ^»erjog Stak, ald bie oon Sommeüi geleitete Oper unb bad SRooerre
unterredte ©aflett mit europäifeben 9tufgenoffen unb mit ^ario fonfurrierten, rootlte bad
Söürgertum oon biefen Vergnügungen nid)td rotffen, unb cd beißt, ber £er»og babe
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3lunbfd>au.
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manchmal in 3">'l geilecfte Solbaten tnd Sbeater fommanbteren muffen, um bte SRäume
ju fußen. Äein Sföunber, wenn man erwägt, baß ba* württembergifd)e 93olf eine mit
feinem matericttcn SRuin crfaufte ^racbt oerabfdjeuen mußte unb ftd> bamal* fafl ganj
bem $tctt*mu* in bte Arme geworfen hatte, ber ihm einen bwnmltfdjen Q(u*g(etd> für
irbiftbe Reiben oorjaubertc unb fo über biefe am etnfad)flen hinweghalf.
entlieh oerfanf bie ganje Upptgfeit, einfachere ^tittn famen, unb bie billige
beutfd>e Q3übnenfunfl trat an Stelle ber foftfpieiigen welfdjen. SXan führte Eintritt**
greife ein, unb ba* ^ublifum fonnte fid) ba* SÄcdjt erfaufen, eine eigene SDieinung )u
haben, tiefer 3ett entflammt eine furje (Sbarafteriflif be* Stuttgarter «Publicum* au*
Sdjubart* J^tber: „3m ©runbe ein gutmütige*, nadjjidjtige*, berjige*, leid)t }u frimmenbe*
$ub(ifum. Wlan fdjlägt ben auffetmenben Sdjaufpteler bier nicht gletd)t in einem $agel
»on .Hntif nieber, feine Sd>anbpfeifd)en bemerfen bier bie gebier ber Übereilung: man
ermuntert oielmebr burd) oft ju bod) geflimmte* Cob ben 3^9Kn9 ber ftunfl unb freut
üd) ob jebem aufjuefenben glämmcfjen feine« Talente«. 53on ben fteuergeburten Sbafefpeare*,
Älopflocf*, ©erflenberg*, Scbtüer* an bt* jum Caid) ber 5rofd>c in ben Sümpfen unten
am ^inbud ftnbet man bier (£mpfänglid)fett. SDfid) bünft, bie jwei (Srtreme — ba*
Sragifdjc bi* jum Sd)recflid>en, ba* Äomifcrje bi* jur $offe gefcbwetlt — mürben bier
am meinen roirfen. Dod) ein ^ublifum wie ba* bie|lge, »irb fid> leid)t an Äorrcftbeit
gewobneu, mann erft bie Sßübnc forreft ifl. Derjeit bat unfer <ßubltfum meit mebr »om
Schaufpiel al* bie* »on ibm »u forfcern." Sdmbart bat bie Schwächen feiner Canb*=
leute mit ben benfbar böfliebften ilßenbuugen oerbüflt unb bie Sirenengefänge eine«
Sd>aufpielbireftor* ertönen taffen, ber ba* «Publifum für fid^ gewinnen »id. Denn
•Der?og Äarl hatte ben ebemaligen ©efangenen oom #obenafperg nad) beffen (Srlöfung
im 3°bre 178? jum Genfer feiner Jpofbübne au*erforen.
93ergebl:.b bemübte ftd) Äönig Jrtebrid) oon 2Bürttemberg, bie Söewobner feiner
3leftbeuj für h in Sbeater, ba* er (id) etwa« foften ließ, günfh'g }u ftimmen. 0(1*
rr im Sofeetjavrc Schiller* ben Stoflenanfd>lag ju ber für bamalige QSerbaltniffc
glaujcnben *Jfu*flattung# be* Sffiilbelm Seil genebmigte, fonnte er bie bittere SBemerfung
nicht unterbrüefen, bie Uberfd)(äge unb SBeredjnungen feien befonber* be*ba(b beträchtlich,
weil fie »cbl febmerltd) für ein unbanfbarere* ^ubtifum aii bad oon Stuttgart gemad)t
ojerben fönnen; ba oon biefem nicht* ju crmarten fei, fo muffen biefe 'Xuägaben „blo§
in .•"Hm-fficht be* |)of* unb ber ©elcgcnbcit angemanbt merben".
jWod) lieben ^abrjebnte fpäter waren ^eobor Sebl, bem artifh'fd>cn Dircftor beö
württembergifd)en #oftbeata"S, äbnlid)e Erfahrungen bcfd)ieben. 3« f«>tcm ffierfe „Jünf«
»ebn 3abre Stuttgarter 4?oftbeaterleitung" bat biefer oiel angefeinbete 3,rtc"bant, ber,
rro^ mannigfacher Jeblgriffe, unter ben fdjwierigften Umflänben menigftend ben bbcbfteu
fünfUerifchen ^ieitn nad>gefrrebt bat, wieberbolt mit bem Stuttgarter ^Sublifum fdjarfe
Abrechnung gehalten. ,,3d) habe'', fchreibt er einmal, „tal Stuttgarter publicum )u
erprobw oielfad) ©elegenbeit erhalten. <£i ift ein ^ublifum, ba* ber großen SRaffe
nadj immer außerhalb ber Sad>e fleht, gleichfam oor ber Äunft, nie in ihr. Da* Theater
til unb bleibt ihm Stomöbie. di oergi§t nie, ba§ ihm etwa* ,oorgemad>t wirb', baf
auf ben SÖrettern ade* nur Sdjeiu ijl. SWic wo anber* habe id) erlebt, baß bic Ceute
beim 33erlaffen einer ^Borfleflung oon biefer fo gar nicht fprad)en, wie in Stuttgart. 3«*)
fävitt mit Abficbt oft hinter ben 3ufd)auem ber, wenn fie au* bem #aufc hinau*gingen, um
iu oernehmen, wa* fie äußern mürben. Sben waren SKomeo unb 3"»a geflorben ober
Wc l ea hatte ihre Minbcr ermorbet ober ba* jfätte^e gefegnet ober SWaria Stuart
ihren Äopf auf ben SMocf gelegt — bie i'eutc hatte ba* alle* nid>t im minbeflen er»
griffen. Sie oerloren barüber feiten ein i©ort, fonbern unterhielten ftd), nad)bem ber
■1! erhäng faum gefaQen, über bie 3(u*fid)ten auf ein gute* ober fcr/led)te* SÖeinfahr, über
ben nächflen ©cburt*tag ber $ante Marbel ober bie neue SBobnung be* Detter Gbriflian."
Die Stuttgarter haben eben oon jeher in ber Sdjaubühne nid>t fowohl eine 55ilbung*=
unb Srjiehungeflätte, eine moralifdje 3(n(lalt im Sinne ihre* großen Canb*manne*
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dtunbfcfcui.
Scbiuer erblicft al* oielmebr ein reine* 93elufligung*mittel. 3lod) beute geben viele
mit bem feften 93orfa§ in* Sbeater, ju lachen um jeben $rei*, unb lauem auch im
ernftbaftcn Sdjaufpiel gierig auf ©elegenbeit baju, bie fic in ben geringfügigflen äußeren
93orfommniffen ober jufäfligcn fjenifcben Störungen jtnben. Ob fle baburd) eine er^
greifenbe ©jene um bie beabfid)tigte ffitrfung bringen, fümmert fie nid)t*. Sie haben
eben feine üuft, ftd> rücfbaltlo* an bie bramatifcben Vorgänge binjugeben, unb fobalb fie
bie ©efabr einer feelifchen Umflammerung oerfpüren, ifl ibnen ba* albernfle Söh'ttel gut
genug, um ftd) au* einer ungemütlichen Sage ju befreien.
Seit ber HRitte ber adliger 3abre be* oorigen 3abrbunbert* bat fid) jebed) int
Verhalten be* Stuttgarter Jbeaterpublifumä eine unoerfennbare Ummanblung oolljogen.
SRid)t al* ob auf einmal Ictcbtce Sbeaterblut in ben Ebern ber fd)werfalibrtgen Bd)tc abe n
rollen mürbe, ade 9Ri§flänbe oerfd)wunben mären, übet bie Stuttgarter, oon benen
Sehl nod) ju flagen hatte, bat fle immer außerhalb ber Sadje, gleidjfam oor ber Shinfl
(leben, baben bod) attmäblid) ein gemiffe* Verbältni* |ur Sd)aubübne gemonnen. Ohne
ftrage bangt biefer gortfdjritt bamit jufammen, ba§ ftd) bie SBürttemberger in ben legten
15 3abren mebr unb mebr bewegen liefen, au* ihrer geifKgen 3folierung heraustreten
unb mit ber lange fdjroff abgelehnten moberneu Literatur Jüblung ju fud)en. ®leid>«
jeitig eermod)ten ber ben '.Xnforberungen ber Dleujeit beffer entfpred)enbe $beaterbetrirb
unb bie gefteigerten fünftlerifcben Stiftungen in ber "Ära SBertber* unb nod) mebr in ber
be* beutigen $ntenbanten ^utlii) ba* «Publifum in flärferem 93ta£e anjulocfen unb ben
Sbeaterbefud) ]u beben, unb jmar in einem nidjt blot} burd) ba* äu&ere 2Bad)*tum ber
Stabt bebingtem Verbältni*. (Sin ©rabmeffer bierfür finb bie beutjutage in ber SRegel
au*oerfauften Käufer bei Erflauffubrungen im @egenfa§ jur fafl unglaublichen ßurürfV
baltung unb ©lettbgültigfeit, bie ba* ^ublifum in früheren Reiten gegen berartige Er«
eigniffe be* Sbeaterleben* |u beobachten pflegte. Dabei ift noch folgenber @eftd)t*punft
ju berücffichtigen. 53i* oor furjetn ift in Stuttgart ba* £oftbeater bie einjtge emfrbaft
iu nebmenbe äunftanflalt gemefen, bie nur Variete* unb Sommerbübnen }ur Seite
hatte. #eute fann ftd) bereit* ein (laubige* SRefibenjtbeater neben bem £oftbeater be*
baupten, obgleid) biefe* feinen Betrieb wefentlid) erweitert unb fogar auf }toei kühnen
au*gebebnt bat. Sir haben e* ba mit einer jweifello* nod) im QCufftieg begriffenen
Entwidmung ju tun, jumal ba bie Einmobneriabl Stuttgart* flerig Ȋd)(l unb bie Stabt
ihren 3Bad)tberetd) burd) Eingemetnbungen ju erroeitem befhrebt i(l. Die fleinmütige
3»eifelfud)t berer, bie gegenwärtig ben geplanten SReubau jweter £oftbeater mit ber Be*
grünbung befämpfen, bafj ba* Stuttgarter «Publifum nid)t jmei Sbeater iu füllen im*
flanbe fei, wirb geroi§ burd) bie 9J?ad)t ber $batfad)en miberlegt werben.
STOit ber Befferung be* Sbeaterbefud)* i(l freilid) bie Erwärmung*fäbtgftit be*
«Publifum* nid)t aud) im gleiten SDtofje gediegen. Da* Vorberrfdjen lauwarmer
Temperatur oermag beifall*hungrige Bübnenfünfller nod) heute jur Verjweiflung ju
bringe?» unb bat tatfädjlid) fdjon mehr al* eine tüd)tige Äraft oeranlafjt, ben Stuttgarter
Staub oon ben gü§en ju fd)ütteln. Der berühmte <$elbenbarfletter gerbtnanb (fglair
hatte einfl beim ©aflfpicl fo gut gefallen, ba£ man ihn für ba* ^nflitut ju gewinnen ver
fud)te, wa* aud) nad) langen Bemühungen unter grot}en Opfern gelang. Tiber berfelbe
Äünfller, ber al* ©afl flet* bredjenb oolle Käufer erjielt hatte, fpielte im Engagement
oor leeren hänfen. Sin befannter $heaterfreunb, oon einem 3tegitjeur über biefe auf*
fällige grfdjeinung jur SRebe gefleflt, erflärte : „3a, wifTet Se, mer meine halt, e* mu§
nir 9led)t* mit em fei; fonfl hätt er fid) bei un* net anfledc taffe". Diefe glaubwürbige
Jlncffpte gebort aQerbing* einer aö^Uiq« bi* neun jig jährigen Vergangenheit an: aber e*
ifl nod) gar nid)t fo lange her, bafj ber oon ben erflen Bühnen umworbene Tenorifl
J^einrid) Sontheim ober bie in herb tragifd)en SRotlcn unübertreffliche Heroine Eleonore
Dahlmann oor einem erfd)rec(enb fletneu 3ubbrerfreifc ihre meiflerbafte Slunfl entfalteten.
äud) heutjutage wertet ba* Stuttgarter ^ublifum — im ©egenfat^ jum Cofalpatriotämu*
fowohl füb^ al* norbbeutfeher Stäbte, wie 3Ründ)en, ^ranftirt, Hamburg — btt
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FRttntf'd>ou.
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Ceitfungen ber einbeimifd)en Äünftler eber ju gering, trab reut bie 2Bertfd)ä$ung aue*
wärtiger ©röfcrn jum mtnbeften in autoerfauften Käufern ibren realen 3(u*brucf ftnbet.
Dabei ift gefunbe UrteiWfraft genug oorbanben, ba§ man bie ^Darbietungen frember
ttirtuofen auf ibre wirf liebe fünftlerifd)e SBebeutung lurürffübrt: nur jugegen gewefen
tein tri 11 man um jeben IVcio, um mit gutem ©ewiffen tarn ber mitfpredjen ju rennen.
3n biefem unb manchem antern ^unft ifl ce- freilich nur ein grabuetfer Unter
fchiet, ber ba6 Stuttgarter fublifum com fpublifum im allgemeinen trennt. SRajjgebenb
für ben begriff be$ mobernen ^ublifum* iß ja jener SBunfd), babei ju fein, gefeben ju
»erben, mitjureben, wenn etwa* lo* ijl in ber Dffentlicbfett. Sürben nidjt bie ent»
fWelten triebe ber SReugierbe unb (Sitelfeit würfen, gäbe ed überbaupt fein ^ubltfum
im lanbläuftgen (Sinne. $n ßröfe träte bann ein mürbigercr, ibealerer Äretä ©on
3ufd)auem unb 3"b6rerjt, bie nur bureb eine wahrhaftige innere Seittrabute an öjfeirt»
lid>en SSeranßaltungen itd) ju felcben oereinigen mürben.
Stuttgart. iRubolf Äraufc.
*
2tu0 btm ötift.
2öir erhalten folgente 3uförift : 3"balt be* im ©eptemberbeft 3brer ^eiU
fdjrift erfdn'enenen 3(uffa$e* oon «Rubolf Ärau§ ,Sa* Tübinger ©tift unb bie ffiürttem*
bergifebe Jtultur« interefftrte mid) al* alten (Stiftler febr, unb mit bem größten 2eü
te* ^nbaltä b'n »4> infolge eigener Srfabrung eüteerftanben. T>a fiel mir ein, ba§ unter
meinen alten papieren jld) ein Oetidjt über ba* <£>tift ron einem früberen ©tiftler be»
ftnbet. 3<b fudjte e$ auf, unb erlaube mir 3bnen nacbfolgenb eine 3(bfd)rift teefelben
jum ©ebraud) für 3&re SRonatäbefte jujufdjicfen. <£& fmb barin jebenfaflä bie
Srnpfinbimgen unb ©efüble eine« ©tiftler* mäbrenb feiner ©tiftälaufbabn wahrheitsgetreu
unb furi gefd)übert. (Sin alter ©tiftler.
3a* Sßürttembcrger ©tift ju Bübingen 1859/60.
iß ermaß ein QdigufKner fflofler, ©ewöbnen fid) an Cift unb Stögen;
©eweibt ju 9J?efj unb $aternetfer, Sin Sreibbau* für bie grogen ©eifter,
vSobann burd) £erjeg Gbriftopb* ©ort gunbgrube für Sriiebungdmeitfer,
©ewanbelt um in einen Ort,
darinnen boffnungtoolle Stnaben
Untfonft Äoft unb (Srjiebung bähen,
Unb oon ber fflelt ganj abgefperrt,
Verfolgt eon bed ©amofle^ S>d)wert,
3n ibren flöflerlid)en 3cütn
©td) ibre ^ugenbjeit oergäÜen,
Unb bem ©tfefce ju genügen
Sa cßbilcfepb nnb $ietift
Sieb fd)on ald fünffger ©egner grü§t;
Sin £aud, in meinem Seiöbeit unb
SJorniertbeit in feltfamem ©unb:
93or anbren $TJ?enfd)en in jebem ©türf
(Sin halb 3°brbunbert noch iurüdf:
X>en Sltem fü§, — ben Äinbem ®iftx —
Dad ift ber »Bürttemberger (Stift.
H. H."
Bd^ulfragen.
Sin SWitorbeiter wirb burd) 9?aumann* »engen Beitrag angeregt, und um Oft»»
brurf be* folgenben (Sitated ju erfueben:
„Unfa iöürgerfrieg wirb nur giftiger, roenn man ibn burd) bie ald ©djuljmang
oufrretenbe ©emalt erftitfen miU; er ifl ein fiampf ber ©eifter, unb auf geifh'gem
©ebiete, burd) bie gamilie unb bie tfirdje, mu§ er aufgetragen werben . . . 3d) bitte
,u erwägen, ba§ mit einem Srjiebungdiwange ber preugifebe Otaat fld) nur bem ©rabe
nad; wm Jfirdjenflaate unterfdjeiben würbe, weiter ben 3ubenfnabcn SKortara wiber
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174
JKunfrfdjau.
ben Sitten oon beffen (Jltern taufen lief}, nur Dem ©rate nad) oon Dem 3lu#laiit,
welche* bie oon fdjurfifcben <ßopen en passant gecbrofamten Stnaben unb 9Rätd)rn
balttfcber Cutberaner gried)tfd)*fatbelifd) ju bleiben jwang. $n allen tiefen gäflen hängt
ba* 3beal an ber ©abelfeppel ber «Polijetbiener: unb an fcer fofl unb fann e$ btxh
ganj gewifc nidjt bangen."
vJJaul tc tfagarbe, Seutfdje Schriften, (Böttingen bei
eüber £orfhnann, 1903, Seite 172 unb 173.
*
©o$wlftnan3teüe Äunbfd)au.
3n bemfelben Sugcnblüf, wo für 500 3Jttflionen SDtorf neue Stoffen an ben
bcutfdjen 2ttarft fommen, würbe aud) oon bem Siebereintritt Sitted inS SRinifterium
gefprodjen. Cbgleid) nun ber (Benannte bort bie einjige oertrauenerwetfente ^erfcnlid)*
feit ift, welche für bie eurepäifdje #od)ftnanj jugleid) eine Q(rt Autorität oorftettt, fo
brauste fcaS (Bcrüd)t feiner Berufung burdjauS nod) feine blofce Cocffpeifc ;u fetn.
SrtfenS fäme c$ bei neuen 3arenwerten nid)t auf bie gaebmeinung unferer Sanfter*
an, bie gegen fed)S ober fdjon oier ^rojent 3wifd)engewinn überhaupt auf eine eigene
3J?einung oerjidjten. 93ielmebr fpefuliert man in Petersburg wobl mit SHedjt auf bie fon*
feroatioen 3nfd)auungen unferer Äapitaliflcn felbft, bie in ruffifd>en gonbS gute Staate»
papiere aud; wäbrenb cineS ÄricgeS erbtiefen, nur weil baS gleiche in ben früheren
grtebenSjabren ber gafl war. gerncr fönnte #err Sitte wirtlich als ber notwendige
iÜtaun oon feinem £errfd)er erfannt werben fein, ber ibn f. 3l- turd)auS nidjt fatten
lief, wegen feiner (Energie aud; gegen afle grofjfürftlicben unb prinjltcben 9iebenintercffen,
fonbem wegen beS geifh'gen DrucfeS, ber oon ihm ausging unb bem aud) ber fhde,
fd;üd)teme 3ar unterlag. Senn SitteS $anblungen rannten niemals befonbere 9tiuf»
fid)ten ! (£r batte oor ^abren ber ^Berliner SÖörfe baS grefjc Spiel in ruffifd)en Dioten
burdj ©ielbefhrittene, aber fd)ltefjltd> erfolgreiche SRafjnabmen weggenommen. 3m Snnem
bob er u. X burd) StaatSmonepol ben freien Ö3ranntweinfd)anf unb bamit eine furdjterlicbe
Ausbeutung auf. Unb in ber auswärtigen politif bat er offen bie erpanftonSgcüifte
bejüglid) ber 2Ranbfd)urei befämpft. Einerlei, ob Sitte erfl 3Rinifter beS Innern, ober
waS wirtfebaftlid) wiebtiger, fogleid) gtnanjminifter werben fott, — fo würbe fein Sieber-
eintritt jedenfalls bie fd)ärfflc Söebrobung ber gegenwärtigen Korruption bilben. DieS,
tro^bem biefelbe bis in bie bödmen ftreife bineinragt unb einen 3uftan& gefdjaffen bat .
wie ibn felbfl dtafjlanb feit oielen (Benerationen nicht gefannt. 30ein wer treu- -
93ietteid>t ift ber £erfuleS nid)t fo ftarf, ali ber Otugiadflatt je^t grof ift!
*
mt bem gaüe bed „|>elio*" in Äöln ift bie ©efd)id)te eine* glcftrijitättunter^
uebmenS ju ^nbe gegangen, cbenfo intereffant, ald wcd)felooQ, atö traurig. Unb wer
bie ungleich größeren Stuben in biefer SBrancbc, a(ö in ben meiflen anbern 3nbuftricn
fennen lernen will, ber (äffe fid> über bie ®efd)id)te be$ „^eliod" aufflären. 9Rit ibm
war nic^t nur ftet* eine umfaffenbe tc*nifcfjc Arbeit oerbunben, tro^ ber oieljäbrigen
Anlehnung an ®anj in tßubapeft, fonbern aud) raftlofe« QSerbanbeln mit ©täbten,
©täbtdjen unb Regierungen. Denn oor ädern in ben 90er 3obren, ba nod) gref?»
ftäbtifd)c 3entra'en bei nötig waren, würben bie Herren Sleftrifer in ber
SBeeinfluffung oon SHagiftraten, ©tabtoerorbneten, unb beren Parteien ju wabrbajten
Diplomaten. KU ber ^>eliod bann in ^anffurt »ugunften einer jungen ©cbwei|er
girma ißrown ©ooeri, abfiel, waren feine befteu Hoffnungen, für bie er SKiaionen in
mafd)ineOen 93erfud)en ausgegeben batte, gefd)eitert. grft fpäter erbolte er fid) am SWorb-
Cftfeefanal, woju ebenfalls eine fetjr gefd)tcfte unb raftlofe UnterbanblungSfunft geborte.
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Dlunbfchau.
175
iäüxtt ber Jpflie* bann fein alte« ©leühftromfnftcm enblid) aufgegeben haben, anftatt
in ©ad)cn bei Srebftrome* jwar nid)« }u tun, aber anbererfett* burd) «PatcntprojefFe
räl }u bmbern, fo wäre feine ^Drtentroirflung »ieHeid)t nod) gelungen. ©o aber warf
fid) bie nur im kleinen grefjc Leitung, auf eleftrifcbe Xnlagen in Orten, beren geringe
^mwobnerjabl oon oornberein nur Unrentabilität oerfprad). Sie ^rofpefte bamalä auf
£eilo«ebligarionen jäblten alä Unterlagen red)t minimale 'piä^e befonberö im Cften auf,
beren beigefügte Saren ganj irrelevant waren, ©o u. a. ftonn), wo fogar ber Vertreter
unb Ingenieur jener Kölner ©efellfchaft, einer ber £auptbe$er gewefen ift. SRerfwürbiger*
weife battc aber fclbft bie forgfältigftc öffentliche Stritif ben jweifelbaften 2Bert felcber
3entra(en bei ben $rofpeftbefpred)ungeu auger acht gelaffen. ©d)lie§lid) oerftieg fid)
ber 4>elto$ ju ben aflerteuerften (Sngagementd — bei Söauratee" ©tübben in Köln, bei
SireftorÄ ber Kölner Jiliale ber tXflgemetnen Slerrrijitätdgefcllfchaft ufw., ohne fid)
bamit irgenbwie aufjubelfen. Xid) gingen bie Unterbietungen in fd)©n an fid) fd)led)ten
3etten, bi* weit unter bie ©elbftfoften. ©o j. SB. unterbot £elio* einft bie biaigfte
Offerte ber „X G. ® * nadjträglid) nod) um 10 % Sie* ©eranlagte inbeffen bie
Th'rma £enl in ©ormd, nod) feinedmege' aud) barauf einjugeben. ©efaQen ift ber
„£elio*", rro$ all feiner ©ielen Arbeit, unb tro$ ber bewunberungäwürbigen Slaftijitat
feiner alten ©elbgeber, »eil er bei feiner ®cfd)dft$metbobe eine mirflich bebeutenbe Xi«
tebnung an ©iemenö & #al§fe, ober bie X (£. ©. nid)t erreid)en fonnte, üteQeidjt aud)
eigenfinnigerweifc gar nicht wollte. Kummer in Sredben fiel f. 3t. über fein ju ftarfe*
2Radjtbewuttfetn unb fowie über bie 93erbätfd)elung burd) ben facbfifchen fiiitui, ber
tbm fchlicplich bod) nicht t)clfrn fonnte. Sie man aber aud ber ®cfd)id)te bei „#eliofl"
liebt, finb aud) nod) anbere Urfad)en für ben 3ufanunenbrud) eines (Jleftrijitätäunter*
nebmene möglid). Siedmal werben ei bie entladenen Arbeiter leid)ter haben, alä bie
Beamten, benn augenblicflid) gebt ba$ eleftrifche ®efd)äft febr gut, bei freilief? febr
gebrüeften greifen.
* *
*
Sie neuefte ©tatiftif unferer ©parfaffen jeigt für eine SHet'be oon 3abren eine
ungeheuere >nabme ber ©pareinlagen. ©anj fo fid)er ift ei babei feinedmege, baß"
biei »or allem bie SRünbelgelber ju Sege gebrad)t bättett, benen in früheren Reiten
tie ©parfaffen nid)t fo offen geftanben, wie jefct. $n 5öirflid)feü umfaßt bod) biefe 3u»
nähme aud) 3abre inbuftnellen Xiffchmungeä, wo jabllofe Beamte unb befferc Arbeiter
grefere (Jrfparniffe machen rennten unb wo bie ^rinjipale fo bod) ind 93erbienen fameu,
bafj fie ei fd)on ber SRepräfentation halber für gut befanben, ihre Lebenshaltung »u
fteigern. £ierau£ erwud)fen bann oielen Heineren £änb(em erweiterte Äunbfa^afte»
gebiete, welche |>dnbler eben nur ©parfafTenanlagen rennen. 3nbeffen ber eigentliche
Arbeiter, bem man mit 3led)t ober Unred)t 9Wangcl an Neigung vorwirft, fid) etwa*
iururfiulegen, fann aud) beute nod) nid)t viel oon feinem ?obn abfparen, wenn er
Aämüieuoater ift. Uber biefen ^5unft finb felbft bie ^abrifbireftoren, fobalb fie nur
ein bipdien woblwodeub benfen, fo jiemlid) einig. Sa man aber aud) (frfparungeu
foUbe Kapitalien nennen barf, welche in ffiertpapieren, Jpnpotbefen ufw. angelegt werben,
fo mu$ bier betont werben, ba& bie Uut\<he «Ration, refpeftioc beren SBejifcenben feit
wenigen 3«bren |u au§erorbentlid) ftarfen SRücflagen gefommen ift. Sa* »erbauten
wir lebiglid) unferer mbuftrieHen (fntwtcflung wäbrenb j.Sß. ba* reid)e granfreid) (fiebt
man oon feiner ffleinprobuftion ab) QfrfpamtfTe nur an feinen nid)t oerbraud)ten 3mf™
gegnwjärtig mad)t. ©eine gabrifation ift aber jurücfgeblieben.
ffliber atted Erwarten hoben ft* ©d)iffabrt*gefeafd)aften nicht geeinigt,
wenigftenö foweit bie Tarife für bad ÜRittelmeer in grage fommen. ©erabe bad
2Rittdmeer aber bürfte fdjon beute für bie £amburg«Xnertta*einie fowie ben D?orb»
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176 SRunbfdjau.
bcutfdjen Cloob ju ben au»fid)t*0Dllften Gebieten geboren. t)er ganje Sruft, »ic <bn
bamalt* tie Deutfcben mit $errn SWorgan eingingen, bebeutete überhaupt utcf)td weniger
ald eine Unterwerfung unter eine frembe ffapttal$mad)t, trojjbem bieä aflfeitd gefliffent*
lid) oerbreitet »orten ift. SRur ba§ bte ©eneralbireftoren in Hamburg unb Bremen
ntemale }u richtigen ©ertragen mit ben Snglänbern fommen fonnten, »eil ber le$terett
^nbtoibualtemuö' enttoeber feine Abmachungen ober aud) feine &urd)fübrung ber)elben
ermöglidjte. $ro$bem batten Unpartetifcbe e* gleicb anfangs für bebenflieb gepalten,
mit einem ber ffrupellofeften unb prooiftonelufh'gften Kmerifaner jufommen ju geben.
©elegentlid) ber enblicb beoorftebenben Äanaloorlage fei bier an ba* ©cbicffal
oe* SWofelfanaW erinnert, ber feit Dejcnnien nidjt leben unb niebt fterben fann. ©er
ftd) anfange ber 90er 3«bre nod) bco berübmten aRofclparlament* erinnert, bae tit
Regierung nacb Noblen} einberufen batte, ber wei§ aud) wie energtfd) tarn als bae ganje
praftifd)e SRbeinlanb»2Beftfalcn in feinen tßertretern für jene* Sprojeft eingetreten war.
SWur bie ©aarbütten, bie naffauifdjen Srjbergwerfe unb bie jtefalifd)en ftoblengruben an ber
©aar ftanben ale ^ntereffengegner auf. ©eit biefer langen 3eit finb bie (Sifenwerfe unferer
mbuftriedflen ^rooinjen nod) immer geimungen ibre Srje, b. i. ibr ©rot — oom Qtuelanbe
via Stotterbam unb 'Antwerpen ju bejieben, ba bie 'OTefellanbfcbaft für ibre SRinerale nur
bie teurere (fifenbabnbeforberung baten fann. Qfabererfeitg entbebrt aud) fotbringen bann
bie billigere SHubrfoble mit ihrer befferen Qualität, ald bie ber ©aarfoble. 3er Ji&fu*
frnlict) wünfd)t eine foldje Äonfurrenj ftcf> nod) lange fernjubalten !
granffurt a. 9Ä. ©. o. Salle.
fflt ben fojüupolirtfa>en Xeil: griebrieb Naumann lu «diöneberg; für ben übrigen
l;aul Witolauft (Soffmann in Wütigen.
Waäjbrutf bet einjelnen »eiträge nat ou»jng»n>eife unb mit genauer Oueüeitangabe gemattet.
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_
THE NEW YORK
PUBLIC LIBRARY
ASTOft, LtMQX
GrjäMung oon ffiilpelm gifd>er in @raj.
10.
ÜJitt bem Radien ging'Ä aber bod) nid)t in einer 3*it, wo ber fanget
beftanbiger &aü im #aufe war. brautet rcugte fid) faum mehr j» tjelfen.
Baä 3mingergartlein lieferte, wa$ an £ol)lfrdutern bie braune (Srbe trug;
allein fcae war nidjt viel, unb anbere* gab eö ntcfjt. Ohr Erwerb an Sftabel*
arbeit warb ihr auch gefchm alert, fo baß fTe bamit ntdjt jurecfjt fommen
fonnte. (fo war bte$ ein 21uÄlaufer bed ®ero irrer d, baö Jßeinjlin traf. 3ljr
warb angfl babei unb ffe fürchtete, eine* Sage* mit aflen J&tlfömitteln ju
fcnbe ju fein unb itjrem S3ater $u fagen: id) fann nid)t weiter. Die* fdieute
fte, weil (Te bamit ba* Vertrauen in irjre Äraft »erloren fjdtte, ba$ ir>r flet*
t>od) galt unb ffe in a0er STOißlidjfeit aufregt erhielt.
J&einjlin war nun fleißig im SWüßiggange, aber freubig ntdjt. 3fm
meinen entbehrre er bie abenblidje Steife in bie entfernte 5Öirrö|lube unb
bir Erhebung über fein traurige* ©diicffal, bie er am fraftigflen Ijinter
einem ®lafe Haren $Öeine* gewann. Sftun lag er auf bem burftigen fcoben
be* 2(Qtag*, unb bie Schwingen fehlten ihm, fld) Darüber ju ergeben unb
fldi al* hellerer Wann ju fühlen, al* er ben anbern fdjien. Da* Äleinob
Vetner ©ruft: ber ©tolj, begann $u rofren unter ber (Srinmirfung ber miß*
mutigen ©ebanfen, bie immer mehr beffen ©lanj trübten.
93or wem foQte er jrd) nun in feiner traurigen Erhabenheit jeigen,
mit ber tt>n ba* ©djitffal wie mit einem jerfefcten Äönigämantel befleibet
tjatte! <är ging mißmutig au& unb feljrte oerbrießlid) Ijeim. Cr würbe wort*
farg, wie e* fonjr feine 2trt nid)t war, unb madjte burd) biefe SBerdnberung
feiner Sodjter neue ©orgen. dt jtng an bie 5Borte ju jaulen, al* waren e*
©elbmunjen, unb mad)te barüber, baß er feine* ju »iel »erauägabte. braute!
fegte ihren gangen $leiß baran um feine buflere Stimmung $u erhellen; aber
ffe fam bamit nicht juwege. EWußrc fte bod) nod) barauf achten, baß ihr felber
ntdjt ba* jur hellen Stimmung ausging unb (7e beibe in in (lernte faßen!
Umfomehr mußte fte fcd> munbern, alö er einmal fpat heimfam, mit
(eichten Schritten auftrat, nid)t fdjwerfallig unb »erbroffen wie in ber legten
ÄÜbbeutf^e ÄonatSljcfrr. 11,3 12
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178
ffiübelm gtfd)er: $ani ^cinjlm.
3eit, unb fogar ein Vicfc »or ftd) bintrdUerte. er fagte ihr beim Scheine
be* ange}ünbeten £dmpd)en*: „©ruß ©Ott, Srautel!" unb fte bemerfte, baß
mit latentem SÄunbe cjcfdiah.
„3a, wa* ifl bir, 93ater?" fragte fte erftaunt.
„SWir ift nidjt* 2(rge* gefd)el)en, Srautel. 2BiUfl etwa, baß id>
flennen fott?"
„««ein, beileibe!"
„9*a, fteljft e*. Da tue id) t>alt ein biffel bie Seit anlagen, ©ift
ja ntcr>t metjr wert, fag* id) it>r, al* baß id) über bid) lad)1. SReinft, einer
wie id), laßt fTcf> frei unterfriegen? ©efeb.lt! 3d> ftel)' nod> meinen 9Äann,
unb wenn'* Steine vom Gimmel regnen tat. (Sin guter 3Rut, bat ift ba*
belle! *faß bie gcinb1 fommen! Sin ganje* J&eer »on klagen unb ©orgen
unb SÄüljen! ©egen mid) fommen fte mein auf. 3d) trag* ben tfopf noch
r)6Jjcr unb fag*: id) will frei fein. €in freier 9Rann ift ein ftarfer «Wann.
Da* bin id)."
Unb er reefte ftd) fo l)od) auf, al* er fonnte unb Iad)te ftegljaft, al*
Ijatte er e* nie anber* getan.
„3a, wo warft benn eigentlid), äJater? erjdl)P mir," bat fte. 3t>r
fdjwante, baß er feinen wieber gewonnenen $Bortreid)tum nur au« einem
Duett gefd)6pft l)abe, bal)in ihm aber ber 3Beg in ber jüngften 3«t »erfperrt
gewefen war.
„91a, brunten in 2lid)felb bin id) ein bifiel in ber 3Birt*ftube gefefen.
G* ift fd)on fang t)er, baß id) »licrjt bort gewefen bin, unb ba benf id) mir:
mußt halt ben ffiirt wieber einmal f)eimfud)en. wirb ihm paffen,
wenn er wieber einmal einen belferen Qttenfdjcn unter feinen ©dften ficht.
»§a! ha! — 3a, ein* muß wa* von ffd> halten, Srautel, unb nid)t warten,
bi* ce» bie anbern tun. Da fenntft lang warten. 3eber fangt bei ftch
felber an, wenn er einen ©efd)eiten fud)t. Dem 9?ad)bar fann er nicht
burd)* $enfter hinein f chatten; aber in feinem 6tübel ift er baheim, unb
ba fennt er nid)« belfere«, al* wa* er felber ift. 6o ift bie ganje 9Belt
gefdjeit eingerichtet. fcra»! brao!"
Unb er fd)nippte mit ben Ringern.
„3a, SBater, unb wenn mir eine $rag' erlaubt ift: baft bu bei bem
SBirt geborgt?"
r»3d), beim SBirt! 5Ba* fÄttt bir ein, Srautel? 3d) Ijab* immer auf
mid) gefd)aut, baß id) in bie 3Birt*ftube wie ein £err hinein unb aud>
wieber al* ein foldjer hin am? gegangen bin."
„2(ber gefeffen bift ja auch barin?"
„Jrrilidj, freilid)."
„Unb ber ÜBetn war gut?"
„3d) trinr feinen fd)led)ten SBein. (Jin Unterfteirer war'* au* ber
Sutten berger ©egenb, flar wie ©olb unb ebel wie ein ftürftenfinb."
„Da« freut mid), SBater. Da l)aft ja für beine Arbeit wieber ©elb
gefriegt — ?"
„9Ba* fagft, braute!? SRein, ba* nid)t. 2lbcr gut aufgelegt bin id)
worben. <£* war ein feine* fül)le* Wtel, wa* oon ber STOur Ijergeftricfjen
bat, wie id) Ijeimwart* gegangen bin unb ben ©ternlein oben $ugefd)aut
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bab\ wie f<e üd) fd)6n langfam jum SRadjtbienfi l)ergerid)tet Ijaben. Die
(Srbenbeimat ur mir wieber f lein jutraulid) geworben, wie id) bie fielen
¥id)tl oben an ber blauen Decfe brennen gefetjen \)ab\ 3uweilen ifT$ mi
fo, aU wenn wir bei einem größeren #errn, alö wir ftnb, ju ®a|t gelaben
wären. Unb ba$ gehört jum Sdjönften im ?eben, wenn bie @afi(id)ter an;
grfteeft ftnb, oben flimmern, unten ber ^ußboben mit ®run beftreut tu, unb
ba$ £erj im ¥eib fid) bebnt unb faßt: beut ift't Feiertag!"
„Unb wenn id) fragen barf, üßater, wot)er t^afl bu bann — "
„£) je, je$t patft mid) ber Sd)laf," fagte er, inbem er feinen 3anfer
über bie Stuljlleljne legte; „wirb ein guter fein. 3d) tjab' bie 3eit ber
idhitdit gefdjlafen. <£* bat mir wa* gefehlt: ba* rul)ige ©einut. 3d) bin
mit mir unein* gewefen. Die eine £anb l)at fid) in 3orn geballt, unb bie
anbere ftat't trjr mit friebfertig auägefpreijten Ringern »ermiefen. Unb im
SBroftfammerl ba war'* finfter. Da* ?id)t, ba* »on oben fommt, — »om
Stopf b« al* Serftanb mein1 id) — bat ffd) baruuer gewunbert, unb bafö
botf) nidjt beller machen fönnen. — 2(ber bu millft ja wa* fragen, 5rautel,
nidjt? ftreilid). 9ia, fo reb. — 2Tber Ijörft, e* ifl beffer, wir taflen'* für
beut. $Rir falten bie klugen $u. Unb bu aud), Srautel, geh' fd)lafen. #afi
bid) el)' wieber geplagt. Unb — " er gafynte einigemale laut — „ba*
(SJamejen! — beljut bid) ®ott, Äinb! — ®ute 9?ad)t!"
Sie mußte fid) bie ftrage auf morgen aufgeben, unb ba tfellte ilc ffcf>
wie von felber ein; benn J^einjlin gab it)r ®elb jur 2Birtfd)aft, wa* bie**
mal ein fo feltfame* (Sreigni* war, baß ihr Staunen oljne weitere* ©e*
beuten fid) in bie ©orte fleibete: wotjer ibm biefe (*innaf)me jugefloffen fei?
<&r Ijielt aud) mit ber Antwort nidjt guruef; aber er ging im ©emadje l)in
unb tyer unb wenbete ba* ®eftd)t ba 1b ber $od)ter ju, balb fel)rte er e*
wieber oon i!>r ab, al* er berid)tete:
„<Sofl(l e* wiffen. ©eftern abenb* bin id) bem grntfrtrb in ber 'Xu
begegnet. 9?a, unb weil ber gerab' eine gute gRadjridjt »on feiner Butter
aefriegt bar, bie franf war unb wieber gefuitb geworben iß, fo bar er mid)
eingeladen, mit ibm einen ®enefung*wein ju trinfen. 3d) tyab'ö ihm nid)t
abfcblagen mögen, weil er ffd) gar hcrjlidi bie vfhr* erbeten bat. tEßenn'ö
a,ilt, eine Butter ju feiern, laß' id) mid) fd)on immer baju bereitfinben.
-öab' aud) eine gehabt, bie fcd> ba* Jßimmelreid) auf (frben oerbient hat."
5r bliefte in bie %€tnt, unb ful)r bann fort.
„3d) geb' l)alt mit bem Veutfrieb, unb ber tfuttenberger war ein ridjtiger
®enefung*wein. SÖabreub wir flfcen, fragt er ba* unb jene*, unb id) ant*
wort' il)m. Od) W ja nidjt* ju »erbeimlidjen, unb meine ©ad)' mit ber
Dorfgemeinbe unb Ijinterber mit bem Är&mer erfÄljrt er aud) unb gibt mir
redjt, baß id) mid) nid)t laß* jwingen, ben >Pro$en untertdnig ju fein. 2)a^
iit ein Streifen, wad 3l)r wiber ffc anhebt, ^»cinilin, fagt er, unb ba* muß
man auäljalten fonnen. Da t>at er mir feine «£ilp in einem Darlehen an-
geboten, ^bm gefd)et)' ce leid)t; er ift oermöglidjer ^eutc Äinb, unb feine
%rau SKutter lAßfd nie an einem 3ufd)uß ju feinem ©ehalte fehlen, —
unb id) hab'o angenommen. $Berb'6 ibm fd)on wieber biö auf ben geller
a blatten. Vlber jcijt i|V* ein ^orfpann, ben jeber ^ubrmann braud)t, wenn
er iicrfcn bleibt, unb jwar von wegen bed fdjled)ten ffiettfrt, ba$ niebt er
12»
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SBilpclm fttfdjcr : §ani £einjlin.
felber gemalt tfat, fonbem ein anberer, ber1* »om Gimmel gefchicft t)at.
3efct weift e*, Srautel."
Unb er ging nachbenfltd) in ber (Stube hin unb wieber unb fah mein,
wie it)r Bntltfc ftcf> bei biefem Berichte umwälft hatte.
„93om SBirt magft bu nid)t borgen; ift aud) recht, Safer. Unb »on
«entfrteb bod) — ?"
„Da* ift wa* anbere*. X)a* ift ein ©tubterter; ift meinesgleichen,
©er Söirt aber, ber bebient mich; gegen ben bin ich ein «£err. Unb al*
fo(d)er barf ich mid) nicht niebrig (teilen unb feinen guten 3Btllen anrufen.
Jßab'6 ja beim Sentfrieb auch nicht getan, bewahr'! er bat fleh'* al* eine
greunbfehaft erbeten, unb id) t>ab' auch feinen ©runb ihm feinb ju fein.
SBüßt' nicht, woher!"
„SSater", fagte ffe jefet cntfdjl offen; „ich mujj fchon mit bir ein ernft*
hafte* ffiort reben."
dt blieb flehen unb fah fie erftaunt an:
„<ffia* lad?«
„9licht* gute*, unb bu auch nicht. 2fber wenn ein* fchon auf bie
£ilp anberer angewiefen ift, fo ifl'* beffer, er geht »or bie $ür, wo einer
brin wohnt, ber ihn genau fennt, al* »or eine frembe. Unb wenn bu auch
nicht* baoon miffen wißft, ift ber nachfte boch ber ©roßoater. $ßenn bu
im Unfrieben »on ihm gegangen bift, al* bu bie SRutter feiig heimgeführt
baft, unb bie gangen Jahr1 her ihr euch beibe nicht mehr gefannt habt, fo
mar' jefct ein gute* ©ort »on bir ftatthaft unb fönnt' un* helfen."
Jßeinglin erftarrte einen Bugenblicf fang unb fing bann an $u gittern,
©ein SWunb ftanb offen, unb er fonnte bie Siebe nicht finben. Dabei waren
feine Bugen beiß geworben, baß er wie in einen flimmernben Sflebel fah-
<pid$lich fchrie er:
„brautet! 3d)! 3ch! #an* «Oetnjlin ju bem STOann, *er 2(loi* Gronauer
heigt? 3ch! lieber fpring' ich gleich au* bem genfter in* 3enfeit*. 2öie
oft hat mir beine ©roßmutter ihre gute <$i(f angeboten, unb ich hab'* ab«
gewiefen, weif fie mit bem SDtann unter einem Dache häuft! — 3d) $u bem,
ber meinem 2Öetb, feiner Tochter, gefagt hat: ©eh nur mit bem üBeifcer ba!
Du wirft fchon al* Bettlerin gurueffommen; aber meine Ziu mint bu bann
»erfcbloffen finben. — 3cb ju J^errn 2lloi* Gronauer im Jobergraben mit
einer SMtt' fommen! ©otr* Donner erfcblag mich! — 3cb bitf fchon, «£err
»on Gronauer, bie Tochter ift tot, aber ber Schmiegerfobn lebt noch, unb
ich tat' ifait eine «eine Untertfttfcung brauchen für mich unb mein tfinb,
bie Srautel. ©ott* fclt$ foll mich treffen! — 3d> foUt1 »or bem Gronauer
friechen wie ein £unb, ber »teber in ©naben will aufgenommen werben!
Da müßt' ich ja meine Butter noch im ©rabe anflogen, baß fie mich
geboren hat . . . 2tber fo geht'*. 3Ba* muß ein* nicht burebmacben, bevor
er alle* im Seben au*gefoftet bat unb al* ein Satter in* ©rab fie igen fann!
Unb fo muß ich ba* auch noch »on bir, braute!, erleben, baß bu mir folchen
9tat gibfl. 3a, fennfl mich benn nicht? 3ch bin ja boch bein SBater, unb
ba mußt etwa* »on mir in bir tragen. Unb fieüft bich fo fremb ju mir.
3fu weh! Da* tut mir fehl echt; ba* febmerjt mich."
Sr fuhr ftd) mit bem $afd)entud) über bie 2fugen.
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Ußa* tonnte ftc je$t anberee" tun, aU ifjn befd)wid)tigen unb il)m jureben,
bag er e* mdit l)arm»oU neljmen möge, maä ffe in befter Meinung gefagt
habe, renn er war vor ihr aufgebrauft mir ein wilbeä 9Berter unb wieber
fanft geworben, wie wenn bem ©türme linber SXegen folgt, ©ie war gerührt
unb »erfprad) it)m auf feine, wie er »orgab, einjige fcitte, niemals wieber
auf biefe ©adje jurucfjufommen.
11.
brautet war aber nicht gewiUt, bie Angelegenheit, wie fie jefct ftanb,
auf ffcf> berufen ju (äffen. <2ie fonnte e* nicht über fid) bringen, mit
2entfrieb$ ©e(be bie «ffiirtfdjaft $u führen unb baö Jßaudwefen ju fpeifen.
(Sin tiefet (Schamgefühl erhob fid) in ihr cagegen, ald flelje fie in ihrer
Dürftigfeit »or ihm entbldflt ba, wenn fie folcheö juliefle. Unb fie fanb ein
SBittel, bem ohne JBerjug abjubeffen; frei(id) aber aud) eine*, ju bem fie
mit (eibooller Smpfinbung griff.
2(($ einjige unb (efcte tfofibarfeit aud bem Sftachtaffe ihrer Butter
bewahrte f?e ein golbeneä #a(dfett(ein, baä ein »enejiamfd)er STOctftrr fünft*
»oll gewirft fjatte, unb »on bem fie »ermeinte, ffd) nie trennen ju rennen.
T>ai trug fie ju ber tframerin l)inab, um ed »on it>r in ber ©tabt »erdufjrrn
gu (äffen, erlieft einen ausreichenden Betrag al* Sorfdjufl unb überbrachte
biefen ihrem Sater. Damit f6nnten fie eine $Bei(e Raufen, fagte fie, unb
behalf fid) mit einer 2(u$flud)t, inbem fie baö ®elb al* einen Notpfennig
bezeichnete, ben fie fid) burd) if)re 9?abe(arbeit erfpart unb injwifd)en bei
ber Äramerin Ijabe liegen (äffen.
Sonach hatte J£>ein$(in nid)tä bagegen, baä empfangene Xarleben an
Ventfrieb jurücf$ujleUen, ber e$ unjufrieben empfing, ale" ahnte er weit eher
a(6 Srautelä Sater, wie eö fid) bamit »erlieft.
J&eing(in nahm fid) bie ©ad)e bod) etwa* ju Jßergen. (£r foUte jc&t
mit Srautefö ©parpfennig ftatt(id) bie 5Birt$ftube betreten unb fid) einen
befferen STOann bünfen, a(d alle Bnberen, bie bort hinter ben ©(afern
faßen. 1>ai war fein glatter ©eoanfe, fonbern »ielmehr einer, ber einen
knoten (jatte. Um biefen ju (6fen unb fid) nid)t »on feiner $od)ter
im innerflen £er$en ju fd)Ämen, entfd)(ofJ er ffd) feinen <5tolj, wie ein
fl6rrifd)ed 9tof}, ba()eim ju (äffen unb ben Äramer befdjeiben ju %ü$ aufju*
fud)en, um if)m fein Anliegen »orjubringen. dt tyatte mit fef)r jarter Arbeit
flemc &rujiftre gefchnifct, bie an ben SXofenfranj tu fügen waren, unb brachte
fie in;t bem Krämer mit bem auögeflügelten Änfudjen, fie außerhalb beö
Z>orfed in »erdugern, ba er innerhalb beäfelben nod) mit bem Spanne bed
Dorfoberfien behaftet war.
Der Äramer betrachtete bie Schnifcarbeit mit ÜBoljlgefallen, fragte fid)
aber bod) bebenf(id) hinter bem ©Ijre, ba ihm bie fdjarfgeiftige Unterfd)eibung
jwifdjen bem Banne innerhalb unb außerhalb be* Dorfe* gerabe ba« Ser*
ftÄnbni* für beren SBatjrljeit benahm. Snbem er nod) inner(id) arbeitete,
um fid) ein neue* 2id)t aufguflecfen, bei beffen <5d)ein er J^einj(in6 merf«
würbige fceljauptung betrachten fonnte, fam il)m unerwartete £ilfe, bie iljn
jeber Betrachtung entfjob.
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182
Sitflbeu» $if<ber: §cmi £einilin.
Grö fam fein 5Beib, bie ßramerin unb niebt mit freunblicbem (Mejlchre .
Cbnc »orbergebenbe Mahnung, ftd> oorgufeben, fcbmiß ffe g(etcf> $um ©eginn
einige fernere Lebensarten bem <£einglin an ben Stopf. Unb er hielt in
ber erften Überraschung tfitt, weil ei ihm bie Sprache nerfcblug. Dann
nat)m bie .ftramcrin crft ben rechten 3n(auf, Vcin'ittclte bie 3Borte nur fo aue
ber Zafäe, baß ffe praffelten wie J£>agelf6rner, unb tnelt tl>m gugleicb einen
Spiegel por, barin er ftcb befeben fonnte al* einer, ber nid)t auf ftolgem
5Koffe einberritt, fonbern felber uon einem Seufel geritten würbe: bem M
$od)muti. Dann fam ein ©prübregen über ihn, baß er feinen rroefenen
Jaben mebr am ?eibe fpürte, unb fonnte flct> niebt retten unb fonnte niebt
gu ÜBorte fommen. Denn bie £rämerin hatte im SReben bad Übergewicht
Unb bie wütenben ©liefe, bie er tt>r gufdjoß, bienten nur bagu, fte noeb mebr
in ben J£>arnifcb gu bringen, unb feinen SSerfucb, ffe gu unterbrechen, um fo
fraftiger abguweifen.
Da mußte er aud) boren, baß it>n ber Jßimmel mit etwa? begnabrt
habe, roaö er gar niebt wert fei, gu beftyen, nämlich mit einer Jochtcr, wie
bie feine. Unb baß biefe Jodler ftcb beö legten (Srbjtücfed »on ber Butter
her entäußert habe, um ihm \u helfen, ber anftatt mit ben Jßanben reebte*
gu febaffen, auf ben ©einen mußig einberginge. Da fei ©otte* $ßiUe ba*
wtber, baß einer feine 2Jerpffid)tungen anftebt, wie einen niebern 3aun,
baruber er fpringt, unb bann mit ©liefen einbergiebt, ali hätte ibm fdwn
ein anberer im Seben einmal bie ©ebubriemen aufgelift. Die sIBabrbeit
habe oftmals feineu lieblichen (Geruch; aber wenn ffe aueb ftacblig wie eine
Diftel wäre, fo mußte ffe unter beffen Sttafe gebalten werben, bem fie guftel)t.
Dem OTeifter, ber im baffen ©rimme noch immer niebt gu 3Borre
femmen fonnte, brannte ber ©oben unter ben ftüßcu. (fr kämpfte halb
nad) rechts, balb nad) linfS; aber ber ©oben warb fo unauäfteblid) hei^,
baß er bie tfltnfe ber $ur ergriff unb obne ?lbfd)ieb$wort enteilte, um
braußen bie füble @rbe gu betreten.
3uerft »erwünfehte er ftcb nnb baS unbarmbergige <Sd)icffal, baS tt}n
mit barter ftügung in bie SRotwenbigfeit »erfe$t tyatte, ein 2Beib andren
\u muffen, ba* feine 3H)nung »on ber Wrexen dlatux befaß, bie er in fld>
trug. Der 3orn fodjte in ibm, al* wollte er überlaufen unb ibm ben
£opf »erbruben. dt gürnte ftcb felber, baß er ftd) über ein @efd)6pf, wie
bie Jtramerin, argern fonne. Denn wenn ber 9*ame bagu ba fei, um bie
<Sad)e gu begeidjnen, fo treffe baä bei ir>r niebt gu, ber baS vernünftige
üKenfcbentum fehle, meinte er. — #an$ Jßeinglin fottte ffd) über ein bdfe*
3Beib franfen, baS ihn mit &$üUd)t Übergolfen rjabe? — £r fpuefte in?
grimmig aud, ale müßte er einen unerträglichen ©efdjmacf aud feinem üftunb
entfernen, unb fdjalt ingmifeben in ficb hinein, baß er ffd) niebt jtolg unb ftarf
über folebe 2Bibrigfeit erbeben f enne, wie ber Angriff cineS boohaften sJßeibee.
TMmhtjiid) aber, wie oft guoor, ftrieb ein füblerer ?uftgug einber unb
brachte rubige Überlegung.
Srautel batte baS lefcte (5rbftücf oon ibrer feiigen Butter bi«9«9«ben,
um ihm gu helfen: baö .Hutb bem tarnte bem bod) bie beiben .öauhc niebt
abgebauen waren, um etwad gu febaffen. 3(n biefem ©ebanfen, ber wie ein
Stein bed 'Änftoßed im SBege lag, fonnte er bod) niebt oorbei fommen.
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ffiübetm ftifdjer: £an* £einj(in.
183
Unb fein ©rimm, ber wie überböte* ©affer in einem Sopfe ubergelaufen
war, »erflüd)tigte fid). 3n feinem Snnern entftanb etwa« wie ein leerer
SKaum, unb bie Trauer fe$te fid) hinein, al* Ijdttr fte fchon lange im 8er*
borgenen auf bie ©elegenljeit gewartet unb ffe nun rafd) benufct. 3unad>fl
trauerte er um feinen verlorenen <2tolj, baß er fo füllen fonnte, wie er
nun ju fühlen begann, nämlich: baß e* beffer fei nachzugeben unb ba*
©ebot be* Sorfoberflen ju ootlfübrrn. 3Tber ba* atte*, ©ott weiß e*, nid)t
um feinetwiUen! <&r wollte lieber au* ber 5Bell entfd)Winben al* nachgeben;
nein, um ihretwillen, um feiner Srautel willen, bie (eben feilte, baß ihr
Sater auch ein «£erj für fie habe unb ba* Schwerjle »ottbringe, wa* er
fonit nicht um allen 9teid)tum ber 3Belt getan bitte: nämlich ftd) ind Unrecht
feeen unb bie anbern in* Stecht.
©cbwere ©eufoer rangen ftd) au* feiner fcrufl empor; er ging gebeugt
einher, al* wäre er mit einem Äreuje belaben, ba* irjn unter feiner Sajl erbrüefte.
£er <5tol§ war entwichen, bie Trauer war gefommen, aber ber fie
ben «ffieg bereiten fottte: bie fcemut jlettte ffd) nicht ein. ©o litt £etnjltn
unter feinem Gntfdjluffe, wie einer, ber fein £erj fpaltet, um ba* motten
;u fonnen, wa* er nicht wollte. ©od) e* muß fein, fagte er ffd), inbem er
feinen 3>urgbügel (jinanflieg. ©a gibt et4 feine 2to*reben mehr: ein »Wann
ein 5Bort! Tu hair e* einmal »erfprodjen, unb je$t mußt bu'* halten:
fonfl bift bu ein Wortbrüchiger »or bir felbft unb fein ganjer Wann mehr.
12.
211* er feine ©urgworjnung betrat, unb bie $od)ter ihm entgegenfam,
wußte fie wieber nidjt, wa* für ein ©unber ihm über ben 5Beg gelaufen
war; benn ein foldje* fromme* ©effdjt hatte fie an ihrem Sater noch nicht
wahrgenommen. Tfld (teilte er in eigener ©eflalt ben ^eiligen SKdrtprer
bar, ben er »ottenben fottte, fo gottergeben fchritt er mit gefenftem .öaupte
einher unb bemühte ftd) bie noch aufquellenben ©eufjer ju unterbrüefen.
„3Ba* ifl gefchehen!" bachte ftd) bie Tochter; „er fleht fo fremb au«,
nicht jornmütig, nicht unjufrieben, unb boch traurig."
„brautet," begann er, „wa* bu für mich getan ha fr, weiß ich; «in
b6fe* 3Beib, bie Ärümerin dal1! mir erjäblt. 3Ba* ich für btdi tun werbe,
ba* foll bir auch nicht oerborgen bleiben. £a* Opfer, ba* ich bir bringe,
ifl fchwer; aber id) bring'* bir. 2>u bifl eine wahre $od)ter ju mir, unb
ich bin ein wahrer Sater ju bir; unb id) Witt mich felbfl »erleugnen, um
ber ©ahrheit ju bienen. 3d) Witt fein freier 9»ann fein, wenn bie ffloU
wenbigfeit anhebt, mir ju gebieten: Zu1 ba*, wa* bu fonfl nie getan bdtteft.
Du Heber ©ort! bein £reu& hat un* ja erlöfl, unb unter beiner Jahne
bienen wir. Xtte* £eib, ba* un* überfommt, ifl bie ©egjehrung auf unfernt
Warf che in bie J^eimat: benn ohne Veib mögen wir nicht ju bir gelangen.
Gin 3eber tjat ba* feinige im Sornifler oerpaeft, ben er tragen muß. Unb
wenn fonfl ba* ?eib einen franf madjt, fo mad)t e* un* gefunb, weil e*
un* jum J&eile bient. 2fber bu mein ©ott! flofy unter beiner gähne gehn,
ba* ifl eine* eblen SDtonne* würbtg; aber jum Äreuje f riechen, ba* ifl nur
für niebrige SWenfchen, bie nicht frei fchreiten finnen. Unb id)? "
184 SBilWm gtfd>er: §ani £ftnjlin.
(Sr feufote tief auf.
„Dad Samm ©otted fdjaut immer jurucf, ob bic SRenfchen il)m folgen,
unb id) »erb1 immer jurucffchauen auf etwad: auf meine verlorene greiljeit.
3a, ja, braute!, id) Ijab' ben feften (£ntfd)luß gefaßt: ed muß fein."
3(uf biefe Siebe, bie ftcf> bie $od)ter burchaud nicht $u beuten wußte,
blicfte ffe beflürjt unb fragte: „Hbtr, Sater, wad ifl benn wieber gefcheljen?
3d) t)ab' ja nur bcr Äramerin bad gegeben, wad mir gebort bat."
„Saß fein, Srautel," erwiberte er wie einer, ber ed aufgibt, mit
machen Bugen }U träumen unb ben ringen fdjarf auf ben ®rnnb fiebr;
,,foß gut fein! 3d) »erb1 bir'd fdjwarj auf weiß jeigen, »ad gefebeben ift"
6ie »arb nun ernfHid) beforgt, obne baß er ed bemerfte unb fte auä
i^rer Ungewißheit befreite.
Cr fe$te ftd> an ben $ifd), jog einen ©ogen ^apierd aal ber £abe
unb fing an ju fdjreiben.
©ic betrachtete ihn. ©ein 3ntli$ bruefte @ntfd)loffenl)eit aud, ald
gälte ed bie fd)riftlid)e Serftdjerung ju geben, baß er bereit fei, ben legten
©ang anjutreten. Dann fam wieber ein fchwered ©eufjen wie bei einem
Äinbe, bad feine Kranen bereite getroefnet \)at, aber noch von innerer ©es
»egung erfchuttrrt »irb.
brautet »ußte ftch biefe unbefannte <£rfd)einung noeb immer nicht |u
erfl&ren; vermied aber jeben allju angjtlichen ©ebanfen in ihrem bellen
£6pfd)en mit ber ©emerfung: »ad id) getan bab1, bad war reebt getan;
unb baraud fann niebtd 2(rged entftanben fein.
@nb(id) erhob ftd) ber Sater, ging auf fir $u unb ubergab it>r mit
feierlichem Angeflehte ben ©rief.
©ie lad unb fanb, baß bad Schreiben an ben Dorfbürgermeifier
gerichtet war, unb baß f!d) #einjlin barin verpflichtete, bad audbebungene
SBerf bid jum Äirchtage fertig ju (teilen; f?d) bamit bem ©ebote bed b6rf
liehen Matt* audbrucflid) willig jeige unb ficb beffen ©pnidje rucfbaltlod
unterwerfe.
Die $od)ter freute ftd) barüber, baß er nun einfidjtig geworben fei, unb
bad tue, wad fleh eigentlich von felber verflunbe. T\a er ihr aber bad Opfer,
bad er ihr brachte, fld) vor bem Dorfoberfkn ju beugen, jwar gelaffen, bod>
mit eindringlicher Sraurigfeit barftellte, hütete ffe ftd) eine freubige SBiene
ju jeigen; fonbern bebanfte {Td) bei ihm für bie väterliche ©ute, um ihret-
willen tttoa^ ju vollbringen, wad er um feinetwiQen nie vollbracht hAtre.
Einige -Jage faß er nod) in fchwermutigem ©innen barnber, baß ed
feine ÜBürbe jugeben foUe, ftd) bem ©efyeiße unmurbiger Scanner ju beugen.
Dann raffte er fid> aud feiner Dumpfheit auf, ging and ffierf unb fdjuf
eifrig baran. Die Sodjter i)attt babei ben Srofl, an feine Hmwanblung ju
glauben, unb fab ed mit ftiller 3ufriebenheit, wie er wieber mit £ol)leifeu
unb Schlegel umging, anftatt verloren auf feinem Schemel ju ftyen. ©Ie
erfreute ffch baran, wie bad ©üb bed J&eiligen beraudwuchd, um erft mit
angemeffenen färben ben Schein bed bebend ju gewinnen, ©ie fab ihm
von ferne (Hfl ju, ald fdnnte ein einjiged unbebachted 3Bort ben ganzen
3auber fl6ren unb ben fchwer gehobenen ©d)a$ feiner 3(rbeitdlu(l wieber
in bie $iefe verfchwinben laffen.
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ffitlfjelm gifdjer: £an* ^einjlm.
185
©ein fleine« ©dmißmerf fonnte er nun aud> mieber an ben SWann
bringen, ber ber Äramer mar, unb ber e« mit SÖetjagen »ernommen tyattt,
laß Jpeinjlin feinen ^rieben mit ber Übermadjt gefdjloffen r>atte. ©o fonnte
ber ÜÄeijter fid) mieber ol)ne ®emtfTen«biffe bem gewohnten ©ange in ber
üRuraue Eingeben, ber ihn in bie Sirt«ftube ju 2id)felb brachte. Sentfrieb,
ber immer fein «Begleiter mar, »enn e« ibjm bie 3*it juließ, fanb aber, baß
etwa« in Jßeinjlin anber« gemorben mar, al« vorder. Gr ging jmar nod)
gerne mit (lodern Raupte mie ein ftreiberr; allein al« mdre bie innere Uber«
jeugung feiner #errlid)feit angefranfelt morben, ließ er p(6$(id) bie ©tirne
(Ulfen unb murmelte: ,,.£at ffd) einer einmal etroa« »ergeben, fo ifl er
nimmer ber ganje SERann."
Sentfrieb fonnte bie ©orte nid)t perfleljen; aber er fa() bie Sirfung,
baß £einjlin nidjt mel)r bie ganje Seit l)erau«forberte, um iljm jemanb ju
jeigen, »on bem er mef)r galten follte, al« »on ffd) felbfl. 2(ud) fd)6pfte
Jpeinjlin au« bem Haren ©rönnen be« Seine« nid)t meljr bie murbige
J&eiterfeit, mie fonfl. @« mar iljtn jumeilen, al« taufte au« ber fdjitnmern*
ben $(üfftgfeit ba« frembc S&ilb eine* Siberfadjer« auf, bem er f?d) unter
bem ©eufyen atter (Sngel im Gimmel untermorfen hatte; unb bie J&eiterfeit
l)ielt feine Stafl bei il)tn. ©ie marb »erfdjeudjt mie ein Sögel, bem ein
3teinmurf gebrobt f>atte.
£>odi arbeitete er, fo gut e« ging, an feinem Zeitigen unb bemühte
11 * babei, in feinen Sitten genug 5>eharrltcl}fctt ju fallen, um ben fldrrifcfjen
®eift, ber fid) immer auf« neue gegen ba« aufgefegte 3od) empörte, nieber=
platten. 31* Wittel baju bradjte er ffd) bie Sugenben biefe« J&eiligen »or
bie 3fnfd)auung unb erjatjlte aud) ber $od)ter ba»on:
„Srautel, mirfl e« glauben? Der Ijeilige ©artl)el ifl bi« an« (5nbe
ber Seit gefommen. Unb meil bie Seit ooü $ro$ unb 3fngfl ifl, fo ifl
er baruber binau« gefommen. ©er (Td) nid)t mefjr »or irgenb etma« fürd)tet,
»a« auf Arbeit ifl, meil er einem anbern J&erm angebort, ber nid)t irbifd)
ifl, ein fo!d)er ift biö an« (£nbe ber Seit gelangt. Unb bie Sei«l)eit m
im i)ei(igen Marthel fo tief gemefen, baß er ade« fennt, ma« ihm gefd)ei)en
fann; unb ba« beähalb, meil er roeiß, baß er alle« ertragen fann, ma« it)m
auferlegt mirb. Crr bat ben 3Renfd)en ohne Unterlaß »iel ©ute« getan.
Die t)aben »orfjer bei iljren ®6$en unb 33Ämonen Teilung gefud)t unb
gemeint, menn itjnen nur ber gierige Sitte gefattigt mirb, bann maren fie
gefunb. Gr f?at il)nen aber bie 9ttd)tigfett biefer ©peifung gejeigt, mobei
fie au« bem junger gar nidjt l)erau« fdmen, unb f)at fo bie falfd)e QeiU
traft be« funbigen £er$en« felber geseilt.
„Gr mar ein J^trt be« J£»immel«f6nig«, ber alle, bie iljm jugemiefen
waren, unter ein gute« Obbad) gebrad)t bat. reehalb ift ba« Sunber an
ti)m gefd)el)en, baß fein ©emanb ffd> nie abgenu$t bat unb alle feine Veten**
läge lang mit J$e0tgfeit feinen ?eib umfleibet bat. Unb bie ©d)ut)e ffnb
mein alt gemorben, in benen er gegangen ift; nod) ifl er mübe gemorben,
fo viel er aud) auf ©otte« Segen eintjergegangen ift. 3Tud) mar ihm bie
@abe eigen, bie ©ott nur feinen Wieblingen gibt: immer Ijciter ju fein.
<£r ift eine* fdjrecflidjen SKdrtnrertobe« in Snbien geftorben ; aber feine ©eele
Ijat mit ben Ijimmltfdjen ©d)aren jubiliert, bie tyra entgegengefommen flnb,
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186
SBübelm Sifdpr: £and £einjlin.
um ihn aufzunehmen. Soll ich bann nicht mit ftreubigfeit mich Dem 2Berf
untergeben, mit meiner Äunjt ben ?eib eined fc gottgefälligen SWanned auf-
lubauen?" „©erniß, lieber 2$ater, bad follft bu," erwiberte ffe, bie erjtaunt
jugehort hatte; benn folche Siebe floß aud feinem Sttunbe boeb feiten.
@r rebete aber nur bedhalb fo, um fleh 9ttut einjufpreeben. Ußie einer,
ber allein ifl in ber £>be, (ich ein ?ieb(ein oorftngt, unb hamit meint, bie
3uöerfld)t ju erlangen, bie ihm fehlt; fo l)atte er j7d) bad £ob bed beil.
©artbel Dorgefungen, um ben guten SWut jum 3Berfc ju fafien, ber ihm
fehlte. 3mmer fab er einen oor fid), ber gejmungen auf bad ©eheiß eined
anbern fronte: biefer eine trug bie 3üge #and .£cin$lind unb ber anbere
bie bed £5orfbürgermeifterd.
Unb ben ©roll über tiefe fcotmäßigfeit burfte er nicht oerlautbaren;
fonft »dre er ein SBann gemefen, ber fein ©ort, anftatt ed $u galten, enc*
gleiten ließ, dr träumte auch bed Sttacbtd baoon, baß ein anberer in feiner
Jpaut herumging, ber nicht er war, unb bod) (Ich oon il)m fo wenig unter*
fdjieb, baß if>n jeber für £and J^einjlin anfpreeben mußte. Unb wenn er
aud bem Schlafe jähe auffuhr, fragte er jid): »er mar benn ber jahme
©efelle, ben ich foeben oor Äugen gefefjen habe? unb mußte fleh nach einem
ängftlicben 9?ad)finnen antworten: bad mar ich-
X)abei arbeitete er am Sage immer unoerbroffen fort unb fam menig
weit mit bem $Berfe. 'ifuf bad ©ueb unb bad Keffer, bie ber Jßetltge ald
3eidjen bed Vehramtce unb ber QMutjeugenfdjaft in .£anben halten foHte,
oerwenbete er befonbere Sorgfalt, Orr »ergaß barüber bie J£>auptfache: ben
V'eib, unb mad)te fleh tagelang mit biefen nebenfad)lid)en ©egenftdnben ju
lebaffen, weil fte bod) einen $eil ber Arbeit barjteßten, ju ber er fld> oer*
pflichtet tjatte. (£r fonnte auch tieffinnig barüber mit $rautel fcherjen:
„3Benn bu bad 93ud> einmal aufmacht, finbefi bu meine ganje Vebendgefchichte
barin, unb bod) wirft bu ald Inhalt nid)t* weiter ald ein Keffer ftnben;"
welcher Scher} ber $od)ter feine fonberlidje ftreube fdjuf.
Sie bemerfte mit ©eforgnid, wie fein brauned #aar fid) »on Sag |u
2ag mehr bleichte, unb in feinem fchmalen fdjarfen ©eflebte bie furchen fld>
immer tiefer eingruben; obgleich ihm fein gewohnter Xbenbfpagiergang in
ber SRuraue mit ber beschaulichen tfßirtdfiube ald 3iel nicht fehlte. Hütin
fie fonnte mit feiner 3urebe fommen; benn er war ja fanft unb milb ge*
worben; er hatte ben oorigen oeinjlin unb bamit feine Äraft an einen
fremben SWann »erfauft. Dad fonnte fie füglich nicht wiffen. @r felbft
merfte ed nicht beutlich unb fchläfertc feine alte 9latur mit fanften Mitteln
ein, bamit fie ftch nicht wegen bed »erfauften £emjlin plofclich gegen bie
2Be(t emp6re.
13.
3(uch Ventfrieb wunberte fich über bie Sanftmut bed ftoljen SWeifterd
wie über ein neuentbeefted Vanb. 9?un fchwanfte er, ob er nicht bad, wad
er noch nie getan, tun follte: bem ätater feine brennenbe Üiebe ju ^rautel
mitteilen unb ihn fo $u feinem Anwälte machen, dagegen firüubte ftch boch
wieber feine männliche (Smofinbung, bie ihm fagte: er(l bie Tochter, bann
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ffiilljelm ftifd>r: £an* £eüijlin.
187
ber Safer; nicht umgcfehrt. <5o gebachte er bie bejte ©elegenbeit jinben,
wenn «£«njlin feinen 'Äbenbgang machte, um braute! allein \u finben uno
ihr perjuftcllen, bag er ohne ihre Neigung nicht leben fdnne.
3m felben Sage, ba er bie* au*führen wellte, hatte ihm aber ber
^oritmeijter, bem er im Ärnte am *pürn augeteilt war, eine weitläufige 3frbeit
über ben ^Idnterbetrieb ubergeben, bie er fertigftellen muflte. (5r würbe
hemnad) er(t $iemlid) fpdt frei unb mußte (ich nun febr beeilen in* Sal
hinab unb wteber £einjlin* ©urghugel hinanjufteigen, beoor biefer &on
feinem Xbenbgange hetmfcbrtc.
Srautel war in ihrem 3roingergdrtlein befd)äftigt, um ihre 'Pflegefinber,
bie .H ohlfrautcr unb ihre Jßerjendtinber, bie Blumen, mit begehrtem ?tta# \u
frqutcfen. Die SMumenjier fehlte ihrem Äuchengdrtlein nid)t; ein fdjmaler
@ang war recht* unb linf* mit roten helfen unb $erbenen bepjlanjt, unb
ha* leuchtete unter ben graugrünen ärdutern wie jwei l)olb getiefte Purpur-
fäume auf einer groben <£au*leinwanb.
Die Sonne war untergegangen, unb auf bem golbenen ©runbe be*
heften* ftanb fein einjige* ©ölfdjen, wdhrenb bie im Often wie wetfle
Sdjmdne jiehenbeu ffiolfen nod) »on ben fernen ©trafen umfpielt würben
unb wie mit rofig burd)l)aud)ten ^itttgen im '.'Uber fd)wammen. £ir ©erge
ienfeit* be* SRurtale* harren f?cf> fd)on in bunfelbiaue* ©ewanb gefleibet,
ha* nad) unten in ein tiefe* ©run uberging, auf bem braune Schatten
lagen; unb wo ein höhere* Jpaupt jwifchen ben Schultern jweter SÖerge
herüberf cf)aute, fyatte e* noch einen 3lnt)auch, ber wie eine oiolette Stirnbinbe
aa*fat). 3m Salc jog bie SD?ur mit fchimmernben UÖtnbungen in ben ftbenb
hinau*, wie einem fernen Sanbe ber Schönheit ju. Unb in ber 9?dt)e, jen*
feit* bed 3»ingergdrtlein*, inmitten eine* J&ofe*, ben jum Seil SRauerwerf
unb bidjte* ©cftrdud) bebeefte, flanb eine breitdfttge i'inbe, bie, obgleich SWitt*
fommer »oruber war, noch reichlich Glitten erfchloffen fyattt unb ben Duft
in ben Haren Sommerabenb hinau*fenbete. Qrine Ämfel fang im ©ejweige,
Vielleicht burch ben SMutenbuft an ben Frühling gemannt, ber nicht mehr
.■.upen, aber nod) in ihrem ftebe lebte. Unb in ba* «£er$ be* SRdbchen*,
ha* bort im 3n>ingergdrtlein bie ©efdjopfe pflegte, bie auch ?eben in fleh
trugen, obgleich fic mit ber 2Bur$e( in ber (ärrbe härteten unb jtd) nicht be
wegen fonnten, in ba* jungfräuliche £erj be* SWdbcben* jogen Vicht, Duft
unb Älang, wie ba* ©efolge be* fd)6nen Sommerabenb*, ein unb machten
fidV* barin wohlig unb il)r, bie ffe beherbergte, in feltfamer 58eife warm.
Seife oerworren, wie au* bdmmernber Siefe, unb nod) jarter al* ba*
Ämfellteb, flang barin bie Sef)nfud)t, bie bem #erjen im \feben*fruhling
eigen ift. Doch bie ffiange be* 3Rdbd)en* blieb fühl wie bie eine* Äinbe*.
Sie fühlte ffd) in bie foülichr <2rinfamfeit hinein, al* gehörte fle baju wie
eine* ber anbern ®efd)6pfe ober ©ebilbe, wie bie jiehenben 3Bolfen, bie
$erge, ber \?inbenbaum unb bie Ämfel, bie bort fang. Unb fo warb ffe
gleid)fam nem ©ommerabenb gefchmueft, ber iljre lenjijafte ©eftalt hervor*
hob; aber aud) ber 3benb fd)ien um ihretwillen herrlicher al* fonft tu fein,
weil fie barin ba* lieblidjfte unter aßen ^ebewefen unb ©ebtlben war.
Die* empfanb fcentfrieb, al* er l)<nmram unb ffd) nod) am Stamme
her breitdfttgen ?inbe oerborgen tytlt, von wo au* er ffe betrachten fonnte.
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188
©ü>lm gifaer: JQawi £etn|lin.
(£ö fd)W0U* fein £erj vor Sehnfucfu unb trieb ihm ba$ 5Mut in bie Sdif afen,
bie t)eftig hämmerten, ale" wollten ff c etwaö Unbetannte* fd)tnieben, ba& fTcf»
©IttcT nannte. @r (ab nicht in bie 9*urpurwolfen M Xbenbö hinauf; aber
ifyn umhüllte felbft etjpad wie eine purpurn fd)immernbe Üßolfe, als er auf
bie STOabdjengeftalt im ©artlein bliefte, unb in feinen 3fugen feuchtete bie
©efjnfudjt auf, wie fdjnell flcr> jagenbe ©lifce auf bem ®runbe eine* SBetrer*
rjimmel*. Der wunberfame ©ommerabenb, bie ganje ©ergweit jerflof wie
farbiger 3?ebel »or irmt. <?r far> nur bie SRaib, bie fein eigen »erben follte,
wenn ee* iljm nad) ffiunfd) erging; fatj bie fanfte Neigung ber weißen (Stirn,
bie finblidjen ^Bangen unb ben lieblichen Umriß M ganzen ?eibe$, ber jart
fdjmellenb unb faUenb bi$ ju ben feften «einen ftüßen, bie fuße 2P?abcf>en*
anmut »on ber 2(benbwclt ablwb.
(Sr blieb fo lange an bem (Stamm ber ?inbe gelernt, bio bie Xafc
fdjlage feinet "sZMutcö wieber langfamer gingen; bann trat er vor unb bt*
grüßte Srautel mit einem guten ÜBorte. Sie war ttberrafdjt; becf> bliefte fte
ihn ruhig an, erwiberte gemeffen feinen ®ruß unb richtete baö >£aupt ftolj empor.
„Du mad)ft bid) wieber !)©d), Srautel," fagte er. „#aft redit. 2öer
fallt'* aud) tun, wenn nid)t bu? ÜBar' id) ein §ürft, fo warft bu noch immer
f)od) genug, auf baß id) bid) ju meinem (Jrjemeib begehren tdt'. Unb wieber,
fonnt' id) in einer ©auernfeufdjen mit bir Raufen, fo war' biefelbige für
mid) wie ein golbened ©djloß."
<§i war etwa* im Älang feiner ©timme, wooor fie erfdjraf; bod) ant*
wertete fte rul)ig: ,,3d) bin Ijier bei ber Arbeit."
„ftttrdjt' bid) nid)t, Srautel! 3d) werb' bid) nicfjt berühren; obn?ot>l
mir ijt, al$ hatf id) einen fRaufd), weil id) bid) üb/. Unb im Siaufcb ift
man nid)t berfelbige SWenfd), ber man fonft ift. üjd) werb' meine beiben
Htmt nid)t um bid) legen unb bid) an meine ©ruft brüefen, bie ju eng ift
für baä, waä in mir ift. Unb weißt, waö ift? Daß id) bid) gern mag
wie mein Seben. Unb ohne baä foll bie 5Belt jugrunb gebn ober icf>; mir
ift'* alle* ein«."
dr war tt>r in bem fd)malen ®ang be* ©arteten* ganj natje gefommen.
(Bit bliefte itjm bei all itjrer innern 2lngft ftreng in« *ntli$.
„®ef)t Gure* ©ege*!" gebot ffe.
Da umfd)lang er flc pldftlid), r)«^ ft* empor unb britcfte fte macbtnoU
an feine ©ruft.
„Du bift mein," flüfterte er; „ber ?inbenbaum will e*; er t)at mir'*
»orrjin gefagt."
3?ur einen 3ugenb(icf o erharrte fir bewußtlos; bann ftieß fie ben ©cfjrei
au«*: „33ater!" unb Sentfrieb, ber fie glwljenb an ftd) gepreßt hatte, fam bei
biefem SRufe wieber jur ©eftnnung unb ließ fte au* feinen Firmen auf ben
©oben gleiten.
„Seriell)' mir," bat er mit tonlofer ©limine.
Dod) al* fte, fjod) aufgerichtet, tym mit ftnfterem ©liefe rjieß, ftd) $u
entfernen, brad) er wieber lo$:
M9?iemaW! niemaW! 3d) bleib', wo bu bift, unb id) folg' bir wie
meinem ®lficf auf <£rben. $Benn id) bad nidjt barf, bann will id) auch
gleid) nimmer fein."
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SBilpelm fttfatr: §ani #emjlin
189
dt fapte fit wieber an, unb jum zweitenmal fdjoß ihr 2Tng|truf unb
neco burd)bringenber al* Porher: „SSater!"
Dod) nun antwortete ib,r bie Stimme be* 23ater$: „$raute(, wae" ifT$?"
£r war pon feinem Bbenbgange Ijeimgefe^ früher afö 9en>6t}n(icf>/
»eil ihn Sentfrieb nicht wie fonfl begleitet l>atte. 9*un fab, er biefen por
itd) unb bie SocMer, bie ftd> tjerfludjtete. Da burdjtobte tl>n im 9*u ber
Örimi; er erhob ben Stotf unb ging auf bem fdjmalen ®ang be$ ®«rtd)en$
auf Sentfrteb $u, um it>n $u fchlagen. tiefer fprang jurud, faßte ba* ®e*
webr, baö er Dorthin in einer SKauerntfche geborgen hatte, unb inbem er ffd)
roieber nad) porne menbete, richtete er ben XJoppellauf gegen £ein|lin.
„9Benn 3hr nod) einen Stritt macht, erfdjieß' id) (?ud) mit ber einen
fhigel unb midi mit ber anbern."
„Sd)ieß!" fagte Jpeinjlin unb ging mit erhobenem ©toefe weiter gegen
?entfrieb ju, ber am außerften <£nbe M @artchen$ ftanb, unb ben dürfen
gegen ben Sinbenbaum gefebrt hatte.
,,91od) einen Schritt, £einjfin, unb td) fd)ieß', fo wahr mir ®ott
belfe!" rief Sentfrieb mit tief gefurchten brauen. „Dann fahren wir ju*
fararaen ab."
Doch brautet, bie angftpoll herbeigeeilt mar, warf fid> ihrem SJater
« bie 3tnne unb fd)lud)jte: „9*id)t! nicht!"
Jßetnjltn brobte ihm nod) mit ber (infen $auft, bie er frei behielt, unb
fcntfrieb ging na* rücfwart* fdjreitenb, inbem er baÄ gefpannte ®ewehr
m fid) titelt.
'Mz er am Stamme beö Sinbenbaumeä angelangt mar, üon wo aue
ein Steig hinabführte, rief er: „(£udi bitf id) nicht, #ein$lin. 2(ber por
trautet will id) ipie por einer Äaiferin fnien unb fle um SSerjeirjung bitten,
auf baß fle mein Veten fd)one. 3d) hab' fle wollen auf meinen Xrmen ju
®ort felber tragen, baß er fle $u meinem ÜBetbe mache. 2lber er hat md)t
wollen, di muß halt fo aud) gut fein."
Unb er entfernte (Id).
«£ein|lin tobte nod) eine SBeile »ie ein ©über. 211* fd)on beibe in
Der Stube waren, fuchte er in einer alten tfifte nad) einem f)aar Wolen,
bie bort aU unbrauchbare* ®erate lagen, unb fd)»ur, baß ficf> Sentfrieb mit
tbm fd)(agen muffe. <£r werbe ihn nieberfd)ießen, ohne mit ber 9Bimper ju
;ucfcn, ber feinem &ütbe einen Schimpf habe antun wollen; fo baß brautet
nun alle SRot hatte, ihn bapon abzubringen mit ber 93erfid)erung, baß ffd)
Kentfrieb wohl ung(impflid) gegen fie betragen habe, aber ihr mit feiner tat*
Iid>en ©eleibigung nahegetreten fei. Die* fagte fle, um ben Sobenben iu
beruhigen; unb e* gelang ihr aud). ür warf bie 9>tflofert wieber in bie Stille,
inbem er fprad): „2Benn e* ftd) fo perhalt, bann fei ihm ba* ?eben gefchenft;
aber er fofl mir nicht mehr Por bie Xugen fommen."
Sentfrieb hatte nun ba* ©efuhl, al* fei alle* perloren für ihn unb
feine Seligfett perwirft. £>bgleid) er feinen Dienfi reblid) wie fonfl perfah,
»ar e* ihm bod) juweilen, al« ginge er im $raume umher unb fuchte etwa*,
»a* ihm genommen war. Unb Wae* ihm genommen würbe, baÄ mußte wohl
fein Eigentum gewefen fein. Crr fuchte feine perlorene Seligfeit; benn er
hatte noch immer gehofft, baß ba$ SWdbchen mit bem J^ettblid be* £erjen*
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!90 'iBtlbclm #tfd>r: 6an« £einjlin.
in bie $iefe feiner Webe flauen »erbe; unb ba fte nur fld) felbfi unb ntcfue
anbere« bort wahrnehmen fonne, ihn and) lieb gewinnen werbe, 3Da« war
nun vorbei. 3u #einjlin« ©urgl)ugel fam er oft be« 9?ad)t« wie ju einem
3auberberg, auf beffen ©ipfel fein belfere« £eben in ©eftalt einer fd>6nen
Jungfrau Räufle; aber er fonnte nidjt binauf, um e« fld) ju gewinnen, benn
ber ©erg war »on ®la«, unb bie pße fanben nirgenb« $alt, um ihn
hinaufzutragen. Unb bann warb ber 3auberberg eine« Sage« leer, bic
jungfrau war entfdjwunben; je$t fonnte er ffe in ber weiten $Belt fueben,
wenn er wollte. Tiber er burfte nid)t. Tie* gefdjab fo.
1 1.
brautet oerließ ben i&urgtyuget, um bei ibrem fdjwer f rauf en ©roß*
Bater jn weilen. Gr« gefdjaty namlid), baß 4£>errn 'Xloii Gronauer einer ge*
paeft hatte, ber bort tu, wo bie lirfue Königin be« Sage«, bie Arau Hernie,
nid)t ift: pcrrn 2lloi« hatte ber bunfle ©ebieter ber 3Belt, ber Sob, geraahnt,
fleh auf bie le$te 9ieife uorjubereiten. Unb ba war aud) fein barter (Sinti
weid) geworben, unb ber in feinem t>ben ben anbern wenig Sr6jtlicnr*
brad)te, feinte fid> je&t banad), Sroft ju empfangen. Die Dunfelbeit br*
unbefannten SKeicbe« warf ihren <5d)atttn herein in biefe fonnige SBelt unb
nod) weiter in ba« ©emad), wo £err «Äloi« lag, unb nod) tiefer, in ba$
Öerj be« franfen ©reife*. Unb bie ©djlage biefe« #erjen« oerlangfamten
|7d) immer mehr; wa« er al« eine $&efd>leunigung ber grift füllen mußte,
bie tljm nod) gegönnt war, mit ben anbern SKenfdjenfinbern ju atmen. £r
mußte e« fühlen, baß er bem SBarffteine fd)on ganj nahe gefommen war,
ber ba« ?Keid) ber (Sonne »om ?Heid> be« Sdjatten« trennt; er fonnte ihn
in« 3uge faffen unb fehen: er unterfd)ieb ffd) in nid)t« oon einem (Srabfieitu
Ta er alfo Srotfe« bebürftig war unb ffd? ben geitllicben .t?crrn holen
lief unb biefer ihn aufforberte, SXücfblicf auf ba« ©dmlbbud) feine« Vehcnc-
ju galten unb ju tilgen, wo er nod) im Stutfftanbe blieb; fo erinnerte ftet*
£err 3(loi« feiner Soduer. Die war ihm freilid) nod) in jungen Dabren
auf ber gabrt Porau«gegangen, bie aud) er balb antreten mußte; aber tbre
Sod)ter lebte nod), unb nun erweid)te ffd) fein Sinn fo fel)r, baß er 2>er*
langen trug, fein Enfelftnb ju febeu.
(5« gefdjab benn, baß eine« Sage« auf Jpeinjlin« SÖurgfyttgel eine ebr*
bare ältlidje 0rau eintraf, bie im J^aufe Gronauer ba« 'Xmt einer iöefd) ließer in
oerfal) unb aller Vertrauen befaß. Sie fam, um «öeinjlin ju perm6gen, bem
fterbenben ©roßoater bie @nfelin ju fd)icfen.
9htn erljob ftcf> ein Äampf in bem raiberfpenjitgen J^erjen be« SWannee,
ber J^erm Qttot« nid)t« ©ute« gönnte unb am atlerwenigfteu ba« (Jnfelfinb;
ber aber freilief) aud) von J>crrn 3Tloi« mit feinen £egen«wunfdten auf ben
Veben«weg bcbad?t würbe. <£r wußte, baß er brautet nur bie ffiahi jwifdieit
'Sater unb ©roßoater porjulegen brauchte, um ihre Entfernung ju per^inbern;
aUein er bemerfte, baß ffe bod) tief bewegt war »on bem ©unfd>e be*
Wroßoater«, fle nod) por feinem Snbe ju fe!>eit unb it>rer W«ge teilljaftip
ju werben. 5ßa« foUte er aber olme bie 5od)ter beginnen? garblofe graue
Sage traten por feinem innern Qfuge auf, einer naa> bem anbern, uub aßen
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ffiilbelm $if<ber: $an* grinjtöt.
191
fehlte baö SMlb, bae ftch ihm fonjt auch im Gahmen bee ^raucücn $agce bolb
lejeigt hatte: frinr Tochter. 3e£t füllte er rrfl> wo in feiner TU mm Der
Die ich tum lag, Der ihn täglich, erfreute; unb Den feilte er einem hingehen/
cer fo unmurbig an feinem eigenen Ambe unb bem Watten, ben co ftch
«rtriblt, gehantelt hatte? 3fud) nur leihen, auf unbeftimmte %tit, fein
• injigee ®ut, baö »ermodjte er nicht.
Dagegen erhob mieber, felbft unter bem ferneren ©rolle, bie SWenfch'
lichfeit ihre (Stimme unb flufterte ihm ju: ben 5Bunfch eine« Sterbenben
i>Q man erfüllen.
Unb um wie viel nachhaltiger ert6nte biefer $Öunfch in Srautel*
raitleibdtwllem .£er$en, ber bie ©rogmutter noch befonber* mit rührenber
ttr entboten hatte, ju fommen ! 3 n ihren 3 ugen lag etwae, wa$ #e injli n
leben mußte: Trauer, bie an ber Stelle heimlich vergebener Kranen jurucf=
geblieben mar. Unb bie Iraner jog auch in fein $er$ ein unb verbutterte
ihn gänzlich. Uber er bejwang fleh: benn mieber galt cd ein üftann ju
fein, mtb taö mehr al$ juvor. vir lief ee gefchehen.
©o fuhr benn Srautel mit ber ©efchlieflerin in bie Heimat ihrer
SRutter, bie ihr fremb war. (Je* war baju nur nötig, mit ber (£ifenbahn
aue einem fteürifchen $ale in ba* anbere einjumünben auf einer ftabrt von
wenigen Stunben. 3T6er e* fchien «Oetnjlin, al* fei feine Tochter nach
einem anbern SBeltteile »erreift; unb er fühlte ftd) in feiner £tnfamfeit
gebrochen, obgleich ju feiner UBartung eine gute grau, bie im Dorfe b«nuf<h
war, bcftellt würbe. (Sr hatte aud) mitfommen f6nnen; allein baju fonnte
ihn nicht bie 95 e fehl ießerin mit milben flugen 5Borten unb nicht 2rautel mit
einbrtnglicher ©itte vermögen, mit J^errn 2(loie unter einem Dache $u
weilen; wenn auch biefer auf feinem Sterbelager ihm gewiß bie J^anb ent*
gegengeftreeft hatte. 'Auen ber $ob fonnte J&etnjlin nicht »erföljnen.
So lebte er nun einfam auf feinem SÖurgbugel, ging umher wie ein
Schatten, »ergafj felbft zuweilen feinen geliebten Qfbenbgang in ber SÄurauc
unb immer feine 'Arbeit; »ergoß fein ©elobnie gegen ben Dorfburgermeifler,
unb fo war ee noch immer nicht bad Schicffal be* heiligen Marthel, »on
6ein$ltn* funfroollen Jßanben ben l'eib ju gewinnen.
•JÖunberlich fchien ee Srautel oorerft in bem £eim ihrer »erjtorbenen
Butter, im altwohlbabenben J£>aufe ber gronauer, unb ihr war eä fchier
wie einer armen SWagb, bie ein oornehmee grdulein geworben ift. Sie
fanb ftch jeboch in tiefe SBerdnberung balb hinein; benn auch bie vorige
ärmliche SBebaufung hatte nie ben Atel ibree ffiefene gcfdjmdlert, unb bei
a0er ©efchdfrigfeir, bie ihr auferlegt war, hatte ffe eine ftolje Stirn jur
Schau tragen fonnen.
üb ftch .öerr 2T(oi6 noch an ihrem An b lief erfreute, ut fchwer ju fagen;
feine Eugen waren i ch warf) geworben unb blicften ohne \u (eben; aber er
tfarb ruhiger in bem ©ewuf tfein, eine Sdmlb beglichen ju haben, unb warb
auf bem Dorffriebhofe beigefefct. Seiner grau, ber ©roflmutter, ging aber
beim Xnbltcf ihrer (Jnfelin wirflid) ein ?icht auf, ba* ihr lieblich leuchtete
unb nur wdhrenb ber fceflattungetrauer auf furje 3eit »erbunfelt warb.
Dann gab fie (ich ganj ber ftillen greube tyn, ein fo wohlgeartetee 5Befen
ale Sedjterfinb ju beftyen, wie e« Srautel war. Die hatte ju bienen gelernt,
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I
192 Äurt^ram: ©ie ©ufennabel.
unb je$t, wo fle gebieten fonnte, blieb flc befreiten in ihrem ©inne; obgleidf
fte leicht allen a(* geborene Herrin erfcbien, bte ihr nagten. 3n ihrem
Sdcheln lag ein (lißer Graft unb in it)rem ernften ©tiefe £erien*milbe.
Da* Gnfelfinb bunfte $rau 5t)erefen, ber ©roßmutter, noch liebltcner
geflalter ju fein, al* e* einfl bie Socbter war, bie bodj bamal* im gan|en
^paltentale ob ihrer Schönheit gerühmt würbe. Sic bitte ihr feinen menfehen
m6glicben SBunfcb »erfaßt, wenn braute! einen folgen geäußert bitte. Tiber
tta« follte biefe al* 5Öunfch au*fprecben? Sie hatte ja alle* überreichlich,
weifen fte beburfte. Unb ben einen ÜBunfcb, ben fle unabldfflg bei Sag unb
Stacht in ihrem J&erjen trug, ben fonnte tr>r ^rau tyertU nicht erfüllen:
mit ihrem Sater Dereinigt $u (eben.
J&rinjlin wollte nicht fommen, obgleich feinen alten ffiiberfacber bereit*
bie <?rbe beefte, unb Srautel unb grau ZtyxtU, beibe, ihm bewegliche ©riefe
febriebem Gr febeute ba* £au*, ba* er einft mit bem feften Sorfafce »er*
laffen, e* nie wieber ju betreten. 2fHein Srautel war e* mit jebem Sage,
ben fle obne ihren Sater »erbrachte, fdjwerer um* £erj. Die ©orge be*
brürfte fle, wie er fern von ihr feine Sage üerlebe unter ber SÖartung eine*
ffieibe* au* bem Dorfe, ba* ffe jwar al* gutmutig fannte, ba* aber gewif
unoermogenb war, (ich in feine Xrt f)ineinjuftnben, Sic faßte benn mit
3ujtimmung ihrer ©roßmutter einen ftarfen Cinrfdjluß.
(Schlup folgt.)
Die Bttfenm&eL
Sqoblung oon Äurt 7(rom in SJtöndjen.
1.
3n ben ©ergen liegt ein fleine* ©albborf, ganj allein, weltoerlaffen.
2fuf teilen im Umfrei* fein anber Dorf, ©i* jur #rei*ftabt ftnb e«
oiele ©tunben befebwerlichen SÖeg*, ba bie 3Balbb6rfler fieb geweigert haben,
bie (Sifenbabn nahe bei fleh cor beigeben ju laffen. Sic oerlangten für bie
paar burftigen ©runbftucfe fo außerorbentlicb hohe greife, baß bie Äleinbabn*
gefedfebaft e* oorjog, bie SÖabn fo weit fortjulegen, baß man im $Balb«
borf nicht einmal bei Regenwetter ben sp ft ff ber ?ofomotioe bort.
Den ©auern ift e* gerabe reebt fo. Sic wollen nicht, baß bie ©elr
ibmen naberrüeft. Unter ftd) wollen fte bleiben unb nicht* mit ba brausen
ju tun haben, ©ityen ihre Jß6fe boch auch weit au*einanber, oon 3Biefe*
umgeben, von ®dumen umftellt, baß feiner bem anbern in bie Rentier ftebt.
$reie SXdume, frifche ?uft »erlangt jeber um ftd) t)tx.
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ffurt Qlrom : Die $ufennabel.
193
Die Äreiäftabt aber Raffen ftc befonber*. Denn wenn einmal einer
etwa* mit it>r \u tun t)at, gibt e3 nicht nur für ihn, fonbern noch für }o
unb fo ote( anbere in ber ©emeinbe nicht* al* Unannehmlichkeiten. STOag
e* (ich nun um ÜBalbfre&el, SBilberer* ober ^rügclaffdren rjanbeln. Jtoftet
ba* ,->c 1 1 unb ©elb, bi* berlei in ber $rei*flabt abgemicfelt t(L Unb fcf)(tef Iicf>
wanbern bod) immer einige auf SBochen ine ©efdngniö. 9?atürlid) gerabe
bann, wenn fle wegen ber Heuernte ober begleichen barjeim am unentberjr*
lichften ftnb. Unb wie oft fommt e* »or, bag bie ©emeinbe einfad) auch,
nod) für bie ftamtlie aufjufommen hat, folange ber Üftann hinter ©chfog unb
Siegel ftyt . . . 3»an fott fie in ^rieben Iaffen, ihre SKulje wollten fTe haben.
ÜBar ba* jum ©eifpiel eine ©djererei gewefen, al* ber 3afob 2ttütter
ben 'Philipp ©tein erfd)lagen hatte. SRatürlid) eine* 2Rdbd)en* wegen. Wlan
fam überhaupt nicht mehr oon ber ?anbftrage, fo biel Termine gab e* in
ber £rei*ftabt. Der ©ürgermeifter fonnte für nicht* weiter mehr forgen
al* für weitläufige ^rotofolle unb Schreibereien aller 3rt, beren Sinn fein
oemünftiger SWenfch berftanb, wedhalb man Doppelt auf ber J£>ut fein mußte,
bamtt c* nicht neue Unannehmlichkeiten gab.
Unb fdilief lieh? Der Safob würbe auf 3af)re etngefperrt. 80 »erlor
man gleich jwei junge frdftige SWdnner auf einmal. Die ©emeinbe war
nicht jatjlreid) genug, bag fie foleben Serlufl nicht fpürte. Daß ber 3afob
ben Philipp erfd)lug, war gewig unrecht, aber öerieihlid), e* ging ja um
ein SWabchen. ©anj unbeweglich war e* bagegen, bag bie £rei*ftabt ber
armen ©emeinbe gleich nod) jwei frdftige 3lrme narjm.
Settbem hatte ffd) erfr recht ein jdljer ©roll gegen bie Äret*fiabt, gegen
bie 3>eh6rben unb überhaupt gegen bie ÜBelt ba brausen in ben SÖalbbauern*
f6pfen fefigefefct. Unb al* ein halbe* Satyr fpdter ^)l)ilippd 93ater »erfchwanb,
ber bamat* bei @erid)t bie Tfnjeige gegen ben 3afob erheben, ba wugte
jwar jeber im Dorf, bag 3afob* ©ruber ßtjriftian ben Tlltcn betfeite ge*
fd>afft hatte, aber ntemanb fprad) laut barüber. 2)?an wollte nicht fdjon
wieber Scherereien haben. Unb bann hantelte c* fid? bie*ma( um einen
iRenfcben, ber bie ©emeinbe burd) feine Tfnjeige nur in Unannehmlichkeiten
gefiürjt hatte unb in feinem l)ol)en Älter nur nod) brauchbar war beim
€ffen unb Srinfen, aber nid)t beim Arbeiten. 3lud) bie ftrau be* SBer*
fd)wunbenen »erhielt fld) (litt. Dag e* wieber Saufereien and ©eridjt gdbe!
Da& jie überhaupt feine 3eit für bie ©irtfehaft behielt! Da* fehlte gerabe
nod) ju all bem anbern Unglücf. Dann fdme man ja überhaupt nicht mehr
au« ber Slot.
T0?it ber Seit fiel ed ben ©erid)tdl)errn in ber tfretäjiabt auf, bag über
bad 9Balbborf überhaupt nicht* mehr in ihre 3ften fam. ti<< gab bort, wie
eä fcbien, feine 8techcreien mehr, feinen ^albfreoel, feine ^IDilbbiebe. %Ra6
war nur gefchehen bort oben? Die ®erid)tdt)errn fdjüttelten bie #6pfe. ©ie
fanben, bad feien gang unnatürliche 3uflünbe.
Der 3lmtÄgerid)t$rat bat ben Pfarrer ju ffd), ber bad 2ßalbborf mit
ju »erfehen h.atte. Äber ber Pfarrer wugte eud) nid)t »iel über bie ?eute
)u fagen. <Sr fam nur feiten in ba* abgelegene Dorf: bei Trauungen, Saufen,
©eerbigungen, ju ben Äonftrmanbenjtunben unb jur Konfirmation mugten
bie Äinber |u ihm in* Äirdjborf, fafl bier Stunben 3Öeg*. Die lefcte Saufe
6ukbcutf«e SWonat^cftt. 11,3. 13
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194
Kurt Arom : Die Qtafennabel.
war vor einem Üjafyr gewefen, bie le^te Trauung lag fogar fdjon jwei Saljre
jurücf. IBor einem falben 3aljr t)attc e* allerbing* eine ©eerbigung ge*
geben, aber nur bie eine* totgeborenen Knaben. ©oldje ©eerbigungen ge*
fdjatjen oljne ftrd>Iicf)e Affifienj. Der Pfarrer war in biefem 3at)r jwar
wieberljolt burd) ba* Dorf gefommen. Aufgefallen war itfia aber nur, baß
feit langem niemanb merjr au* biefem Crt bei il)m vorfprad). ftrütyer {teilte
ftd) juweilen ein STOann ober eine ftrau ein. Sftan begehrte einen 9lat,
wünfdjte, baß ber Pfarrer ein ©d)rift|?ücr auffegte, benn er tat e* umfonft.
©eit einiger 3*it fam niemanb mel)r.
„SWir fdjeint, #crr Pfarrer, wenn ba* fo fortgebt, finb wir betbe für
bie bort oben überflüfjTg."
Der Pfarrer lAcrjelte.
M3f)nen mag ba* ja paffen", fagte ber Amt*gerid)t*rat. ,,©ie fparen
fid) baburd) auf irjre alten Sage mand) harten ©ang. Aber mir vom ©eridjt?
^rul>er waren bie üBalbbauern unfre beften Äunben. 9?ad)ften* f6nnen wir
bie ©übe jumadjen." Der Amt*gerid)t*rat übertrieb gern ein wenig.
„Sttandjmal glaube id)," meinte ber Pfarrer, „bie ?eute Ijaben ein
b6fe* ©ewiffen feit jenem SKorb an bem Wlipp ©tein. Sie trauen ff*
ntdjt meljr tyerau* au* iljrcm 3ßalb unb itjren ©ümpfen, fte fchamen fid>.
Die ©eineinbe i|t flein. 3d) f6nnte mir benfen, baß fid) ba alle für ben
einen, ben Sotfd)fager, fojufagen mitverantwortlich füllen."
„©lauben ©te wirfltd)?" Der ©erid)t*rat fd)ob bie ©ritte auf bie
©tirn, wie er e* immer tat, wenn ihn etwa* verwunberte.
„(£* fdjeint mir bod) red)t unwal)rfd)einlid), Jßerr Pfarrer, ©o jart*
füfylenb finb biefe ?eute nidjt."
„3Ber weiß", fagte ber ©eijtlid)e unb ging balb wieber.
Der Amt*gerid)t*rat ließ ben fterfrer fommen, bem bie ©taat*malber
Dort oben anvertraut waren, ©eit breißig 3al)ren lebte ber ©erid)t*rat
b.ier, be*t)alb intereffierte iljn bie ©adje fo. 3n feiner langen ^rari* war
e* il)m nod) nie gefdjeljen, baß in einem SDrt bie Sergeben unb SBerbredjen
mit ber 3«t abnahmen. Da* ©egenteil war bie SXegel, fie nahmen ju. Un«
glaublid), baß feine ©rfatjrung auf einmal wiberlegt werben follte.
Der gärfter, aud) fdjon ein Älterer 9ttann, ber lange in ber ©egenb
lebte, war ber AnfTd)t, e* würbe nad) wie vor gewilbert, aber e* gäbe
offenbar niemanben mehr, ber e* jur Anzeige bräd)te. Unb von ihm ließen
fid) bie ba oben fo leid)t nid)t erwifd)en, wie viel fD?ur>e er fid) aud) gab.
AI* wieber ein „uihr verging, ebne baß einer von ben ÜBalbb6rflern
in bie ©erid)t*aften fam, hielt e* ber Amt*gerid)t*rat nid)t langer mehr au*
unb befdjloß felbft einmal berrlnn ju jähren unb $u fefyen, wa* eigentlich
in biefe ©auem gefahren fei. 9ttit red)ten Dingen fonnte ba* unmöglich
jugetjen. dr mutete fid) bamit jwar eine arge ©trapaje ju, aber er war
nun einmal neugierig auf ba* Sföufterborf ba oben. Unb wenn man fid)
einen üßagen naljm, anftdnbige* ©etranf unb Sffen cinpaefte, mürbe man
e* fd)on jwei, brei Sage au*l)alten f6nnen.
AI* ber erfte falte Sag Fam, fufjr ber ©erid)t*rat mit einem Steferenbar
nad) bem 5Balbborf. Den falten Sag tjattt er abgewartet, weil er nod>
von früher l)er wußte, wie fd)led)t bie SBege bort oben bei Regenwetter
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Äurt 3ram : Die SBufennafcel.
195
»arm, unb wie übel bie Sümpfe in bcr dlafyt be* Dorfe* an warmen,
feuchten Sagen rieben fonnten.
3e t>6t>rr fte famen, um fo fdjoner würbe e*. Diefe pradjtuolle, falte
SRulje, bie flare, reine Suft, bie bereiften gelber unb Üßalber. SBunberoott
war e* anjufeben unb einjuatmen, wenn man in ^efjmÄntel gefüllt, guten
SXotwein unb jarte J£»at)nd)en $ur £anb burd) bie ®egenb fuljr.
Der SReferenbar würbe ganj poetifd) unb ber ©erid)t*rat erlaubte e* irjm.
£r empfanb aljnlid) trefc ber öieltaufenb 2(ftenfafjifel, bie er f)inter ftcf> Ijatte.
KU fte in ba* Dorf einfuhren, wunberte fid) ber ®erid)t*rat nid)t
wenig, weil alle* wie auegeftorben balag. 9*iemanb geigte fid? auf ber
Straße, obwohl e* uten £benb würbe, bie KTbeitfyeit alfo ju Grnbe war;
niemanb an ben genflern, tro$bem bie 2Tnfunft eine* ffiagen*, ber laut
genug caber fuhr, hier gewiß nidjt ju ben 2(Utag(id)feiten gel)6rte.
„SD?an f6nnte glauben, alle feien geftorben", fagte ber ©ertd)t*rat, ber
eine heftige Styantafle befaß. „Damit wäre aflerbing* l)inreid)enb erfldrt,
we*l)alb twn ber ©efellfdjaft niemanb mel)r in unfere 21ften fommt. 3(ber
fdjließ lid), wir leben bod) in einem georbncten Staat*wefen. Daoon wußte
man, barüber wäre unbebingt eine 3fnjeige an ba* ?anbrat*amt gelangt,
wenn eine (Jpibemie ober fo etwa* bie ©eo6lferung bafjingerafft tyatte."
Der SReferenbar Iddjelte, benn er fannte fd)on lange bie au*fd)weifenbe
Denfart feine* Sorgefe^ten. „Dort fdjarren £ül)ner im SRifc, £err ®erid)t*rat,
aud) ift mir, al* l)6rte id) Schweine grunjen. Da« fdjeint mir nid)t für
bie ÜBaljrfdjeinlidjfeit 3l)rer 2Tnnal)me ju fpredjen."
Der Äutfdjer wanbte ben $opf unb fragte, wo er eigentlich, »orfafyren
folle? „SÖeim alten (Stein, 3et)ann", rief ber @erid)t*rat, benn ber alte (Stein
hatte ja fo eine 3rt Sdjenfe, unb bann fannte ihn ber ®erid)t*rat »on ben
Serljanblungen in Sachen 3afob 2)?üUer, bc* Sotfdjldger*, »on allen ©auern
Ijier am teilen, beffer nod) al* ben SBürgermeifler.
2(t)a, ba war man ja fdjon an Crt unb Stelle. Wlipp Stein flanb
auf einem verwitterten Sdjilb. Über bem tarnen war ein ®la* mit
fdjÄumenbem ©ier gemalt, bem biegen unb Sdjnee aUerbing* fdjon faft alle
garbe genommen Ratten.
„Wlipp Stein", murmelte ber ®erid)t*rat. 3a fo, ber 2Ute Ijieß ja
mit Vornamen genau wie fein Sotyn, ber Srfdjlagene. 9*id)t gerabe fetyr
angenehm für bie Aamilic Füller, immer an biefer Stelle oorbei ju muffen
unb fortgefefct an bie blutige 3at ihreö jflteflen erinnert ju werben.
„£lopf mal an bie Sür, Johann, aber feft. Die Veure icheinen hier
aflf taub geworben ju fein!" rief ber ®erid)t*rat unb wirfeite fid) gemadjlid)
au* feinen Suchern unb Derfen.
3ol)ann flopfte fo energifd), baß enblid) bie alte ^rau Stein erfernen
nitb mit bem Sdjrerfen*ruf : 3fd) bu mein lieber J^eilanb! fofort wieber bie
Sur jufdjlagen unb in* £au* jurürf wollte. 3(ber 3ol)ann parfte fie am
Sroi unb ließ nidjt lo*. Seine <pferbe Ratten einen anflrengenben Sag hinter
fid) unb mußten $utter unb ÜBaffer f)aben. Da »erflanb er feinen Spaß.
M9?a, na, na!" befdjwid)tigte ber ®erid)t*rat bie gitternbe ^rau. „9?ur
feine ingfi, grau Stein, id) fomme ja nid)t im Dienfr, id) fal)re nur mal
»orbei, um ju feljen, wie'* benn eigentlid) gel)t unb fleljt bei eud)."
13*
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fturt Äram : Itfe SBufennabel.
Der ©erid)tdrat brad) ab, benn er wollte gerabe »on bem (Srfdjlagenen
reben, aber bie Sfttutter mar ja immer nod) fo aufgeregt, ba unterließ er
ed lieber.
„$d ift und etwa« fpat geworben", begann ber ®erid)tdrat oon neuem,
ba bie grau immer nod) nitfjt ben SWunb auftat.
„@d bauert ja enblod, bid man ju euerm Stteft fommt. Äber id) benfe,
bie ftrau ©tetn wirb und fd)on für ein befyagltcfjed Nachtquartier forgen, wad?"
Die grau nicfte, wdljrenb :hr taufenb fdjrecflidje ©ebanfen burdj ben
Äopf fdwffen. tarnen bie J^errn »om ©eridjt fdjon wieber wegen bed 3afob
ÜRuUer, ober weshalb fonjt? Äm (Snbe gar, weil fte erfahren Ratten, ber
alte ©rein, itjr SRann, fei »erfd)wunben? 3ebenfaHd mußte man auf feiner
J£ut fein, fdjmeigen, unb wenn man gefragt mürbe, genau überlegen, »ad
gu antworten war.
,,©o laßt und bod) enblid) in bie ©tube, grau, ed ift falt ba braußen!"
fagte ber ©ertd)tdrat Ärgerltd).
grau ©tein trat btiUitt unb mad)te ben ©äften s]Ma$.
„ÜBo ift benn ber 2Äann?" fragte ber ©ertcfjtdrat, ald er ficfj nieber*
getaffen harre. 2Bo ift ber alte f hilipr mochte er nicht fragen, weil bad
bie grau wieber an it)ren toten ©ol)n erinnert r/dtte unb »oraudftd)tlid) »on
neuem aud bem Jßauddjen brädite.
„<ffier?" fragte grau ©tein gebebt unb r/ielt bie #anb and Dfyr, ald
t)6re fte fd)led)t.
„3l)r STOann, grau. Der alte ©rein. 3ft er nidjt ju £aud?"
„OBie?"
„Ob er nidjt $u J$aufe ift?"
„3u #aufe ifl er nidjt", antwortete bie grau.
„3r,r t)6rt morjl fdjledjt, grau ©rein?"
»3a, ja, £err 9tat."
„Äber früher l)6rtet iljr bod) fcljr gut?"
SKein ®ott, war bie grau fcrjrecfljaft, nun würbe fte ferjon wieber
ganj blaß.
„Dad Älter, £err 9tat, bad Älter."
„3a, ja", feufjte ber ©eridjtdrat. „Da J^abt iljr redjt, bad Älter, ja
bad Älter."
€d war eine ÜBeile (HU in bem 3iwmer. Die grau trat jum ©djanf*
tifd) unb mad)te ftd) bort ju fdjafen.
„innren wir etwad ju ejfen befommen, grau ©rein?"
„ffiie?" fte legte wieber bie #anb and Or>r.
„ditr ober ©d)tnfen!" brüllte ber ©eridjtdrat.
„3a, ja", fagte bie grau unb hantierte weiter, immer auf ber ?auer,
ju erfahren, wedljalb wol)l bie £errn auf einmal t>icrl)er gefommen, wai
fte wot)( beabftd)tigten.
„3Bann fommt benn ifjr Sftann wieber, grau ©tein?"
„SBeiß id) nid)t, £err Star."
„Dod) wol)l heute nodj?"
„93teDeid)t erfl morgen, fann fein, aud) übermorgen."
„2Bie fd)abe! 3* l)drtc iE>n gerne gefprodjen."
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fürt Uram : Die »Bufennabcl.
197
„<5d wirb ihm aud) (eib fein."
Der ©erid)tdral feufjte, wanbte fid) ju feinem SÄeferenbar unb meinte
leife: „Da haben ©ie einen Sorgefdjmacf »on 3f)rer 3ufunft. (Sine <Pf erbe*
arbeite aud) nur einen gufammenhangenben, vernünftigen ©afc aud biefen
beuten l)eraudjufriegen. Dabei (Tnb fte gar nid)t fo bumm, wie ffe tun. Dad
burfen ©ie ja nid)t benfen. 3m ©egenteil! ©djlau (tnb ffe, bauernfd)fau,
»erfletjn ©ie?"
Der SReferenbar nirfte. ftrau ©tein »erlief bad 3immer. Der ©eridjtd*
rat gdbnte. Der SReferenbar fchwieg unb fanb, ed fei mehr ald bldbfmnig
oon bem alten #erm gewefen, bireft unverantwortlich, ihn mit l)ierl)er ju
fd> Uppen.
9>l6$Iid) fuljr ber ©eridjtdrat auf, faßte ben SRefercnbar unb jog tt>n
mit and ftenfter.
,,©ehn ©ie bort bad SWabel?"
Der SReferenbar nicfte.
„9*un, wie jtnben ©te bie? 5ßad, ein <&taat$m\bV."
Der SReferenbar fanb fle etwad fraftig, aber fonft nid)t übel, wenigftend
für biefed Sttejl nidjt.
„$amod €ft fle, bie <5f)rijtme!" fdjmunjeltc ber ®ertd)tdrat. ,,©o ein
©ang, biefe ©eftalt!"
„€d ift mir fd)on »ieberljolt aufgefallen," erflarte ber SRcferenbar,
„baß bie ?eute in ben ©ergen größer {Tnb ald bie Bewohner ber Grbene."
„©o? J£>m. Unb miffen ©te, »er biefe @f>rtfttne ift?"
Der SReferenbar fd)üttelte ben Äopf. 3Boher follte er bad wiffen.
„Dad Sfödbel, umbedmiden ber 3afob 9J?üller ben ^fjilipp Stein erfd)lug."
Sftun fchaute ber SReferenbar bod) intereffferter aud bem ftenfter.
„©ehr ju J^erjen fdjeint fle ffcf> bad nid)t genommen $u l)aben", meinte er.
Der ®erid)tdrat lachte fp6ttifcr>. „$Beiber, unb ffrf> fo wad ju £erjen
nehmen! ©tolj ffnb ffe, wenn ed um ihretwillen einem and SJeben get)t.
Unb nun gar fo ein ffieib, bad t)ter groß wirb, fern aller Kultur, inmitten
ber 9?atur, wo bie #trfd)e mit einanber fdmpfen, wo afled, wad fie umgibt,
Xudlefe prebigt, wenn flc aud) bad Üßort nid)t fennt."
„©ie fteht in ber $at gut aud", fagte ber SReferenbar.
„<5tne leibliche Söafe bed @rfd)lagenen ift |Te. 3ßad fagen ©ie jefct?"
Der SReferenbar wußte burdjaud nid)t, wad nun wieber baran fo
merfwurbig war.
„3n ber ©tabt reben wir und bie Hungen aud, baß £hen jmtfcfjen
2?erwanbten nid)t gut tun. Jßier forgt bie Sftatur felbfr bafür, baß ffe nid)t
jufianbe fommen."
„©ie bebiente fld) babei bed jungen 2Büu*er?" fragte ber SReferenbar.
„©anj ridjtig!" antwortete ber ®trid)titat unb freute ffd), baß fein
SReferenbar if>n enblicn »erftanben hatte.
„fcei fold)en 2fnfd)auungen begreife id) nur nid)t red)t, wie ©ie ben
jungen SRuBer haben einfperren laffen fönnen? 9Bar er nur ein ÜBerfjeug
ber SRatur ..."
lebhaft fiel ber ®trid)tivat ein: „Tiber wo benfen ©ie hin, folcfje
Äonfequenjen barf man ntd)t jiefytt. 5Öohin fdmen wir, wenn wir fo hanbebt
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198 ffurt 3ram : Sie Söufennabel.
wollten. Ii>ir hanteln nad) fccin ®efe$, ©d)U$ ber Kultur unb ihrer
©lirer, »erjranben?"
Der SReferenbar ntefte. „Unb benfen?"
„$Bie Darwin unS gelehrt t)at", fagte ber ®erid)tÄrat flolj.
Die beiben festen ftd) wieber, benn bad STOdbdjen war langft ibjem
®etTd)t*frei$ entfdjwunben.
Die alte grau ©rein mußte ed berweil fd)on im Dorf I)erumge6rad)t
Ijaben, »er angefommen war, benn nad) unb nad) erfd)ienen einige altere
unb jüngere ©auern, lüfteten ein wenig bie Wappen unb liefen fid) fhimm
in ber SRdfje bed $ifd)e$ nieber, wo bie ©tdbter faßen.
„Angenehm ift eä gerabe md)t, unter ben Bugen biefer dauern, bie
wie bie Äl6$e bafT^en, ju foupieren", flujlerte ber Steferenbar.
,,©agt mal, wo ift benn ber ©urgermeifter?" fragte ber ®ertd)törar.
@iner fat> auf ben anbern, aber feiner antwortete.
„<£r hat wot)l nod) $u tun?"
3a, ja, meinten bie ©auern, fo würbe e$ wot)l fein.
H\l bie ©tdbter ü)r ®eftd)t wieber ben ©peifen guwanbten, fdnnunjelten
bie dauern einanber oorfldjtig §u. SXedjt bumm waren bod> bie »on ba
brausen. Daß fic nid)t einmal merften, ber ©ürgermeifter fdjob nur beö*
rjalb fein @rfd)einen rjinauä, weil er ben fragen M ®erid)t*ratd au* bem
3Beg gel)n wollte.
3rfd)! fpuefte einer ldd)elnb in bie ©tube. 3tfd>! fpuefte ein anbrer.
2fi$ bie ©tdbter gegeffen garten, »erlangte ber ®erid)tdrat, baß man
ben ©urgermeifter rufe.
Sttun war wühl md)tö meb,r \u madjen. ©djwerfdllig erheb fld) einer
ber jüngeren unb ging, ben SBurgermeifrer ju b,o!en.
Grnblid) erfd)ien ber ^urgermetfler unb entfd)ulbigte ffd) fehr, er habe
iii du früher erfd)einen fännen. @tne Äuh, fei franf, unb aud) mit einem
feiner ©d)weine fei ed nidu ganj rid)tig.
(Jt)e ber ®erid)t$rat ffd) beffen oerfat), war eine audgiebige Unter*
Haltung über ©djweinejud)t im ®ange, ber er eine SBeilc gebulbig jur)6rte.
Dann wanbte er ff* an ben ©urgermeifter: „<2efct <5ud) bod) Ijierljer, an
unfern Sifd)."
Der ©urgermetfler ließ ftd) am $ifd) ber ©tdbfer nieber.
Die $>auern fd)wiegen unb faljen forfd)enb »on einem jum anbern.
2Bad nur ber ®ertd)t$rat wollte? @twa$ ®uted war ed gewiß md)t.
Der ©ürgermeifeer mußte ffd) fer/r jufammenneljmen, um nid)t »er*
legen ?u werben, benn cö war aiieo anbre al$ angenehm, oor ben Bugen
ber ®emeinbemitglieber einem 5Berr)6r unterzogen $u werben.
„Sagt mal, ©ürgermeifter, trjr feib l)ier wot)l alle arg fromm geworben?"
„3Bie?" Der ©urgermeifler traute feinen Oberen nid)t.
,,Sd) meine nur fo, id) tjabe ben Qrinbrucf", fagte ber ®ertd)t*rat
fdjcrjenfc.
$rau bir einer über ben 2Beg, bad)te ber fcurgermeifier. 3fm Snbe
Ijatte fld) ber alte Pfarrer befdjwert, baß man nur nod) feiten, fo gut wie
gar nicht merjr in bie Ätrdje fam.
„Da, $err 9lat, wie mer'd nimmt", meinte ber fcürgertneifter nad)
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Äurt Kram : £>ie SBufennafcel.
199
einer ©eile. w3d) fagc: tue red)t unb fd)eue niemanb. Unb wenn ber
J£err Pfarrer" . . .
„2Tber 3l)r mifoerjteljt mid), ©firgermeifler. ©o meine id)'* nirf)t. 3d)
rounbre mid) nur, bog wir fo gar md)t* mefjr »on eud) Ijter oben merfen."
Der Q3urgermei(ier fd)ien immer nod) nidjt ju oerfietyn.
„5Bir »om ©eridit, mein id), ©urgermetfter. Da* war bodj früher
nicht fc. ©irb benn gar md)t meljr gemilbert?"
„Da* muft ber ^f*** am befle miffe, J£err SRat."
„£* fommt aber feine Znjeige meljr ju und. ©ad ifl ba*?"
„3a, wie i* ba*?" meinte ber ©urgermeifter nadjbenflid). ,,©enn td>
toa* mü^t."
,,©d)ldgereten fommen aud) nidjt meljr oor?"
„Un ob!" fagte ber ©ürgermeifter ladjenb.
„2Tber wir erfahren nidjt* mefyr batton."
25er SBürgermeifter wanbte jld) f>alb ju ben ©auem, al* er erwiberte:
„■30? er fann Hilf* ja benfe: ©enn niemanb in bie Äird) geht, paßt'* em
<Parrer net. Un fommt feiner in* kriminal, i* e* wibber bem ®erid)t
net redjt."
Die dauern Idcfyelten.
„Da* roiU id) nidjt fagen", warf ber @ertd)t*rat gebulbtg ein. „9*ur,
man madjt fid) fo feine ©ebanfen, wenn man e* nod) nidjt gewinnt ifh"
„STOer madje unfer #dnnel unner enanner ab."
„9?un, alfo, bod) fromm geworben!"
„Da* net, #err SHat . . . 2Cber gefaxter."
„©iefo?"
,,3mmer in bie Äreidftabt laufe, ba* foft ©elb un 3"*-"
,/Äd) fo, id) »erftelje. 3t)r wollt allein, unter eud) bamit fertig
werben? <5o, fo."
2(1* ber ©urgermeifter bie ©tdbter fo nadjbenflid) fafj, fagte er fyaflig:
,/Äber e* get)t ja bod) net, J^err SÄat. SRer wer'n nod) oft genug mi'm
(3rrid)t ju tun tjame." 2TIle* fdjwieg. Der SReferenbar mufterte immer wieber
ben fcürgermeifier. Gin ftud)* i)t ba*, ein $ud)*, tad)te er. Die* glatt*
rafierte, rojege, fdjetnbar fo fyarmlofe ©effdjt mit ben fdjmalen, geraben Sippen
unb ben »erfteeften 3fugen, bie jidj l)6d)ften* t>atb öffneten, nie ganj. (Sine
triftige, gebrungene ©eftalt, ein SWann in ben beften 3at)ren, ffd)er nidjt
t>iel über »ierjig.
„®u'n dlad)t beifamme", fagte einer ber ©auern unb erljob fid). ©o*
fort flanben aud) bie anbern auf. Der ©urgermeifter wollte fid) ebenfalls
empfehlen, aber ber ©erid)t*rat tjielt ir>n juruef. dt fyabe nod) ein ©ort
unter oier Qfugen mit ihm ju reben.
„fJliv für ungut, Jßerr !Rat", ftrdu bte ffd) ber ©ürgermeijter. „3Twer mir
©auern geljn mit be Jßinfel in* ©ett. ©ei ber fd)were Arbeit, bie mer tjat . .
,,2Td) wa*! 3el)n SÄtnuten Ijabt it)r wot)l nod) 3eit. tyr anbern fdnnt
rul)ig gebn."
Die anbern wollten je$t aber nid)t. @rft al* ber ©ürgermeijler fagte :
„3Äad)t, ba^ ir>r tjeimfimmt!" gingen fte langfam, j6gernb unb nad)benflid) fort.
3(1* fie enblid) au* bem 3immer waren, bemerfte ber ®erid)t*rat, baft-
200
Äurt TLtam : T>ic SBufennabel.
ftc^ t)tntcr bem ©dianftifd) eine ganje Üftenge ÜÖetbcr eingefunben hatte, bie
neugierig juhörte. £ud) bie £l)rifttne war unter ihnen.
„2Öaf)rt)aftig," flufterte ber ©erid)t$rat bem SReferenbar ju, „fefjn ©ie,
ba ilebt bie @t)rifttne bei ber alten grau ©tein unb mar bod) fdjulb am
$ob itjreä ©ohneä. ©o maä mdre in ber ©tabt unmöglich, nicht mab,r? Diefe
dauern ünb bod) anbre Üttenfdjen, ganj anberd al$ mir."
„Ob it>r gleich l)eimgef)t, if>r SBeibäleut!" rief ber ©ürgermeifter jornig.
2(1$ 3ub,6rer mdren ihm bie Sttdnner immer nod) »eniger unangenehm gemefen,
ald bie ÜBeiber. Äidjernb fuhren ffe auSeinanber. 9*ur bie alte grau (Stein blieb.
„Saßt bie nur, ©ürgermeifter, fie ijt ja bod) faft taub."
„$aub? 3d) fo, ja, freilid)." Der ©urgermeifter feufjte. ,,©o e Unglurf!"
„©agt mal, ©urgermeifter, mie fletjn eigentlich bie ©teinS mit ben
SWullcrÄ?"
3Tb,a, badjte ber S&urgermciftcr. 2$orjid)t!
„5Bie ffe jtet)n? UÖie mer Ijalt ftel)t in fo'me ftall."
„®ibf$ nod) »iel ©treit jroifdjen ihnen?"
„Streit? 9?ee, ©treit gibt« net."
„Sttir mar fogar, al$ fei bie (£f)riftine »orb,in hier gemefen?"
„Die (5l)rijtine? $ßarum net?"
„2üfo »ertragen fie ftd), tjaben ffd) »erf6bnt?"
„9*o ja, mie mer'd nimmt."
„Der alte ©tein ijt bod) nod) ein fraftiger 9Bann unb jdhjornig. 3d)
fürchtete immer ein wenig, er fonne fid) am (5nbe bod) mal $u einer Dumm*
heit Einreißen laffen gegen ben @hriftian ÜÄuUer ober ben 3afob, wenn er
»ieberfommt, ma$ ja nicht mehr lange bauern wirb."
„©laube ©e bod) baä net, £err 9lat."
„<Si »Are bod) möglich."
„Der alte ©tein, ber tut fo »ad nimmer."
„Um fo beffer. 3d) fam eigentlich aud) beÄljalb. Um ü)m gut ju*
jureben, roiffen ©ie."
„Da ha"* fTcf) ber £err 9lat en ÜBeg fparn fonne."
?dngered ©chmeigen.
„Unb bie @hriftine?" fragte pl6$ltd) ber ®ertd)tdrat.
Der ©urgermeitfer fah ihn »erjtdnbntelo* an.
,,3d) meine, mit wem hält'* benn bie jefct? din ©taatämdbel!"
„Die?" Der ©Ärgermeijter tat, alö überlege er.
„Ober mag ffe niemanb mehr, feitbem ©tut um ffe »ergofen mürbe?"
„2Ba$? 3Td) fo!" Der ©urgermeifter mußte laut lachen, ©a* bif
©tabtlettt bod) für furtofe SÄenfdjen ftnb, badjte er.
„3hr iad)t?"
M@ott »erjeih, mer bie ©unb, J$err SRat. 3d) lad) nid)t baruber, id)
lach über ganj roaö annered."
„#at ffe benn einen ©urfchen?"
„Broer natürlich!"
„3öen benn?"
„Den GhrifHan ORuDer."
„£6re id) red)t, ben ©ruber »om 3afob?"
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Äurt Uram : Die SBufennafcel.
201
„freilich."
Der ®crid)tdrat fprang erregt auf. ,,'Xbcx bad getjt bod) nicht!"
„(5d id ja nur ihr ©er?burfch, nit ihr Sftemmburfd)."
„3Bte?"
,,3d) mein, mit bem (5l)rijlian 0cl)t (Te halt, auf c $an$erei un fo. Un
le 3afo6 nimmt fe, fjetratet fe, wann er mibber ba id."
Der ®erid)tdrat frarrte ben ©ürgermeitfer an.
„3a aber, «Kann ®otted, »ad fagen benn bie ?eute baju?"
„97tr. Dad ift bod) auch net bene ihr Sad)."
„Uber begreift 3t)r benn nid)t?! . . . Der Sotfd)lager unb bad SWdbchen,
um bedroitten ber $otfd)fag gefchah? ..."
„(Sd gehört flcf) bod), baß bie heirate."
Der ®erid)tdrat fd)lug ftd) oor bie Stirn, unb blirfte feinen 9leferenbar
an, ber aber aud) nid)t befonberd erleuchtet breinfat).
„(Sagen Sie mal, mein t>erel>rter $err SM'irgermeifrer," meinte ber
Steferenbar nad) einer 2Beile, „fürchten Sie nicht, baß ed ba mieber 2P?orb
unb $otfd)lag geben fönnte?"
„2Bie meine Sie bad?"
„2fud @iferfud)t jmifchen ben fcrubern."
„3fber gemiß, ganj richtig!" rief ber ©erichtdrat unb rieb ftd) bie£anbe.
Der ©ürgermeifter fd)loß bie 2fugen ganj unb ermiberte: „Dad glaub
id> net."
SDfebr mar nicht aud if)m heraudjubringen. Unb ba bie dauern am
fotgenben $ag genau fo unzugänglich maren, mie tagd juoor, retfle eublich
ber ©erichtdrat mit feinem Steferenbar mieber ab, ohne über bad fonberbare
Dorf flüger geworben ju fein. <£r mar febr fdjledjter 2aune unb aß barjer
ungebührlich oiel J^Ahncfjen.
„Sie merben ferjn, #err ©erichtdrat," triftete ber SXeferenbar, „wenn
btefer 3afob «Kutter »ieber im Dorf ijr, geht ber $anj »on neuem an."
2.
3afob SKüller mar mieber ju «£aufe. <äv benahm ftd) juerft lärmenber
ald früher. HU muffe er ftd) nad) ber langen Stille, etma wie einer, ber
fdm>err/6rig gemefen ift, erft mieber an bie eigene Stimme gem6t)nen. <£r
war heftiger in allen ©emegungen unb Äußerungen mie ein junged *pferb,
bad aud engem Statt enblid) mieber auf bie ißeibe fommt. BUerbingd mar
er niöjt mehr fo fd)(anf mie früher — bad fam oon ber 2(nftaltdfojt — unb
hatte eine graue ©eftchtdfarbe. Dafür ging er in einem jtabrifdjen Bnjug,
trug Stiefeletten unb eine SUefenframatte, in ber ein unechter, aber großer
Diamant ald Sttabel gefaßt, prangte. 2$on bem in ber 2fn(ialt Srfparten
hatte er ftd) tiefe Dinge, faum mar er entlaffen, gefauft. dt mottte bamtt
im Dorf imponieren unb jugleid) alle Erinnerung an bie Xnfialt »or fleh
felbfl aud) Äußerlich audldfdjen.
ÜÄißtrauifd) ging 3afob SWüller bie erften $age umher, immer auf ber
Vauer, ob ihn baheim nicht bod) jemanb fcheel anfahe ober einen fd)led)ten
SEBtt gegen ihn unb feine jüngjte Vergangenheit auf ber 3«ng« h«^- ®r
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202 Äurt Qlram : Sic ©ufcnnctbel.
hatte fo lange T>v übe gehalten, ber ganje Äärper tat ihm web, ba»on. Unb
in ben 3(nnmu*feln juefte cd juweilen, al* feinten fie fid) orbentlid) banad?,
enblid) einmal mieber fid) ju regen unb ju raufen. 3fber memanbem merfte
er etroa* an, ba* tb,n hatte »erleben fonnen unb 2fnlaß gäbe, feine au**
geruhten Ärafte ju erproben, deiner madjte aud) nur eine 2(nbeutung über
bie ,2fnftalt* unb feinen 3ufentt)alt bort, dr t)atte feine ©träfe »erbüßt,
mebj »erlangte ja nid)t einmal ba* Oefefc, alfo war bie Sadje erlebigt.
3(1* ßhrtfh'ne jafob Qttuller mieberfah, ladue fie laut auf über feine
ftdbtifdje Reibung. Sine fjeiße 9t6te flieg it)m in* ©efidjt, bod> er bedang
fid). TO er fie umarmen wollte, entwanb fie fid) ihm. (£r gefiel ihr nicht
mehr, gar mdjt. So fdjwammig war er geworben unb fo fi&btifd) »on bracht
unb ®efid)t*farbe. £a* mar ein ganj anbrer Sttenfd), nidjt metyr ber fd)6ne,
fd)(anfe ©auernburfd) »on früher.
3afob SWüller »erlief fie ftumm, legte ftd) aber in ber Stahe auf bie
Vauer unb ftanb bie tyalbt 9?ad)t tjintex bem erften ©aum im ©ra*garten
be* £aufe*, in bem (§!)rijtine wohnte. Uber er fonnte nidjt* SBerbädjtige*
bemerfen, rrofcbcm er fid) in feiner @iferfud)t immer mieber fagte, ffe muffe
e* mit einem anbern galten, fonjt fönnte ffe ibjt bod) nidjt fo betjanbeln.
<5r Ijordjte Ijerum im £orf, aber niemanb fonnte ber Ctyrifline etwa*
IIb ke nad)fagen. 9?ur mit bem (SfyrtjHan mar fie ausgegangen, unb ba*
tfattt ber 3afob ja felbft gewollt. Damit ib,m fein ftrember, berweil er in
ber 3fnflatt mar, ba* 2&abcf>en wegfdjnappte, Ijatte er felbft feinen ©ruber
gebeten, auf fie ju achten.
2(1* er uim erftenmal mieber mit ben ©urfdjen im 3Birt*tyau* faß,
unb jwar in feiner ftäbtifdjen äleibung, bie er nun erfl red)t nid)t mieber ab«
legte, fiel cd ihm auf, baß ber alte Stein (Ich gar mcM fehn lief. 3ucrft
bad)te er, ber 3CIte ginge nur ihm au* bem 5Öeg. ©alb aber merfte er,
baß Wlipp Stein überhaupt nidjt ba mar. Seife fragte er feinen ffladibar
nad) tb,m. Der fah, tfjn erftaunt an unb fprad) leife ein paar ÜBorte mit
bem ftolgenben, ber fie meitergab. Hüt ©urfdjen »erftummten unb bltcften
»erwunbert auf 3afob. 3Öußte benn ber wtrflid) nid)t? . . . ftreilid), wob.er
foßte er benn ba* wiffen, er mar ja in ber 2fnftalt gemefen bamal* . . .
£m . . . Sollte man barüber fpredjen? . . . SRein, lieber nidjt. @* tut nid)t
gut, menn fo etwa* laut mirb . . .
„3Öa* i* benn lo*? ©ringt feiner metyr '* 9Äaul auf?" fragte 3afob jornig.
^ie ©urfdien fd)miegen.
f.^*, %tau Stein, fommt emal tjcxl"
Vit alte $rau hatte bicher ftumm hinter bem Sdmnftifch. geftanben unb
nur ab unb .ju jornige ©liefe auf 3afob gemorfen, benn ba$ ber nun mieber
f)ier faß, baran fonnte fie fid) nur feftmer gem6b,nen. 3lber burfte fie ib,m
ba* Üßirt*hau* »erbieten? OBirt*hau* i\t ©irt*b,au*. Da fann jeber au**
unb eingebet, ber bejaht. Unb 3afob 2RüUer tranf nidjt wenig unb
bejahte fofort, benn er befaß »on ber Bnjtalt t)er immer nod) mehr bar ®elb
al* bie meiften anbern ©urfd)en. ®efd)Äft i|t ®efd)Äft.
Sangfam ndh,erte ftd) ^rau Stein bem $ifd) ber ©urfd>en.
„Sagt emal, wo i* Suer Sttann?" fragte Safob.
Tie grau fdjwieg.
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Äurt 'Kram : Sie ©ufennafcel.
203
„3* er immer nod) milb auf mtd)?"
Die ©urfd)en bttcften unter ftd).
„@o tut bod) '* 2)?aul auf! ÜBo fletft er benn?"
Die alte grau fal) it>n lange an, bann fagte fte: ,Mo er ftetft? Da
frag bein ©ruber!"
„Den <5!)rifttan?"
„Den Gljriftian."
SWißtrauifd) blidte Safob auf bie grau, „©ad meig ber baoon?"
„<5o frag en bod>!"
3afob flaute ftd) um. Ußo mar benn fein ©ruber?
Die alte grau bemerfte ben fudjenben ©tief, ein f>6t>nifdyeö ?dd)cln
glitt über iljr ®eftd)t. „SÖeißt bu nit, wo ber t$?"
„2Bo i* er benn? ffiann 3f)r'* fo genau mißt!"
„Der (5t)riftian? ©ei ber <£l)riftine id er, mo foU er anner* fein."
ffiie fp6ttifd) bie grau breinfat). 3Tud) bie anbern ©urfdjen matten
furiofe ®eftd)ter. ©ottte ba am (Snbe? . . .
Safob erljob ftd) langfam. „Da* mer'n mer ja feljn", fagte er be>
badytig unb verlief (angfam ba* 3immer.
9tid)tig, ber (Sljrijtian faß bei ber @l)rijtine im ©radgarten.
SRur ruljig ©lut! fagte 3afob ju ftd) felbjt unb trat aud) in ben ®ra**
garten.
„«ffiarum btft be nit im 2Birt*t)au*?" fragte Safob gereijt.
(Sbrijtian ladjte laut unb ofyne Verlegenheit. ,,3d)? Gri, »eil mer'*
bi*r beffer gefallt." 3ugleid) rittfte er beifeite, fo baß ber «piafc jmtfdjen
tbm unb C5hriilm r frei mürbe.
SWißtrautfd) blicftc 3afob auf bie beiben. "Über menn 15 bnfnan mirflid)
etwa* mit ber (Sfjrifline tjatte, mürbe er bod) ftdjerltct) ben *pia$ neben it)t
nicht ihm überlajfen. Orr fegte fid).
„ÜBa* i* mit em alte ©tein?"
„ÜÄit roem?"
„SRit em Wfipp ©tein."
Gljriftine ladjte. Gljrtftian madjte eine meite Ärmbemegung unb fdjwieg.
„gort?"
ßtjrijtian niefte.
„Sot?"
Öbnfnan nitfte mieber.
Die ©ruber fafjen ftd> forfdjenb in bie Äugen. Safob wußte nun,
ma* gefchetjen mar.
„®ing e* nit anner*?" fragte 3afob.
„(5* ging nit anner*."
„Un '* ©eridjt?"
„'* ®erid)t?"
„SDttd) tfdt mer bod) eingefperrt", fagte 3afob.
„(St no, mid) net."
3afob bliefte bulter »or ftd) l)in. Da* wollte il)m nid)t in ben Äopf.
Gr Ijatte ftyen muffen, unb fein ©ruber, ber ba*felbe getan, follte frei au**
geljn? Da* mar bod) feine ©eredjtigfett.
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204
fturt Hvam : 2>ie ©ufennabcl.
Sfjriftine faf) bem 3afob an, ma$ er bad)te, unb eö mürbe ihr gang
unbeljaglid). dv wirb bod) nidjt 1 ingel)n, unb ben eigenen ©ruber
anzeigen? backte fie, bamit er aud) in bie 2fnftalt muß unb bann aud) fo
mieberfommt, fo fdjmammig unb fjaßlid) unb ftabtifd)? Da* wärt ja nod>
fd)6ner. Daju fjatte ber Safob fein SRed)t. Dem ßf)ri|tian ba« anjutun!
©te legte il)ren 3(rm um 3afob$ #al*. „©ad be e fd)6ne 9?abel an
ber ©ruft 1)0(1", fagte ffe, nur um etmae ju fagen, unb meil fte annahm,
ba* mürbe ihm fd)meid)eln. Gre" fdjmeidjelte ihm aud), benn gerabe vfhriftine
r>attc ja feine flabtifdje jfleibung bi«f)er nid)t gemodjt unb il)n beefmlb aud*
geladjt.
@r nafmt bie SRabel au« ber Äramatte unb ließ ffe im 2id)t ber unter*
geljenben ©onne funfein.
3TUe brei bejtaunten (lumm ben falfdjen Diamanten, ber balb blau,
balb rot unb bann mieber meiß aufbiete.
„©d)6n i6 ba$!" fagte (£t)rifhne fdjließlid), fd)mer atmenb.
„SWagft bu 'n?" fragte Safob.
ßfjrifiine faf) if>n »ermunbert an.
„Cb bu 'n magft?"
Da fiel <51)riftine bem 3afob ladjenb um ben #ald unb fußte tfjn.
vi'r moUte ihr mirflid) ben Stein fdjenfen? Unb ob ffe ihn mod)te!
„kriegt mer fo mae jum 3lbfd)ieb in ber Bnftalt?" fragte @f)rifttan
fjamifd).
3afob moUte auffahren, aber @f)riftine fjielt if)n fo fejt, fußte fo Ijetß,
baß er in ihrer Umarmung blieb, ©ie fd)(ang bie 3lrme nod) enger um
ir>n unb brüefte feinen Äopf miber ifjre ©ruft, fo baß er md)t fel)n fonnte,
mie ffe bem (§l)riftian gublinjelte, er folle Stufje geben unb nid)t mieber auf*
faffig merben.
Gfjriftian errötete leidjt unb faf) beifeite. 2Be«f)alb marf ifjm ba«
SKabdjen foldje ©litfe ju? SKodjte jte it)n am @nbe bod) lieber al* ben
©ruber? @« mürbe ifjm ganj marm, benn bi«f)er fjatte er foldje ©ebanfen,
faum taud)ten ffe auf, energifd) »on fld) gemiefen. Sie get)6rte nun einmal
feinem ©ruber, ©djabe barum, jebod) eejmar einmal f o . . . Uber menn
@f)riftine itjn fo anfaf)? . . . (5r erf)ob ffd).
©ofort f»rang aud) (5t)rifh*ne auf, bie ©ufennabel mie eine ©eute in
ber J&anb oerborgen, unb (ief in« Jßauö.
©tumm fdjritten bie ©rüber burd) bie Dorfftraße.
MÜBof)in?" fragte (Sljriftian, »ermunbert, baß e$ nidjt jum ffiirtäljau* ging.
„3um ©ürgermeifter", ermiberte Safob.
„3Ba* miHf* be ba?"
„Da* get)t bid) nir an."
ßfjrifrian ballte bie Raufte. „Du! nimm bid) in ad)t!"
3afob ladjte Mnifd) unb ging meiter. @f)riftian blieb jurütf unb
oerfd)manb in bae 2Birtei)au*.
Der ©ürgermeifler faß über bem gelben Jßeft eine* Äolportageromane
unb mar gar nidjt erfreut, geftört ju merben, benn er la$ fold)e ©adjen
für fein ?eben gern.
„2ßas miaft bu benn nod)?"
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Kurt 'Xram : Sie ©ufcnnabel.
205
„3d> hatt' ebbe* $u frage."
,,©o frag."
„9Bie ifl ba* mit cm alten Stein?"
„SRcr meint, bu wüßt nir, baß be fo fragfl?"
„Cut weiß aud) nir."
„SBer meint, bu fönnfl bcd aber am belle wtffe."
3afob fd)Wteg, ber ©ürgermeifier fdjwieg.
(Jnblid) fagte 3aFob fyaflig: „SBarum t>at mer 'n nit angezeigt ?"
„5Öa$?" Der ©ürgermeifier war jlarr.
„SÄid) t>at mer angezeigt un eingefperrt."
„Dein ©ruber, bein leibhaftige ©ruber willft bu . . .?"
3a?ob nitfte.
„©urfd), bifl be ndrrifd) wor'n?"
„Söa* mir red)t ifl, ifl bem billig."
Der ©ürgermeifier fl6t>nte: „2tU bie ©d)ererei unb ©Treiberei 1"
„©et mir fyabt 3hr fe eud) gemacht."
„Da wüßt mer'e* nod) nitt fo."
Der ©ürgermeifier lief unruhig burdjd 3tmmer.
„92ir wie Unglürf, lauter Unglücf!" Der ©ürgermeifier fl6(>nte wieber.
•p 1 6 P 1 1 di blieb er erfdjrocfen mitten im 3nnmer (lehn. 5Bad würbe baä
Bericht wohl fagen, wenn ^eraudfam, baß er, ber ©ürgermeifier, Idngft
»on bem SBerfdjminben M alten ©tetn gewußt unb bod) ntd)t 3(njeige er»
ftattet harte, wie e* feine 9>flid)t gewefen wdre? 3fm €nbe fam er fclbfl
bann nod) in* Oefängniä. Dem ©urgermeifler brad) ber 2lngflfd)weiß au*
aDen ^oren. Dad burfte nid)t fein, unter allen Umfldnbcn mußte er baS
»erhmbcrn. <2rd wdre ja nod) fd)6ner, wenn er mitleiben müßte, wo er bod)
nid)t* ©6fe$ getan, wo er e* bod) nur gut gemeint hatte mit feiner ©e*
meinte, waö ja aud) jeber im Dorf wußte unb billigte.
3afob (ab wot)(, roae mit bem ©ürgermeifier oorging. 3Benn er ben
©ruber anzeigte, ging cd aud) bem ©ürgermeifier fd)lcd)t. Unb aud) allen
anbercn im Dorf ging e* übel, bie barum gewußt. #aha, nun hatte er
bte ©emeinbe! . . .
3afob war pl6$lid) entfd)loffen, »orlduftg feine 2fnjetge $u erflatten,
bte Süajfc, bte er in ber Jßanb hatte, nod) nidu ju gebrauchen.
„ffieißt be aud), weshalb ber @hriflian ba$ getan (fat?* fragte ber
©ürgermeifier unb wifdjte ffd) bie ©tirn.
3afob jutfte bie 2ld)feln.
„%ur bid) hat er'* getan, jawohl, nur für bid)! weil ber ©tetn bie
Änjeig gemad)t gege bid), bedljalb f)at cr'$ getan!"
„Un bie annern?" fragte Safob.
„Söer?"
„Die annem, bie ©emeinbe, bte'ä bod) weiß?"
„Einmal t^avoe mer un« bie Ringer oerbrennt. Unfer £ebbeäbag nit
wibber!"
Der ©ürgermeifier trat bid)t oor ben ©urfd)en hin. „SCiup mer benn
alle* an bie groß ©locf h^nge? Sttuß mer benn bie J^errn oom ©erid)t
un bie £eut ba brauße in all unfer Dtppdjcr guefe lajfe?"
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206
Äurt Kram : Sie Q3ufennobel.
3afob fanb, baö (et freilich ntcfit nötig.
„9?a alfo!" fagte ber ©ürgermeifter. ,,5Öa« gefdjeljn i«, i« gefdjeljn,
ba beißt fein 2Äau« fit gäbe ab- ©«belfert wirb nir, wann mer aud) bie
©ad) wibber publif mad)t."
Da« f6nnc fd)on fein, meinte ber ©urfdje.
Der S>urgermeifter atmete erleichtert auf. Der Safob festen ja wieber
bei Vernunft.
(Sine ©eile ging ber ©urgermeifrer forfdicnb um ben SÖurfdjen brrum.
<Sd)led)t (ab, er au«, alle«, wa« red)t ifh 9*un, ein Vergnügen war ei ge*
wiß nidjt, tjinter £d)loß unb fRtegel $u »enn man an freie Bewegung
unb frifrfje ?uft gemeint ift. Der ©urfdje tat ib,m (eib. <&r fühlte ba«
Söebürfni«, ihm etwa« greunbltdje« fage», ihn einen guten, väterlichen
SKat ju geben. <S« fennte ja aud) in feinem gall fdjaben, wenn man fid)
ihn jum greunb madjte.
„©eißt be wa«, 3afob?"
„9*o?"
„heirate foflfi be!" plafcte ber ©urgermeitfer bereue.
„5öarum fo fd)nell?" Safob würbe fofort mißtraurifd).
„Stto . . . id) mein al« . . . e« tut fei gut . . . fo allein wie bu . . . un fo
in be red)te 3al)r."
SÖieber mufterte iljn ber ©urfdje mißtraurifd).
w3d) mein'* gut mit bir, Safob. @« iß nur e Ijalbe« Sebe . . . fo . . ."
Safob lad)te. „Da« fagt 3l)r, 3i)r, ©urgermeifter, 3ljr mit £urer
grau?!"
„9io ja, e« i« fei (Sfjrifiine ..."
„<5o? . . . 2flfo bie Gl)riftine . . ."
9?un flanb ber ©urgermeijter (HU unb Safob lief um ihn herum.
„«Oaft be alleweil ebbe« gege bie @t)riftine?"
3afob lief immer nod) ftumm um ib,n b,erum.
9>l6fclid) faßte er ben ©ürgermeifter am Stocffragen, baß er tjeftig er*
fdjraf, benn, wenn einer erft einmal gefejfen Ijat, fann man if)m alle« jutrauen.
Safob lad)te unb ließ ben SXocf wieber lo«.
„edjrerfljaft feib 31)r, ©urgermeijler!"
Der ©ürgermeifler leugnete, Iddjelte unb behauptete immer wieber,
er fei ganj unb gar nid)t fdjrecftjaft. Der fcurfdje patfte it>n wieber unb
jifdjelte: „£at fe wa« mit bem ßbjrtflian gehabt, al« id) fort war?"
Da lachte ber Q3urgermeifier laut auf. ,.<cc t Dummheit, fo r
Dummheit! ©ifl be eiferfudjtig? ©ar nir b,awe fe jufamme, gar nir, id)
fdjw6r ber1« ju, id) weiß bod), wa« l)ier paffiert."
2Merbing«, 3afob wußte, bie Q3urgermeifterfd)e war ba« größte jtlatfd)*
maul weit unb breit. 2Benn bie nod) nit ihr boö 3ung $wifd)en ben (Shriitian
unb bie (5t)ri(Hne gelangt Ijatte, bann war gewiß nid)t« pafßert.
„2llfo, ©nrgermeijter, beftell un ridjt e« Aufgebot!"
„Da« i« redjt, fo gefaUft be mer, 3afob!" (Sifrig fudjte ber ©ürger*
meifler im 3immer, bxad)tt Rapier, gebeulter unb Sinte Ijerbei, fanb feine
©rille unb mad)te fid) 9lotijen.
„®eburt«fd)ein, $auffd)ein?M fragte ber ©ürgermeijter.
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Kurt 3ram: £)ie ©ufennatel.
207
„Da* bring id) bcr morgc ober itbermorge."
„Eigentlich . . . »rißt be . . . et) ich bie <paptern hab, fann ich nir tun."
jafob lachte fpittifch auf, fo baß ber ©urgermeiftcr von wetteren
Sinwanben abftanb unb in feinen 9?otijen über ben Bräutigam unb bic
©raut fortfuhr. Hb unb &u fragte er ben 3afob nach einem Saturn, ob*
wohl er in bem fleinen Dorf über alle* genau ©efcheib wußte. 'Aber e*
machte ft<h beffer, fab mehr nach Obrigfeit au* unb flößte öieHeicht SRefpeft
ein. 2Tb unb ju warf er einen prüfenben Seitenblitf auf ben Bräutigam.
Da* fp6ttifd)e Auflachen eben rjattc ihm gar nicht gefallen, ba* Du fagen
erfl recht nicht. 2lhnte, wußte ber ©urfch »iclleicht gar, »ad für Unannehmlidi*
feiten er ihnen allen unb it)m befonber* bereiten fonnte, wenn er boch noch
ben ©ruber jur 3(njeige brachte, wenn er nur batnit brot)te?
3afob ging wieber tn* 3Birtt)au*. Der ©ürgermetfter wollte an feinem
Äelportageroman weiteriefen, fanb aber auf einmal feinen ©efehmaef baran-
©ottverbeppel, ber Schrecf wegen bcr 2hijeige faß if)m noch in allen ©liebem !
£in unbehagliche* WchiM, ju wifien, ba iji einer, ber bich jeberjett an*
»Keffer liefern fann. ®ut wenigften*, baß ber Safob fo balb heiratete. Da
befam er anbre ©ebanfen unb (Sorgen in ben Äopf, ba würbe er fo balb
nicht wieber an fo wa* benfen.
obrunan war noch im $Birt*hau*. 3afob fefcte (Ich neben ihn unb
tat, al* merfe er nicht, wie unfreunblid) ihn alle ©urfeben mufterten. @h"ft»an
hatte ihnen nämlich berichtet, womit fein ©ruber ihm gebroht.
„3ch t)aVi Aufgebot bejtellt", fagte 3afob unb bliefte ben ©ruber fcharf an.
(^hriftian fuhr jufammen. Hbtx 3afob fonnte nicht wifien, ob ba«
wegen be* Aufgebot* gefdjah, ober weil er bie Sorge lo* würbe, ber ©ruber
Ijatte bie 3fnjeige gegen ihn oerlangt.
Die anbern ©urfchen würben fofort wieber freunblich. Sie fanben,
e* fei recht unb gut, baß er gleich mit bem Jßeiraten ernft mache. So fam
bie @hriitine boch enblich oon ber ©afp unb madjte niemanb anberm merjr
unnüfc Appetit.
(§hri|line felbjt war burchau* nicht erbaut. „Da fragt mer boch erfl!"
fchalt fie. „©ad i* ba noch lang ju frage?" erwiberte ber Üjafob. „Ober
magft be nit mehr?" @h"ftine antwortete, fo fei e* nicht, aber fchließlich
habe fit bod) auch noch ein ©ort mitjureben, wenn bie ^ochjeit feftgefefct
wirb. UBarum er e* benn auf einmal fo eilig habe?
„?ang genug h^we mer gewartet."
Da finne e* auf ein paar SBodjen langer erft recht nicht anfommen,
meinte ba* SRabchen.
„<** i* fchon beffer fo."
(fr wellte mit ihr in* #au*, fie ließ e* aber nicht $u.
Sange iah ffe ihm au* bem ^enfter ihre* 3i>nmer* nach* Sftein, nein,
fte mochte ihn nicht mehr, gar nicht mochte fie ihn. dv war fo gewalttatig
unb eigenjTnnig, fragte nach niemanbem unb tat immer nur, wa* ihm gerabe
in ben £opf fam. Sie ballte bie Raufte oor 3orn. Sticht einmal wegen
be* Aufgebot* fyatte er ffe erft gefragt, nicht einmal ba*. 211* wenn e*
ganj felbfluerftanblich wäre, al* muffe fie ihn h^raten. Unb fo balb fchon!
Äennte ffe nicht auch »h"n Äopf auffegen unb wenigften* Perlangen, baß
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208
Äurt Uram : Sie ©ufennabel.
man bamit noch warte, bi* e* ir>r paffe? 3fbcr fTc f)atte QTngft »or ihm,
feitbem er gefejfen. (Jr freute je$t gewiß überhaupt feine ©eroalttdttgfeit
mehr. Sic biß ftcf) bie kippen wunb cor ohnmächtiger 5ßut.
©ing bort nicht ber (Srjriftian?
@ie minfte il)tn fetfe mit ben Äugen, er r)ufd)tc in* £au*, auf tt>r 3immer.
2fl* er »or it)r ftanb, befam (5t)rifttne einen tüchtigen ©djrecf. 5Öa*
wollte fte eigentlich je$t mit bem nod), n>o ber anbre fdjon ba* 3fuf*
gebot be(teUt hatte? Unb wenn 3afob, ber fo eiferffidjtig war, gefeljn Ijdtte,
wie fein ©ruber ju ir>r in* £au* t)ufd)te, auf iljr 3immer fam, wa* fte
tljrem ©rautigam eben nod) oerboten Ijatte? . . . ©ie warf tro$ig ben #opf
jurücf. 3d) wa*, nod) waren fTe nidjt »erheiratet, nod) fonnte fTe tun, wa*
ihr gefiel, jumat wenn e* nidjt* ©djledjte* war.
'Und) bem (Stjrifhan war ei niö)t beljagltd), al* er fo bei ihr, allein
mit ihr in bem Limmer ftanb. $Br*()alb war er eigentlid) iljrem 2Binf,
oljne ftd) erft lange ju beffnnen, gefolgt? <ir wußte e* nicht. 3f6et nun
war er einmal ba unb fonnte bod) nidjt gleid) wieber fortlaufen wie ein
bummer ©ub, ber über bem #onigtopf ermifdjt wirb.
©tjne baß einer »on beiben etwa* fagte, fe$ten ftd) beibe, unb jwar
weit »on einanber fort.
Sttad) einer Söeile fat) (SljrifKne in bie J^6r>e unb fagte leife: „3dj mag
<n net!"
(Sbriftian fprang auf, fe$te f!dj aber fofort wieber.
©eibe fd)Wiegen unb blieften unter f!d). rem Qljrtftian iam e* eigene
(id) jci5t erfl ganj $um ©emußtfetn, wie gern er ba* Üfiabdjen all bie 3eit
gehabt, wie er ftdj, berweil fein ©ruber fort war, an fie gew6tjnt Ijattr.
(£in guter fötmerab war fte ihm gewefen. 2(ber je$t, wo ffe in bie Jpdnbc
übergeben follte, für bie er fte gehütet l)atte, je$t far> er nur \u gut, baß fte
nidjt nur fein guter tfamerab war. (Jr fnirfd)te mit ben 3dljnen.
„Sttur nod) oier SÖodjen!" murmelte Gljriftine.
„6o fd)aff en wibber ab!" rief ber ©urfd).
„(Sr fchldgt bid) ja tot!" fd)ric ba* 9ttdbdjen unb warf fld) an
feinen Jßal*.
Srft wehrte ftd) Gtjriflian, balb aber erwibertc er bie tfüffe, gaben
fte ftd) einanber hin.
,,3d) werb ba* mit bem Safob in bie SXeitj bringe", fagte obriftian
unb wollte gehen. 'Aber baß 2Bdbchen ließ ihn nicht eher fort, al* bid er
ihr feft »erfprodjen hatte/ ba* ihr ju überlaffen. (Sie werbe rechtzeitig mit
bem Safob reben unb alle* in Drbnung bringen. 3br werbe er fdjon nidjrt
tun. Unb ba ba* SEdbchen nicht nachgab, »erfprach ihr ßljriltian, ju fchweigen,
fte porlduftg nur heimlich ju fehn.
©eit ba* Aufgebot im Mafien an ber ©urgermeifteret tjtng, war Safob
ruhiger, 9iun fonnte nichts mehr bajmifchenfommen, nun war ihm ba*
«Nabchen bod) ftdjer, für ba* er eine SMutfchulb auf ftd) geloben, für ba*
er jahrelang hatte fi$en muffen. Buch gegen (§brifiian war er wieber
freunblich, tro$bem ihm ber jrtjt au* bem SÜege ging unb feinen Umgang
mieb. dluxif fte würben ftd) fchon wieber in einanber ftnben, wenn ühnftian
erfl wußte, baß 3afob nicht* mehr gegen ihn hatte unb ihn gewiß nicht
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fturt 3fr am : Die ©ufennaftel
209
anzeigen mürbe. ICer ©ürgermeifter Ijatte fo unrecht nidjt, n>enn er be*
haurtetc, C5hnilian habe im ©runbe au* Siebe ju feinem ©ruber fo an bem
alten ©rein gefjanbelt.
dlut noch merje bn Sage, bann mürbe bie Trauung fein, unb irrrnr in
ber alten Keinen äapeOe in ber 9?af)e be* ftriebbof*, bie auch bei folgen
(Gelegenheiten benu$t mürbe, menn e* ein ©emeinbemitglieb münfd)te unb
bem Pfarrer biefen ©ang bejahte. 3afob aber munfdjte au* »erfdjiebenen
drunten, bafl bie Srauung Ijier unb nicht im &ird)borf »or ff cf> ging. Grinmal
$alt ba* meljr im X>orf, ba e* etma* feftete, unb bann mochte er fld> unb
feine ©raut am aHermenigfien bei biefer ®elegenl)ett ben 3fugen be* ganjen
HircMpielö au*fe$en, ba* im Jfirchborf gemifl jufammengefrrimt mdre, um
biefe Trauung fid> anjufefyn. 2fuch mar e* bem 3afob lieber, menn ber Pfarrer
fdjon eine Xnbeutung auf feine 23ergangent)eit mad)te, rvai ihm jujutrauen
mar, ba* blieb im £>orf unb mürbe nicht »om ganjen £ird)fpiel gehört.
-Der ©räutigam lag frfion ;u 3>ett, al* enblid) ohriüuin, ber jefct
immer recht f p A t fein ?ager auffuchte, in* Schlafzimmer trat, ba* er mit
bem ©ruber teilte. Safob l&chelte jebe*mal, menn @l)riftian fo fpät fam,
ließ fid) aber nicht* merfen. Offenbar f)atte ber ©ruber einen Scha$ ge*
funben, ber tyn fo Tange jurütfljielt.
SorfTdjtig blinjelte 3afob hinüber *u feinem ©ruber, benn e* mar
SoUmonb unb recht bell im 3»nmer. 211* er merfte, bajj (ibrifhan ihn
forfd>e»b anfab, fdjlofl er feft beibe 3fugen, benn bem Gljriftian mar e*
offenbar nid)t angenehm, beobachtet ober gar aufgejogen ju merben, fonft
hatte er Safob gemtfl langft eine Mitteilung über feinen Schag gemacht.
Xber ma* trieb benn ber (5 bn (hau, baß er immer nod) nicht im ©ett
(ag? SBorfichtig öffnete jafcb mieber bie 'Augen ein menig unb blinzelte hinüber.
obrulian hatte feinem ©ruber ben SKücfcn jugefefyrt unb betrachtete
augenfeheinlich irgenb etma* mit großer 2Tufmerffamfeit, ba* er in ber rechten
£anb Ijielt. 3Ba* ba* mobl fein mochte? (Sin ©Üb oon feinem ©d)a$
ober Dergleichen?
Seife nat)m Safob eine Sage ein, in ber er feinen ©ruber beffer beob*
achten fonnte, unb fchob ba* tfopffiffen oorjichtig f)od>, fo bajj fein ©eficht
im «Schatten lag. 3mmer noch ftanb (ätyriftian unb feufjte ab unb \u, fo baß
Safob am (iebften laut aufgelacht hatte. 3« fomifd) biefer oerliebte ©ruber!
Ob fte ihm noch miberflanb, ob fte ihn nid)t eintief, baß er fo flaglid) tat?
iM6Blid) fuhr 3afob het na, jufammen. 3Ba* mar ba* gemefen? Sein
©ruber hatte ben rechten 2frm erhoben unb für einen 2(ugenblict blüue ba
etma* auf, ba* . . . Stein, e* fonnte nicht fein, er muß te ftch getaufcht haben . . .
„©chlafft be, 3afob?" fragte SrjrifHan leife, „ober bift be noch mach?"
Safob marf fleh fycfttg, mie ein Sdjlafenber $u tun »flegt, l)erum, nadj
ber OBanb ut unb fchmieg.
$* bauerte noch eine ©eile, bann mürbe e* flitt im 3immer, aud)
€l}riftian lag in feinem ©ett.
„Äalt ©tut! fatt ©fut!" foradj e* in Safob. @rfl ©emifJjeit f)aben,
nid)t gleich jufc^fagen. <5r mußte ja, ma* für fchmere folgen fo ma* \)abtn
fann . . . Äber Ijotte er nic^t ben ©urgermeifler unb bie ©emeinbe in
ber Jßanb? . . .
Äübbr utfebf Woiutt«^fte. II, 3. 14
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210
fturt Hvam : Die ©ufennabel.
jafob richtete ff cf> »orfid)tig auf unb (aufarte, 3f)m fcbic n, al* febnarche
fein trüber. £8orfid)tig fehheb er jum Sag er (ihriftion*. Wahrhaftig, rr
fcf>ltef fefh ?eife burd)fud)te Safob feine* ©ruber* Kleiber unb fanb fdjließlid»
bie ©ufennabei, bie er Srjriftine gefdjenft hatte. ®ab e* ba nod) einen
3weifel? ©ein ©efte* r>atte fte feinem ©ruber gefdjenft! . . . 9*ur rurjig,
©lut! rur/ig ©tut! . . . <5t)rifhne war launifd), e* fonnte f!d) auch um
einen ©djerj, einen 3Bi$ tjanbefn.
3afo6 braute ben unechten diamanten wieber an feinen Ort unb
fdjfid) fid) feife, oorfidjtig ju feinem ©ett juruef .... ©enn wieber ein
Unglücf gefdjeljn mußte, bie*ma( feilte e* nad) reiflicher Überlegung, ohne
Übereilung gefchchn. 2Tm borgen 30g fT<f> 3afob eilig an unb crflarte bem
©ruber, er muffe nod) einmal in* ^farrborf, er habe pergeffen, bie Sraujeugcn
ju nennen, übtr er ging nid)t weit, fonbern »erfietfte fid) in einem ©efrnipp,
von wo au* er bie Dorffhraße, in ber Qtyriftine wohnte, überblicfcn fonnte.
Sffienn aber einer porüberfommt unb bid) ficht? fd)oß e* ihm burd>
ben Äopf. ©, e* fottte nur einer fommen unb fid) »erwunbern, er wollte
e* il)m fd)on auftreiben ! 2fber fo oief er aud) fparjte, fo lange er aud>
au*l)arrte, er far> n>ol>( bie <§t)rifrine perfdjiebentlid) au* bem £au*
treten, aber immer wieber bafb allein jurutffommen. Den Gbrifrian fa(> er
überhaupt nidjt.
3(m folgenben $ag benahm er fid) fluger, er paßte einfad) ju
£aufe auf feinen ©ruber auf unb fd)Kd) irjtn nad», wenn er einen
Xu*gang hatte.
<&nb(id) am britten $age, gegen 3benb, merfte er, wie (5hrifrian, un»
ruhiger ai* gewöhnlich, fid) $ured)t machte, auf ber Strafe nad) red)t* unb
linf* fpahte, ob ihn jemanb beobad)ttf unb bann (angfam nad) bem nahen
Äiefernmalb $u »erfdjwanb. Safob fludjte nid)t wenig, benn er fonnte it)m
erft nad), ai* GtyrifKan fd)on im ©alb war, ba e* bi* ju i!)m feine ftdjere
Derfung gab, er aber unter feinen Umfi&nben »on feinem ©ruber bemerft
werben wollte.
S3orfid)tig »erfolgte 3afob be* anbern ©pur, bie fldj aber auf bem
nabelbeßreuten ©oben be* ffiafbe* balb »erlor.
Safob flanb unb uberlegte, wohin ffd) tfhnftian wohl gewanbt haben
fonnte. ffiar nicht in ber 9?abe ber große Sumpf, ba* £eedjer üttoor, wr>
rjin feiten jemanb ging? Da* wäre fion ber redjte £)rt für ein ©tettbidv
ein, »on bem niemanb wiffen barf. rahtn feblich ffd) 3afob, unb rid)tig,
am ?eed)er STOoor flanb @f>riflian unb wartete. 3m ©d)u$ ber ©Äume
wartete 3afob ebenfafl*.
Die ©onne ging unter, immer fliller würbe e*, nur ab unb ju freifd)te
ein J£>at)er, unb bann fingen bie gr6fd>e an ju quafen.
Da — Safob preßte beibe ftaufle »or ben 2Bunb, baß jtd) it)m fein
Saut entrang — ba fam Gtjrifline tanjelnb, Iddjelnb auf @l)rifrtan ju, ber
feinen rechten 3trm um iljre #ufte fdjlang.
Die beiben fprad)en feife, aber erregt mit einanber, oljne baß 3afob
ein ÜBort »erflet)en fonnte, ba er gu weit pon ihnen entfernt war. <Sr war
fd)on im ©egriff »orjufpringen, ba fah er, wie <5f)riflian bem 3Wdbd)en bie
©ufennabel juruefgab. Tim (5nbe ifl bod) aDe* nur ein fjarmfofer ©d)erj.
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Äurt Kram : X)ie ©ufennabel.
211
badite Dafob unb grub feine Jßanbe in bie SXinbe be* ©aume*, rjinter bem
er ftanb unb wartete.
3afob wollte auf beibe laut fdjreienb lo*ftürjen, aber fein fdjon ge*
offneter 9Äunb fd)loß ffd) wieber, leife fdjlid) fr ffd> naljer, unb rrft al* er
bidjt Ijinter ben beiben jtanb, bie nid)t tj&rten unb nur mit fid) befdjaftigt
waren, futjr er mit einem milben 6d)rei bem (5f>rtfltan »on rücfwdrt* an
ben £al*. @r>e ber fo jatjling* Angegriffene nod) red)t jum ©emußtfein
feiner Sage fam, füllte er ftd) fdwn t)od> gehoben unb in ba* SRoor geftürjt,
in bem er langfam, ohne einen Saut »on fid) ju geben, wie erftarrt oor
Sthrecf, bie Augen auf ben ©ruber geheftet, »erfanf.
SDttt fdjäumenbem Sflunb fulyr Safob nadj bem SÄdbdjen. Aber GrjrifKne
war langfi laut jammernb fortgelaufen unb nicht mehr gu erreichen.
Da* gefdja!) ad)t Sage »or 3afob* J£>od)jeit, bei ber @t>rifltan Srau*
jeuge fein follte.
3.
heftig geftifulierenb, in halblauten <Eelbfigefpräd)en fd)ritt ber alte
Pfarrer auf bem 2Beg nad) bem ffialbborf barjin. Da bie 9Balbb6rf(er gar
md>t mein* in feine Äirdje famen, tjatte er befdjloffen, bei ber «Oodjjeit be*
3afob SÄütter md)t wie gewdrjnlidj eine fleine Sraurebe gu galten, fonbern
eine ganje, ausgiebige <Prebigt. di galt, tiefe ©elegentjeit, auf bie er fdwn
lange gewartet hatte, ju nufeen, enblid) einmal biefem Dorf, ba* gewiß in
all feinen ©liebern in ber Capelle »erfammelt war, in* ©ewiffen $u reben,
ihnen ihren gottlofen Paneel fraftig vorzuhalten unb fte laut auf ben 3Beg
ber ©uße gu rufen. Der alte Jperr war ein weicher, gütiger «Wen f et), ber
gerne ^rieben hatte mit jebermann, aber ba* war benn bod) ju viel, wa*
er an biefer ©emeinbe erleben mußte. Daß ein ganjer £)rt feine* £ird)*
fpielö fld) überhaupt nid)t mehr um bie ^rebigt fümmerte, nicht einmal mehr
ba* Abenbmabl begehrte, nie fyatte er ba* für m6glidj gehalten. (5* ging
nid)t anber*, l)ier mußte man enblid) einmal fdjarf auftreten. Der alte #err
erfdjraf jwar, wenn if)m bei feiner ^rebigtmebitation gar fo jornige SBorte
auf bie Sippen traten, tjielt fle aber nid)t jurücf, fonbern fprad) fTe erjt red)t
laut unb beutlid) au*, wie um flcf> an fte ju gewönnen. £eute ober nie
mußte er biefe »erwilberten J&erjen bi* in* Snnerfte treffen, bamit fte in fidj
gingen, 8>uße taten unb wieber in bie &ird)e famen.
Aud) ba* war nidjt gut, baß ber ©djullerjrer in ÜBalbborf au* biefer
©emeinbe flammte. @r befaß genau benfelben harten unb eigenftnnigen
Schabe! wie bie anbern unb hielt natürlich in allen Dingen ju ihnen, mit
benen er »erfippt war. 9?ie erfuhr ber Pfarrer oon bem nun auch fdjon
alt unb grau geworbenen Cerjrer etwa* interne*, Sntime* über bie 2Balb*
borfler, wobei er fTe innerlich tyatte faffen unb aufrütteln f6nnen. Durd)
bief unb bünn ging ber Setjrer mit ben beuten. 9h'e follte ein 6d)uller)rer
au* bemfelben Srt flammen, in bem er fpÄter amtiert, ^retltc^, freilid) —
ber ©eiftlid)e feufjte — ba* war reicht geforbert unb aufgehellt, benn ein
anbrer Serjrer ging nid)t in bie* gottoerlaffene Olefh ©eit »ielen ©enerationen
fanb fTd) auf bie Dauer immer nur ein @in[)eimtfd)er für bie* Amt. Die
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212
Äurt 'Xram : Die Sßufennabe L
anbcrn gelten e« nod) fein 3at)r au«, auch waren bie meiden »iel ju ehr*
geijig, um hier langer ju bleiben, ©ie wollten »orwärt« fommen unb nid)*
in bem einfamen 2Balbborf »crgeffen »erben.
Der alte Pfarrer hatte gerabe in ben legten 3Bod)en oft genug jur
©tdrfung feine« eignen Sngrimm« in ber 9>farrd)ronif gelefen, wie bie«
fletne ffialbborf »on icher unb für alle feine Vorgänger ein rechte«
<5chmer$en«finb gemefen war, wie ffe jufammen hielten wie pVch unb ©chwefel,
wie fte jeben Auswärtigen l)tnau«biffen unb ntd)t er/er ruhten, al« bi« ffe
wieber gang unter fl* waren.
&o»ffd)üttelnb, feufyenb, heftig geftifulterenb fchritt ber alte ^>err weiter
auf bem ihm fo fchweren ®ang ,5 um 5Balbborf, wo er al« ein feuriger
Sefaja« auftreten foUte, wahrenb er bod) ein nur ju milber Sohanne« war.
311« er in bie SRdhe be« Dorfe« fam, blieb er ffrr/n unb laufdjre »er«
wunbert. 9hm, wo blieben benn bie SB6Uerfd)ttffe, mit benen gerabe hier,
wo alle« wilberte unb mit $ul»er umging, bei folgen Gelegenheiten nicht
gefeart würbe? ©onberbar. 2Öaren bie Seute am (Snbe bod) anber« ge*
worben, in fld) gegangen, nod) be»or er ihnen geprebigt l)atte? ©d)on
wollte ber ©eiftltchc erleichtert aufatmen, ba fuhr er erfchroefen jufammen,
benn gar nicht weit von ihm ging ber erfre 936llerfchuß lo«. SWan hatte
bamit augenfeheinlid) nur gewartet, bi« er in Sicht war.
Snergtfch, flammenben ©lief«, betrat ber ©eifHidje bie Dorfftraße unb
fchritt jum ©d)ult)au«, bort feinen $alar anjujierjn.
Der Lehrer fam ihm heute ganj anber« »or al« fonft SSiel
freunblicher. ©ot er ihm bod) fogar etwa« $u ejfen unb ju trinfen
an, wa« er früher nie getan, weil er felbft nid)t »iel hatte unb auch,
red)t geijtg war.
Db er mid) milbe ittmmen will, weil er ahnt, baß e« heute fd)arf
hergehn wirb? badjte ber Pfarrer.
2fud) ber .fttrchcnyorfteher, ein alter, arbett«gebücfter S0?ann, unb ber
©ürgermeijler erfchien. 23eibe machten fld) um ben Pfarrer ju (ch äffen.
Ö« nufct eud) bod) nicht«, bachte ber, einmal mußt ihr bod) bie ungefd)tninfte
ÜBahrheit h°«n. (£« freute ihn aber, ju fehn, baß man heute offenbar
2lngft »or ihm hurte.
Da« ®l6cflein auf ber Capelle begann ju lauten, man fe$te ftd) in
Bewegung, ©onberbar, bad)te ber Pfarrer, wie »tele fich mir anfd)liefen.
Da« war bod) fonjl nicht ©rauch. Da ging er allein mit bem ©chulmeifier,
unb erft, wenn er im Äirchentfuhl faß, erfdjienen langfam, beh&big bie
Kirchgänger. Unb wie ffe auf ihn blirften, ihn grüßten? $aft »erlegen.
3a, ja, ffe hatten alle ein fd)led)te« ©ewiffen, ein fehr fd) [echte«, feine 2Borte
würben auf guten ©oben fallen.
Die alte Capelle, au« büfteren Duabem gefügt, war fo fleht, baß
ffe bie Seute be« Dorf« faum faßte, wenn ffe wirfltd) einmal alle
hinein wollten, unb ba« wollten ffe heute. Die fötnjet würbe nicht »on
©Aulen getragen, fonbern »on bem in halber £61) c burchfdgten ©tamm eine«
alten (fichbaum«, auf bejfen Durchfchnitt ber ©etjtliche mit ber Bewegung
feiner ftüße angewiefen war, wenn er auf ber Äanjel ftanb. Sor ihm, ju
feinen pßen, auf langen ©änfen mit fchmalen ©igen faßen bie grauen
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Kurt Qlram : Sie QSufemtabel.
213
imb SRdbdjen, auf ber einjigen <£tnpore, bic fo weit in ben Stet um reichte,
bag ber Pfarrer auf ber .Handel bie ?eute fafl mit ben J£>dnben erreichen
fonnte, fafen bic ÜRdnner unb ©urfdjen. 3n ber 2Tpftd brdngten ftd> bie
©cfjutf inbr r, ftanb ber 2((tar unb bat)inter ba$ fleine Harmonium. Um auf
iljm fpiclen $u fännen, Ijatte man in bie ©teinmanb eine SHifcrje fdjlagen
muffen, wo ber ?erjrer gebüeft über ben Saften faß unb ftd) freute, wenn
enblid) nid)t merjr gefungen mürbe, fo baß er au$ ber Öffnung frtedjen unb
feinen SXücfen mieber ftreefen fonnte.
Die Capelle fußte ftd> frfyr fcfjnell. Unb nun erfd)ien aud) ba$ Söraut*
paar mit ben Sraujeugen. ©ie ließen ficf> auf jwei Keinen ©dnfen »orne
nteber, bie fo bürftig mie Ärmefünberbdnfc auäfaljen.
SRatürlid), bie (Sbjijtine hat einen #ranj auf, obwofyl fte gewiß nid)t
mel)r Sungfrau ift, backte ber Pfarrer drgerlid). Doch nein, er wollte jTd)
je$t nidjt argern unb fo wom6gltd) ba$ »ief ÜÖidjtigere barüber au$ bem
3uge Pertieren.
Der Pfarrer räufperte ftd) oerneljmltd), bae* Harmonium fe$te ein, bie
®emeinbe fang. 2(1$ man ben oierten SBer* ju fingen begann, würbe bie
®emeinbe unruhig, benn iljr Pfarrer trat nid)t mie immer bei Trauungen
an ben Sltar, fonbern flieg jur Äanjel empor, Sßollte er iljnen am <£nbe
eine gange *J>rebigt galten, womöglich eine ©trafprebigt, weil ffe nid)t metjr
inS Äirchborf famen? Die SW&nner faljen fld> an, bie 5Beiber blieften er?
geben unter ftd). Da$ fonnte ja nett werben. @in fo alter Sttann wie il)r
Pfarrer, unb immer nod) nicht fonnte er ^rieben halten.
3afob warf einen fdjeuen ©lief nach ber Langel. 9?un würbe cä lo$*
getjn. '.Iber er würbe ffd) fd)on mdue merfen Innen. &r gab feinem ©eficht
einen m6glid)fl gleichmütigen 2(u$brucf unb gelobte ftd), wdtjrenb ber ganzen
*Prebigt überhaupt nid)t aufjufeljn.
Der Pfarrer fing an wie gewöhnlich: milbe, meid), mit ben abgenüfctcn,
poetifd) fein foflenben ©tlbern über ben heiligen Qrheftanb, wie fte unpoetifchen
Pfarrern eigen flnb. ©erul)igt fenften nun aud) bie Üttdnner bie Äopfe auf
bie Ernte unb gebauten ein <5d)ldfd)en ju tun, benn eine fchwere, ein*
fdjldfernbe 2uft lag gar balb in bem flehten, menfdjenuberfüUten Staunt, eine
Vuft, wie fte nur lange nicht gelüftete Idnbliche ©onntagdfletber unb bie
waffemaffen Heitel ber ©durinnen unb 2J?dbd)en juftanbe bringen.
^Idfcfid) aber fuhren alle Äöpfe twd) unb ftarrten nad) ber Langel.
Donnerwetter, ging ber Pfarrer auf einmal in* 3eug! üÄit ben frdftigften
©tlbern aue bem alten Seftament malte er baö ^erberben ber ©ottlofen,
bie ber <Prebigt fern bleiben unb ftd) fo immer meljr oerfioefen, benen baljer
aud) alle* gum $lud) au$fd)ldgt unb nicht juni (Segen, ©tatt nad) bem
fdjweren <Sd)icffal, ba* bie ©emeinbe betroffen — 3afob fab gleichmütig
brein — ©uße gu tun unb in ftd) gu geljn, t)dtten fte alle ffd) nur nod)
mehr perl)drtet unb mieben ©otted SBort nun ganj. 31ber ®ott werbe fte
fdjon fhrafen für il)re ©ünben, ed würbe aud) fein Segen mcbj fein f6nnen
über ihren £hcn unb ihren .Hintern.
Die ü)?dnner würben bleid) unb backten an bie legten oahre unb bie
legten (5retgniffe, bie bem Pfarrer nur ;u fer>r red)t gaben, mehr, al* er
ab,nte. Die 3Beiber begannen ju weinen. Äud) bie (§l)rifline. @ine ganj
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Äurt Q(ram : Die Bufennabel.
oerjweifelte Unruhe fam über bie J£>6rer, ein (Sdmeujen, ein Sd)lud)jen, gang
fonberbare ©eften unb Bewegungen.
Der Pfarrer erfdjraf Ijeftig unb lenfte fd)leunigfr wieber ein. (Sine
fo burd)fd)lagenbe SBirfung tjatte er ntdjr erwartet. Da« far> ja fajl au*,
al« fei ber ganj ungefunbe Buflgeift ber SWetyobiflen unb anberer ©eftierer
pldfclid) Ü6er all biefe SKenfdjen gefommen! 25a« fonnte fdjrecfftcf) werben,
weit fd)retflid)er al« alle firdilidte Vauhett.
Unb ba ba« Schludern unb bie Erregung immer nod) nidjt nadiließ,
brad) ber Pfarrer bie <Prebigt fdinell ab, »erließ eilig bie Äanjel unb winfte
ba« Brautpaar an ben '«Ältar. (SfnrifHnc fd)lud)jte unb jitterte leidet, 3afob
fat) red)t blaß brein.
Damit e« nidjt eine neue Erregung gab, grif ber ©eijilidje na* ber
2fgenbe unb traute ba« <Paar nad> bem firdjlidjen Formular, ba« bod> ge*
miß niety« allju 2(ufregenbe« fjatre. Unb bann lief er nod) jwei SBerfe fingen
»on bem Siebe:
rtmb ntprgen«, bo bie ©onn' aufgebt,
SRein £eilanb Sbriftu« auferfteM
QSertrieben ift ber ©ünben SWadjt,
Cid)t, £eil unb Ceben »icberbrad>t. £afleluja!
Da« war bod) ebenfall« nid)t« traurige«. ®ott fei Danf, bie £eute
beruhigten ffd) aud) fdjon wieber.
dlux al« ber Pfarrer au« ber Äapellentur trat, (teilte (Td> ber alte
tfircbenooritetjer ju irjm unb (rammelte »or Erregung allerlei Unoerfttnblidje«,
Unjufammenbangenbe« oon fcfjmerer #eimfud)ung ®otte«. 2fber el>c er etwa«
beutltdjer werben fonnte, war aud) fdjon ber Bürgermeijter ba unb führte
ben Pfarrer mit ffd). (Sine 3Beile gingen flc fdjweigenb nebeneinanber b«,
bem Dorfe ju. Der @eifrlid)e fdjwieg, weil er barauf wartete, ber Bürger*
meifler, ber bod) aud) redn angegriffen auefnb, würbe etwa« über bie ^rebtgt
fagen. Der Bürgermeijter fdjwieg, weil il)m ber ©djrecf nod) in allen ©liebem
faß, ber &ird)enoor)iet)er ober ein« ber 5Öetber fonnte ben 2D?unb nid)t halten.
(Snblid) fragte ber Pfarrer, um nid)t langer ju fd)weigen unb bett
Qrtnbrucf ju erweefen, al« wolle er baburd) ben anbern ju einem ?ob über
bie 9>rebigt jwtngen:
„(Sagt mal, Bürgermeifter, wo ift benn ber (S^rifUatt SWüller? SBir
war bod), al« fjAtte id) it>rt gar nid)t gefetyn, unb er follte bod) al« $rau*
jeuge fungieren?"
„®anj red)t, £err Pfarrer, e« ifi irjm e Unglurf jugefroßen."
,,<ffia«? Unb ba« erfahre id) je$t erft?"
„(St i« im £eed)er SRoor ertrunfen."
Gntfefct blieb ber ©eifHidje fterjn. „SBie fdjrecflid)! Unb wann benn?"
„Sor ad)t Sagen, #err Pfarrer."
„Äber warum mad)te man mir feine Mitteilung?"
„Witt bat it)n nit wibbergefunne."
Der »Pfarrer heb fcrjmerjlid) bewegt ben Äopf. Xuf einmal fiel e«
it)m wie ©djuppen pon ben Äugen, we«t)alb feine <Prebigt foldje Erregung
beroorgerufen rjatte. Da« war e« gewefen, ba« tragifdje Snbe biefe« jungen
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ffurt Hvam : Die ©ufennabel. 215
tWanne*. Der ®eijllid)e r/atte alle SHüfye ber «einen (gnttdufdjung £err ju
werben, bie über ihn tarn, »eil er ben gütigen Grfolg nun nid)t mer,r
feiner «Prebigt jufd»reiben fonnte, fonbern auf ba* Äonto jene« Unglücf**
fall* fe$en mußte. 2lber warum Ijatte man nid)t wenigflen* bie Trauung
binau*gefdioben? Da* war ja unmenfd)lid) »on bem 3afob, fo furj nad)
fcem $ob feine* ©ruber* ju heiraten.
Ter ©ürgermeifier antwortete: „Qr* i* wie ce i*. (£* war bod) fd)on
alle* vorbereitet, mer härr ftd) nur nod) mehr Unfojte gemacht."
„Dann geljen bie ?eute bod) jefct wenigen* (litt nad) #aufe, wie e*
ftd) jiemt?"
«3a, wiffe Se, £err Pfarrer, ba* t* fo e ©ad), fc* muß bod) alle*
fei Orbnung tjawe. ©ei ere £od)$eit gebart fid)'*, baß mer in* $Birt*f)au* geb,t."
„So, fo," murmelte ber alte #err bitter unb enttdufd)t.
„@* wdr ja e Sdjanb für bie junge $rau!" fagte ber ©ürgermetfter.
„$ür bie ganje g-reunbfd)aft!"
Der Pfarrer mad)te, baß er in* Sd)ulf)au* fam, feinen $alar ab*
julegen. Dann »erließ er red)t ernüchtert ba* Dorf. Diefe ©auern, fold>e
dauern! #drter al* Steine waren fte!
3m 3Öirt*t)au* wollte e* lange nicht $u ber rechten J&od)$ett*au*gelaffen*
heu fommen. Die grauen ließen ftd) überhaupt nid)t bliefen. Sie faßen
forgenooll babeim. 'Aber nid)t eine unter it)nen wagte e*, bem Pfarrer nad)*
juflchen unb ihr £erj $u erleid)tern. SBBie bie 3uftdnbe jefct waren, wußte
ja feine ber grauen, ob fte nid)t aud) etnfad) totgefdjlagen würbe, wenn e*
t)erau*fam, baß fle ein ©eftänbnt* abgelegt Ijatte. ®ar mand)e fd)lug »er*
jweifelt bie #dnbe über bem Äopf jufammen unb verfloß in Ordnen.
Die Männer unb SWdbcfjen waren jwar alle in* 2Btrt*r)au* gegangen,
benn fte wagten nidjt, bem jungen eibepaar bie Sdjanbe anjutun, einfad)
wegzubleiben. Da* hatte am <£nbe neuen 3n(aß ju Streitigfeiten gegeben.
2fber fte faßen lange 3«t frumm über ben Sdjüffeln. Sie aßen unb tranfen
nur redjt eifrig.
9?ad) unb nad) hob ftd) bann bie Stimmung infolge be* reichlichen
<£ffen* unb Srinfen*, unb al* e* jum Jansen fam, ging e* im ÜBirt*l)au*
ju, wie e* ftd) bei einer #od)jeit gehörte.
2tud) (Srjriftine hatte ftd) »ottfommen ertjolt unb ging willig »on einer
£anb jur anbem bei Sdnblern unb bei SBaljern. 3?ur manchmal, wenn fle
ftd) unbeobachtet glaubte, flanb ffe in fid) »erfunfen, bad)te nad) unb warf
fdjeue ©liefe auf 3afob. »ber fd)nett raffte fle fid) bann wieber auf
unb rannte.
211* e* braußen bunfel würbe, bie dichter im Limmer brannten, fdjten
<5t)rifttne ju einem (Sntfcfjluß ju fommen unb »erfdjwanb auf einen
2Tugen6litf.
3tl* fte wieber in* oimmer trat, fließ Safob einen lauten Schrei au*,
benn £t)riftine hatte bie ©ufennabel angefteeft. Grr fprang auf fte ju, riß
bie SRabel ab unb jerftampfte ffe auf ber Diele. Qrrfd)rorfen flanben bie
anbern herum, benn fetner »erftanb biefen 3ßutau*brud) be* jungen Spanne*,
ber fein SBeib tjefttg betfeite jog unb au*fragte.
(5b,rtfrine warf tro$ig ben Äopf jurücf. 2Bie fte wieber ju ber Stabet
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Äurt Qfram : Die SBufennabel.
gefommcn war? Sehr einfach. Noch bicff tbe Nacht, ba ^hrtfnan oerfunfen,
ijatte fte fich aufgemacht, bie Nabel ju fuchen. Sie fanb fte auch. #art
am 9tanb be* ?eecher SRoor unb fteefte fte befriebigt ju f?dj. eigentlich
hatte f!c bie 9?abe( fthon am 4>och$eit*morgen anflecfen moUen, benn ftf
funfeite gar fo fch6n. 2(ber fTc unterlief e* au* furcht »or 3afob, ba fte
nicht mußte, ob er e* nicht bofr aufnehmen mürbe. 3m 3Ötrt*t)au*, al* e*
mieber luftig mürbe, t)atte e* ir>r bann feine SXulje mehr gelaffen.
@t)riftine meinte flaglich unb jornig, baß Safob ben ©ehmuef fo brutal
jerfl6rt blatte.
Safob manbte (Ich, äußerlich gleichmütig, mieber ben anbern ju. ra?
hatte gerabe noch gefehlt, baß ihn bie Nabel immer mieber and Veccher SRoor
erinnerte! (Sr ftürjte ein große* ©lad SMer hinunter unb tanjte eifriger
benn je, menn auch nicht gleich mieber mit ßljrifcine.
4.
(Seit biefem Sag traute im Dorf feiner met)r bem anbern, unb jeber
fürchtete »om anbern ba* fchlimmfle. (Sine gan$ »erjmetfelte ©ttmmung
lag über aUen, unb boch magte feiner, burch ein offene« ©ejtänbni* feinem
J^erjen ?uft ju machen. Da* lag bauptfachltd) an ber Überrebung*funft be*
SMtrgermeifter*, bem Safob gleich nach ber Zat am Seecher SEoor ben ©ach*
»erhalt mitgeteilt unter ber Drohung, ir>n fofort anjujeigen megen ber 2fffare
beim 3obe be* alten Stein, menn er unb bie anbern nicht ben $D?unb hielten.
Der ©ürgermetfter »erfprach ihm, \u fchmeigen. Da aber ohrnmu-
in ihrem erften ©djrecfen jammernb ine Dorf geßür&t mar unb jebem, ber
ihr begegnete, erjahft hatte, ma* ftch zugetragen, mar e* feine leichte 2fuf*
gäbe für ben ©ürgermetfler, bie ©emüter ju befchmichtigen unb alle jum
©chmeigen gu oerpflichten, £e gelang ifjm fchließlich auch nur burch bie
Drohung, Safob mürbe ffe megen be* alten ©tein alle in* Unglücf »türjen,
menn fte ben STOunb nicht gelten.
(Sin 3ab,r oerging, ein bofe* Saljr. Wtit ber «iebjucht, auf bie man
bauptfachltd) angemiefen mar, Ratten bie* 3at)r bie meiflen Unglücf. Die
#ol§faHerarbeit, ba* jmeite $aupt»erbienft ber ?eute, mürbe burch einen enb*
lofen, garten 5Btnter erfchmert. Unb al* plifclich, über 9*a<ht fojufag'en, ber
grütyling fam, brachte er »iel tfrantyeit mit.
Namentlich bie 5Beiber fonnten faum noch an fleh halten, unb al*
jmei fleine $inber an bemfelben Sag fiarben, erflarten bie SWütter, nun
mürben fte bem Pfarrer unter allen Umftanben ihr Jßerj au*fd)ütten unb
©uße tun. (5* beburfte aller uberrebung*fünfre be* SBürgermeifter* unb ber
heftigflen Drohungen iljrer Scanner, um bie beiben grauen fchließlich boch
mieber oon ihrem Vorhaben abzubringen.
3(ber lange ließ fich biefer 3wtfanb unmöglich noch halten. (£* brauchte
nur noch ein menig metyr Unglücf 3U fommen, ber Pfarrer brauchte fleh nur
noch einmal einfallen ju laffen, ju prebigen mie »or einem 3ab,r, unb alle*
fam an ben Sag. Nur bie alte ftrau ©tein hielt ben Äopf b,och unb
mar einoerftanben mit ber ganjen Sage, ©ie fanb, ba* fei bte gerechte
©träfe be* Gimmel*.
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Äurt Äram : £>t'e 33ufennace(.
217
$Ba* alfo tun? 9Bod)en(ang grübelte ber $ürgermeifter, chic einen
3u*meg ju ftnben, bei bem er mit heiler Jßaut baoonfam. 21ud) bem jafpb
war ii ; an mehr ju trauen. @r tranf gar $u üiel unb fdjmafcte in ber SBe*
trunfenljeit alle* au*. 2fud) würbe er immer unoerfdjamter unb branb*
fdjafcte bie ganje ©emetnbe, jwang fte, it)m ju Reifen, wie immer e* ih,m
gutbunfte. <5rft red)t aber war auf bie (Sbjijtine fein SBerlaf} meljr. ©eit*
bem iljr SWann ffe prügelte, fdjwor fte, ffcf) ju radjen. Unb wenn e* ju*
nadjfl aud) nur gefd)al), um iljren SWann ju fd)retfen, fo fonnte bod) jeben
Sag bie @tunbe fommen, wo fte mit iljrer Drohung ernft madjte, unb bann
waren alle bie dualen unb (Sorgen umfonft gewefen.
<5d)l\t$lid) meinte ber SDürgermeifler bei ftcf> felbfl: ba {Te alle ge*
meinfam bie £aft getragen, gehöre e* ftd), bafj fie aud) gemeinfam über einen
3(u*weg fannen, unb berief eine ©emeinbeoerfammlung.
Die dauern faßen gebrüeft herum unb jerbrad)en ffcf> bie $6pfe. Dafj
e* fo nidjt met)r »eiterging, mar allen flar. 21ber wie au* ber fflot fommen,
oljne baß ffe unb ba* Dorf in neue* Unglütf fielen?
?ange rourbe f)in unb l)er beraten, bi* einer meinte, ob man ben
3afob unb bie Gljriftine nidjt uberreben f6nne, au*jumanbern? Die ©auern
fyoben bie Äopfe unb far>n ftd) an. 2>ielleid)t mar ba* ber 31u*weg?
3(ud) ber ©ürgermeifler atmete leichter. 3t)m fd)ien, ba* mar ein
guter Einfall. Tiber roie bie beiben baju bringen? rem 3afob mußte man
\)alt bie Überfahrt bejahen unb aud) fonft nod) ein 6turf ©elb mit auf
ben ÜBeg geben.
Die dauern feufjten. Da* fam fie Ijart an.
3fber bie (Sfjriftine?
©ie mar fein 2Öeib, fie mußte mit.
äber wenn fte nidjt wollte?
60 mußte man fie jwingen. Sie t)atte ben Safob nun einmal ge*
heiratet, e* war itjre 9>flid)t, bei itjm ju bleiben.
Ußenn man iljr heimlich ©elb »erfprAdje ju neuem ©djmucf unb spufc,
worauf fie fo »erfeffen war?
X)er SBürgermeifter erbot ftd), bei bem Ehepaar ju »ermitteln.
Die meinen Sdjmierigfeiten madne 3afob, ber jefct ein fo bequemet
Vrbcn harre, baß er e* fo Uid)t nid)t aufgeben wollte. 2(ber fd)(ießltd), ein
neue* fceben anfangen, in einem ?anb, wo man ihn nidjt fannte, ba* weit
weg war t>om Veecbcr SRoor, übel war ba* aud) nid)t.
211* ber SÖürgermeifter ihm flarmad)te, tat? er unb alle anberen feine
Drohungen nidjt meb,r fürchteten, lieber nod) fld) felbfl anzeigten, al* feine
3u*beutung nod) langer ju ertragen, gab 3afob nad). Wtit einem tüchtigen
©tücf ©elb in Ämerifa . . . Tim <£nbe würbe er wieber ein orbentlidjer
Äerl. 3luf einmal !)arte er e* fogar eilig, oon bjer wegjufommen.
31ud) ^rtfHttC ließ fid) Überreben, jumal 3afob ib,r oerfprad), ffe
nid)t mel)r ju fd)lagen. 9Son bem ihr t)eimlid) oerfprod)enen ©elb fagte
fie ifyra nid)t*.
Äaum waren bie beiben fort, berief ber SBürgermeijter wieber eine
©emeinbeoerfammlung unb madite ben beuten flar, eß fei am heften, er trÄte
»on feinem Soften jurücf, ba* neue ¥eben finge aud) mit einem neuen
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218
Kurt Tivam : Die ©ufennabe L
3-Mirgermcifter an, »a4 nidn hintere, baß er brm neuen mit SRat unb Jat
jur ©ette liehen wolle.
Der ©ürgermeifter fyatte ftcf> ndmlid) feine (Situation fo credit gelegt,
baß ti in allen ftdUen beffer fei, fTcf> penfTonieren ju (äffen. Mam bann
bod) nod) mal etwa* herauf fo ging ee» ihm gewiß nid)t fo fd)led)t, alä
wenn er nod) im £mt war. ferner war eö eine foldje SRaritdt, baß ein
©urgcrmeijter freiwillig ging, baß er ftdjer bamit rennen fonnte, Jjier*
burd) wieber an allgemeinem Vertrauen gu gewinnen, dr l)atte wobl ge*
merft, baß ihn nid)t wenige fdjeel anfallen, weil man ihm, unb nidu
ohne ®runb einen guten Seil ber ©d)ulb jufdjob an all bem Unglutf
ber lefcten 3eit.
5.
Die alte Atan ©rein üarh, ber alte ©nrgermeijter war bie redjte «£anb
be$ neuen, unb c£ bauerte nidit lange, ba fanben ftd) wieber 3Öalbb6rfter,
namentlich grauen, «Sonntag* im jfirdjborf ein. Der alte Pfarrer freute
ffd} ferjr, baß bie iljm felbft ganj unoergeßlidje ^rebigt »on bamal* nun bod)
nod) fruchte trug. Die J^erjen biefer 2Öalbb6rfler (Tnb jwar t)art unb fo
fdjwer ju bearbeiten, wie tfjre eigenen Äcfer, meinte er bei ffd) felbft, aber
fdjließlid) get)t bod) etwa* »on bem guten ©amen auf, wenn er aud> mdjt
gleich rjunbertfdltig &rud)t bringt. Sttan muß nur bie ©ebulb nidjt »erlieren.
Unb e$ bauerte nod) weniger lang, ba hatte (Td) beim ©erid)t in ber
Äreiäftabt wieber einer »om ©albborf wegen ^orjtfreoel* ju »erantro orten.
Der alte ©eridjtdrat war ganj glucflid), baß enblid) wieber einer »on bort
oben in feine 2Tften fam. Gr* war bod) audj ein ju unnatürlicher 3uftanb
gewefen.
„©eljen ©ie," fagte er ju feinem 2fffeffor, ber bamal* al* SReferenbar
mitgefahren war, ,,id) fenne bod) meine 2Balbb6rfler. Da jTnb fte nun
enblid) wieber ju ttjrer alten Drbnung juruefgefebrt. Unb wiffen ©ie nod),
wa* ©ie bamal* fagten, al* wir nad) #aufe fuhren?"
Der 3fffeffor fdjüttelte »erneuten» ben $o»f.
„SBenn ber Safob 2Küller wieber im Dorf tft, geljt ber 5anj »on
neuem lo*, fagten ©ie!" Der ©erid)t*rat lachte. „®ar nicht* ift losgegangen!
3d) backte e* mir bamal* gleid). SBenn man dlter wirb, gewähnt man ftd)
bie au*fd)Wetfenben friminaliitifchen 9>i)antaftereien ber jüngeren 3af)re grunb*
lid) ab."
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Die Völkerverwirrung.
Von M«x Büchner in München.
Als der babylonische Turmbau in den Himmel wachsen wollte,
soll Jehovah den Stolz der Menschen so gestraft und gebändigt haben,
dass er ihnen die Sprachen zersplitterte, und es entstand die Völker-
verwirrung. Und die Völker zogen ins Weite und sie trennten und
mieden sich, und ihre Zahlen vermehrten sich, und es kam die Ver-
schiedenheit.
Aber nicht von jener ersten und frühesten, biblischen, göttlichen
oder sonstwie beliebigen Störung in der Bewohnerschaft unseres Erd-
balls soll hier die Rede sein, sondern von etwas viel Späterem und viel
Fatalerem, von einer zweiten und neuen Vernichtung der Eintracht um
die Begriffe nämlich, die aus der Wissenschaft über die Menschheit
hingesandt ist und noch heute und immer wieder über sie hinfegt bis
zur äussersten, letzten noch möglichen Spaltung, Verhetzung und Durch-
einanderverschiebung, und zwar auf weit raffiniertere Weise, so grundlich
hartnäckig und so gewaltsam, so lebensstark und vermehrungsbedürftig,
dass sie nur immer zunehmen muss und schon eher erklärt werden
kann als ein höllischer Teufelscherz.
Auch dieser babylonische Turmbau wird nicht in den Himmel
wachsen. Aber er schreit bereits in den Himmel. Und nebenbei hat
es noch mit diesem Fetisch eine ganz eigene dunkle Bewandtnis. Man
hört ihn nur immer und sieht ihn nicht. Wo sind die ragenden Mauern
und Zinnen, Leitern, Treppen und steigenden Wege, die uns endlich
hinaufbringen sollen in das wahre Licht der Erkenntnis? Höchstens
ein Erdgeschoss ist zu bemerken, und auch das nur in kleinen Stücken.
Immer noch werden die Linien gezogen, heute so und morgen anders.
Platz zum Verteilen ist noch genug da, und schon streitet man um die
Grenzen. Und zwischen den herrlichen Wäldern und Wiesen, die noch
jungfräulich unberührt sind, breiten sich grauliche Mörtelmassen, auf
denen zuweilen ein Steinchen schwimmt. Das ist der Stoff, mit dem
gebaut wird. Zahllose Schubkarren fahren den Brei wichtig knarrend
im Kreise herum. Rastlos wird hin und her geschaufelt, geklopft und
geklappert, gesiebt und gerührt, und alles frohlockt dabei: Wissenschaft,
Wissenschaft!
Wir Menschen nämlich wollen doch wissen und müssen doch
endlich einmal erfahren, wozu wir eigentlich auf der Welt sind. Woher
und weshalb das ganze Dasein? Sind wir ein Zufall oder Absicht?
Sind wir Affen oder Engel? Sind wir einfach natürliche Wesen, oder
sind wir das nur zur Hälfte oder gar gänzlich unnatürlich, ungewiss
flackernde Gottesteilchen, so dass wir statt in die Zoo- und Anthropo-
schon in die Theologie gehören? Sind wir an einem oder an mehreren
Punkten entstanden? Sind wir überhaupt entstanden? Welches war
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220
Max Buchner: Die Völkerverwirrung.
unser Schöpfungsplan? Wo sind die Merkmale, die uns bezeichnen,
damit wir uns wenigstens numerieren und klassifizieren und ordnen
können? Verfolgen uns durch das unendliche Weltall von den ver-
schiedenen möglichen Einflüssen bloss lunare, solare, terrestrische, oder
auch sozusagen siderische und kosmologische? Sollen wir das zu er-
gründen suchen auf dem Wege der Empirie oder der reinen Philosophie?
Oder sollen wir lieber nichts tun? Alles das möchte man gerne
wissen und weil man darüber nichts wissen kann, so macht man daraus
eine Wissenschaft.
Und mitten in dieses Wühlen und Hasten tönt es zuweilen von
oben dazwischen wie auch schon damals beim ersten Turmbau. Wissen
möchtet ihr? Wissen? Unsinn. Lärmen wollt ihr und Bücher schwatzen,
euch wichtig machen und habilitieren und berühmte Männer werden
und das Publikum betören, das dafür auch noch zahlen soll. Und die
Wahrheit suchtet ihr? Wahrheit? Es gibt keine Wahrheit, es gibt
nur Phrasen. Und wer braucht Wahrheit? Euer Publikum doch ganz
gewiss nicht. Macht ihm nur eure Mätzchen vor. Einige Dutzend
Geistreicheleien und ästhetische Neuigkeiten, ein wenig oder auch viel
Romantik, dann einiges Mystische und Kabbalistische und sonst noch
Einiges, was kein Mensch verstehen kann, aber nur immer schön vor-
getragen, tiefsinnig weihevoll, ernst und würdig, oder auch überwältigt
begeistert, tobsüchtig schäumend, wirr verzückt, und man wird sehr
zufrieden mit euch sein.
Und die meisten der so Gewarnten haben ein Einsehen, dass die
Wissenschaft oft ein Mysterium und ganz diskret zu behandeln sei.
Aus den Bornen der Wissenschaft quillt jetzt nebst anderen holden
Erfrischungen auch noch der Reiz eines Sondergeheimnisses, und es
kommen die Herren Kollegen, lächeln sich brüderschaftlich zu und sind
stolz, dass sie sich kennen. Das Schaufeln und Karren wird Privilegium.
Es triumphiert das Adeptentum und aus dessen Mitte schwillt der Prophet,
der wie ein Phönix zum Himmel fliegt. Seine Worte sind heilige
Weisheit, und was er auch sagen mag, es wird geglaubt. Er wird ver-
standen und nicht verstanden, nur halb verstanden und missverstanden
oder auch, was noch verdienstlicher ist, wenn er auch gänzlich un-
verständlich und überhaupt nicht verstanden sein will, er wird trotzdem
doch verstanden.
Ihr aber, die ihr nicht eingeweiht seid, habt zu schweigen. Euer
Vergnügen soll nur das Hoffen sein, das trostreiche Warten auf jenen
leuchtenden Zukunftsbau, den man jetzt noch nicht sehen kann. Aller-
dings staunen dürft ihr auch jetzt schon. In festlichen weihevollen
Kongressen kommen alljährlich die Meister zusammen, die euch den
Zauber bereiten werden. Seht, wie sie selbst schon sich wechselweise
bewundern, freudig gehoben und stolz begeistert, freudig die Waffen
der Wissenschaft schwingend und das goldene Vliess der Freiheit, aber
zugleich auch freudig ersterbend vor jedem Windhauch aus den Höhen
der Mächtigen. Und über diesen herrlichen Streitern schwebt ein Segen.
Ein unendlich erhabenes Wesen breitet die Fittiche über sie aus wie
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Vischer: Ein Brief über Griechenland.
221
ein verheissendes Morgenrot. Es ist das biedere, tugendhafte, für alles
Edle und Gute sich opfernde, stets nur von Idealen geleitete väterlich
treu die Berühmtheit besorgende niemals fehlende, niemals versagende
Lob in den Zeitungen, das die Buchhändler schreiben lassen, diese
edelsten aller Seelen.
Und trotz dieses schönen und grossen Beispiels bleiben doch
immer noch einige übrig, denen das Einsehen nicht vergönnt ist, denen
die Wissenschaft, wie sie gemacht wird, immer noch keine Zufriedenheit
schafft, unkluge Idealisten und Skeptiker, die zur ewigen Selbstqual
verdammt sind, die in törichter Überspanntheit hartnäckig nach einem
Ferneren trachten und was man ihnen so anmutig bietet, ohne Dankbar-
keit rauh verschmähen. Ja es gibt Freunde der Verneinung, tiefgesunkene
Pessimisten, welche sogar behaupten möchten, diese ganze Art Wissen-
schaft sei für Gauner und Idioten.
Solche harte und schreckliche Worte sind natürlich durchaus
nicht berechtigt und können höchstens als Massstab dienen für das
Rasen der Leidenschaften selbst in diesen so keuschen Hainen. Ach
man möchte am liebsten weinen, dass so etwas überhaupt möglich ist.
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Ein Brief Uber Griechenland.
Von Friedrich Th. Vischer.
Mitgeteilt von Robert Vischer in Göttingen.
Wer Fr. Vischers «Altes und Neues« (Stuttgart, Bonz & Comp. 1882) in guter
Erinnerung hat, wird finden, dass mit den darin enthaltnen Erinnerungen „Aus
einer griechischen Reise* (Heft I S. 1 — 60) manches in dem folgenden Brief über-
einstimmt. In mehreren (c. 28) Sitzen ist auch der Ausdruck beinahe oder
gänzlich derselbe wie dort. Aus diesem Grund haben wir uns längere Zeit für
verpflichtet gehalten, diesen Brief hier nicht aufzunehmen. Nun aber sind wir doch
entschlossen, und wir besitzen dazu die dankenswerte Erlaubnis der Verleger
des genannten Buchs. Auch die Kenner desselben werden ihn doch gern im
Zusammenhang mit den italienischen lesen, und er enthält ja noch vielerlei, was
dort nicht gesagt ist.
Der Herausgeber und die Redaktion.
so rufe ich euch, diesmal nach griechischer Sitte zu, und ihr werdet,
wenn ihr anders Lebensart habt, mir antworten : itokla ihr}. Nun denn,
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222 Vischer: Ein Brief über Griechenland.
seid mir herzlich gegrüsst, meine Lieben ; Menschen, die ihr euch jede
Nacht in ein ordentliches Bett, vielleicht gar aus Federn, niederlegt,
morgens fleissige Toilette macht, dann Kaffee trinkt, mit geringer körper-
licher Bewegung bis 12 Uhr arbeitet oder auch nicht, dann eine solide
Mahlzeit einnehmt, hierauf spazieren geht ohne Furcht, von Räubern
gespiesst, gebraten, grausam verstümmelt oder, wenns gut geht, einfach
erschossen zu werden, dann wieder ans Geschäft sitzt, abends mit guten
Freunden behaglich plaudert und eine zweite Mahlzeit einnehmt — :
ich habe einige Wochen anders gelebt. Ich habe in einem elenden
Khan auf der mütterlichen Erde geschlafen, meine Päploma (genähte
Decke) zur Unterlage, meine Capotta (griechischer Mantel mit Kapuze
von dicker Ziegenwolle) über mir, meinen Reisesack zum Kopfkissen,
von Flöhen oft zur Verzweiflung gebracht. Von Läusen blieb ich glücklich
verschont, welche nichts Seltenes sind und selbst an die Person des
Königs und der Königin einmal sich wagten; ich hatte mich schon
darauf gefasst gemacht und in Gottes Willen ergeben — Der Herr gibts,
der Herr nimmts, laus Deo ! Ich habe mich morgens 4 Uhr am nächsten
Brunnen (wenn es einen gab) gewaschen, bin dann aufs Pferd gesessen,
und 8 — 11 Stunden in glühender Hitze, auf meiner ersten Tour 18 Tage
lang, mit Unterbrechung von nur 2 Tagen Ruhe, geritten, habe oft bis
abends nichts zu essen gefunden, als schlechtes Brot und frische Zwiebel,
und gegen den Durst verdorbenes Zisternenwasser, — glücklich, wenn
die edle Zizza, das runde hölzerne Weingefäss, das an meinem Sattel
hing, die herrliche Trösterin, die nicht umsonst den Namen des ursprüng-
lich Nährenden, der ehrwürdigen Mutterbrust trägt, einen edlen Wein-
stolf enthielt, den die Sonne Griechenlands noch nicht zu sehr erwärmt
und ungeniessbar gemacht hatte. Eine Begleitung von zwei Gensd'armes
war ein ungewisser Schutz gegen die Klephten, diese Unzufriedenen
aus der Zeit der Revolution, welche, dem Gesetze und Staate abgeneigt,
statt des Türken ihren Feind jetzt in der öffentlichen Ordnung und dem
Rechte des Eigentums suchen und namentlich einen Deutschen, wenn
sie ihn ertappen, niemals verschonen. Der Klephte ist unerhört grausam.
Klephten haben Weibern die Brüste ausgeschnitten, ausgehöhlt, Öl hin-
eingetan, dazu einen Docht, und den Docht angezündet; sie haben einen
Gensdarmen am Spiesse langsam gebraten, andern die Zunge ausge-
schnitten und Verstümmlungen jeder entsetzlichsten Art angetan. Ich
habe von schlechten Wegen, von Konfusion und Verwirrung durch Un-
kenntniss der Sprache mehr ausgestanden, als ich erzählen kann, und
ich habe für alle diese Entbehrungen und Nöten ein ganz horrendes
Geld ausgegeben. Aber meine Freunde, dafür habe ich Athen gesehen,
bin unter den Säulen des Parthenons gewandelt, auf der Rednerbühne
gestanden, wo einst Demosthenes stand, habe den Helikon geschaut und
aus der Hippokrene getrunken, habe an dem Parnass aufgeblickt und
sein schneebedecktes Haupt zwischen goldenen Sternen in einer
griechischen Mondnacht gesehen, habe aus der kastalischen Quelle
getrunken, und fern in blauem Dufte den Olymp, von leichten Rosen-
wölkchen bekränzt, gesehen. Ich bin durch die Schlachtfelder von Platää,
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Vischer: Ein Brief über Griechenland.
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Leuctra, Chäronea geritten, habe ferne das blutige Schlachtfeld von
Pharsalus erblickt, ich bin in den Thermopylen auf jenem Hügel
gestanden, wo einst die wenigen Spartaner, vom heissen Streite müd
bis zum Tode, noch einmal ausruhten, dann die letzten Kräfte zu-
sammenrafften und, gehorsam dem Befehle des Vaterlands, die Stelle
mit ihren Leichen deckten. So sterben, nicht wahr, das ist etwas?
Das wird einem nicht alle Tage, ein armer Teufel stirbt im Bett unter
Pulvern und Latwergen. Ich habe endlich die Ebene von Marathon
umwandert und die zwei Totenhügel, die einst die Leiber der gefallenen
Griechen deckten, erstiegen. Dies alles und noch vieles, vieles andere
habe ich gesehen. Das Leben des Menschen ist eine Fläche mit
vielen farblosen breiten Stellen und vielen dunkeln Flecken. Das
sind die Tage, wo man nichts Bedeutendes tut oder erlebt und die
Tage des Obels. In diesen Tagen leben wir nicht, wir messen die
trage Zeit und hängen an dem bleiernen Pendelschlage der Endlichkeit.
Dazwischen aber sind goldene leuchtende Punkte auf der Fläche ver-
streut, wenige, aber von tiefem und strahlendem Glänze. Das sind die
wenigen Stunden, wo wir wirklich leben, weil unser Geist sich in
Grossem und Unsterblichem vertieft ; Minuten und schnell verschwunden,
aber in diesen Minuten leben wir ewig, und sie sind mehr wert als die
lange Seligkeit, die der Herr Helfer oder Spezial, oder Prälat oder
Konsistorialrat so triftig und eifrig beweist. Nun, und solche Punkte
meine ich, entdecke ich auf dieser Stelle meines Lebens, welche diese
Reise einnimmt, häufiger und dichter als auf allen andern, und dafür
kann man ja schon ein und das andere Kapitälchen von seinem Ver-
mögelchen d raufgehen lassen.
Ich will Euch ein wenig ins einzelne erzählen, denn ich erhebe
gerne das Erlebte in die Form der Darstellung, und es ist mir eine
besondere Erhebung in der Quarantaine von Triest, von deren Behandlung
ich Euch mündlich erzählen werde.
In Syrakus, von wo ich euch zuletzt flüchtig schrieb und Euch ein
kleines Bild der beschwerlichen Reise durch Sizilien gab, schiffte ich
mich nach Malta ein auf einem Segelschiff. Den ersten ganzen Tag
hatten wir Windstille, in der Nacht erhob sich ein leichter günstiger
Wind. Es war eine herrliche Mondnacht, die geblähten Segel schimmerten
geisterhaft, die Schiffer plauderten mir allerhand Aberglauben und Märchen
vor. So eine Nacht auf dem Meere ist schön, herrlich. Es schleicht
sich eine Stille und Gelassenheit in die vom Drang des Lebens durch-
wühlte, heisse Brust, das herbe, salzige, bittere, äzende Wasser scheint
mit seiner kräftig kühlenden Wirkung selbst auf den Geist einzufliessen.
Am anderen Abend waren wir in Malta, der Hafen mit den majestätischen
Schiffen empfing uns, darunter ein Dreidecker mit 180 Kanonen, der
1200 Mann fasst. Die Stadt mit ihrer wohlhabenden Bevölkerung, ihren
schönen Häusern, stattlichen Befestigungen, reinlichen Strassen, kom-
fortablen Gasthöfen erregte nach dem Schmutz und Elend Siziliens ein
Gefühl, wie wenn man nach langer notgedrungener Unreinlichkeit wieder
weisse Wäsche anzieht. Die Bevölkerung bietet das phantastische Schau-
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Vischer: Ein Brief über Griechenland.
spiel eines seltsamen Gemisches dar. Dort sprengt ein englischer
Offizier auf schlankem Pferde daher, hier sprechen zwei dunkelbraune
Malteser mit feurig tiefschwarzen Augen eine wildfremde Sprache
mit harten Kehltönen — es ist der maltesische Dialekt, der aus dem
Arabischen stammt; hier geht ein Bergschotte mit dem bunten Plaid
und halbnackten Beinen und mit ernster Bewegung, in lange schwarz-
seidene Tücher mit ganz antikem Faltenwurf, wie Sizilianerinnen, ge-
hüllt, gehen maltesische Frauen vorüber.
Aber nur einen flüchtigen Blick sollte ich auf dies interessante
Leben werfen, das französische Dampfschiff nach Syra ging den andern
Tag in der Frühe ab. Not und Drang, am späten Abend Pass und alles
mögliche zu besorgen, Wortwechsel und starkes Auftreten gegen einen
übermütigen englischen Bankier. Den andern Morgen früh reisefertig.
Malta hat zwei Häfen. Jedermann, den ich fragte, hatte mir an-
gegeben, mein Dampfschiff liege im grossen. Ich gehe dahin, ein Dampf-
schiff ist wirklich da, bezahle eine Barke nach demselben, aber es ist
ein anderes, meines liegt im kleinen Hafen. Die Stunde der Abfahrt
ist da, ich muss mit dem Gepäck und faulen Trägern in Verzweiflung,
das Schiff nicht mehr zu treffen, schweisstriefend durch die ganze
Stadt jagen und lange nach vielen weiteren Mühen endlich an Bord an.
Ich hatte in den sizilianischen Städten und dann auf dem Segelschiff
nichts als schlechte und verdorbene Speisen genossen und dadurch den
Magen vollkommen heruntergebracht und hatte dadurch das Vergnügen,
das mir weder vorher noch nachher jemals, selbst im heftigsten Sturme
nicht, zuteil geworden: in der ersten Stunde der Fahrt seekrank zu sein.
Es ist ein entsetzlicher Zustand durch das damit verbundene geistige
Leiden, denn der Geist zieht aus dem verdorbenen Magen eine elende
Philosophie, das ganze Leben erscheint erdfahl, der Mühe nicht wert,
eines Narren Wort in den Wind gesprochen, alles Widrige, was man
je erlebt, stürzt mit Gallenbitterkeit wie Berge auf die Erinnerung.
Nach einer Stunde brach ich und war frei und wohl. Das Schiff zählte
unter seinen Passagieren und seiner Bemannung folgende Nationen:
Provencalen, Franzosen, Italiener, Sardinier, Engländer, ein Tscherkesse
in Vatermördern und Handschuhen und dabei Mohammedaner, ein Mohr
aus Martinique, ein Kroate, ein Kater, ein armer Raubvogel, dem die
Flügel beschnitten, ein junger Hund und ein Deutscher, Königreich
Württemberg, Schwarzwaldkreis. Ich zähle mich zu der lieben Tierwelt,
denn ich schloss mich mehr an sie an, als an die Menschen, denn ein
Mensch ist ungeheuer langweilig, wenn er ganz gewöhnlich ist, man
kann ihm nichts Tiefes unterlegen und leihen, aber einem Tier kann ich
leihen und unterlegen, was meiner Phantasie beliebt. Auf diesem Schiffe
sprach ich zum erstenmal auf dieser irdischen Pilgerlaufbahn französisch
— solch ein Welsch, das Stein erbarmen, Menschen rasend machen
kann. Ein Mönch aus Rom, der als Missionar nach China ging, lag
mir Tag für Tag und Stunde für Stunde mit theologischen Gesprächen
an, er wollte, was er unverholen gestand, mich durchaus zum Katholi-
zismus bekehren und erschrak heftig, als ich endlich rund heraussagte,
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Vischer: Ein Brief über Griechenland.
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ich werde auf meinen Glauben leben und sterben, schlug die Hände
zusammen und sagte ganz herzlich, ich sei so gut, er hätte mich so
gern — einst im Himmel wiedergesehen. — Meine beste Unterhaltung
war, in der Odyssee zu lesen. Wie ganz anders liest man den Homer,
wenn man etwas von südlicher Natur, Sitte, Kunst gesehen hat! Ich war als
Junge, ja noch als Student völlig unempfindlich gegen die alten Dichter,
die Sprachschwierigkeiten quälten mich, von der Sache hatte meine
Phantasie kein Bild, ich sah innerlich nichts, oder schlimmer als nichts,
geschraubtes Pathos, wie man die alten Dichter bei uns noch zu nehmen
pflegt. Epitheton ornans und dergleichen. Jetzt kann ich viele Stellen der
Odyssee nicht lesen, ohne Tränen im Auge. Ich sehe Menschen wie
wir, menschlich leiden und handeln, und ich weiss, wie die antiken
Naturen zu betrachten sind. Auch muss man das Meer gesehen haben.
Wir hatten anfangs konträren Sturm, es wurden wieder viele see-
krank, ich nicht mehr, ich beschäftigte mich, von den Matrosen auf dem 1
Schiffe gehen zu lernen, so stark es schwanken mag. Am dritten Tage
hellte sich der Himmel auf, neugierige oder müde kleine Vögel be-
suchten das Schiff und bald tauchten die ersten griechischen Inseln auf,
Kap Matapan, unweit dessen Navarin ist, ragte links mit steinigem Ge-
birge hervor. Am 22. morgens fühlte ich in der Kajüte, dass das Schiff
ruhigstand, ich stand auf, eine freundliche Stadt zeigte sich am Gebirge
hinaufgebaut, die Hähne krähten den Morgen an, schon kamen Barken
mit rotmützigen Griechen an unser Schiff heran, — wir lagen im Hafen
von Syra. Ich rede einen der Griechen italienisch (die Schiffer ver-
stehen es meist) an, ob er mich ans Land bringen wolle und er ant-
wortet: uüuau. Wie klingt doch das? das klingt ja so bekannt, das
kommt ja so oft im Plato, das sind ja die Laute aus Homer, Demos-
thenes, aus Sophokles, aus — woher hat denn der Mensch das? Hat er
etwa Weckherlins Formenlehre, Jakobs Lesebuch, Buttmanns Grammatik
studiert? Nein. Hat er in Landshut, Greifswalde, Tübingen, Heidelberg
Vorlesungen über alte Literatur frequentiert? Nein. Nein, nein, es ist
seine Sprache, ist seiner Väter Sprache, er ist ein Grieche, es gibt ja
wirklich Griechen, was ich immer nicht glauben wollte, auch Griechen-
land gibt es, es ist nicht bloss in der Vorstellung, es ist wirklich da
und ich soll es sehen, dem Herzen ist freudig bange. In die Stadt ge-
treten, sah ich bald das griechische Nationalkostüm in seinem Glänze,
da drei stattliche Palikaren mit ihren phantastischen Waffen, goldbedeckten
Spenzern, weissen Fustanellen und dem stolzen, elastischen Gange, der
den Griechen eigen ist, mir begegneten. Der Bazar bot den Anblick
ungewohnter Waren, orientalischer Stoffe, fremdartiger Gewürze, prächtiger
Früchte dar, die einen köstlichen Wohlgeruch verbreiten. Bald kostete
ich auch den griechischen Kaffee. Sämtliche Frauen, an die dieser Brief
gelangen sollte, ihre Kunst in allen Ehren, sämtliche Männer zugleich,
die noch keinen griechischen oder türkischen Kaffee getrunken haben,
versichere ich, sie mögen es glauben oder nicht, dass sie noch gar nicht
eine entfernte Ahnung von dem haben, was Kaffee ist. Hier in Triest
ist nach europäischen Begriffen guter Kaffee, aber er ist mir Arzenei,
Sübbeutfae «onatiWte. II, 3. 15
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Vischer: Ein Brief über Griechenland.
bitter und sauer, ich muss ihn fast wieder von mir geben. O Kaffee
Griechenlands, der du die Wohlgerüche Arabiens hauchst, mein Trost
und Stab, wenn ich halb verschmachtet vom Saumtiere stieg, oder ver-
stimmt von dem Treiben der Städte mit meinem Herzen allein unter
der Plantane beim Turm der Winde sass, — leb wohl! Und mit ihm*
du edles Kraut, Griechenlands Rauchtabak. Hier, meine Freunde,
schwingen sich meine Empfindungen in jenen Höhen, welche sich noch
6 Stock hoch über dem Absoluten befinden und sinken dann beim An-
blick des österreichischen Tabaks und bei der Erinnerung an die zwei
Pfd. die ich von Griechenland mitgebracht und die mir die Dogane hier
genommen, herunter in den Staub. Doch ich habe wenigstens einmal
in meinem Leben geraucht, ihr, meine Freunde, meint zwar geraucht
zu haben oder zu rauchen, irrt euch aber sehr gewaltig.
Ich liess mich in Syra über den Hafen an das entfernte Ufer
setzen; eine Frau sass hier mit einem blonden Jungen auf dem Schosse.
Ich fragte: Deutsch? Ja", Woher? „Von Schorndorf". Es war eine
Schreinersfrau. Einen sehr dienstfertigen Menschen lernte ich in meinem
Landsmann, namens Schlummberger kennen, beim Bau der Quarantäne
angestellt, der mich auch mit den Vorstehern eines Erziehungsinstituts
bekannt machte. Dies sind aber Pietisten und man verlockte mich arg-
listigerweise in eine ihrer Stunden. Denkt Euch, nach Griechenland
reisen, um dort in Pietistenstunden zu geraten! Man las aus der Bibel,
sang, betete dann kniend, das Gesicht in die Hände gedrückt, ich allein
kniete nicht, da ich ein für allemal nicht heucheln, sondern ein gerader
nnd aufrechter Mensch bleiben will. Weiss denn das schamlose Volk
gar nichts von jenem Spruche: Wenn du beten willst usw.? Von Zeit
zu Zeit schielten die Weiber hervor und machten grosse Augen, mich
stehen zu sehen. Dem Schlummberger hatte sich sein Rockflügel um-
gestrupft und lag seine Tasche so komisch über dem gekrümmten Buckel,
dass ich meinte mir die Zunge abbeissen zu müssen. Die Pietistenköpfe,
Gesichter wie eine Nachmittagspredigt, entliessen mich mit sehr be-
denklichen Mienen. Lebt wohl, ihr Edeln, mein Gott ist nicht euer
Gott. — Eine Kirchenfeier (Ostern) zeigte das Volk in seinem Putz,
die Hydriotinnen in dem reichen Kopfschmuck, die goldbehängten
Ypsariotinnen, manche mit herrlichen Köpfen und die noch schöneren
Männer, die Geistlichen mit den langen Bärten erschienen sehr würdig,
aber der Gottesdienst um so unwürdiger, denn er war nichts als ein
näselndes Singen innerhalb und ein wütendes Schiessen mit Schwärmern,
Fröschen usw. ausserhalb der Kirche, wie dies in Italien ebenso ist.
Nach vier Tagen erst ging ein Dampfschiff nach dem Piräus, wir
fuhren die Nacht hindurch und waren am Morgen angelangt. Nasskalter
Regen, sehr empfindlicher Frost, der Hymettus und Pentelikon hatten
beschneite Rücken, während der April eigentlich der Monat des griechischen
herrlichen Frühlings ist. Verdorbenes Hauderergesindel aus der Stadt
führte um teuren Preis den l1. Stunden langen Weg nach Athen, den
ich mit einem Schuster aus Würzburg zurücklegte. In Athen war
niemand zu treffen, denn es war Ostennontag und mein liebenswürdiger
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Vischer: Ein Brief über Griechenland.
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Hausgeist, genannt Nickel, führt mich immer an Sonntagen oder Festen
nach grossen Städten. Ich lief den ersten Tag dahin, dorthin, besah
mir die schnell werdende Stadt und den gegenwärtigen Mischungszustand
des Nationellen und des Modernen. Die Nationaltracht beginnt zu ver-
schwinden; dort geht einer griechisch gekleidet mit einem Schirm oder
Suwarowstiefeln, dort führt ein Palikar im prachtvollen Nationalgewande
sein Weib spazieren, das er französisch aufgeputzt hat usw. Raffinierter
Genuss, Liederlichkeit, Kuppler und Freudenmädchen, Betrügerei in
hohem Grade sind schon stark eingedrungen; gebildete Jünglinge saugen
in Paris und München die Blume moderner Aufklärung ein, kommen in
Frack und Handschuhen zurück und spritzen das Eingesaugte in giftigen
Journalen aus. Mein Zimmer im Gasthof, das einfachste, das zu haben
war, kostete drei Drachmen (ä 25 X) täglich, für eine Limonade ver-
langte man mir (in Athen, wo man drei der schönsten Limonen um
5 Lebda = 1 X bekommt) 70 ). 14 X. Ich habe sonst und in diesen
Briefen schon öfters meinen Ekel gegen solche Mischungsmomente
volkstümlichen Lebens mit der nivellierenden modernen Bildung an den
Tag gelegt. Glaubt nicht, dass ich allzu reich aus ästhetischen Gründen
am charakteristisch Nationellen hänge. Ich weiss wohl, dass ein Volk die
heitere Gestalt seiner Jugend ablegen muss, um klug zu werden, ich
weiss wohl, dsss wir Deutsche z. B. keinen Kant, Goethe, Schiller hätten,
wenn wir noch Barte und altdeutsche Tracht, keine Polizei, wenn wir
noch Waffen trügen. Aber wir haben allmählich ein Stück ums andere
abgelegt, wir haben innerlich unsere Bildung entwickelt und in gleichem
Schritte die heiteren Farben der Jugend allmählich abgelegt, und man
sab bei uns niemals zugleich einen Frack und ein Bärenfell. Anders
bei Griechen und anderen zurückgebliebenen, spät erwachten Völkern,
welche hastig und unreif mehr das Üble als das Gute der neueren
Bildung annehmen und einen unklaren Gärungsprozess neuer und alter
Stoffe darstellen. Nun fasse ich diese Dinge allerdings am liebsten von
der Seite der Erscheinung auf, und da könnt ihr euch denken, wie weh
dem Auge dieses Ablegen der schönen Tracht gegen unsere absolut
trockene, jedes Sinns für Farbe und Stil entbehrende, absolut phantasie-
lose neuere Tracht tut. Dies und so manches andere quälte mich hin
und her, ich beobachtete die Gesichter, um zu erforschen, wie weit der
altgriechische Typus sich erhalten habe und konnte nicht aufs klare
kommen, ich ging in die italienische Oper aus innerer Verstimmung
und konnte hier eben die Mischung von Fräcken und Fustanellen, Hüten
und Fehsi, Stöckchen und Türkensäbeln am schönsten beobachten, die
meinem Auge ein Graus ist; ich eilte in die helle, kalte Nacht hinaus,
ich fühlte einen fast unerträglichen Zustand, Altgriechenland, Neu-
griechenland und Neu-Neugriechenland konnten sich durchaus nicht zu
einem Bilde vereinigen, die ganze Befreiung des Landes, zuletzt alles
Tun der Menschen erschien mir vergeblich und nichtig, ein Schmaus
für Diplomaten, es grub mir wie mit feurigem Eisen in der Seele und
ich warf mich müde auf einen Vorsprung des Areopag am Fusse der
Akropolis. Ich blickte hinauf und sah die Säulen des Parthenon, den
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228 Vischer: Ein Brief über Griechenland.
anmutvollen und kleinen Tempel der Nike äitteQOQ ragen. Es war ganz
still weit umher, die Sterne glänzten, wie sie nur in Griechenland
glänzen. Da arbeitete meine Phantasie, jene ganze neue Welt völlig
wegzuschaffen und sich den Boden des alten Griechenland rein zu
bekommen, und sie schwebte über einem öden, öden Lande, wo keine
menschliche Seele zu sehen war, nur da und dort ragten einige Säulen,
zertrümmerte Statuen lagen zertreut, in den Lüften schwebten einsame
Adler, die Griechen aber, die einst hier gelebt, glaubte ich unten im
Meeresgrunde zu sehen, ganz klar und lebendig, wie durch das reinste
Glas. Wie war ich so froh, sie da unten zu wissen! Glücklich, rief
ich ihnen zu, dass ihr tot seidl Ihr seid tot, ganz ordentlich tot, es ist
gesorgt dafür, es ist ganz sicher, es ist gar keine Gefahr, dass Penkies
mit einem Schirm, Alcibiades mit einem Frack, Plato mit einer Dose,
Sophokles mit Brille und Operngucker in die italienische Oper komme.
Euch ist so wohl, so gesund kühl und kalt in der reinen Behausung
der Vergangenheit, aufbewahrt in den krystallenen Grotten der Phantasie,
gesehen durch die reinen, durchsichtigen Wellen der altverklärten Ge-
schichte und der läuternden Poesie, und kräftige Kälte weht aus ihrer
kühlen Brust dem müden Betrachter zu. Es war mir wieder froh und
gesund um die Brust und den andern Morgen eilte ich sogleich auf die
dy^OTiokig. Hier stand einst das Vollendetste aus der besten Zeit
griechischer Baukunst und Skulptur, ja es stand grösstenteils bis ins
17. Jahrhundert, wo die venetianischen Bomben die entsetzliche Ver-
wüstung anrichteten. Die Verwüstung hat gerade so viel stehen lassen,
um das reine Ebenmass, die edle Grazie aller Teile, die Vollkommenheit
und hohe Einfachheit des Ganzen zu fühlen und zu ermessen, und gerade
deswegen, weil das reinste Ebenmass keins seiner Glieder opfern kann,
fühlt man hier den Graus der Verwüstung mehr als überall, und es ist
die allgemein von allen Besuchern geteilte Empfindung: ein tiefes Grausen
beim Eintritt in die äxQOTiofag.
Die Wahrheit zu sagen, war der Besuch der alten Denkmale
eigentlich das einzige ungestört Erfreuliche, was ich in Athen genoss,
denn jene Verstimmung regte sich immer aufs neue bei der immer
und überall sich aufdrängenden Korruption. Der Grieche ist Intrigant
und interessiert von alters her, da passt er ja trefflich in die neue
Welt. Die Akademie gab uns ein Essen in einem Garten, wo einst
Piatos Akademie gewesen, ich wurde dem König und der Königin vor-
gestellt durch Leibarzt Röser, der es eingeleitet hatte, ohne mich zu
fragen, ich wurde in einer langweiligen Versammlung mit Hofrat
Müller u. a. zum Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft
ernannt, wo ich während der gelehrten Reden und Gegenreden hinter
einem Daguerrotyp sanft schlief usw. Abends sass ich gewöhnlich
mit deutschen Offizieren zusammen, worunter mehrere Landsleute; ich
hörte viel Interessantes über Klephten-Feldzüge. Obiges soll keineswegs
eine Charakterschilderung der jetzigen Griechen nach allen Seiten sein.
Darüber mündlich mehr.
Endlich am 8. Mai hatte sich das Wetter entschieden gebessert
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Vischer: Ein Brief über Griechenland.
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und ich trat mit Prof. Göttling aus Jena meine Tour durch Rumelien
an, einem gar lieben, frischen, kräftigen, nur gegen das freche Gesindel
viel zu guten Manne.1) Ein Grieche aus Arkadien gebürtig, der etwas
italienisch sprach, war unser Bedienter und Dolmetscher, zwei Gensdarmen
jeden Tag waren notwendig, denn es spukte eben damals im unteren
Rumelien eine Klephtenbande, worunter ein Weib, schön, mit Säbel
bewaffnet, wilder noch als die Männer, die erst kürzlich einen Mann
und eine Frau zusammengehauen hatte. An einigen Punkten sprang
einer unserer Gensdarmen immer voran auf jeden Hügel, den Finger
am Hahn, um Schluchten und Dickicht zu durchspähen. (Wir zahlten
also zusammen ein Ziemliches — ich will es nicht ausführen, es ist zu
langweilig.) Die Hauptpunkte, die wir sahen, habe ich Euch schon
genannt. Von ganz wesentlichem Gewinn für meinen Geist ist es, dass
ich überhaupt ein Bild von der Natur Griechenlands bekommen habe.
Wie kleinlich niedlich stellen wir sie draussen uns vor! Wie so ein
Nürnberger Ch ristgärt ch cn ! Und wie gross, wie gewaltig ist sie.
Griechenland ist ein von ungeheuren furchtbaren Steingebirgen durch-
ästetes Land, in deren schrecklichen Massen dem jugendlichen Volke
die Gottheit selbst zu gebieten schien. Delfi z. B. ist etwas Schreckliches,
es lag in dem Riss des in Urzeiten hier geborstenen furchtbaren Par-
nasses. Die Linien dieser Gebirge aber sind immer schön und gediegen,
auch den italienischen an klassischer Zeichnung noch weit überlegen,
und am Fusse, da liegen die süssen, sanften, weichen fruchtbaren Täler
mit den klaren Wassern im Dunkel der Oliven und Platanen, wo die
Myrte sich mit der wilden Rose, die Reben mit dem schönen, rosen-
farbenen Oleander, der Lorbeer mit der Eiche verschlingt, wo Hunderte
und abermals Hunderte von Nachtigallen schlagen, die wilde Taube gurrt,
Grillen, Frösche und weiss der Himmel was alles zusammenmusiziert,
als wollte die Natur in tausend Stimmen sich selbst ihren Saft und
Segen und ihre Süssigkeit vorsingen. Dieser schöne Gegensatz des
Rauhen und Sanften, des Grossen und Milden, war gerade ebenso im
Charakter der Griechen gelöst, die griechische Bildung und schöne
Humanität hatte zu ihrem Fundament die rauhe, gesunde Grobheit der
Natur, man lese nur die Ilias. Das erweichte sich langsam zur schönen
Menschlichkeit. Und wie in der griechischen Landschaft an das furcht-
bare Gebirge die wollüstig, süss melancholischen Täler sich lehnen, so
folgte in der Baukunst auf den dorischen Stil der jonische, in der
Skulptur auf Phidias Praxiteles, in der Poesie auf Äschylus Sophokles.
— Eine fremdartige Tierwelt haust in diesen Bergen und Tälern. Eine
Menge von Adlern, zum Teil 15 Fuss breit mit den Flügeln, ungeheure
Lämmergeier hängen hoch in den Lüften, am Wege schieben sich
ungeschickte Schildkröten hin, dort verfolgt eine schöne Kupferotter
eine jener schönen langen Eidechsen, die pfeilschnell durch die Büsche
>) Karl Wilhelm Göttling, geb. 1793 in Jena, seit 1822 ebendort Professor
der Philologie, gestorben 1869. Von seinen Schriften sind hier zu nennen die »Ge-
sammelten Abhandlungen aus dem griechischen Alterthum" (Bd. I), worunter sich
eine Beschreibung des Rittes auf den Othrys findet. A. d. H.
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Vischer: Ein Brief über Griechenland.
entflieht, Skorpionen und Taranteln sind auch nicht selten, haben uns
aber Gott sei Dank nicht begrüsst. Unser nördlichster Punkt war das
Kloster Antiniza, hoch im Gebirge oberhalb Lamia (auch Zettouni).
Hier liegt in dem ehemaligen Kloster, das nur noch ein Papas bewohnt,
eine Kompagnie Oqixpvlaxes, Grenzwächter, Soldaten in Nationalkleidung.
Die Offiziere nahmen uns sehr freundlich auf, der heitere alte Pfaffe
gab ein echt griechisches Essen im Freien, ohne Messer und Gabel,
denn der Finger gilt in Griechenland noch nicht als ein unedles
Instrument. Lammbraten bildete wie überall das Hauptgericht. Zu beiden
Seiten standen junge Burschen, in weisser Nationalkleidung, die linke
Hand mit Anstand auf die Brust gelegt, in der rechten eine silberne
und vergoldete Schale, um auf jeden Wink Wein einzuschenken. Gewiss,
wie so manche Sitte, ganz antik. Oberst Ue^aißdg (Perräwös), ein Haupt-
kämpfer des Befreiungskrieges, speiste (natürlich auch mit den Fingern)
mit und schenkte uns sein Werk über einen Teil des Befreiungskrieges.
Im Heimritt gab man uns eine Ehrenwache von 2 Soldaten. Den Kopf
bedeckt das rote Fehsi, den Oberleih das reich verschnürte Jäckchen mit
Spenzer, die schlanke Taille umspannt ein Gürtel, in welchem 2 Pistolen
mit langem, reich verziertem Griff stecken, ein Jatakan, oft noch ein
kurzes Schwert, der reiche Ladstock, der als Scheide zugleich noch ein
Stilett fasst, hinten 2 Patronentäschchen von Messing oder Silber, der
Arm trägt die türkische Flinte mit dem rund ausgeschnittenen Kolben
und langem Rohre. Unter dem Gürtel fliesst die faltenreiche Fustanelle
bis ans Knie, das Schienbein decken reich verschnürte Gamaschen und
der Fuss schwingt sich federleicht in Sandalen oder spitzgeschnäbelten
roten Schuhen. Solche Burschen im Wald oder auf Felsen ruhend
bilden gar malerische Gruppen. Es ist mir lieb, dass ich's gesehen, der
Spass wird bald aus sein. Fern ragte rechts der ernste Olymp (ein
deutscher Apotheker aus Lamia, der mit war, sang beständig: Vom hohen
Olymp herab ), links der Öta, wo einst Herkules sich den Flammentod
gab, und als wir in die Nacht geritten waren, stand der Mond tiefgolden
über den Thermopylen.
Nach Athen zurückgekehrt, kam mir ein Bett ganz neu, ja unbequem
und unnatürlich vor, die plötzliche Verminderung der Motion ermüdete
mich mehr als die starken Märsche, und ich war aufs neue ungern in
der Stadt. Nun sollte ich noch den Peloponnes besuchen, aber Göttling
hatte ihn schon gesehen und ich hatte also keinen Begleiter. Für
sich allein einen Führer nehmen und ihm täglich das Pferd nebst
Sold zahlen, kommt gar zu hoch. Ich beschränkte mich daher auf
eine kleinere Tour, um in Patras mich nach Triest einzuschiffen.
Konstantinopel hatte ich aufgegeben, teils weil es doch zu viel
Zeit kostete, teils weil mir die Fahrt die Donau hinauf als sehr
langweilig geschildert wurde. Ich fuhr nach Epidaurus, ritt von
da nach Nauplia, machte von hier einen kurzen Ausflug nach
Argos, Mykene, dessen Altertümer zu den bedeutendsten und
interessantesten gehören, und wandte mich dann, sehr ungern Sparta
lassend, unter Begleitung eines Kanonier-Sergeanten, eines Korfioten, der
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Vischer: Ein Brief über Griechenland
231
Italienisch sprach, und dessen Gesellschaft ich der Vorsorge eines
Offiziers in Nauplia verdankte, gerade nach Corinth. Ich ritt an diesem
Tage 1 1 Stunden, und konnte in Corinth, sage Corinth, kaum ein Nacht-
essen auftreiben. Der Wirt einer mittelmässigen Locanda wollte
5 Drachmen = f . 2 = 5 x über Nacht, d. h. für ein Bett und Zimmer
allein, und ich zog daher den Khan vor, wo ich besser auf dem Boden
schlief, nicht wegen des Geldes, sondern um dem Spitzbuben zu zeigen,
dass man nicht in seiner Gewalt ist. Nun musste unter vielfacher
Schwierigkeit und Konfusion vermittelt werden, ob in Lutraki, dem Hafen
von Corinth, 2 Stunden entfernt, ein Schiff nach Patras sei, dann Pferde
gemietet werden. Es war ein Segelschiff zum Aufbruch bereit, und da
wir am 10. abfuhren, das Dampfschiff aber am 14. in Patras, so konnte
man denken, für eine Fahrt den corinthischen Meerbusen hinab reichlich
Zeit zu haben. Aber ich hatte vergessen, dass, wer ein für allemal den
Zufall zum Feind hat, womöglich sich keinem Segelschiff anvertrauen
sollte. Es trat peinigende Windstille ein, doppelt peinigend, wo ziemlich
viele Menschen auf einem kleinen Räume zusammengedrängt sind und
der Körper ohne Motion und Freiheit in eine fast unerträgliche Spannung
gerät, an welcher der Geist unwillkürlich teilnimmt. Dazu die Unruhe,
ob ich so noch Patras erreichen könnte. Ich wusste keine Hilfe, mich
zu erleichtern, als zu rudern, bis mir das Wasser aus den Schwielen
lief. Die Gesellschaft zwar, lauter Griechen, war recht ordentlich, man
wandte mir grosse Neugierde und nachher unverkennbare Neigung zu.
Die gewöhnliche Anrede war: aya&k diöaoxale („guter Lehrer"; beides
ehrenvoll, während es bei uns hiesse dummlich gutmütiger Schulpedant).
Ein Student aus Athen, ein netter offener Mensch in Nationaltracht,
schwitzte, als er in Galaxidi abging, beträchtlich, um mit schriftlich
abgefassten griechischen Versen von mir zu scheiden. Gar lieb gewann
ich einen ehrlichen Graubart, einen alten Türkenfresser, der einst
22 Tage von den Türken in ein Fort ohne Wasser eingeschlossen den
Durst mit seinem Urin löschen musste. — Diese Leute können Dinge
erzählen! Der eigentliche Haupttrost war ein Mädchen von etwa
5 Jahren, echt griechisches Gesichtchen, in jeder Bewegung und Miene
die Anmut und süsse Koketterie der Unschuld selbst, und wie klang das
Griechische so reizend in dem kleinen, stets beweglichen Munde! Mango
ist eines der Bilder aus Griechenland, die ich nie vergessen werde. In
Galaxidi verloren die Schiffer aus interessiertem Warten auf neue
Passagiere eine Nacht und einen Tag guten Fahrwinds, eben als wir
herausfuhren, trat wieder Windstille ein. Neues unangenehmes Volk
war an Bord gekommen, darunter ein hässliches altes Weib, das mich
einmal nachts, während ich friedfertig auf dem Verdecke schlief und
zufällig sie mit meinen Füssen genierte, mich an selbigen ergriff und
zu misshandeln drohte, wenn ich sie nicht wie ein Bär angebrummt
hätte. Dasselbe verruchte Wesen hatte mir tags zuvor mein halbes
Zahnpulver ausgefressen. Es war den 13. morgens und wir waren erst
vor Vostiza, wohin uns halbwidriger Wind durch Lavieren mühsam ge-
bracht hatte. Ich stieg also mit meinem Sergeanten aus, um Pferde zu
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t
232 Vischer: Ein Brief über Griechenland.
nehmen und schnell Patras zu Pferde zu erreichen. Engländer, hiess
es, haben heute 12 Pferde mit fort; auch kein Gensd'armes ist zu haben.
Sechs Stunden langes Suchen, Markten, Konfusion, Desperation, indessen
die Hitze vom Indianischen ins Pestilentialische steigt. Endlich Pferde
bekommen, teuer genug, eines 6 Drachmen, auch einen Gensd'armes
aufgegabelt. Ab in der glühendsten Mittagshitze, noch nichts im Leib
als Kaffee und ein Brot. Abschied am Bord des Schiffes: xaiQ*i xat<P*
aya&e didagy.a'Ae, /.au (gut, nicht: schön) diöagxale. Ich antwortete mit
jenem in psychologischer, psychiatrischer, völkergeschichtlicher und
anderen afrikanischen Rücksichten höchst merkwürdigen Gemisch von
Alt- und Neu-Griechisch, Italienisch, Französisch, Deutsch, das ich über-
haupt auf dem Schiffe geredet. Zehn Stunden zu Land nach Patras.
Unterwegs nichts gefunden, als Brot, Zwiebel und Wein. Abends 10 Uhr
Ankunft in Patras. Mein Sergeant macht Quartier im Gasthof, wo er
mich für einen Sergeanten ausgab, um mir wohlfeil zu betten. Dem-
nach wunderte man sich sehr, als ich ein nicht frisch überzogenes Bett
perhorreszierte, und ich arbeitete schon in Gedanken an einer kleinen
Schrift: Wie, warum und aus welchen Gründen ich kein Sergeant sei,
als der Wirt bemerkte, dass ich mich am ganzen Körper (das tut nach
fünf Tagen, wo man unmöglich Wäsche und Kleider wechseln kann, gar
wohl) mit Wein wusch und der Mythus in Nichtigkeit versank aber auch
die Preise in Realität stiegen. Den andern Morgen, wer steht da lang-
weilig vor meinen Fenstern auf dem Platze und kratzt sich echt deutsch
hinter den Ohren? Es ist mein lieber, ehrlicher GÖttling, der nicht nach
Konstantinopel ist, wie er vorhatte, sondern mit demselben Dampfschiff
nach Ancona fuhr.
Wie ich immer glücklich bin, so fanden sich diesmal englische Damen
und reiche Korfioten an Bord, mit denen ich innerhalb fünf Tagen auf
einen engen Raum zusammengesperrt, kein Wort wechselte. Die Damen
standen schnell auf, wenn man sich auf vier Schritte in ihre Nähe setzte.
In meiner Kajüte spielte auch einmal wieder ein fetter Pfaffe die Haupt-
rolle. Ein junger Amerikaner, und zwei deutsche Ärzte aus Griechen-
land waren die einzige Ansprache. Dieses Gefühl, verachtet zu sein,
als ob man zum Pöbel gehöre, so gleichgültig die Personen sein mögen*
von denen es ausgeht, kann einen nach fünf Tagen schon ziemlich gut
stimmen.
In Triest angelangt, begann nun die Quarantäne. Was dies für
ein Zustand war, werde ich euch mündlich erzählen, und es wird euch
nicht mehr wundern, dass ich mich bewegen Hess, nach zwei Tagen mit
mehreren andern Sbogiio zu machen d. h. man nimmt ein Bad, geht nackt
aus der Quarantäne, wirft sich in gemietete Kleider und ist nun frei, fühlt
aber erst, was es beissen will, von all seinem Eigentum und kleinen Be-
quemlichkeiten getrennt, herumzugehen. Ich sah in den hundsgemeinen,
gemieteten Kleidern aus wie ein englischer Matrose, der Amerikaner
wie ein pensionierter Schreiblehrer, der Militärarzt aus Modon wie ein
verwilderter Setzer und der Oberarzt aus Argos wie ein hoffnungslos
auf sich beschränkter Hausknecht. Diese Vergleichungen wurden ein-
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Äarl SbeoDor ^eigel : tfantebut.
233
stimmig als die allein richtigen konstatiert. Ich hatte auf unseren
Landsmann Frey gehofft, der in Triest Hauslehrer ist, — er war am
Tage unserer Ankunft nach Hause abgereist. Ich hatte einen Brief an
einen jungen Kaufmann — er war zufällig nach Petersburg abgereist.
Endlich fand ich zufällig einen Schotten, den ich in Florenz kennen ge-
lernt, der mir bessere Kleider, Haarbürste, Kamm, Hemden und anderes
lieh. Ich hatte mich heftig erkältet, ein Vomitiv rettete mich von einem
Gallenfieber, ich bin aber bis jetzt halbkrank geblieben, Gallenkrankheiten
bilden sich gern im griechischen Klima. Hole der Satan dieses windige
Nest, ungesund, durch nichts berühmt, als Winckelmanns Ermordung,
und doch kann ich nicht einmal dieses Haus erfragen.
Da ich jetzt für den kleinen Rest des Semesters in Tübingen un-
nütz bin, so gehe ich nach Wien, die dortigen Kunstsammlungen und
deutschen Manuskripte zu studieren. Im September nach Hause. Ich
freue mich, die Freunde wiederzusehen. Ich freue mich, meinem
Vaterlande zu dienen und das Neugelernte lebendig mitzuteilen. Die
Entbehrungen meiner Situation werde ich ruhiger als vorher tragen, denn
ich bin, so Gott will, um ein Jahr und seine reichen Erfahrungen ge-
lassener geworden. Habe ich doch Genuss in meinen Studien, da kann
man ja endlich doch auf Lebensgenuss verzichten. Lebensgenuss heisse
ich: ... ich streiche dies aus, weil ich euch zum Schlüsse nicht noch
mit Definitionen quälen will. Lebt wohl, meine Lieben, ein glückliches
Wiedersehen!
Triest, den 29. Juni 1840. Euer F. V.
jn { LAJft I ^ r-M i4ja ^» tam -Ot ^ sä* LM_ym. LAJft L^_>-* L^J« LMJ^ CAM I M IE CMJtk LA,?* e ^ Ui
Hanb*\)uU
Ucn Äorl Sbeobor #eigel in 3J?ünd)en.
5Ber altba»rifd)e* ©tabtleben fennen lernen will, barf ed Ijeutjutage
nid)t tnefjr in SHÄndjen fudjen. T)ai maffentjafte Einbringen frember <5le<
mente l>at ben SBolWcfytrafrer btefer ©tabt t>6Htg »eranbert; fogar ©enbltnger*
fhrafle unb Za\ ffnb nidjt ganj immun geblieben, dagegen ift unt>erfalfd)ted
Stajuwarentum nod) fyetmtfd) in SJanbdrmt, Straubing unb einigen Snnftabten,
unb auf ihre SDewofyner paflt im allgemeinen nod) heute bie flaffffcfyr ©d)i(»
berung, bie 2foenttn »or nafyeju üier 3al)rf)unberten »om Soffärum fetner
?anb$leure entworfen bat.
2ßie wenige Sttündjener fennen biefe in wenigen ©tunben erreichbaren
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234
Äorl SbcoDor geiget: CanMtmt.
Nachbarorte, — unb bod) »are in*befonbere ein ©efud) ber alten Jßergog**
tfabt an ber 3far nad) mel)r al* einer SXichtung lofjnenb!
3n manchem erinnert 2anb*hut an 2Htheibelberg, nur ffnb am 3far*
jtranb Sttatur unb $D?enfd)en»erf fd)ltd)ter, berber, ur»üd)flger. ÜBahrenb
ber SRecfar ruf>ig unb frieblid) burd) fruchtbare* ©efilbe gleitet, eilt bie 3far
jähen Saufe* in fieftgem ©ett bahin, unb bie gat?(Iofen angefd)»emmten
©anbinfeln jeugen »on ber ?aunenl)afttgfeit be* »Üben ©ebirg*finbe*. Jj?ier
wie bort begleiten ben a(u$ grüne ÜBalbberge, beren SXetj jebem and J^erj
geht, ber bie 2 d) onhcit einer SJanbfdjaft nicht nad) Detern ju meffen pflegt
31 lt fünfHerifchem 3Bert freilich ift bie 5rau*ni$ nid)t mit bem Jßeibelberger
Schloß ju oergleichen, bod) aud) bie alte SBurg auf bem J^ofberg belebt
ungemein »irfung*»oll bie ?anbfd)aft. 9J?it ihren »ielen Sürmen, Palleten
unb <56Uern fugt fie jTd) ber Umgebung fo fjarmonifd) an, baß ba* ©anje
ben Sinbrucf be* ©elbfloerftanblichen, fraulichen, langft ©efannten gewahrt.
Der Bahnhof ift jiemlid) weit »on ber ©tabt abgelegen, ifi aber
bereit* mit if)r burd) eine #auferjeile oerbunben. Über bie Sfarbrütfe, bie
am 21. Bpril 1809 ben SRücfjug ber bei 2(ben*berg gefd)(agenen £|terreid)er
fat), gelangt man an ber flattlidjen gotifd)en #l.*®eiftfird)e oorüber in bie
ungen>6t)nlid) breite #auptflraße. «£ier freien nod) fafl lauter t)ol)e ©iebel*
baufer; an Dielen haben fid) aud) bie alten Rauben mit prachtoollen ©e»6lbe*
rippen erhalten; nod) fehlen bie riefTgen ©djaufenfter ber mobernen ©roß*
naht; fogar in (>e$ug auf bie Halterung ffnb, »a* bem ein)iel)enben ©ait
am »enigften »ünfd)en*»ert erfahrnen mag, ben 2lnforberungen ber SReugeit
nur geringe 3ugeftänbniffe gemadjt »orben. ©o l)at bie Hltftabt biö jum
heutigen Sag im großen unb ganjen it)ren mittelalterlichen Cfyarafter bewahrt.
£anb*hut »erbanft ber l)od) über #dufern unb Kirchtürmen ragenben
fcurg (Sntfiebung unb tarnen. Der um bie 2Benbe be* fünfzehnten 3abr*
bunbert* lebenbe Gbronift Seit QTrnperf, ein £anb*huter ©tabtftnb, »eiß ju
berichten, #erjog ?ub»ig ber Welheimer, tyabt, »eil bie Kaufleute auf ber
Straße an ber 3far burd) Räuber beunruhigt »orben feien, eine ©arte
gebaut, bie, »eil jum <5d)U$ ber ?anb* unb ffiaiTcrftrapni befrimmt, ben
SRamen £anbe*t)ut, ©d)irm ober .öut be* Sanbe*, erhalten habe. <Srfl im
fechftehnten ^ahrhunbert tritt für ba* <5d)loß ber Sftame $rau*ntfc 0£ru»e**
niht = irau1 beffen nicht l) auf, ohne baß feftyuftellen »Are, »e*halb biefer
Sftame ber befannten ftefte im baorifdjen fttorbgau, in »elcher ftriebrid) ber
©d)one nad) ber ©d)lad)t bei 3Bül)lborf gefangen faß, auf bie #er$og*burg
an ber 3far übertragen »urbe. Ärnpecf* (Jrflarung be* <5tabtnamen* bürfte,
weil ffe bie ein fach fre ijt, bie befte fein; nur muß bie Erbauung ber ©urg
fchon früher erfolgt fein, »eil fd)on 1183 ber erfle #er$og aud $Bittel*bad)i*
fchem J^aufe, JDtto I., „apud Landlshutam" eine llrfunbe audfteKte. Xuö
jener ülteflen i&auperiobe flammt bie (3eorgöfapel(e auf ber fßurg, ein »abree
Sdimurf fÄüdiett romanifchen 3 nie. Cr* ruhen eigentlich j»ei Kapellen über*
einanber, bie eine für bie fürftliche Familie, bie anbere für bie übrigen
Q>urgbe»ohner beftimmt. 9?ahe beim Eingang ift ein Sotipbilb in alter-
tümlicher 6d)ni$erei, ben hl. ®eorg barfteüenb, angebracht. Da* ©pruef)*
banb erinnert baran, baß bie Kapelle ber 9>ietAt König ¥ub»ig* II. ihre
tfBieberberfteUung banft.
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Äorl $beobor #etgel : fr»nb$l)ut.
235
Die Anlage ber ©tobt am $uße be* ©chloßberged, b. b. bie Ummauerung
einer oermutlich fd)on oorhanbenen Dorfmart erfolgte nach juoerlafjigen SftaaV
richten im 3ab,re 1204. Die SWarftfreityeit, welche ber ?anbe*herr, J)ier {Ugletch
and} Wmnbherr, oerlieb,, $og Jßanbroerfer unb #anbel*leute an; ba* rafdjc
Änwachfen ber ©eoölferung Idf t fleh au* ber fteigenben 3ar>t ber Urfunben
über Stauf*, SaufaV unb ©tiftung*oertrage oon bürgern erfennen. 2Öa*
bie politifche ©ebeutung be* ©aoerlanbe* auf* fchwerfte fchabtgte, oerhalf
ber ©tabt ju erhöhtem Snfehen: feit ber erften £anbe*teilung »on 1255
war ?anb*b,ut ber Raupten be* J&erjogtum* Sttieberbaoern unb bte Steftbenj
ber jüngeren tyerjoglichen Vi nie. Die «Oerjoge wohnten auf ber ©urg; erft
im fechjebnten 3abrt)unbert erbaute ftch J&eqog Submig X. »on 9?ieberbaoern
in ber #auptftraße ber ©tabt einen ^alaft in einfachem italtenifchem SXenatf
fanceftil. Die funftgefchichtliche ©ebeutung biefe* oon bem SRantuaner
3ntonelli unb bem Deutfdjen ©igi*munb 3Ba(d) nach bem SJorbtlb be* fa-
la$$o bei $e in SBantua errichteten, mit intereffanten Jredfen gefchmurften
33auwerfe* ift jungft burch eine Sonographie oon 3>a|Termann>3orban „Die
beforattoe ÜÄaleret ber Stenaiffance am baorifchen J^ofe" in heßere* ?id)t
gerueft werben.
Da* ber SXeftbenj gegenuberliegenbe SXatbau* ift um bie SÄitte be*
neunzehnten Dahrhunbert* in ber unfeltgen <Periobe ber #errfchaft ber £e»be*
foffifdjen ®otif reftauriert, b. h« oerunftaltet morben.
9Belch farbenreiche* SMlb mag ber >))la$ »or bem 9tatf)au* 1475 geboten
haben, al* au* 2lnlaß ber berühmten «£o<hjeit #er$og ®eorg* be* deichen
mit J^ebwig oon s))olen ein gfdnjenbe* furnier abgehalten würbe. Saufenbc
oon ©aßen waren bagu nach Vanfcähut gefommen; Sftarfgraf Wibrecht oon
^ranbenburg allein führte 1500 ^ferbe mit ftd). Unb neben ben ©elabenen
„feinbt auch fonfl oiel guette 2eirb auf ber #ochjett gweft auf ihr felbp
Xbenbtheuer, bie all gefuettert unb gefpeift werben feint oom Jpofe".
9öie fraftig fleh fchon im fünfzehnten jabrbnnbert ber ®emeingetft
ber t&urgerfcnaft entwickelt hatte, beweifen bie wirflid) großartigen ©chopf*
ungen ber chriftlichen 35aufunft in £anb*hut au* jener «Periobe. Die nahe
beim SXathau* gelegene St. SD?arttn*firche fann al* ba* STOufter eine* im*
pofanten 3iegelbaue* bezeichnet werben. Der 454 $uß t>or>e $urm ruht
gleichfam nur auf jwei dauern, ba mittenburch ba* große «£auptportal
gebrochen ift. Da* ©terngurtgetoolbe ber breifchiffigen J^auenfirche wirb
nur burch einige wenige Pfeiler oon fchlanfem üBuch* unb fchwinbelnber
•öobe getragen, fo baß bie Fachleute „bem feefften SÖau in feiner %rt" immer
ihre ©ewunberung gesollt haben, SRit ftoljer $3efriebigung rühm: SBeit
Jlrnperf in feiner 1493 gefchriebenen tihrcmf, baß ber bamal* noch im $au
begriffene Zuxm nach feiner Sollenbung im Deutfchen deiche nicht feine**
gleichen haben werbe, unb e* haben ja auch nur wenige Sttünft er türme
bem ?anb*b,uter ben Vorrang abgewonnen. Tin ber ©ubwanb oon <Bt. Martin
ift bie originelle ^>ortrÄtbufte be* „meifter* ber firchen" angebracht, be*
erften ©aumeifter* »Oan* ©tetthamer oon ©urghaufen, „©tainmaiß unb
2Kaler, auch ©ürger ju ?anb*hut," ber fleh bemutig al* Äonfole be* leibenben
£eilanb* bargefteOt bat (geftorben 1432). SBon SÄeifter J^an* ift auch Me
prachtige Spitalfirche erbaut, fowie bie einfachere ©t. 9?ifla*firche.
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236
Äarl Speober J^ctgcl : tfanbäbut.
23on ben ©ebauben ber hinter 6t. Martin gelegenen 9?euftabt ijt ba*
ehemalige £omtnifancrf(o|tcr bemerfendroert, weil e$ in ben Sauren 1802
bid 1828 Si$ ber üon 5» gel Trabt hierher verlegten hau rillen J?ocM"cbule
war. Sd)on 1779, ald bie Regierung in $anb$l)ut aufgeläft würbe, regte
tfurfürjt Äarl Stjeobor bic $rage an, ob nid>t jur (Sntfdjabigung ber lonaren
©tabt bie Untöerfttdt borten »erpflanjt »erben foflte, bodj erfl unter bem
9*ad)folger SWar Sofepr) erfolgte „bie $lud)t au$ bem Werfer/' bie Verlegung
ber £od)fd)uIe au$ ber $efhing$ftabt nad) bem ga(Hid)eren 2anb*l)ut. ©rofle
£njiel)ung$fraft war bem neuen SWufenjifc nid)t befdjieben; er jAfjlte im
erften 3at)re auffaßenb wenige afabemifdfe SMtrger, 146 3n(anber unb
26 Buälanbcr. Unb bcrfi wirften in ?anb$f)ut lehr tüchtige Lehrer, e j fei
nur an bie grofen 3uri|ten 6aoigu», Weimer, ^euerbad) erinnert. 3n
©at>ign»ä .Dane mar ißettina oon Xrmm ein gern gefet)ener ©aft. ohr
trüber @lemen$ Brentano fdimdrmtc für „bad liebe ?anb$but mit ben
gemeinten Giebel hdnfern unb bem geblacften Äirdjturm, mit bem Spring
brunnen, aud beffen 9l6t)ren nur fparfam baä ÜBaffer lief unb um ben bie
©tubenten bei nddjtlidjer ffieile itjrc (Sprunge matten unb fanft mit $Iote
unb ©uitarre affompagnierfen unb bann aud fernen ©trafen il>r ®uV Stacht
l)6ren ließen." Sin weniger friebliche* Mb gewahren bie 3roiftiflfetfen im
Sdwpe be* 2et)rerfoUegiumS, bie au* bem flein(tdbtifd)en älatfch immer
neue 9Jal)rung jogen unb nid)t jur 3lube famen, btä tfdnig V'ubwig I. in
richtiger Grrfcnntniö' ber wabren Urfadje be$ Siefftanbe« ber £od)fd>uIe bie
Verlegung in bie £auptfiabt beä l'anbeä anorbnete.
Seitbcm ffnb bic Strafen mcM mehr burd) fr6t)(id)e ÜÄufenfoljne
belebt. £ie Erinnerung an bie ?anb$fyuter 3eit errjielt fidj nur nodj burch
ben ©üterbejtfc ber Unioerfttät in ber Umgebung ber nieberbaprifdjen «Stabt.
üor wenigen Jahrzehnten befanben ffd) barunter — 3Beinberge, benn
bamalö mürbe noch ber ©efudjer bed J^ofbergeä, mie ein Ranbäljuter tfhromir
mofylwollenb fdjreibt, „burd) bie fauerfujje pracht unb £uft bed ©einitoefe*
an £eutfd)lanb$ milbere 3onen gemannt." £er Sefuit fcalbe brüeft ftdj in
einem 2?er$d)en auf ben ?anb$f>uter $ofberg meniger galant au«:
„2Bo natürlichen Sffig meint tai Slebengelänce" ....
3fuf einem mit 3iegelfteinen gepflajlerten, »on 9?u0bäumen befdjatteten
'Pfabe get)t e$ jiemlid) fleif empor jur «£erjog$burg. (Sine jefct gemauerte
©rüde führt über ben Sdjloßgraben j» einem ftattlidjen, oon jwei Wurmen
flanfierten Sorgebaube. 2fud) fonff fet)lt e« nicht an türmen unb Söafteien,
3Be(jrgangen unb ^alfonettjwingern; bie au« i»erfd)iebenen 3al)r^unberten
(lammenben ©auten tragen natürlid) »erfdjiebenartige« ©eprage, unb bod>
mutet ba« ©anje mie auf einen Jon gufammengeftimmt an. 3m
Onnern gibt e« gar »iefeä ju flauen. I)urd) IjaUenbe ®6nge gelangen mir
in eine $lud)t pon SÖanfettfdlen unb »einen ©ofjnfhiben, bod) fehlen bie
spolfterfae unb ^eppiebe, Tfnridjten unb ÜßanMeudjter, bie ben 2Tufentbalt
in biefen SRdumen erft bet)aglid) madjten; nur ba unb bort erinnert noch
ein üttarmorfamin an bie entfdjrounbene fxad)t.
2fm 21. 3fugufl 1869 erhielten biefe ©emdd)er uberrafd^enben ©efud?.
^onig ^ubrnig II. meilte einen Sag unb eine 9?ad)t in ber ©urg feiner
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Starf Stator getgd: Canbdput.
237
S&tex. Da* Äunjtlerauge be* jugenblichen dürften fcheint an bem 9Uij ber
^erjogflabt mit ihrer $rau*ni$ ©efatten gefunben ju haben, benn er gab
$efel)l, im jweiten ©totfwerf ber ©urg ein Bbfteigequartier einzurichten.
Un»er$üglid) würben einige ©elaffe mehr prunf* alä gefchmaefoott au$*
getrauet, bod) Subwig fam niemals wieber nach V'anböbut. Der £6nig$*
befuch »ar nur ein fluchtiger $raum ber alten #erjog$burg
!8on ben ßönigdgemachern tritt man hinauf auf ben Voller, bejfen
&ogenöffnungen herrlichen Uberblicf gewahren über bie 511 Jvüflen liegenbe
§rabt unb bie weithin ftd) behnenbc, malbumfdumte Gfbene.
9?un febren mir ine Grrbgefcbop juruef auf ber fehneefenartig um einen
verliehen Saulenbau fld) minbenben „Marren (liege". Der Sftame rührt fyer
von fcen SBanbgematben, lebendgroßen ©Übern aud ber altitaltenifchen
Äom6bie. Da fe!)en mir ben »erliebten alten Polterer, £errn 9>antalon,
mit feinem flugeii Diener 3anni, ben glficflidjeren ?iebt)aber «Poliboro, bie
liftenreiche (5amiüa unb anbre luftige ?eute! Die ©über, »ermutlich »on
bem S&ündmer SWaler $an$ ©ocWberger gegen (Jnbe be* fechjelmten 3abr*
bunbert* aufgeführt, finb fo gravid) übermalt, baf} in biefem ftalle un*
bebenflich eine SXeftaurierung ju empfehlen wäre. —
<$i hämmerte fdjon, al* ich bei meinem jüngften Q3efud>e ber .£er$og**
bürg abenbö ba$ ©chwebentor burchfehritt, um burch ben J^ofgarten unb
über ben «£ofberg in bie Stabt jurücf$ufeb/ren.
(Schon 1452 erfcheint unter bem tarnen $aag ein ju $üpen ber SBurg
angefegter Tiergarten, in welchem f?d) bie durften mit ihrem (befolge beö
„eblen" ©eiaibä erfreuten. 3e$t behnt ffch tfitv weithin ein »richtiger ^arf,
burch furflliche Jßulb bem allgemeinen Q5efud)e geöffnet.
£ier ift e* immer fchön, im Senj beim Erwachen ber Sttatur »om
ffiinterfchlaf, im Sommer, wenn ein bichte* ?aubba<h fühlen ©chatten
fpenber, unb fpdter, wenn
„ber SDfaler £erbft mit fd)ünmernber Palette
©treift ob 00m bunflen ffialb tai ernfte ©rün,
Unb gie§t ber garben bunte ffledtfelfpiele
Hui ©ollen ©cbalen nerfenb brüber bin" ....
2Bie oft faf ich — *i ift freilich lange tyff — unter biefen ÜÖipfeln
unb laufchte bem Sang eineö 2Ba(b»ögleinö ober fchmtebete wohl gar »er'
liebte Serfe, bie Sag* barauf »erbientermaßen baS ©efduef ber .Hinter
3arurn6 ereilte.
3n biefem ©arten gibt e* nicht bloß ©uchen unb Ulmen »on un*
gewöhnlicher bracht; hier gebeten aud) bie echte Äaftanie, ber Sulpenbaum,
bie »irginifche 3*ber unb anbere ^>flanjen ber fublicheren 3»ne. Unb neben
beT reichen ftlora erg6$t ben Suftwanbelnben eine %üUt uberrafchenber 3lud*
b liefe, bafb auf bie fdilanfe ©pifee M SÄartinÄturme*, halb auf ba* ge?
wattige 9Raf(f» ber $rau«ni$, balb auf baä Dfartal, beffen ?inien fleh all*
mählich in $arbe unb Duft verlieren.
&aum hatte ich ben bamoiernben ©arten r er 1 äffen, würbe eö ringe um
mich her laut unb lebenbig. 3n ben Ußirtögarten M Jjcfberged brangte
fleh eine larmenbe ?D?enge. (Sine ©onntagdfeier im ©efdjmacf ber Denier«!
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238
fori Sbeobor £etgel: eanbStjut.
4
(Sine SWufifbanbe gab ein tfonjert, ba* gan$ geeignet war, ©teine ju er*
weidjen, $Wenfd)en rafenb ju machen, bod) je falfdjer bie trompeten
fdjmetterten, befto l>6f>er (lieg bie 2u(t ber in langen Steigen an ben ©ier*
tifdjen fifcenben ©afle. res Singend unb Daueren* war fein <5nbe. 2fuf
ber Äegelbahn mußte (Td) ein ©freit entfponnen Ijaben, benn üon bort b.er
erfdjollen t)elle 3orne*rufe — ba würbe e* p(ö$(id) (tili, — »om SKartin**
türm brang tiefer ©foefenton herüber, anbre ©foefrn fielen ein, — im
©arten, wie auf ber Kegelbahn »erflummten £drm unb ©efang — bod)
faum war ber Ie$te $on be* Boefauten* »erfaßt, begann ber Htm auf*
neue, unb immer t)6t)er (lieg bie bacd)ifd)e ?ufi.
„£a* baierifd) »olf," fd>reibt 2f»entin, „gemainlid) baoon ju reben,
i(l geiflfid), fehle du unb geredjt, lauft gern firdrferten, t)at aud) »iel ftrd)*
fart, . . . pletbt gern baljaim, rei*t nit »a(l auf in frembbe lanb, trinrt
fer, madjt öil finber, i(l etwa* unfreuntlidjer unb einmütiger (einfacher,
weniger gewanbt, weniger umganglidV), äff bie (inbem ffe) nit »ief auf
fommen" ufw.
Derb ftnnlid), aber gefunb, fo Idft fid) mit furjem ©djlagmort ba*
nieberbaorifdje $olf*tum fennjeicfjnen. X)a* »on ®oetl)e in einem ©riefe an
©ulpij ©oifferee auf bie Tonern geprägte $öort: „$?enfd)enfinber pon einer
mittleren Unfdjulb", bietet nur einen fdjetnbaren 5Biberfprud). Buct) wer bie
Übertreibungen ber mobernen Semperenjler »erladjt, fann nur bef lagen, baf
ber Äultu* be* ©teinfruge* in biefen ©auen mit fo au*fd)meifenben Sranfopfern
»erbunben i(l. Dod) t)ute man ftdj, ba* bittere Urteil fdjablonenljaft auf bie
ganje ©epMferung au*jubel)nen! Danfbar befenne id), baf id) watjrenb meine*
2anb*t)uter Sufenttjalt* in »ielen J^dufern anmutige* beutfdje* Familien*
leben unb in Vereinen regfame ©etdtigung an ,tfun(l unb ffiiffenfdjaft
fennen gelernt Ijabe. $rei(id> fann fid) aud) ber unbefangene unb woljl«
woHenbe ©eobad)ter nidu perfjefyfen, baf in Jjanbel unb ©anbei eine ge*
wiffe 9tü(f(länbigfeit ju befragen i(l unb in mannen Greifen ein felbfl«
genügfame* Wliflertum (Id) breit mad)t, — eine 3Bal)rnet)mung, bie mir
aud) in jüngfler 3eit von (Sinljeimifdjen befldtigt worben i(i 2J?an fann
gewif nur banfbar begrüßen, baf bie lieblidje ©tabt am 3farge(labe jur
3eit nod) »om ner»6fen, groffldbtifdjen ©etriebe oerfdjont ift; man fann nur
wünfdjen, baf ffd) ba* etjrwürbige £anbwerf wenig(len* l)ier nod) längere
3eit im freien ©piel ber Gräfte behaupten m6ge. ©ei aßebem i|t aber
nidjt abjufetjen, we*t)alb fid) nid)t baneben ein frifdjerer ©rofbetrieb ber
Snbuftrie entfalten foßte, — l)at bod) bie gütige 9fatur felbfl baju ein*
geloben burd) (Erfüllung aller nötigen SSorbebingungen! 3m ©ettftreit ber
©tdbte muf beute jebe* ©emeinwefen mit Aufgebot aüer Gräfte ttorwdrt*
fdjretten, wenn e* nid)t tro$ be* ©eftfce* malerifd)er ©urgen unb gotifd)er
9latt)Aufer in befd)amenber Üßeife jurücfbleiben miß.
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Die Eragöfcie 5e$ 2ftbettsvetttag6.
QÖon Äarl ftlcfch in Jranffurt am 3J?oin.
9BaS ein Arbeitsvertrag ift, weiß jeber: bie #auSfrau fehltest il>n mit
bem Dienfhndbcben, ber JßauSrjerr, wenn er ffd) ein 'paar «Stiefel ober einen
Angug anineffen Idßt; ber Bauunternehmer, ber ein Duften b SWaurer einteilt,
fchliept jwilf Arbeitserträge ab; ber ^abrifant, ber für feine neue ^abrif
ein paar bunter: Arbeiter annimmt, ein paar hunberr. rrfebeint nicht
nur, wie aU bie 9ted)tSgefchafte beS taglichen SebenS, profaifd) unb Hein*
lid), fonbem auch, mehr alS alle anbern, gletd>gu(ttg unb unwichtig für bie
©efamtheir. @o hat il>n benn auch bie 9ted)tSwiffenfd)aft bittet recht neben*
fach Ii* behanbelt, unb namentlich bie Alteren Suriften haben auf ber Unioertftat
fafl nichts Aber ihn gebort. Stur freilief) beucht tiefe ©leichgultigfeit
unb Unwichtigfeit eben nur für bie ganj eberfla Gliche Betrachtung; auf ben
einzelnen ArbeitS»ertrag, wie bie <Perfonen, bie ihn abfcbjießen, fommt freilief)
nichts an; aber bie Lebensfragen ber ganjen Be»6lferung, ob bie wirtfebaft*
(id)en Serhaltniffe im £anbe gut ober fehl echt fmb, bao s10 o h l unb 3Bchc jebeS
einzelnen unb bie üttacht bce- <5taatei, hangt fcbließlid) baoon ab, ob jeber, ber
wtU, ArbeitSoertrdge abfcbließen, b. I). Serbien ft finben fann, ober nicht.
Der Arbeitsertrag tft baS einjige SDfittel, baS ber Unternehmer bat, um Arbeiter
ui finben, er ift, abgefehen »on ber ^amilie unb abgefel)en oon ber Armen*
pflege, baS einjige SDNttel, baS unfere 93olfSwirtfd)aft bem SBermogenSfofen jur
Verfügung (teilt, um fein ?eben ju friften. AuSfcbluß »om Arbeitsvertrag tft im
mobernen (Btaat, waS bie Achtung, bie aqua et igni interdictio im Altertum.
Unb wenn Familie unb Eigentum alS ©runbpfeiler unferer ©irtfdjaftSorbnung
bezeichnet werben, fo foU bann nie uberfefjen werben, baß biefe beiben ®runb*
pfeiler wanfen, fowie ber Abfcbjuß von Arbeitsverträgen geftert ober gar bauernb
unmöglich gemacht wirb, ric Familie Idft [ich auf burch bie 9?ot unb Verwahr*
(ofung, weicht bie ArbeitSIoftgfeit erzeugt, baS Eigentum unb bie öffentliche
Sicherheit werben gefahrbet, wenn mit ber Arbeitsgelegenheit ben Unbemittelten
bie 2»6glid)feit ber (Srijtenj befchranft wirb. „DaS große gigantifche ©cbtcffal,
welche« ben STOenfchen erhebt, wenn eS ben SWenfchen jermalmt", liegt für bie
große «Wehrjabl aller StaatSeinwohner in ber ftrage, ob unb welche Arbeits*
»ertrage fie abfd)ließen f6nnen! Unb wenn bieS alleS jur 3eit, unter bem (Jin*
brutf beS Kampfes, ben bie Bergarbeiter im 9tuhrgebiet gegen ihre „Arbeitgeber"
fuhren, auf weniger SÖiberfprurf) rechnen fann, alS vielleicht früher; wenn eS
fogar faß a(S @emeinpla$ erfebeinen mag, für ben, ber einmal »erfud)t hat, auS*
gubenfen, waS ber jnhalt einer fleinen 3ettungSnott$ über einen Streif ober
über eine AuSfperrung ober über eine ArbeitSlofenoerfammlung ober über bie
pl6$(trf)e Schließung einer ^abrif infolge BranbunglucfS ufw.fur jeben ein je Inen
ba»on betroffenen Arbeiter unb beffen Familie bebeutet, fo muß eS eigentlich auf*
fallen, wie wenig fleh bisher unfere Dichter mit all ben Jtonfliften befchaftigt haben,
bie hier »erborgen liegen: Familie unb Eigentum, bertfampf um bie ®eliebre,ber
Äonflift jwtfchen Altern unb^inbern, jwifchen abflerbenben unb neu erwachfenben
Anfchauungen, ber Drang nad) bem Befi| »on „Sermägen", b. h- »on Stacht,
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240
Sfarl glcfd) : Sie Sragöbie bei Arbeitsertrag*.
jie alle finb in ben unjabjigften Äomplifationen ©egenftanb in*befonbere bcr bra*
matifdjen Mund geworben; mit ber Alltag*gefd)id)te oom Arbeitsertrag aber
baben fTch bie Dichter faum abgegeben; unb felbfr in ben mobernen Dramen,
in benen bie 9Jot ber Arbeiter ben ©egenftanb bittet, in benen Arbeiteroer*
fammlungen, Streif*, Arbeiterauftfanbe u. bgl. mit aUen SWitteln ber ©utjnen*
teebnif »or 2(ugen geführt werben, bilbet gewöhnlich ntdu ber Arbeitsertrag ale*
foldjer ben SSorwurf für bie Dichter, fonbern ber bcfnmmte, einjelne ArbettSer*
trag, wie er fut gemattet tnfofge ber Eigenart be* beflimmten einzelnen Arbeit
geber*, feinet @rijed unb feiner .öärtc unb @leid)gultigfeit für ba* „feiner"
Arbeiter, ober infolge ber Eigenart be* einzelnen 'Arbeiter?, feine* 5 tel^d, feiner
Abneigung ftd) unterjuorbnen, feinet 3Bat)n*, al* ftet)e er fojial bem Arbeitgeber
unb bejfen Angehörigen gleich unb ebenbürtig. 9hir wenige Dramen faffen ben
tfonflift tiefer unb fuhren nicht ben 9?ot|tanb einzelner Arbeiter, ben jufdaigen
tfonftift jmifeben bem Arbeiter A. unb bem Arbeitgeber B., fonbern bie Sragöbie
be* Arbeitsertrag* felbft bem 3ufd>auer »or, unb e* mag gemattet fein, antfart
troefener juriftifcher Au*etnanberfe&ungen unb Sitatt bie weiteren Erörterungen
über ben Arbeitsertrag an jwei biefer Dtchtwerfe anjufnüpfen. Da* eine ijt ba*
»or meh,r al* 503at)ren gefdjriebene Srauerfpiel £)tto flubmig* „Der Erbförfter",
ba* anbere eine* ber neueften 3Berfe ©jörnfon* „Uber unfre Jhraft". Der Äon*
flift in beiben ift fa(l ber gleiche: Der ftörfter Ullrich iit im Dienfie Stein*, be*
reichen Aabrifberrn unb ©üterbejifcer*; er weigert (Ich,, einem wenig jweefmaßigen
Befehle Qur Durchforftung eine* SfBalbflücf*) nachjufommen, be*ljalb wirb ibm
fein Arbeitsertrag gefünbigt. Er wiberfefct ffd) ber ihm »öllig unberechtigt er*
fcheinenben Äünbigung, erfährt bann ju feinem größten Ertfaunen, baß er bamit
nicht im Stechte fei; baß ber Arbeitgeber berechtigt fei, ihn au* ber fo lange mit
Ehren befleibeten Stellung wegzujagen, unb nuu nimmt ba* Unheil feinen Kauf:
fein ^amiltenglücf, ba* ©lücf feiner tfinber wirb »ernidjtet, feine $rau, bie
bie fflot furchtet, welche mit ber Unmöglichkeit ber Erneuerung be* Arbeit**
»ertrage* eintreten muß, bro!)t, ftch »on ih,m ju menben, unb fo entwitfelt nch
ba* graufe ©efehjef, ba* ihn jum Sflorboerfud) gegen ben Sohn feine* Arbeit*
geber* txtibt, jum STOörber ber eigenen Tochter werben unb fdjließlich. im
Selbfhnorbe ben einzigen $roft ftnben laßt.
Etwa* anber* entwicfelt 93jörnfon bie Sragöbie »om Arbeitsertrag, 3>ei
ihm left nicht ber Arbeitgeber in 3orn unb Übereilung ben Vertrag, fonbern bie
Arbeiter flreifen, um beffere Arbeit*bebingungen ju erlangen, Sie fönnen ben
Streif nicht au*halten unb wollen ben Arbeitsertrag erneuern, unb ber Arbeit*
geber, ber „£errenmenfch" J^olger, macht bie ÜBieberaufnahuie in bie Arbeit,
b. b,. bie 3ula|fung jum farglid)ften Broterwerb, Don fchimpflichen, bemutigenben
©ebingungen abhängig. Aud) b,ier treibt bie 93erjweiflung ^ur Serjweiflung**
tat, bie um fo erfdjurternber wirft, at* (te au*gefub,rt wirb »on jemanbem, ben
nid)t perfönlidje Slot, fonbern ba* reinjle SWitgefüt)! mit bem furchtbaren Elenbe
ber Arbeiter in beren Reiben geführt bat: ba* Sd)(oß, in bem unter Sorg$
Delger* bie »ereinigten Arbeitgeber baruber beraten, wie fie burd) fortgefeßten
Au*fd)(uß »om Arbeitsertrag ihre Autorität über bie Arbeiter bauernb un*
antaftbar madjen fönnen,1) wirb »on Elia*, bem ©ruber ber »on J^olger b,odj*
!) *>n «rtritcrfubrer Brcrf fagt im 3. «ufrritt M txfim «ftrf: „6ir »otten barütft
bnatm, wie fie un* nietarbaltm fonnrn, taf wir nie mrbt in bie $ebe femmm."
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Karl 3lefd>: £>ie Sragöbie M Arbeitsertrag*.
241
»erehrten SXahel, in bie ?uft gefprengt. (Sämtliche Seilner/mer an t>er Ser*
famralung gehen jugrunbe; mit ben ©efinnungdgenoffen #olgcr« auch bic
wenigen Arbeitgeber, bie in ber Serfammlung mit @rnfl unb (Sifcr »or bem
3W ipbranch ber Arbeitgebermacht gewarnt auf ba« gemetnfd>aftliche 3ntereffc
ber Arbeiter unb Arbeitgeber t)ingcn>iefen haben. — 2)?an jTeht, in beiben, ber
3<it ihrer (Jntflchung wie bem ÜBefen ber bargefleflten 2£enfd)en unb bem
„milieu" nativ fo grunbüerfdjicbencn Dramen berfelbe Äonflift: formell im
SRedjt ift ber Arbeitgeber (Stein, ber „feinen" ^örfter entlagt, weil fid) biefer
beharrlich »eigert, einem ihm gegebenen Befehl nachjufommen; unb formell
im Siecht ift ber Arbeitgeber «Oolger, ber ben Abfdjfug eine« neuen Arbeite*
»ertrag« mit „feinen" Arbeitern »on ©ebingungen abhängig macht, bie il)m
genehm jtnb fffe fallen au« gemiffen Vereinen austreten, gc»iffe 3eitungen
ntd)t fefen uf».); mit ©ebingungen, bic jubem nad) ber jurjeit nod)
t>errfd)enben Auffajfung nid)t« Unmoralifchc« haben, unb bie bieten Arbeit*
gebem — }. 93. bem jungft »erfiorbenen (Stumm — red)t jmetfmägtg fdjeinen
mögen. Audj fchilbern beibe Dichter bie Arbeitgeber nidjt etwa al« fd)lcd)te,
harte 30? mühen; (Stein muß ein tudjttger 2ftann fein; baoon jeugt bie Art,
wie er feinen (Sohn erjogen tjat, unb baoon jeugt t>or altem feine lang*
jdt)rige greunbfdjaft mit bem djarafterftarren, ehrenhaften ^5r(ler Ullrich
felbjl. J&olger (trofcbem it)n merf»urbiger»etfe 93j6rnfon gegen ba« furcht*
bare @lenb, ba« bic Arbeiter jum Streif jroang, »oIlltÄnbtg gleichgültig fein
läßt) wirb bod) al« ein genialer, groftyerjiger, in Au«ubung »on «Priüat*
wohltätigfeit unbegrenjt freigiebiger SWenfd) gefdnlbert, bem bie faft mpftifd)
»erflärte, al« Urbilb ber SÄilbc unb SKcnfd)lid)feit gezeichnete 9tar>el r)ot)c
Achtung unb »arme (Snmpatrjie »ibmet. (Sie hanbeln beibe rote ffe hanbeln,
©tein, weil er al« „£err com Duftermalbe" feinen ^Bitten burd)fe$en »iß
unb fld) bann „oor ber SMamage furchtet", fein SBort in betreff ber Auf*
läfung be« Arbeit«» ertrag« juruefjunebmen; Jßolger, glcicbfaU« im ©efufyf,
ba# er ber #err ift, au« feiner „J^errenreligton"1) r)erau«. Unb anbererfett«,
bie Arbeitnehmer in betten 3rag6bien anlangenb, fo ift ber ^orjter Ullrich
jurtjtifd) naturlich »odfommen im Unrecht. (Sein Vertrag ifi, wie jeber
sPri»atbien|h>ertrag, »orbefjaltlid) ber Äunbigung«frift uf». jebeqeit lö«bar.
'Üßa« au« bem Arbeiter »irb, bem ber Arbeitgeber fünbigt? ÜBeldje $olge*
rungen au« einer foldjen pldfclichen üfofung gegen bie dt)xt bc« Arbeiter«
gebogen »erben fonnen? £>b ber gefunbigte Arbeiter überhaupt wieber in
eine anberc Stellung gelangen, jur 3fu«fullung feiner «Pflidjten al« Jamilicn^
»orftanb unb (2taat«burger »ieber fdtjig »erben fann? Darum fummert fldj
unfer 9led)t nid)t im geringjten ! ©a« c« bem geringften ©eamten gewahrt,
(bem (5taat«biener Rupert oon (5rbmann«grun, auf ben fki) ber Aorftcr
Uflrid) beruft, unb beffen ^all er bem Anmalt, burd) ben er (Stein »erflagen
»ill, al« 'Prajubij oorbaltcn will), ba« i|t 'Prioatangeflellten oerfagt: ber
^dwn; gegen »illfurlid>c ^itnbigung. Die Arbeiter, benen ^olger unb
feine ^reunbe bie Arbeit ocr»eigern, unb bic nur bic $Bat}( haben, ob ftc
»erhungern, ober ob fTe ihr ©ünbet fa)nuren unb au«wanbcrn »ollen, unb
ber $6rjter Ullrich, ber ben Umftdnben nach gerabefo »ie jene Arbeiter auf
feinen früheren greunb (Stein al« einzigen Arbeitgeber ange»tefen t(l, jTnb in
*) ©o btttiQntt tx fflbfj ffinrn Stantpunft in htx Itntfrfealtung mit Kabel im 2. «fr.
Sublxtitf^c SNonatfWtr 11,3. 16
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242
Stoxi ^flefcf) : Sie Sragöbte ce§ Arbeitsvertrags.
tiefer ©ejtehung rechtlich »oHfommen gleichgefleltt, b. r). tyr 3Bol)l unb ffietje,
tr>r flramilienleben, tt)re gefamte eriflenj flnb ber ÜBiHfür beS Arbeitgebers preis*
gegeben, ber fte behalt, folange er will, unb fie entlaßt, — wie ©rein ben U Ilm*,
— fo wie er miß, ohne baß ihm bie geringfie SSerantwortlichfeit jufaHt, wenn
fie barüber jugrunbe gehen.1) Unb noch Diel weniger trifft einen Arbeitgeber
bie Verantwortung, wenn er einen Arbeiter nicht wieberaufnimmt, ber frei*
willig gefünbigt hat, wie eS bie Arbeiter J^olgerS unb feiner Kollegen getan
haben. Daß ffe in bem Streif baS einzige Littel fat)en, um auS bem Abgrunb
berauSjufommen, „wo Ungejiefer unb Anßecfung gebeihen, wo bie »Hinter bleich
unb bie ©ebanfen fintier werben", ift gleichgültig, Daß bie Sflot, in welche
bie AuSfchließung »om Arbeitsertrag fie »erfefcen muß, fie jur SSerjweiflung
unb jum Aufruhr treiben muß, fümmert baS SRed)t nietet, ober rid)tiger gefagt,
fümmert wenigftenS baS moberne 9tecf>t nicht, fümmert bisher baS SRed)t ber
europdifdjen Jfulturfraaten nicht. Der «fterr über ©runb unb ©oben, ber £err
über bie Arbeitsmittel, wirb jum J^crrn über ben, ber ©runb unb ©oben »er-
mattet, ber bie Arbeitsmittel anwenbet. ©erabe aber weil baS Verhalten ©teinS
unb J&olgerS feine jurijrifche Sdmlb enthalt, wirb eS jur tragifcr)en ©chulb; unb
gerabe weil unS ?ubmig unb ©j6rnfon gezeigt haben, wie fid) eine ©chulb ber
furd)tbarften unb fchwerften Art entwicfeln fann, auS einem Verhalten, baS mit
ben beseitigen ©efe$en burchauS im Cr in f lang fler/t,2) unb baS nicht
etwa wie baSjenige beS 8hn toef ein AuSfiuß harter ober rachfüchtiger ©eflnnung
ift; gerabe hierin erweifen flct) beibe alS echte Dichter, baS heipt alS Seher, ale>
"Propheten. Sor 50 jähren unb in ber SRitte ber jen igen ©efeUfchaftSfcfncht, bie
man bie bürgerliche im engeren Sinne ju nennen pflegt, hat ?ubwig ben gleichen
tfonflift erfannt, ber bie mobernftc Arbeiterbewegung bel)errfcr)t, unb ben
55j6rnfon fo erfchütternb, realiftifcf) unb romantifet) zugleich bargefteHt r)at. JDb
bie Üifung biefeS ÄonflifteS gelingen wirb, baS ift baS große Problem, »or
bem unfre 3eit fleht. Die »erförmenbe Siebe, in beren «Preis baS ©jomfonfdie
Drama feierlich, wie mit Orgelton unb Äircfjengefang auSt6nt, mag im
einzelnen %aU viel ©6fcS ausgleichen, wieber gut machen. Serbinbern fann
fie ben ^onfltft nicht, bie $ragöbie beS Arbeitsvertrags, bie barin befiehl,
baß baS Arbeitsverhältnis $um 07?achtt>erhaltniS, ber Arbeitgeber
;mn Gewalthaber, fein ÜÖille $um 3cr> i <f f a 1 für ben Arbeiter
wirb, — ffe ift gegeben unb, wenigftenS nach ber h*rrfth*nben Anficht,
unauflöslich oerbunben mit ber Uberlaffung ber probuftionSmitrel an
einzelne, mit ber auf freier Äonfurrrnj unb Privateigentum aufge*
wachfenen SBolfSwirtfchaft. Die S3erweifung, bie ber ©ojialiSmuS auf eine
fünftige ©efeitigung biefer SSolfSmirtfchaft, auf ihre @rfe$ung burch eine
anbere, beffere, auf gefellfchaftlicher «Probuftion begrünbete, ift freilich feine
S6fung, fonbern ber Serjicht auf bie S6fung, bie 33ertr6fhing auf ein unbe*
») „TO «taaMbiener waren," töft ber «nwalt bem $6rfrer UÜria) berieten, „bie tonnten
nicht abgefegt werben, wenn* ihnen nicht |u erweifen ftunfe, bafj flrf »rrbient bitten, «ber 1>u
tränt feiner." Unb Ullrich antwortet barauf: „Ulfe wenn ich ein @taat6biener wäre, bann
türfte mit ber Stein nicht unrecht tun. Unb weil ich feiner bin, fo barf er mich |um
gd>urfen wadjen!" (8ft IV; «uftritt 4.)
*) „ftein @efe| »erbietet, ben f leinen Heuten ba* Sennen unb 8eben«U(^t |u nebmen. 1-it,
welche bie 6onne )abm, bie baten auch ba< ®efe^ 8einao>tw, fagt ber «rbeiterfubm Sratt tn
erfien «uftug oon „Übet unfre Äraft".
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ffarl ftlefdb: Die Sragöbie fceS Arbeitsvertrag*.
243
fannteS beffereS ÜjenfeitS. (Sine neue Drbnung ber 33olfS»irtfd)aft läßt (ich
nicht fonftruieren unb befretieren. SÖ3of)l aber muß bie (JrfennrniS beS Übe« ju
bem SSerfud) anfpornen, baß baSjenige, »aS im Arbeitsvertrag als Stecht unb
als Unrecht von immer »eiteren Greifen empfunben wirb, uim flaren AuS*
brncf gebraut »erbe in ber gefefclichen ©eorbnung beS Arbeitsertrags.
3i\d)t bie formale ©leichheit ber ©eflimmungen für Arbeiter unb Arbeitgeber,
fonbern bie SDefeitigung ber materiellen Ungleichheit muß baS 3tel fein. I)ie
rechtliche ©eorbnung ber ftachvereine, ber (Schüfe ber Abmachungen, bie von
feieren Vereinen, ©emerffchaften uf». über baS fünftige Arbeitsverhältnis
ber Arbeiter mit ben einzelnen Arbeitgebern ober mit ben ^achvereinen ber
Arbeitgeber gefd)lofien »erben; ber gefe$liche 3»ang jum Eintritt in 33er*
banblungen mit ben organiflerten Arbeitern vor (SinigungSämtern unb
3chiebSgerichten; bie AuSbehnung ber Q3e(timmungen, bie fchon je$t ben
Arbeitgeber ftrafbar machen, »enn er bie An»enbung gewifier ®efe$e ,$um
Nachteil ber Arbeiter „burch Übereinfunft ober burch ArbeitSorbnung" auS*
fehltest, (§ 180, SnvalibenverjtcherungSgefefc); bie Anerfennung, baß eine
£d)abenSerfa$pfu<ht für ben Arbeitgeber unter Umfiänten er»ad)fen fann,
wenn er »illfürlich, — b. h- nid)t vertragSwibrig, aber ohne einen,
mit bem Arbeitsverhältnis jufammenh&ngenben ©runb fünbigt, fo gut ald
je$t bereits eine ©chabenSerfafcpflicht für ben „$u 2)ienften höherer Art,
bie auf ©runb befonberen Vertrauens ubertragen »erben, Verpflichteten"
im beutfehen bürgerlichen ©efefcbud) fejtgelegt ift, »enn tiefer nicht »er«
tragS»ibrig, aber jur Umjeit unb ohne »ichtigen ©runb fünbigt (§ 627
©@55.), — baS finb fo einige ber 9tid)tpunfte, »eiche bie fünftige (?nt*
roieflung beS Arbeitsvertrags anjuftreben hat.
3m ©jirnfonfehen ©rücf, um nochmals auf baSfelbc jurücfjufommen,
tu gefchilbert, »ie #olger bie tJachvereine ber Arbeiter unterbrüeft, felbft
aber einen „ftachverein ber ftabrifanten" bilbet, unb jebe SSerhanblung vor
einem (©chiebSricrjter, „»orin bie Arbeiter gleichfam eine 3ufunft erblicfen,"
fchroff abgelehnt hat- @* enbet bannt, baß nach bem furchtbaren Unglücf
Statpl ben <£ntf<hluß faßt, #olger „$u bitten, baß er bie Arbeiter empfängt;
benn einer muß ben Anfang machen mit bem Sergeben". 3BaS hier nad>
einem ©rauS von 9?ot, (5lenb unb Verbrechen erbeten »erben foU, — bie
^erhanblung j»ifcr)en Arbeitgeber unb Arbeiter als ©leichberechtigten — ,
baS bat, »ohl bem ^Dichter unbewußt, baS ©efefc fchon in manchen Staaten
erjmungen, eine ähnliche ©reuel ju verhüten, »enn ber dichter auch für
unS bem ©efc$ vorausgeeilt ift.1)
*) förr fia) für bie angebeuteten Äea>t«fragen interfffiert, fei »erwiefrn auf 8 Otmar,
larifeertrÄge jtrtfa>en Arbeitnehmern unb Arbeitgebern; unb £ et mar, ber Arbeitsertrag, 2. 110 ff.
Z. 250; ferner au$ ftlefA, 3ur fftitif M ArbeiWwrtrag«, unb ftlefA, in brr beutfaen
3urifrfnjrirunä com 1. JJuni 1901, wo au<$ bie bejüglidjen ©efefce — »on ®enf, Neuc&rlanb;
MrfAiebenen Union^ftoaten ufw. — j unb GJffetennrürfe angeführt finb. — £>er »orliegenbe Huf*
fa| iß übrigen« bereit« »er jwei ^abtni gefArieben-, lebigü<$ ein, auf ben @trrif int ftubrrevter
befugnebmenber 2a? ift ie$t, vor ber <X>rucflegung, in bat SHanuffript eingefroren, trdbrenb
fonjHgc 3ufo*e unb ^araUelen §ur unmittelbarfren ©egenwart abftytlty veralteten fint.
16*
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Weltlage und Parteipolitik.
Von Friedrich Naumann in Schöneberg.
Es ist nicht ganz leicht, gerade jetzt über unsere deutsche Welt-
lage zn reden, denn die Klagerufe vom Hererolande und die unsagbaren
Opfer des russisch-japanischen Krieges machen selbst solche Staatsbürger
scheu gegenüber aller äusseren Politik, die sonst in einfacheren Zeit-
läufen gern bereit sind, das offizielle Mass von Patriotismus zu beweisen
und über vaterlandslose Gesellen sich pflichtgemäss zu ereifern. Das
doppelte Gefühl, dass alle Machtpolitik ungeahnte Gefahren in sich
trägt und dass alle Kriege voll von Barbarei sind, gewinnt auch im ge-
bildeten Bürgertum an Stärke und bedroht den so wie so nicht über-
mässig starken politischen Sinn der Deutschen. Was nützt es, Bismarcks
grosse Gestalt an die Wand zu malen? Ja, wenn wir Bismarck hätten,
dann wüssten wir, dass unsere Opfer einen Zweck haben, aber jetzt
unter Bülow ist jene starke Garantie für erfolgreiche Verwendung nicht
vorhanden, jetzt genügt es, die Verteidigung zu organisieren und welt-
politisch bescheiden zu sein! Haben wir für diese bescheidenere Auf-
gabe nicht längst genug Soldaten und Schiffe? Wer sich mutwillig in
Gefahr begibt, kommt darin um. Es ist also, so hören wir, heute ein
ehrlicher Dienst an der Gesamtheit, den übertriebenen Ideen von
Grossmachtsstellung entgegenzuarbeiten. Machen wir eine billige und
nüchterne Politik! Alles andere ist vom Übel. So klingt es vor allem
fast auf der ganzen politischen Linken.
Und wie ist das alles so einleuchtend für alle die, die wenig Welt-
geschichte kennen! Sie können nicht wissen, dass die Lage des Deutsch-
tums auch ohne alle Fehler, die von uns gemacht werden können,
in der Tat voll grosser Gefahren ist, da sie kein Gefühl dafür haben,
ein wie neues geschichtliches Ereignis die preussisch-deutsche Macht
ist. Da sie selbst sich längst mit der Tatsache des Deutschen Reiches
vertraut gemacht haben und trotz vieler Kritik an ihrer zeitweiligen
Vertretung die Idee des Reiches für unzweifelhaft halten, so haben sie
keine rechte Empfindung dafür, dass für die übrigen europäischen Staaten
die Bismarckische Gründung noch keineswegs zur Selbstverständlichkeit
geworden ist. Man muss aber nach aller früheren geschichtlichen Er-
fahrung annehmen, dass es in allen fremden Regierungen Strömungen
gibt, die die Rückgängigmachung der Periode von 1866 und 1870 nicht
aus dem Auge verlieren und beständig bereit sind, Schwierigkeiten und
Reibungen in diesem Sinne zu benutzen. Um dieser heimlichen Gefahren
willen schloss Bismarck die bekannten Bündnisse, aber er gerade war
es auch, der uns lehrte, papierne Abmachungen nicht für absolut zu-
verlässige Schutzmittel anzusehen. Wir wissen aus seinen Gedanken
und Erinnerungen, wie ernst er die Umtriebe der Diplomatenzunft im
allgemeinen genommen hat und wie hohen Wert er darauf legte, selber
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Friedrich Naumann: Weltlage und Parteipolitik.
245
eine gefürchtete Macht in Händen zu haben. Ist es nun etwa wahr-
scheinlich, dass heute weniger heimlich geschoben und geplant wird?
Offiziell ist überall Friede, aber die Welt selber müsste eine andere
geworden sein als früher, wenn diese offiziellen Klänge die ganze
Wahrheit wären. Es kann noch immer der Zeitpunkt eintreten, wo die
Lage Friedrichs II. von Preussen sich für das heutige Deutschland er-
neuert: Feinde ringsum.
Man glaubt es aber nicht, denn man sagt: in Österreich herrscht
nicht nur beim alten Kaiser absolutes Friedensbedürfnis sondern auch
im ganzen Gewirr der vielsprachigen Doppelmonarchie; in Russland
fehlt alles, was zu einem neuen Kriege nötig sein würde, Geld, Truppen,
Führer und innerer Friede; in Frankreich gewinnt der Friedensgedanke
immer mehr an Boden und die Schwierigkeit, die Truppenziffer hochzuhalten,
wird alle alten Revanchegedanken dämpfen; und England denke trotz et-
licher unbedachter Pressstimmen nicht daran, sich in irgendeinen euro-
päischen Krieg zu verwickeln, da es ja stets die Kunst geübt habe, sich
vom kontinentalen Kriegsschauplatz nach Möglichkeit fernzuhalten. Das ist
auch alles in gewissem Masse richtig. In jedem Staate gibt es jetzt
wie immer ganz überwältigende Gründe für den Frieden, nur ist eben
das die bittere Lehre der Vergangenheit, dass diese Gründe nicht das
ganze Denken der Fürsten und Völker füllen und dass die Sorge, das
Deutsche Reich könnte in 50 Jahren noch mächtiger und unüberwind-
licher sein als heute, vom Standpunkt des Auslandes aus keineswegs
gegenstandslos ist.
Jedenfalls ist alle Vertrauensseligkeit vom Übel. Von Zeit zu Zeit
beleuchtet irgendeine Mitteilung die Lage. Das englisch-französische
Abkommen über Ägypten und Marokko gehört in diese Reihe. Und Ist
nicht ganz Europa einem Lagerhaus vergleichbar, über dessen Tür steht:
Vorsicht beim Gebrauch von Licht und' Zündstoffen? Ob man von
Albanien redet oder von Triest, von Belgrad oder vom Bosporus, von
Krakau oder Warschau, von Metz oder Antwerpen, immer gibt es Ge-
danken und Erinnerungen. Einige alte Streite verblassen, aber neue
tauchen auf, und zu den Stellen Europas, die nicht ganz feuerfest sind,
kommen für alle grösseren Staaten sehr exponierte Ansiedlungen in
anderen Erdteilen. Irgendwo kann ein Konflikt anfangen, der uns zu-
nächst nichts angeht, dessen Folgen aber bis zu uns greifen. Es war
beim Auslaufen der russischen Flotte nach Ostasien nahe genug, dass
wir den Zusammenhang aller politischen Vorkommnisse untereinander
am deutschen Leibe zu spüren bekamen. Die Gefahr ging gnädig vor-
über, wer aber garantiert uns, dass es immer so geht? Und vor allem,
wer würde es uns garantieren, wenn wir schwächer wären?
Es ist in solcher Lage eine falsche Idee, bloss die Heimat verteidigen
zu wollen. Was heisst verteidigen? Man kann sich in Afrika verteidigen
müssen oder am Gelben Meere, wenn es die Lage so mit sich bringt.
Und selbst wenn wir wirklich alle Aussenforts unserer Macht aufgeben
würden und nur den umgrenzten Heimatboden selber verteidigen wollten,
so würden wir doch alles daransetzen müssen, Angreifer sein zu können.
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Friedrieb Naumann: Weltlage und Parteipolitik.
Der Gedanke der blossen Verteidigung ist ein halbgedachter Gedanke.
Wer überhaupt kampfbereit sein will, muss Offensive und Defensive
gleichmässig handhaben können. Ist also die deutsche Weltlage im
ganzen ebenso gefährlich wie jemals, so müssen wir aus dieser Lage
trotz Bülows Friedensreden die alten Bismarckischen Konsequenzen
ziehen: Herstellung der technisch vollkommensten Kampfbereitschaft, die
uns volkswirtschaftlich möglich ist. Das muss Volksprogramm im ganzen
werden, denn was sind alle unsere Parteiunterschiede gegenüber der
politischen Grundfrage: Können wir unsere politische Macht im nächsten
halben Jahrhundert erhalten? Wir müssen darüber hinwegkommen, dass
es militärische und antimilitärische Parteien gibt. Im heutigen Deutsch-
land unmilitärisch sein zu wollen, ist ein Irrtum, der sich nur aus ver-
alteten Gewohnheiten und undurchdachten Gefühlen erklären lässt, eine
höchst schädliche Tradition der Parteien auf der linken Seite, die zahllose
Mitbürger diesen Parteien entfremdet. Und mag auch jetzt eben, wie
wir anfangs sagten, die allgemeine geistige Stimmung gegen Macht und
Waffen sein, so sollten dennoch die Parteien, die erst aufwärts steigen
wollen, sich hüten, eine solche Schwachheitsstimmung sich zu eigen zu
machen. Es genügt ein politisches schweres Gewitter, so verkehrt sich
diese Stimmung in ihr Gegenteil, und diejenigen haben den Schaden,
die sich politisch auf diese Stimmung festgelegt haben. Das ist es, was
uns veranlasst, unermüdlich den demokratischen Parteien zu sagen, dass
sie sich nicht ausserhalb der Militärfragen stellen sollen.
Nun antworten diese Parteien, es sei überhaupt ganz falsch, sie
als antimilitärisch anzusehen. Selbst Bebel redet in wackeren Tönen
von Vaterlandsverteidigung und kein Parteiprogramm verneint die Heeres-
fragen von vornherein. Ja, wenn es in der Politik genügen würde, rein
theoretische Bekenntnisse abzulegen, so könnten alle Parteien ohne
Ausnahme eine gewisse Militärfreundlichkeit für sich in Anspruch
nehmen, aber die papierene Bereitwilligkeit reicht in der Wirklichkeit
nicht aus. Das Volk fragt: stimmt ihr dafür oder dagegen? Es wählt
in ruhigen Zeiten vielfach gerade deshalb, weil gegen Heer oder Flotte
gestimmt werden soll. Es wird in bewegten Zeiten die verwerfen, für
die es früher sich hingab. Dann werden die theoretischen Programme
gar nichts nützen. Wenn einmal der Ernst der deutschen Weltlage, der
heute nur einer Minderheit wirklich klar ist, durch ein geschichtliches
Vorkommnis dem ganzen Volke deutlich wird, dann hilft voraussichtlich
selbst die oft und mit Recht gerühmte sozialdemokratische Disziplin
nichts und es gibt kein Halten. Die Masse will dann mit Leuten gehen,
die in Waffenfragen fest waren. Auf diese Weise kann eine politische
Gefahr nach aussen zugleich die grösste Gefahr für den Freiheitsgeist
im Innern werden. In der Not des Vaterlandes erscheinen dann die
Konservativen, Nationalliberalen und auch die Zentrumsleute als die
einzigen vertrauenswürdigen Männer und aller Liberalismus und Sozialis-
mus erleben einen noch viel grösseren Rückschlag, als jetzt durch die
Zänkereien in ihrem Lager. Vor diesem Rückschlag der irgendwann
mit Notwendigkeit kommt, wenn die heutige Praxis beibehalten wird,
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Friedrich Naumann: Weltlage und Parteipolitik.
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soll und muss die Linke sich hüten. Jeder kommende Krieg oder
Kriegslärm macht bei heutiger Sachlage Deutschland antiliberal. Und
es wäre verwegen, die ganze freiheitliche Politik auf die schwache
Möglichkeit hin zu treiben, dass wir nochmals 30 Jahre Frieden haben
werden.
Aber, so sagen Männer der Linken: gerade durch unser Verneinen
verhindern wir den Krieg! Das ist jedoch eine grosse Selbsttäuschung.
Auf welche Weise soll denn die Verhinderung vor sich gehen? Das,
was die Regierung an Waffen für nötig hält, bekommt sie doch, und
wenn sie es nicht sofort erhält, so genügt in Heer- und Flottenfragen
eine Reichstagsauflösung. Kleine Handelsgeschäfte des Zentrums können
über diesen Sachverhalt nicht täuschen. Das Zentrum wird stets Kleinig-
keiten streichen, um die Hauptsache zu bewilligen. Und wie soll sonst
die Verhinderung gedacht werden? Meint man, dass das blosse Vor-
handensein einer antimilitärischen Stimmung Kriege verscheuchen könne?
Ja, wenn diese Stimmung innerhalb der mächtigen Schichten auftritt,
kann sie stückweise Erfolg haben, aber als Stimmung der oppositionellen
Minderheit ist sie völlig ohne Wirkung. Alles antimilitärische Pathos
der Linken hat nur agitatorischen Wert und ändert an den Dingen
gar nichts.
Es ändert heute nichts, aber wenn einmal die Linke herrschen wird,
dann wird sich dieses Pathos in Taten umsetzen! Wenn einmal! Auch
wir glauben an einen zukünftigen Sieg der Linken, aber nur unter der
Vorbedingung, dass sie sich in Militärfragen zu Verhandlungen bereit-
finden lässt. Ohne Machtpolitik keine Macht! Eine Linke, die in den
Fragen der politischen Weltlage schwach ist, wird nie in die Führung
der Nation einrücken können. Die Monarchie wird bis zum Tode für
das Heer kämpfen, weil sie mit diesem Heere steht und fällt, und wer
kann glauben, dass die deutsche Linke Monarchie und Heer zu über-
winden stark genug sein werde? Sie kann im besten Falle in die Stelle
einrücken, die heute das Zentrum hat, aber ein Sturz aller vorhandenen
Mächte ist völlig ausgeschlossen, sowohl im Frieden wie im Krieg, denn
im Frieden fehlt die revolutionäre Erregung und im Krieg wird alles
innerpolitische Interesse vom Kriegsproblem selber verschlungen.
Das also, was die Linke tun soll, ist: sie soll die Weltlage Deutsch-
lands zu ihrer Sorge und Angelegenheit machen! Es handelt sich nicht
darum, blindwütig zu bewilligen, nur um heute oder morgen bei Hofe
Liebkind zu sein. Das wäre sehr dumm und nur geeignet, die Linke
vor sich selbst und anderen verächtlich zu machen. Ein blosses über-
zeugungsloses Paktieren stärkt keine Partei. Was wir verlangen ist
mehr: die Linke soll das staatliche Machtproblem unter ihre Lebens-
fragen aufnehmen und ihren Fleiss und Scharfsinn diesen ersten und
grössten Schwierigkeiten des Staates zuwenden. Aus jeder ernsten Be-
schäftigung mit der Weltlage kommt ganz von selbst eine gewisse Zu-
stimmung zu den Kampfmitteln des Staates. Nur um diese handelt es
sich, nicht um gedankenlose Anerkennung dessen, was an Kriegsmitteln
eben vorhanden ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine energische
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248 Friedrich Naumann: Weltlage und Parteipolitik.
Vertiefung in die Machtfragen das Interesse an militärischen Reformen
vermehren wird. Es ist auch wahrscheinlich, dass dabei ein Teil der
Forderungen, die heute von Sozialdemokraten und Demokraten an das
Heer gestellt werden, erst recht bekräftigt und gehoben werden. Die
Linke muss ein Heeresreformprogramm haben und kann nicht einfach
das gutheissen, was sie durch viele Jahrzehnte bekämpft hat. Sie muss
dem Volke deutlichmachen, dass sie ein besseres und wirksameres Heer
will, als das Heer der Junker. Sie muss den höchsten Ehrbegriff nicht
nur der Offiziere, sondern auch der Mannschaften fordern, die möglichste
Verwendung technischer Hilfsmittel, die beste Benutzung aller neuen
Kriegserfahrungen. Das Heer soll eine moderne Einrichtung sein, die
sich dem Zeitalter der Maschine so vollkommen wie möglich anpasst.
Ein rückständiges Heer hat keinen Zweck; da wir einmal ein Heer
brauchen, so soll es das beste sein, das es geben kann. Diese Ver-
vollkommnungstendenz muss in der Linken durchbrechen und sich als
positive Kraft zeigen. Das Volk muss glauben können, dass es auch
sein äusseres Schicksal den Parteien der Linken anvertrauen kann. Und
es wird erst dann glauben, wenn es irgendwelche parlamentarische Täte»
sieht, die mehr sind als reine Kritik. Erst unter dieser Voraussetzung
wird die Linke auch bewegte politische Zeiten ohne Angst kommen
sehen können, denn auf dieser Grundlage kann sie es dann sein, die
für die Tage des Kampfes, wo die Fürsten von den Massen abhängen,
das rechte Wort findet, das der Freiheit hilft, ohne den Staat zu schädigen.
Alle grossen Fortschritte der politischen Freiheit haben mit Revo-
lutionen oder Kriegen zusammengehangen. Da wir in Deutschland mit
einer Revolution weder rechnen können noch wollen, so wird möglicher-
weise der nächste Krieg die nächste Gelegenheit sein, wo die Monarchie
sich dessen bewusst wird, wie unendlich viel ihr am Patriotismus der
Masse gelegen sein muss. Sie wird bereit sein, einen neuen Aufruf
„An mein Volk* ergehen zu lassen. Dann müssen die Kräfte dasein,
die die Lage erfassen. Und sie sind nicht da, wenn sich der Liberalismus
und die Sozialdemokratie nicht mit der Weltlage des Deutschtums vorher
beschäftigt und ihren Patriotismus politisch gestaltet haben.
Gewiss, das ist nur eine Möglichkeit! Was aber unter allen Um-
ständen bleibt, ist die Gefahr unseres verhältnismässig jungen Deutschen
Reiches an sich. Diese Gefahr unterschätzen, heisst für grosse Parteien,
sich selbst vom Gang der zukünftigen Dinge auszuschliessen.
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3mei ftetnreidje Verleger beberrfdjen fco* italienifdje SKufifleben: Sito Sttcorbt
unfc Sbearbo ©onjogno. Arcades ambo. SRicorbi oerfugt über bie Partituren 93crbi$ ;
auch ilebt thm baä Dledjt ;u, m feinem 3?aterlanbe einen miferabel überfe$ten SOBagner oon
5lraroattl«$cnoren ju $obe quafen ju (äffen — ein SRedjt, oon bem er jeitweiltg ©ebraud)
mad)t, um mit feinem ©eftanb an filaoierauöjügen ju räumen, ©onjogno ift Politifer
unfc 3Bäcen fcaju. 3m „©ecolo", bem Ceibblatt aller Srofd)fenfutfd)er unb ungewafd)enen
©ojialtflen in ber lombarbifdjen £auptftabt, pläbiert er für Ummantlung bei Königtum*
Italien in eine SRepubltf, bie granfretcf) bie ©djleppe nad)tragen fofl. Senn ©onjognoS
größter ©djmerj ift, nidjt in 'Porte geboren }U fein. 93ermutlid) heftet er fieb ba* rote
33an beben ber Sbrenlegion fogar an bie Unterboten. 0(1* ^aooritfomponiften error er
fid) naturgemäß ben feilten, gelecften, fentimentalen SinSler $ule* SWaffenet; 9toffmi,
HRojart unb Sagner oereinigt gäben für ibn nod) feinen balben 9J?a(fenet. 33on ^eit
iu Seit oeranftaltet er Cpernfonfurrenjen. fteineSweg«, um für feinen 93crlag SReflame
)u mad>en. Senn ald gewiegter ^olitifer weif? er tu gut, baß jeber SReflamebelb über
fur| ober lang m einem nod) gewiegteren Sieflamebelben feinen üfteifter ftnbet — rote
beifptel$meife (Jboarbo Sonjogno in ^tetro SDfaäeagni. Qßielmebr ift e* allein bie innere
Stimme, bie ben burd) bie „(Saoallcria" berübmt geworbenen Verleger baju treibt,
gelegentlid) roieber ein 'PreteauSfdjreibeu mit einigen jebntaufenb grancä ju fpiefen.
3?un gibt ei febr liebendroürbige ^ufaüe. 3(t e* nid)t ein foldjer, wenn bei einem ber*
artigen ffiettbewerb ein junger Sonfefcer, SWamenä Supont, ben erflen «Preis Davonträgt,
ber, wie feine „(Sabrera" auämeift, gar fein bramatifd)e* Talent befifct, aber ju(l ber
?teblingdfd)ü(er bei Cteblingefompoiriften be* freigebigen 23erlegerd ift unb — wieber ein
freunbtieber 3ufaß' — tai oon ibm oertonte Cibretto auö ber $anb beS Ciebltng*«
librettiften feine* SDZcifterÄ empfangen bat? Sie bodjangefebenen 9kmen ber ^reiäridjter
bürgen fraglo* bafür, bafj oon ben 247 Partituren, burd) bie fid) bie |>erren mit böd)*
(ler Opferwilligfeit binburd)arbet'leten, bie ber „(Sabrera" nod) bie oerbältm'Smäfcig befte
ül. Sffier ben feinerjeit mit jur engeren Äonfurrenj jugelaffeuen „SDfanuel SDtenenbej"
oon Ailiaft gebort bat, fann jebenfatf* betätigen, bafj tiefe* mit einem fräfttg eingetunften
SBcfenftiel gefd)riebene 2Berf nod) weniger taugt. Sod) läßt jid) eine ^rage nid)t unter*
trafen. SÖarum gingen bie SD?itglteber ber 3uro nad) getaner Arbeit nid)t ju ©onjogno
unb fagten: ,,©ro§er Verleger! Ser Gimmel wolle beine ©üte taufenbfad) lobnen!
®em bätten wir bir beflätigt, ba§ bir Talente auf ber fiad)en £anb wadjfen. Sod)
bad einjige unter allen eingelaufenen Serfen, in bem ftd) ein !02ufifer oon einigem
©efdraiacf }u erfennen gibt — e* enthalt jwar oerfd)iebene bübfdje Iprtfdje 9?ippfäd)el*
d)en unb ifl fauber, baju in feiner $armonif heuiahe mobern audla(fiert. Uber ei ift
gegen bad ^beater gefebrieben. Sarum, o bulbreidjer S8efd)ü6er ber Äünfk, fd)lagcn
wir oor, ba§ bie^mal oon ?Hed)W wegen niemanb ben Prcid erbält. 93ielletd)t legft bu
bie 50000 ^raned einflweilen bei ber Banca coramerciale jinäbar an unb erläffeft ein
weitere* %idftf)reiben. fflir fmb willig, ben (£inlauf wieberum in 2reuen burd)jufd)auen.
®roßer Verleger, fei gnäbig!" 3a, warum mögen bie 9tid)ter nid)t alfo gefprodjen baben?
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Unb nod) eine »weite grage: 2öie ging e* eigentlich, tu, baf? eine flattlicft Äeibe
von beutfdjen SBübnen um bie Qfuffubrung ber „ßabrera", jene* QJaftarb* oon 3Ra*cagnt
unb SRaffenet, fidj eifrigfi bemühte? Dafi ifter oerfd)iebene fogar ben „3Äenenbej", ber
weiter nid)t* al* eine iwanjigfacb, oerbünnte „(Saoafleria" ift, nieft oerfdnnäben? fflobl*
gemerft: e* banbelt fid> meift um $b«ater, bic t'bre «pflichten gegen bie beutfdn n
Sonfefcer ber ©egenmart red)t foumfelig erfüllen. Dobian benn, meine oerebrten Herren
Direftoren: nebmen ©ie fieb, freunblicbft einmal bie 3J?übe, nur ein paar eberfläcblidje
©liefe in bie £laoierau*jüge jur „Sabrera", )um „3Renenbe|" )u werfen, unb iinmtttcl
bar barauf ein unb ba* anbere ffierf unferer einbeimifeftn ^ungmeifler aud) nur ganj
obenbin jii bur abblättern. 2Benn Sic nid)t im Umfeben gemaft werben, ba§ hier Unter
fdn'ebe wie jwifdjen Sag unb 8iacft oorliegen, wenn ©te nid)t al*balb jugeben, baf?
ber ben Partituren unferer jungbeutfeftn ftomponiflen fo oft entgegengefd)leubcrte 93or«
wurf, fie feien nieft bübnengeredjt gefduieben, auf bie 93erfua>e ber SRaeftri Dupont
unb giliafi in jebnfad) oerflärftem 3Ba§e 3(nwenbung ju finben bat, bann fage ich
3t) neu auf ben Äopf ju: ©ie baben bie welfdjen ^reidepern nid)t be*balb jur DarftetTung
angenommen, weil fic 3bnen gefielen, fenbern weil ©ie baju burd) Agenten gejwungen
würben, benen ©ie au* irgenbwelcftm ©runbe oerpfiid)tet finb!
Da* unoerbiente ©lud, ba* ber ©djüler bat, fd)eint für mandjc bie SRotwenbigfeit
.ju erweifen, ben altbacfenen 9tubm feine* Cebrer* wieber ein wenig aufjufrifd>en. Die
3ettungen teilen mit, ba§ ein üRilitärmufirmeißer oon Berlin naefy 'ßari* entfanbt worben
fei, um barüber S5ertd)t ju erftatten, wie ibm SDJaffenet* „Sit" gefiele. 3<^
flaeft SWadjwerf oor acftjebn Saften bei feiner Uraufführung in ber „Academie na-
tionale de musique" gebort. (5* enthält unter anberm einen boblen, renommiftifeben
„chant de Tepee", ber nad> ber 3Cnfid>t etlicftr ^offdjranjen oielleicft beffer auf bie
erfle ©übne ber beutfeben 9letd)*baupiftabt pafjt al* ba* ©djmertlieb ©iegfrieb*. Ob
jtcb, an biefer ©tätte ber „(Sib" unfere* lieben SEReiflcr* Sorneliu* bereit* eingebürgert
bat, barüber wirb eine* ber fed>d Sßureaur ber Q3erwaltung*abteilung ber ©eneralintrn*
bantur ber ffönigltcftn ©cbaufpiele ju ©erlin ficftrltcb, 7Cu*funft geben fönnen.
SWündjen. $aul SRarfop.
ÜDer f>etltge ^tes.
Die Cefer ber SD?onat*befte erinnern ftd) ber foflbaren ©auerngefduefte eom gebruar*
beft be* erflen 3abrgange*: 2Öie ber obere ©rücfibauer oon Binbofen ben SRattbia*
gottner, ben ©duibwafllbuben, auf ©eifllid) ftubieren läf?t oon wegen bem falten (Sib,
ben er, ber ©rücflbauer gefdjworen bat; wie ber #ic* in greifing auf ber £ateinfd>ul
in ber fünften Älap jweimal bintereinanber fi^en bleibt, weil ibm ba* ©riedjifay gar
nid)t eingepen wifl ; wie er barauf beim Cet'bregiment einfpringt; wie er aber gletdjwebl
nad> SRom fommt, unb nach, »leben Saften foweit poliert ift, baf fie ibn |ur ^rimt|
entlaffen fönnen; wie er entlieh, anflatt }U ben wilben ^inbianern, nad) ©raubünbett
geft, wo bie Vcut aud) beutfd) reben, „unb am ©pief} braten ftc bloß X^nbucr unb
©an*, aber feine ©lauben*boten. Dort wirfte SÄattbia* gottner in Stuft unb grieben
unb wog balb brittbalb 3entner, fein ^funb weniger/' Diefe ®efd)id>te ift nun (bei
Ulbert Cangen in STOünd^en) gefonbert erfd)ienen. ^afd^ner bat fie mit praeftood
bäuerlichen ©ilbern, SRabmen, ^kvieiHm, mit iBorfa^ unb X>e<fel}eid)nung gcfcbmücft:
fräftig unb felbilanbig, ooOer greube am fieser bingefe^ten £■ trieb, an ruftger gläd)e,
an bunter unb luftiger garbe. QCtle*, fogar Rapier unb ©a^riftgattung, pagt famo* tu*
fammen, unb fo barf ba* ©ud) ein fleine* 3Retfterfhj<f fhlgered^ter 71u*flattung bci&cn.
g* war fein fleiner ©peftafel, ben Cubwig $boma* ^eiliger |>ie* oor juft einem
Safte eerurfad)te. 9Ran war gefränft, fleffenweife empört. 9Jlan flagte Cubwig $boma
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^Runfcfdjau.
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an, ben »äderen altbaoerifdjen Söauernflanb lädjerlid) gemadjt ju baben. SWan warf ibm
töerböbnung ber ©etftlcd>feit cor. SBan griff bie STOonatdbefte an, bie ben ^eiligen
§iti gebracht batten. Sine Stummer, bie id? jufättig in einem Safe in bie §anb be-
fam, jeigte am dtanbe ber barmlofen ©efd)id)te bie entgegengefefcteflcn Qluörufe, »en
„yfuil" unb „SBraoo!" an, biö ju ben flärfjlen. $m gelinbeflen fabelte noch, ein alter
4?err, ber und auf einer ^ofnarte oerfid)erte, er babe jmar beim Sefen bed ^eiligen
f>iri fid) balbfranf gelabt, aber er ftnbe ei bod) äußerfl unpaffenb, baß wir fo etwa*
oeröffentlidjt batten. %td) gegen bie 2öilberergefd)id)te, bie unfer beuriged 3anuarbeft
entbiclt, mürbe ber Vorwurf ber SHobeit erboben. Sied ifl nun einjig unb allein eine
Jrage be$ ©tileä. ©er 'JJrofaifer 5boma bat fid) in feinen £au$bubengefd)id)ten unb feinen
Grrjäblungen aui bem £eben ber dauern unb 3°9er c,ncn außerorbentlid) perfönlidjen
@til gefdjaffen, ber über allem rein Citerarifcben (lebt. (£r erjäblt fnapp, mit bürren,
trorfenen Korten, roud)tig, fdjetnbar funfllo*; feine ©pradje näbert fid) ber gefprodjenen
Siebe unb gebt bem ©ialcfte burdjau* nidjt aui bem SBege. SJian lefe fid) bad „©dmee*
benblpfeifen" einmal laut vor, pergegenwärtige fid) Srjäbler unb Ruberer, unb man
wirb finben, baß Sbomaä @ rjäblungätecbnif, mie bei nur wenigen anbeten Srjäblern,
notmenbige gorm ifl. ©efdjebniä unb ©tu* betfen fid) bet'Sboma; fie finb fo unlöä*
lid), baß man fid) ben Vorgang gar nidjt anberö* erjäblt benfen fann. SGBad jebod) bie
©eicrjebniffe felbfl betrifft, fo ifl man leiber oiel ju rafd) mit einem falfdjen ©ebluffe bei
ber &anb. Unflott auä ber @efd)id)te ju lefen: „(Sd gibt foldjc Stauern, foldje & eid-
liche", liefl man: „®o finb bie dauern, bie (He ifl lieben ade miteinanber". SDfan im«
pürierte bem (Srjäbler eine Senbenj, um gegen fie wettern )u fonnen. ©pejicll im galle
beä ^eiligen $icä war ein flarfeö ©tücf $eud)elei mit im ©piele. 9Ran entrüflete fid) über
ben „falten (Jib" beä oberen SBrücflbauem, unb beflamierte über bie töerleumbung bed
waeferen altbaprifcben Q3auernflanbee\ SBarum läßt aber ein erfabrener 93erbanblung$»
leiter forgfältig alle genfler beä ©i$ung$faaled fcbließen, wenn ei jum ©djwur fommt?
SÖarum fdjreit er ganj energifd) ten ©ttjmörenben an: „$un ©ie obre (infe #anb
©er?" Seil eben ber „falte GSib" oorfommt, immer nod) oorfommt; weil ber 9tid)ter
mandjmal beinabe ftdjcr weiß, ber SRann cor ibm fefewört einen SDteineib unb weil er
»enigflend bad ©eine tun will, ibn baran ju bütbem! Sin alter Canbridjter enäblte
mir einmal, ba§ er bemal* wie man nod> oor Ärujifir unb brennenben Sad)dferien
fd)wor, in jwei ganj oerjweifelten fällen bem öenchtofd^reiber 7(nweifung gegeben babe,
bei ben SBorten „bei ©ort bem TTOmädjtigen" bem 2ifd) einen dtuefer }u geben, fo baß
ftreuj unb Mcr;c ind 3Banfen famen: in beiben fällen würbe ber <Bd)wörenbe fädwei§
unb flammelte: „3 moan, i tua mi bo liaba oergleidja." ©er SDfeineib war glürflid)
»erbütet. Sntweber man weiß, baß tre^atlebem nod) „falte gibe" oorfommen: bann
mhrb man e$ 5boma ntd>t aufreiben, wenn er baoon erjäblt; ober man weiß ed nid)t:
bann mache man bie Obren auf unb ben 3Runb ju, wenn oon Q3auemfitten bie 91ebe
ifl! SBunberlid) war bie SDirfung bed ^eiligen Qki in geifllicbeu Streifen. !D2and)e ©eifllicbe
brueften ber 91ebaftion münblid) ober frhnftlich ibre größte freute über ^bomad Srjablung
aui, anbere waren empört, ©ie einen wie bie anberen waren ooQfommen im Irrtum,
wenn ft« bei $boma eine ©atire fud)ten. 3uin ©atirifer ifl Z\)cma »iel ju facblteb ;
er erjäblt einfad), waÄ er erfubr unb erlebte. Daß wir gejwungen finb, auf foldje
X)etaUd einjugeben, ifl ein 03eweiö fafur, wie neroöö man in gemiffen Greifen geworben
tfl: bt'ntcr j et em Sorte fud)t mau Senbenj, unb am liebflen bätte man Sucher fo färb»
loö, gerudjlod unb gefdjmacf lod wie beflillierted SBaffer. Unfere Vefcr werben oor einem
3abre ben Eiligen §ici obne Soreingenommenbeit, rein ald bumonflifebed Äunflwerf
genoffen baben. Senn jw bie fdjmurfe ©eparataudgabe jur #anb nebmen, werben fie
ftd> boppelt ber luftigen unb barmlofen ®efd)id)te freuen.
TOnd)en. 3. ^of milier.
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252
Slunbfchau.
3Der 5ürd>er Vüalet &ut>olf Äoüer.
Sin (Sechdunbfiebjigiäbriger ift am 9. Januar auf bem 3entralfriebbof üi 3ur*d),
ber ©ottfrieb Keßer* 3(fdje birgt, beigefc§t morben : ein e djter Künfller, ein ÜDfaler, ben
wenigflen* in tcr beutfdjrebenben (Bdjweij fojufagen ein jeber fannte, ber fich überhaupt
für Künfllernamen intereffiert. greilid), ber f^roetjerifdjen Popularität SRubolf Koller*, an
beffen Sierbilbern in ben 9Äufeen unb 3(u*flettungen bi* ^ütab ju ben befdjeibenflen
fteprobuftionen in oolf*tümlichen illuftrierten 3eitfd)riften ftd> SReid) unb Hern, TLlt unb
3ung, Kenner unb $armlofe rein äflbetifd) ober tocfentlid) flofflidj erfreuten — tiefer
Popularität in ber $eimat entfprad) ba* ©efanntfein aufcerbalb ber (Sdjmeii burdjau*
nidjt. 3n gloerfe* fcöcftinbuch (lebt ein fcharfe* Bort ©ottfrieb Keller* über SRutolf
Miller, weil biefer nicht im 3u*(anb in Konfurrenj trete unb fid) einjig auf ben engen
SBereid) feiner 93aterflabt unb feine* £eimatfanton* glaube »erlaffen ju bürfen. Ob ber
3lu*fpruch wörtlich, fo fiel, ifl gleichgültig, $atfad)e ifl, bafj Koller ben beutfeben KunfK
freifen in ben legten 3ahrjebnten fafl ganj au* ben Lütgen fam. 93on (Sammlungen
in Seutfdjlanb befi^t unfere* Sßtffen* nur bie Dre*bncr ©alcrie ein SQBerf be* Künfller*,
unb tiefe* ifl eine Schenkung Otto fficfenbonrf*. 3n SNüncben, Stuttgart, Kart*rube
fudjt man Kotier umfonfl. 2öer aber einmal ba* 3,,rd>cr Künfllergut befugt bat,
namentlid) in ben legten 3ei*en, fcer Keinen (Sammlung bie notwenbige (jntlafhmg
unb (Säuberung com überwuebernben Unbebeutenben unb bamit ein oöHtg neue* '.Xu**
(eben gebracht haben, ber mirb, nid)t nur weil fd>on numerifd) ein entfebeibenber
„Hf.icnt auf JRubolf Kotier fallt, biefen SRomen fich ein für allemal merfen, fonbem weil
ihn an ben Sßänben biefer (Sammlung unter ben nabeju brei ©ufcenb Arbeiten Kodex*
eine frattlidjc 3abl al* ganj auÄgejeidjnete Kunflwerfe in bie Otogen fallen unb fid) ihm
einprägen wirb, Siebt ber 93efud)er fid) genauer um, fo wirb er finben, bafj biefer
SCRaler fdjon in febr jungen 3«0ren über ein erflaunlid) reife* Können oerfugte, wa* um
fo bemerkenswerter ifl, al* er fojufagen nie längere £ät binburd) einen regelrechten
Unterricht genoffen bat, unb baf? ihm bi* in fem hohe* 'Älter hinauf — ein oollc* halbe*
3abrbunbert umfaffen bie SBilber in ber 3urt^cr Sammlung — ein entfdjiebener «Sinn
für ba* bilbmäfcig ffitrffame erhalten geblieben ifl, mochten aud) infolge ber immer mehr
ben thenfl oerfagenben franfen 3(ugen bie malerifchen unb jei<hnerifchen Dualitäten be*
beutenbe (Sinbufjen erlitten haben.
9?od) eine Sntbeefung wirb beim ^Betrachten biefer rcichflen öffentlichen Sammlung
oon ftouer/Xrbeiten fid) balb unb ©on felbfl einfletlen: ba§ bie Stubien, bie ba bei«
einanberhängen, an fünfHerifchem ÜÖBertc fich fübnlid) mit ben fertigen ©übern meffen
fönnen, ja ba§ ihnen jum $eil fraglo* ber Sieg jufäflt. 3^ entftnne mid) noch auf*
lebhaftefte be* gewaltigen Sintrucf*, ben bei ber ju SRubolf Kotter* 70. ©eburt*tag im
3ahre 1898 in 3ürich oeranflalteten 3ubiläum*au*flettung bie jum erflen 9Rale in
reichfler güffe jugänglich gemachten ©tubien hetoorriefen. ©ie mirften wie eine fünft»
lerifd)e Offenbarung. (Gegenüber ben forgfam gemalten, in ber Kompofition wohl über>
legten, runb unb fertig gemachten ©emälben gaben fie ba* 9?aturobjeft — $ier ob^r
i'anbfchaft, ober beibe* jufammen, baueben auch au*nahm*weife bloß gigürliche* — mit
einer temperamentvollen Urfprünglid)fett, mit einer Kraft unb ftrifche be* SWolerauge*,
mit einer fichern SWeiflerfchaft be* breiten, jaftigen pinfelfrnch*, bie gerabeju entjücften.
£ier hatte man ben 9Äa§flab für ba* grofce, felbflänbige Können tiefe* STOaler*, ber ein
^Xutobibaft genannt werben barf noch in höherem ©rabe a(* 2(rnolb Sßöcflin, fem
»Stubienfreunb oon X)üffelborf her.
Koller, ber ©obn eine* ehrfamen 3urd)er SRe^germeifler* unb ©afhoirt* — bie
Qthnen waren im SJcittelalter au* ©djwabenlanb nach 3""^ gefommen unb anfafftg
geworben — war a(* Otchtjehnjähriger nach Süffelborf gejogen, 1846. 93orber hatte
ber 3ü"9ling, beffen 9Ralerlaufbahn ber 93ater feine (Schwierigfeiten in ben 2Beg fleflte,
freilich auch feine opferfireubige Unterftü^ung angebeiben lief, auf bem mürttembergifchen
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SRunbfd)au.
253
©cftut in ©d)arnbaufen $ferbeftubien gemacht; bad eble $ferb bat er bann aud) fpäterbin
neben feinen geliebten SRüibern nicmald oernad)läfiigt. 3" rbeinifd)en Xfabemic
jetebnete er ftcf> rafd) burd) fein Talent aue; aber oiel gorberung für feine £ieblinge=
aufgaben fanb er nidit. Der Saubertrieb erwachte. Ttrnolb 93rtf ttn, einige Monate
älter ald ber im 3Bai 1828 geborene Äoller, war ber Steifebegleiter. ^Jrofeffor "Ätolf
gre© bat und in feinem wertvollen $&ud)c über SBbtflin aud ben ©riefen unb ßrinnerungen
ffoöerd beraud biefc Grftlingdjabrc ber jroet Äünftler gefdn'lbcrt: wie fie nad) Belgien
famen unb von ba nadj ^arid, auf eigene fault bad 3tubium fid> geftaltenb, bie großen
Gilten oerebrenb unb oon ihnen lernen^ im übrigen fid) auf ibr cigened 3tuge unb ibr
cigened $a(ent oerlaffcnb. Die Februarrevolution mit ibren folgen bat bann beibe in
bie Heimat {untergetrieben. Jür Äoller gab ei fpäter bod) nod) einen 3fbfted)er nad)
3J?ünd)cn, ju bem er ftd) bie «Kittel crmalt batte. 3ebod) oon 1852 an fefcte er fid)
in ber 93aterftabt feft unb blieb ibr treu. Sr erwarb fid) fpäter ju einer treuen ©attin
ein ftattlicbed ©ut am See, braufjen am fogenannten , 3 midi b orn ; bort bielt er fid) feine
Jiere, ftubiertc fie auf ber Siefe unter ben prächtigen alten Räumen unb beobachtete
fie, wie fie gcmäd)lid) oom fd)ilfigen Ufer in ben (See bincinftampften. Unb bann fam
bie ©ommerdjeit, wo ed ibn in anbere ©egenben ber ©djweij torfte, ind ©ebirge, unb
überall füllten fid) bie Wappen mit ben berrlidjftcn Stubien. £d gibt #od)gebtrgd*
lanbfd)aften oon ä oller, bie cd mit allem aufhebmen fönnen, mad bie alpine SWalerei in
ber ©djweii jutage geförbert bat. Sr bat ba* SRinb aud) im ©ebirge aufd genauere ftubiert.
5Öid in bie 18?0er Jabrc bin cm gebt biefed unabläffige Stubium nad) ber Statur.
Stoller bat ei leiber teuer bejablen muffen. Sr war ein fo entfd)loffener 'ßleinairift, bap
er über bem Arbeiten im oollen ©onnenfdjein bie 9täcffid)t auf feine 'Äugen oergap.
Dad fdjwere Reiben, bad ibn befiel, ift nie mebr ooUig geboben morben, unb mit ju*
nebmenbem Hitex bat fid) ba« 2Ralgefd)äft für Äoller, bem alle OTufce auf ben Sob oer*
bagt war, immer fd)wieriger geftaltet. 3C&* fanben bie ^Reichtümer an Stubten ibre 03er«
wertung: fie bleuten ald Q3afid ju ben Silbern, an bie, wie fd)on erwäbnt, Voller Im:
juletjt eine ungemein gro(?e Sorgfalt in bejug auf Sfompofition gewenbet bat. di bat
ihn oft bitter gefebmerjt, ba§ bie tfunftfreunbe auf biefe Serfc nid)t mebr mit rechter
greubc unb Staufluft eingeben mochten; aber ei war nun eben einmal Satfadje, baf? fid)
biefc Arbeiten an fünftlerifd)em ^einsehalt (namentlich aud) foloriftifd)) mit benen aui
ber 3C'* ^cr oollen Olugenfraff nicht meffen fonnten.
Da Sloücr nid)t nur ein oortrefflicher Tiermaler war — neben ^ferb unb 9ttnb
ftnb ei bad Schaf unb ber $unb, bie er mit gleicher Ciebe unb 3reue porträtiert bat — ,
fonbern aud) ein feiner £anbfd)after, ber ald foldjer fid) neben ben beften fd)weijerifd)cn
ifenbfdjaftdmalcrn feben laffen barf, unb überbied ein gewanbter gigurenmaler, fo mußte
er feine ©emälbe abwccbflungdreid) ju geftalten. (£r war um 3J?otioe nicht oerlegen,
fluni wirb biefe ba am geniefjbarften finben, wo fie ungezwungen aud bem Objeft felbft
ftammen, wo fie nid)t genrebaft }ured)tgemad)t finb. 93on ber (entern Jtrt gibt ei bei
Stofler aud) oerfdjiebened; ei gebort, wenn er auch felbft anbrer Weinung hierüber fein
mochte, faft burebgebenb nicht ju feinen glüeflichen ffiürfen. Saä ©d)6nfte gibt er, wenn
er feine Sicre fid) naturgemäß audieben unb bewegen läf?t; befonberd werben barum
immer biejenigen Silber fefleln, welche ein einfached, bebaglidjcd Sierbafein, obne be*
fonbere bramatifd)c Situationen unb Emotionen, fchilbern. Da ift bann aud) bie Muml
Äollerd, mit ber er biefer ruhigen SBefd)aultd)fctt, btefem breiten Rehagen bie lanbfd)aft*
liehe golie fchafft, bie biefe ftillen Q(fforbe aufnimmt unb weiterleitet, befonberd fchön unb
wahr. 3n folchen ffierfen gibt er fein SReiffted.
ßin einfacher Wenfd) mit einfachen Änfprüchen : fo war äoßer in feiner ^rfbn»
lid)feit. Dabei ein wabrbaftiger unb guter Wenfch. Die Seite bed ^)oriiontd, wie fein
Jreunb Q3öcflin fie jeigt, befap er nicht; aber an feiner ©ilbung bat er reblid) gearbeitet.
Die Dichtung war ibm im wahren Sinne eine Sdjwcfterfunft, bie er nie oemad)*
läffigte. 3n oer Reimet lagen bie tiefften Surjeln feiner Äraft. Sr hing baber auch
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254 SRunbfdjau.
treu an feiner Söaterflabt, unb i^re fönfllerifchen Sntereffen maren ihm jlet« eine £erjen««
fache. Daä machte ibn auch fcer jungen Künfllcrgcneraticn oertraut unb aert. @c
roiffen mobernen ftunfrrichtungen brachte er nicht feiten teuttüh fid) o(fenbarenbe/ ja
polternbc Abneigung entgegen. Daß er felbfl ju feiner 3«t ein »öflig SBoberner gc»
mefen mar, fo mobern, baß unter feinen ©tubien ber 1850er Sabre ©ad)en fmb, tie
beute gemalt fein tonnten unb imar eon feinem 3ütmobifchen, ba« oergaß er. Unb fcwfj
macht gerabe biefer freie, felbflänbige, unafabemifdje 3«g üt Stubolf Äotter« fünflleriftrjcm
©Raffen feinen bödmen SRubm au«, jugleid) ba«, ma« eine ganje Bleibe feiner Arbeiten
unb bamtt ihn felber oor ber Q3ergeffenbeit fdjügen rotrb.
Sürid)- £. Trog.
2Dte ftüvmifd)m Bjenen auf t>em 2lnriatfol?ol£onfjreß.
Der ungemeine beutfebe 3?"traberbanb |ur «Befämpfung be« Elf obolt«mu« fentet
und }u bem Yuffafe oon ^Jrofeffer SKartin £abn im SNooemberbeft folgenbe
„«Berichtigung.
Die ftürmifchen ©jenen auf bem legten internationalen %ttialfobolfongreß ju «Bremen
fmb, wie bie offtteOen (Stenogramme bemeifen unb mie auch oon 93ertreteru ber SWäßtg«
feit«bewegung rücfbaltlo« jugegeben würbe, nicht burdj 3(b(Knenten beroorgerufen morben."
£ierju bemerft ber »erfaffer jene« auffahrt:
Die angebliche „«Berichtigung" begebt fid? augenfcheinltch auf folgenben ©a§
meine« Xrtifel«: „Senn tiefe (entere ©nippe (sc. Ttbflinenjler) aber überbaupt auf
großen Zulauf rennen mifl, fo muß fie oor allem ibre Tonart etwa« mäßigen, ©er
legte Kongreß mar nicht baju angetan, bem großen ^ublifum ju bemeifen, baß ein
iradcible« Temperament befonber« häufig eine golge be« Qllfobotgenuffe« fei", ffiie er«
fichtlich, babe ich, roeber bebauptet (mie berichtigt wirb), baß „bie fhirtmfdjen ©jenen
oon ben $bflinenten beroorgerufen feien", noch überbaupt in biefem Teile meiner
3(u«fubrungen einen (triften ©egenfafc jmifchen Mäßigen unb 3fbfh'nenten aufteilen moflen.
3d) bin burchau« nid)t gemißt für bie Tonart ber „SWaßigen" auf jenem Kongreß ein«
jutreten. 3*" übrigen ifl für bie „Tonart" nicht ber effüteße Äongreßbericht maßgebent :
benn e« fommt bier nicht allein auf ba« ma« gefprochen, fonbern auch ba« „mie . . ." an.
gür mich f«kn oiclmebr bie Berichte jweier angesehener mebijütifcher gaebiettfebriften
(«Berliner flinifche 2Bod)enfchrift unb Deutfcbe mebijintfche ffiochenfdjrift) in« @e»id)t,
mclche übereinflimmenb bie Tonart rügen. 2uch bier hoben bie tXbflinenten ju berichtigen
»erfud)t (internationale 2Ronat«fd)rift jur «Befampfung ber Trinffitten), aber auch tiefe
Berichtigung mirft bejüglid) be« „Tone«" nicht überjeugenb.
SRünchen. 2R. £abn.
iDer (Beneralfftrett t>er 23ergarbetrer im Kuhrgebia.
Der allgemeine 3u«ftaub ber SRubrbergleute ift beenbet. 'Um 16. Januar 1905
mar einfh'mmig ber a0gemeine Xu«fianb ber «Bergarbeiter be« rbeüiifcb=meflfdlifchen &ob(en»
reoier« proflamiert morben. ©eitbem befanben fid> bi« 10. gebruar jmeibunberttaufent
Arbeiter im Xu«(lantc. Die allgemeine 3(nfchauung, ber ©treif merbe faum jebn Tage
bauem fönnen, ifl burch bie Tatfache miberlegt morben, baß erft am 8. gebruar bie
gübrer ber Organifationen bie ffiieberaufhabme ber Arbeit empfahlen. Der größte
Xu«flanb, oon bem bie @efd)id)te ber Tlrbeiterbemegung ju berichten meiß ifl oorbei.
Unb niemal« ifl ein folcher Stiefenfhreif, ber (ich auf ein roeite« ^nbuftriegebiet crfhretft,
fo muflerbaft rubig oerlaufen, mie ber $8ergarbeiterau«ftanb be« 3«hre« 1905. 3m
3abre 1889 flreiftcn gegen 90000 «Bergleute be« SRubrreoier«, 1902 fteOten am
23. Oftober 145000 pennfoloanifche Arbeiter bie Tatigfeit ein.
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2Ba* bebeutet ber Stoblenbergbau be* SÄubrgcbietS für ba« Deutfdje 9teid>, für
feine 3nbuftrie?
Die gefamte ©tein- unb Braunfoblengewinnung ber Srbe würbe für 1903 auf
runb 875 Wtiü. t gefd)ä$t. Daoon würben probujiert: in ben bereinigten Staaten:
1885: 100 2M. t, 1903: 326 2M. t. > ©rogbritannien unb Urlaub: 1885:
162 mü. t, 1903: 234 2Rttt. t. 3n Deutfcb/lanb: 1885 : 73 SDtifl. t, 1903: 162 WHÜ. t.
3n £fterreid)»Ungarn 1885: 20 2M. t, 1903: 40 2M. t. gaft ein fünftel ber fflclt*
probuftion entfallt atfo gegenwärtig auf baä Deutfd)e 9ieicr>. Der Anteil beS SRubr-
gebiet« an ber beutfeben Äoblenprobuftion ergibt fid) auä folgenben ^ifftm: Die «Pro«
buftion an ©teinfoblen im Deurfdjen 9teid) betrug 1880: 47 2M. t, 1890:
70,2 Wtiü. t, 1903: 116,6 2Ritt. t. Daoon entfielen auf bad Äönigreicf; ^reugen:
42/2 SJfifl. t, 64,3 «D?tO. t, 108,8 2M. t. 3m SRubrgebiet (OberbergamtSbejirf
Dortmunb) allein würbe in ben gleiten 3<*bren geförbert: 22,5 SWtt. t, 35,5 SDWfl. t
64,7 SNtO. t. Da* 3lubrrcx>t'er probujiert alfo weit mebr al* bic £älfte aller beutfdjen
Sfeblcnbergwerfe. hingegen betrug bie baoerifdje ©teinfoblenprobuftion : 1880:
556000 t, 1890: 791000 t, 1903: 1357 000 t.
3n ber Äofder jeugung bat ber Stubrbejirf bie unbestrittene $errfcbaft in
Deutfdjlanb. Die gefamte Äefiprobuftien bed Deutfdjen 9leid)ed betrug 1890: 6,4 33WD. t,
1900: 13 SM. t, 1903: 14,2 SM. t. Daoon entfielen auf ben SRubrbejirf: 4,2 SM. t
97 SM. t unb 11 SM. t. — 3m 3abre 1903 betrugen ber ffiert ber beutfdjen
ftoblengewinnung allein 85 °/0 beä ©efamtmerted aller beutfeben Bergwcrfeerjeugniffe.
Der SBert ber geförberten ©teinfoblc — l SMiarbe, ber ßifenerje — 33 SM., ber
©über* unb ©olberje «= 1,2 SM. 2>tf.
Die ©efamtbelegfdjaft im Äoblenreoier SRbeinlanb»2Öefrfalend bat fid> bc*
bebeutenb gefteigert: oon 138739 in 1891 auf 226902 in 1900 auf 225 992 be*
faäftigte $erfonen im 3abre 1903. Die burd)fd)nittlicf/e 3abre«arbeitdleiftung
eine* Qtrbeiterö flieg oon 169,6 t in 1891 auf 239,6 t in 1901 unb (lieg weiter auf
252,7 t in 1903. 3ur Beurteilung ber Vobne feien folgenbe ber amtlicben ,,3eitfä)rtfl
für Berg», Kütten« unb ©alinenmefen im preugifd)en ©taar" entnommenen Angaben
bier mitgeteilt : ber burdjfd)nittlid)e3obrcdocrbienft eineS Bergarbeiter* im Ober*
bergamttbejirf Dortmunb betrug: 1894: 961 3Rr\, 1900: (auf bem £öbepunft bee"
wtrtfdjaftliaVn ^uffdjwungd) 1332 3Bf., 1903: 1205 SDtf. 3mwifd)en itf ber 3abree*
oerbtenft wieber etwa* beffer geworben. Die unterirbifd) befcbäfhgten eigentlichen Berg*
arbeiter, bie ca. bie Jpalfte ber gefamten Belegfcbaft ausmachen, oerbienten: 1894:
im Durdrfcr/nttt be« 3abre* 1102 SJW., im Durcrjfdjnitt pro ©c#d)t: 3,73 SRf. 3m
3apre 1900: 1592 SJif., bjm. 5,16 SBf. 3m 3abre 1903: Uli SHf. bjw. 4,64 2J?f.
SRan fann fagen, bag ein #auer unter günfligen 3(rbeitdoerbälrniffen oor Qfudbrudj
beÄ ©treife* fieser nid)t weniger ald 5 3Äf. bäufig jwifeben 5 3Wf. unb 5,60 ?Dif. pro
&d)id)t »erbient bot. (Sä barf nid)t beftritten werben, ba§ bie Ttrbeitdlöbnc im SÄutjr*
gebiet ficb, in ber 3eit bed wirtfd)aftlid)en tXuffd)wunged in normaler Steigerung bewegt,
in ben 3*bren ber Depreffton im ©egenfa£ ju anberen 3a,c,9en ^tr 3"^u(rrie, nur
relativ mafjig oerringert baben. QCflerbingd entfpric^t bie Srbobung ber Cobne nid)t ber
erböbteu 9lente, meldje bie SÖefi^er ber 3«^" *»• ben Bergwerfen gejogen baben.
Die 200000 ftreifenben beutfa^en Bergarbeiter (ju benen ca. >/s eingewanberter
oelnifcber, litauifdjer, fteirifd)er, italienifc^er Bergleute geboren) repräfentieren eine Be*
polferung ton mehr ald einer Million. <§ie baben im 3abre 1903 ca. 240 SRitt. 9DJf.
an Pobn — alle miteinanber — ©erbient. ^Jro $ag entgingen ibnen, mäbrenb fie flreiften,
mebr all 800000 2Rf. Unge)äblte killte ttcti wanberten nach, Snglanb, Belgien ufw.,
oon wo jefct majfenbaft Äoble nad> Dcutfd)lanb erportiert warb. 3ablreid)e Sifenwerfe
baben ibre Arbeiter entlaffen müifen — wegen ÄoblenmangeU. ©o ift gar niü)t )u
bejweifeln, baf bie beutfdje 3nbufrrie, bie ganje beutfdje 93olf*wirrfd)aft burc^ ben
©treif fd)wer unb nadjbaltig gefebabigt worben ifl.
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SRunbfchau.
Srogbem flanb bie Beoölferung bei Bleiche* auf fetten ber Äoblenbergarbetter.
Überaß wirb noch, gefummelt für bie Bergarbeiter. Sie polirifdjen Parteien recht* unb ttnf*
unterfhifcten bie (Streifenben in ihrer {Rot unb in ihren Jorberungen. om beutfehen
?Rctcf)eta^, im preu&ifdjen £anbtag einfttmmig ber £ntfd)lu§, ben Au*ftänttgen jum
folg ju helfen. Dabei fmb biefe Au*flänbigen mangelhaft organiftert. Drei fünftel
ber Belegfdjaft geboren feinem Verbanb an. Dabei haben bie Arbeiter gegen bie a«*=
brüefliebe SDtobnung ber ftübrer bie Brocfen hingeworfen. Dabei finb bie Arbeiter
fontraftbrüd)ig geworben. Unb Äontraftbrud) barf niemal* auf bie leiste Achfel ge-
nommen werben, foü nid)t ber ^feiler ber 3ted)t*fidjerbeit in* SBanfen fommen.
2Öarum alfo bie ©ompatbie ber Deutfdjen für bie Bergarbeiter? Söeil ibr
ftampf einer 3&ce 9a^ H1 *n wu* ^en 5 c r t f er) ritt ber fojialen (Sntmtcflung
auf bem Boben ber beftebenben ©efellfcbaft*orbnung gewifferma§en oerförpert feben.
Sie. fampften um bie Anerfennung ber Organifattenen. Der ftampf ifl eigentlich
gewonnen, obwobl bie Arbeiter formell unterlegen finb. Dem SReidjdtag wirb näcbfteu*
eine Vorlage jugebrn, welche bie gefefjlicbe Anerfennung ber Beruf*oereine, bie praftifebr
ftonfequenj ber Äoalition*freibeit bringen fott. Die preufnfdje Staat*regterung, beren
auf bem Streif oon 1889 bafierenbe berggcfeegeberifdje ffiirffamfeit faft erfolglos ge-
blieben war, wirb eine Sttcoefle jum Berggefc^ oon 1865/92 einbringen, bureb meldte
Arbeiterau*fd)üffe obligatorifd) eingeführt werben fallen.
©egen beibe* — Vermirflicbung ber Sioalition*freibett unb 3trbcitcrau«fdjüffe — bat
fieb ber herein für bie bergbaulieben 3*ita*ffcn Cberbergamt*bejirf Dortmunb, ba*
3entrum ber ,3ccl>eribefi^er, bi* beute gewehrt. 9?un, ber SfDtbcrflanb gegen biefe gerbe*
ruugen wirb burd) ba* fertige @efe§ ju brechen fein. Die Arbeiter hätten alfo bie Arbeü
fdwn eher wieber aufnebmen fonnen — wenn nicht noch anbere Aorterungen gewefen wären,
beren (Srfolg nicht ber ©efeGgeber gewabrleitfen fann. Da fmb cor allem ju nennen:
1. Eobnaufbefferung. Die Bergleute oerlaugten urfprünglid) einen SD?inimallcbn — eine bei
ber Sedjnif be* Bergbaue* ganj unmögliche gorberung. Dann wollten fie fich. begnügen
mit einer 1 5 °/0 igen ßobnerböbung unb einer feften £obngrenjc für btejentgen unter Sage
Arbeitenben, welche infolge befonber* fchwieriger unb babei befonber* unergiebiger Arbeit
oft niebt brei iDfarf pro Schiebt oerbienen. 2. beanfprud)ten fie (unwichtigere $efhi(ate
übergebe idj) bumane Bebanblung. Au unb für fich fd>eint ba* ein etwa* gering-
fügiger 2Bunfd) ju fein. Unb bod) tfl er oon größter Bebeutung. 3d) babe wäbrenb
bc* ©cneralftreif* im 9lubrgebiet jablreicbe Arbeiter nach ibren brennenbftcn Be*
febwerben gefragt. 3J?it bem £obn waren bie metflen nid)t unjufrieben; bie QtrbcTrdjett
mar nicht burchgängig überlang. Aber nicht einen babe ich. gefüllten, ber nicht über
fchlecbte Bebanblung geflagt hätte. 3Ran bebenfe: feit ber Abfdjaffung ber patriardjalifcben
3uf)änbe im Bergbau, feit bem BerggefeJ} oon 1865 fmb faum 10 3ftbre »erhoffen,
^njmifcben finb bie Arbeit*bebingungen oiel fchwerer geworben. Die Äoblenfclber werben
in einer früber nid)t geabnten Siefe ausgebeutet. Die moberne Scdmif bat bie Sntenfitat
ber Arbeit oerotelfacht, bie ©cfabren nid)t im gleichen SRafje oerringert. Die Äonjentraticn
bed Betrieb*, bad Vorbringen ber Jorm unperfonlid) fapitaliftifd^er Vereinigungen bat
bie Begebungen oon Arbeitgeber ju 'Xrbeitnebmer oon grunbauf oeränbert. Der Ber.^
arbeiter fennt feinen Arbeitgeber nidjt mebr. Da§ ber Arbeitgeber ibm in ben 3^"'
folonien biaige unb gute ffiobnung fdjafft, muf er oft all «Wittel, ihn abhängig ju
erhalten, empftnben. eeinc bireften ©orgefc^ten fmb ©erzeuge tti fapitaliiÜfchen ©ro§-
betriebeö: Beamte unb Unterbeamte, bie feiten perföulidjed Sffioblwollen für bie Bergleute,
aber ein ilarfeä materielle* 3nterej|e an ber Steigerung ber ArbeiWintenfität baben.
Die BerriebSfübrer, Cberfleiger unb Steiger mögen oft gute Ceute fein, oft finb ed aber
auch, ungebilbete, robe, recht fubalterne Naturen, bie ben Bergmann jeben Sag auf*
neue barüber belehren, ba§ er eine 2Wafdjine ifl, bie eben baju ba ift, audgcnüfct ju
werben. Söiffen bann biefe Unterbeamten noch, ba§ etwa ber 3ecbcnbeji£er auf „organifierte",
oor allem fojtaltiltfdjc, politifch. tätige Beamte fd)lecht ju fprec^en ift, fo fommt ju tcr
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grobfit, inhumanen Bebanblung noch bie ^äbigfeit, Pen „9J?i§liebtgen" ju febifanieren,
im äuperften gall jur "Xbfcbr .5 » t fingen.
©er moberne Q(rbeiter will aber ntcfjt nur Sttafcbine, nicht nur päd Cpfer eifriger
Subalterner fein. Er fürchtet bie Ebbangigfeit unb Unftcberbeit, in ber er fid) bei
bem ftarfen Angebot von billigen 3(rbeit*rräften beftnben mu§, unb er bat ein feine*
©efubl für Ungerechtigkeit unb für egoiftifebe 3(u*beutung fetner Q(rbeit*rraft.
93erftärft ift bte* ©efubl oor allem burch jwet tatfädjlicbe unb jwet mebr pfpcbD»
legifche SDfomente. ^uttH bie Satfachen: Da* JBagen nullen unb bie Seilfahrt*
Verlängerung. Beibe* nicht allgemeine, aber vielfach woblbegrünbete klagen. "Jüich
wenn, wie mir fdieint, bie praftifebe "Xu*übung be* {Rüden* bäuftg übertrieben gefcbtlbert
wirb: e* tfl Satfacbe, bag e* in febr vielen fallen ungerecht angewenbet worben ift
unb ba§ bie %rt be* SBagennuflen* im SRubrrevier um fo peinlicher empfunben werben
nutfte, al* bie Arbeiter an ber Verwaltung ber UnterftüfcungdfafTen, benen bie ErrrägnifFc
ber ben ffamerabfehaften genullten 2öagen suflte&en, nicht ben minbeften Anteil batten.
3 ufern ift e* ungerecht, ben ganjen qualitativ ober quantitativ )U beanftanbenben SBagen
ganj ju ftreteben. E $> tfl unbebtngt )u forbern, baf nur ba* tatfächlicb feblenbe ober
unbrauchbare Quantum abgerecb.net »erbe. Sßenn man bebenft, bafr gerabe bie tüchtigften
Bergleute, welche allein ber Arbeit an febwicrigen Orten gewaebfen fmb, infolge ber
größeren $Qabrfcbein(icbfett ber Jörberung unreiner Äoble an unb für (ich fdjon unter
ber Ungletcbmäfjigfett ber Cobne am bitterften leiben, wirb man von biefer 9Äittfcc(l=
forberung fetne*fall* abgeben bürfen. Die preu§ifd)e ^Regierung will furch @efe§ ba*
2Bagennuflen gau) verbieten unb, toie e* in Scblcfien unb in Englanb ber Stauch ift,
für mangelbafte ftörberung etnu'g unb allein ©trafgelber feftfefcen.
Die grage ber Seilfabrtoerlängerung, bte ben äußeren Qtnftofl jum streif
gegeben bat, ift bie grage ber Arbeit *|eit. Sie Arbeiter miffeu, bag mit bem vor*
febrettenben 'Abbau bie 2Dege vom Schacbteingang )um Crt immer gröger tverben. Sa*
liegt in ber Statur begrünbet unb lägt fid) mehr änbern. Die Arbeiter oerlangen be*=
halb neunftünbige, fpäter acbtftünbigc Sd)icbtieit. Die Scbicbtictt feil gelten vom Moment
ber Einfahrt bt* jum SDtoment ber 3(u*fabrt au* bem Schacht. TLud) ba* iß eine gerechte
forberung, bie auch fc»r preugifdje Regierung in ibrer Berggefefcnovefle afjeptieren will.
ffiurmfranfbett unb Stillegung oon ^edjtn fmb bann m ber legten 3eit
bütiugefommen, bte fett fahren im SRubrgebiet berrfebenbe Erbitterung ju fßbüren. Dag
bte Befämpfung ber SBurmfranfbeit erft fo fpät energifd) in bie $anb genommen mürbe,
ba* bat bie Stimmung in*befonbere ber eingefeffenen meftfälifeben Bergarbeiter ftarf be*
etnflugt; ee* bat in ibnen ba* ©efubl verftarft: ffleber 3C£bcnbcfi$er noef) Staat forgen
für betne ©efunbbett, ebenfo wie f«e fid> nidjt um beut materielle* 2ßoblergeben fümmern.
Die Stillegung ber 3ed)tn bat nun nicht ben Umfang gebabt, wie vielfach ange*
uommen worben ift. (£* mag auch f«n, ba§ bie Erregung über bie Stillegung einzelner
noch nicht abgebauter 3cclic" runftlich gefchürt worben ift. Huf jeben ^ad gibt ber neue
Spnbifat*vertrag von 1903 ben 3cc*>cn ÜÄöglichfeit, nach QSelieben ftilljulegen unb
bte Betetligung*iiffer ftidgelegter 3c^e" a"f «nbere ,u übertragen. Die Schabigung ber
©emetnben burch vorjettige Stiöegung unb baburch bebingten *Xu*fall entfeheibenber
Einnahmen lafte üh bter unerörtert. Die tatfachliehe Schabigung ber Arbeiter felbft ift
nicht übermäßig grog, ba bie Stillegung bie Nachfrage nach eigentlichen Bergarbeitern
nur unwefentlüh vermtnbert. hingegen ift bie von ber natürlichen Befcbaffenbeit ber
jeche ganj unabhängige, vom .{cdH-nheftLu-r willfürlich )U ermöglichenbe Stillegung ein
erneuter Bewei* bafür, ba§ ber Bergarbeiter immer abhängiger wirb oon ben 3ntereffen
riefenfapttaliftifcher tonientratton unb ba§ er in feinen ?eben*oerbältniffen um fo unftcherer
wirb, je wittfürltcher bte 93eftimmung*fret'beit be* Bejlfcer* über ba* OTa§ ber burch ben
'Arbeiter bewtrften Q(u*beutung ber Kohlenlager wirb. De*balb bie Unjufriebenbett.
So geben Befchwerben unb Sorberungen burchetnanber. Die emfteften Befchwerbeu
laffen ft«h "id^t tn formulierte Jorberungen faffen; baher erfchöpften bie eütjelnen oon
©übbeutf<*e aWonoife^cfte. 11,3. 17
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258
SRunbfcbau.
ber ©iebenerfommiffion aufgefaßten fünfte md)t ba* £rftreben*werte. ©egen wtOfiir»
liebe ©tiflegung gäbe e* nur gefefclidje 6anbbaben: ob e* fcaju femmen wirb, ift fefrr
fraglid). Untere SBünfcbe (j. «8. bumane «Bebanblung) (äffen fut weber bureb ben
©efe£geber nod) fcurd) ben 93erein für bergbauliebe 3ntcrefTen gattj allgemein erfüllen.
3nbeffen gibt e* ein 4i>ilf*mittel ber Arbeiter, ibre Jerberung auf bie Dauer ju ver=
treten, unb biefe* £ilf*mittel ifl bte Crgantfatien. Da* Stoblenftmbtfat ift eine etfen*
barte, bemunberung*würbig fonftruterte Crganifation. inwieweit e* bureb feine $ret**
polittf, burd) (Srpertprämien ba* ^ntereffe be* ftenfumenten febabtgt, ba* gebort nid)t
bierber. Die 3ed)cnbeft&er baben von ihrem {Rccbt auf Drganifation ben au*giebigften
©ebraud) gemaebt. (Sie baben bie Drganifatien im bergbaulieben QSerein gefebaffeu,
unb biefe Crganifation bat fld) toäbreub be* 3(u*ftanbe* ccriüglicb bewäbrt Stein
3edjenbefi^er ift arbeiterwißig geworben, fein 3eebenbetlfcer bat bie bebenflidje Carole:
Keine ©erbanblung mit ben Sieben! gebrodjen. Diefe Carole au*}ugeben war ein
fernerer taftifdjer 5*bler. Da§ aber biefe fcbledjte ^arole treulieb befolgt würbe, fpridjt
für bie Straft ber Drgantfation. — 8?un, bie «Bergarbeiter wiffen jeßt, wa* Drganifation
betjjt. ©ie wiffen: ber einjelne SRann wirb jerrieben im ftampf gegen ein ©onbifai,
ba* einen preugifeben ©taat au* bem ©attel geboben b«t- @r fiebt, fein Co* tft
Qlbbangigfeit, Unficberbeit. <£r miß ftd) bie* Co* erleid)tem bureb Drganifation. ©eine
«Befcbwerbe foß an ben Srbeiterau*febu§ fommen unb nid)t ungebört verbaflen. Arbeiter
foflen a(* Unfaflfontrofleure in ben ©ruben, a(* 2Öagenfontroßeure bei ber 'Prüfung
ber ftoble mittun ufw. Da* afle* gebt nur mit (Srfolg, wenn bie Drganifattonen an*
erfannt finb. Der bergbauliebe herein miß niebt* oon Drganifation wtffen au§er eon
ber feinen. 3&1" W angenebmer, mit bem et meinen «Bergarbeiter |u verbaut ein.
2ßeil ber bergbauliche herein bi* jutn ©d)luf? fo badjte, bauerte ber ©cneralftreif fo
lang. 3"J»if^n aber gebt ber ©taat oor: Da* preufnfdje «Berggefefc wifl ba* Wullen ab»
fdjaffen, bie 7trbeiterau*fcbüffe obligatorifcb macben. 3m 3Rötj wirb ber ?Keicb*tag eine
Vorlage über 9lecbt*fctbigfeit ber «Beruf*vereine befebäftigen. 2Öirb bie preufjifcbc
SRooeße unverwäffert — angenommen gebt ba* fReicf>*gefe§ bureb, bann baben bie jweimal*
bunberttaufenb «Bergarbeiter für ben fojt'alen gortfebritt mebr geleiftet, al* ade beutfeben
Regierungen in ben legten fünf 3flbren jufammen fertig gebraebt baben. Dann befommen
mir bie Stoalition*freibeit, bie mir braueben. Die mir braueben, um auf bem «Boben ber
beftebenben ©taat** unb ©efeflfcbaft*orbnung bureb ba* SJttttel einer immer reiner irirt--
fcbaftlicben ^ieien bienenben ©ewerffcbaft*bcwegung bie Hebung ber arbeitenbett
Älaffc fo fräftig weiter ju bringen, wie fein ©efe|3geber c* vermochte. Die 3«^nbefl$er
bebaupten: bie Drgattifationen bürfen niebt anerfannt »erben, benn fic jüebten mtr
©ojialbemofraten. Sffiir fagen ba* ©egenteil. Die Äoalition*freibeit mu^ burcbgebrütft,
bie Organtfationen ber Arbeiter muffen gefe^licb anerfannt »erben, »eil nur ber organi*
fterte Arbeiter »irtfcbaftlicb ba* erreieben fann, »a* tbn fojial oormärt* bringt. Unb
nur mit fojial unb öfonomifcb bocbOebenben Arbeitern fann eine ®efeQfcbaft*orbnung
reebnen, in beren Sefen e* liegt, bafj fie ben «Begriff be* fflajfenfampfe* ablehnt. Daber
ifl jebe görberung ber gemerffebaftlicben Drganifation bie bebeutung*ooClfte Aufgabe ber
©oiialpolitif. Die vielen SMionen, bie ba* einfeben, ftanben be*balb fo au* ©efitbl
nie au* Überjeugung auf ber ©eite ber aueb „flaaWerbaltenben'' «Bergarbeiter im
SRubrgebiet.
SOJuneben. <Paul «Bufdfing.
Öojtal|tnan3ieKc Kunbfc^au.
JBBer wugte in ber brttten ©treiftooebe, bafj ber SRiefenau*(lanb im SXubrrevier
fo balb gelöfcfyt fein »erbe? 3*&enfaß* ftnb Sterbet tro^ ber Unerfebütterticbfeit
be* Äur*jettel* Überrafcbungen ber größten Tfrt jutage getreten, wie fie Kapital unb
Arbeit in t'brem angeblid) notwenbtgen ©egenfa^e noeb niebt bargeboten baben. Obne
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SHunbfd)au.
259
baß nämlid) oorber oon befenberen SWotftänben eiel befannt geworben märe, legten bie
©rubenleute tn ben ebne 93ergletd) mid)tigften unb größten S?eblenjed)en Deutfd)(anbS
p(e£lid) bie Arbeit nieber. ßin foleber Äontraftbrud) — £unberttaufenbe umfaffenb —
fonnte md)t nur über »abllofe ohnehin SBebürfttge tat größte ßlenb beraufbefd)weren,
fonbem er fleflte aud) ^ntufreie, Sifenbabnen, mitten im 2Binter bad ganje beüenbe
93elf, oor bie peinlichen SDföglid) feiten. £>ennod) entlub fid) fafl fetnerlei ©rimm auf
btefc „griebenäftörer", fonbem im ©egenteil: tat ©re$ aller ©tänbe bejeugte ben
Streifen ben offen ibre ©ompatbie. ©emiß ifl biefe menfd)lid)e Haltung unferer be»
fi$enben unb gebilbeten Älaffen oon größter Beruhigung auf jene ^roletariermaffen ge*
mefen, bie einen ©efamttagedoerbienfl oon 600 000 Wlt. fortan entbehrten, eine fo feine,
brplomatifcfje Abfid)t bat fid) aber gewiß niemals hinter unfern ©ompatbten oerborgen.
(£$ ift eben bod) bie waebfenbe fojiale Strömung, meldte tre§ aller ©cbarfmadjer im
gegebenen gaffe bie 'ßarteiunterfdn'ebe nabeju aufbebt, um für bie große ©adje ber
Unterbrü(ften ©emetnfameS ju leiften; — Unterbriicfte burd) ein etferneS 9?aturgefe§,
aud) wenn ei ibnen nid)t immer fd)led)t gebt. ©dwn gletd) anfangt waren bie erflen
Organe, fonf! beS Bergbaues unb ber 3nbu(hrie, redjt oorftebtig in Betätigung ibrer
prin|tpalfreunbltd)en $enben}. Tic betreffenben tfettarttfel gegen bie aud ber ©treifepertobe
oon 1889 gehalten, rennten fafl ben ©djein entfebiebenen greiftnnS entmtefetn. ©obann
trat ber ftatbolijiSmuS auf ben ^lan, in beffen #anb tat BrennuSfdjwert einer
^arlamentSmebrbeit liegt. ^roteftantifebe ©et'flltd)e folgten, 3?ationalliberalc, fobalb fie
nid)t #anbelSfammerfefretäre in (Sjfen, ober Öberbürgermeifler in Dortmunb maren,
fpracben für jene Arbeiter, ©roßinbuftriette, fofent fie nur gabrifanten unb nid)t SERontan*
beeren fmb, Bergbauptleute, greifmnige ufm. ufn>., furj fafl baS gefamte «Bürgertum im
Parlamente erbob fid) gegen jene 3«benbtreftoren. 3n biefem fo gut gefdjliffenen ©piegel
glaubte bann aud? bie preußifebe Regierung ihr eigenes Antlifc alt aufrichtig liberal ju
erfennen, fo baß eS faum nod) auSfab, alt ob fte in biefem galle nur bie ©efdjäfte
ber CanbeSoertretung beforge. 2Bie gefagt, alle bie* mad)t bie fon'ale ©trömung. Cb
tat 3entTum obnebin ben SRontangrößen nid)t bolb ifl, ob #err o. §et)l bem flobleu*
fpnbtfat bie aueb boben greife nad)trägt, ob ber 9J?tntfter 2Äöffer feine £ibernia*(Srtnnerungen
bei einer fo frönen ©elegenbeit an feinen geinben fd)ärfr, nt'due bieroon ifl anbete,
alt untergeorbnet. Tic $auptfad)e ifl, baß fid) bie eerfdn'ebenflen Meinungen unb ibre
QBertreter bier in einer einjig*mobernen Angelegenheit fogletcb iufammenftnben, eine (£in*
beit beffhungSootlfler Art bilben. 9?od) beim Streife ber Hafenarbeiter in Hamburg mar
tat unmöglich, wo fogar umgefebrt: Sifcntntereffenten wie ©tumm fid) ju ungunflen
ber Arbeiter in eine t'bm ganj frembe ©acbe mifd)en fonnte.
* *
*
Unfere $anbelSoerträge geben \u mand)erlei Bebenfen Anlaß; oor allem, waS
bie Hui fichtcn betrifft, unfere gleifcbeerforgung mit £i(fe einmal einer agrarifeben 7)ie-
gierung oon ©flerretd)*Ungarn abgefperrt ju feben. ^mitten oon Jttcbelftccfen foCC man
aber aud) auf bie gidjtpunfte adjten. ©o hat fid) bie ©djmeij erfreulid)erweife, man
farni wohl fagen : ju einer fittlid)en Steinigung ihre* ^atentgefe^ed emporfd)wingen
müffen. 3M*bcr patentierte man nämlicb bort nur Srftnbungen nad) SRobeden, fo baß
}. 05. ehemtfd)c Verfahren gan| fcbu^lod gewefen fitib. Tie unausbleibliche golge war,
eine jahrelange wiflfürlid)e 92acbahmung, alfo Ausbeutung beutfeber 20iffenfd)aft unb
beutfdjen gleißeS. Sin 3"ftonb, wie er red)tlofer nidjt gebaut werben fann unb bem nod)
oon 3c,t i" 3c,t e,n brutaler iBeigefdjmacf bureb ben Umftanb anhaftete, baß anberer-
fei« bte febweijer gabrifanten 9?ad)ahmungen ihrer (Sbemifalien in ©eurfcblanb feiten
iu oerfeigen unterließen. Sai bat, wie gefagt, je|t ein (£nbe, naebbem bie Sibgenoffen
tro^ ihrer bocbentwicfelten Sertüinbuftrie in ber Shemie gegen und jurücfbleiben mußten.
• #
#
©egen bie ^ruflS, fogar waö bie fo mäcbtigen Sifenbahnfpfl^me betrifft, hat für)»
lid) ber ^räjlbent ber bereinigten ©taaten in ^hilabelphta eme ?Rebe gehalten. Aud)
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260
3Uiiibfrfjau.
■
bie berühmte Commerce Interstate Bill — berübmt baburd), tag fte wenig |ur Hui*
fübrung fam, richtet fid) gegen bie Übergriffe ber gre&en Railroadmen, ober im ent*
fd)eibenben gafle waren jlet* ganj anbere ®efe§e*übertreter ju befhrafen, al* bereu
mädjtige unb reidje Urbeber. 3ebenfall* ift e* fomptomatifä), ba§ fid) JRpcjeoelfc ftarf
genug tuhlt, gegen 3WitIiarbäre unb Httiüicnärc \n gelbe jn liegen, bie e* feit (angein
oerftanben baben, ibre ^ntereffen, al* bie ber 3"bufrrie unb be* $anbe(* aud) bei ben
SDlittelflänben brüben barjuftellen. 3n Deutfdjlanb, wo fdjen oon oben berab ba*
amerifanifdje Sruflwefen al* befonber* empfeblen*mert bingefteflt »erben ift, baben wir
boppelte Urfadje, auf jene gntwieftungen )u ad)ten. ©inb wir bod> gerabe fett ber
»£>tbernta*3(ffdre }u $ruftbi(bungen gefemmen, bie anberen feflen 3ufammenfd)lüfTen inner
balb ber 9Reiitaneerbänbe nur ju folgen hatten, — 3ufammenfölüfft/ bie mit überlegter
|)eünlid)feit ©pQjogen werben waren. 3* beilfamer gut geführte ©nnbifate ftnb, beflo
oerbängm*oofler bleiben oon oornberein bie Sruft*, weil in ibnen eben jebe inbuftrieae
unb faufmännifd)e ©elbftänbigfeit aufgeboben wirb.
*
3efct, wo bie fcanfen ibre 3abre*berid)te oereffcntlirfjen — fnapp genug im
ÄPtnmentar, retdjltd) an wenigfagenben Aftern — foUtc man aud) über bie Xnaefledten
eingebenberen SBerid)t oerlangen, grüber war bie* Siebenfache, wo jebe QJanfftrma ibre
ftommi* gut bezahlte. -Deute aber, wo eine SBanf mit 50 SOtfflionen bo*ftene> eine
SDfittelbanf ifl unb bennod) eine* SÄaffenperfonal* benötigt, liegen bie ©inge anber*.
93ielfa(b finb ber ©elterfparni* wegen jablreidje Cebrlinge, aud) weibliche Qfngeftettte
engagiert unb r* wäre au* fojialen ©rünben fdwn widjtig, über alle* bie* ©enauere*
)u erfabren. ©e uneerteilbafi ftd> babei mabrfdjeinlid) bie ffletnbett oieler ©cbälter
ausnimmt, fo rübmen*wert finb oft bie ^enfion*eerbä(tniffe, ju benen 3tuffid)t*räte gar
itidjt feiten au* ihren eigenen Tantiemen noeb beitragen. 3m allgemeinen ifl fem
®efd)äft*jmeig früber fo unburcaufratifd) oerwaltet werben, wie bie SBanfen, bi* ftd)
bie* feit einigen 3ö&ren in* ftärfjle (Gegenteil eerfebrt bat. 3um ®lut* 4eW &tf* 0DCT
nidjt wie bei fo mannen felbfl berübmten gabrifen, nod) bi* hinauf }u ben tJirefteren.
*
jHnffifdje Rapiere erfd)re(fen ibre alten fran|efifd)eu unb neuen beutfmen 55efi|er
ued) immer md)t. Die* j. SB. bei un* auf bie (Bperrftücfc }urutf)uweifen, gebt trid)t
gut an, benn man fann inncrbalb eine* gewnTen SKabmen* aud) ©perrftutfe eerfaufen,
beren ftäufer bamit nur m'djt an ben offenen SDtorft fommen barf. $atfäd)lid) baben
bie @miffion*ftrmen in Berlin aud) wenig ju intervenieren brauchen. Denn unfere
Äapitaliften glauben an einen ©ieg ber Stoffen in £ftaften überbaupt nicht mehr unb
eine JHecolution im 3"»*rn balten fie^ bei aller 2(ntipatbie gegen ba* je£ige Regime, für
unbequem, fid) au*jumalen. Teile ftärfer mädjfl aber bie Hoffnung ber ftapitaliflen in
3eutfd)lanb unb oor allem in granfretd) auf einen balbigen grieben. Unb bie SMtarben,
bie bann oon ^Jeter*burg nad) $efio )U »ableu wären, würben nod) immer einen (Ge-
winn barftetlen, gegen bie SWifliarben, bie eine gortfe^ung be* ftriege* nod) fofteten.
'Xud) fann bann in ben Q3üd>ern oben nid)t gut mehr eerred)net werben, al* wirflid) an
3apan ge)ab(t merben mugte, wäbrenb bie ^rieg*anfd)affungen gan} unfontrodierbar finb
unb oiefleidjt regelmäßig um 50 ^rojent unb bebe«" angefreibet werben. SBenigflen* bie
Korruption ber böberen Äreife in 9luf}lanb fönnte burd) umfid)tige ^Reformen attmäblid)
befeitigt werben. Napoleon flettte gern 3afobiner an, weil |ie al* unbeftedjlid) galten.
Sie wär'*, wenn e* ber 3ar einmal mit ben SRabifalen oerfudjte?
Jranffurt a. 2)?. ©. o. £alle.
BemnttMrtlicfi fflt ben fojtaHJOliUf4cn Xcil: örltbri* Sloumaun in etööneberg; für ben übrigen ,^nb;aü:
Vaul 9WroIou8 tfoffmann in SRün^en.
nacfebruit ber einzelnen Beiträge nur außjugSwnfo unb mit genauer Cuedenangabe ge|hxttet.
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grjä(>lun9 *™ Sil beim gifrfjer in ©raj.
15.
(5* war ein grauer Sftooembertag, al6 -brautet mit ftrau Sberefe
fca© 3}urggcmad> ju Äumpegg betrat; aber nod) grauer faß Jpeinjlin in ber
genfierecfe, einfam oerfummert, unb ftarrte hinaus in bie ftcrne, ale ob er
jemanben fudjen wollte. Bit war aber fdwn ba, nid)t al* Suftgebilbe,
fonbern in »armer Setblidjfeit, bie er fud)te: brautet. Unb er war auf*
gefprungen, ald wenn pl6$lid) ein fonniger STOaientag in bae* bammertge
3immer Ijereingeleudjtet IjAtte, unb Ijielt (le umarmt, an feine arme ©ruft
flepreflt, unb wieberl)olte nur immerfort, aß wdY ti ba$ fd)6nfle Sieb, ba*
er fingen fonnte: „$rautel, brautet, bu bifl ba, bu bifl bal"
„SBa* !>at bir benn gefegt, SBater?" rief ffe ÄngfUid), üU fte ihn be«
trachten fonnte. „£>u fdjauft ja gar nirfit gut au*."
„9?id)t* hat mir gefehlt, 3rautel, gar nid)ti ; alle* bab' id) gehabt unb
mehr al* genug. 'Aber bod)! ein* hat mir gefehlt, ba* mein Elle* ifl: bu
hau mir gefehlt. 3fber jefct bin id) ja wieber gut baran, weil id) btd) bab\
JO bu mein ®ott! Dafl id) bid) nur fehcn fann! £e frtitft ftd> nicht, bafl
id) fo weidjmütig batjerreb' alt ein alter Sttann »or feinem jungen Äinb; mußt
nicht benfen, ba§ id) gar fo ein 6d)wad)er bin. Eber id) Ijab' alleweil etwa*
gefud)t unb mid) felber nimmer jured)t gefunben, weit id) bid) nidjt ge*
funben I)ab\ Sefct t)at unfer J&errgott ein (Sinfeljen gehabt unb mid) wieber
ju mir gebracht; benn er t>at bid) r?ergebrad)t. ©elt, gefjft nimmer weg »on
mir? 3d) gel)1 ja fo ba(b ein $ur !Hut)f; wirb nimmer lang bauem. Xber
bid bat)in m6d)t1 id) bod) nod) glücflid) fein unb mein &inb anfd)auen. ©elt,
brautet, Meibü ba bei beinern Sater, ber fo viel hat, wenn er bid) hat unb
gar fo wenig — id) fag' bir'*, fo wenig wie gar nidjt*, wenn er bid)
nid)t r)at. — ©elt, Srautel, bleibjt ba?"
©ie ftel ihm um ben #al* unb fd)(ud)jte: ,,3d) »crlafT bid) nimmer,
wa* aud) gefd)eljen mag."
»3a," fagte er, „beine 3%*n, bie mir ba« ®ef!d)t ne$en, (Tnb ein
£immel*tau, ber mid) wieber aufleben tagt, unb id) werb' gewif wieber ju
©übbeutfAe aJiotiQiS^efte. 11,4. 18
Digitized
262
SBtfyrhn gif<her: $an8 £etnilin.
Straften fomm.cn. 3d) bin bie ganje 3eit fo »erwunbert herumgegangen, af*
waren jwei fremb ju etnanber: id) unb bie 3Beft, unb eind paßte nid)t gum
anbem. Doch, je$t hab1 icf> wieber bie ganje 2Bcft fo gefcbmarfig unb
fd)6n gefunben — ja, bid) r/ab' id) gefunben, Sraurel! Du bifl ja alle*,
wa* id) nod) oon ber UBeft beb', unb ba* ifl üiel — ! 3d) bin ein reicher
SRann. Unb fdjau! wenn id)'6 bie ganje 3nt f)er nidn gewußt hAtt", jcfct weiß
id)1* wieber: Unfer Herrgott l)at mid) nidjt »ergcffen. <5r gibt jebem etwa*,
manchem nidn »iel, bem anbern mehr, unb man fann aud) nicht immer
fagen: gerab1 fo wie** einer oerbient. Da$ flnb fo rdtfetbaftc fd)mere
Sadjen. 2(ber mir b,at er biet gegeben! Srautcl! Did) f>at er mir $u*
gefdjicfr. — 3d) banr bir fd)6n! . .
Sefet fam auch, grau 5l>erefe naljer anä genjler, bie bi*t)er in ber
Dämmerung be* ©emadjed geftanben rjatte, unb begrüßte ir?n. <Sr fchaute lange
»erwunbert, unb erfl al* ifym bie 3od)ter jufprach: „£cnnfl fie nidjt, bie
@roßmntter?" erwiberte er: „Die grau Schwiegermutter ... <ii ifl freilich
lang ber. (Sin* muß jid) fdjon »eranbern. — 3a, bie ©ertrub! mein liebe*
Üßeib! fie ijl halt nimmer mehr ba. Sic war ju gut für mich. 3d) bin
aber nidjt mehr fo nach oben bmauf, wie id) war. 3d) bin fdjon »iel
fleiner geworben. Tiber eS wirb aUcd wieber mit mir gut bleiben, wenn
fie nur ba ifl, bie braute!. ®elt, grau Schwiegermutter, ffe barf mir
bleiben?"
„greifid)", erwiberte biefe freunblid), „muß fie bir bleiben, unb bu ihr
aud). Sie wirb fdjon bafür forgen."
Sie forgte aud) bafür unb mit flarfem @ntfd)luß. SSon bem Dorfmeibe,
ba* fie iljrem SSater $ur Pflege beflellt f)atte, unb ba$ je$t fld)tbar würbe,
ließ fie ben notmenbigjlen SBebarf an SBafche unb Äleibung für .£ein$ltn
)ufammenrid)ten unb hinunter $um 2Bagen bringen, in welchem fie unb bie
©roßmutter oon ber näd)flcn (Sifenbabnflation hergefahren waren. Dann
legte fie it)rem 5?ater mit lieblicher 3urebe ben 3)?antel um, fefcte ü)m ben J$ut
auf; unb al* er fie oerwunbert fragte: „3Baö ifl1*, 5rautel? id) gel)1 ja nicht
weg, unb bu bleibfl aud) ba", erwiberte ffe: ,,3d) bleib' bei bir. 5Bo id)
bin, ba bifl aud) bu. Unb wenn bu je$t mit mir gebfl, bleiben wir nicht
etwa beifammen?" „(Sewiß, red)t b,ajl! immer fo!" ladjclte er glucflid).
„2frfo geben wir."
Sie narjtn tt)n wie eine SKutter ib,r Äinb unter ben 2rm unb führte
irjn mit fanfter SRebe aud bem ©emad)e unb ben ©urgbugel binab. 3n feiner
anbern Seite ging grau $l)erefc. dt fragte oerwunberf, al* er ben ©agen
fab, in ben er einfleigen follte: „2ßorjin?"
2fber bie $od)ter befd)Wid)tigte ihn mit ben SBorten: „Soßen wir jwei
etwa nid)t mit einanber fahren bürfen?"
„£) gewiß," fagte er, „unb recht weit! Da moebt1 id) fd)on unfern
•Herrgott fd)6n bitttn barum. Sttit bir ju reifen, ba* ifl, atö wenn ich
immer in ber J^eimat blieb'?"
So futyren fie jur £alte(Me; bort mußte «Oetnjlin in ben <£ifenbar/n*
wagen fleigen, wa* er mit tfopffcbutteln tat. <£r erljob ben ginger unb
fprad): „Ztauttl, je$t t>afl mid) bran gefriegt! 3d) weiß fdjon, wol)in e*
i\tt)t. 3lber e* ifl alle* ein«. Du r/afl einmal ald ein fleine* Äinb mir
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Silbelm gtfd)er : £an$ $etn}lut. 263
angehört; je$t ift'd umgcfcljrt, id) get)6r btr ald ein ©roßer an. Unb td)
will gar nid)t, tag eö anberd fein m6d)t\"
<£ie brücfte it)tn bie £anb unb far> if)tn gerührt in bie glucflicben 3ugen.
»3a," fagtc er, „fo foll e$ fein. 3ßa$ bu miUfl, ba$ ift mir red)t tjeut,
morgen unb allejeit."
16.
i
<Bo jog J^cinjltn mieber in baä -pane Gronauer ein, auö bem er einft
roie ein grembling »ermiefen mürbe, unb lebte je$t alö treugefyegter Snfafie
barin. UM mar ju feiner ©emdd)lid)feit eingerichtet; aud) an einem
Verträume fehlte ed nid)t, menn er arbeiten mollte. Der f>eiC. Marthel
mar aud) nadjtrdglid) »on bem ©urgbügel in ben Sobergraben uberftebelt.
Unb nun machte (td) £etnjlin enbgültig an bie Ärbeit mit fchmerem «£erje*
leib, bad ttm an feinem £eben fdjmddjte, meil fid) biefer heilige gleidjfam
mit einem 9??uß »or il)m aufpflanjte, ba$ au$ bem SWunbe be$ Dorfoberften
fam. 2lber er empfing ben £eib aud ^cinjlind funftoollen #dnben unb
erregte bie S&emunberung ber ©emeinbe, al$ er in ber Capelle am $ürn
über bem Seitcnaltare feine gemeinte Stelle einnahm. SKir eljrenooUfter
J£>anbfd)rift b,atte ber Dorfburgcrmeiiter J&einglin jur Jfircrjenfeier eingelaben,
bamit er bie 2Tuftfellung feine* 5Serfe* ubermadje; aber ba* Ijatte biefer
abgelehnt. Die 3uffkQung finne aud) ein anberer leiten; roaö benn aud)
forglid) gefd)al). 3lber fein $Öerf mürbe ubcrfd)menglid) »on allen gepriefen,
bie »on meit unb breit I)erbeitfr6mten, e* ju betrachten. Die* ließ Jpeinjlin,
alö er c* l)6rte, »6llig fall.
Dafür be»6lferre er nun in ©ebanfen bie ganje Dorffirdje be* Sober*
graben* mit ben fd)6nen tfunjtmerfen, bie unter feinen £dnben l)er»orgeben
füllten. 3t)m mar e* moljlig jumutc. UBa* ib.m fo feljr gefehlt Ijatte: ein
forgenlofe* ?eben in einem behaglichen J£>eim, ba* befaß er ie$t in gülle;
unb nun foflte e* fid) erjt geigen, ma* er für ein ÜReifler fei.
„Die t)ieflgen dauern follen nod) vor Überreichung mie verhagelt ba*
ftrhn, menn fie ba* fchauen merben, ma* id) ilmen in bie Ätrdje fltften
mill", fagtc er mobjgemut.
Uber biefem <£agel entgingen bie dauern bod) nod); benn Jpeinjlin
axbtittte mot)l, menn fid) ein $ag befonber* gut anließ, allein etma* mie
ein fertige* ©ebilbe mud)* faum mehr berau*. Den dauern in ber ÜBirt**
jlube er$dt)lte er allerbing* fleißig »on ben ffiunbermerfen, bie fie ju
ermarten bitten, unb ffe härten il)m gläubig ju alö einem, ber aud) im
#aufe gronauer je$t ein gebietenber £err gemorben mar. (Sr ging alö
folcher jeben 3benb in bie $Birt*|tube, im 3Binter, menn e* fdjneite, im
grübjabjre, menn e* metterte unb im ©ommer, menn e* in ©tromen regnete.
<£r »erhielt fld) babei ale unerfd)rocfener £D?ann unb faß unter ben anbern
(Btubengdflen mürbig unb in all feiner J&agerfeü al* fd)mermiegenbe ©ejlalt.
Daljetm barg ber Jfeller glafdjen be* ebelffen Unterfleirer*; er »erfd)mdbte
ffe gemiß nid)t; allein ju 2(benb munbete it)m ber ÜBein in ber ^Birtd«
jlube beffer, unb menn er aud) minber ebel mar, al* ber im Heller ber
gronauer.
18«
264 ffiilbelm gifdjer: £an* £einjlm.
3ufrieben mar J&einglin rrofe alle bem nicht geworben, wenn er ftcf> auch
wohlgemut fühlte; benn bat alte SMut floß noch in feinen Xbern. Tod)
ließ er e4 bnrdwütfen, baß er feine Jflage gegen bie Seit in ftd) trug, unb
ließ €6 juweilen anbem hören, tan ein «Wann oon feinem ÜRetafl, wenn
ba* ©d)itffal nur glimpfftd) bei it)m anflopfte, golbenen tflang gab. ©ein
<5tolj wud)* immer mehr auf bie fünftigen ©ebilbe feiner Äunft, unb bodj
faß er in ber Sirt*ftube atd ein STOeifter oon gebiegener fcefdjeibenljeit,
ber bie (Sfyren gar nicht forberte, bie ihm jufamen.
Dabei fah er alter au*, al* er mar, unb gar nid)t wohlgenährt. <&v
aß wenig unb tranf mehr, otyne jebod) bie mürbige Haltung unb ba* fTchere
Auftreten im geringflen einzubüßen. Der Sein regte ihn nur ju tieferem
Denfen unb ju leud)tenberen 5> liefen in bie Seit an; ba* mar alle*.
@(eid) mie Sein fdjlürfte er aber bie greube, feine 3od)ter nun al*
»ornehme* graulein »on aUen geachtet unb oon Dielen Perehrt ju feljen.
Da* £au* Gronauer beo6lferte ftd) mieber; e* famen (Safte, barunter Sater**
f6hne, bie auf altererbtem ©runbe im galten? ober @nn*tale faßen unb ftd)
al* freier um grau Sljerefen* @nfelin unb dxbin einteilten, grau Stjerefe
beoorjugte einen jungen SWann au* «t>rer eigenen «Sippe, mit bem ffe jmar
nur meitlauftg oermanbt mar, aber in bem bod) etmaö oon ihrem eigenen
SMute floß. Diefem hatte fie am (iebften ben ©d>a$, ben brautet barfteUte,
ubergeben. @r hiep lÄlfreb SBiertegger unb faß al* oerm6glid)er J^err im
$nn*tale. Obgleich feine 3ugenb etma* abgenu$t fd)ien, machte er bod)
einen angenehmen (Sinbrucf; jnmal leuchteten feine ©liefe in aufrichtiger
©emunberung, menn er mit brautet, bie jefct grdulein ©ertrub bieg, fpradj
unb unter bem Sinfluffe ttyrer ungewöhnlichen Grrfcheinung ftanb.
Daß ir>n ber große ©lief au* ben braunen SBabdjenaugen immer nur
gleichmäßig rut)ig traf, ba* glaubte er burd) treuen Dienfl allmdt)lid) über*
minben ju f6nnen. Orr »erfeljrte mit if>r in ber Wtutyea Seife, bie bem
IBcibc wofylgefallt, unb fühlte {Ich belohnt, menn ffe ihm mit einem freunb*
liehen Sadjeln banfte. Unb grau Shcrcfc meinte bei fid), fo oft bie beiben
jufammen gingen: bat gibt fein üble* -paar! unb befonber* erfduen ihr
3rautel* (Sefta(t im Schreiten tuet ftolger unb anmutiger, al* menn ffe mit
etma* »orgeneigter ©tirn faß. Stöeljr jebod) al* eine ftille unbemegte
greunb(id)feit ermarb ftd) .fterr QTlfreb mit all feinem Dienfte nicht oon ihr.
STOit aller ©et)nfud)t fonnte er au* bem noch »erfchlojfenen ©orne ihrer
weiblichen Qrmpfinbung nicht bie ©emißheit fchöpfen, baß fie fünftig anber*
ju ihm fein merbe a(* je$t. grau ^l>crcfe freute (Ich aber, baß bie beiben
in Eintracht mit einanber gingen unb glaubte ju bemerfen, baß fkh #err
2(lfreb fchon je$t glücflid) füljle, beoor er noch &a* ®lücf fein eigen nannte.
Unb fie glaubte auch, menn brautet ffnnenb faß, fo gefchehe e* ju feinen
©unften. grau $he**f* bliefte it>n ftet* mit mütterlichen Äugen an, au*
benen er ihrer 3uftimmung ju bem erfet)nten 3iele gemiß fein fonnte.
211* fie mit brautet barüber ju Sorte fam, baß e* bei ihr an ber
3eit fei, be* Seibe* SBeftimmung ju erfüllen, unb mit ©otte* Siflen eine*
guten SRanne* eheliche ©enofftn ju werben; unb al* fie it>r ben £D?ann
nannte, ben ffe am liebften mit ihrem .Hinte beglücfen mödite, ba antmortete
ihr Jrautei rul)ig: fte werbe ffd) bem Sunfche i^rer Großmutter in ädern
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SÖilpclm fttfaer : £an« ^>ctnjlin.
265
gerne fügen. ©a« fie au« foldier £anb empfange, fei irjr genehm. 2fUein an
einen tt)r beftimmtcn «Wann muffe fie fid) met)r gewönnen, al« ffe e« jefct permoge.
Damit mußte ftcf> aud) ftrau 2l)erefe jufriebcn geben. Dod) unterließ
fTe e« nid)t, £errn Wreb mit tr6fl(tcf)er iXebe in Der Erwartung feine«
©lücfc« ju bcftdrfen. Unb er war jufrieben, wenn ffcf> braute! nur freunb*
(id) ju ihm gefeilte, wobei er bic (Smpfinbung, bie ihn befeelte, mitteilen fonnte.
(Sie horte alle« ruhig an unb begnügte (td) $u fagen, baß jeber ©unfd)
iljrer ©roßmutter, ber mit ©otte« 3ßißen ein« fei, Pon iljr al« britten nid)t
unrin« werbe gemacht werben.
©ic faßen beibe in einem QxUr, ber übcrfpringenb in ben #of hinaus -
gebaut war. Die Zur jum anfd)ließenben ©emadjc, in n>e(d)em bie ©roß*
mutter »eilte, jtanb fyalb offen, di mar mieber ©ommer«jcit, unb bic
Äbenbluft, bie burd) ba« $al (trieb, umwehte fte milb.
(Jr ergriff it>re £anb, bie laffig l)crabl)ing unb füllte, baß fie frifcb
unb fut>C mar.
„3c$t ift bie Serbinbung l)ergejtellt," fprad) £err Slfreb leife, „unb
aud meinem J^erjen foU burd) bie Perbunbenen #dnbe meine ©elmfudjt in
ba* 3l)rtge einftr6men, ftraulein ©ertrub, unb Sbnen juraunen, wa* id)
mir, fo wie al« ein kleiner »om GfyrtftftnM, iefct »om Gimmel wünfdje.
2fber alle« fann bod) nidjt gugeraunt werben, aud) nid)t, wenn bie <5ehnfud)t
bie getreue 3>otin macht. Tttle« »om ®lücf fann nur ber SD?ann feinem
angetrauten 3Beibe juflüftern, wenn e« ihm glaubt, baß er fie gern hat."
„3d) bin mir nod) felber fremb," fagte fie: „Vielleicht wirb c« bie
fünftige 3"* bringen, baß id) miffen werbe, wa« id) bin."
,,3Öa« 6ie ftnb? 23iel ju fül)l bei Syrern Siebreij. ©ie fann man
SBdrme geben, of)ne felbjt warm ju fein! Da« ift ein SKatfcl unb gegen
ba« 9?aturgefe$. 2Ba« gibt e« für £ilfe bagegen?"
@r neigte fid) ju irjr unb bliefte in ihr 2fntli$, ba« fid) it)m oon ber
Seite in l)olbem Umriffe barbot; unb ba fie bie Stinte gefenft tjatte,
umfd)Iang er ifjren ?eib unb fud)te iljren ÜÄunb. ©ie wanbte ba« #aupt
mit rafdjer Bewegung ab, unb feine Sippen ftreiften ben weifen füllen
SWabdjennacfcn.
„®crtrub!" bat er.
©ie erbob fid) unb blieb fhimm. ©ie fuchte nad) einer (Smpfinbung
in ihrem SMifen unb fanb feine.
17.
4>err Blfreb befaß ein 3agbf)au« im ©roffmggraben, unb al« c« au
ber 3eit war, eine £od)jagb abgalten, bei weldjer ®efegenf)eit er eine
»ornebme ®enoffenfd)aft um fid) »erfammelte, fo erbat er ffd) »on ber
®ro§mutter unb ber (Snfelin bie ®un(l, feine ©dfle ju fein. XJa« Jg>au«
(ag tief in ben bergen auf grüner QM60e; ber SBi(bbad) raufchte baran
t>orbei, bunffe 97abe(wa(ber fliegen pon beiben «Seiten bie fd)roffen #änge
hinan, bie bie dauern be« J^od)gebirge« bilbeten. Üßo ber ©raben ein«
wdrt* ben Durdjblicf gemattete, ba ragten über walbige dürfen bie ^el««
gtpfel empor. (Sin ftaljrweg war bi« jum 3agbbaufe angelegt, fo ba§
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266
*Dt(teIm gtf<f>er: £an* ^etnjlm.
man im Wagen leid)t bariin gefangen fonnte. ftrau $t)erefe nahm bir
(Sinlabung für ftd) unb braute! gerne an, bie aud) nicM* triftige* bagegen
einjumenben mußte. #err 2ttfreb bar aud) J^etnjlin ju ©arte, ben er mir
au*gefud)ter $6fltd)feir $u geminnen oerftanb, unb biefer mar al*balb bereir
al* 3agbgenoffe mitjutun. Unb al* ftrau $r/erefe ba* ©ebenfen erhob, baß
bie Wege jum 2fufflteg jreil unb befdjmerlid) mären unb eine übermäßige
Xnftrengung be* bod) nicht mehr rufltgen J&einjlin forberten, ba oermaß er
ftd), mit ?eid)ttgfeir auf bie ©pifce be* ßoehroart ju fteigen, menn e* fein
müjfe, um eine ®emfe jum ©chuß ju friegen.
3fUe brei fanben ftd) benn aud) $u gegebener 3*it im 3agbt>aufe be*
©rofjTnggraben* ein, ba* geräumig genug mar, um eine ftattlid)e Bnjahl
oon ®dften ju beherbergen, <S* mar aud) ber ftürfr gefaben, ber im obern
SWurrale ein beträchtliche* ©tücf be* Sanbe* ju eigen befaß; er mar aber
oerl)inbert ju fommen unb entfenbete, mie gemäbnlid), bie ©efeßfdjafr ju
ehren, in Vertretung ber eigenen *Perfon einen feiner l)6t)eren ^orftbeamten.
Jßerr Blfreb empfanb fein geringe* Wohlbehagen, Srautel al* ®ajt
in bem ftattlichen #aufe $u l)egen unb bemühte ftd), thr ben Xufenrhalr in
allem möglichen roohntid) ju gehalten. 3u Äbenb, alt bie ®äfte bereit*
eingetroffen maren unb ftd) oor bem s???ablc in ihre 3intmer jurudgejogen
hatten, fanb er nod) STOuße, mit ihr allein $u reben, unb erneuerte mit
#er$en*märme ben 93erfud), fte ju bem 'jamorte $u bejtimmen. ©ie l)6rte
ihm (tili an unb forfd)te mieber in ihrem Onnern nad) einer (Smpfinbung,
au* ber il)r ba* ©ort h'roorquellen fdnnte, ba* er begehrte. 3ber nid)t*
in ihr erraufd)te ftärfer al* oorher, unb ba* 9Mut jog in ihrem Seihe
gleichmäßig bie gemohnten Bahnen, ©ie blieb für/l unb oermunberte fleh
aud) nid)t über ftd) felbjr, baß fte e* mar. ©ie banfte ihm mir freunb*
lid)er Siebe für feine Wohlmeinung, unb tfellte alle* künftige ®otre* Willen
antjeim; unb fo mußte er ftd) entfernen, um ftd) ju feinen Sagbgäften ju
gefellen.
©ie aber ging $um ^enfler unb bliefte hinan*, Die legten 2age
maren fd)mü( gemefen, unb ber ©ommer, ber je(jt feinem Grnbe nahte, hatte
ftd) nod) in ooller ©onnenfraft gezeigt. 9lun ftanb ein ©emitter am Gimmel,
beffen ®emdlfe fid) bereit* auf bie ®ebirg*fämme l^erabfenfre; unb fte
h6rre, mie unter ben bienftlidjen Magern unb Treibern, bie »or bem Jßaufr
meilren, mit £inbeurung auf ba* Wetterleuchten gefagt mürbe: „€*
bimlefcr ftarf. 3n ber 9tad)t gibt'* mol)l ein fdjieche* Werter. Wenn ftd)1*
aber gehörig au*regnet, fann ftd)'* morgen mieber aufmad)en unb gerabe
ein fd)6ner Sag merben."
Dann börre fte nod) fagen: „$aßt't auf, ?eurl! Da fommr be* Jßerrn
dürften fein Dberfdrfter, ber morgen Sagbleirer ift." — Unb e* trat ein
SPiann oon hohem Wudjfe hin^u, ber ihnen Aufträge erteilte. @* mar
fdjon ganj bämmerig gemorben, aber beim ©chein be* Wetterleuchten*
erfannte fte ^entfrieb.
©ie erfchraf. —
Doch ba jurfte e* blifcartig mir jähem ?id>te in ihrem nmerftai
Wefen auf, fo baß fte ob ber gleichjeirig flürmifd) pochenben J^erjfchlage
angjllid) bie £anb auf bie ©ru|t legte. Unb e* fam über fte mie eine
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SBtUjclm gt'fd)er: £an* ^einjltn.
267
ungeahnte Enthüllung, unter ber ffe ganj fTd) felbfl fanb unb mit feiigem
£rr6ten im ©chatten beä genfler* fdjwer aufatmete. 3m nddjflen 2Cugen=
bliefe jürnte ffe ftd) felbfl ob biefer Smpftnbung, bie bie allermeiblidjfle mar,
unb bie fte für unweiblid) hielt.
„ÜEein ©ott!" flüflerte fie tonlo*, „liebe id) «entfrieb?"
9?un jueften brausen bie SÖIifce unaufl)6rlid) in bem einförmigen ©e*
w6lfe, bic £onnerfd)ldge ballten in ben bergen bröhnenb wieber, unb ber
©ewitterregen raufrfjte tytrab, fo baß alle, bie oorljer im freien flanben, ba*
Cbbad) fud)ten. Sie lehnte ftd) and genfler unb fal) in baö oon SMifcen
burd)leud)tete 3Betterbunfe( hinaus, unb ihre $Bange mar nicht fühl wie \ouyt,
fenbern l)etß. £a fd)ien e* iljr, al* wenn ffe nidjt mehr braute! »Are,
fonbern eine anbere. (Sie wollte ftd) ber jdh aufgeblühten Sehnfud)t ent*
jiefjen unb »ermodjte et nicht. £e*halb fd)ien e* ihr, aiö ob fte nicht
mehr ffe felbfl wdre. Über ihr eigene* £eben, bad flürmifd) in it>r flutete,
rerlor fte bie SÄadjt unb wollte in einem fremben Dafein leben. (Sie fat)
in ba* jutfenbe, flrimenbe ffietter t)inaui, ffe Ijordjte ben wieberf)allenben
Xcnnerfdjldgen, unb jlrdubte ftd) bagegen, in einem fremben X)afein ju
leben; aber fte warb »on beffen ©ewalt übermannt, fo baß fle mi jttternben
Vippen flüflerte:
„Tai' ift niefa anberä: id) liebe £entfrieb."
«Sie rief ftd) ihre gegenwartige (Stellung in* ©ebdd)tni*, ben ÜBunfd)
ber ©roßmutter, bie Hoffnung 2llfreb* unb mußte ftd) fagen:
„ffieil id) ?entfrieb gern t>ab\ fann id) nid)t £errn 93tertegger*
grau werben."
(Sie bad)te an ba* ?eib ber ©roßmutter, ba* fte ihr jufügen werbe
unb mußte ftd) fagen:
,,3d) fann nicht* bagegen tun, benn td) tjab* ?entfrieb gern. Da*
ifl ba* Sd)icffa(, ba* fo pl6<d) über midi gefommen ift; aber bann ifl
ce aud) ©otte* 3Bille. Dann muß cd fein, unb id) will ed."
9?un war ihr ber eigene SCBille jur SRotmenbigfeit geworben, mit ber
fte ihr J$erj ganj erfüllte, fo baß ber 3nt)alt leudjtenbe Siebe würbe, bie |le
angjligte unb befeligte.
Die ©roßmutter fam, um Srautel jum 2Wal)le abjuholen. <Sie hatte
ffd) al* erfahrene #au*frau ben Dienflboten l)ilfreid) ermiefen unb aud) bie
Snorbnung be* 2(benbtifd)e* überwacht. Sie erjdljlte ber SWaib oon ben
Oagbgdflen, bie eingetroffen waren, unb nannte beren tarnen. Dabei er*
wdtjnte fte aud), baß nad) ber Stfcorbnung ber (Stelloertreter be* gürflen,
9?amen* Sentfrteb, am obern (Snbe ber $afel ben <pia$ einnehmen unb
fomit Srautel* 9?ad)bar fein werbe.
Diefe erfdjraf, al* fte l)6rte, baß fte neben Sentfrieb flfcen foHe. (5*
bünfte ihr unm6glid), in ber 2Birmid, bie fte überfommen, ihn wieber*
jiifcbnt unb mit ihm oor ben ^Tugen einer fröhltdiett ©efellfd)aft gleichmütig
ju reben. 2Rit rafd)em @ntfd)(uffe bat fte bie ©roßmutter, fte ju ent*
fd)ulbigen; ffe fdnne nid)t an bem OTahlc teilnehmen, ba fte ftd) mdit
woljl fül)le unb bie J^eiterfeit ber anbern nur fl6ren würbe. 3fuf bie be#
forgte $rage, wad it)t fel)le, gab fie bie Äudfunft, baß ee* ein Äopffdjmerj
fei, ber fte überfallen, ber bi$ morgen gewiß oorübergefjen werbe, heute aber
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268 miWm gtfd)«r: §ani £etnjlin.
tl>r bringenb 9tut)e auferlege. Sttun wollte auch bie ®roßmuttrr nicht mehr
am SD?at)le teilnehmen, fonbern bei if)r bleiben, um tr>r mit irgenbweldjer
Hanbreiduing ber>ilfltcf> ju fein, wenn ffe foldjer beburfe. (Sie triftete fiel»
babei mit ben ©orten:
„Die Herren »erben ungeftorter unter flcr> bleiben unb ftdj feinen
3wang bei ihren luftigen Einfallen anjutun brausen, wie fle e« beert
mußten, wenn grauen anwefenb flnb. Unb mir effen auf unferm 3immer,
wobei aud) bu, Jrautel, bir bie @ßluft »on beinern Jfopffchmerj nicht »er*
jagen foffen barfjt, fonbern »ielmehr mit etwa« ?inbem flarfen mußt."
18.
£etn$lin nahm am «Wahle teil unb faf> Sentfrieb nad) langer 3«*
wieber. Dod) Ijatte er aHe« »ergeffen, ma« jwiferjen beiben al« (Wrenber
SRaud) aufgefliegen war, unb far) wieber tjell auf ben einfügen ©eggenoffen
in ber abenb(id)en STOuraue, bot ihm bie £anb unb begrüßte ihn freunbltcb.
£cr anbere war in feiner flarfen SKannlichfeit fehwaefj geworben, al« ihm
Srautel« Sater unvermutet entgegentrat, unb fonnte nur mit unftdjercr
©timme, aber mit um fo mel)r burd)lol)enber #erjlid)feit bie freunbltctte
Änrebe erwibern.
Heinjlin bemerfte weber bted noch jene«; er war in ber allgemeinen
$r6f)Iid)reit wohlgemut, hielt ftd) ftattlid) unb war f?d)tlidj jufrieben mit
SKenfdjen ju »erfefjren, auf bie er nicht herab ju b liefen brauchte, Denn ba«
war ihm tro$ feine« mäßigen ©uchfe« oft genug gelungen.
Serwunbern mußte ftcf> Sentfrieb jebod), al« er »ernannt, baß ffd> J^einjlin
an ber J£>od)jagb beteiligen wofle unb ihn um einen gunftigen ©tanbort
bat, wo er gewiß eine Oemfe »ort SRofyr befame. SÄit mitfeibiger SKegung
fat) er, wie gealtert ber Sßeijrer war, unb äußerte einige« ©ebenfen über
bie Q3efd)Werlid)feit be« Auffliege« in« Hochgebirge. J£>ein$lin aber bürgte
ihm mit unwiberfreMicher 3u»erfid)t, baß für ihn fein ©teig .ju (teil unb
fein ©erg ju h0<*> fei. 3u folchen Sagben l)abe er fd)on al« ein ganj
Sunger im SBaterfjaufe feinen 2£ann gefleüt, um fo eher jefct. <Bo mußte
e« ?entfrieb babei bewenben laffen.
Der Bbenbiifd) hielt bie ©Äfle nicht allzulange »ereinigt; benn e*
foflte mit $age«grauen aufgebrochen werben. Heinjlin faß »ergnugt unter
ben anbern unb meinte, im notigen Aalte gar feine« Schlafe« ju beburfen
unb bod) frifd) beim ÜBerfe ju fein. Orr war auch am frühen flaren borgen
jur Stelle unb flieg mit ben anbern auf.
Die SKatb »erbrachte ingmifchen ben $ag mit ber ©roßmutter, unb e«
war ihr fonberbar jumute. Sie fchnte ftd) weg au« bem ©rofftnggraben
nach Haufe, wo fle nicht in ©efat)r flanb, einem $u begegnen, ber frerr
über ihre (Seele geworben war, ohne baß er e« wußte. 3fber ffe wußte e«,
unb ba« war genug, um ihre 3u»erftd)t ju trüben, bie ihr bi«her in allen
einengenben SSerhaltniffen ihre« jungen Seben« geblieben war. 9hm fyattt
ffe bie Öbmacht über ftd) »erloren, unb ber (Sinflang ihre« ©efen«, mit
bem ffe fonfl jeben bejaubert hatte, war jerftfrt. Die ©roßmutter merfte
e« auch; alMn ff* fchrieb e« ber Unpdßlichfeit ju, bie aud) an bem frifdjen
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©ilfrelm gifdjer: §ani £einjKn.
269
£eibe eine* 9J?dbd)en$ nicht immer »orbeigebt. Dabei »ergaß ffc it>red 2>or*
reif* nicht unb mahnte Srautel wieber an bie weibliche ©ejtimmung, bie
nach ©otte* SRatfchlujfe barin beftebe, einem Spanne afd Sebendgcfatjrtin $u
folgen unb if)n mit eigenem ©lüde ju begfütfen. Unb ber richtige SWann,
einen folchen »orbejtimmten 9tat wirflid) $u gehalten, fei nad) ihrer Meinung
Xlfreb SBiertegger, ber fle liebe wie fein anberer unb atted »or ihren gtfßen
glatt machen werbe, auf baß fle einen ebenen Lebensweg mit einanber gelten
rennen. Unb jefct, wo fie beibe mie SWutter unb $od)ter in bem tiefen
©ergtate gingen, ben JMmmcl über fTcf> unb bie 3Bafbmauern ju (Betten,
bie fle »on ber ganjen übrigen 3Be(t in Qrinfamfeit abfehfoffen, jefct bat fte
Srautef, jenem bie fo fetjr erhoffte 3ufage ju geben.
Die Üftaib mar an biefem Sage blaffer alä fonft. Sie entfärbte fTcf>
nod) mehr, lieg eä aber bie ©roßmutter mit jiemlid) fefter Stimme f)6ren,
baß ffe an eine #eirat gegenwärtig nid)t benfen fdnne; aud) n>or>( fpäter
nicht. Der febige Stanb ftelje ihr ganj gut an. Kber wie bem immer fei,
baö eine fehc ftc Har vor fid), baß fTe niematt SBierteggerd 3Beib fein f6nne;
benn eö fei ©otteä 3ßiUc bagegen. Unb bamit fei aud) ihr (£ntfd)(uß »on
ber Sttotwenbigfcit wie »on einem fiarfen Seif gebunben. Unb ob fte gfeid)
wiffe, bie ©roßmutter bamit ju befummern, mad fle fefbfi am meiften
fchmerje, fo f6nne ffe bod) nicht anberö tun, unb wenn ei il)r ?eben gelte.
grau $l)erefe erfd)raf »orerft, al$ (Te bied l)6rte, bad)te aber immer
nod), baß ihre (Snfefin in einem f rauf haften Suftanbe befangen fei unb fid)
unter bejfen (Sinfhiffe gegen bie @t)e fremb »erhalte, Sie gab bedt)alb bie
Hoffnung nid)t auf, baß braute! fleh eine* befferen befinnen werbe, wenn
fle oon ber Unpdßlichfeit befreit fein unb fid) wieber wofjfbefinben werbe.
Sie Ijielt ed bafjer für jwerfmdßig, bad Sföabchen mit weiteren (Sinwenbungen
ju »erfdjonen, unb ffe »erbrachten ben Sag friebfam in ber fd)6nen fcerg*
weit, bie ffe umgab.
©egen 2Cbenb fchrtc bie 5agbgefettfd)aft juruef, bae erlegte .i?orf)wilb
warb nad) SÖraud) hergerichtet, unb lauted Seben ertemte wieber »on bem
£aufe im ©roffinggraben.
19.
£etn$lin war überaus abgemattet juruefgefommen; aber er rjatte ei
bod) feiner Äraft abgezwungen unb war, wenn aud) langfam, ben anbern
nad) gefiiegen, um feinen Stanbort t>or bem ßare einzunehmen, worauf bie
getriebenen Siere hnroorbrechen foUten. 9Jach feiner Angabe war er aud)
gludlid) ju Schufte gelangt; wie er fid) benn aud) aU Dager in feinem
Sinne um nid)t$ geringer tjielt af$ irgenbeinen ber anbern Herren. Diefe
gönnten it)m aud) freunblid) ba$ ©emußtfein feiner $ud)tigfeit.
3fber ald aUe bei ber 2fbenbmaf)fjeit faßen, ba jlellte e$ fid) b*niu$,
baß it)m bie (Sfthin fernblieb, obgleich er fid) ben ganjen Sag nur mit
wenigem genarrt \)atte, unb alfo bie Übermubung nal)e war. Dafür tranf
er um fo mehr »on bem guten ÜÖeine, ber reid)lid) auf ben .Sifd) gejlellt
würbe unb gofbig aud ber ftlafdje ind ©fad perfte.
Diesmal fam aud) ^rautel mit ber ©roßmutter ju furjem ©efud)c
270
SPilpelm fttfdjer: £«n* ^einjlüt.
hinab in ba* Safetjimmer. Da* fonnte fle nicht gut oermeigern, jumal ihr
Die Freiheit gcflattet mürbe, ba* 2fbenbeflTen aud> bie*mal mit ber ®roß#
mutier abgefonbert einzunehmen. Da fallen fid) betbe mieber: brautet unb
?entfrieb. Unb obgleich fle inmitten anberer ?eute ftanben unb fid) nur
unbebeutenbe 5Borte be* ©ruße* gu fagen hatten, fo tag etwa* wie eine
verborgene unb bod) enthüllte 5Beft in bem SMirfe, mit bem bie SRaib
Ventfneb mit furgem Xugenauffdjlage betrachtete. E* fielen al*balb ihre
2Bimpern mieber wie ein Vorhang über ben Spiegel ihrer Seele, ben ihre
3ugen barft eilten; aber über ihn fam e* wie eine pl6$ItcfK Erleuchtung, al*
hätte er in einem wunberfamen ©übe bie wonnig »erleibfid)te Erfüllung
feiner Setmfucht gefetjen. Unb bod) mußte er wieber baran jweifeln unb
fid) fragen, ob e* nicht eine $äufd)ung feiner unter aller äußern SRube »er*
»irrten Sinne gewefen »Are, wa* ihm in brautet* 95ficf bie feelenoolle
Neigung erfennen lief.
2U* ffd) biefe wieber entfernt hatte, unb er unter ben ®äfien faß, ba
mußte er mit jtarfer ÜBittendfraft fid) jufammen nehmen, um nicht ben
anbern in unerflärlidjer üBetfe auffällig ;u erfcheinen, n>ie einer, ber nur
firperlid) baff$t, aber mit bem ©eifte abmefenb ift. 2ff* er enblid) jur
SRurje gehen fonnte, wünfdjte er gar nicht ben Schlaf herbei, um fleh jfßt
gänjlid) bem ©Übe hingeben \\x fännen, ba* ihn beute fo ungeahnt befeligt
hatte. Unb bann wieber ber 3weifef, ob er recht gefehen unb fT<f> nicht
in einen Srrtum »entrieft habe, au* bem ihn bie harte SBirflidjfeit $u leib*
»oHer Empftnbung reißen werbe.
Schon frühe »erließ er ba* £ager, auf welchem ihn ber Schlaf nid)t
betmgefudu hatte, Heibete fid) an unb ging t)inau* in ben fühlen SRorgen,
ber ihn mit feiner herben ^rifche labte. So ging er tange ben ©ad) auf*
wärt*, gefolgt »on feinem Jßunbe, ber braußen im gxeien genächtigt unb
ffd) nun freubiglid) ju feinem Gerrit gefeilte. Er ging folange aufwärt*,
bi* bie fteigenbe Sonne ihre roten Strahlen über ben Scheitet ber $Ba(b*
mauer fenbete, ben (Kraben mit blenbenbem $;rühlid)te erhellte, unb ber
Üßilbbad) in taufenb ^unfen gligernb bahinraufchte. Dann fehrte er um
unb ging roieber abwärt* bem 3agbt)aufe ju. 2(1* er auf ber grünen ©l6ße
angefommen war, bemerfte er an ber «ffialbmauer jwei mächtige £el*bl6tfe,
auf benen anferjnliche Richten wudjfen, bie fid) ihre Jßeimat bort erwählt
hatten, unb jmifchen beiben ©I6cfen floß ein ÜBäfferlein wie ein Silber*
faben burd).
Sein £unb begehrte ju trinfen, ging aber al*balb mit aufmerffam
erhobenem Äopfe ben fdjmalen ^>fab neben bem ©ädjlein einwärts, unb
Ventfneb folgte ihm burd) ba* ^e(fentor ju einem ©rünnlein, ba* au* bem
©erge fam unb in ein einfache* ©eefen gefaßt war. Doch mochte biefer
»on alten Richten umfehattete Ort ben Eigentümer be* Sagbbaufe* wohlig
angemutet (jaben, fo baß er bort einen $ifd) mit einer Stubebanf er*
richten ließ.
2fl* nun £entfrteb jmifdjen ben jwei ©läcfen wie burd) ein natürliche*
$elfenpf6rtlein hinein trat, meinte er in einen 3auberfaal be* ©erge* gc*
. fommen ju fein. Denn auf ber ©anf neben bem ©rönnen faß eine ®e=
ftalt, bie ftüßte ben 2frm auf ben $ ifch unb ba* £aupt in bie #anb ; unb
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ffij'Hjelm fttfdjer: §tni ^>etn)ttn.
271
ali fte ben £unb anfdjlagen t)örte, erljob ffe (Td) ja!) erfdjrecft. <$i war
bie SWaib, bie aud) feine 9*ad)tru!)e auf irjrem Säger gefunben unb be*t)alb
frür/jeitig brausen ben einfamen SKorgen aufgefudjt hatte; unb fo lief bie
gleiche Urfad)e ein* bad anbere hier finben.
Sentfrieb rügte feinen #unb, ber aläbalb ben Jrfeler erfannte unb
um fo freunblicher bad liebliche 3Befen begrüßte, cor bem fein #err mit ab*
gezogenem J£>ute (tanb unb bie SMtte um (Sntfchulbigung oorbrachte, baß er
ile gehört t)abe. £>abei pochte Sentfriebä #erj tfürmifd), fein 2fntli$ warb
bin*, unb feine (eud)tenben Äugen nahmen bad 93ilb ber SJ?abd)engefralt
in bie Seele auf. 3h* 3CngefTd)t aber mar mit einem leifen Jßaucfj bon
9t6te übergoffen.
(Sie r>ielt eine ©entiane in ber linfen #anb, unb in ber Verwirrung,
*ie (Te überfam, reichte fte ihm bie ©lume unb fagte reife: „Da! weit wir
un* Tange nicht gefe!)en (>aben unb und nid)t gut waren. Dad i(t für Sie,
*£err Sentfrieb."
@r nabin bie SBlume, atmete ben Tu fr ein, unb ein foillid^ö ©efut)l
burd)ftr6mte ihn. „^raulein ©ertrub!" ftammelte er, unb (Te faf>, baß ber
flarfe Üftann an feinem ganjen ?eibe bebte.
„SBarum?" erwiberte ffe unb wanbte ihm bie Stirnc ju. 3h* ÄntliB
war nun rofig übergoffen.
„£> ®ott! braute!! Srdum id), ober bin id) wach? 3|V* 9?ad)t, ober
ifT* ber Limmer, ber offen ijt?"
„3a, ich Ijeifle Srautel", fagte ffe, erhob mieber bad £aupt, bafl ffe
vorhin wie ermübet gefenft l)atte, unb blicfte il)n an.
Da brad) feine Seele in einen Huffchrei beÄ 3ubel* au*: „braute!!"
£r fdjlof (Te in feine Ärme unb fugte ihren SBunb, ben ffe ir)m nid)t
verweigerte. Dann murmelte er, ,,3d) r)ab' bid) gern! O wie id) bid)
gern i)ab\'"
Sie fd)(of bie 'Äugen unb flüfterte hörbar: ,,3d) bid) aud)."
Sie wanb fTd) aber au$ feinen 3frmen unb fprad) bei aller Verwirrung
ihre* jungen SMuteÄ mit feflem $one:
,A' eintrieb! Va$ td) bir angehören miß, muß wohl ©ottee* 2BiUe unb
eine SHotwenbigfeit fein, benn fonjl fjatt1 e* nid)t gefd)e!)en mögen. 3a!
unb jeßt fag' id) bir'$: id) witt lieber bein Sßetb fein at* irgenb etwa*
anbere* in ber 2Belt. Unb ba i(t meine #anb, mit ber id) mid) bir ange*
lobe. Du brauchft mir nicht* ju oerfpreeben; benn id) weiß, wer bu bi(t."
<5r nahm bie bargebotene #anb mit (türtmfdjem ©lücfägefühle. Doch
fagte aud) er (Td) unb fprad) in gleichem feftem $one, wie (Te ed
getan l)atte:
„brautet' id) barf bid) von einem 53erg heruntergeholt, ber bid jum
-Fimmel reicht, wenn ed fjätt1 fein muffen, alä mein i)immlifd)ed ©lücf.
'Äbcr jefct auf ber @rbe will id) für bid) leben unb fterben. Denn bu t}aft
mir am heutigen 5ag bad ^feben wiebergefd)enft. Du btfl meine Grrrctterin
geworben oon allem ?eib unb bid) will id) preifen, weil bu fo ebel unb gut
ju mir warft, unb t)Af* bid) meiner erbarmt unb bid) al$ ©feidjeÄ )u mir
geflellt: bu, braute!, alÄ *EBeib ju mir, bem Spanne. 31ber je^t foll meine
^raft bie beine fein unb meine Seele bie beinige fein, mir jum .£eil unb
272
bir aud). Z>a$ fott unfer Herrgott im Gimmel walten, weif id> bir banfbar
bin um ber ©eligfeit willen, bie bu mir am heutigen $09 gebradjt f)afl."
9?un fd)lang brautet tf>re 3frme um feinen $ali unb brurfte ihre
kippen auf feinen SÄunb.
20.
<5o lange (Te nocf) im ©rofftnggraben weilten, fagte bie STOaib ihrer
©roßmutter nid)td. Xber biefe hatte allen ©runb, jTd) über bie Seranberung
ju »ermuntern, bie ffe an ber (£nfeltn mahrnehmen mußte; benn biefe mar
pläfclid) »ieber aufgeblüht »ie eine SRofe in ber 9?ad)t unb jrrerfte frifdjer
ald je ihr £6pfd)en in bie «£6l)e. X)ie ©roßmutter fd)rieb e$ aber bem
»erdnberlidjen weiblidjen ©efinben ju. (Jrft al* fie mieber babeim waren,
erfuhr fie alle* »on Srautel, roie ed (Tcf> »erhielt unb hatte feine $reube
baran. 3m ©egenteil, ffe warb fehr befümmert, wie einer, ber ein »cm
it)m fd)6n gebaute* Jpau* ju bejteben glaubt unb pl6$ltd) in ein frembeö
?anb »erfefct mirb.
Allein (Te hatte it>re @nfelin bod) lieb gewonnen, unb bad ©efühl bed
©lutfed, fcatf je$t aud beren 3Befen fprad), mußte fid) aud) Eingang in ihr
eigeneö Jßerj »erfdjajfen. 3e$t, wo $rautel jtill »erfdjamt, feiig unb mit
c ruft cm 3nt(i$e 511 lächeln fernen, fonnte fie tmtt }ürnen. 3ubem erinnerte
fic fid), baß fd)on einmal eine $od)ter aud biefem $aufe ihren 3BiIfcn burd)*
gefefct hatte, unb baß biefe bie SRutter »on it)r war, bie nun wieber nad)
bem ©ebote itjreS ^erjend hanbelte. <5o ließ ftc ihre Hoffnung fahren, bie
fid) nid)t al$ lebendfraftig erwiefen Ijatte, »erbannte ben ÜBunfd), ber ihr
bie 3ufunft falfd) gebeutet hatte, unb Sentfrieb warb »on it)r ali Srautel*
Verlobter in ©naben aufgenommen.
X5te Sttatb felber gewann burd) »ertrauenäoofle OBitteilung ber $er*
hdltniffe 3(lfreb Siertegger fo fetjr, baß biefer jwar betrübt, bod) ber 3?ot*
wenbigfeit fid) fügenb, »on ber ©erbung ohne ©roU jurueftrat.
3n ihrem bräutlidjcn ©lüefe \)<xtte fle jebod) nun baÄ ?eib, ihren SBater
hmfiecnen ju ferjen; obgleich ffd) Jßeingltn auf ben deinen erhielt unb ftolj
erfldrte, ihm fehle gar ntchtd unb er fei gefunb wie ein *£irfd). &er muh*
fame Xufjtieg inä ©ebirge jur Jpocbjagb hatte feiner Jßerjtdtigfeit, bie fd)on
vorher gehemmt war, tiefere Qnnbuße jugefügt, unb baö ©ebot ber Untbalt*
famfeit 00m 2Beine, ba$ ihm ber 2frjt auferlegte, warb »on il)m oerlacbr.
3Bo foHte er feine Ijeflen Betrachtungen über ben Sauf ber £tnge hernehmen,
wenn ihm nid)t ber 5Öein ba$ Jperi jttrfte? Unb ber follte iljm fd)aben!
@d ging aber bod) mit it)m abwartd, unb gerabe ju ber 3ctt hatte
ih?n ein unbanbiger 3(rbettdtrieb überfommen, wo it)m ?Hur)e wal)rfid) not tat.
@r ließ fid) fein »Oanbwerfdjeug in ba$ 3iwmer fd)affen, bad er bewohnte,
unb ba hielt er fid) nun oerborgen unb oerfd)foffen, unb niemanb burfte
;u ihm. 3ud) ^entfrieb, fein einjtiger ©efafyrte auf bem Tfbenbgange in ber
SRuraue, fonnte nid)t Einlaß gewinnen, obg(eid) er ihn gerne alö @ibam
aufgenommen hatte. Denn einer, ben braute! liebte, ber war aud) ihm
lieb. 3a, felbft biefe pochte oergeb(id) an ber oerfd)(offenen Zur bed ^aterd.
Sie wußte fid) faum mehr ju helfen unb warb in aü ihrem ©lud oergramt.
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SBilbelm gtfdjer: #an* $eut|lm.
273
Um fe erfreuter war fte, al* tl)r ber Steter eine* Sage* Söotfdjaft
fanbte: fie mochte bod) ju ihm in bie Stube fotnmen. Sie eilte bahnt unb
fanb ihn im ©ette aufgerichtet fT$en mit eingefallenen $öangen; aber er
begrüßte fie wohlgemut, eil* wenn e* mit itjm am allerbeflen jlunbe.
„<Bd)6n, baß bu gefommen bijl, Srautel! Unb ba will id) bir au*
gleid) etwa* aeigen."
Äuf bem $ifd) neben feinem ©ette befanb fld) ein ©egenflanb, barüber
ein $ud) gebreitet war. <£r fjob e* auf, unb ba fat) (Te ein feine* Ädfldjen,
au* 3irbenr)olj gearbeitet, ba* über unb über mit ©lumen, ©lattwerf, mit
Oeranfe, mit feltfamen ©ebilben unb au*brucf*»oflen ©eflalten bebetft mar.
<&it betrachtete e* »ermunbert, unb e* mußte aud) jebem al* eine merf«
roürbig fünft tolle Arbeit erfcf)einen.
„(Behau, fd)au, 2rautel", fagte er Iddjelnb, „ba* ifl ba* ©rautgefdicnf,
roa* bu ron beinern Sater friegjl. ü)?ebr bat er nidjt, al* ba*, wa* er
fld) von feinem Jßanbwerf nehmen fann. <§iet)fl, id) bin auf ber 5Belt
beinahe alleweil um ein* ju viel gewefen; aber ba auf bera Staftttl ifl eine
aanj anbere, eine fdjdne, eine bezauberte ©elt. Unb baß td) bir1* gleid)
»ermelbe, wa* ba* alle* üorflellen fott."
<5r wie* mit bem Ringer barauf.
„Da* ifl ein gldnjenber J$od)$eit*jug, ber »om alten ©urgtjugel l)tn*
unter§iel)t, unb bie Söraut gel)t mit bem golbenen Äronlein im #aar. Da*
bift bu, unb ba* .Hrcnlem ifl bein ©lud, mit bem bid) ©ott gelieret hat.
$r wirb worjl wtjfen, warum. Unb trüben ifl bie Jtirdje. 3d) tjab' fie
wohl größer gemacht, a(* fie bei un* ifl, fdjier wie einen Dom. Da jier/fl
bu mit beinern Bräutigam ein unb wirft von ©orte* wegen eingefegnet, unb
f&nnt' id) babei fein, fo mddjt' id) bid) aud) befonber* fegnen. 2lber lajfen
wir ba* fein!" —
vrr fprad) leife, langfam, jebod) beutlid).
„Unb ba, fd)au! ba* fjier ifl eine Pforte; bie ifl »erfdjloffen unb füf)rt
in einen wunberbaren ©ergfaal. Drin ifl ein 6d)a$ golben wie ba* ®lücf.
— 3(ber nidjt merjr ba* beine, ba* ger/t einen anberen an. — SSor ber
»erfdjloffenen Pforte flerjt ein SÄenfdjenfinb, ba* gleid)t fd)ier beinern SJater,
bem £an* £ein$lin. Unb ba* QBenfdjenfinb m6d)t' gar fo gerne Ijinein*
get)en in ben wunberbaren ftergfaal, wo ba* ©lud ifl, fann aber nicht.
Denn bie Pforte ifl »erfdjloffen, unb ba* 3auberwort, ba* ffe il)m 6fenen
f6nnt', ba* weiß er nicht. Unb ifl ihm bod) fo, al* mußt' er'* wiffen, weil
e* ihm je$t einer jufluflern tat' aber fo lei*, baß er'* nicht erfaßt. Unb
uehn e*, brautet, ba hinter ihm ftebt einer, wie eine (£ngel*geflalt, unb ber
raunt ihm ba* ©ort ju, mit bem er hinein in ben @lütf*faal hatt1 fommen
mögen, aber fo flab unb flill, baß er'* bod) nicht begreifen fann. Unb
(eben fann er fd)on gar nicht, baß einer rjtnrer it)m fleljt. Unb fo fann
ba* arme STOenfdjenfinb ba* Zauberwort nidjt ftnben unb glaubt immer, e*
muß ftd) barauf brffnnen."
€r Ijielt inne unb fd)6pfte Stern.
„3a, ja, Kautel, baß id) bir'* fag: fein irbifd)e* JDIjr ifl $u grob für
bie «Stimme, bie e* il)m ju raunt, unb er lernt fein ©lud nie fennen. (£r
fommt nie in ben fcergfaal r/inein — bid er flirbt. Dann wirb fein £)(>r
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274
3afob 3«ltu$ S)a»ib: Sin n>unberlid)cr ^eiliger.
ur»l6$ltd) fein, unb er hert ba$ 2Bort, Gerücht e$, unb bie ©eligfeit jieryr
in fein arme* J?>crj ein. 3ber für bad i|P$ .^nfpA t. di tft halt bte Selig*
feit für ein anbereS Seben. — So ift'ä mit mir. — $Bad meinft, £raute(,
ifT* ein redete« £od)seit*gefd)enf für btd), ba* tfajterl? 2&tt bir (lef)t e« ja
anber*. Du wirft fdjon in biefem Seben glüeflid) fein."
„JD lieber SSater!" rief f!e fd)lud)jcnb, „wie fd)6n! unb td) banf bir
taufenbmal bafür. 3Tber wa$ bu baju gerebet 1)0(1, ba$ follft bu nicht.
£>u wirft nod) lang (eben, gelt, um meinetwegen? Sag 3a!"
Unb fie fußte ir>n auf bie eingefallene 5Bange. <£r fatj fit mit glan»
jenben Bugen an.
„3a, Srautel, — l)a(l mir bed) immer Jreub1 gemacht in meinem Seben
unb jefct aud).M
„dlid)t waljr lieber SSater, ed wirb mit bir beffer gehen? Sag 3a!"
„5Bie fann'ö benn nod) bejfer gehen, brautet, wenn bu ba bijl?
3d) werb1 bir etwa* fagen: bejfer nimmer mehr; aber abmartä get)t'Ä mit
mir — e$ muß fdjon fo fein! unb bann »ießeidjt wieber aufwärts." —
i£in wutiJ)etIid)ec heiliger*
Q3on 3afob Suliuö Daoib in SBien.
T>ai flnb nun »iele Saljre b,er. So lang, baß e$ balb nimmer wahr
ijt, fagen fie in ÜBien.
9?ad)bem mir aber bie ©cjtalt in aller biefer %cit unb in allen ihren
@rlcbnijfen nidjt öerfdjwinben wollte, fo muß etwa* an il)r gewefen fein,
baä Ijaftet.
Ua$ war fo jwifdjen 2Tbfd)luß meiner Stubien unb @rfenntni$ be$
eigentlichen ©erufeS. Schlimme unb jerrijfene 3Bod)en, SÄonate, grbet>nr
ju Sauren »oll ungewijfer unb jaghaft begonnener SScrfudje, »oll lauernbrr
9J?6glid)feiten.
SD?an taflet ba unb borten. STOan probiert mit bem nimmer fdjweigenben
©efür)l, ba$ red)te fei nod) ntd)t gefunben, ber immer fdjmeßenberen Set)n*
fud)t, ed mächte ftd) bod) enblid) offenbaren, ber (Srfenntniä, man f6nne
eigentlich gar nid)tä baju tun. 3ebe Begegnung mit alten Kollegen, bie
ffd)er unb »ergnügt inö Sehen unb in ben 33cruf t)ineinget)en, wirb eine
gerne »ermiebene <Petn. Unb fo wirb einem jebe ©efellfdjaft recht.
2ttan lebte am Saume ber ©roßjtabt, ba bie SSororte begannen. Unb
man rottete ffd) jafjlreid) jufammen. 3(13 Äern »erbummelte ÜÄebijiner, bie
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3afcb 3ultud Sapt'b : Sin rounoerlitber ^eiliger.
275
gern ju heben fahren bringen unb bem Vierter anhänglicher maren, ald
ihren Stubien; lungernb jmifchen Kaffee unb 5ßtrtdbaud; »erbitnbet ju
Jtlube mit unfinnigen Sa$ungen, Sormanben »ielmetjr, einen Sfteuling, ber
ftd> rounber mad »ermutete, um ein Cuantum ©ier ober 3Bein ju prellen.
3fUe ©oche mürbe ein SBorfifcenber gemablt unb mit einiger (5ntru(!ung auch
»ieber geflurjt.
Die ffiurbe war nämlich fo foftfpielig, baß flc niemanb langer be*
baupten fonnte. @in poffenbafted Slituafe, ju bem jeber biefer «Müßigen
etroad audbeefte, mürbe feierlich unb un»erbrüd)lich eingehalten, ©runb*
bebingung mar: ber Grrforene burfte nicht fpredjen fönnen, mußte fid) aber
gerne t^ren unb eine 2(ntrittdrebe galten. Da fam ed benn freilich »or,
baß einer ffd) ben fd)6nen unb unvergeßlichen Safe leifiete — n i rf? t etwa
ulfig/ fonbern ber Meinung, er habe etmad gan$ audnefjmenb $iefflnniged
»or ficb gebracht — „(5rbe unb ©affer »ermifdjen (Ich unb ed entfielt ein
ÜBefen." 5Bad fo entfielt, fann man bod) nur fehr jartfüblenb unb un*
eigentlich „ein SBefen" nennen. 2Tber mir hatten ein geflügelte^, ein tfofungd*
»ort gemonnen, bad man oftmals unb jur Verblüffung Unetngemeibter brauchte.
SÄan »ermteb, badfelbe ©aflbaud ju Wittag unb ju Bbenb ju befuchen.
Sud gutem ©runbe. Sllerbingd flnb SBiener Kellner »on einer fehonen
Langmut unb einer großen ©(äubigfeit in bie 3ufunft ihrer Herren. 2fber,
anberd batt1 ed ffch leicht an einer Stelle gar ju bod) auffummen fännen.
9?ad)bem aber ber Sorort in machtigem ffiacbdtum begriffen mar, fo
fam immer mieber einer mit einer *Pofr, mo gute unb billige 3$ung ju
finben fei. Sfcan tfatte 3eit unb ba fpielte benn bie Entfernung feine SXoUe.
Verfucbt mürbe nun einmal alled.
33ei einer foldten (Jntbecfungdfabrt fließ ber alte Jßerr $u und unb
hielt eine 3eit mit, aHerbingd nur unter $aged.
<5r mar Ijocb bei fahren unb in allem aud einer anberen 3eit. dr
trug Kleiber, bie fehr bequem fein mußten, mit unerhörten Safeben; 3ßeften,
bie fo tief herunter reichten, mie man bied niemals gefehen hatte; Schnupf*
tucher, bie fleh ju benen ber ©egenmart »erhielten, mie ein Dgnabon —
und au« Scheffel ald fehr lümmelhaft befannt — ju einer jierlichen unb
fcbmänjelnben (Stbecbfe.
dt fchten fleh unter und unb an unferer Sugenb ju gefallen, ohne baß
er fich etmad »ergab. 3htt ju fchrauben, tfhtU ftcb niemanb getraut. (5d
mar eine gemiffe 3Bürbe an ihm, trofc aller feiner ftormlofigfeiten, unb miemohl
er eben fo breit mie lang mar unb jene* airbman(d>c fauchen an fld>
hatte, bad ben Spott fo leicht reijt. Unb ed gab (ofe ©efellen unter und.
@in junged Habchen mar immer um ihn. $ßeber hübfeh noch häßlich:
mie man fle eben ganj unbeachtet an ftcb »orübergehen laßt. @d trug bie
pfeife bed Gilten, bie er — ben Stocf in ber Stechten, in ber £infen immer
bad flatternbe Safcbentucb — nicht recht t)httt »ermahren fonnen, (topfte
fte unb bot fte bem ©roßoater nach $ifcb bar. Qlldbann gefchahen einige
rafche 3uge, ehe er umftanblid) genug etmad $u erjdhlen ober ju erörtern
begann. Gr !>ielt babei immer bie J&anb gefpreijt »on ftd) unb ereiferte
ffch in einer munberlichen SBeife »iel mehr, ald einer ber £6rer »erflehen
fonnte
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276
3af ob 3uttu* Domo : Sin »unbfrlidjcr ^eiliger.
Sttiemal* nahm er mehr alt ein ®erid)t. QKunbete ihm ba*, fo mußte
jeber feiner ©ünftlinge einen ©iffen batwn öerfoften. dt jerfchnttt bie
©petfe mit feinem eigenen Safchenmeffer in ganj «eine ©tücfchen unb bot
auf ber ©pi$e ber Älinge an. £er'* »erfchmäbte, ber hott' if>n fchwer
beletbigt. £a* mochte benn boch lieber feiner. Denn bei aller feiner ®uu
mütigfeit fab, ber alte £err gar nicht au*, al* follte man mit tt>m ungeftraft
anfangen f6nnen.
(Sine $afche be* iKecfcö au* fehr feinem, faffeebraunem Such, in ba*
er Pommer unb 28inter gefleibet ging, fenfte fich afljeit mcrflich. £a£
machte, weil er immer »iele* Äupfergelb bei fleh hatte, barunter jene Witt*
freujerftücfe, bie man nach Umfang unb ©ewicht ©chuflertater nannte. (5r
fing nämlich gerne bie hinter ab, wenn ffe »on ber <5d)Ule famen. £>a*
it)m besagte, bat würbe mit einem folgen (Stücf ©clb gu beliebiger 25er*
wenbung befchenft. X)a* war gar nicht wenig in jener armen, fparfamen
unb wohlfeilen ©egenb.
©o fannte ihn benn bie gefamte Sugenb unb lief ihm nur nicht ju,
weil ber SRefpeft »or ihm bafur ju groß war. 2fber auch bie Grrwachfenen
fannten unb grüßten ihn allgemein, dt banfte lafilg, wie einer, ber ber
Haftung Huri jeben fldjer unb gewohnt ifl. Sftemal* »erlieg er Dttafring,
feinen „®runb", ba er geboren unb in bem er »erwachfen war. <&x bejog
niemals eine (Sommerwohnung, fo ficher ti ihm feine Littel gemattet hätten.
ÜBa* innerhalb ber Vinicnrcälle lag, ba* ging ihn gar nicht* an, ba* war
eine frembe $Belt mit jteifen Sanieren unb mit förmlichen ?eben*gewobnheiten,
bie tf>n nur beengt unb angeöbet hätten. „Jßalt — fo ^aren machend." <5r
la* feine 3"tung; benn bie Jpänbcl biefer (Jrbe waren ihm burchau* gleich*
gültig. Ob er jemal* ein ©ud) jur #anb genommen hatte, ba* mochte man
billig bejweifeln.
Unb bennod) batt' « «n* Vorliebe für ©tubenten, hörte gerne »on
bem, wa* ffe lernten. £* wirb nicht immer juf* »om Stteueften gewefen fein,
womit wir ihm bienen fonnten. <5r ließ (ich unfere ©efeUfcbaft fogar wa*
fojten; benn ich »ermute, ber ober ein anberer hat ihn angepumpt. @r hatte
ein Urteil; er hatte unbiegfame Vi muhten — ba rücfftdnbig unb mieber von
einer erfiaunlichen Uulbfamfeit. 3n feinem Greife hart1 er einmal offenbar
ganj tüchtig feinen SOlann geftedt. $Ba* barüber hinauf ging, ba* fonnte
man fleh beguefett ober ffd) gefallen (äffen, wenn'* einem ber 3ufatt entgegen»
brachte. 3hm aber nur einen Schritt entgegen 51t tun, lohnte nicht.
(£r war ju feiner Ünfelin feine*weg* järtluh. <&r bitU fle gut, bie*
fah man. 3lber wie ein 3Öefen von fehr untergeorbneter 2Crt. „£alt, fo ein
SBeibertolf." Unb bennoch war ftc ba* ©tnjige, wa* er auf ber 5ßelt hatte, unb
liebte ihn fehr mit jener fchüchternen ?iebe, bie nur fo oft jurüefgefchreeft warb,
baß ffe fich nun nicht mehr »ortraut unb nur noch dngfUid) mit fcheuen
Sugen »orgueft. 25aß ffe anberc ©ebürfniffe haben fönne, al* nur bie
n äch neu, begriff er nicht ober erfannt1 e«5 nicht an. <£r, gan j im Vergangenen
lebenb, »erlangte ftd) Derlei nicht unb alfo burfte jTe'ä auch nicht begehren:
fein Theater, feinen ^lug in* ©rüne. Hßagte einer ber ^ifchgenoffen tin*
mal einen Jßinweiä barauf, bann befam ber Tflte |undd)ft feinen aühmatifdien,
fauchenben Ärger unb pruflete einige*, bt* er milber warb. „Dö* fann '*
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3ofob ^uiiui Samt): (Sin »unberlid)er ^eiliger.
277
fpdter baben." Über ben ©inn biefed „fpdter" fonnte ff in 3weifel fein: benn
er bf \ud\tc gerne mit ihr baä fd)6ne (Srbbegrdbnfö, bad er ffcf> unb ben ©einen
mit großen Soften auf bem #ernaffer griebfyof Ijatte errieten [äffen.
<£r litt nid)t, baß fie jimpere. Und) ein freie* ©ort n>ar gemattet;
Xnft6ß ige« aber wagte ffd) in feiner ®efettfd)aft olmebied mdjt Por. Äleiben
mußte fie fid) nad) feinem ©efdjmacf, ber nun allerbtngd nicfjt pon biefer
3BeIt mar. 93ieOeid)t barum fal) ffe gar nid)t$ gleid); unb greunbfdjaft
mit jenen SBdbd)en, bie fid) manchmal ju und fanben, fonnte fie nid)t gut
fließen.
<5r fannte biefen SBorort, nun eine mdd)ttge ©tabt mit öielem ©emerbe,
*a er nod) ein Dorf gemefen mar, mit unverbauten Ädern, auf benen all*
iahr [i* ber ©d)mtt begangen warb, mit ffiinjerfyduddjen mitten im ©rünen,
mit fr6l)lid)en unb jaudjjenben 5Beinfefefeften. Damals rodr'd faftig gemefen.
<£r harte ein anfebnlidicö gubrwefen betrieben unb mar fo innerhalb einer
furgen griff über feine ©ebürfniffe l)tnaud woljlbabenb gemorben. Die
greube an ^ferben unb ber ©lief bafür mar iijm au* jener 3*it »erbneben,
ebenfo wob! aud) bie Abneigung gegen ben „®l6cferlftafer", mie man bie «Pferbe*
baf>n l)ei§t. (Erinnerungen an fein ©ewerbe maren fein affbma unb feine
ewige J&eiferfeit unb bie unfdrmlidjen, erfrorenen #dnbe. „£alt — ein
btfferl bampfig" war er.
©ein Sermigen rjatf er natürlich in £dufern angelegt, beren er eine
hübfdic 2(n$abl befaß. <£* waren STOietäfafernen ; aber ungefdjminft unb
praftifd) für tt}ren 3werf gebaut. 3ebe l)atte einen großen #of al$ Hummel*
pla$ für bie vielen Äinber, »on benen e$ in ben SDtte*#dufern nur fo
wimmelte. 93ei unjdfjltgen mar er ©eoatter gewefen. 2ffle ÜBobnrdume
waren f)«>di, gefunb unb luftig, ©einen 3in$ begehrte er pünftlid) jeben
(Jrffen, er war aber fetjr niebrig unb niemanb würbe geffeigert ober gefünbigt.
<5d war in ber jablreidjen unb immer wadjfenben 2(rbeiterbep6lferung ein
melbeneibeter SSorjug, jugleicb eine 3(ncrfennung für gleiß unb orbentlid>e*
Erhalten, wenn man bei ifjm 3ßol)nung befam.
Daß feine #dufer im SBert um ein melfadje* gediegen maren, feitbem
er ffe erbaut, baß er nun einer ber reid)ffen Bürger biefer ©emeinbe war,
wußte er wof)(, aber e$ berührte it>n weiter nid)t unb mad)te iljn nidjt r>of*
färtig. (Sr blieb bei feinem ©pffem — nur jweierlei bieten unb nur
jweierlei ÜBobnungen. „äofT ffeben ©ulben aufö Sttonat." ©ber: „tfoff'
fieben ©ulben fudjjig." Dene #au$f)erren, bie allw6d)entlid) ben £au$*
bef orger aU einen geffrengen SWabnboten l)erumfd)icfen „abfamen", ober bie
gar felber mit «ßauäfdppdjen unb in giljpantoffeln wie bad podjenbe ©e*
mifien an bie 2üren ibrer Parteien fdjlurfen unb l)öd)ftperf6nltd) einfaffieren,
bie oeraduete er grünbtid). 3u ihm mußte man fid) fd)on felber auf bie
©tube bemühen. (Sr braudjte feinen SXidjter unb feinen Anmalt; anerfannte
jebe* Unglücf — nur feinen Müßiggang.
Der bei ber ftrage nad) ber Äinberanjaf)! erfdjraf, aU \)htV er ein
b6fe$ ©ewiffen, ber befam, wenn eine frei war, eine ÜBof)nung um fieben
©ulben unb fünfjig Äreujer angewiefen, bie unperbditnidmdßig größer war,
af$ bie woblfeiiere. Der batte beren genug unb übergenug, unb baä junge
»oif wiU iKaum unb ?uft. Unb: „5ßer »iel Jfinber tyat, ber tjat fo genug
SÜKbeutfae aWonat^cfte. 11,4, 19
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278
3afob t)a©ib: Sin wunberttcher ^eiliger.
auf ihm unb man foß ihm net no mehr julegen. ©onft mirb'« ihm leicht
)it »tri." <5r mochte Äinber. „(Sie machen £ärm, aber meiftenteil« boch
einen luftigen Urm." Jßunbe aber litt er burchau« nicht, obwohl er felber,
mot)! al« 3eid)en feiner erhöhten ÜBürbe ben Detern gegenüber, einen recht
abfcheulidjen ©taUpintfcher !)ielt. Die machen einen graulichen Samt unb
»erfchrecfen leicht ein tftnb ober gar ein ©eib, ma« eben in einem fchrecf*
haften 3wftanb tft.
Daß man feine ©chmachheiten fannte, mußte er. Denn er mar fehr
flug. Daß man fie nu&te, fränfte ihn weiter nicht. Der'« banach hatte,
ber mußte trcht an (ich rupfen (äffen, bamit er nicht in ben 9tuf eine?
5unpe(* fame, ber'« ohne meitere« (^ergibt. @ine slCur;en mar er barum
boch nicht unb ihn bafur ju halten, magte niemanb. $ur ihn unb fein
Qrnfelfinb aber blieb immerhin genug unb überreichlich genug.
<?ine jafjlreiche ftamilie mar il)m im $ob »orangegangen. ©eine £rau
mar langft geftorben unb er \)attc fleh nicht mehr entfchließen f6nnen, noch*
matt gu iftirattn. <5r mar boch fo »tel außer £aufe gemefen, al« er fein
Oemerbe trieb. Sine 2llte mod)t' er nicht unb eine längere fonnte ba leicht
auf fchlechte Streiche fommen, ohne baß fie auch nur fchlecht mar. SKan
meiß ja, mie Äutfcher ffnb! 2tteijt mic ba« liebe SBietj, mit bem fte ju tun
haben. 3fUe feine Äinber maren ihm, bi« auf eine«, in jungen Sahren ge*
nommen morben. Der Heinrich mar nun auch f<hon tot. ©eit mann?
„Jßalt, lang ift1«. D6« 9??aberl mar noch fo flan", pfnaufte ber TLtit unfc
hielt feine Jßanb unglaubhaft nieber jum ^ußboben. „J^alt — fo lang ijV«."
Diefer, fein le$ter ©ohn nun tjatit bem SBater fchmere« «£er$eletb
gebracht unb erfahren, mie ftreng ber Qrtjrbegriff be« Tflten mar.
dr mar ein §ub\d)tr ©urfche gemefen. Tlnfchetnenb »oU ©efunbhett
unb Äraft, mdhrenb ihm boch ba« Übel, »on ber STOutter tyr ererbt in ber
©ruft faß. Smmer mar er guter ?aune unb »oU 3Bi$ — . ©aß er auf
feinem tfutfchbotf, bann far> er mit flugen unb »erfchmifcten Äugen in bie
9Belt. „hellauf, »oU £amur unb luftig mar er halt" unb am ®elbe fehlte
e« ihm benn auch niemals, nicht an (Gelegenheit, mo immer er feine 9t6ß(ein
einteilte unb, naturlich ohne an fleh felber $u »ergeffen, futterte, gute -Be*
fanntfehaft unb „feine «£e$'M ju machen. Dagegen hatte ber 3(lte, ber
fonft bie 3nge( be« J£»au«regiment« fo firamm hielt, mie erma nur noch feine
Vri Keile, auch bann nicht«, menn cd ihm $u Ohren fam unb in« ®elb ging.
Denn er mar boch felber einmal jung gemefen unb er mußte, e« gibt groeierlei
üBeiberleut auf ber 3Belt. ©eiche, bie meUen fleh weiter nicht«, a(« baß
man mit ihnen feinen ©paß hat« »erbienen e« bann auch nicht beffer,
unb baß man feinen ©paß manchmal ziemlich teuer bejahen muß, barüber
gab'« nicht« $u reben, bie« mar ihm, unb mohl auch au« eigener Erfahrung,
burchau« nicht« Sflcue«. Daß e« aber mieber melche gibt, bie ju gut für
bie .£e$' ffnb, bie mehr \)tiid)tn unb ©effere« ffch »erlangen burfen, bie«
ftanb ihm, ber in einer fehr glueflichen Ort)* gelebt, gleichfall« unverbrüchlich
unb hrÜtg fejt.
Unb alfo mar ihm benn ber Sag gefommen, ber ihm bie (Sinflcht brachte,
fein (Jinjiger fei unb tue fchlecht nach feinen, be« 3flten Gegriffen, ber ihn
$u>ang, im eigenen J£>aufe unb mit aller ©trenge be« SKicfjteramte« |u malten.
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3<»fob 3ulüi* ttooib: Ein rouncerltcber ^eiliger.
279
E* mar ba ritt gang junge* Sttabchen. TNe Altern waren ihm beibe
gefiorben unb e* franb odllig allein auf ber $BeIt unb hatte bennoeb inmitten
brr gleichmäßigen unb freublofen Arbeit, bie ihm ba* Wbni frtflete unb
»erjehrte, auch eine ftarfe Sehnfucht nach bem ©lücf unb ber ©onne.
E* mar nicht bübfeh, noch minber freilich häßlich« ©ehr ernft mar
r*. 3ber ba* 2fnfchmiegenbe, ba* $?ieben*roürbige unb i'iebe Serlangenbe
gut gehaltener, einjiger Minber mar ihm »erblieben, bie ffcb'* rrofc affer
fchlimmen Erfahrungen nicht au*$ubenfen vermögen, man f6nnt' e* etma
ober in einer ÜBeife mit ihnen nicht ehrlich meinen.
2D?it ber nun hatte ber Heinrich angebanbelt. 3n (Gelegenheit fehlte
ee bem J$au*herrnfohn nicht unb fich ihr jeiejen, tonnt1 er leicht. Sie ju
geroinnen, roar ihm bei ihrer ungehüteten SSerlaffenheit nicht fdjroer gemorben.
Sie mar ja fo glucflich, baß (ie mieber men hatte, bem fie ganj jugetan
fein burfte. Unb fo betrachtete fic jid) erft al* feine «Öraut, balb al* fein
ÜBcib unb begehrte fleh nicht* von ihm, bem fie freubig fleh unb alle* gab.
Er bad)tt nicht meiter in ber glüeflichen ©ebanfenlofjgfeit be* ÜBiener* unb
br* oerroohnren Sttenfcben, ber alle* gerne bem 3ufaU anbeimftellt.
Er mar geroohnt, abjufcbütteln, roa* ihm unbequem marb ober auch
nur ju lange bauerte. #ter fühlte er (Ich jundchft burch £ieben*roürbtgfeit
unb rechte ©üte fefter oerbunben, al* fonfl feine @eroohnr>eit mar; unb bann
fam gar bie 3eit, ba ba* STOAbchen fechte an ihn hatte unb fd)U<hrern
geltenb ju machen fuchte, ba e*, erft ungläubig unb fpäter entfefct über feine
£er$l ofigf eit, mahnen, bitten, betteln mußte, er mocht' e* unb ba* Ungeborene
boch nicht »on ffd) flogen.
Er mich au*. Er oerfuchte Spaße, über bie fie (Ich, ihn nicht ju
»erftimmen, ju lachen jroang, bie ffe aber unenblich frÄnften. Er machte
^laufen unb 9leben*arten, bie ju nidu* oerpflichteten. Unb enbfid) — ja,
wo fie benn hin benfe? Er f6nne fie boch gar nicht heiraten. Ein 5> »riebe
roie er, ber bie glanjenbfle Partie ju jeber 3eit fdnbe! 2>a* mar' gar gut
unb au* ber 5Beif mar' ba*! ftür fo einen Wappen follte fie ihn boch lieber
nicht ha^en. Unb menn er fchon fo albern roare, fo hätte fein SSater boch
auch ein ganj ein gewaltige* 5ßort barein ju reben. £er mürbe ba* niemal*
gejtatten, baß fleh fein (Sinniger fo roegroürfe. Dciemal*!
„SÖegroürfc?" Sie juefte jufammen.
Er entfchulbigte fleh. „9*a halt, je&t htft raunjet." Kber ba* fei
nicht fo gemeint. Er f6nne nur nicht. Unb fie mocht' fleh'* nur ja nicht
beifallen laffen, etma jum 2(ltcn ju gehen. „Er ifl fo oiel gad) unb fo oiel
grob ijt er unb hat balb ein' ^eitfehenfteefen bei ber .ftanb." £a* f6nnf einen
Empfang geben, ben er ir)r, unb einen Serbruß, ben er ffd) nicht rounfetje.
Unb ffe roolle ihm boch nidit ohne 3mecf fchaben? Unb überhaupt, folange
f!e fleh ftiü hielte, fo fönnte er für ffe unb ba* Äinb ganj gut forgen.
Jßemach, menn ber 3flte einmal oon ber Sache meiß, hernach nicht. 2>ann
fommt'* ju ®erid)t unb ba* fei für ba* fchroÄcbere Seil niemal* gut.
„Äein Pfaffen haben mir net gebraucht; merben mir boch fein dichter a
net brauchen."
De mehr er ihr aber ben Sater al* ©ebreefni* binftellte, befto eifriger
erroog fie in ihrer Seele ben ©ebanfen, fich unb all ihre 9?ot bem ^»au*berrn
19*
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280
3«fob 3uK"$ Saoib: Sin rounberlidjer .^eiliger.
ju offenbaren. 5Bad ffc oon ihm raupte, baä Heß ihn roobj rounberlid), aber
turduine» geredit erfchetnen. 3« »erlieren h/atte ffc bod) nid)t$ meljr. X>ie
3eit war nal)e, ba ffe nid)t$ mel)r erroerben fonnte; unb »om Heinrich, roie
fie it>n nun erfannte, aud) nur tüten J&eller gu nehmen, roiberftrebte ihr
in ganzem $erjen. Unb fie füllte überbteö, rote bie tiefe Ärdnfung unb
<£nttdufd)ung an itjrent i'eben fraß, rote bad in bad überfloß, bad in iljr
feimte, mit ben Ordnen »erjtromte, bte (le fo bitterlid) unb ungetr6fcet
»einte. @ie tjatt' e* nun einmal öerfptelt, ganj ofme itjre ©djulb. Denn
heiratete ffe ber Jpeinrid) fdjon, road fonnte au* einer alfo erzwungenen
<5t)e für ein ©lütf roerben? Dem Äinbe aber, ba* ffe fdjaubernb unb
bod) »oll l)er$lidjer Siebe roerben füllte, bem roar fte eine beffere 3ufunft
fdjulbig.
<&it »artete, btä ber ßeinrtch eine 5ageöfut)r mad)te. 2lldbann jog
fie ftd) an, fo gut ffe'e* fonnte in ben Umfidnben, in benen ffe roar. d$
rourbe ihr bennod) bdnglid), ba fie oor bem Klttn ftanb, ber eö fo gar nicht
eilig harte, ffe anzuhören. Daö roar beinahe frdnfenb; aber man mußte
bad fd)on hinnehmen, dx ging eben feine Stdlle ab, ob benn aud) einem
jeben SRoß fein SRedjt gefdjeh. en fei. dt roar babet red)t unroirfd) ; aber eben
baraud erwud)* it)r ein Vertrauen. Der ffd) ber $iere fo annahm, ber fo
über jebe* SSerfdumnid roetterte, ber roürbe ir>r bod) feine Unbiu* jufügen
lallen. (Jnblid) roar er fertig, tfurjatmig ftaöfte er ib,r oorau* in feine
fetjr fatale 2Öot)nung, in ber nur ein mdd)tiger Jtaffenfdjranf nad) etwa*
au$faf), fe$te ffd) breit nieber unb muflerte ffe mit merfrourbtg unruhigen,
fdjroeifenben, roafferblauen unb bennod) fd)arfen 3lugen. (St roar roirflid)
jum ^ürdjten. Unb bann: „3(ldbann — roaä roollen @'? 2lldbann —
reben ©\ 2fber mit (5ine\ 3d) frag1 net gern. SBerftengen — unb
fo, baß man $ »erjtet)t. Unb furj ..."
©ie fd)Uttete ihr «£erj aud. Smmer unb immer roieber fam fie, ganj
ohne ihr töollett, auf* ,£tnb unb baß ffe nur beöroegen unb bamit baö nicht
elenb jugrunbe ginge, roenn ffe einmal ntd)t fei, ffd) ju biefem ©ang ent<
fdjloffen Ijabe. 2Benn er ungebulbig roarb, fo trommelte er fo tjart auf
bie $ifd)»latte, baß ffe erfdjraf, ober tat einen jdt)en 3«ngenfd)naljer, wie
man *Pferbe antreibt. Ghtblid) roar fte fertig unb flrtd) ffd) über bie Äugen.
Der J^einrid) m6ge fagen, road er roolle — fte f6nne nun burdjau* nid)t
glauben, baß er fo tjart fei.
H2Üöbann — bod glauben net?"
„9?a, £err £tto. D6$ glaub' i net."
f,3ßann'd aber mein ©utjn fagt?" Da$ fam gattj ingrimmig. „'$ tft
gut." @r erb,ob ffd) fd)roerfdllig unb bot ih.r bie furje, biefe #anb. Sttidjt
jum 3lbfd)ieb — jum $uß. Qrin freubiger 6d)rerfen fiel fte fo r>eftig an, baf
ffe t)eüauf meinte. Denn fte oerftanb — fo roar er'* offenbar »on feinen
eigenen Äittbern t)er gero6t)nt.
3u Bbenb fam ber J^einrid) h,eim. Der 3lte erwartete ihn in ber
©attelfammer, roo er eigentlid) am liebften roar. Da h»«g *>ad ®efd)irr
aller Ärten unb ed rod) gut nad) bem gerben Sebergerudr); ba jtanben in
fd)6nen unb flattlid)en ?Reit)en ^eitfdjen, wie immer man fie $u jebem 3»ecf
braudjt. 3llled blt^blanf unb nad) ber Drbnung. 2»an redjnete, wie fonfl
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3afob 3ulüi* Steoib: gm wunberlid>r ^eiliger.
281
immer, unb ber Site flrtch ben betrag ein, ber »erbient worben war. Dann:
„Du, Jßeinrid)! Dein SKabel mar ba."
£r »erfarbte fld) unb braufte auf im 3orn eine«, ber im Unredjt ifh
„$at (ic ftd)'« getraut? 3d) rjab'd ifjr »erboten."
„Unb warum Ijajt il)r'« benn »erboten, fjan?"
„©eil id) net witt, baß ftd) ber £err Gatter um rein gar nir giften
tut. 9?a — id) werb' iljr'« fd)on jeigen."
Der KUe t)ob ben 3*tg*finger unb (lief iljn »or bie ©ruft. „9?ir
wird ü)r jeigen. Unb ba blcibft — f)6rft?"
„Daß id)'« net heiraten fann, wirb ber $crr Gatter bod) felber einfet)'n. . ."
„©elei," »erwunberte fld) ber 2llte. „3Bo fannjt benn? 3e$t gar,
wo »or lauter Äranfung aber fdjon gar nir an ir>r ift unb wo fte fdwn
gar nir me!)r net f)at. Da« SMffel, wa« ffe gehabt Ijat, ba barum t)aft bu f
bod) brad)t. Da get)t'« nimmer. #an, ober ep»er net, £einrid)?"
,,3d) will ja ba« SWabel net im 6tid) laffen unb für« jtinb jaulen.
2tfo bin id) wieber net."
„3« fd)on »on bir, baß bu wieber net afo bift," t>6r>nte ber 2flte.
„2ll«bann — für« Äinb, für bein eigen #inb, für ba« alleinig ffe ftd) t)arbt
unb betteln gefommen ift, für ba« willft jabjen — unb bie SRutter berf »er?
reefen. 60 r>afr bir1« auöbenft — gelt, Jßcinricfjerl?"
„Da — aber wo id)1« bod) net t)eiratcn fann?"
„ffiarum fagft benn net lieber: net tjeiraten berf? 3d) erlaub'« bod)
net? ©ber trauft bi bo net, bö« »or meiner ju fagen?"
@r jutfte jufammen. Der Site aber fut)r fort:
„Daß bu ein «uftifu« bift, b6« weiß id) fdjon lang. (Sin wie ein
fd)led)ter £erl bu aber bift, b6* weiß id> bod) erft feit feurigem Sag."
„Der £err »ater foU net fo reben. SBiefo?"
„2fl«bann — bu miHft b6« SÄabel net heiraten. 3(1 am Grub' beine ©ad) unb
bein ©djaben. Wir gefallet ffe fo weit ganj gut. 2fber baß bu bid) mit beine
Sftiebertradjttgfctten hinter bein alten Sattern ftecfjt, baß ber für beine ©türfefn
auffommen foU, baß id) ber uMctfuc ,ftcrl fein muß, ber net erlaubt, baß bu
ruft, wa« (Id) gehjdrt unb wa« ein jeber weiß, baß e« (id) gehört, ba« ift
fd)on gar *Pfui Teufel!" dr fpie nadjbrütflid) »or fld) t)tn. „9lur ein STOann
fein, tjalt fo wie'« ein jeber ©atfenbub triff, unb Ijernad) eine tfettfeigen
ba tat'« mir aber fd)on ganj get)6rig graufen »or fo einem SWann, wenn
id) ein SWabel wdr\" @r »erfd)naufte ein UBenige«.
„2ll«bann — bu wirft b6« STOaberl t)eiraten. Unb g'ijciratet wirb Ijalt,
wie ein ©fte betratet. Da« ift net afo, baß man (Id) mit it)r abfdjmiert,
f6 anfdjmiert unb t)ernad) fteljn faßt. a3erftci)ft, £cinrid)erl? 3(1 am <£nb'
nur eine ©traf für ben armen Starren. 5Ba« t)at f benn an bir? Unb
gut haben wirb fie'« am (Jnb' a net bei bir. 'Aber tun laß id) ihr nir,
fo lang id) leb'. D6« mirf bir, J^einrid) — aber fdjon fehr gut berfft bir'«
merfen."
„Unb wenn id) fag' — id) tu'« net?"
„9Bein(t?" Der 2Hte würbe rot, al« wollt' ir»n ber ©d)lag treffen.
„9)?einfl? 9?o al«bann »arffi f>aft beine <5ad)erln unb id) fjeirat' ba« SWabel,
bamit '« Äinb ein' SSattem rjat. £ab' id)'« »erbieten bürfen, fo berf id)'«
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I
282 Helene SRoff: SKarienfegen.
a befehlen. 3Ba* tu bift, b6* ift mir gleid). 21ber — mid) »on bir au*
jum fd)led)ten tferl magert (nffcn — bd* gibt1« nct — eroig net."
Die £eirat fanb ftatt. <£tnfad), aber bod) mit aller g6rmlid)feit, bie
einem ^atrtjierfotjn, bem Srben eine* foldjen Vermögend unb eines ©efdjafte*,
Ca-: fo viele in Wahrung fe$t, mtfeht. (£* gab einiget Tluffeben in Jßernal*
unb Ottafring über ba* große ®lücf, roelche* ba ein arme* SRdbdjen mad>e.
3fber man ginnt' e* ihr.
Der alte Dtto roar hernach nod) roortfarger, benn früher. ®ut rourbe
bie <£[)e be* #einrich nidjt, roie er'* t>orau*gefel)en. 21ber, er l)ielt fein ÜBort
unb fchüfcte bie ©d)»iegertod)ter, roie er'* iljr »erfyeißen fjatte, bie furje 3eit
bie it)r nod) »ergennt roar, nach .Kräften »er ihrem ©alten.
fceibe flarben Übrigend balb fjintereinanber unb Unterliegen ba* einjige
Äinb, bie <£rbin be* ganjen, großen unb taglid) au* (td) felber anwarfen*
ben Vermögen*, mit ber er nun fo babinlebte. Grr Ijatte (Td) in ben 9tul)c*
Itanb oerfe$t, ben er nun nad) feiner 3rt genoß, fam ju feljr l)ot)en 3at)ren
unb blieb burchau* unjufrieben mit ber @ntroicflung ber Dinge, bie e* ben
armen beuten immer fd)roerer madjten, f!d) auf bem heimatlichen ©runb ju be
Raupten. $Ba* mit feiner Grnfelin roarb, roeiß ich nicht. 3ie roar gefunb
unb blieb e* unb roirb roohl einen SWann gefunben haben.
21ud) ber alte Dtte ift nun fd)on Idngft tot. Da er begraben roarb,
gaben itjm alle feine Parteien, benen er in feinem Ickten 2Billen eine 3af)re**
miete erlief, freiwillig ba* ®eleit. Da* roar fd)on ein anfel)nlid)er 3ufl/
ber natürlich nod) ganj gewaltig anfdjrooll, fo baß $aufenbe hinter feinem
©arge fdjritten, nidjt anber*, al* begrübe man einen ®roßen. Die £aufer
bie i\)m gehört, ftnb umgebaut unb mobeme 3in*fafernen geworben, roa^n-
finnig bie Xrd)iteftur unb bie Steten unb ot)ne jebe SXücfftcht auf Meine*
SBolf unb feine ©ebürfniffe. 3d) aber fonnte be* rounberlithen ^eiligen alle
bie Saljre f)er nidjt oergejfen, ber mid) fd)on bamal* anmutete roie ein Über*
reft »ergangener, gefünberer Sage.
m 'tijfjn rani r^T ri» tju rji> ran zm. c^jm. caacaacaa laj*. fiifii 'aifiifi •■fiflifil t ^
fltatienfegen*
Sine Ctebfrauenlegenbe oon Helene 9taff in SRündjen.
Sin SWagblein roar in alter 3«t,
Die fjatte frül) (fd) ®ott geroeil)t,
£* floß it>r ol)ne SBunfd) unb trauern
Die 3ugenb hinter Äloflermauern.
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Helene SRaff : SWarienfegen.
283
Dft ftanb fle fdjon oor Sag unb Sau
Dort am 2fltare unfrer $rau,
Unb fjatte fromm iljr fcilb gefdjmutft
«Kit ©lumen, bie fie felbfl gepflutft.
3l)r fd)ten auf Arbeit nidjtä fo traut
2üd roa* fle taglid) fyier erfd)aut,
Die «OimmelSjungfrau holt unb linb,
3m futterarm ihr göttlich fönb.
Unb bienen folcrjer Ä6nigin,
Dad war iljr l>errltd)ftcr ©eroinn.
Da warb mit ferneren Äriegeäplagen
SKingdum baä arme ?anb gefdjlagen —
De* fteinbeä £eer mit gier'ger £anb
ftiel ein unb bxa<t)t< SWorb unb ©ranb;
Unb nat)er fam ed leben Sag
Dem ©tabtletn, brin bad Älojter lag,
@tn Stabenflug »oran ald SÖote
3m Surfen unbegrabne Sote. —
Die ©crjweflern hoben bang bie Jßanbe
3u ®ott, ba§ er ba$ Unheil roenbe,
Dod) neigt' er ntdjt bem $(et>n fein ßfjr —
Die fteinbe ftanben fdjon am Sor
Unb n>tlb erfiangen fcruef unb 2BaU
2*on Äampfgetife, ©d)rei unb $att.
Die ©Ärger fdjlugen mannhaft brein
Da J)ob (Td) roter fteuerfdjein,
Denn einer auä bem ^einbeötroß,
Der fatt1 ein feurig ffiurfgefcrjofl
®efd)leubert in bed ©tdbtleind (Jnge.
3um Gimmel fprufyt ber ^unfen Sttenge
SÖon Darf) $u Dadj, »on 2ßanb ju ÜBanb
2luf$ ßlofter f>in roaljt jtd) ber ©ranb;
UBie fdjeint bie ©lut fo graujTg t)ett. —
Dad $euergl6cflein bimmelt grell;
£ier brau'n bie flammen, bort baä £eer. —
3n foldjem Drang erlafjmt bie Sßeljr;
Unb balb oerfunbet ©iegeäfdjrein :
Die grimmen fteinbe bringen ein!
3m fiillen #auä ber .£immeld&räute
®ing'd nie fo frieblod l)er roie tyeute;
Die ©djroeftern alle, (Td) $u retten,
flhttflotyn oon ben geweiften ©tdtten,
Unb feine »on ber bangen ©d)ar
»erftdrter alt bie 3ung(te war.
@ie flog baljin in »ollem Sauf
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284
ilnb faf) »or TTngfl nidjt um nod) auf;
2Bie f[e M ©tabttein$ «Bann entronnen,
2Bie fte ben <J>fab in* ftelb gewonnen —
©ie wüßt' e* nid)t, bebor fic (lanb
'Auf ungepflegtem Xcferlanb,
Unb in ber fterne fd>wanb ber ©reu'l:
Die geuer$not, ba* 2ßel)gel)eul.
Äein SKenfd) tyr na!) in nadjt'ger üBeite —
Der ©terne ?id)t mar it)r ©eleite,
Unb wie ftc taftenb fürbaß ging,
J^emmt ifyren $uß ein leblod Ding. —
C wef)': ein blutbeflecfter 2eib,
Um SKain liegt ein erfdjlagne* ffieib,
S3om graufen £ieb bie ©tirn jerfpalten.
Dodj il)re jtarren 3rme galten
3m Sob nod) frampfig unbewußt
@in »immernb Ändblein an ber ©ruft.
Die fromme STOaib blieb jammernb fteljn, —
„£ilf ®ott! unb läßt bu bad gefdjetjn? — "
©ie fniet bei ber @ntfeelten nieber —
Äein £erjfd)lag meljr — unb falt bie ©lieber! —
,,©o »erbe bir ba* em'ge «£eil!
2ßa* aber »irb be$ tfinbleinä Seil?
«aß td) ed l)ier? — C wal)rlid) nein:
<&i foß mit mir gerettet fein!" —
©ie tjtbt e* forglid) auf Dom ©runb,
(Srwarmt e$, fußt e* auf ben SWunb
Unb beert'* mit iljrem £>rben*fleib.
Dann weiter ftrebt bie junge STOaib,
SSor ben erbarmungälofen ©djergen
©td) unb ba$ Änablein wot)l ju bergen.
3n banger «£aft erreidjt fTe balb
Den tiefen, bunflen Sannenwalb. —
„Sftun, armed J?inb, finb wir geborgen —
Da« Dicfidjt fd)ü$t und bi* jum S&orgen." —
Die 5ttad)t war lang, bie 9iad)t war fut)l,
Sin ©tein war ber (Sntflotjnen ^>für>I,
Dod) fd)uf it>r ba* nod) minbre $ein
31* be$ »erlaßnen ©dugling* ©djretn.
3l)r Äofen ftiHt nid)t fein ©emimmer
Unb al* mit fad)tem SXofenfd) immer
Durd) 3wfige fd>trn ba$ Morgenrot,
ÜBarb jte gewahr erft it)rer 9?ot.
3t)r jeigt bad golben frütje £td)t,
3ßie bletd) bee* jftnbed 3tngejid)t,
2Bie 3ung' unb SKunbfein il)m »erborrt. —
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Helene SXaff : SKartenfegen.
285
„5Baä tu' id)? wanbr' id) wieber fort?
OTir beudjt, ber ÜBalb »dljrt »tele ©tunben,
Unb wenn ben 3(udroeg td) gefunben,
3Ber »riß, n>ol)in mir bann gelangen?!
Dod) jenen $fab, ben td) gegangen,
3urücf$ufef)ren, fuljrt gewiß
3um $ob, bem ©ott und faum entriß.
9?td)t bed)! 2Tud) hier folgt und ber Job,
ÜÖeil td) ja ntd)t ein jhritmdjen SBrot,
Äein $r6pflein STOüd) nod) «EBaffcr habe,
Dem halb oer(ed)$ten Äinb jur ?abe.
3d) felbjt fann lange fallen leiben,
Da* SBürmlein aber muß oerfd)eiben,
Ußenn il)m rticrjt balbig «Oilfe naJ)t. —
3fd) J^immef, gib mir Sroft unb 9tat!" —
©ie irrt uml)er — i!)r £erj, ba* flopft —
Unb eine helle Srane tropft
J^tn auf baö £inb, baÄ Haglid) freifdu,
STOit fjeifrem ©timmletn Nahrung heifcht. —
Tod) p(6$lid) bemmt bie Sföagb bie Schritte,
Denn gmifdjen jweier Mannen Wlittt
SRagt auf ber moof gen ÜÖalbeäau
Gin deinem SMlbnid unfrer grau.
(Sin niebrer ©otfel i(l tl>r $t)ron,
©ie f)dlt im 3rm ben ®otte*fot)n;
Unb »or il)r (letjt bie bange ÜÄaib
SWit il)rem ©ünblein (Srbenleib. —
25a wirft bie J£>Üfberaubte matt
©id) nieber an ber IjeiPgen <5tatt,
©ie ringt bie #anbe, fd)ier entfrdftet,
Unb fleljt, ben ©lief empor geheftet:
„Erhöre mid), um 3efu ohrijt,
Du, bie bu SÄagb unb 2J?utter bifl!
3d) fjab' an bid) mein junge* £eben,
Den ©djmutf ber ©rdute Eingegeben,
Dod) mel)' mir, foHt' idj brum attein
®anj unnu$ unb »eradjtet fein!
© »or eÄ gndbiglid) betrachten:
Die* arme £inb ift am 93erfd)tnad)ten,
Unb fannjt bu Ijeifdjen, reinjte grau,
Daß id) e* tat* unb madjtlod fdjau'?
3um erjtenmal fiel)1 id) (Entgelt
93on bir unb oon bem Gerrit ber 5Be(t;
@f)rft, J^errin, bu bein treu ©efinb,
©o gib mir SRaljrung für bie* £inb!"
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286
Helene SRaff : SOtorie nfegen.
<5ie fdjmieg; unb jtumm blieb aud) bad 33tlb,
9?ur f<f)tcn fein 2ad)eln rounbermilb.
<Sad)t find) ein ÜBinbtjaud) burd) ben Zarin,
Unb Itttb unb wunberfam burd)rann
Sin ©djauer fdjmerjlid) füßer 3Bonne
3Bie ©onnenfuß ben ?eib ber 9?onne.
3l)r i(l »erfdjrounben ifngjl unb J£arm,
ffiie ifl bie ©ruft irjr feucfjt unb »arm?!
(Bit reift ba$ lieber auf — unb f)ell
2fu* weißer Q3ru|t entfpringt ein Quell! —
3u träumen glaubt fte, bod) im 9?u
©reift fie mit beiben #dnben ju,
£ad tfinblein an bie ©ruft ju legen;
£ae> labt ffd) an ber Jungfrau ©egen
Unb ftredt bequem bie fleinen ©lieber —
Den üB&nglein febrr bie ^arbe mteber;
Unb an ber Sttonne 3>ruft gefdjmtegt,
(Sntfdjlaft e$ fuß, »on if>r gewiegt —
(itf mar ber SWaib nad? all bem ©ram
Da* #erj fo üoU »on ©lütf unb ©djam —
©ie fprad), unb tief auf* Äinbletn fanf
3t)r £aupt: „STOaria, t)abe Danf!" —
Unb balb mied ihr ber Jungfrau ©nabe
'«Äuö SBalbeögraun bie redeten »pfabe
Unb führte heil bie beiben htn
3u ftcfyrem Ort, wo frommer £inn
£ie SWagb, ber foldjeä $eil befdjert,
Üflitfamt bem Äinbe gaftlid) eljrt. —
9?un weiß id) rootjl: Sud) bünft bie Ü&dr
Sin ÜBunber unb ju glauben fdjmer;
Dod) wenn id) redjt berichtet bin,
©o bar bad SBunber em'gen ©inn.
(Sin 3Beib an ^rauengute reid)
Dft attjeit Butter aud) jugletd)
Unb frembcö Reiben nimmt fie linb
£n$ Jßerj, alö mar1* ihr eigen Äinb.
Drum roar'ö ben lieben Jrau'n julteb,
X)aß ia) bie* Sttarlein meberfdjrieb.
3taltemfd)c Ueifcn.
93on £an* $|)pma in Äarldrupc.
Über meine ttattentfd^en Steifen frfjretbe id) be*t)alb, »eil »or gar
ttid>f langer 3*1* ein #err Äritifer au* ©erlin mief) feb,r gelobt fyat; er Ijat
gewußt, baß id) einft im ©djwarjwalb Ubrenfd)ilber gemalt babe, baß td)
bann nad) granffurt gejogen bin unb bort ©über gemalt tjabe, bie gerabe
ibrer Sttaioitdt wegen ©ead)tung oerbienten; e* fei jroar gar feine Sedjnif
barin, aber bod) bringen fie eine gewiffc ©irfung rjeroor — um fo erjlaun*
lidier fei ba*, »eil td) ntdjt »ie anbere Sttaler, er nannte fogar ©6cflin
unb Älinger, in bie SBelt gereift fei, benn bie bitten 9>ari* unb 9tom
fennen gelernt, aber bei mir fei gerabe biefe Unerfabrenljett, biefe Sttaioitdt
von einigem Stetj. (£r fprad) oon mir »ie »enn er mid) et»a in ©erlitt
al* ein malenbe* $Bunberfinb einfuhren »ollte.
£e> bat mid) lange nicht* fo gefurt »ie ber 2(u*fprud), baß id) noch
nirgenb* ge»efen fei; »ie anbere Stöenfdjen aud), bin id) gerabe auf meine
Steifen ftolj — »ar id) bod) in <Pari*, fünfmal in Italien, »ar in Bonbon
unb in J^oÜanb; ba fommt fo einer unb fagt id) fei nod) nirgenb* gewefen.
tiefer Äritifer i\t fdjulb, baß id) je$t, unb j»ar feljr um|tanbltd), »on
meinen italienifd)en Weifen erjable. 3m Sifer bie* ju tun, Ijabe id) fogar
ba* ©oetbefd)c 3prüd)lein vergeben, »ie id) e* fo jiemlid) gewohnt bin, ben
Tlrtifeln, bie id) fdjreibe, »orjufefcen unb gerabe bei ber italienifd)en SKeife
hätte ein fold)e* ffd) red)t gut gemadjt.
3d) »ar alfo wirflid) in Italien unb b.abe bort ba* $Öort au*ge*
fprodjen »Anche io sono pittore!" 3d) fjabe bort aud) red)t »iele* geffben
unb erlebt.
@in fchwarjwalber Spridjwort fagt: „SRan fann lang ne Äut) jum
Stabttor nein füfyre, ftc fommt bod) al* Äub, beim anbern »ieber nau*." —
£a* jeigt »iel SRefpeft »or ber 8tabt unb »ia wol)l fagen, e* gehört fdjon
wa* baju, ein <Stabter ju »erben; e* ijt m6glid), baß mir ba* Talent, ein
Stabter ju »erben, abgegangen tft — bod) ba* fei nun wie e* »olle —
id) war fünfmal in Italien, einmal in ^ari*, einmal in Bonbon unb einmal
in .ftollanb, jubem fam id) aud) burd) gar oiele beutfd)e unb fchweijer Stätte.
3m 3anuar 1874 faufte id) mir ein ©ud) junt ©e(bfiunterrid)t in ber
italienifchen Sprache unb im Februar fd)on fuhr id) mit meinen Äenntniffen
burd) ben SRont (§eni* nad) Surin — bort ging id) nad)t* beim 3-tabttcr
hinein unb be* anbern morgen* beim gleichen Zov wieber hinauf auf ben
©ahnhof; id) unb meine jwei ©egletter fanben ba* ÜBtrt*l)au*, in ba*
wir auf Anraten eine* üÄitreifenben gegangen waren, gar fd)ied)t — e*
war aud) falt unb winterlid) unb backten wir, baß e* in ®enua bod) »tri
italienifdjer fei — alfo fo fd)nell wie möglid) bab,in. Äuf ben ©ergen,
über bie mir fubren, lag aud) biefer @d)nee, aber ale wir nad) Oenua
hinunter famen, war milbe ?uft — benn ®enua ifl eine große ©eeflabt
unb liegt am mittellanbifdjen tWeer. Da bab id) bie Äugen aufgemacht,
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288 £att* Sboma: Stalientfd)« Steifen.
.
ich far; bie bunfeln 3»preffen in bie filberglänjenbe ?uft ragen, bie milb*
grünen Dlioen, bie mir fo lieb geworben fmb, bie ©tabt mit tljren «Paläjten
unb ba* reiche Sehen am Jßafen — ja, jefct war id) in Statten. — ©eltfam,
e* war mir gar nicht fremb, e* war in mir ein ®efül)l, ba* mir fagte: ba
geb6rft bu t)tn! — X)u Ijajl bie* ?anb entbecft, bu tjaft fomit ein ?Kcd>r
barauf. — 3? länger id) in Stalten war unb je weiter id) in ba* ?anb
hinein fem, beflo lebhafter würbe bie* Q3e|«$ergefül)l; id) weiß aber, baß r*
anbern £eurfd)en aud) fo get)t unb fd)ließe e* au* bem trofcig pafcigen
Auftreten, welche* »iele in Italien annehmen; r>at e* ja bod) fdwn £ürer
gehabt, ber ba fagte: Jßter bin id) ein Gentilhomo!
3umal in !Rom fam id) mit beutfd)en Äünjtlern jufammen, bie fid»
al* „J&errennaturen" gebarbeten, ba* (Id) jumeift barin äußerte, baß jle über
italienifd)e 3uftänbe fdjimpften — auf bie fcettler, bie bod) gerabe fo »iel
baju beigetragen, baß bie* Herren gefutjl für ein paar Eingegebene ©olbi
immer wieber genährt wirb. — Kbet warum fottte man fid) aud) nid)t fühlen
in feiner (loljen Äraft beim r6mifchen 3Bein! Sn SXom fanb id) bracht*
eremplare beutfdjer Äünjtler, teilweife mit ©tipenbien au*gerüftet. SDtit
einem fo(d)en befud)te id) aud) bie ©alerien; er ging (tumm unb wie ich
fat) gelangweilt an ben fcbdnjten "Perlen ber äunft borbei, nur lebte er auf,
wenn etwa ein ßaraoaggio fam: „Jßerrgottbonnermetter, ift ba ne £raft!"
Sn einer abenblid)en 3ßetnfneipe würbe heftig barauf rjingewiefen,
baß e* mit ber mobernen Äunft nid?t gut fommen fönnc bi* bie alte Äunft
befeitigt fei unb man fam überein, baß e* gut wäre, ben SSatifan unb alle
anberen ©ammlungen ju oerbrennen — ben Sag barauf eilte id) bie
(Sammlungen nod) $u fel)en, ba id) nun bod) einmal in Statten war.
64 war aber wtrflid) bod) nid)t fo fd)limm gemeint, id) begegnete
einem ber tfunftbrenner am anberen aBorgen im @afe, er fal) gar nid)t
l)elbenl)aft au* unb fagte: „tfafcenjammer!"
Sa, ber beutfd)e Äünftler füljlt ffd) eben in Statten unb m6ge fleh
bie* ©efüfjl aud) oft wunberlid) äußern, man »erfterjt e* — e* geljt eine
3(rt oon Steoolution »or, eine üxt »on (£ntbecferfreube, eine {Weite SERenfd)*
Werbung, ber eine (teilt ffd) fo baju, ber anbere anber*, ba* ifi halt
„inbwibueU". — ©o war j. 5>. id) in ftlorenj in bem UBahn befangen, al*
ob id) erft ben ©otticelli entbeeft fjätte, al* ob er ferner nod) gar nid)t
gefdjäfct worben wäre. — freilich mag baju beigetragen haben, baß im
Saljr 1874 alle ©otticeOi nod) red)t fd)led)t gelängt waren, in teilweife
bunflen SBtnfeln — id) würbe beinahe frafeelig unb »erachtete bie, weld)e
biefe £errlid)feiten nicht anerfennen wollten. — Serjeiljung! ich war bamal*
nod) jung! ÜRan hätte mid) aud) einen „Äunftbrenner" nennen f6nnen,
mit bem Unterfd)ieb, baß e* bei mir im #erjen gebrannt Ijat unb baß e*
nad) unb nad) wie ein Danfgefüljl über mid) fam, baß id) all ba* fri>rn
burfte. — Sd) würbe aud) banfbar gegen ba* Söolf, ba* r)ier wohnte, unb
fo l)abe id) nur gute Erinnerungen an freunbliche h6flid)e SRenfdjen mit
mir genommen; bie fleinen Giften, mit benen ber $rembltng oft ju fämpfen
l)at unb bie Diele ju $aß bewegen, l)aben mid) immer be luftig t — unb
wenn fo ein J?utfd)er ober bergleid)en, mit benen man ju tun bat, merft, baß
man lad)t \u feiner fleinen ?ift, fo oerfteht er bie* gar wohl unb man richtet
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£>and Spoma : ^tauenifche Steifen.
289
mehr bamtt aud, alö meint man ihn in gebrochenem Dtalienifd) anbonnert.
£d tarn mir oft vor, ald ob fte biefe Übervorteilungen wie ein ©piel be*
trachteten, in bem ber Erfahrenere gewinnt; — j. wollte tcf> einmal nach
bem Sateran unb hatte ben ©tabtplan in ber Jpanb, ben $Beg gu fudjen;
ein Drofchfer rief mir ju unb id) backte, nun, bad ift fixerer unb frage
Quanta costa per Laterano? Dieci lire! mit einem »erfd)mi$t ladjenben
©eficfjt — id) lache auch unb get)e weiter, er rief mir bretn: Otto lire,
sei lire, cinque lire, tre due lire, una lira; ba (lieg id) ein unb nad) ein
paar hunbert Schritten waren wir fdjon beim Lateran. Ter ©pifcbub
lachte unb id) lachte mit. 3ebenfaÜd hatte itjn bie Äomif, baß id) mit meinem
9>lane ben Lateran nid)t fanb, fo nat)e wir auch *>a&*i waren, gereijt, fo
baß er übermütig jefjn ?tre forberte.
Dod) ich wu§ wieber nad) ©enua jurücf, benn id) bin erft bort —
nach brei Sagen fd)on reiften wir wieber ab — unb jwar aud einer Art
von Angft, baß ba» 2Birtdr/aud, in bad wir geraten waren, ein wahrer
«Palajjo, biedmal für und, b. b- unfern ®elbbeutel ju gut fei. 3Bir festen
aud) in Marina an unb befudjten Gorregio, tagd barauf waren wir aber
fchon in «Bologna — bort wollten wir einige Sage bleiben, aber bad
<5d)tcffal trieb und aud) hier wieber fort — einer ber «Begleiter übertrat
(ich ben &uß, ber bed anbern borgend ftarf angefchwollen war; ber ©arbier,
bem wir ben gau* »orlegten, meinte, bad tonne ein recht langwieriged Seiben
werben — unb fo paeften wir wieber auf, fo gut ed ging unb futjren gleich
nach gfoftnj, wo wir ja bod) fo wie fo längeren Aufenthalt nehmen wollten
unb bie Teilung gebulbiger abwarten tonnten. — 3n ^forenj angefommen,
fprang aber ber Patient frifd) aud bem SBagen unb aUed war wieber gut.
3n «Bologna tonnte id) »or ber Abfahrt nur noch gefchwinb nad) ben Sürmen
laufen, unb ich fat), baß ffe (ehr fdnef waren.
3ßir wohnten in ber Casa Nardini unb öon bort aud lernten wir bie
J£errlid)feiten »on ftlorenj fennen, »on benen id) aber ja nicht ben 2krfud)
machen will, ffe $u befchreiben — ba gibt ed ja Bücher genug barüber.
Äußer bem italtenifdjen ©prad)bud> unb bem SBäbefer hatte id) mir
aud) noch ben »Cicerone* gefauft; — wenn id) alfo in bie Casa Nardini
gurüeffehrte, fo fd)lug id) ben Cicerone auf unb wußte nun gleich «Befdjeib,
wie man über bied unb jened ßunftwerf ju benfen, $u urteilen unb $u
fpredjen Ijabe. Aber eined Saged fam ich in 9Äeinungd»erfd)iebenrjeiten mit
bem Cicerone, unb ba habe id) mich über mich felber fo geärgert, baß id)
ben Cicerone ut unterft in ben Äoffer paefte, »on wo id) ir»n bann auf
ber ganzen italtenifchen Steife nicht mehr hervorzog; — id) begnügte mich
am „SBabefer". Ed ift freilich bequem, fo ein «Buch ut haben, wo alled
barin ftcht, wad man »on all ben fingen ut meinen hat — bad Urteil ift
ja auch fo richtig unb gebt »on Autoritäten aud, baß ed ganj abfurb ift,
wenn man eine anbere Meinung baben will. Aber id) wollte gern mit
eigenen „£uf)augen" burd) bie ©tabt geben unb bie Dinge nach meiner Art
anftaunen. (Sine tfur>, bie man burd) bie ©tabt füljrt, ftet>t »ielleicht, wer
weiß, mebr ald mancher SDtenfd) — aber bad (sprechen barüber Witt gelernt
fein — bedljalb bat man ben „Cicerone*; id) r>dtte it)n bod) nicht
fo ganj JU unterft legen follen.
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£ati* $boma : 3taliem'fcbe SKetfen.
Tim 16. 9J?drj 1874 fufyr id) nadi SXom, ich bebauerte febjr, an aU ben
fcbänen Statten Perugia, Bffifi »orüber $u eilen — Ijerrlidje Sanbfchaften
fat) td) im (Jifenbaljnflugc — Spoleto, wilbe* ©ebirge, (Sfel, «Maultiere ben
ftußweg hinauf — 3iegen jwifchen ben immergrünen «Süfd)en, ben bunfrln
Steineidjen, — Schafe unb Schweine, t>iitenbe Spinnerinnen, mit ber £anb*
fpinbel arbeitenb — langgel)6rnte «Rinbertjerben auf ben Siefen beä 3iber*
taleö. Stabtdjen unb alte Sürme auf bem ftelfen, bann golbene« Bbenb*
lid)t über bie großartige (5infamfett ber @ampagna. Um l]t1 Ut)r war ich
in SRom, wo mein ftreunb ?"9<> *" Empfang natym.
Son ba an lebte id) in einem fchönen ©echfel jwifdjen ben Äunjt«
Ijerrlichfeiten SRomÄ unb ben $rübling$berrlichfeiten ber @ampagna, e$ war
mir immer fo n>ot)l ba brausen in biefer fdjönen ?anbfd)aft, in biefer auf
ben Prummern einer reichen ftultur jur urfprüiiglidjen fflatur jurüefgeworbenen
©egenb mit iljrem gerben* unb ^irtenleben. — 2(Üe ©rabertrümmer ber
Via latina mit SMumen unb «Ranfen überfponnen; id) freute mid> an ben
pielen Bieren, bie ba$ ?anb beleben, an ben toll unbeholfenen fcoeffprüngen
ber Cammer, mit benen fie ihrer tfebenäfreube fo berebten Qfuöbrucf geben.
So ein $ierlein fpringt in bie ?uft aud reiner ftreube bariiber, baß eö nicht
an bie (Jrbe angewachfen ift, unb brfieft bamit ein Sd)6pfung$wunber au*,
ba« ibm erft Por furjem juteil geworben ifh
Daju brauchte man freilich nicht nach SRom ju gehen, um fo feine %eit
ju »ertröbeln ober gar noch um barüber ju fdjreiben — aber wa« fann
man bafur, wenn gerabe bort ein 3irflf»n uns in ben ©eg rennt, und mit
feinen 3ugen, hinter benen pießeicht auch fo eine "Xrt »on Seele wohnt, an*
glofct unb mit einem Sprunge feine« ganzen £6rper« fagt: Da bin i! ÜBenn
man ftd) ba auf eine im ©rafe liegenbe antife Säule fe$t, ba« ganje Altertum
unb feine ©efchichte pergißt unb lacht über ben fleinen Äomifer, fo ift halt
ba« auch ein 3u|lanb unb gerabe fein unglücflidjer.
2>e«l)alb l)abe ich boch alle« gefehen, ma« ein funftbefliffener «Rompilger
ferien muß unb Ijabe aud) recht Piel barüber, wenn id) mit Deutfd)en ju*
fammenfam, gefd)wa$t, erörtert unb geftritten; fo geriet id) in ber fch6nen
SBilla 9>amftli mit einem gelehrten Doftor in ein langet Jhinftgefchwafc l)inein,
pon bem ich erft, al« berfelbe mich Perlaffen hatte, merfte, baß e« mid) weit
mefyr pou bem 2Begc ber Äunft abgezogen tjabc, al« ba« 3ifgfn&crflein in
ber Via latina. — Denn erft al« ber »ielgelefjrte #err fort war, fatj ich
bie Sd)6ni)eit ber 2Siü*a, ba fchien bie ftbenbfonne burch bie hoben Linien
unb e« raufchte in ben ffiipfeln wie ein Sieb »on ewiger Schöpfung, baju
fang bie Emfel pon ber %y\)refte — ©olborangen glühten im bunfeln ?aub
neben «Jttarmortreppen unb »faulen, ber grüne Teppich be« ©rafe« war mit
2fncmonen burchwebt, ba« war Italien wieber mit all feiner tyradjt.
Bugen, 2fugen ba« ift ja bod) alle«, ma« man mitbringen follte ju einer
itaüenifchen «Reife — «öüd)er nur fo Diele, baß fle bie Bugen nid)t »erberben.
«Ü?ir hatte meine Üflutter auf bie «Reife ein ^falmbüdjlein mitgegeben,
worin fle ben 121. <pfalm aii iReifefprud) bezeichnet hatte — rjicr in ber
(Sampagna erwad)ten biefe ^)falmen mir ju einem ganj befonberen ?eben —
unb gar oft fchwebte meine Seele auf itjnen, wenn id) feinen anberen 3fuÄ*
bruef meljr fanb für ba«, waä mich bewegte unb ergriff.
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$and Sfooma : 3ta(tcmfd>c Steifen.
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<Sef)r bebauen habe ich immer, ba§ ich nicht 3tafienifd) fonnte — ed
begegneten mir eigentlich nur freunbliche SDfenfdjen unb fo tat ed mir oft
recht leib, ba$ id) fiumm an ihnen vorübergehen mußte.
©ejeiehnet unb gemalt t)abe id) bamalo nidjt feljr otel, ein fchon
jiemltch gefuflted ©fijjenbuch t)abe ich in einem Omnibud Hegen (äffen unb
nicht mehr befommen.
3m Atelier bed fchmeijer Sttalerd ©udjfer malte id) einige f leine
Jtopfjtubien mit Semperafarben. (£in anberer beutfeher STOaler, mit bem
ich oft »erfehrte, war J£>. Subwig, ber fleh in fef)r beachtenswerter SBeife mit
ber '5 hr onr unb «prarid ber Ölmalerei befchÄftigte, ber aud) ben Sratftat bed
Seonarbo ba Sinei uberfefct l)at. — Crö mar einer »on benen, bei bem man »ad
lernen fonnte — unb befonberd angeffdjtd ber guten alten SMlber fldrten mid)
feine ^efrrebungen über piel $echnifched auf. 21uch ben SDialer £reber be*
fuchte id)/ ein fliUer jarter ^reunb unb Verehrer ber (£ch6nt)eit ber Campagna
di Roma. — 3Tud) ber 9J?aler Schweinfurt aud Äarldruhe mar ba, er Ijolte
und oft am borgen ab ju 31udflugen in bie ©egenb: „21[d naud it>r ©abenfer,
l)eut ifTd fd)6n!" ÜBir, b. b- immer ?ugo unb id) maren aud) einmal in Prima-
porta, »o ftd) eine fd)6ne antife 3Panbmalerei in einer SSilla ber Sioia noch
ganj »ob! erhalten beftnbet; — ich war febr entjurft »on biefer Sttalerei, bad
Sicht fommt »on oben unb fo itf bad ganje 3immer an ben SBänben in
einen grünen ©arten umgemalt — tiefgrüner Son, abwechfefnb mit Lorbeer,
Drangen, SMumenftrÄudjern unb 3»prfffcn pergefleUt, bie in ber oben herein*
gehrnben lichtblauen ?uftfIÄd)e ftch jicrltd) abgeben, 5B6gel auf ben 3n>eigen,
in ber SWitte jeber 3Banb ein ertra fchön audgefübrted $annenbdumd)en —
Heine Springbrunnen mit Rauben jwtfchen ben $&üfd)en, unten burd) bad
gange 3immer jicht fld) eine fletne Umjctunung tum gelbem Ütoljrgeflecht.
<5d ifl eine wunberfd)6ne^arbenharmonie unb banbwerflid) pon fd)6nem färben*
auftrag, — bie SMätter faft wie mit einer biefen (£pachtelfarbe l)incingefe$t.
Uad Oanje fyat einen weichen, n>ad)dartigen ©Ian$, ift aber fieinhart. 3Rit
welcher 3frt »on Sedjnif bied gemacht fei, fonnte id) mir nid)* erfldren.
2ßir waren aud) in ftradeati unb ritten auf (Jfeln hinauf nad) Sudculum
— bei ftürmifchem Ußinb, aber gar herrlich lag bad grüne Ütfeer ber ßampagna
unter und.
2fuf bem ©ege nach ©rotta ferata unb 9?emi begegneten wir einem
fchonen faar Italiener, er im umgefchlagenen Hantel unb aud) fie in ber
?anbedtrad)t, fie fdjritten frdftigen Schritted baher, fyinttr fld) jwei weiße
Stoffe. — dufterer $Do(fenbimmef lag über bem ^Ibanerfee unb bem Sftemi»
fee — in 9?emi ubernadjteten wir — wir waren recht fröhlichen 8innee>
unb liefen unfere UBorte fpielen — ?ugo war ein SDJcifler hierin, brausen
(lärmte unb regnete ed aber gewaltig, ed war fair unb wir froren in ben
SBetten. — 31m Sflorgen flapperten und bie 3Ät)ne por ^rofl unb wir waren
feljr perbrteglid) — aber wir würben balb warm, ald wir ben SRürfweg an*
traten, benn ed war fehen, unter bem jturmgepeitfehten ffiolfenbimmel h«*
lujiehen, bei bem SBechfel »on ?id)t unb ©chatten über ber Gampagna unb
gang in ber fterne bad ÜÄeer, beffen weife ©ranbung wir beutlid) fahen ; —
aber id) war bod) einige $age tfarf erfaltet, ald wir nach SRom famen.
£er 31bfd)ieb pon tHom würbe mir recht fdjwer; id) warf aud) am
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#and Sfcoma : 3taltemfd)e Steifen.
Bbenb öor ber 3fbretfe einige ©olbi in bie Fontana Trcvi, $ur ®emärjr be*
3Bieberfommen$.
Üßir fuhren bann nad) Orte unb »on bort »on ber ©tatton im ÜÜagen
nad) SÖagnaia, burd) pradjtigen (Sicfjwalb. — 3n ©agnaia mar aud) ©d)weinfurt,
ber Sanbdmann, unb wir wohnten mit tym im J£aufe be$ fcurgermeiiter«,
ba e* in bem Orte nod) fein ®a(H)aud gab. — £ier war überhaupt nod) nid)t$
»on moberner 33equemlid)feit$fultur ju »erfpuren — unb e$ war fo redjt
eigenartig — bie SWänner faßen mit Ijoben Jßüten in itfre weiten blauen
Hantel gehüllt, cd war fühlet Sag, in rul)igfter Haltung unb wie mir fd)ien,
ohne ffd) $u unterhalten auf ben dauern fccö Üftarftee" — abenbö würbe
bort ein <5d)mein am ©pieß gebraten, beffen ftleifd) bann oerfauft rourbe,
aud) wir aßen im Jßaufe be$ Q>urgermeifterö batton. 3QBir befud)ten auch
SBtterbo. — £aftanienbewad)fene ftelfentalcfjen ftnb bae" @r/arafteriftifd)e ber
®egenb, in bie Reifen ftab alte ©rabt)6l)len Ijineingeljauen.
3fuf bem Stucfweg nad) Orte benufcten wir bie <Poft. Diefelbe war
»on berittenen Jtarabtnieren begleitet, ein 3*i<*)en, bag ber jiemlid) tange
(gidjwalb bod) nierjt für fo ganj l)armlo$ galt; — fomit Ijabe td) auf ber
italienifd)en Steife aud) ein bijjcrjen ©rigantengrufeln gehabt — ba« gel)6rt
bod) aud) baju.
jn Orte trennten wir und, Sugo fuhr nad) Stom unb id) nad) Oroteto,
ber 8tabt auf bem Berge, rer gofbene Dom im Sttorgen himmel auf bem
gan} einfamen *pia$e war von eigenartiger 3Birfung — nur ein wieber«
fauenber Od)fe lag alö befebenbeS $Befen jiemlid) in ber SKitte bed 1Mübc£.
©o fam id) moljl in bie richtige ©timmung, im Dome bie greöfen von
©ignorelli baö jungfte ®erid)t in feiner gangen 3Öud)t, in feinem unrjetm*
lid)en Grrnfte ju empfütben.
9?ad)t)er faß id) lange auf einer SKauer unb faf) in bie graue borgen*
wert tjinunter, ju ber ein jefct »on S&enfdjen unb 3ug* unb Safttieren U*
lebter 3itfjacfmeg rttnunterfürjrt — 511 ben frudjtbaren gelbern in ber (Jbene;
— eä war fo flarer Sföorgen, ein fanfter ÜÖinb we!)te »om Gimmel, bie
wanbernben ©chatten ber ©ilberwolfen, bie am Gimmel jogen, belebten
bie fernen Berge unb .öügel, bie opalfarbig t)eruberfeud)teten.
£ie ©crjrerfen beä jungfien @erid)ted legten fld) — fo eine 3üngft*
gerid)td»orjteu"ung ijt ja bod) ber 2fu$brucf bee* wilben SD?enfd)enfampfed,
ber aud ben Grinrid)tungen ber STOenfdjengefellfdjaft immer l)er»orwad)fen
wirb — bie flRenfdjen in tt>rer SWaffe »erbammt, bar/ingerafft, »erurteitt
— rur?elo$ — nur ber (Sinjelne fann (Id) befreien — wenn er e$ »ermag,
wunfdjlo* ju werben.
SBon Oroieto futjr id) nad) ©iena, wo id) mid) mehrere Sage auflieft.
(£ö würbe injwifcrjen (£nbe SÄai unb id) ging nad) ftlorenj juruef; —
»on bort ein ©tubienaudflug an ben ®olf oon ©pejjta war eigentlid) ber
<5d)lu§ meiner crflen italienifd)en Steife. — 25ad blaue SSRttx, »on ben
Reifen von Serici unb oon Porto Venere aud, war mir aud) nod) ein gang
neuer Sinbrucf. — Sttit meinen Begleitern Sang unb #einrtd) jeid)nete id)
t)ier aud) mancherlei.
@d i(t bod) maä gar ©d)6ned, fo in ber Sttatur braußen fl^en unb
jetdjnen ober malen, ed fommt eine fo fd)6ne 9tul)e über einen — bie oft
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4?anÄ Sfroma : Staltemfcbe JÄetfen.
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faft in« Sraumbafte übergebt — worunter freifid) bie Beobachtung jwar
leibet, aber in ber ff* bod) fo öiel Unbewußte«, wa« bod) in ber Äunft
aud> eine Stolle fptelt, anfammelt.
<So jur SRittag«(tunbe t>od> oben auf ben Reifen bei Porto Venere
ft$en, in bie blaue Unenblid)fett pon SD?eer unb Gimmel f)inau$fet>en, unten
fdjdumt bie Branbung, bie nad) unb nad) ju einer SWuftf wirb unb t)erauf*
t6nf, wie SD?enfd)enol)ren (Te nur in ben feltenften ©tunben al« ffielt*
barmonie hodMtcr Drbnung auffaffen formen.
£ber im b(ut?cnbcn JDlwenfyaine, ben ganj eigenartigen Duft, ber ftd?
mit ber Ü)?eere«luft, bie au« bem Blauen ^eranwetjt, fo fd)6n vereinigt —
bae Bienengefumme in ben gclblichweißen Bluten auf friftallblauen ©rünben
— ba« ©efübl ber Unenblichfeit überfommt un«, fo baß wir bie ©inne »er*
hüllen, um in bie tieffte (Jinfamfeit unfere« «Sein« ju perjtnfen. — Di«
Sinne nad) ber t)6d)(len (5 mpfanglidjfeit gefchloffen, in biefem ©runbe ber
einfanden ©unfd) lojlgf eit, ba füblt man ftd) ber Einheit nahe, in ber äße
<8d)6pfung rutjt. — ©Ott in und, fein frember Begriff oon außen, fein
Sßefen, ba« au« ber fterne fdjafft. — Unfer ©ein ifl mit tym »erfnüpft,
in ihm gegrünbet unb aud) ber $ob fann und nicht Pon ©ort trennen.
Da auf biefem ©runbe einfamfter 3Bunfd)lofIgfeit erfahrt man, nicht etwa,
baß man eine (Seele bat, fonbem, baß man eine ©eele ift.
(£« waren tnjwifchen t)eiße ©ommertage geworben, wir f ehrten nad)
ftlorenj jurücf unb id) ful)r bann, etwa SRitte 3uni, nad) 9ttünd)en unb in
ben ©chmarjwalb jurücf.
Da« war bie erjte ita(ienifd)e Steife. — Der geneigte ?efer wirb ja
wohl felber fefyen, baß er feine orbent(id)e d)ronologifd)e Steifebefdjreibung
vor ffd) bat; id) fyabe e« be«t)alb nod) mehr al« in früheren Brttfeln t>er
mieben, oon meinem einmal au«gefprochenen ®runbfa$e, nid)t über Qttit*
lebenbe etwa« ju fagen, abjugeben. ©idjer würbe mancher berfelben fagen:
ba* ifl falfd) — ba« war nid)t bamal«, ba« war bamal«, e« war aud) nid)t
fo, e« war fo. — Die in bie 3eitlojTgfeit hinübergegangenen redjnen nidjt
mehr fo genau mit bem Datum, an welchem wir im Staume un« begegnet flnb.
Senn nun im einzelnen wot)( manchmal etwa« Dichtung mitlauft,
fo bin id) bod) im ganjen wal)rl)eit«liebenb — bie« muß id) bemerfen,
fonft fagt ber Berliner, e« fei alle« nid)t warjr unb id) hatte meine fünf
italienifdjen Reifen in aller 9?atoitdt erfunben.
* *
*
Die jweite italienifdje Steife gefdjab im Satyre 1880 unb bie war bod)
nod) fd)6ner für mid), benn id) fonnte meine $rau mit mir nehmen unb
ihr all bie £errlid)feiten jeigen. — Daburd) ift alle« boppelt fd)6n!
SKein Sioerpooler Äunftfreunb SWinoprio beltellte namlid) etwa 10 ita*
lienifdje 21nffd)ten au« ben Perfdjiebenflen ©egenben für ftd) unb einige
fetner greunbe in @nglanb, fo ungefähr beflimmte er in einer ?tjte bie
gewünfd)ten ©egenftdnbe, ohne mid) gerabe baran binben ju wollen.
Da« erfre Bilb malte id) aud) gleid) in ftranffurt auf Rechnung ber
erften italienifdjen Steife unb füllte mid) baburd) bod) fdjon etwa« entlaftet.
«übbeutfAe <ülonatBf)rfte. II, 4. 20
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Sani Storno: 3t«licnif<he Steifen.
3m SKarj reiften wir ab, über 2D?ünd)en, bann übernachteten wir in
fcojen, wo wir mit Dem SKaler ?. @pfen jufammenfamen — bed anberen
2ac\c$ bireft nad) ftlorenj. Da blieben wir aber nur acht Sage. 5Bie
freute id) mich/ bie Florentiner Domfuppel wieber ju fehen. (Sin ^Bieber*
fehen folcher Dinge ift faft einbringlicher ald bad erfhnalige ©efjen, ba$
fdjeue (Jrftaunen fällt weg.
$öir fuhren bann bireft über Stom rjinaud nad) Neapel, von wo ich
aud) einige ©Über mit heimbringen fottte. — fflad) Neapel war id) ba£
erflemal nicht gefommen. #ier werbe id) mir ber SWadjt bewußt, bie ein
©chriftfteller über feine Sefer audübt — id) fcwnte tytr für bie jweitc
italienifche «Keife eine 3e»tfolge für Sag unb ©tunben, mit Abfahrt unb
3Tnfunft ber Qrifenbarjnjüge, £oteld mit ihren «Rechnungen f)t»ife$en, id>
f6nnte auf fetter unb Pfennig fagen, wie »iel id) auf biefer Steife aud*
gegeben habe, unb id) glaube, ber £efer würbe auch bied gebulbig weiter*
lefen. — 3d) habe nämlich bei biefer «Reife, bie id) ald ®efd)aftdreife ju
betrachten hatte, genau über alled S&ud) geführt, über %eit unb ©elb. —
3fber id) Witt bie ?efer »erfchonen, id) bin ja hauptfäd)lid) aud) ?efer —
wie t>iel Sachen lieft man, bie einen gar nicht intereffteren, bloß weil man
einmal )u lefen angefangen hat. — J£>ier bemerfe id) bloß im Sntereffr
ber Äünfller, bie gern nach Italien gehen, baß man bort aud) recht bittig
leben unb bod) an atten ©enüffen bed ?anbed teilnehmen fann.
Da ich biedmal beftimmte Auftrage auf QMlber, alfo einen 3wetf bei
biefer Steife hatte, fo mußte id) jeidjnen unb malen unb tonnte nicht fo
gewaltfam, wie man ed auf einer fotehen Steife fonfl tut, ben ©ehend.
würbigfeiten nachlaufen. — 3ber bie ©erjenäwürbigfeiten famen bod) an
mich h«an — wie fo »ieled in ber 9Belt, bem man nicht nachlauft. 3d>
fefcte mich bin unb zeichnete, bad war gut, ed fam baburd) eine fd)6ne Stühe
unb 93ehag(id)feit über mich — benn wenn man aud) nur ein paar Striche
jeichnet, fo flef)t man ben Dingen mit bem ®efül)l einer Satigfeit gleichfam
berechtigter unb beruhigter gegenüber. ©o famen wir mit ber SKappe
unterm 3(rm in ber Umgegenb h*nim in «pompeji, *PotfUoli ufw.
Der SSefu» nimmt wohl jeben Heuling in Neapel in »ollem SWaße in
Bnfprud) — unb »erwunbert fTet>t man immer wieber feine Stauchfüule —
oerwunbert — unb wenn man ed »on ber ©djule h*r unb aud $Büd)ern ganj
genau weiß, baß ed SBerge gibt, bie Staud) unb fteuer audfpeien. SÖir gingen
balb nad) ©orrent unb lebten in Drangenhainen unb bei blühcnoen Stofen.
Ußenn man ba burd) bie graugrünen jblbaume auf einer .Cchc wanbelt
unb Don 3«t ju 3ft t bie Xugen erhebt auf baö blaue SWeer, fo ift ba*
etwaö, wad fonfl bem 2(uge nicht fo (eicht juteil wirb — benn baö SWeer
ifl ung(aublid) blau unb mit bem eigenartigen Olioengrün entfielt eint
ffarbenharmome fd)6nfter 2frt; man möchte aud biefer fdjon fd)ließen, ba£
Ölbaum unb «JTOeer jufammengeh6ren.
3uf einer biefer 3ßanberungen famen und jwei fleine SWabdjen nad),
ffe brachten meiner ftrau einen 3weig mit 3teonen unb jetgten und ben
$Beg nad) bem Selegrafo, ben wir freilich gut allein gefunben hatten, aber
bie £inber waren \u nett unb gern ließen wir und ihre Begleitung gefallen,
fff waren fo aufmerffam unb beforgt räumten ffe Jßinberntffe, bie auf bem
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$an& Spotna : 3taltem'fd)e SRetfen.
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ftelbmege ftd) jeigten, h»"*»*9 — fie faljen ed meiner $rau an ben 2Tugen
an, wenn il>r eine fd)6ne SMume gefiel unb polten ftc »on ber 2J?auer l)er*
unter jum (Strauße. — 3Bir gingen mit ihnen nach SUfaffa hinunter — bort
führten, id) m6d)te faft fagen, nötigten fie und mit in ihr Altern hans\ ein
fleined Q3auernbaud in einem munberfd)6nen 3itronengarten »oller ftrüdjte.
Die SWutter mit einem ganj Meinen A'inbe auf bem 2frme bemiUfommnete
und, eine gar lieblid) fd)6ne @rfd)einung in biefem 3aubergartletn. — ÜRan
faf) allen bie ftreube an, und ^remblingcn il>r #eim ju geigen.
3fuf bem SKürfroege auf ber Sanbftraße, bei bem fd)6nflen 2fudblicf
nad> Gapri hinüber, festen mir und auf (Steine am $Öege — gleid) fam
ein frcunblidjer Sttann unb (Irecfte bie J£anb aud nad) einer ®abe. — 5Öir
hatten nun all unfer flein ©elb fchon audgegeben unb id) machte bem
Spanne begreiflich, baß mir fein ®elb haben, ba lachte er mit einem »er*
fdjmifcten ©efidjt, fab und an unb fagte: (So jmei gut genarrte Vcutc unb
fein ®elb! 3ßir lachten mit unb ba id) il)m ein »aar 3igarren geben
fonnte, fo fd)ieben mir ald gute greunbe.
dlad) @aprt famen mir leiber nid)t, ba an bem fyierju »orbefHmmtcn
Jage ein arger Sturm mar, fo baß bad <Sd)iff nid)t »erfetyrte. — 2Tn*
gefangene (Sfijgen gelten mid) bann in (Sorrent unb mir begnügten und
fpater mit einer Bahnfahrt an ben Reifen »on Serren t »orbei nad) SRarino
6affano. Sermünfdjt haben mir manchmal bie enblofen ©artenmauern, in
bie mir auf unferen ®dngen hineingerieten, um bann gang mo anberd
beraudjufommen, ald mo mir gemeint Ratten, aber audj jmifd)en biefen
^Bauern mar ed bod) fd)6n, menn fo bie golbenen 3i*ronen barüber hin*
unterfdjauten »on bem blauen Jßimmel.
Pompeji befud)ten mir einmal in Begleitung »on beutfd)en ^anbdleuten,
ju unruhig burdjgefübrt, um ju einem rechten (Sinbrurf ju gelangen — mir
famen aber bod) gerabe baju, ald Arbeiter einen feljr fd)6nen ©ronjefaun
»orffdjtig aud bem ©tmdftein bcraudfdjdlten.
Neapel mit feinem ?eben unb Htm gemann id) red)t lieb; aber einmal
gerieten mir bod) hinein, baß ed ganj unheimlid) mürbe — am Ofterfonntag
nad)mittag gingen mir gegen Bbenb nad) ^ortici — ba |tr6mte bad SBolf
in ber audgelaffenften ?u(ligfeit, teild mit und, teild und entgegen, tfodb*
belabcne Drofdjfen frellten f6rmlid)e 2Bettfahrten an, fud)ten f!d) in toller
ftahrt ju überholen. ine berfelben »erlor bad SRab unb ein ganger fötauel
»on 2J?enfd)en flog baraud auf bie (Straße — fo »iele SDcenfdjen, mie in
eine ber f leinen Sfteapler Drofdjfen gehen nirgenbd hinein — ed fdjien aber
feinem etmad getan ju tpbtn — bad ©elad)ter, bad barauf hin entftanb,
ließ mid) bied annehmen. — (Sd mar ein J^dOenfpeftafel, barüber ber
raud)enbe 23efu» unb glühenbed 2lbenbrot in bie anbredjenbe Dämmerung
hinein, ed mürbe und mirfltd) etmad unheimlid) unb mir freuten und fehr,
baß mir enblid) in einer Trambahn <pia$ fanben jur £eimfel)r.
5ßad man aber aud) in bem Stteapler (Straßenleben für feltfame
STOenfdjen fleht ! — fo faben mir einmal ein f leined bärtig SKännlein, über unb
über, ®eftd)t, fcart unb Äleiber mit getroefneter <5rbe bebetft, mie menn er
erfl »or furger 3<?tt aud bem (Schlamm her»orgefrod)en mare, ganj ratfelhaft —
wie nod) fo »ieled anbere.
20»
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296
$ant Sboma : 3toltentfd)e Steifen.
9ted)t ungern nar>m id) »on Stteapel 2lbfd)ieb, aber auf fo einer ©e*
fdiaftdreife muß bad Vergnügen manchmal jurücffrerjen — ber «Stoff für bie
SKeapler ©über mar gefammelt unb nun btcp ed auf nad) 9tom.
9Son a(I ben t)errlid)en $unfh»erfen mi U td) mdittf fagen ; moju mieber*
boten, mad anbere (dum »iel beffer gefagt haben. SReued fann morjl jeber,
ber mit eigenen Äugen »or biefen SBerfen fteljt, aßjeit empftnben. — Sfteueö
fagen bad fann menigftend id) nid)t.
3um jmeiten SWale in 9tom fein ijt eine gar fd)öne Sad)e — ber
lebhafte 2fnteil, ben meine grau an allem tyatte, mar boppelted ©enießen.
2Bir nahmen eine «prtoatmoljnung unb jogen jeben borgen fror;
tjinaud — neue <5d)6nt)eiten ju fudjen. ©ei fd)6nem SBetter meifr mit bem
3eid)nenapparat belaftet in bie Gampagna — nad) 'Ponte SÄole, ©alara,
<Ponte Momentane, 3Jia Patina, $ain ber Grgeria. — @tmad jum (Sffen
nahmen mir oft für afle gälle mit ober aßen in einer abgelegenen Djreria.
2D?it ben SitQtntyivten »erflanben wir und fefyr gut; ald mir einmal
bei einer Steanihc rbc auf ben ©ebanfen famen, mir f6nnten ja aud) 3icgen«
mild) trinfen, teilten mir biefen ÜBurifd) bem Birten mir, er mar aud) g(etd)
baju bereit, eine 3"g? ju rnclfen, aber ed mar fein ©efdjirr »orljanben unb
bei ber SRatlojTgfeit jog er enblid) feinen fdjmarjcn giljrjut ab unb meinte,
ba brau* fännte man red)t gut trinfen. — 9Öir moUten aber bod) lieber
nid)t unb banften mit l)6flid)em öntfefcen.
@inen gar fdjdnen grüh/lingdmorgen »erbradjten mir am #ain ber
@geria, ed mar unfagbar fd)6n unb buftig, mir Ratten ein mar/red 'Parabtefed*
geful)! in biefer erhabenen fonnigen C-rinfamfett — id) jeidmete unb meine
grau faß neben mir unb mir backten an gar nid)td $36fed — aber ald mir
und einmal umiahen, maren mir fajl umringt »on einer J£>erbe langgef)6rnter
£>d)fen. — SKan meiß ja nie, mad fo £)d)fen »on einem benfen unb mög(id)fl
(tili fd)(id)en mir und ba»on nad) ber ©rotte herunter, um auf bem <))fabe
bann ben anberen J£>ügel r/inaufjugelangen, aber ba oben franb bad allergrößte
£orn»ieb, in einer befdjaulidjen SXutje, aud ber afled m6glid)e &er»orgel)en
fonnte — feine 3fugen maren auf und gerichtet, aber mir fonnten ffe nid)t
ergrünben. ffiir manbten und um, aber überall £>d)fen, bie attenneijren in
ber Sttatje unb »or bem ©itter, burd) meldjed mir am SÄorgen hineingegangen
maren — an bem aud) nod) ein ÜBarnungdtäfeldjen gemalt mar, ein grember,
ber »on einem £?d)fen »erfolgt mirb. — Siele ber 2Jied)er lagerten (Td) unb
ed mar gar mdn abjufefyen, mann fte roeiter&iefyen mürben. — <£nb(id) famen
ein »aar £anbarbeiter, bie aud) ihren 3Beg nad) bem $or hin hatten unb im
2(nfd)luß an biefelben famen mir u ngefpießt fyeraud aud unferem *)>arabtefe auf
bie fidjere ?anb(hraße. Durd) bad ©itter faljen mir benn freilid) nod) lange, mie
fd)6n biefe grauen £)d)fen fuib unb mie gut fic in biefe Sanbfdjaft bineinpaffen.
£ie 3iegen fefjen anberd aud ald bie unferigen; ffe Ijaben eine 2frt
»on ornamentaler 3»erlid)feit.
ffiir Ratten unb fud)ten aud) feine beutfd)en ©efanntfdjaften — bad
3lfleinfeindgefüf)l ju jmeit in ber fd)onen Sanbfcrjaft bei ben Birten unb ben
Sieren t)atte mirflid) etmad ^)arabiefifd)ed für und, — etwad, mad man
»teUeidjt unter fold)en UmflÄnben nur in ber r6mifd)en ^ampagna Ijabcn
fann. — SKit unferen greunben, ben Birten, »erfldnbigten mir und red)t
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|>an* $boma : 3talt'enifd)e Steifen.
297
gut; einer »on ber 9>orra ©. ©ebafHano war ferjr gefpradjig, er jog au*
feinen Safdjen allerlei 3*W0 rjenwr, ma* er in ber Gampagna gefunben
habe unb ba wir nid>t tncl ®efaOen baran geigten, machte er ein wichtige*
®eftd)t, griff in eine onbere Safere unb jog etwa* gut in Rapier ®e*
wicfelte* herauf, mit ber 93erffd)erung, ba* fei nun wafyrbaftige* ©olb.
$Dir mußten fretlid) laut auflachen, ale wir ba* gelbe X)ing fahni unb
barauf lafen: „©pielmarfe", — wir tonnten e* itjm nid)t fo red)t flar*
machen, — aber er faf) fo rüfyrenb gut unb jufrieben au*, al* er fein ©olb
mieber oorftdjtig einwttfelte. Da wir bod) bie »erfd)iebenen Birten unter*
fcfyeiben wollten, nannten wir biefen ben ®olbfd)Äfer.
3(n einem £ügel am 2lnio, ber fo fd)6n üom ®ebirge r>er ffcf) burd)
bie ÜBiefentdler fdjlangelt, fafjen wir, id) jeidjncte, auf einem anbern ©lumen*
t)uge( nebenan faß ber Jpirtenbnbe mit bem fdjmarjen J£ut unb fang unb
fang in Bielen 5Bieberrjolungen ein einförmig Vieb, wir oerftanben freilief)
nur einzelne 3ßorte, ba ein milber 3*pl)ir anbere anberömo Eintrug — bod)
gelang e* mir, ben ®efang in* Deutfdje ju überfefcen unb ich will ihn bem
?efer nid)t »orentljalten, jumal e* ba* einzige ift, wa* id) au* einer fremben
©pradje ttberfefct ()abe.
®erabe meine mangelhafte Jfenntni* be* 3talienifd)en erleichterte e*
mir, ben ©inn be* ?iebe* treu ju erfaffen unb meine grau t)alf mir in ber
fteftftellung beffen, wa* wir jufammen ger)6rt rjaben:
Da* ift ba* £trtenlieb:
"Änio, raufdjenber Q3ad), bir fing id) jum Cobe mein Cieb,
3um Danf, ba§ meiner £erbe bu gibft friftallbellen Sranf.
Tin deinen Ufern ift bie befte 28eibe für fte, ®ra* unb würjige* Äraut,
Did) bat ber grüblütg fo lieb, ju beinen SÖajfern fommt er juerfl
Unb iimfränjt bid) mit Blumen unb leud)tenbem ©rün.
Sie buttfeien SBäume am fdjlängelnben Ufer entlang
<£v fmmürft fte mit golbnen Änofpen, roie ftnb fic nun fd)ön!
Der grübling, ein £trte, läd)elt oom boben Gimmel berab,
©eine »eigen ©cbafe, fie lieben unb weiften bort oben im ©lau,
gern jum Sorrafte binauf ift ber grimmige Sinter entflobn.
©ort bat er ein eidfalte* Cager oben im glänjenben ©djnee,
2Jiog er auch brobenb nun fd)auen in bie bin beuten $äler btnab:
Die Blumen, bie Blumen, e* ftnb ibrer fo »tele, fic fürd)ten ibn nid)t,
Die SRarjiffen oon bier oben am £ügel bi* unten am 93ad),
2Ber wollte fte ;ablen, mobl taufenb unb bunbert unb mebr,
5aufenb unb mebr. — Senn id) nur bärte fo ©iel ©olbi, wie Blumen im ®ra*
0 Qtnina, 3foina, bu Ciebe, bu @ute, bann mürbeft bu mein,
Dlid)t mebr broben mit bem fd)»arjen Surm ber bort (lebt
Surft' mir bein 93ater, id) fragt unb er gab bid) mir gern.
r TLnio, bei bir bann bleib id) mit Qlnina ber glinfen pereint,
©ie bittet mit mir, feine flörrige ©eif? oerirret (id) bann mebr.
Unb rubt bann bie #erbe, fo rubelt am ßiigel aud) mir,
Tinina la bella pftueft Blumen jum lieblid)ett Äranj.
2Bir fingen auf fd)attiger #albe bann immer gar fröblid) ju »tocit,
Tlnio bein 9taufd)en murmelt ben 93a§ und baju.
ffiir fingen oon ©ebnen unb Reffen oon ber Ciebe golbgldnjenben 3ett,
Da§ immergrün fte
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£>ani Tqoma : 3taltenif<be iRetfen.
£ru$i türfe farfra! fo nur fann id) baÄ unb jwar in* ©aoerifdje über*
fe$en/. wad ber J?irte auf einmal l)inauöfd)rie, tnbem er auffprang, ber
$erbe nad), bie (Td) ju »erlaufen fdjten. — J^ter fyat ba$ Jßirtenlieb ein <5nbe.
3d) weif wohl felber am heften, baß bie Überfegung M #irtengefange$
recht holprig geworben ift — e* fet>It ber »erbtnbenbe ©djmelj »on
italiemfdjer Sprache unb Üttelobie.
$Deil id) mid) befleißigt habe, bieSadje getreu mieberjugeben,fo fonnte ich
bie©efd)metbigfeit,berer unferDeutfd) roohl aud) fähig i fr, n i du einmal anwenben.
Daä Streben nad) gemtffentyafter ©ad)lid)feit unb Treue macht ja aUe
Äunftmerfe fo letd)t etwa* unbeholfen unb l>art. 3lber bie ©djwierigfeiten,
biefen ©ang in* JBerfianbeämäßige ju überfein, waren aud) gar groß,
außerbem, baß ber SBinb oft ganje @a$e au* bem 3ufammenl)ang tjtraui
nad) bem ©ebtrge ju.faufelte, mußte id) mandje ©orte, bie mir nod) nid)t
befannt maren, im ÜB6rterbud) nad)fd)lagen. — (5* war fo »iel Unau**
gefprodjene* in bem ®efang, eine @in t6nigf eit, oft fd)ien ba* ^latfcheru unb
9taufd)cn be* 2Tnio gerabe fo »iel ju fagen, wie ber flngenbe Jßirte.
£cr freunbltche Vf e f c r möge mir aud) hier bie Jparten, getoijf ermaßen
33erjeid)nungen, gütigft entfdjulbigen. — Der freunblid)e i'efer! id) weiß,
baß id) viele foldje habe. Der tfritifer gibt (Id) ja überhaupt nicht bamit
ab, er weiß »on »ornherein, baß fo ein SWalerbeutfd) „unter aller Äririf"
ifi. (?* blüht ja bod) aud) manche* fo tief unten, baß e* bie £ritif gar
nid)t flel)t unb nid)t erreid)t — (Sott fei banf! 3n behaglicher 2fbenb*
mübigfeit festen wir bann in bie ©tabt jurücf unb itetrften und in irgenb*
einer SRetfauration, oft mitten unter Italienern, benn wir hatten, wie gefagt,
feine 3eit, beutfdje ©efanntfehaften ju madjen; wenn wir bann in eine 3frt
»on Unterhaltung b,ineinfamen, fo wunberten ffd) bie Italiener nidjt barüber,
baß id) ber ©»rad)e nicht funbig fei — wohl aber waren fie »erwunbert,
baß meine Jrau bie Sprache nid)t fonnte, benn fte fah aud wie eine fXömerw.
Üßir gingen aud) nad) Tiooli, id) hatte ben Auftrag, bort bie 2Ba|Ter*
falle ju malen.
Dort nahmen wir »iel Tlrgerm* an Tierquälereien, bereu wir täglich.
3euge fein mußten — faß immer, wenn wir auf bie Straße famen, am
ÜÄorgen fdjon pafflerte eine fo(d)e immer ganj unnötige Hoheit unb td) hatte
oft ju wehren, baß meine grau in ber Sebr/afftgfeit ihre* SÄitleibe* nid)t
tdtlid) bagegen emfdjritt. — 2Bir flüchteten bann unb meift hatten mir
unter ben £>li»enbaumen nod) lange ju warten, btd bie Stimmung wieber
in* ®leichgewid)t fam.
Diefe SDNßhanblung »on Tieren unb aud) »on 2Henfd)enfinbern, bie wir
anfehen mußten, hat "n* oen <5inbrucf »on bem fdjonen Tiöoli gerabeju »erleibet.
2D?an barf fold)e Scheußlichfeiten nid)t erzählen'
Da id) für Ttöoli überhaupt nicht »iel 3«t hart** fo mußte id) mid)
fehr and Skalen machen unb wir waren immer recht froh/ wenn wir $ur
Stabt hinauf unter ben Ölbäumen bei ben 2BafferfdUen waren.
<5* war in ben Tagen ein großes $ird)enfejt, ju bem bie ganje Q3e*
»6(ferung ber Umgegenb jufammenfirämte, aber aud) bie Tage »orber bie
Sd)lad)tttere auf bie rücffIcht*lofe(te 2Öeife »on überall her auf 3Bagen baher*
gefdjleppt würben.
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£and Spoma : 3talienifd)e Steifen.
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Üßie meine SWappen unb ©fijjenbücher ftd) füllten, fo nahmen bie Sure
im Portemonnaie ab.
«Keine Buftrdge lauteten aud) nod) auf bie oberitalienifdjen ©een
unb fo fam bie STCotwenbigfeit ber 2(breife aud bem rdmifdjen ©ebiete.
3n ©iena »erweilten mir nod) 14 Sage — ein alter ftreunb, £un$ifer,
er ift nun auch fchon tot, begleitete und in ber fd)6nen Statt unb in ben
lieblichen 2dldien, bie um Siena Ijerum liegen. — Sc ein funbiger Begleiter
irt bod) aud) mieber etwad (ehr $5equemed — freilich fam id) baburd)
weniger jum Arbeiten ald in SReapet unb 9tom. 2(ber ber fchon lange in
©iena anfaßige ^reunb befchdftigte (Td) mit Stöajolifamalerei unb er führte
mich in eine primitive Söpferwerfftdtte, wo nod) in einfacher 3frt bie alte
italienifdje SRajolifa l)ergejleUt wirb — id) malte in ber ®efd)winbigfeit
aud) ein paar Seiler, bie mehr ober weniger gut gerieten.
Tic Slttje oon ©iena finb ju befannt, ald baß id) hier Darüber be*
richten f6nnte ; id) fonftatiere hier nur, baß id) alfo jmeimal in ©iena war. —
©tarf in ber Erinnerung ift ed mir geblieben, baß ed in ©iena gang ent*
fe$Iid) regnen fann, bad ganje Ghrbreid) fdjeint aufgeweicht unb in Bewegung
ju fommen; wenn ed fo in Striemen regnet erfd)eint aud) ber 9tegenfd)irm
ale eine ldd)erlid)e Qhrftnbung. .frier mochte id) aber bod) reifenben C£bc;
paaren ben SRat geben, baß ber 2Rann feine $rau an halten möge, aud) einen
gleich großen ©d)irm mitjunehmen, fonft befommt er, wenn ed regnet, ben
«einen unb wenn ed fd)6n 3Better ijt, barf er ben großen tragen.
21m 24. SRai 1880 fuhren wir wieber nad) ftlorenj; ed lag ©chnee
auf ben fcergen. — Sin paar Sage fpdter fuhren wir nach ©trefa am ?ago
ÜÄaggiore — bort jeidmete id) bie Sfola bella. — $Bir machten an einem
blauen (Sonntagmorgen auch eine Äafjnfahrt nad) ber fchänen Snfel — unter*
wegd fahen wir auf ben 3BeUen ein gldn&enbee* Stwad treiben, bie Ruberer
fuhren nach ihm unb jtfduen ein 8Med)fdfHein heraus1, bad wir oorjtd)tig,
begierig öffneten, ba buftete und ein Strauß ber rjcrrlichfien, frifd) gepflüeften
SRofen entgegen unb ba wir weit unb breit fein Schiff fahen, fo erfldrte ich
ed ald ein ©efchenf bed ©eed, bad er meiner QMumenmalerin gemacht habe.
9?ad) ben £errlid)f citen ber 3fo(a bella erfreuten wir und nod) fehr an ber
3fola bei «Pedcatori mit ihren «einen £dudd)en.
STOitte 3uni fuhren wir fobann bireft über ben ©ottrjarb nad) granffurt,
wo id) mid) baran machte, bie $w6lf beflettten SÖilber ju malen. 2>ad war
bie jweite itatiemfehe Steife, bod) bie britte fommt fogleid), b. h» oi<
fchreibung berfelben, bie Keife felbft erfolgte erjt fed)d 3at)re fpdter.
£ic britte italienifche Keife erfolgte 1886 unb jwar ging id) biedmal
allein. — Sin $reunb, ein großer tfünftler, ber in ^lorenj wohnt, hatte
mich eingelaben, ed war 71udftd)t »orhanben, baß id) in einem Florentiner
Äreife ^ortrdte ju malen befomme. — X3ad wdre mir bamald recht lieb
gewefen unb ed wdre wohl aud) gelungen, wenn id) mir in ber 3(bfid)t, ed
riug anzufangen, bie ©ad)e nicht felber »erborben hdtte. 3d) nahm ndmlid)
— in ber SKeinung, bie ©adje recht ffd)er ju machen, einige ^ortrdtmufler
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§an$ Stoma : ^talknifö* Steifen.
mit, g. fc. ba* ©elb|tportrat mit £rau, merd>e* jTd) je$t in ber Hamburger
#unfrl)afle befinbet, bann ein ©ilb meiner ftrau mit einem Äinb in einem
dauern gdrrcrjen. — SBein gre unb freute ficf> freilief) an meinen SKuflern — aber
bie sportrÄtbefteller mürben burd) biefelben gänglid) abgefdjretft, unb ba gerabe
eine ^afiellenglanberin eingetroffen mar, unterlag id) ber Äonfurreng unb fle
parte Ute ben gangen Ärei* ab; — id) befam feinen einzigen Auftrag auf Porträte.
3d) ergahle bie ca die gur SDiafmung an junge M an (Her, baß fle in ber ÜBarjl
ber SD?ujter bei ^ortrat*beftettung*au*ftcf)ten nid)t oorfTdjtig genug fein fennen.
Aber icf) matte im XteHer meine* $reunbe* einen 95ogenfd)ü$en unb
anbere*, aud) malte id) gmei au*gefiif)rte Aquarelle, Änjlcfjt »on ^loreng unb
21nftd)t einer fleinen SBiUa. Dr. <5onrab Siebter mar bamal* aud) in glorenj
unb ba ijl mir ber Umgang mit biefem feinffnnigen Äunflfreunb befonber*
lieb gemorben — unb bie anregenben Unterhaltungen, bie mir gu britt in
@. $rance*co $fter* führten, maren, befonber* ba fle in ber £un(tflabt
^loreng ftattfanben, aud) oon bletbenbem SBert.
^loreng (ernte id) bie*mal bei bem breimonatlidien 'Aufenthalt recfjt
gut fennen — unb »er liebt ^loreng nid)t, »enn er e* fennt. — £er
Aufenthalt blieb bie*mal auf ^loreng befd)ranft; ein fd)6ner Zu*flug nad)
9>ifa gum ©efudje beö Dome* unb feiner fo munberbaren feltfamen Um*
gebung mürbe unternommen; oon *Pifa fobann eine %a\^rt an ba* 3Äeer
burd) ben fjerrlichen ^inienmalb. — £>ort glangten unb lotften bie Garrara*
berge mie in einem <5ilberfd)feier hinter bem bunfeln (Streifen ber $Weere*flur.
Ot)ne befonberen Aufenthalt untermeg* fufyr id) »on & loreng nadj ftranf*
furt guruef. — <&o eine raftlofe Sifenbafjnfafyrt fut)rt SBilb an SBilb an un*
poraber, ein* permifdjt ba* anbere — aber im gangen fjabe id} bie* 35al)in*
fliegen gern unb einzelne ^(ugbifber bleiben mir ftarf in ber Erinnerung — unb
id) habe aud) perfudjt, fold)e (Jinbrürfc gu malen — fle fallen oft mit $ räum
btlbern gufammen — fmb aber bod) oiel leid)ter gu malen al* (entere, mo man
gar feine Q3afl*, gar feinen ©tanbpunft hat, »on bem au* man fle faffen rennte.
Die (Sifenbahnbanf ifl immerhin eine Realität, ein tViuft, »on bem
au* ein paar optifdje ©efefce fld) anmenben lajfen — aber fo ein Sraum,
ba r)at man ja ein 21uge, al* ob man runbum alle* auf einmal fernen
fdnnte — äße*, — ofcne ©efe$ unb ©crjranfen.
3fuf ber J^inreife nad) $loreng faf> id) bie ßarraraberge fo fd)6n ba*
liegen, auf ber ©tation SÄafla l)ielt ber 3ug 5 Minuten, id) gog ba*
©ftjgenbud) — ein*, gmei, brei, ein paar ©tricfje, ben ©erg, eine ÜBolfe
um ben Äopf, gmifcfjen fd)(anfen Baumen rjinburdjfdjtmmernb. — Später
habe id) au* biefen ©tridjen eine @arraralanbfd)aft aufgebaut, giemlid) groß,
bie nod) irgenbmo fid) beftnben mag.
3(uf ber J^eimreife mar ber ^rür)morgen in ber (ombarbifd)en Ebne
fo fd)6n — leid)te grüne SBaume an ftiflen 5ßaflern unb aße* »on bem
fraftigften Morgenrot bejtrarjlt, ma* id) je gefefyen tjabe, bie roten SBolfen*
fdjafe fpiegelten fid) in ben 3ßafiern unb ba* ®rftn mar fafl fo lid)t unb
l)eßleud)tenb mie ba* Morgenrot.
Hud) bie* glugbilb gu malen r)abe id) tterfud)t, e* ijl mir aber bod)
nod) nid)t fo red)t gelungen.
3(1* id) ba* brittemal oon Italien gurürfgefef)rt unb mieber in
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£and Z\)cma : Stalicmfa)* Reifen.
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$raitffurt mar, litt id) an einem UM, bat-., tote id) bemerft habe, fd)on
manche 2$ielgereiße befallen t>at — befonberd feie, meldje aud bem ©üben
fommen, ed i fr eine gewtffe überlegene Unjufriebenfyett mit bem, wad bie
Jßetmat ju bieten permag — , fo wollte aud) mir nidjtd meljr fo red)t ge*
fallen. Uer trübgraue ober bod) mildjlid) blau umflorte Gimmel, wie er
befonberd für bie SWaingegenb djarafteriftifd) ift, fonnte fTd) ntefit meffen
mit ber ttalienifdjen StiavtftiV, aud) bie im 5umfd)tnucf fo bunt gefprenfelten
©tefen, bie id) immer fo geliebt fyatte, crfd)ienen mir je$t fleinltaVbunt,
bie ffiälber im jungen 3rüf)lingdgrün aufbringlid) grell, formlod bie
Serrainbilbungen, bie alten unb neuen #duferd>en otjne ©til Pom 3«fatt
gebilbet, bie neue Brdn'teftur profcig orjne bracht, bumtn*baugemerbfd)ulmdßig.
Tic Ufte nf dien ließ id) aud) nid)t red)t gelten, fie waren fo alltdglid), oer«
flanben eigent(id) gar nid)td oon Mun\1 ufm., wie fd)on fo mand)e fogenannte
„SBorjugdmenfdjen" oor unb nad) mir über if)re Mitbürger geurteilt haben.
©letdjgültigfeit, ja SSerbrteßlid)feit gegen bad, mit bem id) mid) nun
bod) einmal abfinben mußte, mit bem id) leben mußte, nahm mid) gefangen
— fdjon fing id) barauf l)od)mütig ju werben an, mit meld) fritifdjen Bugen
id) oon ber britten SReife jurücfgefebrt fei.
greilid), ba id) im ganjen ein fparfamer Sftenfd) bin, fam ed mir
faft oor, ald ob bie Äoften einer italienifd)en SReife für und oerloren wdren,
wenn unfere 3fugen nidjt wetterfommen ald btd jur fritifd)en (£rfenntnid,
wenn eine fold)e Steife und bie unfdjulbigc ^reube an all unferem Jtram
raubt unb und nur unfruchtbare Unjufriebentjett übrig Idßt.
(Sine foldje Steife müßte bie (5mpfdngltd)fett bed Xuged ftdrfen, fo
baß ed aud) bie oft (eiferen, jarteren, oft bunteren gröberen SRetje, bie ed
bei und empfangt, ju einem rjarmonifdjen ®anjen oereinigen fann.
lernt bie Harmonie, bie 2 d)6n()eit liegt nid)t in ber $Öelt ba braußen, fte
ift nur eine ftdljigfeit ber (Seele, bad $u empfangen, mad bie Sinne ihr zuführen.
21n ber $raft unb (Sinbringltdjfeit, mit ber in Italien Äunft unb
9?atur ju und fpredjen, follten mir £erj unb Buge ftdrfen, bann fdjeint bie
^onne J^omerd aud) und.
9?un war id) aber einmal in einem foldjen 3uftanbe unb wollte unb
fonnte mid) nid)t baraud befreien, ba mußte fd)on ein Änfloß oon anberer
©eite fommen, um mid) mieber ind ©leid)gewid)t ju bringen; btefer 2Tnftoß
fam aud) balb in folgenber 3Beife:
93on Italien er$at)lenb, aber fonft gleichgültig, mad)te id) mit ben
Steinigen bei bem fd)6njten Detter einen Sttadjmittagdfpajiergang burd)
liefen unb gelber nad) einer abgelegenen fleinen 3Btrtfcfiaft; ein ©auern«
gürtlein mit fleinen 3n>etfd)genbdumd)en, J?ollunberbüfd)en — id) bad)te
an ©olborangen, bie aud bunflem v'anbc glüfjn unb an ben immergrünen
Lorbeer; — faft drgerten mid) bie Jßüljner, bie um bie, auf eingefdjlagenen
«PfBcfen befejtigten Sifdje berumfdjmarofeten — Apfelwein tranfen mir fiatt
^r^tant^ baju aud) ben mageren SBainjer #anbfdfe, ber nebenbei gefagt
red)t gut war, fo faß id) ba, ber Sielgereifte, bem nid)td mel)r gefallen wollte.
&id auf einmal oon einem entfernteren Sifdje in woljlgefcfrultem
oierftimmigen ©efange bad alte ?ieb ertönte: „@d waren jwei £6nigd*
finber". — 3a, wad war benn bad? wie rüttelte unb paefte mid) auf einmal
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£and Sgoma: 3taliemfd)e Steifen.
bad! wie würbe ba auf einmal meine ©eele oon btefem unerwarteten anflog
fo meid), fo »oll, baß fie überfliegen wollte, wie mar id) ba auf einmal
mitten in Deutfdjlanb unb wie fd)6n offenbarte ftd) mir feine ©eele.
SBter STOdnner Ratten f!d) an bem Sifdje bort niebergetaffen, ed waren
tfebrer aud Offenbad), bie fo ganj ben freien 9lad)mittag für ftd) benü&ten, ftc
fangen nod) anbere SSolfdlieber mit ber ganjen 3nnerlid)feit beutfdjen ÜBefenä.
Der anflog, ben id) auf bie Ot)ren befommen, ((haute mir auch gleich
wieber aud ben klugen beraub, id) (ah bie heimliche echembett bed 3wetfd>gen*
bdumletngartend, bie bracht bed bluhenben $ollunberd, ber Jpabn unb bie
.011 hi er würben f ebene Kreaturen unb aud) bie höljcrncn 2i(chc würben
fd)6n, jumal golbene Xbenbflrabjen jeet bad ®an$e umarmten, ba war bie
ißettbarmome wieber wahrhaftig unleugbar ffd)tbar bei und mitten in
Deutfd)lanb. Der «Heimweg burd) «Kiefen unb gelber, burdj bie jitternben
tölumen war jefct ganj anberd. — Unb ald bad 2lbenbltd)t in bie grüne
Dämmerung oerfanf, fo war ed bei und fo fd)6n, wie ed nur irgenbwo in
ber ÜBelt fein fonnte. SRun war in ber ganjen Statur ein Clingen unb
Sönen erwad)t, wie ed bie gefüllte ©eele jeberjett ju oernehmen oermag,
ald 3ufammenfaffen jur t)arntonifd)en Einheit aud bem oie(t6nigen Allerlei.
Die oierte italienifd)e Steife traten id) unb meine %rau am 1. Xpril 1893
an, wir gingen über ben Söobenfee nach SWündjen, 3nndbru<f unb waren
ein paar Sage in bem fdjönen Verona. 3n SBenebig erwarteten und liebe
greunbe; id) freue mid), fie nid)t mit tarnen nennen $u müffen, weil ffe
ffd) hoffentlich, nod) lange ttjred bebend freuen mögen. — 9Äit biefen ju*
fammen all bie ©d)6nbeiten biefer einjigen ©tabt genießen ju fönnen, roar
nun gar fdjön, unb wir eilten oon Sammlung ju Sammlung, »on £ird)e
ju Äirdje, geführt oon biefen funbigen ftreunben, fogar ber ©dbefer oerlor
feinen 5Bert. ©o ein guter £reunb hat benn felbfl feine greube an ben
jleigernben Uberrafchungen, ju benen er einen füfyrt — fo führte mid)
ber ^reunb in ber Xfabemie, ald id) fd)on faft mübe ju werben anfing,
jule^t ju ben f leinen ^Mlbchen oon Rellin t, oon benen er wußte, baß fec
mir nod) einen befonberd intimen Qrinbrutf machen würben, unb er hat (ich
nid)t getdufdjt. — Die (Sachen waren mir ganj neu, aber id) b,abe fie gut
oerflanben; — fo gut, baß alle SBübigfeit weg war.
Dad fd)6ne Söenebig! aber wenn ed fo unbdnbig regnet, wie ed ein
»aar Sage lang ber ftall war wdbjenb biefed 3(ufentb,alted, fo ifl ed ent*
fefclid) naß — bie ©etten felbfl finb bann feud)t; 2Baffer unten unb oben
— man befommt eine förmliche ©etjnfudjt nad) tdnblidjem ©taub. — 5Bir
gingen aud), nidjt gerabe bedljalb, fonbern um bie bortigen Äunftwerfe ju
fehen, auf einen Sag nad) *ßabua.
2lber wie fd)önfarbig glatt unb gldngenb wie in einer perlmutterfarbigen
9tiefenmufd)et (iegenb ifl bann Senebig bei <5onnenfd)ein. — Dad ©djmucf*
unb ©cha$fdfld)en ©. SWarco paßt fo gut hinein. — Dad farbige Dunfel
in bem braungolbenen SRaume ifl einer ber raffinierteren $arbengegenfa$*
gebanfen bie ed gibt — ber beim £ereintreten aud bem 2id)te bed blauen
Saged ebenfo überrafdjt, wie beim Jßeraudtreten in bie Suftfluten.
Dad Siegen unb ©onbeln auf bem ÜBaffer trdgt aud) febjr baju bei,
bad Sehen in SBenebig mobjtg ju machen.
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§an& Sfcoma : 3taltcnifd)e Steifen.
303
©roßen Stnbrucf machten mir bie antifen lernen »or bem 2lrfenal, ed ijt
wie gebänbigted Seben, bad wieber $u erwachen frfieint in btefen einfachen
©tetnfolojfen; — bad flammt bod) nod) aud einer anbern 3Belt ald bieoenetia*
nifd)en SRarcudldmen, bie fid) grimmafienrjaft einbringlid) ju madjen fud)en.
2fld wir an bie £eimreife benfen mußten, ful)r unfer greunb mit nad)
(Saftelfranco jum ©iorgione.
Sftadjbem wir gute Stfaffaroni im SBirtdtjaud gegeffen, nahmen wir
einen SBagen jur ftatyrt nad) ©affano. — HU ber $utfd)er $um ©tdbtd)en
hinauffuhr, flieg hinter und eine fdjrecflidje ©emitterwanb auf unb fd)on
wirbelte ber (Sturm bie ©taubwolfen ber ?anbfiraße empor. — £d mar ein
enger, primitiver $Bagen mit J&alb»erbecf, unb mir fagten bem ßutfd)er,
baß er umfetjren folle, um bad $Better abzuwarten — aber ja — fo ein
&utfd)er auf feinem ©oef — id) glaube, baß ber Xudbrucf boefbeinig baoon
r>errür/rt — ber tut mad er will unb pettfcfjte bie «Pferbe jum ®alopp,f unb
fetjr balb waren wir im bidjten Siegen — bod) gelang ed bann, bad Ärgjle
in einem «einen ©auerntjaud bei freunbltdjen beuten abjuwarten; balb ba*
rauf war aud) wieber ©onnenferjein unb wir fuhren weiter — wir famen
an eine früher ber Ädntgin (Sornara geh, örenbe SSitta — ein langed, ntebriged,
lehr fd)6n gegliederte^ ©ebäube würbe ald ©djeune benufct — außen waren
nod) fd)6ne gredfen teilweife ermatten — it)re $Birfung war beinahe etwad
wie QBajolifa — auf weißer $und)e bie JjJauptfarben gelb unb blau.
SW»tr/ologifd)e Figuren in fd)6ner ?anbfd)aft, bajwifdjen QMumen unb gruerjt*
gehange. — 5Btr fuhren bann jur hcrrlidien ^tlla SWafer, bie »on Npaul
^eronefe fo fröh/lid) audgemalt ifi — fo tyetter »orneljm, wie bad £eben in
fo einer SSißa gewefen fein muß. — On 2lfola würben bie spferbe gemecfjfelt
— ed ging ferjr lang, bid wir fortfamen — unb unter mancherlei gab,r*
lidjfeit bei ftoeffinfterer ffladft famen wir nad) ©ajfano, enblid) in ein be*
rjaglidjed ©aftrjaud.
ren anbern SRorgen war cd eiffg f alt unb unfreunbltd) unb bie
wilbe ©renta, bie aud bem ©ebirge heroorbrtcrjt unb unter hoher ©rüde
f)inburd)fd)dumt, mad)te einen buftern (Sinbrucf. — @d ffnb »tele ©Über
»om SWaler ©affano — ed fdjetnt eine Familie $u fein — in bem SfRufeum.
©roße »enetianifd)e$anbwerfdtrabitionmit ein wenig fleinftdbtifd)*pro»injieller
9?ai»itdt fommt barin jum 2ludbrucf. Senettaner Vornehmheit angefrrebt,
aber oft unter* unb burd)brod)en »on fd)6ner Sttatitrlidjfeit, bie aud guter,
ed)ter Duette (tr6ntt.
3ßtr fuhren bann nad) SSicenja, wo ber ^reunb und oerließ, um nad)
Sßenebig jurucfjuferjren. — 2Bir fehlten in einem £otel ein, bad gewiß früher ein
^Palajgo war, ein fd)6ner ©au — am 2lbenb waren aud) feingebeefte $ifd)e,
ed waren aud) elegante ftracffellner ba. — 2lber am SBorgen war alled
wie oerwanbelt, wir gingen jtemlid) fpdt hinunter unb freuten und auf ben
.Kaffee — aber bad geftern elegante SHeftaurattondjimmer war unmöglich —
fein Äellner »orr/anben unb auf unfre 5ra9e/ wo Denn unfern Äaffee
trinfen fonnten, erjt »erwunberte ©e(Td)ter »on jwei J^audfned)ten, fobann
(hreifte einer mit bem 3Trm eine 3f njahl ©tiefei, bie er gerabe reinigte, »om
$ifd) jururf unb fagte: #ier! I)er jweite »Oembdrmel()audfned)t trottete aud)
fort, um Äaffee ju beforgen — aber wir waren bod) ein wenig erflaunt,
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304 $an* Spoma : Staltemfdje Steifen.
aU er nad) längerer 3'i* mit jmet Saffen Kaffee in bc« J&anben burdi bie
©dufenfjafle, bie jum J&otel fül)rt ^crbetfdjrttt. — 3*»« ©ritdjen fyatte er
unter bcn Ernten — er tyatte bie <5ad)en in einem benachbarten <5aff£
geholt. ÜBir fafjen bann nod) bie ©tabt an, bie fd)6nen Ärd)itefruren,
madjten eine 9tunbfar)rt burd) bie fd)6ne Umgebung ber ©tabt — wo
immer bie 2Clpen »on Horben fo fd)6n fdjneeleudjtenb l)erüberfef)en — .
£er artige Drofdjfenfutfdjer mar aber mieber einmal fd)lau, id) hatte »or*
her ben Sarif gefefjen unb mußte fo ungefähr, ma* er $u befommen bat —
für bie SKunbfafyrt t>atte er aber eine $appe aufgefegt unb ein feidjtere*
2ßagefd)en genommen unb af* id) bie ^orberung gegen Sarif mehr al*
boppeft hoch fanb unb (£inmenbungen mad)te, midi auf ba* ©efe$ berufenb,
ba (ad)te er unb machte mir flar, baß mir in einem ^ri»atful)rmerf brn
5Beg gemacht Ratten; — id) mar blamiert unb infofgebeffen gab id) ihm
aud) nod) fein gute« Srinfgelb.
Ußir fuhren »on SSicenja nad) SflaÜanb, »o mir übernachteten, bann
nad) Lugano, mo mir ein paar Sage geblieben finb — bann nad) ©ia*co,
mo mir mieber übernachteten, um am borgen mit ber *Pofi über ben
©otttyarb ju fahren. — @in (5l)epaar aud #anno»er, mefdje* mir jufaUig
trafen, »erabrebete fld) mit und, baß mir ju »iert einen 5ßagen nahmen
unb fo bie Steife machten — e* mar fd)6n, aber in ber «06t>c bittsx talt —
haushohe ©djneemanbe neben bem $&ege, bie $e(egrapt)cnbrAt)te mit
friftaUnabefn armbirf umfponnen. — (?* mürbe aud) nid)t marmer auf ber
Sttorbfeite hinunter unb al* mir in Tfnbermatt anfamen, fd)Iotterten mir »or
#<e — unb id) bad)te: na, ba* ift eine gehörige (Srfaltung, — aber be*
anberen «Morgen* maren afle »iere frt>r munter unb mir fuhren »ergnügt
nad) ftlülen herunter, um bann in £u$ern nod) furjen £alt »on jmei Sagen
ju matten. — SSon ba fufjren mir nad) ftranffurt.
Da* mar bie »ierte ttalienifd)e Steife.
£ie fünfte erfolgte im 3al)re 1897, nad)bem meine ÜÄutter am Sorabenb
ihre? 93. @eburt*tage* geftorben mar. S* mar bie erfte große ©tärung,
meldje ber ©ermitter Sob in unfer jtillrurjige* Seben in ber ftranffurter ÜBolf**
gangftraße gebracht t>at.
Die gute Butter, bie ja im ©runbe baran fd)U(b ift, baß id) SRaler
gemorben bin, einige Herren Ärttifcr mögen ihr bie* inrjetben, r)ar ftd>
eigentlich im gangen ?eben nie »on mir getrennt unb al* id) fd)on lange
einen grauen SBart hatte, mar id) eigentlich immer nod) ifjr fcub, ben fit
mit ttjrer ganjen SWutterforge umgab. — 6o etma* gibt einem bod) ein
©efür;! »on 3ungfein, ba* etma* ganj anbere* ift, al* ein gemalfame* 3ung*
feinmoBen. — 3d) habe bie* ftarf empfunben, benn al* meine SWutter flarb,
hatte id) ba* erflemal ba* @efü()l, baß id) alt gemorben fei.
Werne folgte id) ber (£inlabung lieber ^reunbe unb bie ganje Familie ging
an ben fd)6nen ©arbafee — nad) ©arbone, mo mir in ber SBiUa (Sargnaco
in ber fd)önen ftrühli»a*n>clt neue* ?eben aufblühte, benn, ©ott fei banf,
ber ^rubhng mteberl)oft fld) aud) gar oft im 3)?enfd)enleben unb über bie
©türme hinan*, ber bie ^Marter »ermef)t — au* allem runfei heran* muß
er immer mieberfer/ren — ba* ift ja ©ebingung be* Seben*.
9?ad) fd)meren tjreigniffen finbet gar oft eine ganj eigenartige (im-
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£an* Sboma : 3taliemfd)e Steifen.
305
»fanglid)fett ber ©eele ftatt unb wir würben beffen gewahr, al* wir in ber
«einen ©ahn von 9Kori an ben <5ee hinüberfuhren, £a* 2anbfchaft*bilb
von ben £6l)en au*, wo ber blaue See von ben (teilen #6t)en umgeben
iid) hinau*ftrecft nach ber Ebene hin, ijt eine ber großartigjten Sanbfdjaft**
fjenerien, bie man jTd) benfen fann, bie ganje Schönheit ber Erbe fdjeint
ftd) h^r vereinigen — baju ber ganje ©lanj ber fübfidjen (Sonne, bie
3bt)änge mit Ölbäumen, unb ernfi im Schnee ber falte SD?onteba(bo.
Um ©arbafee zeichnete icfi nun wieber viel nad) ber 9?atur unb eine
ruhige (Stimmung gewann bie £>bert)anb. $Bir gingen bann aud) nod) nad)
SSenebig — befud)ten ba* 3frmenierf (öfter, ein ganj zauberhafte* Ding in
biefer SBafferflut. — 3ßir hielten und in «Pabua auf, in Serena unb
SBailanb. — Dann über 35afel jurütf na* ftranffurt.
Somit bin id) am Schluffe meiner SReifeerinnerungen angelangt unb
e* fommt mir vielleicht felber am feltfamften cor, warum id) bie* alle*
gefchrieben habe.
3 di benfe, baran hat ein groger Seil bie Qrinfamfeit fchulb, in ber
id) je$t ju (eben habe — Sraumbilber von vergangenem ®lücf jieben bunt
an mir vorüber in langen 2lbenben, unb wenn ein gewijfer, in mir flecfenber
S£ätigfeit*brang e* verflicht, ffe fefljuhalten, fo ifl e* um anbere Silber,
Sdjrecfbilber beutlidjfler Erinnerung aud ben fchwerjkn Sagen meine* 2eben*,
ein wenig jurücfjufcheuchen. — E* gibt woh( in jebem Sföenfdjen leben folche
©über ber tieften Trauer, mir ffnb ffe mit photograchifaer $«we mit ben
fleinften nebenfdd)lid)ften Umflanben im 2(uge hangen geblieben.
«ffiarum id) bie* fd)reibe, mdre fomit einigermaßen erflärt, aber warum
id) bie* aud) veröffentliche, bafur weiß ich feine fo red)te 2lu*flud)t unb e*
bleibt mir nur übrig, ben ungeneigten ?efer um Entfchulbigung ju bitten.
Unb bod), wer fleht fld) nicht immer gern, wenn er etwa* unter
nimmt, von bem er nicht flcher weiß, ob er recht ober unrecht baran tut,
nad) etwa* um ba* baran fchulbig ijt; auch ich will hier angeben, wer
eigentlich fchulb baran ift, baß id) ba*, wa* id) gefd)rieben, aud) angefangen
habe ju veröffentlichen.
2D?öge bie* 3(u*»laubern über bie Anfange meiner Schreiberet nun
hier am Schluffe flehen, — e* mad)t ftd) gut, benn id) habe bie Brtifelreihc
in biefen Sübbeutfchen 2Bonat*heften mit bem Anfang ber tfunft eingeleitet.
5Ber baran meift fchulb ift, baß id) Sftafer geworben, wirb ber Sefer gut
berau*gefunben haben. HUx an meiner Sdjriftfiellerei ift meine SWutter
nicht fchulb, fonbern, e* muß gefagt fein — bie granffurter 3eitung! —
Sie hat einige Berichtigungen über Dinge, bie über mich falfd) au*gefagt
worben — fobann auch bie Abwehr einer ungerechtfertigten Äntif über bie
SÖilber eine* Jreunbe* fehr freunblid) aufgenommen, freunbliche SKitarbeiter
an berfelben haben gefunben, baß id) mich bei folchen Abwehren ganj gut
beutfeh au*brücfen fönne unb jiemlid) beutlich aud) 0fl* *n *&*t Äürje fagen
fönne, wa* ich fagen wolle.
3fuf bie freunbliche ©ejlnnung ber Jfranffurter, bie bei meinem 2fbfd)ieb
von bort ju öffentlichem 3lu*brucf gelangte, mußte id) bod) banfen — auch
biefen Danf nahm bie ^ranffurter 3eitung auf unb brachte ihn in einem
langem Qfrtifel — id) war nun einmal an unb in ber £>ffentlid)feit unb
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306
Ernst Weber: Erinnerungen an Erwin Rohde.
id) fünfte ba« Stecht in mir, bie mir anbaftenbe @cbeu »or ber £ffenrltd»r>it
abzulegen. 3ö, e* würbe mir bie« jur Pflicht — benn alle« bat feine 3*»t,
fdjwetgen t>at feine 3«t unb reben Ijat feine 3eit.
Die granffurter 3*itung wirb bie Verantwortung, bie id) if)r hier auf-
gcburbet habe, wot)( tragen fönnen.
3d) bin ein höflicher Sföenfd) unb eaher fommt t«, baß id) ber (5nt*
fcbulbtgungen fein <£nbe ftnbe, baß id) bem Vrfcr zugemutet habe, mich fo
lange anjubören unb e« täte mir fo leib, wenn er barüber unwillig fein
würbe, baß id) iljm 3eit geraubt babe.
©eim SMlberauäfteflen habe id) nie bie« ®efübl gebabt, mid) entfd)ulbigen
ju fallen, ba« fommt aber baber, baß id) weiß, baß ber SMlberbefcbauer, wenn
er will, ein« jwei brei mit bem, wa« er fiebt fertig tß. dr braud)t nur Äunfller*
namen unb etwa Benennung be« SMlbwerfe« ju fefen, bann weiß er gleich
woran er ift, wa« er »on bem ©Übe ju balten bat — e« (lebt ibm bann frei,
jTd) mit überlegenem Sadjeln com QMlbe abjuwenben unb ift fertig bamit — ober
aber er bleibt au« eignem freien Qrntfdjluß babor (leben, fängt an ju feben.
3fber bei einem ©cbriftflücf weiß man bod) nicht fo fd)netl, wa« barin fiebt,
ba« ?efen foftet 3eit unb erfl am ©d)luffe bemerft man, ob man 3eit »er*
loren ober 3eit gewonnen bat.
SKein örjAhlrn ift etwa* ganj ^erf6nltd)e« unb ba tritt ber %aU ein,
baß id) bem £efer aud) perf6nlid) naher treten muß unb ba« fann nicht
jeber leiben. — 3d) felber bin j. $5. nid)t einmal ein großer ftreunb »on
tiefem „fciflanjberlieren" unb begreife e« nur attjuwobl, wenn einer fagt,
wa« geben mid) benn beine (Srlebnifie an — e« ftnb ja bod) nicht* anbere«
al« „Srlebniffe", bie bu ba mtttetfft
9?un, ich fyabe febon bie Sürflinfe in ber £anb.
9Kd)t« für ungut!
1^ f*ym f^T^ Tfc TM *^ tM *fc tM IB Ml IM TM Ifc IM IM tM^M fAm f-^ *^ ^ r ^ %^ ij^ m Mm tA\j^ tMMM BM1M BM ^> fcM
Erinnerungen an Erwin Rohde.
Von Erntt Weber in Kiel.
»Mancher, der neben ihm gelebt hat, wird noch mit ihm leben* —
und mancher auch der nach ihm lebt.
Otto Crusius hat uns in seiner schönen Biographie die Gesamt-
persönlichkeit des Mannes getreulich und mit anhänglichem Sinne ge-
schildert.1) Er verfügte vor allem anderen, was sein Werk auszeichnet,
') E. Rohde. Ein biographischer Versuch von O. Crusius. Tübingen-
Leipzig 1902.
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Ernst Weber: Erinnerungen an Erwin Rohde.
307
über den Schlüssel, der Rohdes innere Welt der Gedanken und Stimmungen
erschloss. Denn Rohde als Mensch war fast unbekannt. Er hat sich
nur den Eltern und wenigen Freunden offenbart; den anderen blieb er
ein Rätsel, mit dessen Lösung sich viele, zurückgestossen durch seine
Schroffheit im Verkehr, überhaupt nicht abgeben mochten, das zu lösen
aber auch den Gutwilligen nicht gelang, die sich durch den nicht so tief
versteckten edeln Kern seines Wesens für manchen augenblicklichen
Verdruss entschädigt und innerlichst angezogen fühlten. An die Familie und
Freunde hat sich denn auch Crusius gehalten und einen reichen Vorrat
von Briefen und Mitteilungen zusammengebracht; er selbst hat in Brief-
wechsel und persönlichem Verkehr mit Rohde gestanden und dann auch
aus dem Nachlass, besonders aus einer an Selbstbekenntnissen ergiebigen
Sammlung von Aphorismen („Cogitata" S. 217 ff.) neue Einsichten ge-
wonnen. Der intime Charakter dieser Schriften und ihre terriblen, aber
nicht bloss gegen ganze philologische Heerscharen, sondern auch gegen
die Korrespondenten selbst gerichteten Offenheiten legten dem Biographen
Beschränkung der Mitteilung auf. Crusius hat sich aber auch mit Rück-
sicht auf Rohdes Empfinden gescheut, an das Tiefste und Ergreifendste
in Rohdes Selbstbekenntnissen zu rühren. „Es gibt", schreibt Rohde
an Nietzsche, „ein zart empfindliches Schamgefühl auch des Gedankens:
man kämpft es nur nieder, um den Edelsten sich, mit der rückhaltlosen
Offenheit der Liebe, mitzuteilen.* Rohde hätte freilich, meint Crusius
(S. 210), nur gewinnen können. Das Urteil ist richtig. Seitdem die
Briefe an Nietzsche veröffentlicht sind,1) leuchtet Rohdes adliges Wesen
noch unmittelbarer überzeugend hervor. Jeder kann nun auch den
Biographen in seiner Arbeitsweise beobachten. Wenn ich recht sehe,
sind seine Maximen gewesen: möglichst nichts verloren gehen zu lassen,
auch wenn es durch „Abbreviatur* gerettet werden musste; den Uber-
schwang der Empfindung nach eigner Art und künstlerischen Zwecken
der Darstellung zu dämpfen, Stimmungen nach dem Massstab des un-
getrübten Wesens abzuschätzen; unparteiisch und versöhnlich zu sein
bei Streitsachen. Es ist aber nun auch jedem erlaubt, aus den ver-
öffentlichten Briefen für die Charakteristik zu entnehmen, was er mag,
und wenn einer beispielsweise mit Wonne liest, dass „ein solides Paar
Stiefeln" eigentlich mehr Wert hat, als eine mit noch so redlicher Mühe
zustande gebrachte philologische Arbeit, so muss er das auch wieder-
geben dürfen — er wird sich zugleich erinnern, dass Rohde in dieser
.Wertlosigkeit" den Adelsbrief seiner Wissenschaft sah. Und wieder-
holt: der ganze Rohde ist bei Crusius zu finden. Die Art der Dar-
stellung spricht für ihre Treue selbst. Aus handschriftlichem Vorrat
sind viele wörtliche Auszüge, auch einzelne Wendungen, die der Hamburger
Schnäcke nennt, in den Text eingewebt oder im Anhang abgedruckt:
so kommt Rohde immer selbst zu Wort, es teilt sich dem Buche „etwas
von dem ganz individuellen Reiz mit, der jedes Wort erfüllt, das Rohde
*) In Nietzsches gesammelten Briefen Bd. 2, erläutert von Fritz Schöll,
allerdings auch hier mit Auslassungen, vgl. S. XVII ff.
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308 Ernst Weber: Erinnerungen an Erwin Rohde.
schrieb*. Ich kann daher immer nur wieder auf dieses Werk verweisen
und auffordern, Philologen und Nichtphilologen, es zu lesen.
•
Rohde gehört nach dem Lauf seines Schicksals nach Nicht-
Preussen, nach Suddeutschland. München bezeichnete er als die einzige
Universitätsstadt, in der er gerne wäre und bliebe und er war sozusagen
ein Münchner in partibus (vgl. Crusius, S. 125 und S. 142). Man wird
daher begreifen, dass ich meine Erinnerungen gerade in den Süd-
deutschen Monatsheften zu veröffentlichen wünschte. Sonderliche Heim-
lichkeiten, ausser philologischen, hat mir Rohde nicht verraten. Zur Jugend-
geschichte könnte ich aus einem Briefe beisteuern, dass er sich schon
als Schüler mit Gelehrtengeschichte abgegeben, Wittenbachs Vita
Ruhnkenii und ähnliche Bücher, auch Briefsammlungen gelesen hat.
Ich will aber wenigstens in Kürze schildern, wie mir Rohde erschienen
ist, weil ich an diesen Erinnerungen hänge und ein Zeugnis meiner
Dankbarkeit ablegen möchte.
Ich habe ihn in meinen ersten Semestern 1883 — 85 in Tübingen
gehört, dann wieder in der leider so kurzen Zeit seines Leipziger
Wirkens. Eines schönen Tages 1890, begegnete er uns unter den
Linden, behaglich schlendernd, und „sich durch seine Mitbürger durch-
schupsend*. Da haben wir ihn zum letzten Male gesehen. Ein Kaffee-
stündchen bei Kranzler: Zwei Tübinger Schüler und Freunde sitzen
mit ihrem Lehrer nach Jahren einmal zusammen, die Schüler nach der
Weise der Schüler mit einer Art von Schadenfreude, ihn in Berlin
wandeln zu sehen, das er in Grund und Boden zu reden pflegte. Er
Hess sich von unserem Ergehen berichten, bald lenkte er über zum
Absprechen und Räsonnieren, das seine Lust war, zu jenem von uns
gern gehörten scheltenden, unmutig aufbegehrenden Gesprächston, in
dem er das «vorhabende* Thema in unerschöpflichen, auch lustigen
und launigen Variationen hin und herwarf. Damals nahm er sich einen
Philologen vor, um ihn rings herum zu drehen und allseitig zu be-
leuchten. Er bedauerte dann, dass die alte Berliner Posse von einem
wenig originellen Lustspiel verdrängt worden sei, dass er überhaupt
hier wäre — und fuhr ins Belle- Alliance-Theater, „für Operetten, Lust-
spiele und Possen, ein in vielen Kreisen sehr beliebtes Theater", sagt
ein Berliner Führer. Ich meinte manchmal etwas Spiegelfechterei her-
auszuspüren; er konnte das Zweifelloseste in Abrede stellen, und zweifel-
los ist doch und war eben von Ribbeck bewiesen, dass meine Lands-
leute, die Thüringer, die geborenen Philologen sind, er wollte es aber
nicht gelten lassen.
Ich habe wohl sagen hören, dass mit ihm schlecht Kirschen essen
sei. Ich möchte aber die These aufstellen, dass er von fremden Menschen,
die mit ihm in Berührung kamen, den Studenten, den strebenden Studenten
(besonders wenn er geborener und bewiesener Hamburger war) am liebens-
würdigsten behandelt hat. Freilich die Kurialien, die dem Studenten
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Ernst Weber: Erinnerungen an Erwin Rohde.
309
eignen und gebühren, schenkte er sich. Wenn ich ihn besuchte, traf
ich ihn gewöhnlich am Schreibtisch, er erhob sich aber nicht; gleichwohl
fühlte ich mich freundlich aufgenommen. Dafür gestattete er auch eine
legere Art. A. v. Gutschmid erschien bei seinen Besuchern nach langem
Warten immer frisch angezogen und sächsisch höflich. Anders Rohde.
Einmal bei grosser Hitze sass er am Schreibtisch, von der entbehr-
lichsten Kleidung erleichtert und forderte mich auf: Ziehen Sie den
Rock aus, ziehen Sie den Rock aus, es ist eine grässliche Hitze. Ein
guter Dämon hielt mich ab, dem Folge zu leisten; Frau Rohde trat
dann ein, mich in ihrer still herzlichen Weise begrüssend. Er kannte
ausgezeichnete Mittel, Leute, die ihm zu lange sassen, zum Gehen zu
bewegen. Fand man ihn in dringender Beschäftigung, genierte er sich
nicht. Aber die päpstliche Superiorität von Halbgöttern, die wirklich
beleidigt, hat er sich nie herausgenommen. Er geizte mit seiner Zeit
und ich erinnere mich wohl, wie er ein schlecht vorbereitetes Seminar-
mitglied gehörig angelassen hat. „Meine Herren* hat er sich wohl fast
immer gespart.
Ein Fall nicht beobachteter Kurialien führte in Leipzig zu einer
Aristeia, wobei sich die Leipziger Studenten weniger unbefangen er-
wiesen als die Tübinger. Beim Eintritt in den Hörsaal pflegte Rohde
die Tür mit elegantem Schwünge hinter sich zuzuwerfen. Das gefiel
den Leipzigern nicht und sie scharrten. Zur Rede gestellt, schwiegen
sie und schon war er unterwegs nach der Tür, er hatte augenblickliches
Einstellen des Kollegs angedroht, als der Famulus sich ins Mittel legte.
Nach einer Auseinandersetzung über Schülertum und Lehrertum fuhr
er fort zu lesen, er hat aber seit dieser Stunde die Tür nicht mehr
zugemacht, sondern dem Famulus hat es obgelegen, „den Stall zu
schliessen".
Also was Ärgernis geben und wie ein Sieb fungieren mochte,
waren im Grunde nur burschikose Allüren. Wer wirklich etwas von
ihm profitieren wollte, Hess sich dadurch nicht abschrecken, sah es so-
gar mit Wohlgefallen an. Solchen hat er sich mit Drangabe seiner Zeit
teilnehmend und behilflich erwiesen. Er ermunterte, bestimmte Auf-
gaben in Angriff zu nehmen, er überwachte die Arbeit und drang auf
immer tieferes Bohren. Seine Kritik war nicht die sanfteste, es hat
aber keinem geschadet, ordentlich angefasst zu werden; übrigens nicht
anders hat er dem Grossherzog von Weimar seine Erinnerungen an
Italien korrigiert. Wenn man etwas anfange, meinte er, müsse man
auch immer etwas herausbringen, so gehöre es sich. Aber die Themata,
die er aus weitem Überblick parat hatte, waren an und für sich frucht-
bar. Auch im Kolleg hat er auf viele Dinge hingewiesen, wo selb-
ständige Arbeit einzusetzen habe. Anregendere und anziehendere
Kollegs habe ich nicht gehört. Im Streite der Meinungen, wer der
reichere Geist sei, Gutschmid oder Rohde, habe ich mich immer mehr
zur Partei Rohdes gestellt. Gutschmid war eine kühle Natur, die selten
in Feuer geriet, und verlor sich ins einzelne. Rohde hatte jugendlicheren
Schwung und ging elastischeren Schritt — ich will den Vergleich nicht
gübbeutfc&e WonatlWte. H,4. 21
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310
Ernst Weber: Erinnerungen an Erwin Rohde.
„durchfugieren". Er gab, was der Student am nötigsten braucht, wobei
er in Zug kommt, immer ein Ganzes, Übersichten über grosse Gebiete.
So las er römische Literaturgeschichte in einem Semester, griechische
von Homer bis auf die Zeit Justinians in zwei kurzen Semestern, und
doch hatte er immer Zeit. Er entfaltete, hoch über Kompendienwesen
und Examensluft erhaben, eine reiche Fülle des Stoffs und der Ge-
danken, befasste sich eingehend mit den literarischen Fragen, zitierte
viel von entscheidenden Stellen der Texte und Arbeiten der Neueren.
Dabei trug er zwar in flottestem Tempo vor, das die Hörer fortwährend
in Atem erhielt, auch ausser Atem setzte, doch ohne Hast, ja in be-
haglicher Breite; er war immer aufgelegt, frisch und rührig, er las
wohl gern und nahm es ernst mit seiner Lehrerpflicht. Aber das eigent-
liche Geheimnis, fertig zu werden, war eben doch, dass er den un-
geheuren Stoff gründlich durchdacht hatte, klar übersah, klar disponieren
und mit Meisterhand beschränken konnte. Ordnung der Gedanken, so
lehren auch seine Schriften, ist der halbe Beweis. Er hielt den Hörer
»nicht mit verneinender Diskutierung aller möglichen Meinungen anderer
Leute auf, sondern das hatte er bei sich vorher abgemacht und konnte
sich nun positiv, nicht nur kritisch verhalten. Er hatte die schönste
Gabe des leichten Diskutierens und des Simplifizierens und also Klar-
machens der Probleme* (so Rohde über Zielinski bei Crusius S. 276 f.,
auch eine Selbstschilderung). Quaestiunculae wurden gelegentlich schlank
erledigt mit bemerkenswerten Argumenten. „Bei den langweiligen
Ägyptern hat sich Plato nicht 12 Jahre aufgehalten," und zum Beweis,
dass Tacitus Germanien nicht selbst besucht hat, kam der sonst un-
beachtete Topos vor, dass wenn er die .dreckigen Kerle" gesehen
hätte, er sie anders geschildert haben würde. Für die einzelne Stunde
war er wohl vorbereitet, in seinen Heften kamen „Blatt Versetzungen*
nicht vor, und wenn er einmal klagt, dass ihm Kollegien und Seminar
seine Zeit so sehr in Anspruch nähmen, die reifen Früchte dieser An-
strengungen hat er sicherlich mit freigebiger Hand seinen Schülern ge-
spendet. So trat er vor sie hin, allezeit fertig, bestimmt und selbst-
bewusst in sicher befestigtem Urteil. Anerkennung liess er den Leistungen
anderer ebenso selten wie nachdrücklich zuteil werden; der Tadel ge-
riet dem temperamentvollen Manne vielfach heftig und hochfahrend,
aber er wusste die gelehrte Art der „Trefflichen", .Edlen" und „Ver-
ehrten" schlagend und witzig zu charakterisieren, durch mimisches
Gebärdenspiel und komisches Pathos zu parodieren. Das stand ihm
vortrefflich und weckte unsere studentische Sympathie; Zweifel an
seiner wissenschaftlichen bona fides liess die Offenheit und Selbständig-
keit seines Wesens nicht aufkommen. Ein verborgenes Feuer, das
seine getragene Rede erwärmte, begeisterte auch uns. Jener Zug
zum Dunklen, wie es Crusius nennt, hatte etwas Zauberisches und
Lockendes, etwa wenn er über das unheimliche Eindringen des orgi-
astischen Dionysosdienstes in Griechenland, über die Verinnerlichung
griechischen Empfindens sprach, wenn er beiläufig auf Ruisdaels Juden-
kirchhof kam, in so eindrucksvoller Weise, dass bei mir feststand, dies
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Ernst Weber: Erinnerungen an Erwin Rohde.
311
Bild müsste ich bei erster bester Gelegenheit aufsuchen — und immer
wenn ich Ruisdael sehe, ist auch Rohdes Bild mir nahe. Die griechische
Literaturgeschichte, das schönste Kolleg, das ich bei ihm gehört habe,
schloss er mit den bewegten Worten: Vos exemplaria graeca nocturna
versate manu, versate diurna! Das laute Pathos, in anderer Form als
der komischen, vermied er; diese von Crusius gemachte Beobachtung
möchte ich bestätigen und ebenfalls bezeugen, dass auch solche heiklen
Dinge wie Rhetorik und Metrik Anziehung ausübten in seiner klaren
Darstellung und seinem lebendigen Vortrag, der bald ernst, bald heiter,
mit dem Inhalt selbst in natürlicher und innerlicher Folge wechselte,
in der Regel sich auf der Höhe eines kunstmässig behandelten Ge-
sprächstones hielt, frei und angenehm dahinfliessend. Das Freisprechen
fingierte er, so schien es, bei kunstvoll ausgearbeiteten Partien. Eine
behaglichere Atmosphäre habe ich in keinem Hörsaal empfunden. Es
bildete sich zwischen Lehrer und Schüler ein gewisses trauliches Ver-
hältnis aus; wir sahen zu ihm auf wie zu einem Heros, nicht wie zu
der fernen Majestät eines oberen Gottes; wir sahen gern seine be-
deutenden Züge, sein reizendes Lachen, seine elegante, von gelehrten
Manieren befreite Erscheinung, und auch er schien mit Wohlgefallen
auf seine Tübinger herabzublicken. Seine Photographie war in Tübingen
nicht aufzutreiben; er wollte sich wohl nicht unter die Leute bringen.
• *
•
Ich habe meine Erinnerungen an Rohde, mit denen ich also vor-
lieb zu nehmen bitte, absichtlich schon niedergeschrieben, ehe ich den
Nachruf seines Schülers Wilhelm Schmid verglichen habe.1) Er hat von
den Vorlesungen Rohdes den Eindruck einer strengen, fast düstern
Haltung gehabt und erzählt, dass Rohde von seiner Abneigung, Vor-
lesungen und insbesondere Seminarübungen zu halten, kein Hehl gemacht
habe. Gilt also meine im Feuer selbst gemachte Beobachtung des Gegen-
teils nicht für Rohdes eigentliche Meinung, so folgt eben, dass er nicht
zu denen gehörte, die, weil sie nicht gern lesen, in einen unwürdigen
Schlendrian verfallen. Man wird die weiter ausgreifende Arbeit Schmids,
in der viel Treffendes schlicht und anmutig gesagt wird, gern lesen.
Die mildere und gedämpftere Färbung seiner Darstellung lässt die
geistigen Züge des Porträts um so heller und lebendiger hervortreten.
Es ist dasselbe Bild, wie es sich in den nun uns allen geschenkten
Briefen an Nietzsche zeigt, aber hier glüht es in den Farben des un-
mittelbaren Ausdrucks leidenschaftlichster Empfindung und wird nie ver-
blassen.
l) Biograph. Jahrbuch f. Altertumskunde Jahrg. 22, 1899, S. 87—114, mit
Schriftenverzeichnis von Fritz Schöll.
21*
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3uuftentum unb p&ilofopljic.
93on Valentin 3femann in Äolmar.
(Eooiel Slttenfchen, fooiele 3Qelten. Die Bejietjungen be* einjelnen jum
einzelnen »erben nur ermöglicht burch bie Slajttjitdt ber §orm, innerhalb
beren bie ^Jerf6n(id)feit $u ihrer SBeraußerlichung gefangt. Der Äern felbft,
bie Snbioibualitat, bie allein biefer Jorm ben Dnljalt gibt, ift etroa* für fleh
2lbgefd)loffene*, ber 2(ußenroelt gegenüber Cremtet, ^einbfeltged.
Um bie #anblung eine* anbern ,u oerfrehen, mu§ man be*l)alb, ba
fle ja nur bie 2fufjenfeite feine* 5Öefen* barfleCIr, ben Ärei* ber eigenen
3beenroelt »erlaffen unb in bie be* anbern fleh begeben ober (ich tt>r roenigften*
$u nähern »erfudjen. (S* gefchiet)t bted auf jenem einjtg gangbaren 5Bege,
ber in einer SReirje oon gemeinfamen, b. h- rein menfehlichen, ber (Stattung
antjaftenben Neigungen unb 3(nfchauungen bie Ebgrünbe überbrüeft, bie biefe
@injelroelten oon einanber fcheiben. 9hir roer e* fertig bringt, feine Eigenart
auf einen TTugenblicf abjujrreifen, wirb SBerftänbni* für frembe jeigen unb
nur roer fid) auf ben freien, gemeinfamen ©oben ber 9Äenfd)Iid)feit begibt,
fann fyoffen, auf fremben 3BiUen Einfluß ju geroinnen.
IBenn man in le&ter %tit immer häufiger oon einer 3nfcngrurn$ ge*
roijTer richterlicher Urteile unb be* allgemeinen SKechtöberoußtfein* fprid)t, fo
mag roorjl eine gefteigerte (Jmpfinbltchfeit unb ein »on ber 3ettjtrömung
getragene«, allgemeine* Sttigtrauen gegen autoritäre $ntfcheibungen etroa*
laut tytxbti mitfprechen; e* roare aber ein unnüfce* unb furjfTdjtige* Be*
müt)en, bie Berechtigung be* Sorrourf* für alle ftdlle abjuleugnen. 3ch
benfe babei nicht einmal an jene Äritif, bie fleh gegen ein gu bebeö ober
ju niebrige* Strafmaß richtet; ba* bunfle ©efürjl, ba* il)r gewöhnlich ju*
grunbe liegt unb ba* geneigt ift, bie inftinfttoen Regungen entroeber rein
inbioibueUer ober rein gemeinfamer 3nterejTen uneingefchrÄnft roalten $u
laffen, ift ein einfeitiger unb unfluger Ütatgeber. 2fuch fann man jeben $ag
auf* neue bie (£rfat)rung machen, bat; biefelben ?eute, bie beim £efen ihrer
Sftorgenjettung fleh über ben milben dichter empören, bie nachfichtigften ftnb,
roenn fle felbft al* ®efchroorene an ba* pfodiologifche Problem be* 2?er*
brechen* herantreten müffen.
®erjt man ben in ber treffe lautgeroorbenen Vorwürfen etroa* mehr
auf ben @runb, fo ftnbet man auch, bafj fic ffcf) weniger gegen bie <int*
fcheibungen felbft richten, al* gegen ba*, roa* ihnen Porau*get)t, gegen jene
Vorgänge, bie, inbem fie ba* SWebium ber perf6nlichen 2fuffaffung be* Stichler*
paffteren, ba* Snbergebni* rjerbetfür^ren. UBie ein an (ich ganj richtige*
Urteil unrichtig begrünbet fein fann, fo fann e* auch »orfommen, baß eine
(Sntfcheibung, beren Begrünbung ber fdjarfften Äritif ftanbrjalt, ttofcbem al*
eine unbillige empfunben roirb — unb jroar nicht nur von bem Betroffenen
— au* bem einzigen ©runbe, roeil bamit ber i'eben*anfchauung, al* beren
3(u*fluß fleh bie bem dichter jur Beurteilung unterworfene «£anblung bar«
fttUt, oon »ornrjerein, roenn auch nur flittfchroeigenb, bie Berechtigung ab*
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Valentin 3femann : Suriftentum unb ^bücfcpbie.
313
gefprochen mixt, ohne baß ©clegenbcit geboten »Are, biefen Xtenfprojeß ben
beteiligten jum bemußtfetn ju bringen. 9J?on fann fld) nicht »erflehen,
»eil man fid) auf »erfchiebenen ©ebieten bewegt.
2fuf ber anbern ©eite werbe id) wohl feinem ffiiberfpruche begegnen,
wenn id) fage, baß jebeä Urteil juerft »om ®efüt)le, auö ber bunfeln $tefe
bed @emüt$ herauf, gefprochen wirb; l)intennad) fud)t ber SSerftanb nad)
bm ©rünben, bie (ich immer irgenbwo finben (äffen. (£ä muß fchon ein
ganj fchwerer (Stein im 5Bege liegen, wenn eö bem SBerftanbe nicht gelingen
foOte, an ba$ ihm im »orauä bezeichnete Ziel ju gelangen. 2fIfo auch tjter
eine Unterflrämung, bie (ich ber Jhritif entjieht unb fid) nur an ber 9ttd)tung
erfennen laßt, bie bad »on ihr getragene <£d)ifflein einfchlagt; unb biefe
Unterftr6mung ift fo ftarf, baß trofc »eränberter ©teuer* unb ©egelfMung,
bie ber i'eipjiger ?otfe etwa »ornimmt, cd bod) immer wieber gerne in
benfelben SpaUn einbiegt, bem ei »orher fdjon $ugcfet)rt war.
£ie tfritif bewegt jtd) eben nur auf bem ©ebietc be$ £enfen$ unb
fann fccohalb bie eigentlich bewegenben ^aftoren nicht erreichen.
3Ber fid) einmal barüber flar geworben ift, wirb um fo metjr »erlangen,
baß im ®erid)täfaalc bie 33erhanblung »on allen beteiligten in berfelben
Sprache geführt wirb, b. h« baß ber ^Richter 5Berftanbni$ Ijat für bie 2ÖeIt*
anfehauung beöjenigen, über ben er ju Wen du jl$t. 5Benn ber Verurteilte
bie $üre hinter fleh jumacht, muß er baä bewußtfein mit fich forttragen,
nicht etwa, baß ed einen Paragraphen gibt, ber eine gewiffe £anblung mit
einer beflimmten 6trafe belegt, fonbern baß feine 2fuffaffung »on ber ÜBelt
(Tch mit ber gcfellfchaftlichen nicht »ertragt unb ihr be$halb ju weichen hat.
Z5aju gehört aber unbebingt baä SScrtfdnbnid ober »ielmehr bad Mitfühlen
biefer wibcrborjtigen 2fnfchauung. 5ßohl fenne id) bie abftumpfenbc üBirfung
einer ftetä wieberfehrenben ©letebformigfeit unb bie ©djwerfraft ber jur
^erflachung geneigten ©ewobnung — ber ©ebanfe, baß eäfid) auf
ber anberen (Bette immer wieber um eine neuerwachte Äraft unb bie Äußerung
einer einjig baftebenben ©ebanfenwelt hanbelt, follte wohl imftanbe fein,
biefer Neigung baä ©cgcngewidjt ju h^ten.
3ch benfe babei auch nicht an bie fenfationellen $alle, bie bie banfe
ber berichterftatter füllen, fonbern an jene allergew6hnlid)tfen, bie Sag für
Sag fleh in ben ©erichtöfdlen abfpielen. @inem aufmerffamen beobadjter
würbe ed nicht fchwer fallen, fefauftellcn, wie oft \)ier ganj unvermittelt
jwei ?eben$anfchauungcn aufeinanbertfoßen, bie nicht ba$ geringjte mit*
einanber gemein haben, bie ftd) nicht »erflehen fonnen, felbtf wenn fie ed
wollten, weil ihre 2Tnfchauungen über bie ©renken beä Erlaubten unb ©e*
botenen auf fojialem, rechtlichem unb etl)ifd)em ©ebiete tymmelmeit aud*
eiuanbergehen.
SOBoher biefer 5Biberftreit? dr batiert nidit »on b^te unb nicht »on
geilem, aber in ben taglich weiter auäeinanber flaffenben ©efeflfehaft^*
fchichten ifl baö bewußtfein ber innern Ungleichheit mehr unb mehr gewerft
unb gendhrt worben unb ben vielerlei Gräften, bie babei mitwirfen, hat
unfre Solfderjiehung jTd) nicht entgegen$uftemmen vermocht; im ©egenteil,
fic hat baju beigetragen, biefed bewußtwerben noch mehr ju »erbichten!
©ahrenb »or einem 2l?enfd)enalter fajl in gan$ I5eutfd)lanb alle ©e*
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Valentin Sfemann : 3urtftentum unb ^pilofopbie.
feirfct)aftdf(afTen ihre Äinber wübrenb mehrerer Sahre in bie gemeinfame
Volfäfchule fehieften, b,at ffcf) bted im Saufe ber 3eit geanbert unb bie fog.
Vorfchulen ftnb faft überaß mit 2Tudnab,me oon Baoern, ©eftfalen unb
einigen anberen ©ebieten an bie ©teile ber früheren UnterrichtÄgemeinfchaft
getreten. Üjntereffant wäre eö fefljufreUen, ob nicht bie klagen, oon benen
wir oben gefprochen haben, lauter unb bringenber au$ jenen ©ebieten er«
t6nen, wo ftet) bie SSolfabilbung oon ©runb au$ in getrennter ©eife auf*
baut unb einen Meil in baä Volföganje treibt, bad hier, noch ungleich
ftarfer wie auf politifchem ©ebiete, nach Einheit unb ©leichh^it bürftet.
©erabe bie erften Unterrichtäjabre fallen in jene 3eit, wo ftch bie Äinbeä*
feele noch nicht bifferenjiert bat, wo fte, in bem gemeinfamen ©trome un*
bewußter Anlagen bahintreibenb, ffcf> »ermittelft einer tnjtinftiüen unb be$*
halb untrüglichen Beobachtung einen feften Sttieberfchlag für fpatereS Senfen
unb güb^en erwirbt; wahrenb biefer 3eit lernt unb fpricht baä tfinb bie
Sprache, in ber ba$ innere ?eben ber großen SWehrheit jum 2fu$brucf fommt.
Schlimm »dre eä, wenn baä ©iffen nur auf Soften be$ ©efütyfä ber 3u*
fammengebörigfeit erworben werben f6nnte; nur eine nationale, nicht eine
£(affenfu(tur bietet bie ©arantie ihre* Q3eftanbeö unb ihrer Qrntmicffung !
^ebenfalls fcheint mir ber #inwei$ gerechtfertigt, baß allem 3fnfchein nach
in ben ©ebieten ber Unterrichtägemeinfchaft bie ÄlafTenfdmpfe nicht jene
Scharfe angenommen höben, al$ anberäwo, wo baä „beffere" Äinb fcon oorn*
herein in eine antifeptifche Separatbehanblung genommen wirb, unb wo bie
Vorurteile ber gamilie feinen 2fudgleich ftnben in bem Verfehr mit 2fnber$*
gearteten. Jtetn ©tinber, wenn, bad fpätcre Denfen unb fühlen in Äuruen
»erlauft, bie ftd) immer mehr »on bem «Wittel* unb Schwerpunfte entfernen.
£em Spanne, ber biefen inneren ©iberftreit fühlt unb bem bie ohnebin
feltene ©abe einer gewiffermaßen fünftlerifchen Intuition fehlt, fann hier nur
eine* ju J^ilfe fommen, bie 2fb(traftion, b. h- ba$ Beilreben, bie feiner Be*
urteilung unterliegenben Vorgänge auf ihren rein menfehlichen ©ert jurücf*
zuführen unb auf biefem gemeinfamen Boben ben Sftenfchen unb fingen
bie ihnen jufommenbe Bebeutung ;n geben unb ju raffen.
25amit allein fchon — unb bie$ foll h'er hcn>ot"9*lwben werben —
ift bie Sftotmenbigfeit einer ftarferen Qfuäbilbung unb Jpenwrfehning philo*
fophifcher unb inöbefonbere pfnchologifcher tfenntniffe für ben Suriften ge*
geben. (5$ mag wohl richtig fein, wa$ 9>rof. X ^>aul» mir unldngjt fchrieb,
baß unfere nach ^hilofoph« bürftenbe 3eit bringenb nach @rfenntni$ »er*
langt, bie ihren uberreichen @rfahrung$ftoff burchbringen unb »ergeiftigen
foll; für bie Sfiaturwiffenfchaften trifft bie* ja jweifello* ju. 2Tber bei bem
juriflifchen 9?achwuchö \)abe ich bon biefem Surfte bte jefct wenig ge*
merft. @ä fcheint »ielmehr, ald ob burch bie einheitliche ftejtlegung unfered
bürgerlichen iHechtö bie fchon »orhanbene Neigung \u einer äußern Ilm
fpannung beö aUerbtngS weitläufigen unb mit £etai(ö getieften fO^ateriald
noch eine Begünßigung erfahren habe unb baß bie früher nur vereinzelte
„Qrinpauferei" allmählich bie gebräuchliche Vcnnnctbobe werben foQ. ©ie
wenig geeignet bie le$ere ift, um al£ ©runblage ju bienen für eine philo;
foptjifrf)* Surchbringung ber pofitiben ?RechtÄregeln, bie nnferem empftnblicher
geworbenen iRechtöbewußtfein nachzufühlen imftanbe ijt, brauche ich nicht ju
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Valentin 3femann : 3unften tum unb ^P^üofopbte
315
fagen. Unb bod) ifl e* ein felbftüerftdnbfid^eö «Poflulat jebe* 2Btf|en*jweige*,
ba* SKatcnal genau unb grünblich ju fennen, ba* jur Verarbeitung ge*
langen foll, unb biefe* Material — ba* »ergißt man fo leicht — ifl hier
wie anber*wo, nicht* anbere* al* ber üttenfd), t)ier nur nad) bcr (Seite
feine* (5goi*mu* unb feiner antifojialen Steigungen. Unb biefe* 9>oftulat
bleibt ba*felbe, mag man in ber 3uri*pruben$ eine ©iffenfdjaft ober mit
(Sbamberlatn (©runblagen 4. Qfufl. ©. 157ff.) nur eine bloße Sechnif fehen.1)
£eute fdjon rjat bie Anbahnung einer ber naturwiffenfchaftlichen nad)*
gebübeten SBethobe unter bem Vortritt ?ißt* überrafdjenbe Srgebnijfe geliefert,
überrafdjenb wenigflen* für ben, ber bie Außenwelt nad) Äußerlichen unb
feflfleljenben tflafitftfationen ju bewerten geneigt ifl. Üttan vergegenwärtige
fld) nur bie große Bebeutung, bie ben 3eugenau*fagen jufommt unb bie
weniger »on ber moralifd)en Befdwffenbeit be* 2fu*faqenben, auf bie bie
£ibe*abnahme e* bod) au*fd)lteßlid) abfiet)t, al* »on feiner $äl)igfeit benimmt
wirb, in normaler 3Beife SBarjrnelimungen ju mad)en unb biefe in abdquater
$8eife wieberjugeben, wobei bie wichtige prinzipielle $rage nod) neben her
lauft, wieweit überhaupt eine normale Wahrnehmung ftd) mit bem äußern
Vorgänge beefen muß. ÜBie manche ber erweislichen ^er>fgrtffe m6gen ein«
fad) barauf jurürfjufütjren fein, baß bie SJ?6glid)feit biefer Üjnfongruenj bem
dichter nid)t fortwdtjrenb »or 3fugen flanb! SBenn bte* fdjon für bie
jwiliflifche 9ted)tfpred)ung gilt, wie »ielmehr für ba* weite ftelb be* ©traf*
recht*, wo biefe* unentbehrliche Bemei*inflrument felbfl in ber #anb eine*
erfahrenen dichter* fo leicht jerbricht, wie bie* ber Äwilecfa^rojeß mit
erfd)recfenber Xieutlichfeit gejeigt hat. ©erabe tfitr ifl ein gereifte* pfodio*
logifdje* 3Btffen eine unbebingte Ücotmenbigfeit, wenn bie ©efatjren einer
fchiefen Beurteilung ber 3*ugenwat)rnehmungen »ermieben werben follen.
38a* bem ®efchwornen*3njlitut nod) auf lange %tit feine Qrriflenj wahren
wirb, ifl gerabe biefe* intuttwe Verflanbnt* ber 2atrid)ter für bie »er«
fd)iebenartige Bewertung ber einzelnen ?eben*t>orgctnge, oon benen bie dnU
fd)eibung abhangt, ein Verflanbni*, ba* bem $Ked)t*gelel)rten, ber oornehmlid)
mit Kommentaren unb SXeid)*gerid)t*entfd)eibungen operiert, aßmdt)lid) immer*
mehr broht, abhanben ju fommen! Wian barf heute wohl fagen: ba* Problem
be* Serbrechen* ober bejfer: be* Verbrecher* ifl mehr ein pfndjologifche* al*
ein juritftfehe*, benn ba*, wa* bie $at jum Verbrechen macht, ifl ber Üßttte
unb ber ©rab feiner Energie, bie bie fchüfcenben ©chranfen burd)brid)t unb
juerft muß biefe, au* ber innerflen Snbiüibualitat h*rau*, abgemeffen werben,
follen bie bem dichter in bie £anb gelegten ®egengewid)te ba* 3ünglein
ber 3Bage in bie rechte 9)?itte bringen!
Hbtr aud) in ber ©efeggebung macht ftd) mehr unb mehr ein un<
phifofophifdjer 3«g bemerfbar, ber ber SRedjtfprechung immer r>duflger
l) Seine Definition brt 9ird>t<, btr biefer Uuffaffung geredet ;u werben fud)t, wrfennt
bie @efe9mä$igfeit, mit ber fidj trr ftUge mf inwiUe genau fo öuprrt wir ber inbioibueU« unb tf
gebt bamit gerate jenen XenrfrMcr, tm er ffant eerwirft. Sie in fc mon* anbern Dingen
gerat aud» hier 6b. mit ftd) felfrjt unb feiner fcratalifHfd>en 9led>tfauffajfung in $Biberfrrud>,
wenn er bfi Sefpred^ung ber $vagf' ob ftd) ^utm ]u Siebtem eignen, bie 97crtrenbtgrrit betont,
ba* fo „erfunbene" Jiedjt aud) innerlid) aW ein fold)rf ju füMm. Der Dtlettanri4tnu<( ben
et fo oft für ftd) anruft, mag i$m bier jugute geregnet werben.
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Valentin 3femann : 3"riftcntum mW Wofopbie.
pfpchologifche Aufgaben (teilt, ju beren ?6fung itjr jebed 2D?itteI gebricht.
(£ine infttnftioe Abneigung gegen arbiträre (Sntfcheibungen hatte fowehl in
ber rimifchen, wie ganj befonbere* in ber beutfehen tKrchtäauffaffung ben
Eintritt oon ^Rechtsfolgen, wo eS nur irgenb m6glich war, an weithin ffdjt*
bare Äußere Vorgänge gefnüpft. J$eute wimmelt e$ in unferem bürgerlichen
Stechte oon ©eftimmungen, bie ben Schmerpunft in rein innere, alfo nicht
nachjuweifenbe Momente »erlegt, wie j. $>. in bie „2Tbfid)t unb bteÄenntni*
biefer Abflcht". £ie einjige *pianfe, bie auf biefem fumpftgen ©eben ber
®e»i(Tenderforfcf)ung für ben dichter betretbar i|t, tft naturlich auch f>ier
wieber ber 3*ugenbeweiÄ unb wie fchlüpfrig unb fchwanfenb biefe >planfe
ift, bapon weiß jeber ^raftifer ju erjÄblen. 3ur (SrflÄrung biefe* Mißtrauen*
m6ge nur baran erinnert »erben, baß »er 100 3ar)ren, alfo ju einer 3eit
wo ba* Analphabetentum noch bie gewöhnliche (£rfchrinung war, bie granjefen
— nebenbei gefagt, ba* einzige Volf, in beffen ©efe$gebung unb iKechtfprechuna,
lieh ein 9?ad)flang ber genialen r6mifd)en Veranlagung ftnbet1) — fleh a(ö
bewahrte SWenfchenfenner bewiefen, wenn fte, pon ihrer Abneigung gegen
ben 3eugenbewei$ geleitet, bie ©dmftlichfeit ber Verträge — abgefeben oon
©agateUen — jur Vorau*fe$ung für bie tflagbarfeit machten. £eute, wo
jebermann lefen unb fchreiben fann, werben bei und für bie wichtigen
9ted)t*oorgÄnge, beren ©ebeutung oft oon ber ÜBahl eine* befUmmten ©orte*
abbangt, 3eugen oorgefübrt unb wa* für 3eugen! „Sater, SWutter, Schwerer,
©ruber" wie e* im Siebe beißt unb wiberwillig muffen bie (Berichte oft
einem folchen ^artetbegebren ftattgeben, wollen ffe nicht ihre (Sntfcheibung
oon ber formalijtifchen Auffaffung einer beeren 3nftanj befeitigt feben!
©cmi bie ©efe^gebung bie Aufgabe bat, ein 3>olf jur flareren SÄe d)t**
einficht ju ergeben, fo tjat bie unfere mit bem faß uneingefchrÄnften 3eugcn*
bewei* biefe Aufgabe oon vornherein oerfannt. Unb auf ber anberen Seite
erhalt ber @runbfa$ oon $reu unb ©laube eine eigentumliche 3ttuftration
burch bie ©efiimmung, baß bei <Sigentum*übertragung an ©runbjtucfen bie
Verlegung felbft prioatfehriftlicher Abmachungen nicht einmal einen (Schaben**
erfafcanfpruch gewahrt. Les extremes se touchent! Auch unferm ©traf*
recht gegenüber barf bie ftorberung erhoben werben, baß e* ben Grrgebniffen
unb bem heutigen ©tanbe ber *Pfpchologie bereitwilliger entgegenfommt unb
baß e* begriffe befeitigt, beren oerwirrenbe Folgerungen nur burd) o6fligc
Sgnorierung umgangen werben fönnen, wie j. $Ö. bie „freie tfBillen**
beftimmung" be* § 51, bie ben fceterminiften ein ©reuel, ben anbern aber
eine nichtäfagenbe formet ift, bie, wenn ernfi genommen, nur ju pfpchologifchen
^ehlfchluffen fuhrt unb bie ftch fo leicht burd) eine nach allen ©eiten ein*
wanbfreie Raffung erfefcen ließe.
3e feinfühliger ba* allgemeine 9techt*bemußtfein wirb, be|lo fchwerer
wirb bie Aufgabe be* dichter*. STOtt Äußern #tlf*mitteln, felbfl wenn ffe
pon ber größten ©ewiffenhaftigfeit, bem ernfleften $lti$ unb ber belefenften
®efe$e*fenntnt* angewanbt werben, wirb biefe Aufgabe niemal* gel6ft werben.
ffia* not tut ift eine gr6ßere Vertnnerlichung, Vertiefung be* eigenen
') ©rmfint if» tif jieUifHfaf SuNfatur, trnn tit €trafiu(hj bat fi* fcert irtnr|rit al«
tie bitnrntc SHagfc fc« inrfiW bfrrfd»rntfn «trpmunj flfjfigt.
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Friedrich Naumann: Nach Abschluss der Handelsverträge.
317
£enfen$ unb $uhfcn$, SBerfUnbmS für bad fühlen unb £)enfen anberer,
«Oeraudtreten au$ ben ©renjen ber blofcn Sechnif, baä 93erlafien fdjematifdjer
©leife, roeldje Kommentare unb ^räjubijien für bie bequem Itcfyf eit gelegt
haben unb bie gebanffiche 3urucfführung einer Äußerlichen unb gefpreijten
Terminologie auf ihre innere 5ßahrheit! 9?ur auf biefem $ßege wirb bie
SXechrfprechung in ben ©tanb gefegt, ffcf> innerhalb ber ©renjen be$ all«
gemeinen <Red)tben>ugtfetn$ ju entfalten unb befielt Grntroicffung ju firbern
unb bamit, afd eine ebenbürtige J&elfrrtt! ber ©efefcgebung, beren Surfen
unb Stifie au^ufuflen, ftatt fte einfad) bem 2Tuge bloßzulegen ober gar fte
nod) ju erweitern.
£ann wirb auch ba$ häßliche ÜÖort „Älafienjuftij" aud ben 93e*
trachtungen über beutfd)e$ ©ertdjtäoerfahren oerfchroinben! —
Nach Abschluss der Handelsverträge.
Von Friedrich Naumann in Schöneberg.
Posadowsky schreibt:
Endlich ist die Last von mir genommen. Es ist, wie wenn das
Gefängnis sich öffnet und draussen der Mai über den Garten hinzieht.
Soviel Arbeit hat selten ein Sterblicher gehabt. O diese Konferenzen,
diese Eingaben, diese hunderttausend Wünsche, Interessen und Mensch-
lichkeiten! Ich begreife mein eigenes armes Gehirn nicht mehr, dass
es dieses hat aushalten können. Auch meine Beamten haben tüchtig
schaffen müssen. Kein Mensch ahnt, wieviel Gehirn in dieses Werk
hinein gebaut worden ist. Selbst wenn seine Wirkung ungünstig sein
sollte, so bleibt doch der Fleiss dieser Arbeit eine geschichtliche Tat-
sache. Noch keine Regierung in der Welt hat so viel Zahlen ver-
arbeitet. Auf! Die Arbeit ist zu Ende! Was ist alles übrige Regieren
gegen diese Mühe? Und wie leicht hätten wir noch auf Sand fahren
können! Aber in Wien habe ich es fein gemacht. Überhaupt wenn ich
erzählen könnte! Allein die Anekdoten vom Handelsvertrag würden die
Reichsdruckerei beschäftigen können. Die Ausländer dachten, sie
könnten uns etwas von oben herab behandeln. Da haben wir in edlem
Stolze darauf hingewiesen, dass wir uns vor unseren einheimischen
Agrariern fürchten und infolgedessen sehr tapfer sein müssten. Das
haben die fremden Herren verstanden, denn auch sie waren ja aus Ab-
hängigkeit tapfer. Es gibt nichts seltsameres als so ein Verhandeln, wo
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I
318 Friedrich Naumann: Nach Abschluss der Handelsverträge.
man immer sagt: unsere Interessen sind ja im Grunde sehr verwandt!
Manchmal wurde eine Position beim Anbieten einer Zigarre erledigt und
dann wieder waren wir alle steif wie Tapetenblumen. Den alten Russen
muss ich mir ins Zimmer hängen. Prachtkerl! Hatte uns fabelhaft
studiert und musste doch nachgeben, weil die Finanzlage es forderte.
Tragisch! Und der kleine Belgier! Aber ich kann ja nichts erzählen,
denn der Marmorblock soll rein und klar dastehen. In diesem Moment
des Aufatmens habe selbst ich einmal etwas wie Freude am Leben.
Meine liebe Frau ist unendlich glücklich, dass wir endlich so weit sind.
Es ist wie wenn bei uns zu Hause gesungen wurde: Das Haupt, die
Füss' und Hände sind froh, dass nun zu Ende die Arbeit kommen sei!
O wie leicht haben es die Herren im Reichstag und die Zeitungsschreiber
und auch . . .
Bülow schreibt:
Der Vorhang ist gefallen. Eben stand ich noch mit meinem
Lorbeerkranze vor der Menge. Der Beifall hat mich, der ich sonst auf
solche mehr populären Erfolge wenig gebe, doch selbst mit bewegt. Ich
habe angefangen daran zu glauben, dass ich ein fundamentales Werk
vollendet habe. So etwas zu glauben, ist schwer, wenn man es selbst
erlebt. Man macht Geschichte wie man Karte spielt. Plötzlich tourniert
man gut. Das nennt man: er ist ein sehr geschickter Spieler. Mit der
guten Karte sagt man ein Grand an. Wenn es schief geht, so ist man
ein Dummkopf, geht es aber gut, dann kommt man in die Annalen der Welt-
geschichte und alle späteren Sybels und Rankes müssen sagen, warum und
weshalb man es gerade so gemacht hat. Das muss ein schöner Spass sein,
die Geschichte meiner Handelspolitik zu schreiben. Ich werde es
selber nie tun. Wahrhaftig nicht! So etwas muss erst Legende werden, ehe
es Geschichte werden kann. Wozu brauchen die Leute zu wissen,
was ich gewusst habe?! Jetzt heisst es: dieses ungeheure Werk hat
Bülow entstehen lassen. Wäre es missglückt, so hätte man gesagt:
der arme Posadowsky! Überhaupt . . . andere Leute arbeiten lassen,
ist die Grundlage aller Grösse. Nur muss man die Fäden in der Hand
behalten. Das hat der Alte immer getan. Ob er wohl mit mir zu-
frieden sein würde? Zufrieden? Das brachte er ja nicht mehr fertig,
aber ob er mich nicht zu sehr verlacht hätte? Er konnte so ab-
scheulich lachen. Immer wenn ich an Friedrichsruh denke, ist es mir,
als ob es dort am grossen Schreibtisch lacht. Ich weiss gar nicht:
warum? Ich wandle doch in seinen Bahnen. Auch er hätte im Grund
nichts anderes machen können. Unterschiede in der Methode mag es
geben, aber der Geist ... es lacht wieder. Greuliches altes Haus,
das an ihn erinnert! Kein Mensch weiss, worin der Unterschied^ liegt
und doch empfinden ihn alle, auch ich. Er war so schrecklich ernst-
haft bei solchen Sachen. Das aber war doch eben nur sein Temperament,
fast möchte ich sagen: sein physiologischer Zustand. Auch er spielte
ja mit den Dingen und mit den Parteien und mit — aber er spielte so
ernsthaft wie ein Kind mit grossen Augen. Diese Ernsthaftigkeit im
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Friedrich Naumann: Nach Abschluss der Handelsverträge. 319
Spiel kann man nicht imitieren. Selbst wenn ich Handelsverträge fertig
gebracht habe, die niemand für möglich gehalten hat, nach solchem
exzeptionellem Erfolge, sagen die Leute, ich sei ein netter Kerl. Ver-
fluchte Nettigkeit! An ihr wird mein ganzer Nachruhm zugrunde
gehen. Von jetzt an aber will ich den politischen Heldenvater machen,
Bernhard den Siegreichen! O, o, ich bin ja selber wie das Volk! Ich,
ich lache über den Bülow. O Welt wie bist du wunderlich !
Doch im Ernst gesprochen: es ist etwas in der Tat sehr bedeutendes,
was durch mich fertig geworden ist. Mag ich dabei viel oder wenig
getan haben, darauf kommt es nicht an. Die Sache selber ist bedeutsam.
Bis 1918 ist handelspolitischer Friede. Das ist mehr wert als alle
kaiserlichen Gnaden. Nicht als ob ich diese verachte. Keineswegs!
Aber ich habe zu oft bei solchen Gnaden mitgeholfen, um ihnen naiv
gegenüberzustehen. Das Eintreffen der Gnade erfreut weniger als das
Ausbleiben schmerzen würde. Es gibt aber doch Augenblicke, wo man
sich im Metallspiegel der Geschichte betrachten möchte. Da verschwinden
die Titel und Orden. Welche Schafe sind schon dekoriert worden! Was
wird die Geschichte sagen? Ich will denken, ich sei eins der Gehirne,
in denen sich später die Geschichte dieser Zeit bildet. Ich sitze irgendwo
in einer kleinen Villa im Grunewald und schreibe über das Werk des
Grafen Bülow:
»Er war besonders befähigt eine grosse volkswirtschaftliche Auf-
gabe in die Hand zu nehmen, denn er umfasste alle Handelsbeziehungen
mit wunderbarem Weitblick.«
Unsinn! So darf er nicht schreiben. Das ist ja trivial und so
dumm ist der Mann nicht, der diese Geschichte schreiben wird. Ich
fange also noch einmal an:
„Mit dem gesunden Gefühl für das Notwendige fand er die mitt-
lere Linie in der grossen Streitfrage der Zeit. Er korrigierte den ver-
hängnisvollen Irrtum seines Vorgängers Caprivi und behütete Deutschland
davor, ein reiner Industriestaat zu werden."
Das ist besser! Ja, ich halte den Industrialismus auf. Das ist
meine geschichtliche Rolle. Merkwürdig, dass ich so etwas machen
muss. Es passt so gar nicht zu mir, aber — das ist ja eben die Ge-
schichte.
Ein Zentrumsmann schreibt:
Die schwerste Prüfung unserer Einheit ist vorüber. Im Anfang
dieser handelspolitischen Fragen war uns wirklich bange. Es lagen so
viele Fussangeln in diesem Acker. . Man wusste nicht, was unsere
Arbeiter tun würden. Hätten wir niedrigere Zölle heimgebracht, würden
uns die Bauern ausgepfiffen haben. Nun aber ist alles gut. Jetzt gibt
es auf lange Zeit hinaus kein gefährliches Problem mehr. Wir haben
die Sache prachtvoll überstanden. Eine Partei, die das aushält, ist nicht
tot zu machen. Wir haben für alle gesorgt: Der Bauer hat seinen Ge-
treidepreis, der Arbeiter seine zukünftige Versicherung und die Eisen-
fabriken haben ihre Zölle. Je mehr Interessen man verbindet, desto
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Friedrich Naumann: Nach Abschluss der Handelsverträge.
einfacher wird die Sache. Man muss Verwicklungen schaffen, um vor-
wärts zu kommen. Und kein Reichskanzler kann jetzt von uns los. Es
wird zwar etwas Bewegung auf der linken Seite geben, aber sie wird
sich gegen die Regierung richten und diese um so mehr in unsere Arme
treiben. Jetzt sollte Bülow gehen! Der Kaiser müsste einen Kanzler
nehmen, der mit uns ginge! Bülow tut ja auch, was wir wollen, aber
er ist doch zu wenig unser Mann. Man fühlt bei ihm den Weltmenschen,
der uns nur aus Politik dient. Sein Herz ist nicht bei uns, wenn er
überhaupt etwas hat, was man so nennen kann. Er hat seine Schuldig-
keit getan, nun aber ist es Zeit, dass er ersetzt wird. Gott gebe uns
den rechten Mann! Dann sind wir über den Berg.
Es gibt so viel Dinge, die unendlich wichtiger sind als Handelspolitik;
alle materiellen Angelegenheiten haben ja doch schliesslich nur sekundären
Wert. Immerhin ist es gut, dass der blöden Industrieschwärmerei ein
Halt geboten wurde. Man soll uns nicht das ganze Deutschland mit
Fabriken verschandeln. Das Handwerk ist der wahre Volksboden; der
Mittelstand muss erhalten werden. Dort sitzen die tüchtigsten Elemente.
Was taugen denn die Sozialdemokraten? Zersetzung und Ärgernis, Un-
glaube und Widerspenstigkeit! Die neuen Verträge sind vortrefflich als
allgemeine Schule der Demut. Man muss nicht mit Dampfkraft vor-
wärts wollen. Geduld, Gemüt, Gehorsam, das sind die grossen Güter,
die Gott uns gab. Die wollen wir erhalten. Dazu aber müssen wir
uns jetzt den Schulfragen zuwenden. Besonders auf den Universitäten
ist vieles faul. Da gibt es Professoren, welche . . .
Ein Sozialdemokrat schreibt:
Verfluchte Wirtschaft! dass wir jetzt nicht siegen würden, haben
wir gewusst, aber böse ist es doch, die Brotverteuerer in ihrer Sieges-
freude sich wälzen zu sehen. Irgendwann wird es ihnen ja mit Donner-
gepolter heimgezahlt werden, aber es fragt sich nur: wann? Ich wollte
es so gern noch erleben, dass die ganze schnöde Gesellschaft zu Boden
geworfen wird. Wahrhaftig, das wäre ein Lohn nach allen Mühen. Was
haben wir gearbeitet und geredet! Im Reichstag und überall im Lande
haben wir nach Kräften geschrien. Es waren grossartige Versammlungen.
Es war als ob ganz Deutschland ein brausendes Meer werden wollte,
und nun müssen wir doch die Dinge gehen lassen wie sie gehen. Die
bürgerliche Gesellschaft ist stärker als wir es ihr vorreden. Ja, sie ist
stärker als wir selber es glauben. Es mag viel Dummheit in ihr sein,
denn auch vom bürgerlichen Standpunkt aus sind diese Verträge dumm,
aber auch die positive Dummheit ist ein Faktor. 'Was hilft es uns
denn, wenn wir über die Unmoral dieser schmachvollen Handelspolitik
schimpfen? Nichts hilft es uns, nichts! Die Kerle wollen ja gar nicht
moralich sein, gewinnen wollen sie, nur gewinnen! Und der dumme
Tross läuft mit. Was für Intelligenzen haben schliesslich diese Sache
entschieden? Die Mitläufer des Zentrums sind die Regenten Deutsch-
lands. Vor ihnen können wir uns verbeugen: guten Tag, meine Herren,
guten Tag, lasst es euch schmecken, fresst euch satt, wir werden
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Friedrich Naumann: Nach Abschluss der Handelsverträge.
321
hungern für euch! Ich will nicht von mir reden. Mir geht es nicht
schlecht, aber alle die zahllosen armen Menschen tun mir leid. Was
können nur die dafür, dass sie noch schwerer kämpfen müssen als bis-
her? Und auch die Bildung des Volkes geht zurück, wenn nur die
schweren Industrien mit den ungelernten Arbeitern Vorteil haben. Die
Zusammensetzung im ganzen verschlechtert sich. Das ist nun nicht
zu ändern. Wenn ich an Gott glauben würde, müsste ich sagen: Gott
strafe die Bande!
Ein Grosskaufmann schreibt:
Das Geld, das wir zum Handelsvertragsverein gegeben haben, war
eine vergebliche Ausgabe. Entweder es war zu wenig oder zu viel.
Zuviel, weil jede unnütze Ausgabe zu viel ist. Zu wenig, weil es eine
Illusion ist, mit einmaliger Leistung von etlichen Tausendmarkscheinen
das gut zu machen, was wir im langen gewöhnlichen Lauf der Dinge
unachtsam haben verfallen lassen. Wir haben tatenlos zugesehen, wie
der Bund der Landwirte gearbeitet hat. Er hat, kaufmännisch gesprochen,
etwa 5 Millionen Mark verausgabt, um jährlich etwa 150 Millionen zu
gewinnen. Genaue Ziffern lassen sich nicht angeben aber der Sach-
verhalt mag etwa so sein. Das ist das grösste Geschäft, das mir über-
haupt vorgekommen ist. Man konstruiert einen Verein zur Steigerung
der Bodenrente. Für diesen Verein lässt man 200 000 Kleinbauern
zahlen. Zugegeben, dass auch diese kleinen Bauern etwas Vorteil haben,
was ich übrigens noch nicht glaube, so ist doch klar, dass der Haupt-
vorteil beim ländlichen Grossbesitz liegt. Mit dem Gelde wird agitiert.
Das haben wir immer für unkaufmännisch gehalten. O was waren wir
blind! Jährlich 6000 Versammlungen kosten vielleicht mit allen Neben-
kosten jährlich 240 000 Mk. Es können auch 300 000 Mk. sein. Was
ist das gegenüber dem Ertrag? Was wir brauchen, ist nicht einmalige
Schröpfung der Wohlwollenden bei der Wahl, sondern regelrechte Be-
lagerung des Feindes Jahr für Jahr. Kommt das zustande, dann kann
es besser werden. Bei Fortsetzung des bisherigen Dilettantismus auf
unserer Seite wird es nie besser. Aber wer soll es machen? Wir sind
alle so beschäftigt, dass wir für die grössten Geschäfte keine Zeit
haben . . .
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Uunfcf d) au.
4c
IDte neuen £anoel8t>errräge.
„2öer auf bie wirtfd)aftlid)e Sntwicflung Deutfcblanbe' jurücfblkft, warb fid) ber
Überjeugung m'd)t rerfd)lie§en fönnen, bafj 3nbufhrie unb £anbel wäbrenb ber legten
^abrjebnte an Umfang unt> an *Bebeutung fepr erbeblid) |ugenemmen baben. Unter Cent
C5d)u$e tU Sarife oon 1879 unb fetner (Srgänjungen erftarfte aömäbltd) bie beutfdye
3nbufhte unb fe^te ihre (Jntwtcflung jum ©rofcbetriebe fort. Jtvar trat in ben ad?t*
jtger 3°bren bei ben .ßanbeläflaaten bie Senbcuj bererr, ftd) mit beben :]o[U
fdjranfen abjufdjlicfjen unb ber beutfdjen 3"fcu<We ben Äbfag ibrer überfd)üfftgen
@rjeugniffe nad) bem 'Xttelanbe ju erfd)weren. Uber tiefe unfern ^nbufhne
crooence Vfjciapr oe© vtrincrenß tn oer eigenen uoerprecuntott wurce anfange cer
neunjiger 3abre burd) ben 'Äbfdjluf? ber £anbele»erträge im wefentlidjeu befdjwcren
unb burd) jene <£>anbel$oerträgc eine feflc ©runblage für ben internationalen
2Barenau6taufd) für eine längere Üleibe von fahren gefd)affen. ©ettbem nabmen 3n-
buftrie unb #anbel bei und einen glänjenben 2luffd)wuttg."
Diefe Tluefübrungen be* ©rafen 33ülow, mit benen er feine SRebe bei ber 93er«
legung ber «£>anbel»oerträge im SReidjetage begann, mu§ man jld) gegenwärtig palten,
wenn man fein eigenes SBertragärnerf beurteilen will. ($d ifl barin anerfannt: 1. Die
gre&e SJebeutung ber ^ntuftrie für Dcutfdjlanb. 2. Die Sttotwenbigfeit für fie, über«
fdjiifftge Sffiaren ju ejrportieren. 3. Die Sttotwenbtgfeit bed 7lbfd)lu(fed ber (£aprit>ifd)en
#anbel$oerträge. 4. Die fegen*reid)e SSBirfung biefer Verträge auf $anbel unb 3nbuftrie
unb bamit auf unfere ^olfewirtfd)aft, ba mebr ale bie #älfte be© beutfd)en SJelfe©"
ben ©erufeabtetlungen 3nbuftrie unb Raubet angebort. Die mirtfdjaftlidjen ©erbalt*
niffe, bie oor 14 3«bren jum QCbfd>Iuffe ber Verträge jwangen, bauem md)t nur fort,
fonbern baben ftd) nod) erbeb(id) »erfd)ärft. Unfere Q3eoölferung rermebrt ftd) rapibe,
unfere 3nbuftrie unb t'bre <Probuftion$fraft finb gemad)fen, unfer 3ußenbanbel flieg oon
7 auf U iDttdiarben SDtarf, bie fd)U$jöönerifd)en tRetgungen im Xuölanbe ftnb (wobl
nid)t obne unfere ©d)ulb) ftärfer alö je. Srofcbem erleben mir fein gortfdnriteu auf
bem SBege llaprioi©, fonbern eine ©oflftänbtge Umfebr ber #anbelepolüif. Der ©runb
ift befannt: ber (Sinflufj ber „notlcibcnben^ 5anbwirtfd)aft. Über bie 9lotwenbigfett
ober bie SD?bglid)feit ibr mit boben Sdju^jöUen aufjubelten, ifl beim Mampfe um ben
neuen beut|'d?en JiMltanf genugfam geflritten morben. 34 glaube auch beute nod) nicht,
baf man mit rentenflcigernben bi>ben ©etreibejöüen bad wid)tigfte unferer Qtgrar«
politif förbern fann: Die Sdjaffung einer jablreid)en länblid)en iBeoblferung, bie
3urütfbrängung bed öfllid)en ©roggrunbbefile© burd) felbftänbige© Äletnbauerntum.
'Äber ein ©taatdmann, ber oom ©egen bober !2CgraribCle überjeugt war, fonnte ben
Q3erfud) mad)en, im Bahnen ber fQertragdpolitif einen erböbten „@d)u^ ber üanbwirt*
fd)aft/y }u erreichen. 97ur mu§te er ftd) freien Söltcf unb freie £anb wabren, weil er
ftd) im oorauö fagen mu§te, ba0 bei bem Oarfen (frportbebürfniffe unferer Vertrag**
gegner gerabe an lanbwirtfd)aftlid)en Srjeugmffen, bei unferem eigenen flarfen Import*
bebürfnijfe an iWabrungemitteln unb 9tobftoffen, Örportbebürfniffe für gabrifate, biefem
Streben enge ©renjen gejogen ftnb. Dad bat unfere Regierung oerfäumt, bie
C5d)u$jellbewegung ift ibr über ben ftepf gewadjfen, bat ibr mit bem 3oütarife con
1902 bie £anbe gebunben unb tbre ©ebanfen fo mit ben 3been be$ „gefd)lofTenen
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dtunbfdjau.
323
£anbcl$ftaated" erfüllt, ba§ bie SÖegrünbung ju ben .£>an beUccrträgen nod)
fd)u§jöllnerifd)er aufgefallen ift oU tic jum 3«>ütarife. 3J?an ftebt ooü*
fcmmen unter bem 3«an9c Schlagwortes oom „Sd)u(je ber nationalen Arbeit"
unb über tlcbr, cafe (nad) einem Äanjlerwerte oon 1891) „bie Arbeit für ben äufjeren
3Rarft aud) eine nationale Arbeit ift". 9J?an »ergifjt, ba§ im beutfd)en Q(u§cnbanbel
bie (Jtnfubr beute ba$ primäre, baä n>td>tt9fle ift, ba§ Deutfd)lanb m'djt fiir 60
äRtUienen 2Jcenfd)en 93rot, Jleifd), SDfolfereicrjeugnifFe unb fonftige SWaprunge'mtttcl,
£elj, Ceber, Spinnftoffe ufw. beroorbringen fann, unb ba§ unfere 3(u8fubr norwenbig
ift, um biefe Ginfubr ju bejablen. 2J?an fiebt jebe Stnfubr ald ein Übel an unb
richtet fein #auptaugenmerf barauf, biefe jurücf jubrängen, nid)t barauf, unferen tXbfafc
nad) bem Qludlanbe ;u erweitern.
Daber fmb bie neuen Verträge baö" ©egenteit beffen, maS fie bem 9?amen unb
«Begriffe nad) fein foflten. S)er 3ufa$**rtrag l"m $anbel$oertrage jwtfdjeu £)eutfd)lanb
unb Diu plant beginnt jwar mit ben ©orten:
„Seine SDfajeftät ber beutfdjc tfaifer, tbnig oon ^reufen, im 9?amen beä
Deutfcben 9lcid)e$ einerfeitS, unb Seine SDcajeftät ber Äatfer oon Ütuplanb anberer»
feit*, oon bem SBunfdjc geleitet, bie .^anbcUbejiebungcn jmifd)en Deutfd)«
lanb unb 8tu§lanb nod) lebbafter ju geftalten, baben ben 2bfd)üi§ eine*
3ufa0oertraged . . . befdjloffen."
Tiber ber 3nbalt bee" 3uf°§,?crtra9cd ft'M »n f«> fdjneibenbem @egenfa£e jur (Einleitung,
ba# ei fid) nur um ein grobe* Q3erfeben ber Unterbänbler ober um einen febr bitteren 2Bi&
banbetn fann. Die neuen Verträge ftnb nid)t für, fonbern gegen ben #anbel gemacht.
£>a§ bie „möglid)fte Steigerung beö" Sdnifce*' ber lanbwirtfd)aftlid)en ^robufte"
bae" „oberfte ^Jrinjip" ift, wu§te man ja längft. Qlber eine fo auägefprodjene, grunb*
fafclicfje fßerfebräfeinbfdjaft, roie fie bie Verträge unb t'bre SÖegrünbung bewetfen, bat
man fcod) wobl ntd)t für mbglid) gebalten. 3(ud) bie oernünftigften „ftonjefftonen", bad
£erabgeben mit ben 3öu*en für guttergerfte unb SHunbbolj unter bie bisherigen Sä£e,
bat man nur ungern jugeftanben, nur, weil fie „nid)t )u umgeben waren" (Denffdnift
S. 3). Q5on oornberein oerjid)tet b«t man auf ben 93erfud) einer (Jrmäfjigung frember
3oflfd§e überall bort, reo eS fid) um 3lob» unb $ilf$ftoffe banbelt, beren ungebinberte
(Jinfupr nad) Q(nfid)t unferer Unterbänbler im eigenen ^ntereffe bed QSertragSgegnerS,
feiner 3nCuftric ptcr feine* ÄonfumS liegt. Die 9cu£anmenbung auf bie eigenen 93er«
bälrniffe ju jiepen, etwa bie ©erbftoffjötle ju befeitigen im 3ntfrffff &*r beutfd)en
^eberinbufhrie, bie Cebendmitteljbfle im ^ntereffe ber Stonfumenten, fällt ibnen natürlid)
nid)t ein. 3^ woa,* nid)t ju entfdjeiben, ob fie bie fremben Staatsmänner für fo oiel
tummer ober flüger balten, ba§ fie eine autonome (Srmäßigung fold)er 3p^e erwarten,
ober ob fie fid) über bie Beeinträchtigung unferer 3(u£fubr mit bem oermeintlid) nod)
grö§eren Sdjaben tröften, ben ber ©egner fid) felbft jufügt. !Berjid)tet ift ferner aud«
brüeflid) auf alle foldje Äonjeffionen, oon benen anbere Staaten ben gleichen ober
einen größeren DJu^en baben fonnten aii Deutfd)lanb. ') TLii ob nid)t ba« Srftarfen
unferer 3»rt"fku; unb ibrer Ttudfubr bae" ^itl oon ^anbeldoerträgen märe! Uli ob nid)t
bie abfolute 3unabme unferer 93erfenbungen nad) einem anberen Staate oiel roidjtiger
trarc alö bereit "i^crbaltniiS jur (Sinfubr aud britten ^änbern! Hii ob ed für unfere
3nbuftrie ein $roft wäre, wenn anbere nod) mebr unter ben neuen Q3erbältniffen leiben
ale fie felbft!
Sd)lief lid) ift in oerfd)icbenen gätten, fo }. 55. ben fd)meijerifd)en aÄafd)ineniöaen
') 3nfcl9ebfffra btetm bie fcfutfa)fn Sftrtage but<bau« n*d> ni^t« mtgülttge« für tie
funftia.«! erportbrtingungen. 3m ©fäfntfUf ifr |u befftn, taft fcura) bte Crrtrage Irr fremben
Staaten untrrrinanber neeb eine Sceibe von 9}erbefferunjen eintreten werten, fo namentlich
Rumänien grgenubec tureb teffen Vertrag mit Cfterreicb, tiefem gegenüber tureb ten Vertrag
mit ter fccbireij ufw. «ber al« fixeren 1>cfren türfen wir tiefe 0cjfnung nid»t in unfere
Kfcbnung einfrrtlen.
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324
Shintfdjau.
gegenüber, tie fid) für unferen (Jrport teilweife fepr ungünfsig ließen, au*trücflich ju*
geftonben »orten, ba§ man nicht auf eine (frmäpigung ber beiberfeitigen 3ööe ba*
Hauptgewicht gelegt habe, fonbern baß bie Unterbänbler geglaubt haben, „ben von
ihnen ju oertrrtenben 3nterf(Ten am beften baburd) gerecht ;u »erben, ba§ ben Sr«
bobungen auf ber einen Seite gleichwertige (Erhöhungen auf ber anberen Seite
gegenüberflänben". Unb nach ber Sßegrüntung in ber SJlorbteutfchen "Xögem. 3^-
fam e* Rumänien gegenüber nur „barauf an, ben neuen ©ertrag fo ju gehalten,
ba§ bie unvermeiblichen Sinbufjen beiber vertragfchltepenber Seile im richtigen
Verbaltni* jueinanber blieben". QCtfo man mar jufrieben, wenn mau bem ©egner
noch weher tun fcnnte, al* biefer und.
£)ie golge berartiger ©runbfäge ifl natürlich bie abfolute Vernachläfftgung ber
3ntereffen von #anbel unb 3ntu0m. £* mar ja al* felbfrverjlänblid) ju erwarten,
ba§ bie ©ertrag* tfaaten bie Q(bfebr Seutfchlanb* von ber bieberigen Bahn nachmaßen
würben, ba§ ibr ©egenfdjlag bie inbuftrieue ßinfupr treffen würbe. Uber ba§ in bem
9Ra§e, wie e* eine nähere Beleuchtung ber einjelnen ©ertrage je$t jeigt gefchlagen
würbe, bat wobl niemanb geahnt. Satfädjlich finb alle „Schwierigfeiten, bie fid)
für unfere Unterbänbler au* ber entfehiebenen Betonung ber (antwirtfchaftlichen 3n*
tereffen ergaben'', auf Äoften ber 3«tufWe befeitigt worten. Sine natürliche Jolge,
tenn wenn wir ben 7(grarftaaten bie ihrer ©erfd^ulbung wegen notwenbige Ausfuhr
ihrer länblichen ^robufte übermäßig erfchweren, fo jwingen wir fie bamit }u bem
©erfuebe, anbere Quellen wirtfehaftlichen ffioplftanbe* unb finanjieffer SDcadjt ju febaffen ;
ba liegt nichts näher al* bie Sntwicflung eigener ^nbuflric burch hohen JellKtufJ.
©raf Bülow wei§ ba*, aber er fe$t (ich baruber hinweg; unb um fid) au* ber
Verlegenheit ju helfen, jitiert er eine 'Äntwort, bie gürft BUmarcf 1886 bem
ruffifcpen SJtinifler v. ©ier* erteilt haben fofl, al* biefer fld> über bie Steigerung ber
beutfehen ©etreibejötle beflagte: „©einen Sie nicht, unferen 3grar}öflen werben Sie
eine ruffifche 3nfr*fhrie ju banfen haben". SERit biefer 3(nefbote hat unfer 9teich*fanileT
bem 3(nbenfen feine* Vorgänger* feinen Sienft erwiefen. Sr hat ihm aber auch
Unrecht getan. Bi*marcf hat bie ungeheure ©efapr eine* beutfehen £ochfchu&jelle*
für agrarifche (Erjeugniffe nicht nur erfannt, fonbern auch beachtet, (Er hat ben günf«
marfjoll für ©etretbe nur eingeführt al* Antwort auf ruffifche 30Üfte,9crul,3en-
woOte tamit SÄufjlanb jwingen jum Q(bfd)luffe eine* Sarifoerrrage* im 3ntereffe unferer
3nbuftrie. Sr war überzeugt oon ber Slotwenbigfeit eine* erportförbernben ©ertrage*
unb war bereit, um ihn ,u eneichen, mit ben ©etretbejöllen wieber perunter]ugebett.
Bi*marcfä Säten foUte ©raf Bülom fich jum SDiufter nehmen, nicht gelegentliche Be»
merfungen, oon benen man nicht weif?, ob fie ernft gemeint waren.
t)ie Betroffenen wiffen waprfd)einltd) heute jum Seile noch nicht, wa* ihnen
bevorftept, benn weber bie 9tetd)*tag*verlage noch bie Anlagen baju geben volle Klarheit.
Sie fleüen nur bie in ben neuen Verträgen ermä§igten ober gebunbenen 3<>tl|a|e ben
Sä$eu ber alten Verträge uub benen ber neuen (noch nicht gültigen) ©eneraltarife
gegenüber, oerfchmeigen aber alle bie noch jahlreicheren, meifl nod) »»el flärferen
3ollerh6bungen, bie für vertrag*mäf}ig nicht gebunbene «Petitionen bevorftepen. ') £>te
'Äudjüge in ber SWerbb. Qtllg. 3*9- 25 POm 29 • 3«nuar aber finb berartig „frifeert",
ba§ fie vielmehr jur ©erfchleierung al* jur (Srfenntnid ber Satfachen tienen. Von
vornherein falfd) ifl ber ©efichtdpunft, von bem bie Regierung bei ber Darflellung ber
neuen Verpältniffe ausgeht. Um ihre „Erfolge" in recht belle* Cicht ju fe^en, vergleicht
fie bie neuen beutfehen 3°^e, in*befonbere bie neuen 3grariöQe mit ben bi*per
gültigen Sä^en, bie neuen ©ertrag*tarife ber fremben Staaten aber mit ben Säfcen
') Snnrifcprn finb ecUfhlmttgr Girarnutrrf^fUungrn orroffrntliwt werten fett ruffifepm
iarifrt »om «*rurf<b»ruffifcpfn «minr, M f<hirei|trif<hfn unb fcrt 6j*mftAifa>ungarifa)rii »cm
ßanfcfl«ofrtrag«t>frrtne.
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tKunbfd)au.
325
ber neuen ©eneraltarife. Qtber ntdjt gegen biefe fott unfere >t:tf[nc bie neuen ©er-
trage eintauschen, fonbern gegen bie alten Verträge. 9?id>t um bte neuen auto-
nomen Sartfe abjumebren, finb bie neuen ©ertrage notmenbtg tute
abgefdjloffcn worben, fonbern umgefebrt, um fie in Äraft ju fefcen!
Da* ifl ja gerabe ber SBtberfinn ber neueflen ©ertrag$polittf.
©ei einem ©ergleidje ber neuen 3öße mit ben alten irtgt ftcf> nun ein mefcntlicb,
anbere* SBilb, ald H bte 9legierungooeröffentlid)ung malt, fflo biefe oon ©erbefferungen,
oon roettgebenben 3ugeflänbnifTen rebet, ba fürtet fidj in 2Babrbeit eine ©erboppelung
unb ©erbreifad)ung ber 30U<e- 3" 2Birfltd)feit bebeutet nur ber ©ertrag mit ^Belgien
eine ©erbefferung ber beflebenben Srportbebingungen. #ier ifl im wefent(td>en bie
3ctlbel<iflung gleich, geblieben, bie 3abJ ber Sßinbungen aber wefentlid) oergröfjert.
©djon im ©ertrage mit 3talien (leben ben ©orteilen ungefähr gleichwertige 9lad)teile
gegenüber: neuen Sßinbungen ber ©erjid)t auf anbere, ben 30U'cnn<i&igungen $o\l*
erböbungen. 3a, Deutfcfylanfc bat ftd> aud) mit oerfdjiebcnen fünftigen (Jrböbungen
über ben je§igen ©eneraltarif btnaud cinoerflanben erflären müffen (bei eleftrifd}cn
Rampen, Cetncnplüfd), baumwollenen 2Birfwaren, wollenen ©trümpfen unb $anbfd)uben).
SBenn alfo fä)on biefen ©taaten gegenüber, bie ftd> ntdjt mit neuen 3°fltarifen
„gerüflet" batten, benen gegenüber unfere wid)tigflen ^grarjotte wenig ©ebeutung baben,
ber neue beutfd>e $arif fid> ntd)t ale* ©ortrefflidje* >rtrument iur Erlangung günfh'ger
©ertrage bewäbrt bat, fo fann man fid) benfen, wie bie anberen ©ertrage auäfeben.
3n ben allgemeinen SBefh'mmungen ftnben ftd) jwar überall ©erbefferungen ber be«
flebencen 3uft«n&e/ aenn au<*) Regierung manage unbebeutenben ober felbfberflänb«
ltdjen „Erfolge" darf aufgebaufdjt bot 3ber »ad bebeuten biefe fleinen Erleichterungen
bed £anbel$ gegenüber bem SBadjfen ber 3oflfd)ranfen!
©djon im ©ertrage mit ber © d) m e i | fleben ben wenigen 30U*crmc*fn9ungen
fo oiele unb fo crbcbltdje 3©llfleigerungen gegenüber, bafj ber Erfolg eine mefentltcfye
^Beeinträchtigung unferer 3(udfübr fein mu§. 3m ruffifdjen ©ertrage werben burd)
mebrigere 3öße begünfligt ©aren im SBerte oon 2 bte 3 3RiHwnen Rubeln
ruffifcher Sinfubr über Deutfcbjanb. Sagegen wirb oon 30U'erböbungen betroffen
eine beutfebe ßinfubr oon über 90 SMionen SRubeln. Die >Ue ftnb erhöbt
für Sifen um 15 — 40%, (Jifenwaren 100%, (Jrjcugniffe ber Stleineifeninbuflrie
10—80%, 2J?af<hinen 50, 100 unb 300%, elefrrotechnifche 3nflrumente 20%,
©lüblampen 200 unb 500 o/0, robe SBetaHe 50 unb 400°/0/ ©ante 10%, 93aum*
motlengewebe 20—40%, 2BoUengewebe 30%; ebemifebe (Srjeugniffe ftnb teilweife auf
ba* jwei», fünf» unb jebnfaebe bed btäberigen ©a^c* gefleigert. ©on berarrt'gen 3oll»
erböbungen werben betroffen minbeflenä Vi unferer '.Xitffubr in SRafcht'nen, etwa %
ber ebemifeben Sr)cugniffe, gegen % unferer Serrüaudfubr unb 9/10 oon (£ifen unb
(Jifenwaren. Q(u§erbem finb erbeblid) in ÜKitleibenfcbaft gejogen SWetaflmaren, feramifcb.e
3nbuflrie, Ceberwaren, ^oljwaren, ©tein-, Ubren», ^apierinbuflrie, ©alanteriewaren.
9lod) geringer finb fcie ©erbefferungen, nod) erbeblidjer im ©erbältniffe baju bte
©erfd)lcd)tcrungen in ben ©ertragen mit Rumänien unb ©erbien. Der ©ertrag
mit 6 flcrr cid) «Ungarn aber ifl ber fd)led)tefte oon aßen. 9?ur ein paar ganj
f leine jollroiltioncn finb unter bie bisherigen ©ä^e ermä§igt; nur in wenigen fallen
nt ber alte £oü geblieben; fämtlid>e übrigen 1200 Sarifnummem finb erböbt, unb jwar
berartig fräftig erbobt, ba§ tic 9?orbb. Mg. 3*9- f4> 9<rc nid)t getraute, bie ©er«
änberungen iablenmd§ig anjugeben, fonbern ftd) mit Xnbeutungen begnügte.
©d>on auö biefen Änbeutungen gebt beroor, bag fax £anbel unb 3n*>"fW« bte
neuen ©ertrage febr fd)led)t ftnb. 9li(fyt fo febr für ben #anbel, benn ibm bringen fte
in ben allgemeinen 35efh'mmungen mand>e ©erfebrder(eid)terungen, beflo mebr aber für
bte 3nbuflrie. Unb jwar niebt nur für ben erporticrenben $eil, fonbern für bie
©efamtbett. Denn felbfloerflänblid) wirb burdj bie 2Baren, bie nidjt mebr über bie
©renje fbnnen unb nun aud) 3(bfa$ im 3«l<»nbe fuö>en, ein allgemeiner Drucf auf ben
@ül>bcutf4e 2Ronat8$cfte. II, 4. 22
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326
9tunbfd)au.
beutfcben 2Warft auegeübt. Damit ffl aber ben Vertragen allgemein tai Urteil ge=
fprodjen. Die <£rböbung ber beutfd)en Sgrariölle, gegen bie ber goiialpolrtifer
fämpfen mup, wäre wirtfebaftlid) ju ertragen, wenn ber Begeiferung, inSbefonberc
ber 'Ärbetterfcbafi, ein fleigenbed (Sinfommen, b. b. gute Befd)äftigung unb gute Oebne
gefiebert mären. Sine fold>e 93erbefferung ber 3(rbeit*bebtngungen, bie Beladung burcf>
bie 3öffe auf SÄob« unb #tlf$frofFe fönnte bie ^nbufrrie rieüeid)t tragen, wenn ihre
2fbfa§bebingungen günjh'g blieben. Da©" war ja bie große Aufgabe ber 4?anbeUoerträgc,
bie SBerfd)led)terung ber <probuftienebebtngungen burd) «Sicherung unb 93erbefferung be*
Qlbfa^ed auszugleichen. Tin biefer Aufgabe ifl unfere ^anbelepolitif ooflig gefd)ettert.
<&i ifl d)arafteriftijd), baß bie amtliche Denffdjrift unfere ^nbufrriellen über bte
unleugbar ferneren ©d)äben be. Verträge )u tröffen fud)t burd) ben £inmetd auf bte
(£rböbung beutfdjer 3nbufrriejölle. HU ob bamit geholfen märe! Die bttttfdp 3nbuftrie
ifl im großen unb ganjen fo entwtcfelt, baß fie feine« <5d)u§jo0ee bebarf unb gern
barauf oerjid)ten tonnte, menn man ibr ntcf>t fünftlich bie ^robufriondfoflen erbebte.
Sußerbem fommt bei ben ntdjtfarteflierten 3nbuflrien ber $i>tt im greife nicht }um
Q(u#bru(f. 3m ©egenteil fann bie gegenwärtige Sfbfperrung für unfere ^nbuftrie nur
bie „©efapr beä (JrflicfenS in ber eigenen Überprobuftien" bringen. Die Kartelle ber
ferneren 3nbuftrie haben ja in unbegreiflicher QSerblenbung bie $od)fd)uf*}ollpelittf mit*
gemacht, ben Sieg ber Agrarier erfl ermöglicht, ©ie werben in »erflärftem 3Raße
fortfabren unter bem Sdnig ber 30U*e t,c ^Prctfc im Anlaute bed)}ubalten unb bie
ubcrfdjüffe mit £ilfe oon (£rpcrtprämien billig ini Qfoälanb ,u werfen. Daburd) werben
fie wieber baju beitragen, bem widjtigflen Seil unferer 3nbuftrie, ber auf qualifizierter
Arbeit berubenben ftabrifation fertiger, hochwertiger Sßaren, ben Wettbewerb auf bem
ffieltmarfte ju erfd)weren. 9itd)t nur beutfdjen 3ötten, fonbem aud) beutfdjen Kartellen
wirb mancher 7(grarftaat eine ^nbuftrie ju oerbanfen haben!
(£i nü§t aud) nid)tÄ, auf gefteigerten 3(bfa(3 im Anlaute binjumeifen, benn baui
wäre 93orau$fe§ung, baß bie neuen 30u^er&ätoriffe eine Vermehrung beä Konfums
brächten, ©ad ift aber nidjt ui erwarten. Die SDftllionen ber Ärbetterfchaft werben
bei geringerer Befähigung, bei gefteigerten Cebenemittelpreifen weniger fauffräftig für
gewerbliche Srieugniffe fein. Unb aud) auf eine oermebrte Kauffraft ber Canbmtrtfd)aft
ift nicht ju boffen. 3m ©egenteil, bie hoben Kornjööc ftärfen ben @roßgrunbbefi$
gegenüber bem Bauernftanbe. 3ener aber wirft enroölfernb. Die paar 3unfer mit
ibren miferabel gelobnten Arbeitern finb weit fd)led)tere Käufer ald bie Bauern. Deren
wtrtfd)aftltd)e Verbältniffe, bie oorwiegenb auf ber lobnenben Verwertung oon tierifchen
unb ©artenbauerjeugniffen beruhen, werben fid) aber nidjt oerbeffern, wenn bie QEin»
nabmen ber 3frbetterfd)aft lurücfgepen unb ibre Tfufwenbungen für bie notwenbigften
Lebensmittel ftd) fteigern.
TUletem gegenüber beruft man f»<h auf bie bewäbrte „3(npa{fung$fäbigfeir" ; bie
3nbuftrie wirb fid) f<bon „einjuridjten" um (Ten. wie foll fie (td) benn einrichten?!
©egenüber ber neuen 3°^peIaftun9 mu§ Tie an einem anberen fünfte bie
'Probuftiondfoften ermäßigen. Dad fann oießeid)t teilweifc burd) ted)nifd)e unb organi»
fatorifdje QSerbefferungen gefdjeben, im übrigen aber nur burd) einen Drucf auf bie
?öbne ober fonftige 93erfd)(ed)terungen ber Ttrbettdbebingungen. Dad wäre aber bie
fd)(immf)e ^olge ber 3°^P°U^- ®te würbe fid) aud) febr balb in einer Ißerringerung
ber ^Irbeitdleiflung unb !Berfd)led)terung ber beutfd)en Srieugniffe räd)en. Sonfl bleibt
ber 3nbuflric nur nod) ein -Äudweg, um ber 33erteuerung ber «Probuftton, ber «Beladung
be* (frporte* unb ber Unterftüfcung au6länbifd)er Äonfurrenj burd) beutfd)e SÄobftoff»
unb ^albjeugfartede ju entgehen: bad ifr, gabri f ottondftlt olen im TCudlanbe |u
errichten. (&d)on bisher ifl bad otelfad) oon großen SBerfen ber d)emifd)en, eteftro*
ted)nifchen unb Sifeninbudrie gefcheben. Qi wirb in fteigenbem 3Raße fünftig gefcheben
muffen. 97atürlid) finb nur große SBerfe baju imflanbe. QClfo bie neue 3ciIpc-[itif
wirft auf Äonientration bed Kapital« unb ber Betriebe bin unb fdjäbtgt bie flaueren
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SKunbfchau.
327
©eroerbetreibenben mebr, al* alle „9Jftttelflanb*polttif" ihnen bat nü£en fönnen. ©ern
wanbert unfere ^nbirftrie nicht au*, benn bie 9techt*oerbältnif[e, £rbeit*oerbältniffe ufw.
finb weniger angenehm al* in ber Heimat. Eber unfere $anbel$politif jwingt ju bem
Stritte. Unb gerabe in bicfcr ©eiiebung birgt bie jwelfjäbrige Dauer ber
neuen Verträge eine febr ernfle ©efabr. Die SRegierung fann ftcf> gar nicht genug tun
mit ber $er»erbebung be* 9?u£en$, ben auch, bei erböbten jeden bie Söinbung baben
fofl, unb bie Denffcbrift oerfletgt ficf> fogar ju bem ©a£e: ba§ bie 3"buftrie „auf bie
©tettgfett ber 3oöoerbältniffe mit Stecht weit größeres ©ewid)t legt ald auf bie {frage
ber Jßöbe ber firemben 3cüt". Da* ifl junäcbfl auch nur in befebränftem Umfange
richtig, benn ber ffiert ber 3oflbt'nbungcn bat feine ©renje bort, wo bie 3oflfä&e
probibitt© werben. 3(u§erbem finb bei weitem nid)t afle wichtigen 3°ttfä$e «n b*"
neuen ©erträgen gebunben. 3m ©ertrage mit Rumänien ifl nur !/e fccr 3c,&P°f,tiDncn
gebunben gegen V3 ,m bisherigen ©ertrage (tro^bem bie dummem be* Tarife* oon
576 auf 854 gefh'egen finb, ifl bie 3öbt Q5inbungen oon 185 auf 146 jurürf*
gegangen). Unb auch im ©ertrage mit Stufjlanb ifl eine SXeibe oon wichtigen 5ä§en
nicht oertrag*mä§ig feflgelegt, fo für Äoblen, Äofe, Stobeifen, (Jtfen* unb ©tablfcbienen,
Äupfer, 3inn, 9Mei, S3ud)brucflettern, eteftrtfefje ©lüblampen, Q3riü"en unb gernrebre,
©eibe, ftunflmode, Baumwolle unb manche leinenen ©ewebe, #üte, manche SRaucbwaren,
Äerf, 2öein, Äonfereen, fette Öle, ©uttapereba, manche ©teinbilbbauerarbetten ufw.
Xnbererfeitö wirb gerabe burch bie jwölfjäbrige $efllegung ber '.Xnreij jur 'Üuöwanberung
©erflärft. 3rootf 3a&r probibitioer ba* macht bie Anlage einer cprobuftioirtflätte
rentabel, <£* ifl ja befannt, ba§ bie fcefißer folcher gilialen fpdter bie fcblimmflen
©thu^eHner werben. (Sie ©eroierfaebung ber ruffifeben 36fle auf eleftrifcbe SWafcbinen
ifl nicht ebne HJiitwirfung ber großen beutfehen (£leftrijttät**@efcflfchaften erfolgt.) Da*
eigene 3ntere(fe ber Unternebmer wiberfhreitet hier bem allgemeinen 3"tcreffe-
■3 chaten, ber baburch beroorgerufen wirb, ifl bauemb unb fann auch burch fpätere
(5rmä§igung ber 3öfle nicht mieber gut gemacht werben. 3ft crft einmal mit beutfehem
ffapital unb beutfeher ^ntelligenj eine frembe 3nb"ftne bo<hgebrad)t, fo ifl ber ©erlufl
für unfere ©olfdwirtfebaft nicht wieber einbringen. Da* ift ber ©runb, we*balb
©tele 3"l'uft"fQ*/ nicht felbfl au*wanbern wollen ober fönnen, einen furjen 3Dflr"eg
bem langfamen aber fieberen 3u*bungeru burch bie neuen $anbel*©erträge ooru'eben.
'Mio, an ben neuen ©eneraltarifen bürfen bie #anbel*©erträge nicht gemeffen
werben, benn jene finb allein prafrifcb, nid)t möglich,. Hn bem bi*berigen Mutante 9'*
meffen aber finb bie #anbel*©erträge grunbfdjlecht, benn (oon allem anberen abgefeben)
fte erfchweren ungeheuer ba* grögte Problem, beffen Cöfung un* obliegt; für bie oon
3abr ju 3*br um eine SWiflion SRenfchen wachfenbe 93e©ölferung in Deutfcrjlanb Sße«
fchäftigung unb Unterhalt ju fchaffen. Da* @efe§, ba* unter bem ®d)lagmortc 00m
©<f;u$ ber nationalen Arbeit gefdjaffen ifl, wirb bie QCrbeit au* bem Canbe treiben, unb
e* wirb lieh jetgen, ba§ 6aprioi recht gehabt bat: 3Denn wir nicht mebr genügeub
2Baren exportieren fönnen, werben wir wieber anfangen, S0?en|cben ju erportieren.
Sbarlottenburg. Dr. § e i n j Kotthoff, SR. b. 81.
*
fragen bet 5^uenbtlöung.
„Die gegenwärtige (Srjiebung ber jungen SRäbdjen lägt bie berrlidjflcn gäbigfeiten,
bie ihnen felbfl wie un* SKännern bad meifle ©lücf bringen, oerfümmern. 2Ba* für
eine herrliche Beraterin fönnte ber 9J?ann in feiner Jfrau finben, wenn fte ju benfen
oerflünbe! ffienn ich bie Wad>t hätte, @efe$e }u geben, fo würbe ich ben jungen
3Räbcben möglichfl genau biefelbe Srn'ebung angebeiben (äffen, wie ben ftnaben. Senn
auch bie beutige Srjiebung ber Änaben nicht ganj richtig i(l, fo ifl e* boch immer noch
beffrr, bie jungen ÜÄäbchen ebenfo )u erjieben, al* fic nur SRuftf, SWalen unb ©riefen
22»
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328
3tunbfd)au.
tu lehren. Da bie heutige Erhebung ber grauen etcöeidjt bie läd)erlid)jle ©efd)macf«
loftgfeit be* mobernen (Suropa* ift, fo finb bie grauen um fo mebr wert, je weniger
fte biefe fogenannte Erhebung gehabt baben. Da* läd)erlid)fte ber beutigen grjtebung
liegt barin, bap man bie jungen 3Räbd>en lauter Dinge lebrt, bie fic febnefl mieber cor--
geffen muffen, fobalb fic oerbeiratet fmb. Sttur 39"oranten feinben bie Jrauenbtlbung
injKnftio an." Kein SDfenfd) mürbe erraten, mer biefe ©ä§e gefd)rieben bat: Stenbbal.
Der fFeptifdjefte Spifureer, ber und 3(ufieid)nungen bürterlaffcn bat, benft unb fd)retbt
über bie grauenbilbung ganj äbnlid), mie ber moberne Q3orfämpfer ber «Bewegung, ber
ftranffurter ©tabtfdbulrat Silbe Im düngen. Die fed)* Vorträge, bie biefer unter
bem Sitel fragen ber grauenbitbung gefammelt bat (Ceipjig, Seubner) geboren
jum «Beften. ©ie rütteln auf, mad>en 3ttte* firagmürbig, fdjeinbar Utoptfd)e* plaufibel.
3br 3nM* fc*/ moglidjft mit ben eignen SÜ3orten be* Sßerfaffer*, furj angegeben : Da* l'eben
ber jungen STOäbdjen unferer böberen ©efellfd)aft*flajfen ift ein leere* ©etänbel, ein faum
notbürfttg oerfteefte*, entwürbigenbe* dauern nad) «Ballerfolg, ein unwürbige* ©arten
auf ben «Bräutigam, ja #afd)en nad) bem 2Kannc, nad) möglidjft früber Verlobung.
Unferen SRäbcben ift bringenb nötig eine tiefere @eifte*bilbung. ®ie feilen burd) bie
frrenge Sd)ule ber tyflidjt geiftigen Erwerbe* binburdjgeben, follen einen ©d)a$ oon
tiid)tigem, oielfeftigem 5öiffen in ernfter, jabrelanger Arbeit gewinnen, foUen ju ^Jerfcnlid)«
feiten beranreifen, oor beren befonnenem, fadjlid) begrünbetem Urteil aud) ber ©arte
3d)tung bat. SRandje Epe märe bauemb glü(flid)er, bie jc$t unter bem ftluaV ber
giitterbilbung be* grauengefaledjt* leibet. Der 2Rann mu§ fidjer fein, bei ber grau
in regem unb oerftänbigem !Xu*taufd) ber ©etanfen bie getftige 3Hannc*nabrung ju
ftnben, bte er roic bie letblid)e braudjt. Die Erhebung ber Kinber fleQt an bie ttut)d)e
Frauenwelt immer böbere gorberungen. 3mmer mebr wirb bie Butter aud) jur geijtigen
Pflegerin be* Külbe*; barum brauet fie eine ®eifte*bilbung, bie fte befäbigt, bie JUbcit
ber Ktnbe* für bie <8d)ule mit Viebe unb Sadjfcnntni* ;u übermalen unb *u unter«
fhtyen. «Bi*ber mufte bie SWutter leiber in taufenb fällen bem gemieteten gräulrin,
bem bejablten ^rwatlebrer bie Arbeit mit ibrem Äinbe überlaffen. 7Tbert aud) ta*
9Räbd)en, ba* nid)t }um heiraten fommt, braud)t tiefere «Bilbung. 3(1* Ärgtin, vor
allem al* grauenärjtin, al* üebrerin fann ba* mi(Ien*flarfe unb geifteöfräftige 2Beib mit
reid)em ©egen würfen. 9hir orbinärer Egoi*mu* furztet ben SBettbewerb ber grau.
Unfere böberen 3J?äbd)cnfdmlen finb reformbebürftig: eine übergroße 3«bl oon 5Bat<r/en
oerlaffen fic, obne ein flare* SBiffen, ein fidjered Können erworben ju baben, obne an
fdjorfee Denfen, an überlegte* Urteilen gewöbnt worben ju fein, obne «Sinn für flrenge
^Atd)terfudung, obne ernfle* «Streben nad) Vertiefung unb Erweiterung ibrer ^ilbung.
Unb bod) fd)lummert in ber ©eele einer gro§en ü)2enge von 3Räbd)en eine ^üUe von
guten unb eblen Keimen, bie nur nid)t jur Sntwicflung gelangen. Unfer Erhebung**
flanbpunft ifl oerfebrt: Den 3Äann, ber bei oollfommener ©efunbbeit fid) ni«^t ui einem
befh'mmten «Berufe au*gebilbet bat, nennen wir einen Sagbieb; bie $aufenbe »on jungen
2Räbd)en, bie ein inbaltlofc* Drobnenleben fubren, preifen wir al* feinde «Blüten ber
Kultur. Sie oft werben burd) tai elenbe 3(bfonbcruug*prin|ip unferer „belferen"
SO?abd)eninflitute bie guten ©runblagen ber Erjiebung unb «Bilbung jerflört, bie bie
Q3olf*fd)ule gelegt bat! Darum geboren an bie 3Räbd)enmittelfd)ulen nur päbagogifd)
tüd)tige, afabemifd) grünbli(^ gebilbete üebrer. Unfere fogenannten böberen ÜRabcben«
fd)ulen unterfdjeiben fid) oon ben 93olf*fd)ulen nur baburd), ba§ fte in ben Elementar«
fächern weniger leiften al* biefe unb im übrigen etwa* im granjöftfdjen unb Engltfd)en
berumftümpern; böd)flen* werben bie armen 3J?äbd)en oon fd)led)ten t'ebrem mit unfinnig
oiel 9^emon'erfloff gequält. — E* finb emfle «Bilber, bie SDtlbelm düngen un* }eigt,
unb ernfle ÜRabnungen, bie er an un* rid)tet. Der je^ige ^uilant' ber graucnbilbung
iO unbaltbar; e* tfl Pflicht eine* jeben, naa^ Kräften ju feiner «Befferung beizutragen.
iDIündjen. 3- ^»of milier.
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SRunbfdjau.
329
Vom forrfd)rittlid>en tnufifueremamtcbel.
Sieben bem „ffiiener afabeimfdjen SBagneroercin" beben fid> on ber fd)6nen
blauen Donau feit fur}em ein „Anforgeoerein" unb ein 93eretn fd)affenber SonfünfHer
aufgetan. HÜe wollen bem muftfaltfd)en gortfc^rt'tt btenen unb glauben bie* oermutlid)
burd) 3etf">'*ttetui19 ber Äräfte am wirffamften erreichen |u fönneti. Anberenortö jagen
ftd) ein £ugi> Söolf», ein Q3rucfnerbunb unb womöglich ein ©metanaflub bie 3"börer
unb bie auflfubrenben Sänger unb Snfrrumcntaliften «b. AuS ©erlin fommt bie 9?ad>
rid)t »on ber ©rünbung einer Ci#jtgefettfd)aft. ©ie will, read an fid) gewiß böchft
oerbtenfHid) ift, neben ber Cöfung funftlerifdjer Aufgaben fid) bie Hebung ber fojialen
£age ber 3J?ufifer angelegen fein (äffen.
9ted)t fd)ön. 'Uber mußte, um berartige gute 2Berfe in Angriff ju nehmen,
fd)led)terbingd roteber ber große Apparat ber 93erein*grünbung in Sätigfett gefegt werben?
£aben mir benn nid)t ben „öligem einen beutfdjen SWuftfcerein"? 93on £i*jt
begrünbet, im Sinne bte|cä SDieifterö burd) berufene Sonfe^er unb Dirigenten unferer
Sage weitergeführt, ift er bod) fojufagcn eine burdjaud red)tfd)affene ei$jtgefcflfd)aft,
bie, bei einer in aQem 2öefentlid)en beftenS bewahrten unb baju eine? mannigfachen
3(u$baud fälligen Organifatton, aud) tbrerfeitd ftd) mit ber „£öfung fünftlerifcber Auf«
gaben" fortfd)rittlid)er 9?atur ju oiclfacber Skfriebigung befaßt bat, unb bie, menn fte
wollte, inSgleidjen für bie SBefferung ber materiellen 93erbälrntfFe ber SBufifer rcd)t
fräftig unb fegenÄreid) iu würfen imftanbc märe. 2Ba$ foll man fid) nun baoon für
einen 9hn)eu oerfpredjen, baß je§t bi« auf »eitere« — boffentlid) nid)t für alljulange
3eit! — jmei CtejtgenofFenfcbaften nebeneinanber befteben werben, beren beiberfertige
93orftänbe fid) vermutlich alle« erbenfliebe juliebe tun bürften?
„Daä ©ebeünnid ftarfer unb bauernber ßrfolge" — fo fdjrieb id) cor jwei
Sabren in ber „SRufif" — „rubt beutjutage in einer einheitlichen, wetroeriweigten,
feftgefügten, auf 3<*bre "«b länger binauä gefidjerten Organifa ti on. Sfr fennen
bie politifd)en Parteien, bie juft burd) planmäßig geförberten emftgen Ausbau einer
fold)en Organifatien ju gewaltiger 3Rad)tfte(lung emporgemad)fen finb. Abnlid) im
fokalen, im inbuftrietten ?eben SuropaS unb Amerifad. 2öa$ ben (Sinjelnen jurücf*
wirft, mag fleiue ©ruppen nid)t befiegen, bad bejmtngt bie ©enofFenfdjaft, bie baburd)
erftarft, baß bie ibr jugebörigen lofaleu 5Jerbänbe oerfdjiebener Orte fid) wcdjfelfeitig
frühen, ffiarum oon berartigen Q3orbilbem nicht lernen, warum fid) beachtenswerte
Srfabrungen nid)t junu^e machen?"
3n jeber einigermaßen größeren Stobt Deutfd)lanb$, Deutfd)*Ofterreid)$ unb ber
beutfdjen Schwei} müßte fid) eine Ortsgruppe beä „Allgemeinen beutfd)cn
SRufifoereind" bilben, bie ald Zentrum ber fertfd)rittlid) mufifalifd)en ©eftrebungen
be$ betreffenben OrteS, bejiebungämeife ber um biefen geiftigen Stern gelagerten ^rooini
ju gelten bätte. Denn in einem Allgemeinen bcutfd)eu SDfufifoerein ift für jebwebe
Arbeit 9taum, bie ein 93orwärt$geben bebeutet unb eine (IntwtVflung oerbeißt. SDfit
SHü(ffid)t auf ein unumgänglid) notwenbige« (Sinfparen unb 3ufammenf äffen ber
Äräfte finb fomit bie Orttwertretungen baju berufen, alle nod) beflebenben, oom
gortfd)ritt*geifl burd)brungenen Sonberoerbänbe gemiffermaßen in fid) aufjufaugen . . .
aud) bie ffiagner* unb bie ftSjtoereine, bie mit ber Durdjfübrung ber ibnen ebebem ge-
sellten, burd) ibren SWamen bezeichneten $eilaufgaben ju Snbe gefommen finb unb
baber gegenwärtig nur nod) ein €d)einbafein fubren . . . $inwieberum ift ed nad) bem
^>er}en $ßagner« unb £t$jtö gebanbelt, baß man begabten 3onfe§ern, bie neue ^fabe
fud)en, e$ ermögliche, fid) burdjjuringen, fid) bei ber 6ffentlid)feit ©ebör )u oerfd)affen.
Unb oiel energifeber alss ein auf fdjmale ginfünfte unb auf eine mebr ober weniger
befdjeibene $etlnebmerjabl angewiefener ^ugo Solf» ober Anforge«, «Pft^ner- ober
SRegeroerein fann baju bie große ©emeinfdjaft be* „Aflgcmeinen beutfdjen aWuftfccrcin*"
mitbelfen . . .
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330
SRunbfdbou.
©erabe im fortfcfjrtttltrfjen Sager ift bisher mit bem 3Cuf« unb Xbrüflen oon
©pejialoeretnen fträfltd) ot'el Seit unb SÄube oerloren, fhräfltcb ©iel Q(ufwanb unnuu
oertan worben. SWan madje eS ftrf> bod) enblid) einmal flar, melier aujjerorbentlid>e
SRugen für fortfd)rittlid)e SBeftrebungen jeglicber 3rt barau* ermadjfcn mu§, wenn fid)
beren Präger einer auf ©ruttb meitberjiger 3tnfd>auungen com bocbjlnnigen felbftlofen
CiSjt ini Dafetn gerufenen, feftgefügten, einnaipretehcn Organisation eütorbnen. Unb
foHte mtrflicb, wie mein greunb (Sblobwig ©enffauer meint, ber unausbleibliche, über
furj ober lang bod) erfolgenbe 93erfd)meljung«proiei? einftwetlen wieber etwa* in*
^toefen geraten |em, weu oerjcniecentucne veute mtt gutgemaitetem 'prwateprgctj
fd)led)terbingd oor einigen SBufenfreunben unb »freunbinnen eine @olooerem*fabne
febmingen wollen: nun, fo tonnen ja biefe regfamen ©eifter aueb in „Ortsgruppen"
be$ „Qdlgemetnen bcutichen SWuftfoeretnÄ" ä discr£tion profitieren, parabieren, birigteren,
unb, wenn bamit eine arme ©eele nod) im legten 'Äugenblicf ibrcö SrbenbafeinS für
ben gortfdjritt ju gewinnen ift, meinetwegen aud) bie Saften fd)lagen.
'Ätten grnfted: e$ täte bitter not, ba§ bie ebrlidjen $ortfd)rttt$freunbe in ftraffem
3ufammenfd)luf? ipre Äraft oerboppeln! Enjeidjen ber C'aubett, ber Srfd)laffung, ber
fatalen Äompromi§gemütlicbfeit fmb manchenorts mabrjunebmen. 3(ud) gefdjefte Ceute,
aud) intereffante 2Kut"iffd)riftfteöer, bie einft mannbaft für bie neuen $beale fämpfien,
beginnen mit bem begriff SReaftion ju fofettieren. 2Benn nur nidjt bad ©piel über
bie ©pielenben £err wirb! Tfudgenüfcte gormen finb aflerbingS tud)t frifd) aufjubügeln.
Unt jurücffdjrauben läfjt heb bie ftunft nicht. !Xber oberfläd)ltd) machen. ©djon be-
ginnen bie IMniifter, bie Obnüfementöbubler, bie ©d)ön - unb >8rettfcbmäßer, bie ben
üWaffenoertrieb leichter fflore begünftigenben Agenten ibren Äopf wieber böber ju tragen,
nach bem fie etliche 3eit über red)t gcbucft umbergegangen waren. ©d)lie§en ©ie feft
bie SRetben, meine sperren gortfcbrittler, bie ©te ber ©adje bienen wollen unb fönnen!
„Habt adjt, ei brob'n und üble ©treid)'!"
9JKind)en. «Paul 3»arfop.
*
£ut>wtg <Ban$l>ofev6 Äoman ,,3Der <$>o(>e Bc^etn".
3m erften ^abrgange ber ©übbeutfeben 2Wona«befte burften mir ©angbofer*
3ägertppen oeröffentlicben : ben „9)?ad)tnir", ben meland)olifdjen 3od)ei ©djuemacbo:,
ben adejeit ftotternben Q5ad)maper. -öeute fei ein wenig oon bem neueften Fontane
bed QSerfafferd bie 9lebe, oon ber fünftlerifd>en ©attung ju ber er gebort, oon ibrer
Aufgabe unb ibren Hoffnungen.
„Der Hobe ©djein" (2 SJ3bv Stuttgart, 93erlag oon Äbolf 55on| & Gomp.) —
fo bei^t ber SBerg, tu beffen gilben fld) bie Sntwicflung beS jungen 9?aturforfd)erd
Salter iporbammer ooQjiebt. Sine (Sr)iebungdgefd)icb.te alfo, wenn aud) nicht gan) in
bem ©inne, wie baö 2Bort auf oerfd)iebene 9lomane ber aderle^ten jett anwenbbar ift.
dlid)t aufbring(id) unb felbftgefällig aufgepu^te Ttutobiograpbie, ;n beren ^erfonlid)fetten
ber ©tabtftatfd) ben ©d)lüffel liefert, fonbern rubige (Sntwicflung eine« mit fid) unb
bem Ccben jerfaOenen 3KenfcbenfinbeS jum SRanne, eine* müßigen ©rüblerd |um tatigen
Sanbwirt, eine* einfeitig naturwiffenfd)aftlid) gebilbeten gad)menfd)en jum fünftlcrifd)
empftnbenben 33ottmenfeben. dli&)t, ale ob ed ftd) um ein SBerf banbelte, wie baö
„©inngebiebt" ober ben „SRadjfommer" ; man erwiefe ©angbofer einen fd>lecbten Dienfl,
wollte man burd) unangebrad)te 93ergleid)e feinen „Hoben ©djein" bem ©enre entrüefen,
ju bem er nun boeb einmal gebort: ber UnterbaltungSliteratur. Dad fd>recfli(be Sort
ift auÄgefprod)en : Unterbaltungdliteratur ! Unterbaltungdmufif ! fceüiabe fo oeräd)tlid>
Hingt ei, wie „3nbaltSmalerei". "XU ob ei nid)t ebelfteS SRed)t bei Äünftlerd wäre,
un£ ju unterbalten. 3a gerabe ald ob ei ein Vorwurf wäre, wenn ein Serf uni
unterbielte! Tili ob bie Langeweile, bie ei auSftrömt unb oerbreitet, bad Äennjeidjen
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9Uinbfd)au
tue wahrhaften Äunftwerfd wäre! Soburd) ifl ber franjöfifdje unb englifdje Vornan
}u einer refpeftablen ©artung geworben? Durd) ben fletigen Äontaft mit einem ge*
bilbeten ^Jublifum, burd) bie Sflotwenbigfcit, ju unterhalten, gebilbete SRenfcben auf
gebtlbete Seife ju unterhalten. Si la poesie raisonne, eile nous est une fatigue
comme la vie meme. 3Ran foffte bie unoerwüfllicbe C'ufl ju fabulieren in unferer
langweiligen xJ,cit nicht unterfd)ä$en ; foQte nid)t ben al teilen unb urfprünglicbflen @bren»
rttrl bed epifdjen Srjäblerd, bafj er und unterhalt, ihm tabelnb oorbalten. 93on jebem
•8d)riftfleller ju »erlangen, bafj er obne bie geringfle 9tücf|ld)t auf ein ^Jublifum febreibe,
beifjt, von jebem »erlangen, bafj er ein ©ente fei. 3(ld ©enie aber bättc er bad Sledjt,
aud) oon jebem Cefer ©enialität ber SRejeption ju forbern. Gd tjl jebenfadd nid>t bad
fd)led)tefte «Publifum, an bad ©angbofer fid> wenbet: ein «Publifum, bad ©oetbe liebt,
unb jid) bafur intereffiert, wie ein junger SDfann langfam bie ibm biß babin unbefannt
gebliebenen Serfe ©oetbed in fich aufnimmt, wie fic in ibm gleidjfam }u quellen unb
ju rumoren anfangen ; roie ein junger ßanbpriefler oom ©oetbebaffer jum ©oetbefireunbe
burd) fdjmered innerlid)ed (Srlebnid fid> burdjringt; wie eine Suffübrung ber 3pbigenie
auf Saurid ben Reiben unb feine ftreunbe in barmlofe unb ernflbafte gäbrlicbfeiten
bringt; teie ein paar bauptfläbtifcfa ©cbaufpieler fid? in übermütiger Saune ju einer
Stornieren Gruppe jufammentun unb bie 9<amen bei ffiilbelm SRetfler annebmen;
roie cntli* ber oornebme Jrembling, ben fte mit jtd) ald fr'ebbaber genommen haben,
bie aftbetiuhe Seit bei Sdjeined in 9tealität umfeßen will unb babei ein junged
blübenbed ©efeböpf jugrunbe rietet. Senig nur ifl oom 3ntrigenapparate bed alten
dtomaned im 42>oben <5d)eine ju oerfpüren: bie eben erwähnte (Jpifobe mit ber armen
fletnen Dtfannerl gebort oiefleid)t baju, fomie bie @efd)icbte mit bem ©onnweber. Der
©ennroeber bat oor oielen 3«^en bem gorflmeifler ein paar taufenb ©ulben 3mtd»
gelber geflogen unb ben ©erbadjt auf bem Jorflmetfler ruhen (äffen ; ifl injroifcfyen
angefeben unb bech beliebt geworben, .£>audfreunb bed SBefloblenen, ber fdjonfle 3Rann
im Orte, mit rounberfd)ön tiefer ©timme, immer reblid) bemübt, ben 93erbadfjt bed
^orthneiflerd auf beftimmte ^erfonen ju lenfen; erfl ba ber Qttte ftirbt, refhtuiert er
bad ©elb, obne jeboeb feine ©cbulb ju befennen. £ier bat ftcf> ©angbofer ein rounber*
ootted 2Äotio entgeben laffen. Sr bätte jeigen fönnen, wie bie erfle fd)ltmme $at bem
Säter aud augenblicflicfyer 9lot ju SD?itteln oerbilft, roie er ftd) ju einem moblbabenben
SCRanne emporarbeitet; wie tüd)ttgeä Streben unb bie 3<fjtung ber anbem ibm Q3e*
rubigung bei ©ewiffend unb ©emiffendpein jugleid) geben; roie er in barter treuer
Arbeit Qtnfeben unb ©lücf fid) 55rocfen um Sbrocfen oerbient; roie er bem Q3eftoblenen
roerffräftig ler roaeferfte Jreunb wirb ; roie fo aui fd)lmtmem Steife bennod) ein gefunber
©tamm erroädjft : Ttnjengruber batte ftty bai Wlotiv nid)t entgeben laffen. Die 3ronie,
mit ber ©angbofer ben SRann malt, fällt aud bem $one. Deflo feböner ifl bie Qfpifobe
mit bem ÜRoodjdger, ber gerabe aud bem Juctitbaue fommt, unb bem ber Jöclfc ju
'Arbeit unb ©elbflacbtung oerbilft, fogar jum qliuf liehen Q^inrenfen bed unoerbient
graufamen ©efcbtrfed ber früberen ©eliebten. Sd gebt ein erquiefenber unb fonniger
Cptimidmud burd) bad ©ud?, ein frobed Vertrauen auf bie bem ÜRenfdjen angeborene
©üte, bie burdj feblimmed ©efdjirf nur oerfdjüttet, aber nie oernid)tet werben fann,
fonbern rein unb rubig aufglänzt, fobalb nur ^ dy.it: unb Unrat oon milber $anb ent»
femt wirb. Dadfelbe fd)öne SBertrauen auf bie menfd)lic^e ©üte jet'gt bie Senbung im
libarafter bed jungen ©eifllid)en. Dad g(ei<bmd@ige, itnlhühc Gebogen bed i&ud)ed
wirb nur burd) ben 2ob bed SWannerl unb bed f leinen ißuben jerflört: hotten bie beiben
Äinber |. tß. bem ©onnweber gebort, fo wäre wenigflend eine tÄrt fataliftifd)*tragifd)er
Äompenfation oorbanben gewefen. Dod) wir wollen und baburd) ben ©enufj an bem
Serf ald ©anjed nicht oergällen laffen, fonbern und freuen, ba§ bie erbaltenben 9Räd)te
bei 3Äenfd>enlebend in ibm oerberrlidjt werben: tätige 9J?enfd)en liebe, bie bem ©efaflenen
freun t lieh bie flarfe -öaut reid)t; rubige (Sinfac^beit lautlichen bebend unb bäuerlicher
Arbeit; Dulbfamfeit gegen frembc Meinung unb anberer Sefen; bie Äunfl, bie aud>
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332
SRuntfdjau.
in tte borfliche SBelt noch ibren oerflärenben ©lanj wirft; bie gamilie ald ©runbform
unb ©runbooraudfefcung menfdjltcrjcn ©lücfeä; bie SRatur, in Inen betlenber Duelle
ber ffiunbe ftd> gefunbbabet. <$d fteeft ©iel Arbeit in bem .Buche, unb ein fd)öned
3iel ift mit einfachen gefunben Atteln würbtg erreicht, »olrdtümltch im heften ©tnne
bed SBorted, wirb ri auch ben gebilbeten i'ffcr feffeln, für bat cd junäd)ft benimmt ift.
(£i ift erfreulich, bog @atiqbi>fcr fo barangebt, bad im „®d)lo§ $ubertud" begonnene
ffierf fortzuführen, unb Sttenfdjen« unb ©tofffreid bed ©ebtrgdromaned }u erweitern,
)U bereichern unb ju »ertiefen. Die SKomanliterotur wirb burd) ©pejialiften eine*
befrtmmten ©ebieted unb einer begrenzen ©attung nur geförbert; bad lebrt und jeber
•Blicf in ben Äatalog ber $audmi$«(Sbition. 3n biefem ©inne mag ©angbofer froh-
gemut fid) einen ©pejialiften nennen (offen, unb ftd) bed SHamend ebenfo, mie wir
feine« neuften -Bucr/ed, aufrichtig freuen.
9Jtönd>en.. 3. #ofmtller.
*
23ud?er bev Weisheit unb @4>ont>ett.
Sir machten mit 'Dtecbt ben Tranen., ber in prunfooüen Schreinen üppig
gebunbene Bücher jur ©d>au ließt, oon beren 3nbalt er feine Atmung bat. JBir ftnb
nachgerate aber auch fo weit gefommen, bafj mir ben Uferen belächeln, ber am liebften
feine SBeübeit aud abgegriffenen ©chartefen beliebt. 2Bir |lnb und bewußt geworben,
baß ginflang oon 3nbalt unb gorm mie jur 93erfchönerung bed bebend fo auch jur
©ereblung tri ©emüted beiträgt. 2Bir freuen und, febone grauen in ©ewänbern ju
feben, bie ibre tReije beben, wir lieben ri, eble Seine auß fetngefdjltffenen ftriftall«
gläfern ju genießen unb befi$en ebenfo perlen bed ©d)rifttumd gerne in ebler SBud)«
faffung. Die oorgefchritteue -£ed)nif tri SritaUexl geftattet folgen Curud nid)t aud*
fd)lie§lich ben SReidjen. Sine neu oeranftaltete, junädjft in einem Dufcenb «Probcbänben
»orliegenbe (Sammlung oon SBerfen ber Weltliteratur, bie ben ftoljen $itel „-Bücher
ber SBeidbeit Unb ©d)Önbeit" l) fuhrt, bringt und nad) biefer Stiftung wieberum einen
Schritt eorwärtd. Da haben wir hübferje 2(udftattung ebne Uberlabung, guten Drucf
mit angenehmer SJlaumoerfchmentung, gefchmaefooflen «Bud)fd)mucf oon granj ©raffend
erfinbungdreicher Äünftlerbanb. t)ic ffiabl bed 3nbaltd ift nicht, wie bei ben meiften
cerarrtgen urtxernepmen, oon oucopancien)a)en ^cHcnr&punrien aus gerren/en, rragr oiei-
mehr bad ftarf perfönlicbe ©epräge bed #eraudgeberd. gafld fid) ber Leiter bed Sürmerd
aud) bamit, wie mit feiner 3eitfd)rift, oorwiegenb an po|ltie*chrtftliche Äreife wenben
miß, fann man ed wohl jufrieben fein; benn ed ift ber befte 2Beg, um biefe aud ben
•Banben ber Sinfeitigfeit ju befreien, ©ewiß aber wirb bie ©ammlung aud) fonft greunfce
gewinnen. Die ^eilige ©d)rift unb Äant eröffnen ben 3tcigen, in buntem 3"ge folgen
SWontedquieu, bie 93rübcr ©rimm, ber lofe ©pötter Curian, ber berbe Äapujinaben-
mann Qfbraham a ©anta (Slara, iDtanm ©orfi ald 92ooeQift. Unb bann ein paar Un«
befannte: ber alteng(ifd)e Dramatifer Philipp SRaffinger mit feinem „^erjog oon 3)?ai«
lanb", ein cerfchotlener Didjter namend Äarl greiherr oon girefd, für ben @rottbu§
perfönlid) um Teilnahme wirbt. 9Ran muß biefen fd)on 1871 im 43. Cebendjabre
rjeritorpencn JlurlanDer tn Der «tat ale ein itartee Talent anertennen, Dem Ca» jartelre
lorifche ßmpftnben, bad fittlicbe ^athod bed ©atfriferd unb ber SßaUabenton gleicher-
maßen ju ©ebote ftehen, ber aber bei cid er fprad)lid)en Tfudbrucfdfahigfeit bod) nid)t
genug «Befrimmtheit in ber DarfteQung unb Sicherheit in ber gormgebung beft^t, um
ben Htamen eined furlanbifd)en Ublant rcüaut ja oerbienen. SRan fann ja Darüber
geteilter Anficht fein, oh gerate unter „«Suchern ber 2Beidbeit unb ©chönbert" eine
») «ßfrau«8f9rbm oon Scannet 9m\l ^rrihm oon ©rottbu^. «Drurf unb «ftlag oon
©rriner & Pfeiffer, «tuttgart.
3tunbfd)au.
foldje Itterarifd)« Sotenerwecfung am redjten ^lafce ift, unb mebr nod) wirb t>tetlrid>t
bie QCufnabme be* itea(tfh'fd>en ©onberling* Bogumil @ol& auf ffliberftanb flogen.
2(ber anbrerfeit* barf gerabc ba« fceftreben be« £erau*geber«, neben allbefannten unb
allgemein anerfannten grieugniffen M ©d)rifttum$ aud) oon ber breiten £eerftra§e
SMtegenbe« ;u bieten, tXnfprud) auf Danf erbeben. ©d)lie§lid) mu(?te fein perfönlid)er
©efd)macf ben 3(udfd)lag geben, unb bad ganje ©dncffal bee* Unternebmenö wirb oon
tetn iDcape bei QSertrauenä, ba* man ihm entgegenbringt, abbängen. Dtefed Vertrauen
bui& fid> aud) auf bie ©d)ar oon ©rottbufc1 STOitarbeitern audbebnen, bie im einjelnen
bie ^udmabl oorgenommen unb bie 93änbe mit biegrapbtfd)=fntifd)en Einleitungen »er«
feben baben. 9J?an wirb ben faft burdjmeg waltenben ©runbfafc ber Tfuöwabl biOigcn,
fobalb man ftd) barüber flar ift, ba§ man 95üd)er mrf)t blo§ |um tßefi^en, fonbern jum
£efen erwerben fott, unb bafj bie überwiegenbe SDfebrjabl weber imflanbe ift, umfaffenbe
2Bcrfe in oodem Umfang ju bewältigen, nod) felbft 3uö(efe ju balten oermag. SD?and)er
wirb fid> leidjter entfd)lic(jen, bie Äantfdjc Äritif ber reinen Vernunft, wenn fte auf ein
drittel gerurjt ift, a(6 im Criginalc ju ftubieren, unb 93elebuugäoerfud)e, wie ber mit
fcogumil @ol$ angeftellte, befommen erft burd) gefdn'cft getroffene auämabl ibre 03e*
redjtigunq. Q(uf ben gebbrigen Saft fommt cd freilid) babei an. %m Durd)fd)nitt baben
bie Herausgeber ibre ©ad)e gut qcmacbt. 2öad aber bie £auptfad)e ift: bie ganje
Sammlung ftellt ftd) bid je§t ale" eine gefd)loffene Sinbeit bar, bie, wenn bie gortfd)ritte
ben Anfangen entfpredjen, fdjon für fid) eine begebren$werte £au$bibliotbef bebeutet.
Stuttgart. SHubolf Ärauf.
*
Hauptmanns £Eltja.
Der ©rillparjer*$rete beftebt feit breifjtg fahren unb ift bi* je§t adjtmal per*
geben morben. ©efamtfummc: jweüinbbreifcigtaufenbad)tbunfcert Ärcnen. ©erbart
Hauptmann bat ibn breimal erbalten : oieriebntaufenbfed)$bunbert Kronen, gaft bie Hälfte
ber ©efamtfumme. Jffienn irgenbein bcutfdjer ©djriftfteller, batte Hauptmann allen
©runb, ©rißparjer banfbar ju fein; ben SERann unb fein 2Berf ju refpeftieren ; ibm
peftbume Umbrebungen ju erfparen.
Senn aber je fein Örgeij ben ©d)lefter trieb, in irgenbweld)em Sßerfe ben
©puren ©riOpaner* nachfolgen, fo mufcte er ftd) felbft fagen, ba§ feine ganjc Äunft
unb fein ganjer gleh} aufjubieten waren, ©eine ©elbftadjtung mufcte ibm ba$ fagen:
er burfte feine fd)led)te ©abe opfern. Sttiemanb jwang ibn, ©riUparjer )u bulbigen.
$at erd aber au* freien ©tiefen, fo mufjt e* eine* Didjterä, nid)t eined Siteraten
^ulbigung fein. Die 'Aufgabe aber war flar: bad Sftberfragment war )u ooflenben.
Hier fonnte ber leid)t 3(nregbare ieigen, wie tief er in ©ritlparjerö bid)terifd>eg Sefen
eingebrungen fei, wie febr ibm geiftedoermanbt, wie wert bed «Preifed. Dem rubdofen
Srperimentator, befTen QCnfdjmiegungdtalent an frembe« ©enie felbft feine greunbe fdjon
nad)benflid) ftimmen fonnte, mugte ed gern geübte Äunft fein, ©rillparier* Sorfo au*-
^ugeftalten; ibn grittpanerifd), nicht bauptmannifd) weiterjufübren unb ju befd>liegen.
<£r bat e* eorgejogen, ©rillparjer* ©fr/auereTjablung „Da* Älofter bei ©enbomir"
ju bramatifteren. Sine allgemeine SÖcmerfung über $beaterbearbettungen erjäblenber 2Berfe
fei erlaubt: 33on ibnen gilt, wad ber beilige granj oon ©ale* oon ben ©djwämmen
unb ben Sänjen fagt: bte beften taugen nid)t«. @* gibt eine einjige Dramatifterung,
bie auf ber Höbe ber Srjäblung ftebt: Obnett Hürtenbeft^er. |ner finb Drama unb
Sloman gleid) fd)led)t. Sine %tit allerbingd, bie in bad Drama unbefümmert bie
tecr/nifd>en 30?ittel ber 9?ooeöe berübemabm, war nur in tbrer Hxt fonfequent, wenn
jte bie „Hönblung*"fteßen, bie Qtffeftfjcnen einer SRooefle ;n einem $beaterftücfe oer*
arbeitete, ©o bat SHidjarb Q3o§ ben 3ürg Senatfd), SWoman SBörner bie SRid)terin oer-
arbeitet, um nod) relatio anftänbige Bearbeitungen ju nennen. 95on ben fdjltmmeren
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334
JHunfcfdjau.
feien nur ein paar SWamen ermäbnt: bie fd>auberbafte 93erftummelung von Solftoi* Euf*
erftebung burd) §. Q3ataifle, ber 9?c#lerfc^e Trompeter oon Säcftngen, £eencaoaflo*
SRolanb oon Berlin, 2Benn eine SWooeHe mit ftarfer äu§erlid)er £anblung braman'fiert
mirb, fo femmt faft immer etma* im roben unb äufcerlidjen Sinne SÖübnenroirffame*
berau*: tit Warfen ©efdjebnifFe, Schlag auf Stblag, oon ibrer pfpcbolegtfdjen Vor-
bereitung, ihrer lanbfd)aftlid)en Stimmung unb Umgebung, furj oon ad bem befreit,
ma* ber Durd)fd)nitt*lefer al* langmeilig überfer/lägt, ba* mu§ auf ben Durdjfchmtt*«
jufdjauer wirfen. Sttur oergeffen mir nicht, bafc bie* feine fänftlerifche, fonbem eine
rob*ftofflichc SÖirfung ift, nicht Drama, fonbem Äolportage» unb Speftafelftürf, beften«
falle brutale* Ctbretto! 93ergeffen mir ferner nid)t, tag nicht bie mtnbefte Munt! baju
gebort, aue" einem leiblich, lücfenloÄ mottoierten SDceiftermerf ber (£r)äblung bie funfelnbften
^;enen berau*jubrechen unb in bie robe Raffung eine* $beaterftürfe* }u loten! ^?a?
fann jeber gefthirfte Primaner, £* ift j. 93. ein fpottletchted Ding, au* (5. ft. 3Xei>ero
SWooelle „Der £eiltge" ein Sraumftücf ju machen, etwa in ber Sßeife, ba§ £etiij ber
Qtrmbrufter bem ßborberrn ein paar bunftc 93ermutungen au*fpricht, unb bem
Schiummernben ba* ©cfd>tcf be* Sbema* oon (Santerburp mie ein traumhaft mirrer unb
tu letfer ©lut leuebtenber Jeppid) ftd) oor bie erregte Seele Oedt.
©rillparjerd „ftlofter bei Senbomir" mirb um feine* 93erfafferö millen etma* über»
febägt. (5* fieeft f<hled)te SKomantif barin, e* ift pebantifd) erjäblt, ebne redete Stimmung,
ju gemütlich, mebr epifeber Bericht eine* Unbeteiligten al* Sfonfeffton eine* Verbrecher*
aui gefränfter Webe, eine* ter bart am 503abnfinn ftebt 2öa* aber bie 9cooette hmftlerifcfa
au*jeichnct unb intereffant macht, ift bie ungemeine Sauberfett ber Xu*fubruug. Strid)
um Strich, fugt {ich ba* 93tlb jufammen, auf* forgfältigfte mirb jebe neue SBenbung
motioiert, mit ed)t ©rillparjerfcber Äunft be* Detail*. Der ©raf Starfd)en*ft, guter
S3urfche oon Sfclttir, tapfer, ein wenig Sonberling, ffieiberfeinb au* SÄangel an
©elegenbett, fd)ücbtern, aber, fomic er Slga fein eigen nennt, rafenb al* Liebhaber, al*
Giferfüchtiger, al* SRächer. Ungemein untüchtig unb folib ift ba* 9Jh'§trauen be* Starfcfaen*fi
gegen bie Cafchcf* motioiert: reoolutiondre Verfchwörer, entbeeft, oerbannt, ibrer ©üter
beraubt: Starfd)en*fi ermirft ibnen ©nabe unb #eimfebr, bejablt t'bre Sdjulben, flreeft
ber lieberlicben ©efellfchaft immer neue, immer größere Summen oor, ba fic bie Jrrü
gebigfeit be* oerliebten Schwager* fdjamlo* au*nü£en; bie Unbanfbaren fonfpirieren
auf* neue, ber ©raf fagt (ich oon ibnen lo*, Slga ift gauj auf feiner Seite, ja fie über»
fd)üttet bie ©ruber mit Vorwürfen, man fcheibet in geinbfebaft: ba* beifc idtf morioieren!
ffienn je§t ber alte ^au*oermalter feinen £errn fnienb bcfdjmört, bod) fid) mit ben
Q(ufrübrern nicht einjulaffen, mu£ biefer mie oom 55li^ getroffen roerben: „2Bie? bie
©cbmäger fommen nod) auf* ©d)lo§? ^etmlid)? Sagelang ift einer in ber 2Barte?
Unb ftet* fommt er nad)t*?" SWun ift ber tropfen ©ift im SMute unb freift unb tobt,
bi* ber ftarfe 3D?ann }ur ungebeuerlid)ften Sat aufgemüblt ift. — iVadueed fübrt
©riQparjer bie (Jntmicflung meiter: Der ratfelbafte Unbefannte »irb mieber gefeben.
3n tiefem grieben, mie er nur bem milbeften 2oben oorangebt, benft ber ©raf be*
belben Seibe*. SWcin, fie ift rein unb fdjultlod, bie rubig ©d)lummernbe bort im
2>d)lofFe. 2eufel, ba jagt ber Jwmbe baoon. 9lur bie 3°f* wirb ermifd)t an bem
fleinen ^>fortd)en, }u bem nur ber ©raf felbft ben *Sd)lüffel bat. (5r ftürmt ju Slga.
©ie ift nod) mad). Sr erwartet fte entmeber oerlegen ju ftnben, bann ift fie fd>ulbig;
ober auf feiner Seite, jornig gegen bie Dirne, bann ift fie unfdmlbig. Gr ftnbet fie
falt, teilnabm*lo*, überlegen, ftc fublt fid> burd) ba* 2Ri§trauen gegen bie gefränft
unb entjiebt fte feinem geredeten 30rnc- ^m onberen borgen lügt bie 3©fe ibm etn
fd)led)t genug erfunbene* 9Rärd>en oor, (Slga fd)erjt, al* märe nicht* oorgefaden. Der
©raf gebt in bumpfer ©ebanfenloftgfeit umber. — «So bat ber Dichter afle* auf*
meifefte oorbereitet, al* ba* fleine (Sreigni* eintritt, ba* bie Äataftropbc bebeutet: Der
©raf entberft in bem Sd)mutffdftd)en ba* Porträt Cgin*fp*. Sr bat tiefe 3üge fd)on
gefeben; mo nur, mo nur? Da, fein Äinb oor ibm, 3ug um 3ug: „Da* oft bcfprod>enc
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iKunbfaau.
335
SRaturfpiel mit ben fdjmarjen Qtugen unli blonbem £aare ... Sa fdjaute t'bn fein 5tinb
tote mit fdjmarjen ©d)langenaugen an unb bte bleuten £aare loberten mie flammen/7
später, am Xbenb (©tümper, ber an foldjer ©jene oorbetgebt!) oerlangt ber ©raf nad>
bem 5?tnbe, führt ee" in ben ©arten, bort wo er am einfamflen itf, nimmt immer roieber
bai Porträt in bie £anb unb eerglctd)t, ©erglet'djt, oergleidjt! — $n $Barfd)au erfaprt
er ben ganjen Umfang feiner ©djmad). diun fommen berrlid)e ©jenen, über benen
©bafefpearefdjer £aud) rubt. «Jlodjmald: Sin ©tümper, ber an foldjen ©jenen oorbei«
gebt! 3ucrft «»bigfte *Äueeinanberfe$ung : 3d) babe Unredjt, id) bätte bid) nid)t auf
biefe traurige ©urg bringen bürfen, bid) ©d)öne, bid) £eben*luftt'ge! Tiber meife ©ort,
id) muf?te eä tun, id) bin ein armer Sbelmanu. Darauf Slga: ©inb bir foldje ®e*
banfen auf beiner alten SfBarte gefommen? Dort, roo bu beine ©cliebte oerbirgfl?
Sine «prad)tf jene : tai lügnerifdje, fd)meid)clnbe 2Beib, bie oom «43ormurf jur ©etörung
übergebt, jebeä Wittel oerfud)enb, — aber jebe$ Littel oerfd)lägt; benn ber SRann
neben ibr ift furd)tbar unb met& aUeil Ce|tc ©jene: 93or ber alten fflarte: Seib, eb
bu bier etntrittft, fdjmere, bei beute* Stinbe* £aupt fd)möre, bog bu rein bift! — Slga
mad)t "ÄuÄflüd)te. Der ©raf, nod) rubiger: (Slga, wenn bu einen SRafel in beinern £ebeit
metgt, id) bitte, Hebe bid) an, fo tritt nid)t ein ! Du tritt ft mir nid)t über biefe ©djmelle,
eb bu auf biefe* Ätnbe* Haupt gefd)tooren! — ©ie fd)toört, mit ©raufen bort ei ber
©raf. Drinnen aber märe bie geige bereit, ibr unb ibre* ©üblen Äinb ju töten, um
ibr erbarmlid)e* Dafein ju retten. Da ftreeft ber räd)enbe ©atte fte nieber; benn nid)ti
2»enfd)lid)e* lebt in biefer fdjönen Dirne.
2* ift feine fleine Äunft, aue biefer glänjenb mottoierten ©efd)id)te ein fd)led)t
motwierte* ©tücf ju mad)en. Hauptmann bat e* fertig gebracht. (Sr bat bie ganje
©ad)e, fomett ei überbaupt mögltd) mar, oerborben. Da* SWaturfpiel — blonbe* ^>aar
unb fdjmarjeä 'Äuge — ift ibm entgangen: bei ibm fiebt tai Äinb ber SDiuttcr äbnlid),
nid)t bem ©üblen, ©o aufmerffam bat er feinen ©rillparjer gelefen! Die «Settern
ftnb beim ©rafen ju ©afte. ©tarfd)enftft tft ein ed)t bauprmanmfltyer ©d)toäd)ltng, ber
bie (£bcbred)erin um Siebe bettelt, ber bamit fd)on ooflfommen ju ftnben märe, menn fte
nur Cgindfp nutt mebr liebte, ©ie aber mirft fid) über ben £eid)nam unb ruft ihrem
©arten ju: 3d) baffe bid), id) fpeie bid) an! ©ebr intereffant, febr mobern, nid)t
teabr? — 2Bie erfäbrt Slga, bafj fie bei Sbebrud)* überfübrt ifi? „Der ^audoermalter
beginnt laut unb langfam ein «Pergament abjulefen." 3m fpannenbfkn Qtugenblicf, ba
alle* auf $ob unb ©raufen (lebt, metp ber Dramatifer Hauptmann nid)W «Paffenbere*,
al* ben $auer>er©alter ein Pergament oorlefen ju (äffen: „(S:* lebte cor alten Reiten
ein treuer SRaun unb reid)er ©raf." Der §en «Portier fdjetnt in feinen iDhißefrunbeu
ju fd)rifrfte((em. Sr unb ber Qerv ©raf fd)eüien juoor Hauptprobe gebalten ju baten :
ber ©raf bat wobl bem Otiten bie SHooelle etnftubiert, ibm gefagt, mie er beflamieren müffe,
bie Sbebredjerin ju entlaroen . . . di ebrt Slga, bafj ibr biefer ©d)erj ju bumm ifl;
lieber g(eid) tai Sntfe£lid)fte, aii beriet' retarbierenbe 9Jia$d)en. 9ttä§d)en ftnb alle
Qutgeln bei ©tücfc*. 2Ba* tut ©tarfd)en*rp, ben ©üblen ju entlaroen ? Viert er t'bm etma
ein «Pergament cor? SRein, oiel feiner: er erjäbit ibm einen Sraum! SBa§ tut ber
©ublc baraufbin? Ciefl er ibm ein «Pergament oor? 9?ein, er erjäbit ibm aud) einen
$raum! fflenn fdjon ba* ganje ©tücf bie Sraumoifton eine« 3tttterd ifl, menn bie
befreutfamfle ©tefle burd) einen Sraum unb einen jmeiten Sraum erfunftelt mirb,
warum nannte Hauptmann fein ©tücf nid)t einfad) einen 3raumu(ue? (£i märe genau
fo paffenb gemefen, mie 9?ofturnud. Denn al$ 9?ofturnud beje(d)net ber «JBcrfaffer fein
©tücf. 9tofturnu* aber bei§t bai jum fnad)tofftjium gebörige «Pfalmengebet mit feinen
fämtlidjen Sefttonen unb Qfntipbonen, Q3erd, QCbfolution, ©enebifrionen, SRefponforien.
Hätte .Daianmann je bie hrd)lid)en $agjeiten gelefen, fo mü§te er, ba§ ei feinen un»
paffenberen QSergleid) gibt, ale ben bei feierlichen näd)tlid)en ßborgebeted mit feinem ©tücfe.
Hauptmann fd)icft feinem Drama bie ©emerfung ooraud, er babe bai 2Berf in
nur oier $agen „entmorfen". fflirflid)? 93ier Sage, unb nidjtd ©effere*! *^ier Sage,
336
9tunbfd>au.
unb nur biefe fed>« fdjlecht genug au« ©rillparier erjerpierten Sableaur! 3n oier Sagen
mag Hauptmann oiefletd)t bte SXofe SBernb, bie «öerfunfene ©lorfe gefarieben haben;
Slga aber — ifl für einen Sag noch, ju fdjlecbt 2Öer bief Hauptmann, biefe fdjltmm
unfertige, oerfdjmommene ©ftije oeröffentlicrjen ? ©d)ä$te er fie fo bod), ober feine
Cefer fo gering? 2Ber bief} ibn jugeben, baf? bie bramatifcb, »ertlofe, poetifd) unfeine
unb fraftlofe, fpradjltcb, reijlofe ©fijje auf bic Fretter gejerrt werbe? fflir haben« in
ber Sat weit gebracht : Sin ©djriftfletter gibt feinen eignen SHadjlafj berau«, ein Sbeater»
bireftor bringt SBrouiUon« auf bie fcübne, fcrouillen«, in benen ein feine«, fünfllerifd>
auf« liebeooflfle burdjgebilbete« 2öerf granj ©rillparier« mit ungeübtem ginger burd>«
gepaufl, oon ungefdjirfter #anb oerböfert, von unoornebmem ©efdjmacfe oerfünflelt
morben ifl! Unb »er ifl ber, ber fo an ©riHparjer fünbigt? Der breifacbe Sräger
be« ©nöparjerpreije«!
Münzen. % £ofmitler.
*
2tn bie Vitbaltion 6er @ut>öeutfd>en tttonatsbefte.
Erinnerungen an Äarl oon $ibo£l — benen, bie ben oortrefflicben Mann gefannt
baben, »erben gute, liebe, burcb ben Sob fo jäb jerriffene SBejiebungen in ben ©inn
gefommen fein beim £efen ber Mitteilungen »on »iöilhelm «Porte (3rr. 2/1 OOS
biefer £efte).
93er mir liegt ba« fleine &ärtcr/en, »elcfye« mir <ßibofl oon SRom au« fd)rieb am
28. Dejember 1000, al« er mir 9?eujabr«»ünfcf)e fanbte mit bem 93erfpred>en eine«
SBriefe«, ,,»enn einmal ber Äopf »iebcr bcffer geworben ifl". Sin paar SBodjen
fpäter, unb ber greunb war nid>t mebr. 93or mir liegen auch, bie Efeublätter »on
feinem ©rab, bie mir Ottilie Ütöberfletn gefdjirft bat. 3rf> werbe febr weich, wenn id>
oon 3"* i" 3"* 0,efe Dinge anfebe. Die Srauer ifl noch, nid)t tot unb gani gen>i§
nid)t bie tiefe Danfbarfeit für ba«, wa« ich, au« einem reichen geifhgen QSerfebr ge*
wonnen habe oon ihm, ber jwanjig 3ahre älter war a(« idj. 3cb, »erbe mich, an feinen
Manen nicfjt oerfünbigen, wenn auch, ich, einige« über ibn fage; benn ün Ccben wollte
er nich,t, baf» man mit feiner ^erfon öffentlich, ftcfj befdjäfh'gte.
Die $erfon be« Äünfller« bebeute in gragen ber Stunft nicht«, nur feine
Ceiftungen unterlagen bem Urteile, unb nur im Äunftwerf felbfl fei ber Majjflab ,u
fudjcn, ber beffen 2Bert ober Unwert begrünbe, unb nid)t« war ibm mebr }uwiber, al«
bie üblidje $age«fcbreiberei, bie SHamen gegen tarnen flefft unb ohne ©runbfafc unb
3fafdjauung ba« SBibrigfle burdjeinanber rührt.
©o ging fein ©treben nach, 93ottenbung.
3<f> wctp ju wobl, baf? er bie meiden feiner Arbeiten unfertig jurücfgelaffen, ta§
er in bem, ma« er fucfyte, ben legten 2(bfd)tu§ ntcf>t erreicht bat, aber ba« ifl ft<f>er,
ba§ er mit männlichem ©inn weiter unb weiter trieb. E« ifl hiev rucfit ber Ort ju
unterfucfyen, wa« ibm gelungen ifl, wa« er oerfcblt bat, fonbern ich, will nur ben ©inn
fennjetdjnen be« Manne«.
Q5ei ibm galt fein Kompromiß in ber Uri, bafj er al« fertig weggegeben bätte,
wa« ibm nid)t fertig fdjien, unb oon ber 3Bürbe feiner Aufgabe war er fefl überjeugt.
Daran änbem auch, nich,t« gelegentliche Zweifel unb SRififh'mmungen. SBcr bätte folche
nicf)t, ber nach, einem emflen, hoben jjjitU binwiö? Sffler fud)te ncd>t bie glüefliche 3nfel,
wo fflunfd) unb Erfüllung gletcbfam jur felben ^eit ba finb, wo atled, wa« ocrle^t
unb dort, entfernt ifl, wo man, feinen Caunen unb Einfällen fröhlich, folgenb, jufrieben
ein freunblicb,e« £cben hinbringt? 93on einer folgen 3nfel bat er auch, mir gesprochen,
unb er bat gemeint, biefe fönne er jeben Sag ftnben, wenn er wolle. Malen, wie«
flehe, ohne »eitere« ju fuch.en. Hbvc gleich, brauf fanb man ibn »ieber beim alten
fflerfe, mit 3"oerftch.t oon feinem Tffcfdjluffe fpredjenb.
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FHunbfchau.
337
2Bie er bte fünftlerifd)e Arbeit fagte, mar tbm fco* Salent, fcic ©abe felbft»
x>crftänblid)e 93orau*fe$ung für ben SÖeruf. Da* bat man oon 9*atur, ober man bat
e* nidit. Die 'Arbeit be* ftünftlerä begann für ihn bort, mo e* galt, bie ©abe aud*
jugeben, unb bann allerbing* verlangte er ftrengfte ©elbftfrittf, erfdjopfenbe Darftellung
fd)led)tweg. SBenn ba* 3tudbrurf*oermögen nid)t reidjc, muffe man fo lang arbeiten, bi*
e* reiche, unb ed fomme barauf an, gute*, md>t ©tele* juftanbejubringen. 2 r bätte
nie jugegeben, bag feine Arbeit obne eigene* grgebni* geroefen fei, ja, roenn id) ein-
mal, ma* feiten genug oorfam, oon ber Ungebulb etwa* fagte, bie bie greunbe fügten,
bag er fo gar nidjt ein Snbe madjen wollte, bann antwortete er:
„Sic foHten mid) oerfteben. Die Arbeit i(l nidjt umfonft. (J* ift ein SRefultat
fcrin, fei* wie* will."
Die Qtnfdjauung oon bem SBert feiner 'Arbeit bat er nod) unmittelbar oor bem $ob
bejeugt, al* er feine reid>en ©tubten al* ba* wertooflfte bejetdjnete, wa* er binterlaffe.
<Piboll war ein burd) unb burd) pofitioer Sttenfd), in feinen guten Reiten oon
einer entjücfenben Cebenbigfeit unb J^tfdje, oon einer £eben*freubigfeit unb einer un»
mittelbaren Sabrbafrigfett, wie fte feiten genug gefunben werben mögen, unb $5e*
geifterung hatte er im Jßerjen bie Jude.
3ule$t jebod) war er febr franf.
Da* war ba* fd)öne, bag ibn ooll fagte, wenn tbm irgenbeine Ceiftung anfam,
bie ®eift, Rraft unb Eigenart aufwie*, unb ba mag* ihm bann jugeftogen fein, bag
ibn wiberfpred)enbe* mit gleid>er ©arme bewegte, ja, bag er ben QSerfud) machte, e*
jii oereinigen unb au*jugletd)en.
9iewton unb ©oetbe — id) babe ebenfall* mit <pibott unb aud) mit bem un*
befreunbeten Ulbert Cang über bie garbenlebre gefprod)en. Der le$tere meinte:
„ffiir SWaler madjen eigentltd) nid)t* anbere*, al* bag wir ©octpcfdje «prinjipien
anwenben."
Säg nid)t oiel!eid)t hier ber ©djlüffel ju ^ibod* Enftdjt?
Allee. ift im gluffe. (S* ift gut, wenn wir manchmal oon bem Jluffe und
tragen laffen. 2Öir fteben aud) wieber am Ufer unb überfdjauen ibn.
•XI* id) einft «ptboü gebier* ©Triften über «Diaree*, bie id) oon ibm entlieben
batte, juruefgab, babe id) feine befonbere greube burd) folgenbe ^Cnmerfung erweeft:
„Sa* ift ba* nun mit ben Äußerungen oon Unmut unb feelifd)en kämpfen?
©ie geboren ja jum SDlenfdjen. 'Aber fteeft in ben Silbern SOTaree*', wie fte finb,
ntd)t* bleibenbe*? Unb wa* haben biejenigen, bie tbn gefannt haben, nidit alte* ge«
niegen bürfen? Dem gegenüber bebeutet ba* anbere nid)t*."
£err «porte wirb mir nid)t übelnebmcn, bag id) mandje* ein bigdjen anber*
faffe wie er. SDir babe beibe iVte-U lieb gebabt, unb fd?lieglid) legen }wei Srlebte*
immer oerfd)ieben fufammen. ©d)ön ift$, wenn ein Wann bei Dielen oiele* anregte.
UBtr fd)ä§en un* glütflid) im 33efi§e be* ©ewinn*.
3d) möd)te mit einem 2Borte oon £an* Sboma fdjliegen, ba* er jur 2Bitwe be*
iBerftorbenen gefagt baben fotl, al* fie bie unooflenbeten Silber be* 9?ad)laffe* betradjteten :
„gür ben Äünftler ftnb fte fertig.''
Offenbad) a./2Jf., im SWärj 1905. 2Har |)ermanno.
Äeine 5ett unb anbete öerrad^tungen
»on Bleranber ron ©leidjen^ußnjurm.1)
<£i ift gewig ein bemerfenämertc* ©d)aufpiel, ben Urenfel ©dnller* in ben
pbilofopbifd)*äftbetifd)cn Sßabnen feined grogen 2(bnberrn wanbeln ju feben. 9lid)t, wie
') «tuttaart unb Berlin 1904. 3- ©. 6ottafd)e «ua)banblung »ad)fol8er.
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338
SKunbfdjau.
biefer, tritt er und ald tiefgrünbiger fnflematifd)er Genfer mit bem ferneren 5Rüflic«9
Äantfcber Sunflfprad)e entgegen, »ielmebr ald ein geiftrodjer $laubcrer, ber ferner
biflorifd)en unb pbilofopbifd)en Veranlagung eine flarfe ©abc weltmännifd)cr getnbeit
beigemifd)t bat. Unb bennod) leitet ben tRad)fommen fo gut rote ben Vorfabrcn eine
entfcfyiebene moralifdje 2lbftd)t, nämlich bie, ;u praftifc()er Cebendfunfl bie 5ttenfcben $u
ergeben. 3n £d)önbett ju leben unb ju derben — bad ifl ber ©runbgebanfe, ber bie
»erfd)iebenartigen Q(uffä$c bed 35ud)cd binbet. SJ?tt Vorbebad)t ifl eine SBetradjtuna;
über „bie $ftid)t jur €d)önbeit" an ben @d)lu§ gefledt. Da* eble 2Ba§ ber Singe
prent ©leid)cn«3luf?rourm, bad und lehn, jroifd)en gebanfenlod banauftfdjem Safeindgenuf?
unb ftnflerer Verachtung ber ffleltfireuben unb &ulturfortfd)ritte ben golbenen l^tttelroeg
}u ftnben. 3eber £efer, aud) ber anfprud)doodfle, totrb fid) jum minbeflen einmal furch
irgenbeine roabre Q3epbad)tung getroffen füblen, ft<f> einen praftifd)en 2Btnf für bie
Veroodfommnung feine« innern 3J?enfd)en junu&e matten. 9J?ancr>e aber werben ftdb
gerne in umfaffenberem 2Ra§c ber gübrung bed £d)riftfledcrd burd) £ebcn unb Äunft
anvertrauen, bie für biefen ineinanber fliegen.
©leid)en*9tußmurm beroegt ftd) }roifd)en ©djifler unb 9lie$fd)e, aud beren «&d>ä$en
an geflügelten ffierten er aud) mit Vorliebe fd)öpft. Sad tfl fetnedroegd ein fo bofer
©ifcerfprud), ald ed auf ben erflen QMicf fdjeinen mag, wenn man babei nur an ben
mobernen ^btlofopben felbfl unb nirf>t an feine ftd) nod) moberner gebärbeuben 3ffen
benft. Senn roie roeit bie beiben großen ©eifler in ibren etbifchen Qtnfdjauungen aud»
einanbergeben, treffen fte bod> in bem einen fünfte jufammen, ba§ fie begeiflerungd«
trunfen bem beehrten (S?d)bnbettdibea(e bulbigen, bad aderbingd für jeben eine befonbere,
burd) ben Unterfdjieb ber 3nbieibualttäten unb ben roed)felnben (Sbarafter ber Reiten
bebingte gorm angenommen bat. 3(n ber Darfteflung @lcid)cn*9lu§wurmd wirft für
• meinen ©efebmaef nur bie Überfülle oon jtftattn aud ber ganjen Weltliteratur flörenb,
bie ein wenig an ben £arbenfd)en Sßelefenbeitdjlil erinnert. Unb er bätte cd gar md>t
nötig, roctl er oft bie gleichen ©ebanfen minbcjlettd ebenfo gut roie bie oon ihm be*
fd>roorenen Sibedbelfer audjubrücfen oerflebt. ©erabe burd) feine forgfam geroäblte,
bei ädern 9leid)tum an 93tlbem unb ©leid)nifTen fletd flare unb ©erflänblidjc Sprache
roeifl er fid) ald eine feinfüblige Sfünfllernatur aud, ber obne gragc aud) ©tuefe fpejiftfd)
poetifd)er «Begabung anbaften.
Stuttgart. SRubolf Straufj.
*
©ojtalftnanjieUe &unt>fd>au.
Die Erbitterung, roeldjc bie wettcflcn Äreife bed 93ürgertumd über unfere neuen
#anbeld»erträge erfüllt, foflte burd) bie furje Q5efprcd)ung in ber legten ©ojialftnan*
jteden SRunbfd)au natürlich nur erft angebeutet werben. 9tid)tig ifl aderbingd, ba§ bie
für bie 3ur"n^ referoierte ^Äbfperrung ber öflerreid).«ungarifd)en gleifdjeinfubr bad
(£barafterijlifd)tc jener Verträge bleibt. Senn baimt wirb bad flafftfd)e ^cu»vüe erbartet,
ba§ unfere, man fann rubig fagen: agrarifd) werbenbe SRegierung ben fr cm ben Cänbern
nid)t nur wegen ber ab 1906 in Äraft tretenben ©etreibejöde fd)werwiegenbc inbuftriellc
3ugeflänbniffe macht, fonbern mit fold)en oerbängnidooden Satcn fogar wegen iurunftiger
Entfd)lüffe jugunflen ber ©ro§grunbbeft^er fortgefabren ifl. Q3on einer Partei, bie ibre
3ntcreffen fo laut manifefliert, ba§ fte einfl bie SKargarine nur blaugefärbt bulbert
modte, fonnte man neben ber Verteuerung ber fcrotnabrung, aud) bie ber gleifd)«
nabrung eon oomberein erwarten. Tlnberd aber oon ben oerantwortlidjen 2J?iniflem
«Preu§end, bad ja bie übrigen «Bunbedflaaten rafd) genug majorifteren fann. ©innen
einem 3°bre haben wir alfo unfer frembcd ©etreibe fo bod) }u oertoden, ba§ biefed
)u|'ammeu mit ben bann rafd) geflrigerten inlänbifd)en Joggen unb SDeijen )wifd)cn
1800 SMionen unb 1500 SDJidionen SWarf teurer ju bejablen ifl. 9lun b«tten bie
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9tunbfd)au.
339
ff
beutfdjen Unterpänbler ben Vertretern von Oftcrreid)*Ungarn, RufManb, Rumänien, ter
Union, Argentinien fo jiemlid) fid)er nad)meifen tonnen, baf? mir: bie ftenfumenten jene
neuen $ed)fd)u$}ö0e tragen würben. 3nbeffen fdjeinen jene fremben Cänber
bierven aHeS eber, als überjeugt werben ju fein. SBeSbalb bätte fonft bie ReidjS*
regierung auf Sfeflen unferer gabrtfation unb unfcreS £>anbelS 3u9eftänbni(fe macben
muffen, bie ebne Übertreibung in Saufenbe von mübfam gepflegten unb bod)entmi(felten
Sätigfrtten auf* allerfd)ärffte einfdjnetben ? Diefe ungebeuerlid)e RücfjtdjtSlotlgfett ift nod)
gleid)fam mit lädjelnber SDKene begangen werben, ba »orber faft alle unfere ^nbuftrien
ju eingebenben ^Beratungen, alfo jur intenfleen !D?itarbeiterfd)aft berangejogen morben
waren, unb beren mit einem wahren SBienenfleif? iufammengeftellteS Material bann
unverfebenS jur SQtafulatur würbe. SRiquel meinte einmal: ein Volf mit einem all«
gemeinen 'ißablred)t renne auf bie Dauer feine runft(id)e ©etreibeverteuerung oertragen.
3ene ©ro§intereffenten, weld)e binter ben neuen #anbelSoerträgen ftebm, würben
gewip aud) gegen Aufbebung beS allgemeinen 2Bablred)tS nicr>lö einjumenben baben.
* *
*
(Seit einigen ^Renaten werben oon SRewoorf unb Bonbon auS (bie beutfdjen
tBorfen arbeiten mebr mit Cenbon) einjelnc böd)ft jweifelbafte StaatSpapiere empfoblen.
(JS banbelt ftd) babei um foldje fübamerifanifd)e unb mittclamerifanifdje Cänber,
beren Regierungen oerlottert finb, beren Renten in ber ftolge ganj niebrig fteben unb
bie früb eber fpäter eine mirffame Intervention fettenS ber Union ju erwarten baben.
AlSbanu würbe aud) eine ginanjfontreße eintreten, burd) bie jene StaatSpapiere eine
geregelte 3"'Sjablung, bemnad) beträdjtlid) bebere Surfe erwarten bürflen. Deutfd)lanb
bat ftd) ja mit einem fold)en Umgreifen ber Vereinigten Staaten einoerftanben erflärt
unb aud) bie anberen @rojjmäd)te werben attmäblid) ibren Vorteil barin ju finben
miffen. Anberg aber in ffiafbington felbft, wo ber (Senat fd)on wegen ber ^Jolitif beS
^rafibenten gegenüber «St. Domingo eine feineSmegS auSfid)tSlofe Dppofttion entfaltet.
gälfd)ltd)erweife baben beutfd)e 3^tungen ben norbamerifanifdjen (Senat einen ftlub
von SRiflionärcn genannt, ber alfo aud fimanjieflen Urfacfjen mit ja, ober nein ftimme.
DaS ifl aber in biefem galle burdjauS unjutreffenb. Der Senat will birr einfad) ben
'Prattbenten an einer Art oeu Dtftatur binbem unb eS fd)eint, als ob £err Roofevelt
eS fein mü§te, ber aud) in auswärtigen fragen, wo eS ftd) um bie freie @ntfd)lief}ung
beS ÄongreffeS banbelt, fdjliefclid) nadjgeben werbe.
* *
*
Die gegenwärtige ©elbflüffigfeit, welche einen ReidjSbanfbiSfent von nur 3 «JJrejent
geflattet, ift nad) offijieaen Darlegungen webl mit ben Verbältniffen beS SabreS t902
ju vergleichen, wo eine ähnliche Abunbanj vom gebruar bis jum Oftober mit beifen
bann üblichen $erbftanfprüd)en, anbielt. 3nbeffen liegt bod) bier infofem ein Unterfd)ieb
vor, als bamalS unfere ^nbuftrie nod) barnieber lag unb infolgebeffen wenig Ärebit ge»
brauchte, ober aud) erbielt. Seit vielen Monaten bolt aber unfere gabrifation biefeS
9lad)laffen ibreS SBebarfeS eifrig ein, fo ba§ nad) biefer wid)tigen Seite ftd) gewi§ ein
weiterer ©elbabfluf fortfe&t. Diefe (Jrfdjeinung bürfte nod) umfaffenber werben, als bis
jum 3nrrafttreten ber neuen £anbclSoerträge nur nod) ein 3«br übrig bleibt unb
unfere Haufleute unb gabrifanten biefe verbältnißmägig furjer $tit iu verboppelten An«
fhrengungen benu^cn werben, um nod) oorber recht viel ju erportieren. Unb ti wirb
bied fid)er ^>anb in ^>anb mit ben 3n"fd)mbänblem 0(lerreid)»UngamÄ, SRu§lanb ufm.
gefd)epen, bie ja ibrerfeitd ebenfalls unter ben £od)fd)ufcjötten leiben werben. Da*
alles fann aber bie gegenwärtige Abunbanj faum berubren, ba jugunflen berfelben gwet
ff br bebeutenbe gaftoren weiter wirfen. (£S finb bieS bie ©elbforberung in SranSoaal,
welche bie SBelt balb aQjäbrlid) um oiele bunbert 50?ifliDnen reicher macht, fomt'e bie gülle
fcer ^Barmittel in ber Union, wo bie ftonjentration beS ©olbeS im Sd)anbepartemeut
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340
SRunbfd>au.
fcbr leichte Sidpofitionen nad) ben europäischen $lä§en ermöglicht, ©elbft fe Harfe
Dorfen mie $arid machen oon folgen bittigen ©elegenbetten ©ebraudj, ba bte Stoffen*
hirfe burd) jubalten, — je$t gefd)iebt bied bereit* fett 13 SWonaten — febon eüictt
ftarfen Äraftaufmanb erfordert, 3n bem Ttugenbltcf, wo ber griebe fame, mürbe übrigen*
ber ©elbmarft fofort ein anbered ©efid)t machen. Die ungeheuren ffiicberanfcbaffungcn
an jerftörtem, ober ausgeliefertem SGRaterial hätten bann junächfl |ablretd)e 3"fcu!trien
mit ben SERitteln jur Sudfübrung att ber Auftrage ju oerfeben.
* *
«
Sie Betriebdmtttelgemetnfd)aft aller beutfdjcn giifenbabnen, wie fic jefct im
$lane ift, mürbe natürlich oon Berlin aud geleitet »erben. Dad flößt ald „93erpreußung"
in ©übbeutfdjlanb auf Sßiberftanb, ber aber in ber $auptfacbe niebt afljulange anju*
balten brauste. Sind mar ed freilich ben fubbeutfeben ©taaten leichter ald Greußen
gemacht, feine ©dienen, gafdpn, Momotioen, fogar Sagen auf bem Sege eine*
freien SBettberoerbed anjufebaffen. Greußen anbererfeitd batte auf feine großen 3^ntren
in 9tbrinlanb*2Beftfalen, fomie Oberfd)leften Stücffidjt ju nebmen. "Xlletn ed fam eine
3eit, mo Berliner Q3orfteflungen in Sarmftabt, Äarldrube, Stuttgart ed, wenn auch
langfam, bemirften, baß bie fremblänbifd)en Submittenten audgefcblofFen mürben. £atte
aber eine preußifdje St|eubabnbircftion einen internationalen ©ettberoerb audgefdjrieben,
fo mar ed — ob fair ober unfair — ganj fidjer, baß bie billigeren audlänbifdjen SSöerfe
bennod) leer ausgingen. SERan benugte bann bei und biefe Angebote, um fte ber
eigenen ^"^Üne mabnenb oor}uba(ten, unb ber Sd)lu§ blieb regelmäßig, baß in
einem engeren SBettbemerb bie brimifeben GEtablijfementd mit ibren greifen berabgtngen
unb ben 3ufala9 crbielten. 9?ad) unb nad) oerlor bad 'Xudlanb natürlich bie Cuft, ft<fc
ald bloße* 3(nretjungdmittel gegen bie beutfdje Stonfurrenj mißbrauchen ju laffen, bid
fie fid) entlieh ganj oom ©d)aupla§ jurürfjog. >unertun erhielt einft bad internationale
©dnenenfartefl oon unfern ffierfen febr große ©ummen, in beren golge fie bei ben
Lieferungen für bie preußifchen tabuen nicht mebr mitbot. Wlit anbern Korten, man machte
fid) bei und SRaum, um bem eigenen «Staate höhere greife glcichfam biftieren )u fönnen.
* *
*
Sie ruffifche Regierung bat (ich in Berlin bad Material für bie Arbeiter
oerfichentng audgebeten! -Dar fie benn auch bterju bie Cfbrltrbfett unb $üd)ttgfeit
unferer Beamten oerlangt? ©eroiß willen bie gelehrten SRitglieber im borrigen
TRektierat unb ed ftnb mirfliche ©elebrte bann, ju melchen unermeßlichen Summen jene
ftonbd bei und in all ben 3abren angemad)fen finb. Ähnliche gonbd aber in ^cterdburg,
iDJodfau, Obeffa ufro. )u oermalten, refp. regelmäßig unb auch gerecht audjujablen,
bürfte unüberfebbare ©djwierigfeiten heroorrufen. ©elbft menn bie SRittionen unb SRillionen
mirflich in ben Staffen oerblieben, anftatt im ©tile bed 9toten ftreujed geftohlen )u
werben, hätte man fid) noch auf bie gefd)äftlid)e ©emiffenbaftigfeit ber Arjte, ber Buchhalter, ber
©elbaudträger, ber SReoiforen ufm. ju oerlaffen. Sd tonnte fid) bann leicht beraud*
ftetten, baß burd) ein #eer oon mieber gani neuen SWißbräucben jene ganje fonft fo
millfommene ©ojialpolitif unmirffam gemacht mirb. SRußlanb, bad fid) plöglid) auf
bie Bteberfeit unb Sreue feiner Beamten oerlajfen möd)tc, ähnelt bem Qbnor, ber mit
ber Äeule bed £>erfuled fpielt.
granffurt a. 9». ©. o. £alle.
»ecannrortUcfa für ben foitatpolüifcöen Zeil: Sriebrld) 9Utumann in Stfiönebcrg; für ben übrigen 3nfta(t:
^aul 9Ufolau8 <£of(inann in 3}iünd)en.
SJa^brutf ber einzelnen öcUräge nur auäjug«n»cife unb mit genauer CueUcnangabe gcflattet.
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3n bct alten @onnc.
*8on £ er mann #effc in ©aienbofen am SÖobenfee.
2Benn im ^rut)Iing ober ©ommer ober auef) noch im ^rübberbfc ein
tinber $ag itf unb eine angenehme, auch wieber nicht $u heftige 5Bdrme ben
Aufenthalt im freien ju einem Vergnügen macht, bann ifl bie audfchweifenb
gebogene balbrunbe ©tragenfet)le am 2fllpacher 5ßeg, Por ben legten hoch*
gelegenen Jpdufern ber ©tabt, ein prddjtiger SBinfel. 2fnf ber bergbtnan
ficb fchldngelnben ©trage fammelt jtch bie fd)öne ©onnenmdrme ftetig an,
bie ¥age ift »or jebem 5ßinbe woty befchüfct, ein paar frumme alte Obft*
bdume fpenben wenn aud) fein Cbft fo boef) ein wenig ©chatten, unb ber
©traßenranb, ein breiter, fanfter, raflger ?Kain, oerlotft mit feiner wot)lig
fld) febmiegenben Krümmung f reim Midi mm ©i$en ober Siegen. £aä weifle
©trdf (ein gldnjt im Vtditc unb hebt fid) fd)6n (angfam bergan, fd)icft jebem
33auernwagen ober i'anbauer ober ^oftfarren ein bünneö ©tdublein nach, fo
viel ed permag, unb fdjaut über eine febiefe, pon ©aumfronen ba unb bort
unterbrochene flucht pon fchwdrjlidjcn X)dchern t)inn>e9 gerabe inÄ $erj ber
©tabt, auf ben $?arftpla$, ber oon rjicr aud gefeben freilich an ©tattlicbfett
ftarf oerliert unb nur alä ein fonberbar oerfdjobene* Sierecf mit frummen
Käufern unb broüig Ijeraudfprtngenben SSortreppen unb £elleri)dlfen erfcheint.
An foleben fonnig milben Sagen ift ber morgige SRain jener hoben
©ergflra^enfrümmung unmanbelbar fletd pon einer «einen ©djar audruljenber
sD?dnner befe$t, beren fubne unb perwitterte ®e|Tcbter nicht red)t ju irjrcn
mtymen unb tragen ©ebdrben paffen unb Pon benen ber 3ungfle minbeßenö
ein bober ftünfjtger ijt. ©ie ff$en unb liegen bequem in ber 3Bdrme, fdjweigen
ober fuhren furje, brummenbe unb fnurrenbe ©efprdche unteretnanber, rauchen
fleine fchwarje ^Pfetfenftntnfe unb fpuefen hdufig weltperdcbterifd) in fuhnem
Söogen bergabwdrtd. Die etwa »on'ibertapernben *£anbwerfäburfchen werben
pon ihnen fdjarf betrachtet unb peinlich begutachtet unb je nach ©efunb mit
einem wof)lwoUenb jugenteften ,,©er»u$, tfunbe!" begrüßt ober fchweigenb
perachtet.
25er ftrembling, ber bie alten Sttdnnlein fo hoefen fah unb ffch in ber
ndchfeen ©äffe öber ba$ feltfame $duflein grauer SÖdrent)duter erfunbigte,
Sübbcutfdje «Monatshefte. II, 5. 23
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342
Hermann |>effe : 3" ber alte« Sonne.
Fonntc von jebem $inbe erfahren, cap" biefed bie Sonnenbruber feien, unb
mancher flaute bann noch einmal jurutf, fat> bie mübe Schar trag in bie
Sonne blinjefn unb wunberte (ich, woher ihr woh,( ein fo f)ol)er, wohüautenber
unb bid)terifcher 9?ame gefommen fei. @tmaige reifenbe @ntt)ufiaften em*
pfanben mptifche Schauer babei unb machten au* bem £albbu$enb grauer
$au(pe(je bie überbfiebenen Stcfte einer auäfterbenben uralten ©emeinfchaft
pon Verehrern M $agedge(lirn$. £a$ ©eftirn aber, nach welchem bie
Sonnenbruber genannt würben, ftanb (dngjt an feinem J^immel mehr, fonbern
mar nur ber Sd)i(bname eineö Ärmlichen unb fdjon vor manchen jähren
eingegangenen 5Birt$haufeä gemefen, beffen Scbilb unb ©lang baHn waren,
benn ba$ Jpauö biente neuerbingö alö Spitte(, ba$ heifH a(ö fldbrtfcfjr^ Armen-
afpf, unb beherbergte freilich manche ©dfte, bie baö Abenbrot ber Pom Schilb
genommenen Sonne nod) erlebt unb (Ich t)inter bem Schenftifd) berfelben bie
Anmartfdjaft auf ir)re Bepormunbung unb jefcige Unterfunft erfd)6ppelt hatten.
Da* J£>du$chen (lanb, al* Porfefcte* ber (teilen ©äffe unb ber Stabt,
gundchft jenem fonnigen Straflenranb, bot ein winbfehiefe* unb ermitbete*
3Tnfehen, alt mache ba$ befldnbige Aufred)t(tehen ihm »tele Befchwerbe, unb
lieg fid) nichts mehr baüou anmerfen, wie viel Vnft unb ©IdferHang, $Bi$
unb ©elÄducr unb flotte $reinäd)te e$ erlebt hatte, bie fröhlichen Laufereien
unb SBeffergef dachten gar nicht $u rechnen. Seit ber alte rofenrote Serpu$
ber SBorberfeite ooflenbö erbfaßt unb in riffigen gelbem abgeblättert mar,
entfprach bie alte Sotterfalle in ihrem äußeren Pollfommen ihrer Bejtimmung,
waö bei (tdbtifd)en Tanten unferer Bei t immerhin eine Seltenheit i(c. Sbr---
lich unb beutlich, ja fogar fafi berebt gab fie ju erfennen, bap" fie ein Unter«
fd)(upf unb 92otbäd)Iein für Schiffbrüchige unb 3urücfgeb(iebene mar, ba$
betrübliche @nbe einer geringen Sacfgaffe, »on mo au* feine <pidne unb
perborgenen Ärdfte me!)r in« Seben jurucf(treben mögen.
Sßon ber Melancholie folcher Betrachtungen mar glüeflichermeife im
£rei* ber Sonnenbruber meidend nur wenig ju finben. SBtelmehr lebten fte
fa(l alle nach SKenfchenart ihre fpdten Sage hin, aU ginge e* noch immer
au* bem Sollen, bliefen ihre f lernen ©egdnfe unb V u fr bar feiten unb Spielereien,
Brüberfchaften unb Siferfuchteleien nach Ärdften ju wichtigen Angelegenheiten
unb Staatöaftionen auf unb nahmen jwar nicht einanber, aber bod) jeber
(ich felber fo ernfi wie möglich. Da fte taten, a(* fange je$t, ba fie fTcf> au*
ben geraufdwoUen ©äffen be* tätigen Seben* beifeite gebrueft hatten, ber
Jßatto erft recht an, unb betrieben ihre jetzigen unbebeutenben Affären mit
einer Ußucht unb Sahigfcü, welche fte in ihren früheren Betätigungen (eiber
meift hatten permiffen (äffen, ©(eich manchem anberen $£(f(ein glaubten fte,
obwot)( fie Pom Spittelpater abfolut monarchifch unb a(* rechtlofe Schein*
eriftenjen regiert würben, eine fleine iRepublif ju fein, in welcher jeber freie
Bürger ben anbern genau um SRang unb Stellung anfaf) unb emftg barauf
bebacht war, ja nirgenb* um ein Haarbreit $u wenig djtimiert ju werben.
2fud) ba* hatten bie Sonnenbruber mit anberen beuten gemein, bap*
fte bie 2Äehrjah( ihrer Sd)icffa(e, Befriebigungen, ftreuben unb Schmerlen
mehr im ©emut ober in ber Sinbilbung al* in greifbarer Iffiirflichfeit er*
(ebten. (Sin fribo(er 9Äenfch fönnte ja überhaupt ben Unterfchieb jwifdjen
bem Xtafein biefer Ausrangierten unb Stecfengebliebenen unb Demjenigen ber
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Hermann «Oeffe : 3" ber alten Sonne. 343
tätigen Bürger ald lebiglid) in ber (£inbi(bung begrüntet fyinfieUen, intern
biefe wie jene ihre großen unb Meinen ©efdjäfte unb 'Jäten mit berfelben
ernffgen ÜBichtigfeit »errieten unb fchließlid) boeft oor ©otted 3fugen fo ein
armer ©pittelgaft m6glid)erweife nidjt »ief fd)(ed)ter bafteht ald mandjer
große unb geehrte #err. 2fber aud) ohne fo weit ju geben, fann man morjl
ftnben, baß für ben behaglichen 3ufdjauer bad Sehen biefer ©onnenbruber
fein unwürbiger ©egenftanb ber ©etrachiung fei, ba bad flttenfchenleben aud)
auf einer geringen ©ufyne immer nod) ein amufanted unb nadjbenflidjed
©chaufpiel barbietet.
3e näher bie 3eiten beranruefen, ba bad je$t aufmachfenbe ®efd)led)t
ben tarnen ber ehemaligen ©onne unb ber ©onnenbrüber oergeffen unb
feine Broten unb 2(udmürflinge anberd unb in anberen SRäumen »erforgen
wirb, befto munfdjendwerter wäre ed, eine ©efd)id)te bed äffen #aufe$ unb
feiner ©äfte ju haben. 2lld djroniftifcher Beitrag ju einer folchen foll auf
biefen blättern einiget »om ?eben ber erften ©onnenbrüber berid)tet werben.
*
3n ben 3eiten, ba bie heutigen Sungbürger oon ©erberdau nod) furje
Jßofen ober gar nod) SR6cfd)en trugen, unb ba über ber «Oaudture bed nad)*
maligen ©pitteld nod) aud ber rofenroten ftaffabe ein fdjmiebeiferner ©d)ilb*
arm mit ber b(ed)ernen Sonne in bie ©äffe hinaus prangte, fehrte an einem
$age fpät im J£>erbfte Äarl Jpürltn, ein ©obn bed vor pielen jähren per*
(lorbenen ©djlofferd #urltn in ber ©enfgaffe, in feine #eimat|tabt jurücf.
<£r war efwad über bie Sierjtg hinaud, unb niemanb fannte ihn mehr, ba
er feinerjeit ald ein blutjunged ©urfdjlein weggewanbert unb feitber nie
mehr in ber ©labt erblicft worben war. Sttun trug er einen feb,r guten unb
reinen 3Cnjug, tfnebelbart unb furjgefchnittened £aar, eine ftlberne Uhrfette,
einen jleifen «Out unb h°be faubere J£>embfragen. Orr befudjte einige oon
ben ehemaligen ©efannten feiner ftamilie, ein paar alte ©djulfameraben
unb Kollegen, unb trat uberall alö ein fremb unb »ornefym geworbener
SRann auf, ber feines* ffierted ol)ne Übergebung bewußt ift. Dann ging
er aufd tKathautf, Wied feine Rapiere oor unb erflärte, ftd) hierorts nieber«
laffen ju wollen. 2Tld bad 9?6tige eingeleitet war, entfaltete J£err J^ürlin
eine emftge unb geheimnidooße 3ätigfeit unb Jforrefponbenj, unternahm öftere
Heine Reifen, faufte ein ©runbftucf im $a(grunbe unb begann bafelbjt an
(Stelle einer abgebrannten £)lmüt)le ein neue* £aud aud ©aefftetnen ju er*
bauen unb neben bem #aufe einen ©ebuppen unb SRemife unb jmifdjen
£aud unb ©djuppen einen gewaltigen barfjteinernen ©chlot. 3»tfd)enetn
fat) man it)n in ber ©tabt gelegentlich bei einem 2lbenbfd)oppen, wobei er
jwar anfangd (litt unb oornebm tat, nach wenigen ©läfern aber laut unb
mäd)tig rebete unb nid)t bamit hinterm $3erge hielt, wie er jwar ©elb genug im
©aef h«be, um ffd) ein fd)6ned <£errenleben ju g6nnen, bod) fei ber eine ein
ftaulpel.j unb Qicffopf, ein anberer aber ein ©enie unb ©efdjäftdgeift, unb
wad ihn betreffe, fo gehöre er jur letzteren ©orte unb habe nicht im Sinn,
(td) jur 9tut)e ju fefcen, ehe er feebd 9?ullen \)\Mx bie 3«ftr feined 93er*
mögend fe$en fonne.
©efd)Äftdleute, bei benen er Ärebit ju genießen wunfd)te, taten fTd)
23*
344
Hermann £effe : $n be r alten ©onne.
nach feiner Vergangenheit um unb brachten in Erfahrung, baß £ürlin jmar
btäfyer nirgenbä eine erbebliche Stolle gefpielt hatte, fonbent ba unb bort
in SBerfftdtten unb ftabrittn, juleftt a(* 2luffeber, gearbeitet, »or furjem
hingegen eine erflecfliche (Srbfcbaft gemacht hatte. 2flfo lieg man ihn ge*
mdbren «nb gännte ihm ein befttmmted SKaß oon SKefpeft, einige unter*
nefmienbe £eute (heften auch noch ©elb in feine Sache, fo bog balb eine
mdßig große, fehmuefe ftabrif famt ÜBobnbduächen im $ale erjtanb, in »elcher
Jßurlin gen>i(Te für bie ©olimebeinbuftrie notmenbtge SÖaljen unb Sföafchinen*
teile hcquftcUen gebachte.
.Kaum mar ber betrieb eröffnet, fo mürbe ber Unternehmer von jener
felben ftabrif, beren 2fuffeber er früher gemefen mar, gerichtlich belangt,
inbem er gemiffe technifche ©eheimniffe, bie er fich bort angeeignet, »iber*
rechtlich ale eigene @rftnbung ausgeben unb auönüfcen follte. 2luä bem
enblofen 9>ro$eß jog er ftcf) fcbließlid), menn auch ohne ©chanbe, fo boch
mit erheblichen Soften, betrieb aber nun fein ©efcbdft mit boppeltem (Stfer,
inbem er feine greife etmaä niebriger anfe$te unb bie ÜBelt mit »npretfungen
uberfchroemmte. Die Aufträge blieben nicht aud, ber große Schlot rauchte
Sag unb Stacht, unb ein paar Sahre lang florierte #ürlin unb feine ftabrif
auf ba$ erfreuliche unb genoß 2(nfel>en unb ausgiebigen Ärebit.
Damit mar fein Sbeal erreicht unb fein alter $ieb(ing$traum in (£x*
fullung gegangen. $Öot)l harte er fchon in jüngeren fahren be$ öfteren
Anlaufe jum Steicbmcrben gemacht, aber erft jene ihm faft unerwartet $u*
gefallene (Srbfcbaft hatte ihn flott gemacht unb ihm erlaubt, feine alten
fuhnen -plane aufzuführen. Übrigen* mar ber Reichtum nicht fein einjigeS
©ebnen gemefen, fonbern feine beißeflen ©unfehe hatten jeitlebenä bahin
gejielt, eine gebietenbe unb große (Stellung einjunel)inen. dt mdre a(6
Snbianerhauptling ober als StegierungSrat ober auch etma alS berittener
?anbjdger ganj ebenfo in feinem Clement gemefen, boch fchien ihm nun ba$
Sehen eine« gabrifbeftfcerS fomot)! bequemer al$ felbflberrlicber. <5ine 3igarre
in ben SBunbminfeln unb ein forgenooll gemiebtige* Sdcbeln im ©efTcbt, am
Acnftcr üchenb ober am <5cbreibtifch fl^enb allerlei befehle ju erteilen, $er*
träge ju unterzeichnen, SBorfcbldge unb bitten anzuhören, mit ber faltigen
SRiene beS SBielbefcbäftigten eine gelaffene 3>ebaglid)feit ju oereinigen, balb
unnahbar ftreng, balb gutmutig herablaffenb ju fein unb bei allem ftetS |u
fühlen, baß er ein J£>auptferl fei, unb baß oiel in ber $8elt auf ihn anfomme,
ba* mar feine leiber erft fpdt ju ihrem »ollen Siecht gefommene ©abe.
»ber nun hatte er baS alle* reichlich, fonnte tun, maä er mochte, Seute
anftellen unb entladen, moblige Seufzer beS forgenfehmeren Reichtum* auf*
flößen unb firf) »on Bielen beneiben laffen. DaS alle* genoß unb übte er
auch mit Äcnnerfdnm unb Eingabe, er miegte ftch meid) im ©lüde unb
fühlte fleh en Mich »om @d)icffal an ben ihm gebuhrenben f Ick gefteUt.
3n$mifchen hatte aber jener gefebdbigte $onfurrent, auf befTen .Heften
J&urlin groß gemorben mar, eine neue (Jrftnbung gemacht, nach beren (£\m
fuhrung mehrere ber früheren 3(rttfel teils ganj entbehrlich, teils »iel roobl*
feiler mürbem unb ba .»ruirlin trofc feines ©laubenS unb feiner SerfTche«
rungen eben feine ©enie mar unb nur bad äußerliche feine* ©efchdfte*
»erflanb, fanf er anfanglid) langfam, bann aber immer fchneHer oon feiner
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Hermann 4>effe : 3" Öer alten Bonne.
345
J£>6f?e unb fottnte am (£nbe nicht oerbergen/ baß er abgewirffchaftet habe
<Sr oerfudjtc cd in ber Verzweiflung nod) mit ein paar mag halft gen ftinantf
fünften, burch weldje er fid) felber unb mit if)m eine 9tett)e »on tfrebitoren
fdjließlid) in einen gemaltigen unb unfauberen ©anfrott hineinritt. (£r
entflog »urbe aber eingebracht, »erurteilt unb ind ?od) gefteeft, unb alt* er
nad) mehreren fahren »ieber in ber Stabt erfdjien, mar er ein entwerteter
unb lahmer SWenfd), mit bem nid)tt$ mehr anzufangen mar.
<5ine 3eitlang brüefte er fid) in unbebeutenben Stellungen t)erum; bod)
hatte er fdwn in ben fchwulen 3eiten, ba er ben tfrad) h*™nfommen fah,
fid) jum l)eim(idien Srinfer cntwicfelt, unb wad bamald hnmlid) gemefen
unb wenig beaditet worben war, würbe nun öffentlich unb zu einem 2frgernid.
'Xu6 einer mageren Schreiberdftelle wegen Unzuoerläffigfeit enttaffen, warb
er Xgent einer Verftd)erungdgefeflfd)aft, trieb fid) ald folcher in aüen Schenfen
ber ©egenb herum, würbe auch ba wieber entlaffen unb fiel, ald aud) ein
#aujierhanbel mit 3unbt)6(jern unb SMeiftiften nidjtti abwerfen wollte, am
dnt> ber Stabt jur Saft. @r war in biefen fahren fchnell »ollenbd alt unb
elenb geworben, h«tte aber aud feiner fallitgegangenen £errlid)feit einen
Vorrat «einer Äünfte unb #ußerlid)feiten herübergerettet, bie ihm über bad
©röbfte \)inmQbalfen unb in geringeren 3Birtdhäufern nod) immer einige
5Birfung taten. Orr bradjte gewiffe fehwungooll grogartige ©ejten unb nicht
wenige wohltönenbe Lebensarten in bie Kneipen mit, bie ihm längft nur
nod) äußerlich anhafteten, auf ©runb beren er aber bod) nod) immer eine
gemiffe Schäfcung unter ben Gumpen ber Stabt geno§.
£amald gab ed in ©erberdau nod) fein 2Trmenhauö, fonbern bie
Unbrauchbaren würben gegen eine geringe @ntfd)äbigung aud bem Stabtfäcfel
ba unb bort in Familien ald tfofigänger gegeben, wo man ffe mit bem 9?ot*
wenbigjlen oerfah unb nach 2ttöglid)fcit ju fleinen häuslichen Arbeiten anhielt.
£a nun bicraud in leerer 3eit allerlei Unzuträglichfeiten enttfanben waren
unb ba ben oerfommenen ftabrifanten, ber ben £aß ber *&e»ölferung genoß,
burchaud niemanb aufnehmen wollte, fat) ffd) bie ©emeinbe genötigt, ein
befonbered #aud ald 3Tf»l ju befchaffen. Unb ba gerabe bad armliche alte
Sßirtdhaudlein jur Sonne unter ben Jammer fam, erwarb ed bie Stabt
unb fefcte nebft einem ßaudoater ald erften ©aft ben Äarl ßürlin hinein,
bem in &ür&e mehrere anbere folgten. Diefe nannte man bie Sonnenbruber.
9?un hatte J^urlin fchon lange jur Sonne nahe Beziehungen gehabt,
benn feit feinem Sttiebergang war er nad) unb nad) in immer fleinere unb
Ärmere Sdjenfen gelaufen unb fchlicßlid) am meiden in bie Sonne, wo er
ZU ben täglichen ©äften gehörte unb beim 3(benbfd)napd mit manchen £um*
panen am felben Sifcbe faß, bie ihm fpäter, ald auch ihre 3eit gefommen
war, ald Spittelbrüber unb »erachtete Stabtarme in eben badfelbe J&aud
nachfolgen foüten. 3h*i freute ed, gerabe borthin zu wohnen zu fommen,
unb in ben Sagen nad) ber ©ant, ald 3»mmermann unb Schreiner bad alte
Schanfhaud für feinen neuen 3wecf eilig unb befcheiben zurichteten, ftanb
er oon früh cid fpät babei unb hatte Sttaulaffen feil.
@ined borgend, ba ed fdjön milb unb fonnig war, hatte er fid) wieber
bafelbft eingefunben, flellte (Ich neben bie #audture unb fah bem kontieren
ber Arbeiter im inneren zu. <5d würbe ein £ielenboben audgebrochen unb
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346
^ermann £c ffe : 3" ber attctl Sc-nne.
neu gelegt, bie ausgetretene Stiege getieft unb mit einer feilen Sörutfung
verleben, ein paar bunne ÜBanbe eingesogen, ber Stabtbaumeifier f dumpf tc
hinter ben SKetfiern \)tx, bie ©efellen heuchelten großen Jleiß, unb bie ?ebr*
buben brüeften ftd) »on 5Banb \\\ 5Banb. tiefer Umtrieb gefiel bem alten
■ Durltii wobl, er guefte f)ingeriffen unb freubig ju unb überhörte gern bie
bodartigen ©emerfungen ber Arbeiter, f>iett bie gdujte in ben tiefen Safdjen
feine« fchmierigen 9tocfe$ unb marf mit feinen gefdjenften, »iel ju langen
unb ju meiten ©einfleibern fpiralf6rmige galten, in benen feine ©eine wie
3apfenjieber auäfaben. daneben fog er emflg an einem befeften Sonpfeifchen,
bad jmar nicht brannte, aber bod) na* $abaf rod). Der be»orftef)enbe Sin«
jug in bie neue 93ube, »on bem er ftd) ein bequemet unb fd)6nere$ Veben
verbrach, erfüllte ben alten 3ropf mit glüeflicher Sfteugterbe unb Unruhe.
3nbem er bem ?egen ber neuen Stiegenbretter jufriiaure unb \HÜ*
fchroeigenb bie bunnen tannenen Dielen auf ihre @ute unb mutmaßliche
•Paltbarfett abfchd$te, fühlte er ftd) pl6$(id) beifeite gefchoben, unb ali er
ftd) gegen bie Strafe umfehrre, ftanb ba ein SchloffergefeUe mit einer großen
©ocfleiter, bie er mit großer $D?ütye unb »ielen untergelegten SÖretteriiutfen
auf bem abfehüfftgen Straßenboben aufjuftellen »erfudjte. Äurlin »erfugte
ficf> auf bie anbere ©fite ber ®affe t)inuber, lehnte fid> an ben ^reüftein
unb »erfolgte bie Satigfett be$ Sd)lofferd mit großer 2fufmerffamfeir. Diefer
batte nun feine Seiter aufgerichtet unb gefiebert, (lieg l)inauf unb begann
über ber .öaiuMüre am Nortel l)erum$ufra$en, um bad alte 9Birt$fd)ifb
htnmegjunebmen. Seine ©emübungen erfußten ben @rfabrtfanten mit Span*
nung unb aud) mit ißehnut, inbem er ber vergangenen Sage gebachte, ber
vielen unter bem je$t fallcnben ©abdeichen genoffenen Schoppen unb
Schndpfe unb ber früheren Reiten überhaupt, §ä bereitete ihm feine fleiue
Areuce, baß ber fchmiebeiferne Sd)ilbarm fo feft in ber 5Banb faß, unb baß
ber Schloffergefell ffd) fo bamit abmühen mußte, üm herunterzubringen. <£ö
mar bod) unter bem armen alten Schübe oft f>eit!o& munter jugegangen!
2Cl$ ber SdjlofTer ju fluchen begann, fchmunjelte ber 2Üte, unb al« jener
mieber baran jog unb bog unb manb unb jerrte, in Schmeiß geriet unb
fafi »on ber Leiter fliirjte, empfanb ber 3ufd)auer eine nicht geringe ®enug*
tuung. Da ging ber ©efelle fort unb fam nach einer Sierteljtunbe mit einer
(Sifenfäge mieber. Jßurlin fab roobl, baß ed nun um ben ebrmürbigen Zierat
gefcheben fei. Die Sage pfiff flingenb in bem guten @ifen unb nach mentg
Augenblicken bog ftd) ber eiferne 2(rm flagenb ein menig abrodrtä unb
fiel g(eid) barauf flingelnb unb rafielnb auf« »Pf! alter.
Da fam J^ürlin herüber. „Du, Sd)loffer," bat er bemutig, „gib mir
baä Ding! fyat ja feinen ÜBert mebr."
„3Barum auch? 3Ber bitf benn bu?" fcrjnaujte ber 95urfd).
„Dch bin boch »on ber gleichen ^Religion," flehte Jßurlin, „mein Älter
war Sdjloffer, unb id) bin aud) einer gemefen. ®elt gib'$ \)tt\"
Der ©efeüe hatte inbeffen ba$ Sd)Üb aufgeboben unb betrachtet.
„Der 3rm tft nod) gut," entfehieb er, „baä mar ju feiner 3*it feine fd)led)te
Arbeit, aber menn bu ba$ SÖlechjeug millfr, ba« t>at feinen 9Bert mehr."
<£r riß ben grun bemalten, blechernen SMätterfranj, in welchem mit
fupferig gemorbenen unb »erbeulten Strafen bie golbene Sonne bing^
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Hermann £effe: 3" «ttcn ©onne.
347
herunter unb gab ihn her. Ter 'Alte bebanfte feef) unb machte fTd) eilig
mit fetner QJeute baoon, um fle weiter oben im tiefen Jßolbergebäfche vor
frember J^abgier unb ©chaulujl ju verbergen. ©o oerbirgt na* «erlernter
«Schlacht ein ^alabin bie Snflgnien ber J^errfdjaft, um fte für beffere Sage
unb neue ©lorien ju retten. 3fld er wieberfam, um oon neuem bie Arbeiten
ber 3immerleute $u infpijieren, tarn ihm bad £aud fo fonberbar anberd unb
»eräbet oor, lebiglich, »eil bie ©onne fehlte unb flatt ihrer ob ber Sur
nur nod) ein brud)iged Sod) im SSerpufc ju fetjen war.
Wenige Sage barauf fanb ebne oie( ©ang unb 5t lang bie Einweihung
bed bürftig l)crgerid)teten neuen 2lrmenbaufed flatt. Ed waren ein paar
Letten befdjafft worben, ber übrige «£audrat flammte nod) aud ber ffitrtd*
gant J)er, außerbem l)atte ein ©6nner in jebed ber brei ©d)(afftubtein einen
von gemalten QMumengeroinben umgebenen Q3ibelfprud) auf *Pappbecfe( ge*
fliftet. 3" audgefchriebenen .ßaudöaterfMe Ratten fTd) nicht eben feljr
Diele ©ewerber gemelbet, unb bie 3ßab,I mar fogleid) auf Jßerrn 2fnbread
©auberle gefallen, einen »erwitweten SBollenflrirfer oon gutem ?eumunb,
ber feinen ©tricfflubl mitbrachte unb fein bewerbe weiter betrieb, benn bie
©teile reichte fnapp gum Sehen aud, unb er l)atte feine ?ufl, auf feine alten
Sage einmal felber ein ©onnenbruber $u werben.
2lld ber alte -ßürlin feine ©tube angewiefen befam, unterjog er fle
fogleid) einer genauen &eftd)tigung. Er fanb ein gegen bad Jpöfkin gehenbed
Acmler, jwet Suren, ein »Bett, eine -Truhe, jwei ©tul)le, einen fRachttopf,
einen Äehrbefen unb einen ©taubwifdjlappen oor, ferner ein mit 28ad)dtud)
bejogened Ecfbrett, auf welchem ein Sßafferglad, ein bledjerned 3Bafd)berfen,
eine Äleiberbürfle unb ein Stteued Seflament lagen unb ftanben. Er befühlte
bad folibe ©ettjeug, probierte bie durfte an feinem #ut, b.ielt ©lad unb
SÖecfen prufenb gegen bad Sagedlidjt, fe$te ftd) oerfuchdmetfe auf beibe ©tuble
unb fanb, ed fei alled befriebigenb unb in Orbnung. 9tur ber ftattlidje
SBanbfprud) mit ben SMumen würbe »on ihm mißbilligt. Er fab, tf>n eine
3Beile bobntfd) an, lad bie SBorte: „tfinblein, liebet eud) untereinanber!"
unb fdjüttelte unjufrieben ben flruppigen Äopf. Dann riß er bad Ding
herunter unb bangte mit oieler ©orgfalt an beffen ©teile bad alte ©onnen*
fdjilb auf, bad er ald einjtged ^Bertflucr* in bie neue $Bot)nung mitgebracht
hatte. Aber ba fam gerabe ber J&aud»ater wieber herein unb gebot ihm
fcheltenb, ben ©pruch wieber an feinen ^)la$ ju bangen. Die ©onne
wollte er mitnehmen unb wegwerfen, aber Marl J^ürlin fiammerte ftd) in*
grimmig baran, trotte jeternb auf fein Eigentumdrecht unb »erbarg nachher
bie Trophäe fdjimpfenb unter ber ©ettflatt.
Da* Sehen, bad mit bem folgenben Sage feinen Anfang nahm, ent*
fprach nicht ganj feinen Erwartungen unb gefiel ihm junadjfl fetnedwegd.
Er mußte bed borgend um fteben Uhr aufflehen unb jum Kaffee in bie
©tube bed ©trieferd fommen, bann follte bad SBett gemacht, bad 2ßafd)*
beefen gereinigt, bie ©tiefei gepu$t unb bie ©tube fauber aufgeräumt werben.
Um jebn Uhr gab e$ ein ©tuef ©chwarjbrot unb bann feilte bie gefurd)tete
©pittelarbeit losgehen. Ed war im J^of eine große ©euge buchened J^olg
angefahren unb bad follte gefagt unb gefpalten werben.
Da ed noch weit hin bid jum ©inter war, hatte ed #ttrltn mit bem
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348 «£>cnnonn «£>effe: 3n ber ölten Sonne.
£olj nid)t eben eilig. Sangfam unb oorfidjtig legte er ein fcudjenfcrjeit
auf ben fcoef, rutfte e* forgfältig unb umftänblid) jured)t unb befann ftd)
eine ©eile, wo er e* juerft anfägen foBe, red)« ober linf* ober in ber
Sföitte. Tann fefcte er beljutfam bie Säge an, (teilte fle nod) einmal weg,
fputfte in bie J£>änbe unb nafjm bann bie (Säge mieber oor. 9Jun tat er
brei, »ier Stridje, etwa eine fingerbreite tief in* J$ol$, jog aber fogleid)
bie Sage wieber weg unb prüfte fle auf* pein(id)fle, breite am Stricf, be*
fühlte Da* Sägblatt, (leUte e* etwa* fd)icfer, hielt e* lange blinjelnb »or*
Äuge, feufjte al*bann tief auf unb raflete ein wenig, hierauf begann er
oon neuem unb fägte wieber einen halben 3oU tief, aber ba würbe e* iljtn
unerträglid) warm unb er mußte feinen SRotf au*$iel)en. Da* »oDfüfyrte er
fangfam unb mit 33ebad)t, fudjte aud) eine gute SBeile nad) einem fauberen
unb fidjeren £rt, um ben SXocf bal)in }u legen. 3f(* bie* bod) enblid) ge*
fdjerjen war, fing er wieber an ju fägen, jebod) nid)t lange, benn nun war
bie Sonne über* Dad) gediegen unb fdjien it)tn gerabe in* ®eftd)t. 3flfo
mußte er ben ©oef unb ba* Sd)eit unb bie Säge, jebe* Stütf einjeln, an
einen anberen "iMai; tragen, wo nod) Schatten war; bie* brad)te it)n in
Schweiß unb nun brauchte er fein Sacftud), um ffd) bie Stirne abjuwifdjen.
Da* $ud) war aber in feiner Safdje, unb ba fiel ihm ein, er habe e* ja
im 5Hecf gehabt, unb fo ging er benn bort hinüber, wo ber SÄocf lag, breitete
it)n fduberlid) au*einanber, untre unb fanb ba* farbige £fta*tud), wifätt
ben Sdjweiß ab unb fdjneujte aud) gleid), bradjte ba* Sud) wieber unter,
legte ben SRocf mit 2lufmerffamf eit jufammen unb ferjrte erfrifd)t jum Säge*
boef juruef. <%itv fanb er nun balb, er r)abe »orljer ba* (Sägeblatt oielleicht
bod) aUjufdjräg getfellt, batjer operierte er »on neuem lange baran fyrrum
unb fägte fdjließlid) unter großem St6r)nen ba* Sd)eit oollenb* burd). 3lber
nun war e* Wittag geworben unb lautete »om $urm, unb eilig jog er ben
9tocf an, (teilte bie Säge beifeite unb »erfugte ffd) in* £au* jum Sffen.
„9>ünftlid) feib 3r)r, ba* muß man @urf) (äffen, " fagte ber Strider.
Die Sauffrau trug bie (Suppe herein, banad) gab e* nod) ©irflng unb eine
Sdjeibe Specf unb J^urlin langte fleißig ju. dlad) $ifd) follte ba* Sagen
wieber lo*gel)en, aber ba weigerte er ffd) entfd)ieben.
„Da* bin id) nid)t gewöhnt," fagte er entrüftet unb blieb babei. ,,3d)
bin je$t tobe*mub unb muß nun aud) eine 9tur)e haben."
Der Stricf er jurfte bie #d)feln unb meinte: „2ut wa* 3t>r m6get,
aber wer nicht* arbeitet, befommt aud) fein Sefper. Um »ier Ur>r gibf*
Sttoft unb ©rot, wenn 3r)r gefägt r)abet, im anberen £all nid)t* mehr bi*
jur Tfbenbfuppe."
9Bofr unb ©rot, bad)te J^ürlin unb befann (cd) in fdjweren 3weifeln.
£r ging aud) binunter unb tjolte bie Säge wieber r)eroor, aber ba graute
it)m bod) oor ber Reißen mittäglichen Arbeit unb er ließ ba* #ol$ liegen,
ging auf bie ©äffe t)inau*, fanb gleid) einen 3igarrenflumpen auf bem
^Pflafter, (teefte ihn $u ffd) unb (lieg langfam bie fünfjig Schritte bi* jur
ÜBegebiegung hinan. Dort tjielt er oeratmenb an, fefcte ffd) abfeit* ber
Straße an ben fd)ön erwärmten Stain, fat) auf bie vielen Däd)er unb auf
ben Sflarftplafc hinunter, fonnte im 3algrunb aud) feine ehemalige Aabnf
liegen fernen unb weihte alfo biefen 9>la& al* erfter Sonnenbruber ein, an
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Hermann Reffe t 3" ter alten Seime.
»erlern feitber bid auf beute fo »tele »on feinen Äameraben unb SttaaV
folgern tr>re Sommernacbmittage, unb oft aud) bie Vormittage unb Hbenbe,
»erfeffen unb »erbufelt baben.
ric mobltuenb fanfte ©efdjaulicbfeit eined »on (Sorgen unb Plagen
befreiten Xlterä, bie er ftd) »om Xufentbalt im Spittel »erfprocfjen batte/
unb bte ihm am STOorgen bei ber fauren Xrbeit wie ein fchonce Jruqbilb
geronnen war, faub ftdr> nun aUmdblid) ein. Die (Gefühle eineä für ?eb*
geilen vor Sorge, junger unb ©bbacbloftgfeit gefiederten ^)enfTondr$ im
©ufen, beljarrte er moUig faul im SKafen, fut)lte auf feiner weifen Jßaut bie
fd>6ne Sonnenwdrme, überfebaute weitbin ben Sd)aupla$ feiner frieren
Umtriebe, Arbeit unb Reiben unb »artete obne Ungebulb bte jemanb fäme,
ben er um $euer für feinen 3igarrenjtumpen bitten f6nnte. Da* fcbrille
©lecbgeljdmmer einer Spenglermerfflatt, baä ferne 2Cmboßgeldut einer
Scr>miebe, ba$ leife Änarren entfernter ?aflwagen flieg, mit einigem
Straßenstaub unb bünnem SRaud) aue" großen unb deinen Scbornfleinen
»ermifd)t, jur Jßöbe berauf unb jeigte an, baß brunten in ber Stabt bra»
gehämmert, gefeilt, gearbeitet unb gefdjwilst würbe, wdbrenb Marl #ürlin
ftifl unb ungeplagt in »ornebmer @ntrücftt)eit barüber thronte.
Um »ier Ubr trat er leife in bie Stube be$ J£>au$»ater$, ber ben
Jeebel feiner fteinert Stritfmafcbinc taftmdßig hin unb ber bewegte. <ir
wartete eine 3Beile, ob eö nid)t boeb am önbc SKofl unb ©rot gdbe, aber
ber Stricfer lacbte ibn au$ unb fdjicfte ibn weg. Da ging er enttdufebt
an feinen SKubeplafc jurücf, brummte »or flcf> bin, »erbrachte eine Stunbe
ober mebr im £albfd)laf unb febaute bann bem 2lbenbwerben im engen
$ale $u. @$ war broben noeb fo warm unb bebaglid) wie $u»or, aber
feine gute Stimmung ließ mebr unb mebr nach, benn trofc feiner Srdghctt
überfiel ibn eine gewaltige langweile, aueb febrten feine ©ebanfen unauf*
b6rlid) ju bem entgangenen SBefper jurücf. (Sr fab ein tjorjed Scboppenglaä
»ofl SWofl »or ffcb fleben, gelb unb gldnjenb unb mit füßer Jfterbe buftenb.
<5r flellte ficf> »or, wie er eö in bie $anb ndbme, bad füble runbe ©lad,
unb wie er eä anfefcte, unb wie er $uer|t einen Pollen flarfen Scblurf
nebnten, bann aber langfam fparenb feblürfen würbe. 2Bütenb feufjte er
auf, fo oft er aud bem fd)6nen Sraum erwadjte, unb fein ganzer 3<>ni
richtete ftch gegen ben unbarmberjigen .£aud»ater, ben Stricfer, ben elenben
Änaufer, Änorjer, Scbinber, Seelenoerfdufer unb ©iftjuben. 9*ad)bem er
genug getobt hatte, fing er an fTcb felber leib ju tun unb würbe weinerlich,
fcbließlicb aber befebloß er, morgen ju arbeiten.
<5r fab niebt, wie bad $al bleidjer unb »on jarten Schatten erfüllt
unb wie bie SBolfen rofig würben, noch bie abenbmilbe, fuße ftdrbung bed
,£immeld unb bad t)timlid)t ©lauwerben ber entfernteren ©erge; er fal)
nur bad ibm entgangene ©lad SWofl, bie morgen nnabwenbbar feiner
barrenbe Arbeit unb bie J^drte feined Sd)icffald. Denn in berartige
Betrachtungen oerfiel er jebedmal, wenn er einen $ag lang niebtd ju trinfen
befommen fjatte. 2Bie ed wdre, je^t einen Scbnapd ju haben, baran burfte
er gar nicht benfen.
©ebeugt unb »erbroffen flieg er jur 2(benbeffendjeit tnd #aud bin*
unter unb fefcte ficf> mürrifdj an ben $ifd). £d gab Suppe, ©rot unb
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350
Hermann £cffe : 3" oltcn ©enne.
3wiebeln, unb fr aß grimmig, fo lange etwa« in ber (SchüfTel war, aber
ju trinfen gab e* nicht*. Unb nad) bem (Sffen faß er »erlaffen ba, unb
»ufte nicht wa* anfangen. Stticht* ju trinfen, nicht* ju raupen, nicht* ju
fcbwctfcen! £er ©triefer nämlich arbeitete bei Rampenlicht gefd)Äftig weiter,
um .fiürlin unbefummert.
Diefer faß eine f)albe ©tunbe lang am leeren $ifd»e, horchte auf
©auberle* flappenbe üttafcbine, fcarrte in bie gelbe gfamme ber Jßanglampe
unb oerfanf in 3fbgrünbe »on Unjufriebenfyeit, ©elbjtbebauern, SReib, 3oru
unb ©o*heit, auä benen er feinen 3Tu*meg fanb unb fud)te. (£nb(ich über
wältigte tf>n bie (rille $Dut unb J£offnung*lo|7gfeit. #och au*t)o(enb hieb
er mit ber gauft auf bie Sifchplatte, baß e* fnallte, unb rief: „Gimmel»
fterafreu$teufel*lubernoaVnmal !"
„$oUa\)f" rief ber ©triefer unb fam herüber, „wa* i\1 benn wieber
lo*? ©eflucht wirb bei mir fein nid)t!"
„3a, wa* in'* ^eiligÄ Seufel* SRamen fou" man benn anfangen?"
„3a fo, langweile? 3hr bürfet in* ©ctt."
,,©o, auch noch? Um bie 3eit fdiirft man Heine ©üben in* ©ett,
nicht mich."
„Dann wiU ich (Such eine fleine Arbeit holen."
„Arbeit? Danfe für bie ©ebinberei, 3!>r ©fla»enhanbler, 3t>r!"
„Oha, nur falt QMut! 2lber ba, lefet wa*!"
($x legte ihm ein paar SÖÄnbe au* bem burftig befe^ten 9Banbrega(
f>tn unb ging wieber an fein ©efdjÄft. «Ourlin hatte burdjau* feine Vau
jum ?efen, nahm aber boch ein* tton ben ©ücbern in bie Jßanb unb machte
e* auf. Cr* war ein Äalenber, unb er begann bie ©Über barin anjufeljen.
3Tuf bem erden QMatt war irgenbeine pbantaftifcb gefletbete ibeale §rauen*
ober Sttdbcbengeftalt al* Sitelftgur abgebilbet, mit bloßen ftußen unb offenen
Socfen. «£urlin erinnerte fleh fogletch an ein SKefttein S&leiftift, ba* er be*
faß. Orr jog e* au* ber Safdje, machte e* naß unb malte bem grauen*
jimmer jwei große runbe ©rüfle auf* lieber, bie er fo lange mit immer
wieber benefctem 93ei|tift nachfuhr unb au*malre, bi* ba* Rapier mürb war
unb \n reißen brot)te. <$r wenbete ba* SMatt um unb fat) mit ©efriebigung,
baß ber Äbbrucf feiner 3cicbnung bureb »iele ©eiten ftdjtbar war. Da*
ndchfte SMlb, auf baß er fließ, gehörte $u einem STOdrcben unb {teilte einen
Äobolb ober ©üterieb mit b6fen Äugen, gefdhrlid) friegerifchem ©chnauj*
bart unb aufgefperrtem SXiefenmaul »or. ©egierig neßte ber Kitt feinen
SMeijtift an ber Rippe unb fchrieb mit großen Deutlichen Qtachftaben neben
ben Unholb bie Söorte: „Da* ifl ber ©triefer ©auberle, £au*»ater."
(St befebloß, womöglich ba* ganje S3udj fo ju dermalen unb »erfdjwetn*
igetn. 3Tber bie folgenbe BbbÜbung feffelte if>n flarf, unb er »ergaß ffet»
baruber. ©ie jeigte bie (frploffon einer großen gabrif unb beftanb fafl
nur au* einem mächtigen X)ampf* unb gruerfegef, um welchen unb über
welchem t>a(6e unb ganje SWenfdjenletber, STOauerftürfc, 3»fget, ©tül)Ie, ©alfen
unb hatten burch bie ?ufte fauflen. ra* jog ihn an unb $wang ihn, fleh
bie ganje Wckiuditc baju au*jubenfen unb fleh namentlich oor^ufteSen, wie
e* ben ömporgefchleubertcn wot)l im Äugenblid be* 3u*bruche* 511 3J?ut
gewefen fein möchte. Darin lag ein iXei$ unb eine ©efriebigung, bie ihn
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^trmonn |>effe : 3" ber offen ©onne.
351
fange in 2Ttem gelten, benn bei aller Selbftfucht gehörte er ju ben »ielen
SWenfchen, benen anberer Seute Schicffale, namentlich wenn ffe gehörig
ittuftriert erfdjeinen, »iel naher liegen unb oiel mehr nachjubenfen unb
innerlich ju erleben geben alS it>re eigenen.
TO er feine fcinbilbungäfraft an biefem aufregenben ©Übe erfd)6pft
unb gefdttigt tjatte, fuhr er fort ju blättern unb flieg balb auf ein QMlblein,
ba$ ihn wieber feftbielt, aber auf eine ganj anbere 21rt. (5d war ein lichter,
freunblidjer J£ol$fd)nitt: eine fd)6ne Saube, an beren dußeritem 3weige ein
Schenfenftern auöfying, unb über bem Sterne faß mit gefd)n>etltem #alä unb
offenem Schndblein unb fang ein fleiner SBogel. 3n ber Saube aber erblicfte
man um einen rohen ©artentifd) eine fleine ®efellfd)aft junger SOTdnner,
Stubenten ober 3Banberburfd)en, bie plauberten unb tranfen auÄ heiteren
©ladflafchen einen guten ©ein. Seitwdrt* fal> man am Stanbe beÄ fctlb*
chen* eine jerfaHene ftefte mit $or unb türmen in ben Gimmel liefen,
unb in ben #intergrunb hinein »erlor ftd> eine fd)6ne Sanbfdjaft, etroa ba*
SRheintal, mit Strom unb Schiffen unb fernhin entfehwinbenben £6henjügen.
Die 3ed)er waren lauter junge, b«bfd)e Seute, glatt ober mit jugenblichen
Q3drtd)en, Itebenöwürbige unb heitere ©urfchen, welche offenbar bei ihrem
2ßein bie greunbfehaft unb bie Siebe, ben alten Styein unb ®otte$ blauen
Sommerhimmel priefen.
3undd)ft erinnerte biefer .ftoijfchmtt ben einfamen unb mürrifchen
^Betrachter an feine befferen 3eiten, ba er ftd) noch 2ßein hatte leiflen F6nnen
unb an bie jahlreicfjen (Sldfer unb Lecher guten ®etrdnfe$, bie er bamalä
genoffen tyattt. Dann aber wollte e$ il)m »orfommen, fo oergnügt unb
bcr\l:A) heiter wie biefe jungen 3echer fei er boch niemals gemefen, felbft
nicht »or 3eiten in ben leichtblütigen 5Banberjat)ren, ba er noch al$ junger
SehlofTergefelle unterweg* gewefen war. Diefe fommerliche gr6l)lichfeit in
ber Saube, biefe gellen, guten unb freubigen SünglingägejTchter machten ihn
traurig unb jornig; er jmeifelte, ob allcä nur bie Qrrftnbung eineS SföalerÄ
fei, oerfchonert unb oerlogen, ober ob eö auch 111 ÜÖtrfiichfeit etwa irgenbwo
folche Sauben unb fo hübfehe, frohe unb forgenlofe junge Vcute gebe. 3hr
heiterer Tin b lief erfüllte ihn mit Sfteib unb Sehnfucht unb je Idnger er ffe
anfehaute, befto mehr hatte er bie (Smpfinbung, er bliefe burch ein fchmaleä
Acnüerlein für 2Cugenblicfe in eine anbere 2ßelt, in ein fd)6nereä Sanb unb
|u freieren unb gütigeren Üflenfchen hinüber aU ihm jemals im Sehen begegnet
waren. <£r wußte nicht, in wa$ für ein frembe« IKeid? er hineinfehaue,
unb baß er btefelbe 21rt »on ©efüblen habe wie Seute, bie in Dichtungen
lefen, inbem ihre $reube an ber Schönheit beä DargefMten burch bie llber*
legung, wie »iel geringer bie alltdgliche 3Öirflichfeit fei, $u einer leichten,
füßen Trauer unb Sehnfucht wirb. Diefe 3frt Trauer unb Heimweh al$
etmaö (Büße* auöjufofren, oerjtanb er ooßenb$ nicht, alfo flappte er baS Büchlein
ju, fchmiß ee jornig auf ben $ifch, brummte unwillig Wutnacht unb begab
(ich in feine Stube hinüber, wo über Söett unb Diele unb $rub,e baä SWonb*
gwie(id)t hingebreitet lag unb in bem gefüllten 5Bafchbecfen leife leuchtete.
Die große Stille ju ber noch frühen Stunbe, baö ruhige Sttonblicht unb
ba$ leere, für eine bloße ©chlaffieUe faft ju große 3»mmer riefen in bem
alten 9taul)bein ein ®efüt)l oon unertrdglid)cr 2Jereinfamung fytxtor, bem
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352
ßennann $effe : 3n ber ö^cn ©onne.
•
er reife murmelnb unb fluchenb erjt f»>At in$ fttUr ?anb be$ ©Plummer*
entrann.
(5d fainen nun Sage, an benen er $of$ fagte unb ÜBoft unb ©rot
befam, roedjfelnb mit Sagen, an benen er faullenjte unb ohne SSefper blieb.
Oft faß er oben am ©traßenrain, giftig unb gan§ mit Söoöhcit gelaben,
fpuefte auf bie Statt hinab unb trug ©ro(l unb Verbitterung in feinem
judjtlofen $er$en. >Dad erfeljnte ©efitf)!, bequem in einem fixeren Jßafen
ju liegen, blieb aud unb ftatt beffen fam er ftd) »erfauft unb »erraten »or,
führte ©ewaltfjenen mit bem ©triefer auf ober fraß ba$ ©efühl ber 3urücf*
fe&ung unb Untujt unb Langeweile jtiß in ftd) hinein.
Stttttlerweile lief ber «Penfionätermin eined ber in ^rioattjdufern »er*
forgten ©tabtarmen ab, unb eine* Sage« rücfte in ber ©onne al$ jweiter
©oft ber frühere ©eilermeifler Sufad £eßer ein.
2ßenn bie fdjlecrjten ©efdjafte aud J^ürlin einen Srtnfer gemacht Ratten,
mar e$ mit biefem ßefler umgefefjrt gegangen. 3fudj roar er nicht wie
jener p(6^(tcf> auö -praclu unb SHeichtum hcrabgrihirjt, fonbern hatte f?cf>
(augfam unb fletig, mit ben nötigen Raufen unb 3*»ifd)enflufen, vom
befcheibenen J^anbwerWmann jum unbefdjeibenen Gumpen t)eruntergefuffeft,
wo»or ilm auch fein tüd)tige$ unb energifd)e$ 2Beib nicht hatte retten fönnen.
Vielmehr mar fte, bie ihm an Äraften weit uberlegen fchien, bem nufclofen
äampf erlegen unb Idngft geworben, mdhrenb ihr nid)t*nu$iger SD?ann ftcf>
einer jdljen ©efunbheit erfreute, noch einige Sahre weiterlumptt unb bann,
nad)bem er ruiniert unb be»ormunbet mar, trag unb ungefchwdcht einem
t)6t)cren 211ter entgegenbummelte. ^Natürlich mar er überjeugt, baß er mit
bem $Öeib fo gut wie mit ber ©eilerei ein unbegreifliches $ed) gehabt unb
nach feinen ©oben unb Stiftungen ein ganj anbereä ©chicffal »erbient habe.
#ürlin rjatte bie 3fnfunft biefe$ SWanneS mit ber febnlichlten ©pannung
erwartet, benn er war naetygerabe bed Xtteinfetnt unfdglid) müb geworben.
Tftö geller aber anrüefte, tat ber ^abrifant oornehm unb madne fTd) faum
mit ihm ju fchaffen. <&r fchimpfte fogar barüber, baß ^»eßerd SBett in feine
(Stube gejießt würbe, obwohl er heimlich froh baran war.
9*ad) ber 2(benbfuppc griff ber ©eiler, ba fein Äamerab fo fiomfdj
fchweigfam war, ju einem S3ud) unb fing $u lefen an. £ürlin faß ihm
gegenüber unb warf if)m mißtrautfeh beobadjtenbe ©liefe ju. (Stnntal, al$
ber ?efenbe über irgenb etmaä ÜÖifcigeä lachen mußte, t>atte ber anbere große
Sufl, it)n banad) ju fragen. 2tt$ aber geller im gleichen 2fugenblitf »out
93ud) auffdjaute, offenbar bereit, ben 3Öit} ju erjahlen, fdmitt Jßürlin fofort
ein fintfered ®efid)t unb tat, alä fei er ganj in bie Betrachtung einer über
ben $ifd) hinmegfriechenben SBürfe »erfunfen.
©o blieben fie l)ocfen, ben gangen langen 2fbenb. Uer eine laö unb
bliefte juweilen plauberfüdjtig auf, ber anbere beobachtete it)n ol)ne 9>aufe,
wanbte aber ben ©lief flolj jur ©cite, fo oft jener fyerüberfdjaute. Der
J^audoater flricfte unoerbroffen in bie 9?ad)t fjinein. J^ürlind «Kienenfpiel
würbe immer »erbiffener unb feinbfeliger, obwol)! er eigentlich feelenfrot)
war, nun nicht mefjr aBein in ber ©chlafftube liegen ju muffen. 211* cd
geljn Uhr fchlug, fagte ber ^audoater: „3e$t f6nntet ihr auch in* &ett gehen,
ihr jwei." ©eibe ftanben auf unb gingen hinüber.
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•Oertnanit £effe : 3" ber Sonne.
3ßat)renb bie beiben SRdnntein in ber balbbunfeln (Stube ftd) langfam
unb [teif entfleibeten, festen .Dürlm bie redete 3*it gefommen, um ritt
pruTcn&cö ©efprad) anjubinben unb über ben lang erfet)ntrn Jßaud* unb
?eibendgenoffen tnd flare ju fommen.
«Wo je$t ffnb wir ju jroeit," jtng er an unb warf feine ©efle auf
ben <Btul)l
»3a," fagte fetter.
„<5ine (Saubube ift%" fufjr ber anbere fort,
„©o? ©eift'* geroi$?"
„Ob id)'$ weiß! — Äber je$t mut? ein £eben reinfommen, fug1 id),
je$t! 3a»ol)l."
„Du?" fragte Jpeller. „3iebft bu '« £emb au« in ber dlad)t ober
bcr>drt|Vö an?"
„3m (Sommer jieb id)'$ aud."
3fud) J^etter jog fein #emb aud unb legte (td) narft in* fraefrenbe
©ett. @r begann laut ju fdjnaufen. £ber #ürlin wollte nod) mefyr erfahren.
„(Sd)lafft fd)on, geller?
„9?ein."
„>}>reffTert aud) nidjt fo. — ®elt, bu bifl 'n ©eiler?"
„®en>efen, ja. SKeifter bin id) gemefen."
„Unb je$t?"
„Unb je&t — fannft bu mid) gern baben, wenn bu bumme fragen tuft."
„3erum, fo fpri^tg! 9?arr, bu bijt n>ol)l SWeijler geroefen, aber ba$
tft nod) lange nidjtd. 3dj bin ^abrifant gemefen. ^abrtfant, üerjtanben?"
„2J?u0t ntd)t fo fd)reien, id) loeifl fd>on lang. Unb nad)b*r, »ad tyaft
benn nadjber fabrijtert?"
„SBiefo nad)t)er?"
„^rag aud) nod)! 3m 3ud)tt>au$ mein1 id)."
J^urlin meeferte belujtigt.
„Du btft rootyl 'n frommer, wad? So ein J^allelujajapfen?"
w3d)? Da* feblt grab nod)! ftromm bin id) nidjt, aber im 3ud)t*
bau« bin id) aud) nod) nid)t geroefen."
„#dtteft aud) nid)t bineingepaflt. Da ffnb meidend ganj feine Herren."
„O jegerle, fo feine Herren wie bu einer bifl? freilief), ba t>&tt*
id) mid) geniert."
„'* rebet ein jeber, »ie er'ä »erjtebt ober nid)t »erjtebt."
„3a, ba* mein' id) aud)."
„Wo fei gefd)eit, bu! ©arurn b«ft bu bie (Setierei aufgefeerft?"
„2fd), lag mid) in SXub! Die (Seilerei mar fdjon red)t, ber Teufel
iji aber ganj roo anberft gefejfcn. Da$ $Öeib mar fd)ulb."
„Da* ffieib? — £at ffe gefoffen?"
„Dad hatte nod) gefehlt! SNein, gefoffen b<»b id), wie'* ber ©raud)
i(t, unb nid)t bad SBeib. 3ber fle ift fdjulb gemefen."
„(So? 2öad bat ftc benn angeileßt?"
„grag nid)t fo Biel!"
„J&afi aud) tftnber?"
„©in fcub. 3n ^fmerifa."
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354
Hermann £effe : 3n ber alten ©enne.
„Der t>at recht. Dem ge^t'd befler al* un*."
„3a, wenn'* nur wahr war. Um ®elb fd>retbt er, ber Dacfel! £at
auch geheiratet. 5Bie er fortgegangen t(t, fag id) $u ihm: ^rieber, (ag ich,
mach'* gut unb bleib gefunb; kontier, wa* bu magd, aber wenn bu heirated,
geht'* @lenb lo*. — 3efct r>ocfr er brin. ®elt, bu t>afl fein ffieib gehabt?"
3etn. ©iehd, man fann aud) ohne 5Beib in* 9>ed) fommen. 3Ba*
meinjl?"
„Danach man einer id. 3d) wär heut noch SBeifter, wenn bie Dunber*;
frau nid)t gewefen mar."
„Via ja!"
„£ad Du »ad gefagt?"
Jßürlin fchwieg fr i II unb tat fo, ale> wäre er eingefchlafen. Sine
warnenbe Btjnung fagte ihm, baß ber ©eiler, wenn er erd einmal recht
angefangen t)abe, über fein SBeib loÄjujiehen, fein (Snbe ftnben würbe.
,,©d)Iaf nur, Dirffopf!" rief fetter herüber. <5r ließ ftd> aber nimmer
reijen, fonbern (ließ nod) eine ©eile fün(Hid)e große Btemjüge aud, bi* er
wirflid) fd)lief.
Der Seiler, ber mit feinen fechjig fahren fdjon einen fürjeren ©d)lum*
mer hatte, wad)te am folgenben SRorgen juerd auf. <5ine halbe ©tunbe
blieb er liegen unb darrte bie weiße ©tubenbeefe an. Dann flieg er, ber
fond fd)werfddig unb flcif von ©liebern erfd)ien, leicht unb leife wie ein
SWorgenlüftchen au* feinem Odette, lief barfuß unb unhörbar $u £ür(in*
Sagerdatt hinüber unb mad)te d<h an beffen über ben ©tut)! gebreiteten
Kleibern ju fchaffen. (£r burd)fud)te fit mit Verficht, fanb aber nicht* barin
al* ba* SMeidiftdümpdjen in ber 3Bedentafd)e, ba* er herau*nal)m unb für
dd) behielt. Sin ?od) im linfen ©trumpf feine* ©d)laffameraben vergrößerte
er mit £ilfe beiber Daumen um ein betrachtliche*, ©obann fehrte er fad)te
in fein warme* fcett jurücf unb regte dd) erd wieber, al* #ürlin fdjon
erwad)t unb aufgedanben war unb ihm ein paar SBaffertropfen in* ®edd)t
fprifcte, ba fprang er l)urtig auf, frod) in bie J^ofen unb fagte guten SÄorgen.
SRtt bem Änfleiben l)atte er e* gar nicht eilig, unb al* ber ^abrifant ihn
antrieb, »ormdrt* ju madjen, rief er behaglich: „3a, gel) nur eindweilen
hinüber, id) fomm bann fd)on aud) halb." Der anbere ging unb geller
atmete erleichtert auf. (£r griff he heute ftum ÜÖafd)becfen unb leerte ba*
flare 2Bafier jum ^enftcr in ben #of t)inau*, benn »or bem 3Baf<hen hatte
er ein tiefe* ©rauen. 31* er fich biefer ihm wiberdrebenben J&anblung
entjogen hatte, war er im Umfefjen mit bem 2fnfleiben fertig unb hatte e*
eilig, jum Äaffee ju fommen.
Wettmachen, 3immeraufrdumen unb ©tiefelpufcen warb beforgt, natürlich
ohne £ad unb mit reichlichen <piauberpaufen. Dem gabrtfanten fchien ba*
alle* jtu jweien bod) oiel freunblidjer unb bequemer ju gehen al* früher
allein, unb er fing an, bem tfameraben bie freunbfd)aftlid)den ©efühle ent*
gegenjubringen unb dd) auf ein erfprießliche* unb fr6hlidje* 3ufammen leben
ju freuen, ©ogar bie unentrinnbar beoordehenbe Arbeit fltößte ihm heute
etwa* weniger ©chreefen ein al* fond/ unb er ging, wenn auch jogernb,
mit fad heiterer SKiene auf bie Mahnung be* £au*»ater* mit bem ©eiler
in* £6flein hinunter.
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Hermann #effe : 3« ber alten ©onne.
355
Zrcn heftiger (£ntrüftungSauSbrüd)e beS ©tricferS unb trofc feine»
jdt)en ÄampfeS mit ber Unlufr beS Pflegling* war in ben »ergangenen
paar UBodjen an bem Holjoorrat faum eine wahrnehmbare S3erdnberung
vor ftd) gegangen. Die ©enge fd)ien nod) fo grog unb fo hoer) wie je, als
hdtte fte bie gefegnete £altbarfeit ieneS J^lfrugS unb tfabeS ber $Öitwe,
unb baS in einer (£cfe liegenbe Hduflein jerfdgter Stollen, faum $wet Dufcenb,
erinnerte etwa an bie in einer Saune begonnene unb in einer neuen Saune
liegengelaffene fpielerifdje Arbeit eine* ÄinbeS.
dlmi feilten alfo bie betten ®rauf6pfe ju jweien baran arbeiten, eS
galt, ffd) ineinander ju finben unb einanber in bie Hdnbe ju fchaffen, benn
eS mar nur ein einziger ©dgboef unb auch nur eine ©dge »ortjanben. 9?ad)
einigen oorbereitenben ©ebdrben, ©eufjern unb Lebensarten ubermanben
bie Seurinu benn aud) it)r inneres Strauben unb fehieften ftd) an, baS
©efdjdft in bie £anb ju nehmen. Unb nun jetgte fTd) leiber, ba£ £arl
HürlinS frolje Hoffnungen eitel Sräume gemefen maren, benn fogleid) trat
in ber 2(rbeitSmeife ber jwei Srdpfe ein tiefer 5BefenSunterfd)ieb jutage.
Seber »on ihnen hatte feine befonbere 2frr, tatig ju fein. 3n beiber
Seelen mahnte ndmlich, neben ber eingebornen ubermddjtigen Srdgheit, ein
Stefr »on ©ewiffen fd)üd)tern jum ftleifligfein; menigftenS wollten beibe jwar
nicht mirflidi arbeiten, aber bod> »or ftd) felber ben Xnfdjein gewinnen, als
feien (Ie etwaS nüfce. Tic* erflrebten fte nun auf burchauS »erfdjiebene
5ßeife unb cd trat tjter in biefen abgenähten, »erwifchten unb febeinbar »om
Sdjidfal ju ©rübern gemachten Zinnern ein unerwarteter 3wiefpalt ber
Anlagen unb Neigungen beroor.
Jpürlin hatte bie SKethobe, jmar fo gut wie nichts ju leiflen, aber
bod) fortwdrjrenb fetjr befchdftigt ju fein ober ju ferjeinen. Hin einfacher
Hanbgriff würbe bei il)m ju einem t)6dift »erwitfelten 2Ban6»er, inbem mit
jeber nod) fo fleinen Bewegung ein fparfam jdfjeS SRitarbanbo »erfdjwiftert
war; überbteö erfanb unb übte er twifchen jwei einfachen Bewegungen,
»eifpielSwctfe jwtfchen bem Ergreifen unb bem 2fnfe§en ber ©dge, beftdnbig
ganje bleiben pon wertlofen unb münelofen 3wifd)entdtigfeiten unb war
immer »oüauf befchdftigt, ftd) burch folche unnüge <piempereien bie eigene
liehe Arbeit mögliche noch ein wenig vom Veibc $u halten. Darin gltd)
er einem Verurteilten, ber bteö unb baS unb immer nod) etwaS auöhecfr,
roae noch gefdieben unb ftattfinben unb getan unb beforgt werben mufl, ehe
eS an« (Srleiben beS Unoermeiblichen geht. Unb fo gelang eS ihm wirflid),
bie »orgefchriebenen ©tunben mit einer ununterbrochenen ®efd)dftigfeit auS*
lufullen unb eS ju einem Schimmer »on ehrlichem ©d)weijj &u bringen, ohne
ffd) bod) anzugreifen unb eine nennenswerte Arbeit $u tun.
3n biefem eigentümlichen, jebod) praftifchen ©ojtem hatte er gehofft
von geller »erfranben unb unterftüfct ju werben, unb fanb ffd) nun p6Uig
enttdufcht. Der ©eiler ndmlid) befolgte, feinem inneren 3Befen entfprechenb,
eine entgegengefe$te SWetbobe. (£r Weigerte ftd) burd) frampfhaften <&nU
fd)luf in einen fchdumenben ^uror hinein, fturgte ffd) mit ^obeSoerachtung
in bie Arbeit unb wütete, ba$ ber Schmeiß rann unb bie Späne flogen.
Xber baö hielt nur Minuten an, bann war er erfd)6pft, hatte fein ©ewiffen
befriebigt unb rajtete tatenlos jufammengefunfen, bis nad) geraumer 3eit
356
Hermann #effe : 3n fcer alten Senne.
ber Ütaptud wieber fam unb wieber wütete unb oerraud)te. Tic fHcniitate
biefer 2Trbeitäart ubertrafen bic bed 5a^r^ante,t crf>eBltcf).
Unter folgen Umjtdnben mußte von ben beiben jeber bem anbent
$um fdjweren £tnbernid unb Ärgernis werben. £ie gewaltfame unb J)afHge,
rutfmeife einfefcenbe 3rt bed #eHer war bem ftabrifanten im 3nner|ten ju*
wiber, wdtjrenb beffen fietig traget Staffeln wieber jenem ein ©reuel war.
©enn ber «Seiler einen feiner wurenben Unfälle oon ftleiß befam, $og fidj
ber erfchrecfte £ürlin einige ©d)ritte weit jurücf unb fdjaute oerdchtlidj $u,
inbejfen jener feudjenb unb fchwißenb (ich abmühte, unb boch noch einen
Steft Pon 3ftem übrig behielt, um #ürlin feine Jaullenjerei »orjuwerfen.
„(Surf nur/' fchrie er ihn, „gucf nur, fauleö £uber, Sagbieb bu! ®elt,
baä gefüllt bir, wenn (Ich anbcre £eut für bid) abfdunben? SRatürlid), ber
Jßerr ift ja ^abrifant! 3d) glaub, bu wdrft tmtfanb unb tdtefi »ier ©ochen
am gleichen ©djeit tjerumfagen."
5Beber bie @{)renrü Ijrigf eit noch bie SBabrhett biefer Vorwürfe regte
«Oürlin ftarf auf, Dennoch blieb er ben ©eiler nichtd fchulbig. ©obalb
geller ermattet beifeite tiefte, gab er ibm fein ©dumpfen Ijeim. (5r nannte
ihn Dicffepf, Sabtfocf, tauberer, ©eileräjacfel, Surmfpifcenüergolber, tfartofrl*
f6ntg, Allerweltdbrecfler, ©choote, ©chlangenfanger, 2Robrenf)duptling, alte
©chnapöbouteille, unb erbot fleh mit tjeraudforbernben ®efien ihm fo lang
auf feinen 3Baj|erfopf ju Ijauen, bi$ er bie $Öelt für ein (Srbdpfelgemü*
unb bie jw6lf Äpojtel für eine SRduberbanbe anfdhe. 3ur Ausführung
fold)er Drohungen fam ee* natürlich nie, fTe waren rein oratorifdje ?ei|tungen
unb würben aud) vom ©egner al$ ntchtö anbereö betrachtet. (Sin paar
mal »erflagten fic einanber beim #au$»ater, aber ©auberle war gefcheit
genug, ftd) baä grünbltd) ju oerbitten.
„Äerle," fagte er ärger(id), „ihr feib boch bigoft feine ©chulbuben
mehr. Auf fo ©tdnfereien laß ich mich nicht ein; fertig, bafta!"
$ro$bem famen beibe wieber, jeber für (Ich, um einanber ju »erflagen.
£a befam beim Stöittageffen ber ftabrifant fein gleifd) unb al$ er trofctg
aufbegehrte, meinte ber ©triefer: „SKeget düd) nid)t fo auf, £ürltn, ©träfe
muß fein. £er geller bat mir erjdtylt, wa$ Ohr t>eut wieber für SKebcn
»erführt habt." £er ©eiler triumphierte über biefen unerwarteten Erfolg nid)t
wenig. Aber abenbä ging e* umgefehrt, geller befam feine ©uppe unb
bte jwei ©chlaumeier merften, baß ffe überliftet waren. 2*on ba an hatte
bie Angeberei ein (£nbe.
Untereinanber aber ließen jte ffd) feine Ütube. 9?ur feiten einmal,
wenn fte nebeneinanber am SKain broben fauerten unb ben Sorübergehenben
ihr faltigen Jßdlfe nachftreeften, fpann ffd) oieDeicht für eine ©tunbe eine
flüchtige ©eelengemeinfchaft jwifchen it)nen an, inbem fte miteinanber über
ben Sauf ber Sßelt, über ben ©triefer, über bie Armenpflege unb über ben
bünnen Kaffee im ©pittel rdfonierten ober ihre fleinen ibealen ©üter
audtaufchten, welche bei bem ©eiler in einer bünbtgen 9)fpd)ologie ber
ÜÖeibcr, bei J^ürlin binden aui 9Banbererinnerungen unb phantaftifeften
*pidnen ju ^inanjfpefulationen großen ©tild beftanben.
„©iebit bu, wenn halt einer heiratet — " fing e$ bei J^cHer aßemal
an. Unb £ürlin, wenn an ihm bie SReihe war, begann fletd: „Saufenb
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Hermann $eflfe : 3" Altai ©onne.
357
STOarf wenn mir einer lehnte — " ober: „5ßie id> bajumal in ©ohngen
brunten war." Drei SWonate fyatte er »or Sohren einmal bort gearbeitet,
aber e$ war erftaunlid), wa* il)m äße* gcrabe in Solingen pafftert unb ju
®e(td)t gefommen war.
ÜBenn fic fld) mübgefprodjen hatten, nagten ffe fdjweigenb an ihren
meijlenä falten pfeifen, legten bie 2(rme auf bie fpt&igen Änie, fpueften in
ungleidjen 3wifd)enraumen auf bie Straße unb liierten an ben frummen
alten 21pfelbaumftammen vorüber in bie ©tabt hinunter, beren Auswürflinge
ffe waren unb ber ffe in ihrer Torheit fc^uCb an ihrem Unglücf gaben.
Da würben ffe wehmütig, feueren, matten mutlofe Jßanbbewegungen unb
fühlten, baß ffe alt unb erlofd)en feien. Diefee* bauerte jretä folange, bii
bie UBehmut wieber in Q3o$t)eit umfdjlug, woju meiften* eine halbe 3tunbe
Ijinreidjte. Dann war eä gemtynltd) 2ufad fetter, ber ben Zeigen eröffnete,
$uerfl mit irgenbeiner Sflecferei.
„©telj einmal ba brunten!" rief er unb beutete talwart«.
„5Ba* benn?" brummte ber anbere.
„SÄußt aud) nort) fragen! 3d) weiß wa$ idj fer>e."
„2flfo waS, jum Deir?enfer?"
#»3d) fetje bie fogenannte $Bal$enfabrif oon weilanb Jßürlin unb
(Sdjminbelmeier, je$t Dalla« unb Äompagnie. Sleidje Seute ba$, reidje
Seute!"
„Äannjt nud) im 2fbler treffen!" murrte J^urlin.
,,©o? Danfe fd)6n."
„ffiiUft mid) falfd) madjen?"
„Sut gar nid)t not, bift'd fdjon."
.,Dre(figer ©eileräfnorje, bu!"
„3ud)tl)dudler!"
„©dmapdlump!"
„©elber einer! Du fyafi'd grab nitig, baß bu orbentlidje tfeute fdnmpft."
„3d) fdjlag bir fTeben führte ein."
„Unb id) hau bid) lahm, bu iöanfrättler, bu nafeweifer!"
Damit war bad ©efed)t eröffnet. Sftad) @rfd)6pfung ber ortsüblichen
Schimpfnamen unb (5d)anbw6rter erging ffd) bie ^>t)antaffe ber beiben
J^andwürfle in üppigen SReubilbungen oon verwegenem Älange, btd aud)
bie* Kapital aufgebraudjt war unb bie jwei ßampffMnc erfdjdpft unb er*
bittert rjintereinanber t)er in« $au$ jurücfjotteiten.
Deber l)atte feinen anberen ffiunfd), ald ben Äameraben m6gltd)jt
untergufriegen unb ffd) ihm überlegen ju fühlen, aber wenn £ür(tn ber
©efdjeitere war, fo war J^eHer ber (Sd)Iauere, unb ba ber ©trirfer feine
Partei nahm, wollte feinem ein rechter Srutnpf gelingen. Die geartetere
unb angenehmere Stellung im Spittel einzunehmen, war heiter fchnlid>e$
Verlangen; ffe oermanbten barauf fo otel (Energie, Mißtrauen, ?ttad)benfen
unb geheime ^-Uhigfeit, baß mit ber #älfte bauen ein jeber, wenn er ffe
feinerjeit nid)t gefpart l)dtte, fein Sdjifflein batte flott erhalten f6nnen, an*
ftatt ein ©onnenbrnber ju werben.
*
©üböeutfae SRonuftWte. ».5. 24
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•Oer mann .£>effe: 3n ^er ölten »ttonne.
Unterbeffen war bie große #oljlabung imJ&of langfam f (einer geworben.
£>en SKefl rjattc man für fpAter liegen laffen unb einflweilen anbere ®efd)dfte
rergenommen. geller atbtitttt tagweife in bed Stadtfchultbeipcn ©arten,
unb Jßurlin war unter hauäodterlicher 2fufftcf>t mit friedlichen S&tigfeiten
wie ©a(atpu$en, ttnfenlefen, iöot)nenfd)ni$eln unb dergleichen befebaftigf,
wo6ei er fid) nicht ju übernehmen brauchte unb bod) etwa* nüfce fein fonnte.
darüber fcf)ien bie gleinbfdjaft ber Spittelbrüder langfam heilen $u wollen,
benn ba fie nimmer ben gangen $ag beifammen waren, hatte jeber in beit
SKußeftunben genug ju flogen unb ju bertefiten. 3(ud) bildete jeber ff cf> ein,
man habe ihm gerate biefe Arbeit feiner befonberen Söorgüge wegen jugeteilr
unb ihm damit über ben andern einen Vorrang jugeftanben. ©o $og ftd>
ber Sommer l)in, bi* fdjon ba* Saub braun anzulaufen begann unb bie
Bbenbe, an benen man bi* neun Uhr ohne Sid)t fein fonnte, ein (Snbe
nahmen.
£a begegnete e* bem ftabrifanten, al* er eine* Nachmittag* allem
im Vorgang faß unb ffcfi fd)(Afrig bie ffielt betrachtete, baß ein frember
junger Sttenfd) ben ©erg berunterfam, öor ber Sonne flehen blieb unb ihn
fragte, wo e* benn jum SXathau* gehe. .ftürlin war au* Langeweile höflich,
lief |Wet ©äffen weit mit, üanb bem ^remben Siebe unb befam für feine
Sttuhe jwei 3»garren gefdjenft. (?r bat ben nachften Fuhrmann um ^eutr,
flecfte eine an unb fefjrte an feinen ©djattenplafc bei ber £au*ture jurütf,
wo er mit uberfdjwenglid)en Suflgefuljlen fld) bem lang entbehrten ®enufie
ber guten 3tgarre l)ingab, beren legten SRefl er fd)ließlid) nod) im ^feiflein
aufrauhte, bi* nur nod) 2tfd)e unb ein paar braune tropfen übrig waren.
3Tm 2Cbenb, ba ber ©eiler »om ©djuljen garten fam unb wie gew6hnlid) »iel
baoon ju erjahleu wußte, wa* für feinen QMrnenmoji unb 2Beißbrot unb
Rettiche er jum SBefper gefriegt unb wie nobel man ihn behandelt hatte,
ba beridjtete J^urlin auch fein Abenteuer mit ausführlicher ©erebfarafeit,
}u .£cücrd großem 9?eibe.
„Unb wo haji benn je$t bie 3igarren?" fragte biefer al*balb mit 3ntereffe.
„(Geraucht hah' id) ffe," lachte Jpürlin profcig.
„SUe beibe?"
„3awof)f, alter ©djweb, alle beide."
n3fuf einmal?"
„92ein, bu 8iarr, fonbern auf jweimal, eine hinter ber anberen."
„3fr* wahr?"
„UBa* folT* nid)t wahr fein?"
,,©o," meinte ber Seiler, ber e* nidu glaubte, lijlig; „dann will ich
bir wa* fagen. Dann bitf bu ndmlid) ein SKtnboterj unb ba* fein ff eine*."
,,©o? 3Barum benn?"
„Jß&ttefl eine aufgehebt, bann hatten morgen aud) wa* gehabt. $Ba£
baff je$t baoon?"
£a* h»elt ber ftabrifant nid)t au*. ®rinfenb jog er bie nod) übrige
3igarre au* ber fcrufttafd)e unb hielt fie bem neibifaen ©eiler »or* Buge,
um ihn »ollenb* red)t ju Ärgern.
„©iehfl wa*? 3a gelt, fo gottoerlaffen bumm bin id) aud) nid)t,
wie bu meinft."
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^ermann &c ffe : 3" ber ölten Sonne.
359
,,©o fo. 2llfo ba ift nod) finr. 3eig einmal!"
„#ait ba, wenn id) nur müßte!"
„Ad) wa*, bloß anfeijen! 3d) »erftel)' mid) barauf, ob'* eine feine ift.
Xu friegft fie gleid) wieber."
Da gab il)m £urlin bie 3»garre l)in, er breite ffe in ben gingern
herum, !)ielt fie an bie 9lafe, rod) ein wenig bran unb fagte, inbem er fie
ungern jurudgab, mitleibig: „Da, nimm fie nur wieber. Da* ifl oom aller*
geringen Äraut, »on ber ©orte befommt man jwei für ben £reujer."
(5* entfpann (Id) nun ein Streiten um bie ®üte unb ben ^rei* ber
3igarre, ba* bi* jum ©ettgeben bauerte. $eim Vlueflcibcn (egte Jßurlin
ben ©d)a$ auf fein Äopffiffen unb bemalte ihn dngftlid). geller bchnte:
„3a nimm fie nur mit in* SBett! 93ielleid)t friegt fie 3unge." Der gabri*
fant gab feine Antwort, unb al* jener im ©ett (ag, (egte er bie 3igarre
beljutfam auf ben ftenfrerflmfen unb flieg bann gleid)fall* ju 9*efl. UBol)lig
ftrerfte er fld) aus unb burcfjfoftete oor bem @infd)lafen nod) einmal in ber
Erinnerung ben ®enuß »om Siadjmittag, wo er ben feinen fRaudj fo jtolj
unb prablenb in bie Sonne geblafen r>atte unb wo mit bem guten Dufte
ein $Re|t feiner früheren #errlid)feit unb ®roßmann*gefuI)le in ifjm auf*
gewad)t war. ©o Ijatte er früher jwifdjen fcureau unb gabriffaal am feinen
Stengel gefogen unb forglofe, Ijerrf djaftfidje, großfaufmannifdje Soffen
h in auege Hafen ! Unb bann fcnltef er ein unb wdbrenb ber 5 räum ihm ba*
fcilb jener oerfunfenen ®lanjjeit oollenb* in aller ©lorie jurucfbefdjwor,
firerfte er fd)lafenb feine gerötete unb au* bem 9lid)tmaß geratene 9?afe
mit ber gangen »ornebm ftoljen ©eltoeradjtung feiner beflen 3etten in
bie ?ufte.
Allein mitten in ber 9?ad)t wadjte er ganj wiber alle ®ewor>nl)eit
plö$lid) auf, unb ba faf) er im falben Std)t ben ©eiler*mann ju Raupten
feine* fcette* flehen unb bie magere £anb nad) ber auf bem ©imfen
(iegenben 3igarre au*jtrerfen.
Stfit einem 2Butfd)rei warf er fld) au* bem Odette unb oerfperrte bem
SKiffetater ben SXürfweg. Eine 10 eile würbe fein ÜBort gefprodjen, fonbern
bie beiben fteinbe ftanben etnanber regung*lo* unb fafe Inacfenb gegenüber,
muflerten fccf> mit burenbohrenben 3oniblirfen unb wußten felber nid)t, war
ce Angjl ober Übermaß ber llberrafd)ung, baß ffe einanber nicht fdjon an
ben Jpaarcn hatten.
»?eg bie 3«garre weg!" rief enblid) £ürlin feudjenb.
Der ©eiler rührte ftd) nidjt.
„5Beg legft fie!" fd)rie ber anbere nod) einmal, unb al* J&eller wieber
nidjt folgte, rjolte er au* unb Ijatte iljm orjne 3»eifel eine faftige Ohrfeige
gegeben, wenn ber ©eiler fld) nicht beizeiten gebüeft hätte. Dabei entfiel
bemfelben aber bie 3igarre, #ürlin wollte eiltgjt nad) ihr langen, ba trat
eller mit ber fterfe brauf, baß fie mit teifem &niflero in ©tuefe ging.
3efct befam er Pom ftabrifanten einen 'Puff in bie Stippen, unb e* begann
eine gelinbe Balgerei. (J* war $um er(lenmal, baß bie beiben hanbgemem
würben, aber bie Feigheit wog ben 3orn fo jiemlid) auf, unb e* fam nid)t*
<$rfletf(id)e* babei heran*. 93alb trat ber eine einen ©djritt Por unb balb
ber anbere, fo fdwben bie naeften Alten ohne »iel ©erdufd) in ber Stube
24*
360
Hermann -öcffe : 3" ber ölten ©ornie.
berum, al$ übten jle einen antifen $an$, unb jeber war ein «£elb unb feiner
befam #iebe. Da* ging fo lange, bi$ in einem günfttgen Äugenblicf bem
ftabrifanten feine leere 9Bafd)fd)üffel in bie #anb geriet; er fdjwang fie
wilb über ffd) burdj bie Suft unb ließ f!e mad)tt>oll auf ben ©djäbel feine«
unbewaffneten fteinbcö herabfaincn. ©onberlid) web tat e$ gewiß nicht,
aber btefer Jßauptfdjlag mit ber ©led)fd)üffel gab einen fo frtegerifd) fdjmettern*
ben Alang burchö ganje £au$, baß fogleid) bie 3üre ging, ber «Oaudoater
im J$embe bereintrat unb mit ©dumpfen unb £ad)cn oor ben 3weifampfern
flehen blieb.
•,3b* fe*b Dofli °if reinen ^audbuben," rief er fdjarf, „boret eud) ba
fplitternaeft in ber ©übe berum, fo jwei alte ®eißb6cfe! ^)arfet euch ind
©ett, unb wenn id) nod) einen $on ihr1, f6nnt itjr eud) gratulieren."
„©eftoblen bat er" — fdjrie £ürlin, bor 3orn unb ©eleibigung fajl
beulenb. @r warb aber fofort unterbrochen unb jur SRube »erwiefen. Vit
®eißb6cfe jogen ftd) murrenb in itjrc ©etten |urücf, ber ©triefer borgte noct)
eine fleine ÜBeile oor ber 3üre unb aud) ald er fort war, blieb in ber
Stube alled (HOL Sieben bem $Bafd)becfen lagen bie krümmer ber 3»garre
am ©oben, burdie ^enfter fat> bie blaffe ©patfommernad)t tjeretn unb über
ben beiben töbltch ergrimmten 3augentd)tfen hincj an ber 3Banb oon ©lumen
umranft ber Spruch: „ßinblein, liebet eud) unterem anber!"
©enigftenä einen fleinen £riumpb trug Jßürlin am anbern Sage aui
biefer 2lffdre baoon. £r weigerte ftd) ftanbbaft, fernerbin mit bem ©eiler
nad)t$ bie ©rube $u teilen, unb nad) bartnaefigem ÜBiberftanb mußte ber
©triefer fld) baju oerfleben, jenem ba* anbere ©tübeben anjuwetfen. ©o
war ber ftabrifant wieber jum (Sinjtebler geworben, unb fo gerne er bie
®efellfd)aft be« ©eilermeifter* lo$ war, machte e* tt}tt bod) fdjmermüttg, fo
baß er jum erftenmal beutlid) fpürte, in wa$ für eine boffnungdlofe ©aef*
gaffe ihn bad ©d)icffal auf feine alten Sage geflogen hatte.
Daö waren feine fräblidjen SJorftellungen für ben armen 2tlten. $rüt)er
war er, ging eö wie cö mochte, bod) wemgftenö frei gewefen, hatte aud) in
ben elenbefien 3citcn je unb je noch ein paar ©a$en fürö tiR>trtöhauö gehabt
unb fonnte, wenn er nur wollte, jeben Sag wieber auf bie 3Banberfd)aft geben.
3e$t aber faß er ba, redjtloö unb be&ormunbet, befam ntemaU einen blutigen
©a$en ju feben unb batte in ber Söelt ntd)t$ mebr »or feef» ald ooHenb*
alt unb mürb \u werben unb ju feiner 3eit ftd) belegen.
<5r begann, wad er fonft nie getan batte, »on feiner bob,en ffiarte
am 2ttlpacber ©traßenratn über bie ©tabt binweg bad Sal binab* unb bi«auf=
juaugen, bie weißen Sanbflraßen mit bem ©lief $u meffen unb ben fliegenben
5B6geln unb USolfen, ben »orbeifabrenben 5Bagen unb ben ab« unb jugebenben
^ußwanberern mit ©ebnfudjt nadjjubltcfen, alö ein trauernber 2luögefd)loffener
unb liegengebliebener, ber nimmer mitfann. ftür bie 2lbenbe gewöhnte er
fld) nun fogar bad Vefen an, aber aui ben erbaulieben (Mdnchtcn ber
Äalenber unb frommen 3eitfd)riften tytaui Ijob er oft fremb unb bebrüeft
ben ©lief, empfanb, baß er mit biefen beuten unb ©egebenbeiten nid)tö
gemein unb nid)td gu tun babe, erinnerte ftd) an feine jungen Sabre, an
©Olingen, an feine ^abrif, and 3ud)tbauö, an bie 2lbenbe in ber ehemaligen
©onne unb bad)te immer wieber baran, baß er nun allein fei, boffnungdlo* allein.
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Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
361
I er ©eiler Jpeller mufierte ihn mit b6$artigen ^ntenHicfen, nerfud)te
aber nadj einiger 3eit bod) ben Sßcrferjr wieber ine" ©eleife ju bringen.
<5o baf er etwa gelegentfid), wenn er ben ^abrifanten braufen am SRube*
pla$ antraf, ein freunblicf)e$ ®ef!d)t fdjnitt unb ihm jurief: „<Sd)6ned SBetter,
Marlin! Da* gibt einen guten £erbft, wae" meinjt?" 3ber Marlin fah tt>n
nur an, nirfte trag unb gab feinen $on öon f?cf>.
33ermutfid) hatte flcf> attmablid) trofcbem wieber irgenbein ftdblein
jroifchen ben $ru$f6pfen angefponnen, benn au* feinem üertforften $ieffinn
unb ®ram herauf hatte .öurhn bod) itnie Vcbcn gern nad) bem ndd)flen
bellen SWenfdjenwefen gegriffen, um nur ba$ etenbe ©efühf. ber SBereinfamung
unb Veerc $eitmeife loö&uwerben. Der $au$oater, bem bed ^abrifanten
fnüce Sdjwermüteln gar md)t gefiel, tat aud), waö er fonnte, um feine
beiben Pfleglinge wieber aneinanberjubringen. Da fam enblid) allen breien
eine <5rl6fung, wenn fd)on eine jweifelbaftc.
(ed>lu§ folgt.) •
Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
Von Adolf Frey in Zürich.
Ort der Handlung: Vor der Teilskapelle am Vierwaldstlttersee.
I.
Kinder kommen und tanzen, wozu sie singen:
Frau Frene hat einen Feigenbaum,
Da legt sich Tannhauser schlafen;
Es kommt ihm vor in seinem Traum,
Nach Rom muss er wallfahrten.
Gib mir die Hand und spring
Mit mir in diesem Ring!
Tannhauser und Frau Frene!
Da stand er auf und ging zum Papst,
Er ging mit blutten Füssen,
Er fiel wohl nieder auf seine Knie,
Seine Sünden wollt' er büssen.
Gib mir die Hand . . .
Der Papst hält einen dürren Stab,
Den stösst er wider die Erden:
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362
Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
„So wenig dieser Stab ergrünt,
Wird dir vergeben werden!*
Gib mir die Hand . . .
Da zog er heim in Frau Frenes Berg
Und ewig ohne Ende,
Da fand er ihren roten Mund
Und ihre schlohweissen Hände.
Gib mir die Hand . . .
Es währt wohl an den dritten Tag,
Der Stab trägt Laub und Blumen,
Tannhauser ist vom Papst gelöst
Von aller Schuld und Sünde.
Gib mir die Hand . . .
Wild mann und Wildfrau, ganz in Tannenreiser eingehüllt, kommen herbei
gesprungen.
Platz, ihr Chinder, für d' Chilbilüt!
Es erscheinen die Kilbeleute, voran eine Musik, bestehend aus Geige, Bassgeige
und Klarinette. Wildmann und Wildfrau treten vor.
Wild mann.
Wenn i-n-emol es Fraueli ha,
So weiss i, was i mache:
I legge-n-em e Kummet a
Und fahre mit em z' Acher.
Wildweib.
Wenn eine es steinigs Acherli het
Und au e mutze Pflug,
Derzue n-es rüdigs Fraueli,
So het er z' chratze gnue.
W ildmann.
Dreckigs Buremeiteli,
Wie viel Eier um e Batze?
Wildweib.
Gnädige Herr us der Stadt,
Schläcket mi ab, so wird i glatt —
Drü Eier um e Batze.
Beide.
Wie höcher uf em Bergli,
Wie chüeler der Wind:
Wie nächer bim Schätzli,
Wie chliner die Sünd.
Schön Rosen im Garte,
Meirisli im Wald,
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Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
363
Chund der Gugger cho rüefe,
So ghöre si's bald.
W i 1 d m a n n.
Meitli, i will d'r en Batze ge,
Wenn d' mi lost es Chüssli ne!
Wildweib.
Bisch du nid e närsches Chind?
Bhalt din Batze und chüss mi gschwind!
Beide.
Bald so lüchtet der Obestärn
Und i möcht zue mim Schätzen gürn.
Wo-n-i chume vor's Schätzeiis Hus,
Ist mis Schätzen nümmen uf.
Wo-n-i chume vor's Schätzeiis Tür,
Sind scho alli Rigeli für.
Do legg i mi under e Birlibaum,
Bis's mir vo mim Schätzeli träumt.
Ein Fahnenschwinger tritt vor und vollzieht das Fahnenschwingen unter Musik-
begleitung.
Wie er fertig und zurückgetreten ist, setzt die Musik von neuem ein, ein Paar tritt
vor und tanzt einen alten Tanz. Hierauf stimmen alle Anwesenden das Lied an:
Es pfeift ein Vöglein heuer
Im Wald zum letztenmal:
Da klingeln von den Alpen
Die Senten in das Tal.
In unserm Hirtenlande
Da steht ein güldner Thron,
Drauf sitzt die Muttergottes
Mit ihrem heiligen Sohn.
Sie ist in Ewigkeit
Mit Gnaden übergössen
Und hält uns allezeit
In ihrer Hut beschlossen.
Stäubt Sturm den Schnee zum Gaden,
So lacht das Hirtenkind:
Bald blinzelt durch den Laden
Der Lenz und sein Gesind.
In unserm Hirtenlande . . .
Dann fegt von Bühl und Halde
Der Föhn den Winterwust
Und alle Raine stolzieren
Mit Jodler und mit Blust.
In unserm Hirtenlande . . .
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364
Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
Auf wieder mit den Herden!
Gesegnet ist das Jahr
Mit Frieden und mit Tagwerk,
Wie es den Ahnen war.
In unserm Hirtenlande . . .
"Während des Gesanges gehen alle Anwesenden ab. Den letzten noch begegnend
und von ihnen neugierig betrachtet, erscheint Goethe mit einem alten Schiffer und
zwei jungen Schifferinnen.
Goethe.
Heut blüht das Hirtenjahr mit Lust und Lied ab
Nach Väterbräuchen, die der Enkel hütet,
In seinen Felsenzirkeln unberührt
Von Sturm und Brandung aufgeregter Welt.
Wie lieblich lauscht im Sonnenblick der See
Und spielt die Schmeichelwogen ans Gestad,
Indessen ungeheure Steingebilde,
Das Haupt mit weissen Wolken überschleiert,
In den Bezirk der dünnen Lüfte steigen.
Sanft lagern zwischen ernsten Felsensäulen,
Von Kluft und dunkeln Wäldern abgegrenzt,
Die grünen Täler mit den braunen Hütten.
Der Herdenglockenlaut von Trift und Halden
Und Ruderschlag auf sanftbewegter Welle
Umklingen dieser Hirten Lebenslauf
Und den gemessnen Gang der stillen Hören.
Hier ist dir mancher Pfad bereitet, Muse,
Sei's nah der Flut, sei's im Gebirge droben
Auf Ziegensteigen zwischen Trümmerblöcken,
Wo du dem Fremdling aus dem fernen Norden
Das Lied der Hirtenhelden singen magst,
Die Zwingherrnwillkür männlich abgeschüttelt.
Von Bucht zu Bucht, von Berg zu Bergen lispelt
Die graue Sage ungewohnte Taten,
Und wo ein Ruder schlägt, ein Wandrer schreitet,
Blickt sie aus ernsten Augen sinnend auf.
Dort drüben in der Hut des Waldgeländes
Erwuchs der Schwur in herber Spätherbstnacht
Und schüttete den Samen der Empörung
Bergaufwärts ins entlegenste Gelass.
Auf Weg und Stegen flüsterte Verschwörung,
Und jeder sah den andern wissend an,
Denn kein Verrat gedieh in diesem Volke.
Hier auf die Klippe wagte Teil den Sprung,
Der Schütze, Ferge und Achill der Hirten,
Und stiess des Drängers Fahrzeug in den Sturm.
Von dieser Stelle brach er auf zum Schusse,
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Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil. 365
Der ihn unsterblich machte, wie der erste.
Gewähre mir am heim'schen Herde, Muse,
Der Männer Werke mit dem Licht der Matten
Und mit der Felsennacht in eins zu weben,
Nacheifernd dem Gesänge des Homer!
Im Norden gönne mir, mit frischen Augen
Mein eingesammelt Reisegut zu schauen,
Das ich von Tag zu Tage glücklich mehrte:
Den See im Mondenstrahl, im Mittagsglast,
Darauf der starren Berge schwankend Bild;
Die Nebelschleppen an den Felsenfüssen,
Vom ersten Morgenleuchten zart entzündet;
Den Sturm, der aus den Schluchten in die Flut stürzt
Und brüllend rings der Berge Flanken peitscht;
Die Wiesen und den Wald im Morgentau,
Vom Jauchzen neuerwachten Lebens klingend;
Den alten Weg zum rauhen Haupt des Gotthard,
Wo die beeisten Zacken niederstarren,
Wildwasser aus den Urgesteinen tosen,
Die Nebel steigen, sinken, ziehen, schwinden!
(Sinnend vor sich hinblickend. Pause.)
Auf diesen Pfaden wandert harmlos Teil,
Die schweren Lasten durch die Höhen schleppend,
Und singt beim Niederstieg ein altes Lied,
Er, der ein halb Jahrtausend schon zum Lied
Im Mund der Männer und der Frauen ward!
(Sich zu den Schifferinnen wendend.)
Ihr Maidlein, singt mir noch einmal das Lied
Vom Teil, das ihr mir überm Wasser sangt!
Auf diesen Uferaltarsteinen blüht
Am würdigsten Gesang dem Heros auf.
(Die zwei Schifferinnen treten vor und singen, vom Alien begleitet.)
Wilhelm bin ich der Teile
Aus altem Heldenblut,
Dem Vaterland erworben
Hab ich der Freiheit Gut.
Es trieb auf wilden Wellen
Das Schiff und der Tyrann,
Doch auf die Felsenplatte
Dem Zwingherrn ich entrann.
Wohl über der hohlen Gassen
Stand ich dem Vogt bereit,
Bei einer Haselstauden
Erharrt' ich meine Zeit.
Und als er kam geritten
Mit seinen Knechten vorbei,
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366
Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
Traf ich ins Herz ihn mitten
Und brach die Tyrannei.
Wir drei Gesellen haben
Geschlossen einen Bund,
Da wurden die Burgen und Festen
Gebrochen auf den Grund.
Dran denket, Eidgenossen!
Ein Teil kommt nimmermehr;
Drum haltet fest in Händen
Der Väter Ehr und Wehr!
Goethe.
Wie hold der Widerhall von Fels und Flut!
O möchte künftig wie seit grauen Zeiten
Nur Jauchzer und die hirtliche Schalmei
Das Echo dieser Felsentempel hören!
(Nachdenklich)
Der Kriegsgott macht den Rundgang durch die Welt
Vielleicht, dass er dies Paradies verschont!
(Ab mit den andern.)
II.
Ein Haufen Weiber, Kinder und Greise erscheinen, und einige halten Ausschau
auf den See hinaus.
Maria Vonmatt.
Seht, seht! schon wiederum ein Floss und voll
Mit Kriegs volk!
Kaspar Durrer.
Wie die blanken Büchsen blitzen!
Anton Zumbühl.
Und auch Kanonen sind dabei — zwei — drei!
Renn Amstad
(links auf der Bühne, auf seinen Stab gestutzt).
Schon gestern ging es den geschlagnen Tag
Und heut die ganze Nacht mit Flössen und
Mit Nauen. Blutig züngelten die Fackeln
Und zeigten unser nahend Unheil an.
Es kauerte im Schiff wie Teufelsfratzen,
Und das Gerufe gellte das Gestad auf.
Ignaz I m bo den
(in der Mitte, auf den Stab gestützt).
Und auch zu Lande rückten sie herbei,
Husaren, Grenadiere, Voltigeurs.
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Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil. 367
Seitdem die Schweden in das Land gezogen
Vor unvordenklich abgelaufner Zeit,
Ward nie bei uns ein solches Heer erhört.
Jöri Anderrüti
(rechts, gleichfalls auf einen Stab gestützt).
Ein schandbar Volk! Es hat im eignen Lande
Gemordet und Gottshäuser eingeäschert,
Italien ausgeraubt und Bern geplündert
Und Freveltat auf Freveltat gestossen.
Das ist ein Kampf mit Teufeln, nicht mit Menschen!
(Man hört Sturm läuten.)
Maria Vonmatt.
Die Kirchen und Kapellen stürmen wieder!
Katharina Schriber.
Die Not muss gross sein!
Kaspar Durrer.
Ach, wie steht's mit Unsern!
Maria Vonmatt.
Allmächtiger Gott, wie wird es uns ergehen!
Kaspar Durrer
(zu dem bewaffnet dataereilenden Benedikt Joller).
Wohin so schnell des Wegs?
Benediktjoller (vierzehnjährig).
Wohin? Dahin,
Wo's heute jeden treibt, der helfen will.
Kaspar Durrer.
O junges Blut —
Benediktjoller.
Was junges Blut? Ob jung,
Ob alt, es ist ein jeder recht, der dreinschlägt! (Ab.)
Kaspar Durrer.
Der Väter Mannbeit ist uns noch geblieben!
Die Kinder selber zieht es in den Streit,
Wie's in den alten Heldenbüchern heisst.
Anton Zumbühl.
Da Tapferkeit nicht mangelt, und Gebete
Zum Himmel sendet, was nicht kämpfen kann,
So lassen wir die Hoffnung nicht auf Sieg,
I
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368
Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
Remi Amstad.
Die Hoffnung lass ich fahren! Die Altvordern
Erharrten ihren Feind nicht hinterm Bollwerk,
Sie rückten an die Marken ihm entgegen
Und rüsteten ihm Schmaus und Willkomm zu,
Dass er mit seinem Blut die Zeche zahlte
Und keinen mehr nach Wiederkehr verlangte.
Heut aber steht der Feind in unserm Bergland,
Dass uns der Raum gebricht zu Lauf und Ansprang.
Ignaz Imboden.
Zur Zeit der Bundesblüte zuckten alle
Geschwornen Banner samthaft in die Lüfte,
Sobald der Kriegshauch eins erst aufgeweht,
Wie Flammen aus demselben Schindeldach.
Ein Land, ein Zorn, ein Heer und eine Schlacht —
Das machte uns den grossen Herren furchtbar.
Jetzt aber tritt der Feind ein Flämmchen nach
Dem andern mühlos aus — und uns zuletzt 1
Jöri Anderrüti.
Den Ahnen würzte Krieg den faden Frieden.
In Fehden aufgenährt, nach Fehden dürstend,
Vererbten sie vom Vater auf den Enkel
Der Schlachtengänger ungestümen Geist.
Doch wir zermürbten mählich mit dem Ruhm,
Den wie die Kriegswehr heimlich Rost zerfrass.
Uns blieb nur ungefüge Tapferkeit,
Die den Gefahren trotzt, doch sie nicht vorsieht!
Kaspar Durrer
(zu dem verbunden berbeiwankenden Hans von Flüc).
Um aller Heiligen willen sag, wo kommst
Du her? Und sag, wie siehst du aus?
Hans von Flüe.
Sei froh,
Dass du nicht warst, wo ich! Es war das Rauhste,
Was ich erlebt, fast, denk' ich, auch das Letzte!
Maria Vonmatt.
Hast du den Seppi nicht gesehn?
Katharina Schriber.
Was weist du
Vom Toni? Lebt er noch?
Josefa Kaiser.
Wo ist mein Mann?
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Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
369
Hans von Flüe.
Gebt Ruh! Mir brennt der Kopf wie Höllenglut!
Es ist mir rot vor meinen Augen, rot
Vom vielen Blut und schwarz vom Pulverdampf!
Glaubt mir, wer heut zu Boden kam, der springt
Sobald nicht wiederum auf seine Beine.
Das Leben war so wohlfeil heut wie Schnitze
Lebkuchen auf der Kilbe sind. Ich will
Nicht selig werden, wenn ich weniger
Als Finger hier an dieser meiner Hand
Von den Weisshosen in das Gras gelegt.
Kaspar Durrer.
Wie ging's denn zu? Ist alles hin und fertig?
Hans von Flüe.
Der Streit ist hin, das Land dazu! Wir haben
Mannhaft ig uns zur Wehr gesetzt. Was half's!
Die Überzahl erdrückte uns am Ende.
Kaum tagt' es recht am Berg, so spratzelte
Das Pulver schon auf unsern Pfannen. Finstre,
Totstille Reihen schlichen vom Gestad her,
Und immer neue Dränger schütteten
Die Flösse und die Nauen an das Land.
Wir zielten sauber, doch wo einer stürzte,
Da standen zwei und drückten Schritt für Schritt uns
Zurück und zehnteten uns manchen Mann.
Das Pulver ging uns aus. Da brauchten wir
Die Kolben. Einen traf ich, dass der Schaft
Zersprang. Dann schlug ich mit dem Rohr drein. Plötzlich
Wird's Nacht um mich. Weiss nicht, wie lang ich lag.
Jetzt, wie ich wieder zu mir komme, tobt
Der Kampf schon weit bergauf. Die Häuser brennen,
Es tost von Schüssen, Glocken und Geschrei.
Aus einem Büschel Toter wind' ich mich
Heraus und weiss nicht, wie ich hierher kam —
Hier hat mein Weg ein Ende — Betet, betet
Für meine arme Seele! Ach, ich hab*
Es bitter nötig, nötiger als ihrl
(Wankt zur Seite.)
Josef Blättler
(mit Hans Niederberger auf einer aus Zweigen geflochtenen Tragbahre eine Ver-
wundete herbeibringend).
Da, sorgt für sie, was noch zu sorgen ist!
Wir haben keine Zeit! Die Teufel sind
Uns auf dem Hals! (Ab.)
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37C
Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil
Maria Vonmatt.
Die Esther Odermatt!
Katharina Schriber
(beugt sich über sie).
Es ist vorbei! Sie ist im Schoss der Heiligen!
Remi Amstad.
Die arge Zeit steht auf dem Kopfe! Mädchen
Verbluten im Gefechte für die Heimat,
Indes ein langer Friede uns ergrauen
Und kraftlos werden Hess, den Untergang
Des Landes jammervoll mit anzuschauen.
Aloys Aschwanden
(graubänig, blutig, ein Gewehr in der Hand, herbeieilend).
Mit glüher Rute stäupte uns der Herr!
Das ganze Tal ist eine einz'ge Brandstatt,
Die Kirche brennt, der letzte Stadel lodert!
Kein Brett ist mehr, worauf der Müde rasten,
Kein Winkel, wo der Kranke sterben kann!
Das Feld ist wüst, die Herden sind geraubt!
Wo Brunnen strudelten, da sickert Blut,
Wo fromme Kreuze standen, grinst der Mord!
Denn Greis und Mann und Jüngling schlug das Schwert! (Ab.)
Ein Senne tritt auf, einen Wunden stützend, der eine fast leere Fahnenstange trägt.
Ein Schuss knallt Die beiden stürzen über dem Banner zusammen. Ein Haufe
Franken erscheint. Einige von ihnen rufen: libertt, fraternite, egalitt! Andere
feuern Schüsse ab. Unter den Klingen der Marseillaise entfernen sie sich. Die
Anwesenden verharren in ängstlicher Beklommenheit. Ernste Musik ertönt und
nimmt dann eine hellere, kräftige Firbung an. Da erscheint
Schiller.
Mit Schmerzen klag' ich eure herbe Drangsal,
Die selbst dem starren Auge des Barbaren
Der Tränen ungewohnten Zoll erpresste.
Der Franke brachte euch die neue Freiheit
Und brach die alte Freiheit euch in Stücke,
Zugleich der Bünde grauen Bau zerschmetternd,
Der lang vor Wetterunbill euch beschirmt.
Errichtet ist der neuen Freiheit Altar,
Jedoch erschlagen liegt davor der Hirt
In seinem Blut, und seine Hütte lodert
Als grauser Opferbrand anklagend auf.
Doch auf die Herzen über Los und Fügung!
Noch trägt und hegt euch heil'ge Muttererde,
Die aufgewühlte Trift begrast sich wieder,
Das Leben überblüht die tiefsten Grüfte,
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Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil. 371
Dem Trümmerschutt entsteigen neue Hütten,
Und stillvertraute Weisen singend schüttet
Geneigt Geschick die Lose aus der Urne.
Um eure Stirnen spült noch heut der Berghauch,
Der schon der Vordem kräftiges Geschlecht
Genährt; von Felsenstaufen setzen Bäche,
Darein der Ahne schon die Lippe tauchte;
Es blitzt dieselbe Flut um euern Kiel,
Die störrisch einst das Ruder Teils umschäumte.
Noch schreitet das gelenke Volk der Sennen
Am jähen Fluhband jodelnd durch die Nebel,
Und in die schneebehangnen Schlüfte klettert
Der Jäger auf, das Gemswild zu belauern
Und in den Horst des Adlers einzuklimmen,
Der im Gewölke seinen Fittig netzt.
Und gleich dem Ahnen, der mit harten Fäusten
Furchtlos die stahlgeschiente Zwingherrnkralle
Zerdrückte und der erzgebundnen Garbe
Von Widersachern Streit und Fehde bot,
So standet mutig ihr dem Feind und Tod!
Zwar euch verliess der Väter Glück, jedoch
Ihr Mannsinn blieb euch und die Heimatliebe.
Das ist ein Heiltum, das Dämonen bändigt!
Wer diese Tugenden im Busen trägt,
Ertrotzt vom spröden Schicksal sich das Glück.
Vertraut! euch lächeln wieder sel'ge Tage,
Wo ihr, vereint mit treuen Bundgenossen,
Im lieblichsten und trotzigsten Gelände
Der Welt die angestammte Flur bebaut.
Und wo ihr friedsam eure Herden hirtet,
Auf windgekrausten Wogen Segel spannt,
Die braune Scholle grabt, die Gemse pirscht,
Im ernsten Spiel die blanke Waffe probt,
Da gehn allüberall mit euch die Ahnen,
Die in den gleichen Gründen einst geatmet.
Dreifach beglückt, wem auf des Lebens Pfaden
Die Vorderhut der hehren Schatten vorgeht!
Mit stillen Augen, sanft wie Mimachtsterne,
Betrachten sie des Enkels werdend Werk
Und weisen mit den ausgestreckten Händen
Lautlos, doch dringlich auf das rechte Ziel.
Die Kunde von dem Hochsinn eurer Väter
Strahlt auf den Erdkreis wie der Firnen Schneeschein,
Und Märe schlägt in alterswürdiger Chronik
Die sieggefüllten Blätter freudig um.
Begierig trank ich ihre hohe Botschaft,
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372
Adolf Frey: Zur Hundertjahrfeier von Schillers Teil.
Und kühnliches Geschehnis, heldische
Gestalten füllten mächtig meinen Busen.
Während der folgenden Worte erscheinen hinter Schiller Teil, den Knaben an der
Hand, Walther Fürst, Staufracher usw. und stellen sich im Halbkreis auf.
Schon sah ich hier an Uferfelsgebreiten
Und drüben an dem schwesterlichen Hange
Des Sees den Teil mit seiner sichern Armbrust,
Den greisen Freiherrn und die kluge Gertrud,
Sah die beherzten drei, die allererst
Die Hand zum Schwur erhoben, sah gewicht'gen
Ratschlag am Feuer in der Rütlinacht!
Ich sah die vögtische Gewalt und Untat,
Ich sah den Strafpfeil von der Sehne schwirren,
Sah Zwingherrnhuten brechen, Burgen lodern!
Fast wie im Traum aus sonn'gen Geisterweiten
Umtönt von Herdenreigen und Schalmeien
Und überstrahlt von Silbergletscherlicht,
Goss ich in Dichterworte, was ich sah!
Und meine Seele goss ich ganz hinein,
Mit meinem Hauch versunkne Welt belebend!
Wenn fürderhin der Ahn, der Vorzeit Schleier
Abstreifend, greifbar, blutwarm vor euch tritt,
So trachtet, seiner würdig stets zu bleiben,
Und seid des Sängers eingedenk, dem schon
Die Schatten ewiger Nacht entgegendunkeln
Und der, zu unterst auf des Lebens Stufe
Vom letzten Sonnenblick gestreift, sein Werk
Dem Volk der Schweizer in die Hände legt!
Es erscheinen zwei schwarzgekleidete Genien, nehmen den Dichter in die Mine,
führen ihn nach vorwärts die Stufen herunter in einen bereitstehenden Kahn und
rudern mit ihm davon. Unterdessen ertönen die wehmütigen Klänge eines Alp-
horns. Die Gestalten aus seinem Teil treten, dem Dichter nachfolgend, in den
Vordergrund. Gesang der Insassen der drei grossen bekränzten Nauen, in welchen
sich die Vertreter der drei Stände Um, Schwyz und Unterwaiden befinden und in
welche während des Gesangs alle Spi-lenden einsteigen. Sobald die letzten ein-
gestiegen sind, setzen sich die Nau n in Bewegung, um zum Schillerstein hin-
überzufahren.
Halbchor.
Lasset uns seeüber steuern
Zu dem wettergrauen Steine,
Der auf grünem Wogenschilde
Trotzig Strand unJ Flut bewacht!
Seht auf seiner Stirn die Zeichen,
Die in Gottes Sonne funkeln!
Seht des Dichters hehren Namen,
Der uns wie ein Gott beschenkt!
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Sari 5ffieitbred)t: SRebe bei ber (£inmeibung bei ©djittennufeumi in 3Jtarba<f>. 373
Schwenkt die Fahnen in die Lüfte!
Streuet Lieder auf die Wellen,
Dass es von den Felsensöllern
Klingend auf die Wasser triuft!
Gesang aller.
Es schlief am felsbesäumten Strande
Die Sage ein beim Flutensang;
Da brachen ihre Schlummerbande,
Als ihr dein Saitenspiel erklang.
Du hast des Ahnen Mund entsiegelt
Und deiner Seele Glut und Hort
In seiner Seele abgespiegelt
Und ihn gefürstet durch dein Wort.
Es wird dein Name bei uns blühen,
So lang am Berg die Gemse springt,
So lang von absturzsteilen Flühen
Des Alphorns tiefes Heimweh klingt!
&efce bei i>et iEmwriljimg fces @d)illecmufeum6
in tRarbad) am J<X Xiovtmbtt J903.
©ehalten »on Sari ffieitbrec&t, geft. 10. 3uni 1904.
Die nadjftebenbe 9tece mar bie le§te, Die Äarl 9ßeitbred)t gehalten bat, unb fo
tfl lai lefcte, ma* er öffentttd) gefprod>en, feinem Ciebltngäbicr/ter gemibmet gcroefen, für
ben er fein Ceben lang, am eifrigften ün testen ^abnetwt feined bebend, im Kampfe
geflanben tfl. X)a»on jeugen am lauteften bie }toei 35üd)er: „Schiller in feinen
Sramen" (Stuttgart gr. Jrommannd Starlag. 1897) unb „©djiller unb bie beutfd>c
Gegen wart" (Stuttgart XQ3on)&6ie. 1901), aber audj »ielfadje fonfh'ge 3lu$fübrungen
auf fcem Äatbeber unb in anberen ©üdjeru. $af? er ju ©djifler in ein befonbereä
©erbaltni* trat, batte feinen @runb nid>t etwa in einer lanbdmannfdjaftlidjen ©orliebe
für Schiller, a(fo in fdjmäbifdjem ^artirulartemuS, fonbern mar tu roh »erfd)tebene anbere
(Grünte bebingt. tfö lag einmal in feinem Cebenögang: fo ganj »erfdneben ber ©dnflerd
unb Sari 2Bettbred)t$ mar: in ber Uberminbung ber Sebenömiberflänbe fdjon fafl »on
ber ©d)ule an, im unauägefefcten Stampf mit bem £rurf bti Ceben*fdjicffal$, mit ber
9?ot unb ©orge, mit all ben Q3cfd)ränfungen unb Hemmungen bei äufjeren Cebenä,
„bie fd>mad)e Staturen ju Q3rei quetfdjen, jtarfc Staturen ju Stabl Lämmern" — in ad
6üöbeutf«6e 9Konat«Wtr. II, 5. 25
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374 Karl 2Beitbred)t: SRebe bei ber Stnroeibung be* (£d)illermufeum* in SNarbad).
biefen Singen füllte Äarl Sffieitbredjt eine innere 93erwanbtfd)aft mit ©dn'fler unb bat
ftd) an ibm unb mit ibm burd) fie burd)gearbeitet unb fie bejmungen. Da* jmeite,
ba* ibn ju ©djiffer fubrte, war, ma* ibm jeitleben* al* Dieter mie al* itftbetifer ein
beilige* Anliegen mar: dtbif unb 'Xflbctif al* eine untrennbare tfuibnt, unb er bat
ftet* bie Q(nficf>t oertreten, bog <£d)ifler* eigentümliche 2Bud)t unb ©rege ftd) nur bem
3(uge offenbare/ ba* etbifchr unb äftbetifdje Sßerte ungetrennt in einem }u meffen eer«
möge. 3luf einen 9D?angel in biefem Stüef fübrte er aud) bie ©d)ifleroerad)tung ber
a^obernen wenigften* mit jurücf, unb biefe ©d)iQermi§ad)tung mar'*, bie ibn für ©d)iü*er
auf ben Äampfpla^ fübrte. <5r fanb, ba& wie ernft ben Stemanttfern fo aud) ben
heutigen bei ibrer äftbetifdjen unb etbifdjen 3udjt- unb @cfe$loftgfett ba* ftarfe etbifdje
$atbo* Sdjiller* fo wenig paßte mie feine äftbetifdje Strenge unb ©efctyloffenbett; ba§
ihrem eitlen <3ptel mit Ceben unb Didjtung ©d)iüer* bober Srnft, ihrer Keinen,
im üblen ©inn äftbetifierenben 2Beltbetrad)tung bie ©röfje be* ©d)illerfd)en $orijonte*
unbeguem mar; bafe bie neroöfe ©ud)t nad) Umwertung affer ©orte ftd) übel geftefeen
babe an ben feften ^ofttionen ©djiller*, unb ba§ man, ba man ibn al* einen ©re§en
nicht fo grfd)tmnb au* bem SStege räumen fonnte, an tbm mit einem ©eitenblicfe fnaben*
bafter 93erad)tung vorbeigegangen fei. <5r forberte bagegen bei aller ftritif unfern @ro§en
tod) Ciebe unb Stefpeft unb jene ©ärme, bie aud einem perfönlid>en 93erbältni* }u ber
^rfcnltdjfeit be* grofjen Didjter*, au* ber ^äbigfeit fommt, ibn mit bem eigenen SBefen
im Äern feine« Befen* ju erfaffen.
Unb fo ift er benn gegen ba* ubereinfunft*märd)cn oom veralteten ©dyifler fräftig
in bie <2>d)ranfen getreten, »o unb »ie er rennte. Unb er b«tte baju nod) gani
befonberen ©runb. Denn er mar ber 3lnftd)t, bafe ©d)tller gerabe unfern $eit redjt
viel )u fagen babe, unb nabm mit freuten mabr, ta%, im ©egenfafc ju feinen 93erad)tern
unter ben Literaten, in unferem föotfe ftd) roieber ein ftärfere* $5etürfni* nad) ©djtffer
regte; „benn ba* beutfd)e 93olf pflegt ftd) allemal mieber feine* ©d)ifler* |u erinnern,
menn e* ftd> felbft ftnben unb ftd) felbft füblen miU, menn e* ibm not tut, ftd) in
feinen bellen Sebenefräften ju fammeln ju energifdjer ©elbftbebauptung, wenn e* ieinc
eigenen ^Ccale, feinen angeborenen diationalmiden mieber bereorjugraben fud)t unter
bem ©djutt, ben feine $3ilbung*irrungen unb firembe f&egriff*oerwirrungen barüber ge*
bduft haben". Unb fo tritt Schiller „mit ber 9Bud)t feiner geifh'gen unb etbifd)en
$erfönlid)fett aud) oor unfere beutfd)e ©egenwart mieber al* ein SBecfer unb SRabner
unb fflamer, al* ein 9tufer unb gübrer ju bem, wa* eine Nation bebarf, menn fie
befteben fott unter ben anbern unb leiften fott, moju fie berufen ift". 2Ba* unfere
beutfd)e ©egenmart bebarf unb oon (5d)iffer lernen fann unb fod, ift 9Ränn(id)feit,
meite ^)orijonte, %ud)t unb ©emiffen, tßegeifterung unb eine einheitlich gefd)(offene Sßelt*
anfdjauung, mie Karl ffieitbredjt ba* in bem jmeiten 'Xuffa$ be* ©ud)e*: „®a>iffer unb
bie beutfd)e ©egenmart'' patfenb auegefübrt bat.
Ob Äarl 2Beitbrcd)t an ber je$t beliebten Hvt ber ©dnHerfeier, an bem ganjen
„@etue" früberer Sd)iüerocräch,ter eine bef entere greubc gebabt bätte? Der oon 18ä»
rübmte er nad), bag e* fid) bamal* mein um eine 3ubiläum*mobe, um feine $?ad)e
ferrfation*bebürftiger Literaten gebanbelt babe, fonbern um ein mabre* unb ed)te* Q5e»
bürfni* be* beutfd)en iSolfe*. Senn biefe* aud) je§t im beutfd)en Q3olfe oorbanben
ift, fo bat Karl 2Beitbred)t jebenfad* ba* feinige baju getan, ba§ e* fo ift, bag bie
Kenntni* unb 2Bertfd)ä^ung gd)iüer* nidjt blo§ al* be* größten $ragifer*, fonbern
nad) feiner ganjen gemaltigen ^erfönlidjfeit in meite Äretfe getragen mürbe, unb barum
rodre e* ibm ju gönnen gemefen, menn er einige 3rüd)te feine* ffiirfen* in biefem
v?d>i ürriahr bätte fd)auen bürfen.
3fud) bid)tenfd) ift Äarl 993eitbred)t oon (£d)iller angeregt morben. 3Rit befenber*
feinem 6pürfinn bat er ba* £umoriftifd)C an Sdjiller* SBefen bargelegt, er bat fogar
bem Hefter in SDJarta Stuart gerabe oon biefe Seite beijufemmen unb fd)aufpie(erifd)
aufiubelfen oerfud)t; unb fo ift ibm eine (Spifobe au* ©dn'ffer* Ceben ju einem
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£ arl 9(Öeitbred)t: SRebe bei ber (Jtnweibung bei ©d)illermufeum$ in ÜDtorbad). 375
bubfd)en 93er$luflfpiel geworben: Do^ftoxJSxfcmibt, Cuftfptet in brei 2tften (Stuttgart
ftr. grommanne* 93erlag, 1890). Unter biefem Di amen btelt ftd) befanntltd) ©Ritter nad)
feiner glud)t im £erbfl 1788 im ©aflbof gum «Biebbof in Cggertbetm bei 3ftannpeim
auf, wie 3(nbrea$ ©treid)er, ber treue ©ebilfe ber gludjt, bem Äarl SÖeitbrecfjt bei
biefer ©elegenbett ein (Jbrenbenfmal fe§en wollte, berichtet, unter bem {Kamen Softer 2Betf.
Urfprünglid) fotlte baä Cujlfptel „Der 98erebrung$mid)el" bftfcen, unb er bat ftd) ju
feinem ©djaben, wie bie 3(uffübrungen unb bie Ätitt'fen jeigten, befh'mmen laffen, ben
Decfnamen ©duller* auf ben Sitel ju fefcen. Denn bie blöbe 93erebrung*mid)elei eine*
DidjterS, bie barin bie eigene Sttelfeit befpiegelt, aber nid)t imflanbe ifl, etmad für
ihn ju tun, menn er in 8tot fommt, mar ihm bie #auptfad)e, unb ber #elb ifl indu ©arider,
fonbern eben ber blamierte HJerebrungämidjel, Kaufmann Derain. Sffiie ftd) über ©d)ifler$
■Cainr bie ©efabr jufammenjubaöen fein- int, mie bie bamalige iDtannbeimer ©d)iüer=
gemeinbe ibren mehrten Didjter ;u retten fudjt, unb mie ftd) fd)liefjlid) atfeft in 2BobW
gefallen auflöft, bad ifl namentlich im britten Ufa mit guter bramatifdjer ©teigerung unb
riel #umor aber aud) mit einem (£infd)lag marmen ©efübl* jur Darfleflung gebrad)t.
T^a bie Qfaffübrung feüterlei ©djmierigfeiten mad)t, fo bürfte bad ©tücf mobl im ©d)ifler*
jabr ba unb bort aud) oon Dilettanten jur 3(uffübrung gemäblt merben. Die färben
be$ ©tücfeS finb ed)t, unb fo menig bebeutenb bie paar 2Borte finb, bie ©d)tü"er fprid)t:
oon ber auffleigcnben ©röße bed geflüchteten SRegtmenWmebifuä befommt man burd)
tai ©tücf einen tiefen Sinbrucf. ,,»on ber ©röße" banbelt ein Q(uffa§ Äarl 2Beitbred)t*
in bem genannten Sßudje: an ©dnfler jeigt er, raad ©röfee ifl, unb fprid)t am ©d)luffc
2Borte, bie mie für unfere Sage gefdjrieben fd)einen: „2Bie im 3abre 1859 bie grofee
©d)iflerfeier mit elementarer ©emalt alle Deutfdjen um ©djifler fammelte, fo regt ftd)
aud) je|t mieber etmaö mie eine neu mad)fenbe (Srfenntniö ober wenigflenS ein flarferee"
©efübl baoon, baß ©djillerd ©röfce nid)t oeraltet ifl, bafe bie Nation ibn nod) nid)t
entbebren fann, bafc fie ibn otelmebr gerabe jefct mieber braud)t unb brausen fann alä
eine mirfenbe Äraft für bie neuen 3"fanft$aufgaben, bie fo bringenb an bie «Pforten
be$ Slattonalgewiffenö podjen. Jffienu ftd) ermeifen läßt — unb ee" läßt ftd) er»
weifen — bafe ©d)iller nad) einem reichen ^abrbunbert ber etnfd)netbenbften Steuerungen
unb Umwaljungen nid)t nur mit feiner ^erfönlidjfeit unb feineu 2Berfen nod) lebenbig
wirffam in feiner 9lation ifl, fonbern ba& er unter fo mannigfad) »eränberten 35e*
bingungen beö" nationalen unb Kulturleben* gerabe ben neueflen QJebürfniffen ber
9?ation mieber ju bienen oermödjte, bafj gerabe bie beutfd)e ©egenwart ibn wieber
braueben fann wie nur einen : bann ifl er jebenfattö feiner oon benen, bie ein ja brje bnt
ober aud) ein 93terteljabrbunbcrt erfd)afft unb oerfd)lingt, fein ^robuft unb Äned)t eine*
eorüberraufd)enben ^eitqciflö, fonbern einer oon benen, bie wefentlid)e Q5ebeutung für
fore 9lation unb bamii aud) für bie 9J?enfrf)beit b«ben, einer oon ben wabrbaft @ro§en,
an benen man nid)t oorbeifommt! Q(n ibm mögen bie Äleinen, bie ©cbeingröfeen unb
©emegrofeen, bie 9Wobifd)en unb 9leuerung«füd)tigen, bie 3«tgeifl(id)tlein unb $age«=
f nechte fntteln unb nörgeln, brocfeln unb rütteln, fo lange fte wollen : wad einmal grofi
iii, beflebt unb mirft weiter, wenn jene längfl flanglod }um Drfud binabgegangen finb."
Unb ein felbfllofer #erolb mabrer ©rö&e gewefen ju fein, wie Äarl 2Öeitbred)t,
tfl ein 3uibm, ber bem »iel ut früb babingefd)iebenen fd)roäbifd)en Didjter unb iflbetifer
bleiben wirb aud) über bad ©d)iaeriabr binau*.
♦BBimpfen am SRetfar. SRidjarb ffieitbred)t.
ric 3cugniMc unb Urfunben ju fammeln unb ju bemnhren, bie Urfunbeit
in ©cf)rtft unb ^üD, bie Münte geben Pon bem pergAnglirfjen ?eben unb
unp(rg&ncj(i(f)en ÜOtrfen eine* ©roßen, fte jugÄnglidi ju tnarfien für alle,
bie ftd) ba$ ©Üb M ©etfle*, ben fte »erel)ren,f beutlt(^er mad)en, er.
»eitern, pertiefen, e$ aud) bii in bie $iefe fetned 3fuferen, feine* 3rbifdjen
25»
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376 Start 2Bettbred)t: SRebe bei ber @in»etbung bed ©cfrdcrmufeumd in aRarbo*.
unb ©terblidjen »erfolgen mäditen: fold) ein $un ehrerbietiger Siebe un&
banfbaren ©ebenfend ift woljlbegrünbet unb naturlid) gewurjelt in ben ebelften
trieben ber SEenfdjenfeele, unb we&e bem 2>olfe ober ber 3««*/ ba biefe
triebe »erborrt ober gewaltfam audgerottet flnb! SRidjt ald ob alle bieff
'Eofumente bad unjterblidje Seben felb(l waren, ald ob in irjnen fdjon ber
©eifl lebte unb raufd)te, ben wir lieben unb »ereljren: fle ffnb 6d)utt unb
2)?ober, fo roie wir fic $u ©djutt unb SRober fallen 1 äffen; ber ©eniud lebt
fein unfterbltdjed £eben in und, in all ben ©eiftern, bie fein lebenbiged
üßirfen »erfpüren, in ber Station, ber er ungerfiörbared ©eifiedleben gefdjenft
bat, ©eifl »om ©eifle, fortgeugenbed ?eben auö feinem Veben. (£d n>dre
wtber feinen <2>inn, wenn wir ben aufleren ©puren feine* (Erbenlebend einen
SBert für ftd) beimeffen, wenn wir au* iljnen unb »or ih,nen einen geiftlofen
Dienjt aufrichten wollten, ber Uberbleibfel anbetet unb mit ben taufenb
9?id)tigfetten widjtig tut, bie aud) um bad Grrbenleben bed ©rißt« fid) auf*
baufen. 3ber bad fei fern »on und! 9?ur mahnen follen und biefe Äußeren
Seichen, baß aud) er ein SBenfd) unter SWenfd)en gewefen ift unb bem
Üttenfdjlidjen feinen 3oD entrichtet bat; nur einbringlidjer, anfd)aulid)er,
jlnnenfalliger machen follen fle und bad $>ilb eined Vcbend, bad aufwart*
f!d) gerungen bat jum .fcochftcn, wad ein Sßann gewinnen fann, bauernbe
©eifiedtaten für fein SBolf; unb je tebenbtger jene äußeren 3*id)en in innerer
Söejiebung flehen ju biefen ©eiftedtaten, je mehr fle imftanbe finb, und bad
Sidjt }u »erfiarfen, bad aud feinen SEÖerfen ftraljlt, und bie Äraft ju »er«
mittein, bie und aud ben SBerfen berührt, befto wertooller follen und bie
3eugni(fe unb Urfunben fein, bejto met)r SRedjt tjaben wir, aud» fte ju
fammeln unb ju l)üten unb fo aud) einen außerlid) ftdjtbaren ©eweid ju
liefern, baß man in Deutfdjlanb nod) nid)t »erlernt tjat, ben waljrbaft
©roßen, ben gelben, Sereljrung, ©ewunberung unb Siebe barjubringen.
renn ein SBolf, bad feine gelben unb großen SWanner, »on welcher 2frt fte
feien, $u mißachten unb ju »ergeffen beginnt, beginnt felbft $u finfen ber
dlad)t bed SSergeffend entgegen.
Unb fo ilebt nun — nidjt weit »on bem befdjeibenen $aufe feiner
©eburt, bad (id)te $aud, bad hüten unb geigen foll, wad ber ©d)wdbtfd>e
6d)iller»erein über ©djillerd Seben unb Schaffen an £>ofumenten jeglidjer
Hxt gu l)ttten unb ju geigen l)at. 3Ber will jTd) wunbern, wer wttt ed
fd>elten, baß auf fd)wdbifdjem ©oben biefed £aud (lel)t, baß ed gerabe \)itx
(lel)t bei ?TOarbad), in ber weiljettollen, ftimmungdoollen Sinfamfeit biefed
^>ugeld? ©ewiß gebort ja ©dritter ber ganjen beutfd)en 9?ation, nid)t bloß
bem ©djwabenlanb unb ©djwabenftamm; ed \)it$t bad STOaß feiner ®r6ße
minbern, wenn man aud it)m nur eine <btammedgr6ße machen wollte; unb
wir brauchen und nicht um ben törichten Stamurf :u fummern, ber immer
oon 3"t ui 3c it wieber laut wirb, baß i<t)tDlibi^t (Eigenliebe Schtücr für
|Td) in 3(nf»rud) nehme, um ihn bann allerbingd wieber gu einer ©r6ße
empor jn m rauben, bie ihm nicht gebühre. 3a, gottlob, wir lieben noch
unfer @igened unb galten ed Ijodj, unb jum beften (Eigenen, wad wir ©djwabett
haben, gel)6rt nod) immer ^riebrid) ©d)iller; er gilt nod) im ©djmabenlanb ald
bad, ald wad er mit gug unb ?Hed)t ju gelten \)at, »orn ÄN6nigdpalajt bid
tum bcfd)eibcnileu »Oaufe — aber wo lebt ber $or bei und, ber it)n für
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Jtarl 2Bfttbrcd)t: SRebe bei Der Stnroetbung bed £d?illcrmufeumd in SKarbad). 377
fdjwabifdjeä $Befen unter (5d)loß unb Stiegel nehmen wollte? 3Benn bad
fd)n>dbifd)e Eigenliebe ift, waä und Schiller mdit vergeben unb feine ©röpe
niefrt minbern laßt, waä ba$ £6nig$höw$ mit bem SBolf in ber Siebe ju
tiefem Eigenen jufammenfdjlteßt — nun wohlan: bad ift bod) gerabe ein
edjter 3ug beutfdjen SBefenä, baß bie ©tdmme ihr Eigene^ ju pflegen unb
ju l)uten unb ju ehren wiffen unb baß fTe eben bamit ihr ©etfeS beifleuern
für ba* nationale 53eff$tum be$ ganjen beutfdjen SBolfä, baß ber Deutfdje
bie SBannigfaltigfeit will unb wahrt in ber Einheit unb bie Einheit in ber
STOannigfaltigfeit. Xa? ift ja bem Deutfdjen fd)on jur 3rfm\ubc geworben,
aber barin liegt aud) feine geijlige ©tarfe, unb ber (Schwaben ftamm braucht
fid) nid)t ju fehamen, wenn er ftd) bejfen bewußt bltibt, waä er jum all«
gemeinen beutfdjen ©eifteäbefifc fdjon beigefteuert hat. Darin braud)t ihn
aud) nidit irre ju machen, wenn ihm vorgeworfen wirb, baß feine Eigen«
liebe ti fei, welche bie ©räße ©d)illetd über ba$ 0Äaß f)inaud l)ebe, ba$
il)m gebühre. 2Baä in biefer unb ähnlicher ÜÖeife ©d)iller ju »erflehtem
befliffen ift, bad ift bie arme ©ei^tjeit einer um bie fefien SWaßfrabe ge«
fommenen 3eit, einer 3eit unb ©eifteSridjtung, bie in unfeligem Eifer, alle
ÜBerte umzuwerten, bie (Sd)a$ung für Schillert @r6ße »erloren l)at, weil
Schiller aderbingd nid)t ift, wie bie larmenben ÜÖortfuhrcr beö Sage* ober
3af)rjel)nted übercingefommen ftnb, baß ein ©roßer fein follte, weil er nid)t
fo i(t, fonbern »iel »iel größer, freier, fefter, flarer, reidjer unb reiner.
2£ag jene 3cttrid)tung nod) eine 2Beile fid) brüften, Schiller wirb ffc über*
bauem; unb tnjwifchen ift e$ gut, baß auf fdjwabifdjem $5oben biefed ihm
geweifte J?au* fteht ald ein Jntaniä, baß bie Schwaben unter tf>red Äänigä
Rührung unbewegt »om 3Binbe ber 3*»t an ©djiller fehlten. Unb baß
bie* £aud t>ier in ber (Stille SDfarbadjd fteljt, ftatt im ütaufdjen einer großen
etabt — m nicht aud) gut fo? Die (Stabt Sttarbad) hat fdjon lange mit
befonberer Sreue ba$ 3fnbenfen (Schiller* gepflegt — warum foH fie nicht
aud) biefed Jßaui in t!>re befonbere Obhut nehmen bürfen? Äber ba$ ifP*
nidjt allein. Die (Stille unb weihevolle Einfamfeit hier außen, feitab unb
bod) nid)t alljufern »on ben großen Serfehräwegen, ffc eignet fid) bod) ganj
befonberö für bie fülle (Sammlung, mit ber ein jeber bem ©eniuö nahen
foK, wenn er fTd) tiefer in fein SMlb »erfenfen will, Eä ifl ja nid)t un«
möglich, (Stille unb Sammlung ffd) ju gewinnen aud) im lauteften ©etriebe;
aber e$ ifl bod) etwas anbere£, wenn fd)on ber £>rt unb bie Umgebung
baju einlaben unb bem ©eifte fagen: hier foQfl bu ruhen unb einfam fein,
einfam »ernehmen ben glügelfdjlag eine« anberen ®eifie$, mit ihm empor«
fdjweben ju ben lid)ten J&6hen, »on benen fid)'* weirum fd)aut über ©elt
unb 3eit, mit ihm einbringen in bie Siefen, wo bie Seele etwa* ahnt »om
SHÄtfel be* Dafeind, »on ben 9tdtfell6fungen bed Ewigen! Denn barüber
wollen wir und nid)t taufd)en: wer einem ©eniuö wie Sd)iller wirflid) nahe«
fommen, wer in bie 2Belt feined ©eifled einbringen will, ju wirf(id)em Ser«
ftanbnid unb SD2itleben, ber muß eine ganje gefammelte ^erfonlid^feit baju
mitbringen, muß in ber Stille Tfug in 'ÄiuV gegenübertreten. Dad Stöbern im
k)>apicr allein, baö bloße gelehrte Riffen tut1d nicht; ed fann einer Vehr befd)(agen
fein in $3ud)ftaben »on ihm unb über ihn unb bod) »on feinem ©eifie, »on
feiner perf6nltd)en Äraft nod) wenig »erfpnrt haben. Wtit bem 5Berflanbe
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378 Äarl 2Bcttbred)t: SRebe bei Der (finmet'pung tei ©<#aermufeum* in «Marbach.
allein faßt man brn großen (Sei)? niajt, man muß ihn mit ber ©eele, mit
ben innerften Gräften be* ©emütä ergreifen, mit einem rein unb boa>*
gefltmmtcn ©iffen, mit bem jum 6d)auen geöffneten geizigen Äuge. 3fucr>
gelehrte ftorfcherarbeit fann nur gebeten auf bem ©runbe fold>er ©eelen*
»erfaffung. Unb baju braucht'* ©tiUe unb jene Einfamfett ber Seele, in
ber fle fid) felbfl »ernebmen fann unb wa$ ein ®etfl jum anbern fpridft. 5jl
bod> audj ein ©eifl wie Sdnllcr felbfl nur in foldjer Snüc unb <£infamfett
ju ber ®röße unb .ööbe, ju ber .Kraft unb $Bud)t gewachfen unb gebieten,
bie mir an ihm »erehren. sIßchl ifl er Äußerlich, auö ber 8>tiUe unb Ein*
famfeit herausgetreten, bie ihn in ber Üjiugenb umfingen, wohl bat er immer
weitere Greife burd) bie 3Belt gejogen, bat fld) mit ber 3Belt eingelaffen
unb mit ihr audetnanbergefeßt in hartem Äampf wie in frieblidjem 23er*
It&nbntd. Gr hat nie ju jenen meieren SRuhefeelen gebart, bie »on jeber
unfanften Berührung ber Außenwelt angfllich in fidj jufammenjuefen. Er
mar eine tapfere, unerfdjrocfene tfampfnatur, er hatte etwa* ©olbatifcM
wie fein üater, er feftte ba$ Seben ein, um ba$ Seben ju gewinnen. 2fber
bie fdjmerjlen, bie entfcbeibenbjlen Kampfe fyat er bod) auägefampft in ber
Stille unb Einfamfeit ber eigenen ©eele; bort unb in biefen Wimpfen ijl
ber rtditer in ihm ju ber ®roße gen>ad)fen, in ber er jeftt vor und riebt,
fo finb bie 5Derfe in ihm gereift, bie jum unverlierbaren SÖeftfc beä beutfeben
2>olfed geboren. UBenn eine* Tiducre ^Huhnt in bie 3ahrbunbcrte geht unb
3ahrhunberte überbauert, wenn SÄarmor unb Erj »on ihm jeugen, wenn
ein ©lattlein, »on feiner J$anb gefdjrieben, al* ein ffiertgegenflanb gilt —
wie »tele futb wohl unter ben Saufenben, bie ba$ ale* felbfloerjlanbltd) h»"*
nehmen, wie viele ffnb unter ihnen, bie ahnen unb empfinben, womit ber
Gefeierte in brn (litten Siefen feiner (Seele ben 9tuhm unb bie ®r6ße erfauft
bat, bie ihm fo ijeitex »on ber ©ttrne jtrahlen? Tiuö) ben 5Berfen bei
©eniu*, wenn ffe nun bajlehen ««o &te 3«* Überbauern in göttlicher
Vetdmejfctt unb un»erme(flid)er Üjugenb, fleht man ei nicht mehr an, unter
wie »iel 9?6ten ffe gewachsen finb, weichet SWaß »on SRühJal unb Arbeit,
Stummer unb ©orge, ?eib unb SBttterfeit »On einer tapferen Seele über«
munben unb mebergegwungen werben mußte, baß ffe fo fd)ön werben fonnten,
jene ÜBerfe, fo retd) unb flarf, fo lidjt unb heiter, ©djitter aber ifl wahrlich
aud) in biefem Stücf ber erjten einer, in tfampf unb Reiben erprobt ein
tapferer ber ebeljten 3rt, fein ?eben$gang ifl ber ©ang eine« gelben, ber
bie «ffielt bejmingt unb am Enbe aU ©teger fallt. 3a, einem gelben ifl
bied «£aud geweiht, unb fo oft wir e* betreten, begleitet »on ben SMlbern
unb ©ejlalten feiner Dichtung, umgeben »on ber ftülle fetner ®ebanfen unb
©effchte, fo mag an feinem QMlbe auch ber tapfere SRut ftd> beben, ben wir
alle brauchen, um baö ?eben \u beuchen unb )u überwinben unb, jeber in
feiner 5Öeife, reif ju werben, wie ©djiller reif gewefen ifl, ald er bad ?eben
»on ber J^>6be bce ^Birfend wog. Unb wenn ju ben Erinnerungen an
Schiller in biefem J^aufe aud) bie Erinnerungen an anbere fehwabtfehe Dichter
fTd) gefellen, an einen Uhlanb, einen 2D?6rife, ober wer ei auch f«/ freuen
wir und. baß unter bem ©anner ber Dichtung, bäÄ ©chttter »orangetragen
hat, noch eine Schar »on marferen «Schwaben mitjteht! freuen wir und
beffen aii eine« 3eugniffed, baß bie ^oeffe nidjt jlirbt, baß fte nid^t flieht
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2Bü>lm von ©djerff: ©om rufftfdH«P<»ntfd)en ffrieg.
379
au* bem beutfdjen unb bem fdjwdbtfajen ?anbe, aud) wenn nod) anbere
Aufgaben al* bie ber £unfi unb Didjtung ben Deutfd)en ge6ieterifd> jum
Äampfe unb jur Arbeit rufen, wenn ba* beutfd)e Solf allmdl)lid) aud) wieber
ju einem SSolf ber $at unb ber 9)?ad)t heranreift, nacfjbem unfere gelben
be* ©eifled il)m poddngfl ben 9?amen eineö 33olf* ber X>id)ter unb Genfer
erworben hüben. Unb bie £id)tung tfl bie größte unb mdd)tigfte, bie au*
jur $at unb jur QÄadjt, jutn Äampf um «£errfdjaft unb $reil)eit nid)t Idfjmt,
niä)t meid» unb fdjlaff mad)t, fonbern fidrft unb ftdf)lt unb jugteid) perebelt,
eine Dichtung wie bie griebrid) ©djiflerd.
JHh CAJft tili CA^m Lm.^-k f ^ -s* ^ _ä iAJfc tAH tAlM EttMi Ulli GiJÜ C^Jflh. EiÜ CAJft CAJft tül LA
Pom rufftfd)^apantf(|)en Ärtcg/3
Q3on ©enerol ffitlpelm con ©djerff in 2Bünd)en.
@* war gegen bie Glitte ber legten 70er 3at)re, baß id) in Berlin
,u einem Diner gelaben war, weldjed ber neuernannte SRinifterrrffbent
in Sofio, Äapitain d. @ifenbed)er, por feiner 3fu*reife einer 'tfnjabl be*
freunbeter Diplomaten, Xbgeorbneten unb JDfjijieren gab, unb bem fetbft*
eerftdnblid) aud) ber japanifdje Vertreter am Äaifertjofe anwohnte.
3m preußifdjen 2(bgeorbnetenl)aufe fpielten ftd) j. 3« gerabe jtemlid)
heftige Debatten über eine neue spropinjial* unb ©emeinbeorbnung ab, unb
e* fonnte in biefer ©efellfd)aft nid)t ausbleiben, baß ba* Sifdjgefprdd) ftofy
fetjr balb um biefe Pimpfe breite.
Da mifd)te jtd) benn auch ber bamal* nod) (ehr junge japanifdje
©efanbte Xofi in bie Unterhaltung, inbem er in flteßenbem Deutfd) bie
3>emerfung einwarf, bie Verhandlungen interefjTerten ihn tnfofern ganj
befonberä, alä nc burd)meg fragen berührten, welaV in feinem üBarertanbe
bereit* feit 200 3ah)ren (bem ©turje ber geuballjerrfdjaft ber Daimo$ unb
ihrer (£rfe$ung burd) eine QScamtenregierung) ju atlfeitiger ©efriebigung ge*
I6jt feien; Sapanä Aehlcr fei feitbem nur gewefen, baß eö ftd) nadj außen
PoQfommen abgefd)(ojfen, unb bie Regierung geglaubt habe: eine gute innere
bebürfe feiner äußeren «Polttif!
5Bot>r niemanb unter un* l)at bamal* baran gebad)t, baß biefe, im
©runbe erfi Snbe ber 60 er 3al)re burd) bie €rrid)tung jtdnbiger »er*
tretungen inaugurierte „neue japanifd)e Äußere 9>olitif" fld) bereit* ein
f leine* SRenfdjenalter fpdter fowett ljeraudgewad)fen t)aben werbe, um au* eigener
') «ertrag qtbalttn im ftolontaUVmtn 3Run$fn am 30. Wat| 1905.
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380 3SBü&elm »on Sdjerff: 93om ruffifdHopamfdjen Strieg.
Jtraft einen weltl)ifrorifd)en Ärieg mit ber grdßten europaifd)en aÄüttannadjt
— man fann bretfl fagen — ju prooojieren!
3Benn id) in btefer Stunbe, ef)ren»ott*er Sufforberung ftolge leiflenb,
3t)nen »on btefem Kriege ju fpredjen, unternommen habe, fo fände ich gfeid)
»orau*, baß id) Sie babei weber mit mtlitdrifdjem Detail ;u überbürben,
nod) mit tljeoretifchen Streitfragen ju langweilen beabjid)tige.
immerhin wirb eo* far ein richtige^ 33erfldnbntÄ ber Dinge nicht ganj
oermieben werben rinnen, »orfyer für) an einige ©runbwatyrtjeiten ju er*
innern, bie — feit überhaupt Ärieg geführt wirb — ben Erfolg ober 2Biß*
erfolg im friegerifdjen Jßanbefn bel)errfd)t Ijaben.
Den Veforn ber SRonatöfyefte gegenüber fann id) mid) in betreff biefer
ÜBafyrtjeiten auf meine früheren Ausführungen in biefen $Mdttern bejietjen
unb wiU Ijier nur nod) einmal furj l)er»ort)eben, baß,
infofem man eine jweef* unb jielbewußte 2fnwenbung friegerifdjer «Wittel
mit Vorliebe afö „Strategie" ju bezeichnen pflegt, man in biefem
„ftrategifdjen £anbeln" je nad) bem „polittfehen Äriegäjwecf" ober bem
„inilitdrifdjen Äriegäjiele" eine boppelte Seite ju unterfd)eiben l)at,
»on welcher ber einen „bie fcereitflcllung ber nötigen 9»ittel für
ben gewollten 3werf", ber anberen „bie 2fnwenbung ber »er*
fugbaren Littel für ein erreichbare* 3iel" obliegt.
3ene l)abe id) frütjer ale* „friegdpolittfehe", biefe aU „rein*
mi(itdrifd)e Strategie" bezeichnet.
Angefleht* biefer „ÜBechfelwirfung" erffdrt ftelbraarfdjaU SWoltfe au**
brieflich, baß
„bie ^ciinf fld) bee" Ärieged jur Erreichung ihrer 3 werfe bebiene,
fo jwar, baß ffe f!d) »orbet)a(te in feinem Verlaufe ihre 3fnfprüdie
ju fleigern ober mit einem minberen Erfolge ftd) ju begnügen",
baß aber unbebingt
„biejenige Strategie ber iVimf am beflen in bie J^anb arbtite,
weld)e ihr Streben ftete auf baö mit ben gebotenen Mitteln über*
l)aupt erreichbar t)6d)fte 3iel richte!"
ftür eine richtige ©urbigung »on Verantwortung unb Serbtenjt
im gegenwärtigem Kriege mußte hier erft nochmals auf biefen t^eoretifd)en
Unterfd)teb »erwiefen werben, ehe id) mid) ju bem fjiftorifdjen Serlaufe felbfl
wenben fonnte.
Die offizielle, unmittelbare Veranlaffung be* tfonflifte* ift wohl
nod) in aUfeitiger Erinnerung.
3m 3al)re 1897 tfattt SRußlanb — jweifello* auf bae gleiche 3iel
gerichteten englifchen ©efhebungen ba* $>rd»enire fpielenb — ben be*
fefligten d)inefifd)en £afen »on $ort Arthur unb fein ali £wan*tun be*
zeichnete* nächfte* £interlanb »on ber faiferlidjen Regierung in^efing erpad)tet,
unb feitbem bie Anlagen biefe*, im Kriege »on 1895 »on ben Japanern
eroberten, beim ftrieben*fd)luffe aber auf ruffffd)*beutfd)*franjdflfd)e 93er*
mittelung f>tn wieber an Efn'na jururfgegebenen ^piafce*, fowie feinen Eifen*
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ffiübclm ton ^cberfF: «Bern raffifdHapanifcben Äricg.
381
baljnanfd)luß über SWufben auf (5l)arbin an bie große fibirifdje Sinie in
rafdjer Arbeit jum 2(udbau gcbrad)t.
31$ bie fcorer*3Birren «on 1900 ba* Sinfdjreiten ber Uöelfmadjte gegen
ö h na »eranlaßt hatten, waren rufftfdie <£erredabteilungen aud) in bie d)inefifd)e
SKanbfdjurei eingerueft, unb bann „$um 6d)u$e ber SDarjn gegen tfdjunguftfdje
SXduberbanben" nod) bort verblieben, nad)bem bie anberen Ü)?dd)te ihre
Gruppen auä ben pa$ift$ierten Gebieten mieber juruefgejogen hatten.
$ro$ wieberfyolter 3ufagen „man werte bie SRanbfdnirei raunten,
fobalb man mit (Sfyina über bie SD?obalitdten $u einem befriebigenben ?ib-
fdjluffe gefommen fei", war ruffifdjerfeit« bid in ben ©inter 1903 '04 bamit
nod) fein ernfilidjer Anfang gemadjt.
Va (ab ftd) benn bte japanifdje Regierung, bie fd)on jwei Saljre
»erlier ein 33unbni* mit (Snglanb jum Sdjufce be$ beiberfeitigen 33eft$|lanbeÄ
gegen einen fombinierten feinblidjen Angriff gefdjlojfen Ijatte, »eranlaßt,
baruber, wie namentlid) aud) über neuere rufjlfdje ©eftrebungen auf <5rwerb
gereifter ©eredjtfame im fou»erdnen Äaiferflaate Äorea mit bem *Peter$*
burger Äabütett in birefte SBerrjanblungen einjutreten, bie febr balb mer)r unb
met)r ju einem tfonflifte ftd) jujufpi&en brot)ten.
Unter bem — wofjl aud) nid)t ganj unbegrunbeten — SSorwurfe einer
abf?d)tlid)en 33erfd)(eppung biefer Unterfyanblungen ijt bann — offenbar »on
?Kußlanb nid)t fo rafd) erwartet — am 7. Februar 1904 japanifd)erfeit$
in Petersburg „ber Xbbrud) ber biplomatifd)en »Begebungen" »er«
fünbet worben, unb biefer Mitteilung, ebne weitere befonbere ÄriegS*
erfldrung, fd)on in ber 9?ad)t »om 8. $um 9. gebruar ber Überfall auf bie
rufftfdje ftlotte »or fort Qfrtbur gefolgt!
(Sin tfrieg war ausgebrochen, bejfen beiberfeitige SWenfdjen* unb ©elb*
opfer jur ©tunbe fd)on faum »on irgenbeinem ber ffieltfampfe beS »origen
3al)rrjunbert$ ubertroffen fein burfte!
2Ban wirb mit ber Sßetjauptung faum irregehen, baß e$ fid) angefid)t$
fold)er $artndtfigfeit beä politifdjen ©illenS bod) jweifelloä l)ier nod) um
anbere £riegSjwecfe Ijanbeln muß, ale" um jene „platonifdjen" SWotioe,
um berentwillen baS fooiel fleinere 3apan bem mächtigen %arenxtid) in ben
2frot gefallen fein foll !
©d)werlid) bod) bloß um ber „fd)6nen Sd)Ii$augen" feines weitläufigen
Setter* in Qtjina willen, ber felbft bis jur ^tunbe nod) feinen Ringer ge*
rührt bar; unwat)rfd)eiulid)er nod) beS uneigennüfcigen Sd)U$e6 ber burd)
bie Bluffen bebrol)t erfd)einenben <2d)attenfou»erdnitdt be* fd)wad)en ÄaiferS
»on Äorea wegen: fonbern einjig unb allein auS fd)werwiegenb(len
eigenen ©taatsintereffen l)at offenbar Sapan jum Sdjwert gegriffen.
<Sid)erlid> nid)t bloß, weil er ein »on it)m — nad) englifdjem STOufler
in Ägnpten, franj6ftfd)em in SuniS, amerifanifd)em in Columbien — baju
nod) in oollem (£in»erfianbniffe mit bem red)tmdßigen J^errn befefcte* —
wie man immer mieberrwlt: für fÄußlanb gdnjlid) wertlofed — ®ebiet,
nur anberen Zaditen jum 2ovt, nicht alebait wieber räumen will, fonbern
lebiglid) weil bort widjtigfte ilaat(id)e Lebensfragen auf bem
©piele flehen, fenbet ber friebfertige 3ar ÄorpS auf Äorpd nad) bem
fernen Ojten.
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382 SBüljelm ton ©d)crff : «Born ruffifd)»joponifd)en Strteg.
3Cud) obne l)ier ljot)c ^olitif treiben ju »ollen, wirb man fagen muffen:
nid)t fd)ranfenlofe <£roberung«fud)t ober überfdjaumenber Satenbrang, fonbern
einjig unb allein: bie Statut ber Dinge bringt einerfett« ba« infulare
3apan baju, ftd) einen geftdjerten 3ugang jum rürfwarttgen $e(Hanbe
fudjen, n6tigt anbererfeit« ba« fontinentale SRufJlanb baju, f?d) einen
offenen Zutritt $um Weltmeer fd)afen ju muffen, unb
treibt beibe SWadjte bamit in einen geograpbifd) unoerfibnlidjen jtonflirt,
nid)t be« SXedjte«, fonbern — ber 2J?ad)t!
Sapan, ba« mit feinen »terbunbert 3nfeln unb 5nfeld)en auf breigig
Söreitegrabe hm ba« o(tafTatifd)e fteftlanb umfpannt, hatte fdjon in alten 3* iten
lotebcrbelt feine Jßanb auf ba« immer wieber mit Qrrfolg wiberftrebenbe
Äorea gelegt, unb e« ift nur berfelbe Drang, ber einfl Snglanb ju feinen
mittelalterlichen (5roberung«jügen nad) ftranfreid) getrieben barte, welcher
beute bie wieber aufgelebte „dugere 9>olitif" be« aftatifchen Snfelreiche« auf«
neue »eranlafjt, e« mit einer mobernen p6n6tration paeifique be« fproben
£aiferreid)e« ju »erfuchen.
Den ruffifd)en ©eftrebungen nad) einer offenen 2(u«gang«tür in«
Weltmeer aber ttitt auf bem Q3ogen von Xrdjanget bi« ÜBlabiwoftof bie
9?atur mit ihrer Gri«fperre, auf bem füblichen &ogen »on ber 9?orbfee bie
jum ©elben i^ecr ber englifdje fönfluf entgegen, ber allerwege nur ba«
9ted)t einer offenen (?ingang«tür in« QMnnenlanb anerkennen will!
2(ngeftd)t« foldjer Sachlage erfd)eint ber g an j liebe Langel an
Ijiftortfdjem (Seifte nabeju unoerftanblid), ber ba immer nod) an bie 2J?6g*
lidjfeit glauben machen will : bie flaffenben SRiffe be« Kampfe« um« Dafein
im S36lferleben mit bem „englifdjen ^flafler" »on ©d)ieb«»ertragen »er*
flehen ju f6nnen, unb unmillfürltd) gemannt einen ber ©ebanfe: ben ruffffd)*
japanifeben Äonflift beim Jßaager ©d)ieb«gerid)t $um 2Cu«trage haben bringen
]u follen, an jenen berühmten ^rojefj in ben „^liegenben ©Idttern"!
Da bat ein ©auer ben anberen oerflagt, bap „er mit feinen ©efpannen
immer über feinen 3Tcfer fahre, ba« brauet er fich nicht gefallen ju laffen!"
„Da bat Orr recht!" — entfdjeibet ber 9tid)ter.
Demgegenüber wenbet ber SBerflagte ein: „fein 3(cfer liege etnerfeit«
am ftluffe, werbe anbererfeit« »om ©efl$ be« Sttadjbarn ring« umfdjloffen
unb er müflte bod) auf fein ^elb fommen f6nnen!"
„Da bat @r recht!" — lautet aud) b«r ber richterliche ©prud)!
Da mifd)t ftd) ber ®erid)t«btener mit ber QSemerfung ein : „3lber £err
9tid)ter, beibe fönnen bod) nid)t Stecht haben!"
Unb brauf ber SWann be« ©efefce« — „3e$t bat dr recht!"
Äein ©alomo im #aag würbe anber« urteilen fönnen, wo ber ruffifdje
2ßeg in« SKeer unb ber japanifdje in« «^interlanb Qtyina einanber freu^enb,
jrber über be« anberen 3cfer führt !
3Bie bort bie dauern, fo müffen rjier bie <&taattn felbfl: „fid) fd) lagen
ober »ertragen" unb nid)t ba« 9led)t, ba« ibnen nad) rid)terlid)em ©prudje
ja beiben gur ©eite (tebt, fonbern einjig unb allein — bie Gewalt fann
entfdjeiben!
3Bie e« bamit beftellt war unb i|t? — ba»on weiter.
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SÖilpelm oon ©djerff: 93om ruffifdHapamfd)en Ärieg.
383
ÜBenn ber po!itifd>e Äriegäjmecf nur auf bem 3Bege ber 2Bei)r(o6*
madjung bed ©egnerä;
wenn fold)e 5Öel)rlo$mad)ung be* geinbeä nur auf bem $Öege ber SBefiegung
feiner lebenbigen ©treitfrctfte unb ber Eroberung be* benfelben al* ©afi*
bienenben Sanbe* »erfolgt »erben fann : fo ift flar, baß wo ba$ SKeer bie
beiben ©egner trennt: bie Srringung ber ©eetyerrfdjaft für beibe Seile
ba* erfle unb widjtiglte milttärifdje Äriegfyiel bilben muß !
Srofcbem bte Muffen beöfyalb in richtiger 2*orau$fid)t eine* jebenfattä
„nicrjt unmöglichen" Äonflifteä in Oflaften ffcf» in ber festen %tit bie 35er*
ftarfung ihrer ©eeftreitfräfte im ©tiUen £>jean mit großem (Sifer Ratten an*
gelegen fein l äffen, mar bod) beim Kriegsausbruch ein numerifcheä ©leid)*
gewicht mit ber japantfehen flotte nur in bejug auf bie »orfjanbenen
(7) ?inienfd)iffe erreicht, inbeä bem ®egner an Kreugern (27 : 12) unb
namentlich an Sorpebofahrjeugen (± 100 : 44) noch eine nicht unwefentliche
Übermacht jur SBerfugung flanb.
Nachteiliger aber noch al$ nach biefer numerifdjen (Seite lagen bie
SSerbältniffe für bte Ütuffen auch baburd), baß mdfjrenb bie japanifche trotte
im £afen »on ©aljebo (ber füblidjen Äüjre »on Korea nahe gegenüber)
in fid) »ereinigt lag (unb nur gegen «Port 2Trtl)ur unb ffilabiwoftof
patrouillierte): bie ruffifdje flotte im Moment be$ Kriegsausbrüche*, fid)
mit ben Sinienfchiffen unb nur 6 Kreuzern auf *Port 2frtl)ur,
mit 3 großen unb 1 Meinen Kreujer auf ffilabtwoftof, unb
mit 2 Kreuzern auf Sfchemulpo (ben $afen ber foreanifchen J&aupt*
ftabt ©6ul)
»erteilt befanb !
2Öie aber fo „friegSpolitifch" 3apan beffer wie SKußlanb »erftanben
hatte: fchon im ^rieben
für ben gewollten KriegSjwecf auSretdjenbe Kräfte rechtzeitig
an jwecfentfprechenber ©teile bereit gu fteUen;
fo tjat auch bie japanifche Kriegführung „mtlitärftrategifch" bem ®egner
fcte 3nitiati»e beS J£>anbelnS »ormeg ju nehmen gemußt! —
bereit* am 6. gebruar 1904 — einen Sag »or ber ^eterburger
(Srfldrung — war baS ®roS ber japanifchen ©chladjtflotte mit „Orber für
«Port 3frtl)ur" in (See gegangen, auf beffen 2fußenreebe — wie man
japamfcherfeitS wol)l ftdjer wußte! — bie ruffifdje flotte feineS Kriegs*
juftanbeS gewärtig ot)ne alle ©idjerungSmaßregeln »or 2lnfer lag.
3n ber Sftad)t »om 8. jum 9. ^ebruar erfolgt bann furj nach
Mitternacht ber unter obwaltenben Umfldnben allerbingS fetyr erleichterte,
aber auch fdjneibig burdjgefuhrte Sorpeboüberfall, bem in furjer 3*it
bie rufltfehen ?inienfd)iffe „@efarewitfd>" unb „Stetwtfan" unb ber gefchufcte
Kreujer „«PaHaba" erliegen, bie ffd) mit SWuf)e nach ben Snnenljafen jurÄcf*
fchleppen mußten.
5ro^ biefe* unglucflid)en Änfanged get)t Xbmirat ©tarf ben mit
5age«anbrud) nAljer Ijerangefommenen japanifd)en ©d)lad)tfd)iffen cntfdjloifen
entgegen; ?fbmiraf$ogo aber weidet nad) furjer tfanonabe bem rufftfdjen
©egenangriffe auf bie tjolje @ee au^.
Dem ferneren @d)rage »or |>ort 3(rtl)ur fotgt unmittelbar aucn ber
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ffiilljclm »on Scbcrff: Q3om ruf|1fd)Mapam'fd)cn 8xic$.
SBerlujt ber beiben rufftfchen JTreujer in Sfdjemulpo, bie beibe gleichfalls
olme alle Äenntnie' »on einem tfriegäaue'bruche, burch bie ben erflen
japanifchen ?anbtran*port nach <S6ul eäfortterenben überlegenen Ärdfte
überrafcht, bem fteinbe nad) belbenmütiger ©egenwetjr erliegen.
innerhalb weniger Sage ifl fo bie ruffifcr>e <£d)lad)tfiottc
bereit* um ein flarfeä SSierteil il)reÄ SBeflanbeä gefdjroacht!
X>ie ruffifche Regierung hat baö Verfahren ber Japaner ben 2Be(t<
machten aii „»6 Iferrechtdroibrigen ^riebenÄbrud)" benunjirf; bie
£D?dcf)te aber haben befanntlid) barauö feine 23eranlaffung genommen:
gegen ben griebenäbrecher eine (Srefutionäflotte aufyurüjlen, bamit alfo fein
$8orget)en flittfchweigenb aii „ berechtigt" anerfannt! ÜBenn mir in ben
legten Septembertagen erlebt fjaben, wie außerorbentlid) leicht ein un*
glüeflicher, an ftcf> felbfl unbebeutenber .,3n>ifchenfaU" ba* 23olf*empftnben
in einer ffieifc auf juregen »ermag, baß felbfl eine friebfertigfle Regierung
fid) baburch vielleicht fchon innerhalb »ierunbjroanjig (Stunben in einem un*
geahnten ßonflift ^irteincjertffen fe()en fann: fo wirb ei „für jeben, ben e*
treffen fann" bie einbringlichfle ?el)re ber Vorgänge »on *Port 2frtf)ur unb
Sfchemulpo bilben muffen, baß nur bie rafdjefle, eigen $rieg$fertigfeir
ihn »or ähnlichen, „politifchen Überfallen" \w fd)ü$en »ermag!
X)er rufftfchen Regierung unb »or allem intern mit ben roetteflgebenben
Vollmachten audgerüjleten „Statthalter im fernen Dflen", bem
2bmiral #lcrejet» wirb ber SBormurf nicht erfpart bleiben f6nnen: ftd? in
leichtfertiger Seife im friegdungünjligen Momente burd) ben „Übergang
be« ®egner$ »on ber Unterfjanblung jur ©eroaltbanblung", tyabtn über*
rafdjen ju laffen!
SMö jur Stunbe leibet bie rufitfdje £rieg$füt)rung unter biefen Sünben
einer mangelhaften, biplomatifchen unb militarifchen ÄriegSoorbereitung, $u
benen ftd) bann offenbar auch noch ber gr6bliche gebier einer anfanglichen
Unterfcha$ung bed ©egnere* gefeilt tjatl
Vfnbcre biefer ©egner! —
angeflehte" ber „»erfügbaren eigenen Gräfte" t>at felbfloerflanblich »on
J£>aufe au* bie japanifche Strategie nicht mit bem „le$ten militarifchen
Äriegäjmecf ber »ollen 3Bet)rIoemachung be$ ©egnerd" rechnen fönnen.
immerhin brauchte e$ unter ben obmaltenben — in Sefio jweifello*
jiemlich genau befannten — Umflänben feine$n>eg* al$ eine Unm6glichfeit
ju gelten: mit eigener Übermacht bie refati» fchmachen rufftfchen Streit*
frafte in einem erflen flegreichen ftelbjuge aud ber SWanbfchuret »ertreiben
Sit fönnen, um bann }. 35. burd) eine balbige 9tücfgabe biefeä ?anbeö an
ben rechtmäßigen 93ef7$er fid) bie chinefifehe ^Regierung jum — mehr ober
minber freiwilligen — ©unbedgen offen ju gewinnen!
Mam man auf biefem ffiege »ielleicht mit SRuflanb $u einen rafchen
^rieben; etwa auf ber ©runblage bed „befchranfteren ÄriegdjieleÄ" einer
freien «Oanb in Jforea, fo mar bamit jebenfall* ein guter Anfang für
fpater gemacht!
(Sntflanben aber anberen $aKct auÄ einem fortgefe^ten ©iberflanbe
ÄußlanbÄ gegen bie iapanifch*d)inefifche Koalition »eitgefjenbere SSerwicf*
fungen jmifchen ben 2Beltmäd)ten felbft, fo fonnte bie japanifche Regierung
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SBilljelm von £d)erff : Vom ruf|lfd)»japanifd)en Sfricg.
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ftdjer fein, babei j ebenfalls baS feemadjtige Snglanb auf itjrer ©ette
ju feben!
SBie aber aud) immer man fid) in $ofio bie ftortentwicflung ber Dinge
gebacfjt baben mag: erfle unb unerldf}ltd)e Vorbebingung für ben $u »er*
folgenben „engeren ober erweiterten tfriegSjwetf" bilbete unter allen Um*
ftinben: ber rafd)e militarifdje (Srfolg unb ju bem (5nbe: bie richtige
SBabl beS erjten mtlitarifd)en ÄriegSjieleS.
Die Unfd)dbltd)mad)ung ber ruffifdjen flotte,
bie Eroberung »on «Port Artbur, als ir>red j. 3. wid)tigtfen
frrategifdjen ©tütjpunfteS, unb
bie Vertreibung ber feinblidjen 2anbftrettfrdfte aud ber
Sttanbfdjurei jebenfallS bis über bie beilige J^auptfiabt SOTufben hinauf
(teilten fid) flar erfenntlid) alS bie brei «£auptetappen für eine „jwecfent*
fpredjenbe Anwenbung ber »erfugbaren KrtegSmittel" bar.
3e rafdjer unb »ollfommener eS babei gelang, bie feinbltdjen £ee*
frrettfrdfte auf einen Stanb b«abjubrücfen, ber bem SranSporte ber eigenen
Sanbftreitfrafte feine erntfen ©djwierigfeiten meljr ju bereiten »ermortte,
befto mebr fonnte bie Eroberung »on *Port Arthur »or ber Vertreibung beS
®egnerS aus ber SDtanbfdjurei in zweite Minie jurücftreten unb befto
gr6fer bte SBafyrfdjeinlidjfeit »erben, für biefen midjtigften KriegSjwecf
überlegene Gräfte »erfugbar flellen ju f6nnen!
Die — wie wir fpater feben werben — auffallenb weite 3urucf*
Verlegung ber ?anbung ber 1. japanifdjen Armee (bei Söul, 350 km »on
ber ©renje) unb ber fpdte Abtransport (erft Anfang SWai) ifyrer 2. Armee
führen beibe ftd) jmeifelloS allein auf bie SÖebenfen jitrücf, welche ber
japanifdjen oberjien Heeresleitung felbft nach bem glücfltdjen ^ebruaranfang
bie rufftfdjc flotte nod) immer ein$ufl6jjen »ermod)t bat, bie bamit — jum
wefentlidjen Vorteil ibrer Sanbarmee — bie erften ernftlidjeren 3ufammen*
ft6ge ju Sanbe um gut fed)S 5Öod)en weiter b«tauSgefd)oben bat, «W
obnebem wobl nötig gewefen wäre!
©d)on in biefem erflen »orbereitenben Sttaflnabmen erfennt man aber
gleid) »on $aufe auS, ben aud) fpdter uberall jutage getretenen djarafte*
riftifdjen ©runbjug berechneter, dujjerfter Vorfielt, burd) welchen bie
japanifdje Kriegführung flcf> bis je$t — »ieHeid)t nicht immer ju ihrem
Vorteile — ganj befonberS ausgezeichnet bat, unb ber unS fdwn — meines
Trachtens hier fogar jum auSgefprodjenen 9?ad)teile für bie fo bod)Wid)tigen
erjten Cperationen! — in bem ©eegefedjt »on ^)ort Artbur entgegen*
getreten war! —
Aud) obne 6eemann ju fein, mochte id) ndmlid) behaupten, baß in
ber 9?ad)t »om 8. jum 9. ftebruar fid) ber Abmiral $ogo eine in ber Kriegs*
gefd)id)te wobl feiten unter gleid) günftigen Umftdnben gebotene ©elegenbett
ju einem entfdjeibcnben ©djlage gegen ben geinb bat entgegen laffen!
Üßenn ber japanifdje glottenfübrer an jenem ftrübmorgen — fei eS
felbft erft nadjbem ibm ber glücflid)e Erfolg beS einleitenben SorpeboangrifeS
befannt geworben war — fid) alSbalb mit ber Vollgemalt feiner ©d)lad)t*
fchijfe auf ben überrafd)ten, fcbwdcberen, feineKüftenbatterien felbft maSfierenben
©egner geworfen batte, fo ifl fafl mit ©eftimmtbeit anjunebmen, bag er
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ffiilljclm »on ©<herff: 93em niffifcfHapanifdjen Ärieg.
bemfelben fcfjon je$t eine »ollfommene Sttieberlage hatte beibringen
fonnen, beren SRachwirfung auf ben £anbfrieg — wie fpäter erftchtlich »erben
wirb — für bie Muffen in biefem Moment gerabeju »erhangniS»oll ge*
worben fein würbe!
£a£ SRififo cm er ©ch lacht, bem er hier freiwillig ausgewichen,
wo it)m ein feltener eigener ©lüdSfall für ben ©ieg $ur ©eite geftanben,
ijl bem Xbmiral Togo noch jweimal bod) nur burch unberechenbare UnglücfS'
falle auf feinblicher ©eite erfpart geblieben, ©ad aber fo bie glotre »er*
faumt, l)at bie japanifche Ärmee in $ehnmonatlichen fchwerfren dampfen
nachholen muffen. —
©eit bem 9. Februar hatte fich ber 21bmiral Togo auf bie Beobachtung
»on $ort Arthur befchrdnft; feine wieberholten Verfudje, bie in ber £afen*
einfahrt feftgelaufene „SRetwifan" burch SorpeboS ju gerft6ren, waren ebenfo
erfolglos »erlaufen, wie bie SBeftrebungen, bie £afenauSfab,rt burch ©enf*
fchiffe ju fperren.
Umgefehrt harren aber auch wieberholt ziemlich weit in bie offene
See hinausgeführte 'AucfdUc ber rufflfchen flotte, beren Oberbefehl ber als
r)er»orragenb tüchtig befannte Tfbmtral SKafarom übernommen hatte, $u
feinen ernfrlicrjeren 3ufammen(tö$en geführt.
(5rfr in ber bunfelen unb regnerifchen Stacht »om 12. jum 13. 31»ril
war eS japanifchen Sorpebobooten gelungen, »on ben rufflfchen ©achtfehiffen
unbemerft, ber ftejtung jiemlich nat)e ju fommen unb — wie fleh fpater
jeigen foßte — an »erfdnebenen ©retten ber 2tu0enreebe SWinen ju legen.
STOit Tagesanbruch hatten ffcf) biefe Sorpeboboote auf ein fleineS ihnen
»on ber ©ee entgrgenfommenbeS Äreujergefchwaber jurüefgejogen unb 2(bmtral
STOafarom war um 8 Uhr mit jwei ?inienfchiffen unb einigen £reujern jur
Vertreibung btefeS ®egnerS aufgelaufen.
$rfi a(S man ben eiligen SKütfjug ber Japaner einige 30 km weir
auf bie hol)« ©ee »erfolgt rjatte, entberfen bie Staffen im Sttebel baS rafche
J&eranfommen fiarf überlegener feinblicher Gräfte.
9ted)tjeitig erfennt Xbmiral SÄafarom bie ftatte, macht lehrt; geht bann
aber auf ber 2Cu0enreebe burch brei weitere Sinienfdnffe »erfrarft, bem in*
gmifchen auf 18 km herangefommenen feinblichen ©efchwaber aufs neue entgegen.
„Tin ©orb ber ruffifchen ©chiffe erwartet man bie ©chlachf
— fcfjreibt baS 9K. 3B. fcl. — als »ormittagS 9» Uhr baS $laggfd)iff beS
21bmiralS, bie •^etropawlowSf" auf eine j'apanifche SRine jc60t, beren
(Sntjünbung war)rfd)einlich eine ber <Puf»erfammern $ur (SrptofTon gebracht hat.
3n wenig 2fugenblicfen fleht baS ganje ©cfjiff in flammen, fentert
unb »erftnft nach 2 Minuten.
'Der 9?ad)ftfommanbierenbe, ^ürfl UchtomSfi, gibt nach ber ^ata>
firophe alSbalb baS ©ignal $ur iHücffehr in ben ^»afen, nicht ohne ba$ ba*
bei baS «inienf djiff „«Pobjäba" — baS 4. ber flotte — burch eine
9Bine tfarf haoariert wirb!
3wei SWonate beS ©eefriegeS finb »erhoffen, unb bie unter bie £alfte
ihres urfprünglichen ©eflanbeS jurüefgeführte rufflfche flotte bilbet hinfort
feine ernfUidjere ©efahr mehr für bie japanifche ?anbungen. —
Vier weitere SWonate »ergehen, ohne baß — wie eS bie Statur
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fflilbelm von Sdjerff: 93om ruf|ifd)«jopanifcf)cn Ärieg.
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ber £>inge erflürlid) madjt — »or 9>ort 2frtf)ur bie betberfeitigen Seeftreit*
früfte mit größeren Unternehmungen in ben begonnenen Äampf ber Sanb*
fireitfrafte um bie fteflung einjugreifen »erm6gen.
(5 in »ollee* halbe* 3at)r lüßt fo bie ruffifdje oberfte £eere«leitung
bafyingeljen, ohne fid) anfdjeinenb barüber flar $u »erben, baß, wo
man ben „lefcten Äriegäjroetf ber $Bel)rlo$mad)ung be$ ©egnerä" nur auf
bem 2Öege ber „3ßiebergeminnung ber ©eef)errfdjaft" wirb erretdjen f6nnen,
man aud) „bie nötigen Prüfte bafür bereitjtellen" muffe!
2fn unb für fid) haben biefe Ärdfte ber ruffifdjen ÜRarine ntd)t ge*
fet)(t! in ber baltifd)en unb ©djmarjen 9Äeer*^lotte befaß SRußlanb eine ber
iajsanifdicn naheju boppelt überlegene (5eemad)t, bie fTcf> bei einer rerfu- .
jettigen Bereinigung mit bem ^ajiftfcöefdjmaber — im Sommer 1904 —
ju einer faft breifadjen Übermalt hätte aufgehalten f6nnen.
$atfüd)lid) fallen ja benn aud) fd)on jiemlid) balb nad) ben unglütf*
lidjen gebruarereignijfen ar>nlicf)c 2(bj7d)ten in «Petersburg gel)errfd)t unb
mtnbeften* bie fofortige (Jntfenbung ber baltifdjen flotte auf ben £rieg$*
fd)aupla$ im «Plane gelegen haben.
Die ©rünbe, marum biefer (fntfdjluß erft fooiel fpater — um nidjt
|u fagen ju fpat! — jur Bermirflidjung gefommen: entjiefjen fTdj.annod)
ber <?infid)t ber Außenwelt!
(gdjmerlirf) mof)l mürbe fdjon bamalä — nod) oor jeglid)en japanifdjen
$anberfotgen — ber beutungämeite Darbanellenoertrag englifdjerfeitS bie heute
btliebte Auslegung gefunben haben, unb jebenfallä minbejtenÄ nid)t eine etma
für nötig erachtete 2(bl6fung bed baltifdjen burd) baä tfdjernamorifdje ©e*
fd)maber haben oerbinbern fönnen.
Sag aber ber 3ururft)altung ber flotten in jfronflabt unb (£ebaftopol
bie frieg*politifd)e ©eforgni$ »or einem etma bod) nod) möglid)en
fpüteren Äonflifte mit Gnglanb jugrunbe, fo flanbe aud) biefem SRotiö bie
alte militarifdje ©runbrnahrljeit entgegen, baß
„wer alle* berfen will, nidjtd beeft!"
©tatt burd) redjtjeitige Sereinigung überlegener Prüfte gegen 3apan
ffd) minbejlene" t)ier ben ©ieg ju fTdjern: mürbe bie rufftfdje oberfle JßeereÄ*
(eitung ffd) in biefem äußerten §alle nur ber Gefahr au$gefe$t gefel)en haben:
«£ier mie bort oereinjelt gefdjlagen ju merben!
3e un begreif lidjer aber nad) allcbem oom ©tanbpunfte einer ge*
funben Strategie aud ber oerfpütete (Jntfdjluß ber ruffifchen 2lbmirafitat
erfd)eint: befto mal)rfd)einlid)er mirb eä für ba$ SBerfaumni* nid)t fomohl
einen SWangel an rid)tigem Serftanbniffe, al* »ielmeljr audfd)ließlid) bie
Äriegdunferttgfeit ber Klotten oerantmortlid) mad)en ju müffen!
2Ba* in biefer ?Rid)tung feitl)er aud) nur über bie baltifdje ftfotte in
bie 6ffentltd)feit gebrungen tft, erfdjeint mef)r a(« genügenb für ben 9*aaV
»ei«, baß ti ffd) Ijier nidjt fowo!)I um fteljler ber militürifd)en Äriegd*
füf)rung, al* »ielmetjr um gr6blid)|le — fagen mir — SernaaV
(üffigungen in ber n6tigen Äriegd»orbereitung ge()anbelt f)at! 9?id)t
ben gül)rern, fonbern ben Leitern M rufftfd)en ©eemefenä füllt in erfler 5inie
bie Äataftropfje oon ^>ort Ärtljur jur ?afl! —
STOit einer bei ben mangelhaften Üßerftanlagen boppeit anjuerfennenben
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2Bilbelm oon Sdjerff : «ßom ruf|ifd)=japantfd)en Strieg.
(Energie war man injn>tfd)en in «Port 2frtt)ur an bic üuibt fferung ber Ijaoa*
rierten 6d)iffe gegangen unb bereit* am 23. Sunt Ijatte fTd) ber neuernannt«
3tbmiral 2Bittt)6ft wieber mit ftarferen tfrdften auf bie offene ©ee
rjinauägewagt.
Enbe Sunt ftnb bie japanifdjen 2fngriffdfrafte »on ber Sanbfeitc &er
im näheren Stanon ber 6eefefte erfdjienen unb biä Anfang 2Tngu|t iljre
©elagerungäarbeiten fowett oorgefd)ritten, baß bie fetnblidjen ©ranaten in
naher 3ufunft baä innere $afenbecfen \u erreidjen breben.
2(bmiral ©ittfyift eradjtete ben Moment für gefommen, wo ihm für
biefen fiatt oon Petersburg ber£urd)brud)nad)2Bfabimoftof befohlen war.
SWit « $inienfd)iffen, 4 £reu£ern unb einigen SorpebobootdjerjUrern
lauft er am 10. Xuguft 9Ur/r früi) — unter bem ©ignal „nad) ©labiwojlof
fahren" — au* bem 3nnenl)afen auÄ, unb obgletd) oon ben Japanern aufweite
Entfernungen befdwffen, gelingt eÄ ifjm anfanglid) bod), einen gewiffen 2*or*
fprung $u gewinnen.
®egen 5 Ut)r abenbö jebod) rjaben tt>n bie rafdjeren Japaner mit über-
legenen Gräften wieberum überholt unb gleid) im ©eginn bed entbrennenben
Äampfe* wirb bad ruffifdje &laggfd)iff — bie „Eafarewitfd)" —
ernftlid)er befd)übigt unb — Qlbmiral <ffiittf)6ft oon einer ©ranate
bud)jUblid) jerriffen!
Unter ©efehjl beä durften Ud)tom6fi — beö „Oammermanneä" fagen
bie Staffen — fe$t bie ftlottc nod) einige 3fit, jiemlid) energie* unb ganjlid)
planlo* ben Äampf fort; bann aber löft ftd) unter ben heftigen feinblidjen
3orpeboangriffen ber 3ufammenf)alt auf: bie (tnienfd)iffe unb ber äreujer
„f Biloba" retten ftd) einzeln nad) Port Arthur $urütf, nur bie „Eafarewitfd)"
fcbleppt fTd) nad) bem beutfd)en Jßafen »on Sfingtau, um bort beäarmiert ;u
werben. Die £reu$er „Diana" unb „2Cdfolb" flüchten in bie neutralen
J?äfen »on (£d)angl)ai unb ©aigon; bie „Sttowif" mufj nad) Umfegelung ber
©übfüfte ber japanifdjen Snfeln fdjliefHid) bod) im £afen üon tforffafowo
auf Sachalin »erfenft werben!
Der ruffifd)e $lottenburd)brud) t fl enbgültig gefdjeitert! —
wie eben aud) jeber $anbburd)brud)öoerfua) fd)eitern wirb, ber, üatt feinen
Erfolg in einer entfd)eibenben fiegreid)en (Sd) lacht ju fudjen, ihn barin
ju finben l)offt — b cm a e mbe o bn e ernften tfampf entfommen ju tonnen!
Sftad) allem, waä man über ben Bbmtral UDtttboft gehört, muß fein
$ob, gleid) im beginn beö Kampfe*, ale ein neuer fd)werer ©d)i<ffal6fd)(ag
für bie Staffen empfunben werben!
ffienn aud) faum nod) einen entfd)eibeuben ©ieg, fo würbe feine
Energie m<Md)t bod) nod) eine fold)e @d)übtgung ber feinblid»en flotte
tjaben erfdmpfen f6nnen, baß bamit — ber baltifd>en flotte ber 5Beg frei*
gemadjt gemefen wäre!
Dem nad) bem $obe 2Bitrl)6fr$ auf feinen Pla$ berufenen — »ierten
unb legten — J£>6d)tffommanbierenben bed Pajtfifgefdjmaberd, bem 3Tb m traf
ÜBireniu* Ijaben namentlid) bie Englanber einen Vorwurf barauä gemadjt,
baß er in bie Entwaffnung unb fdjließlid) aud) SBerfenfung feiner 3 du ff e
gewilligt unb ffd) mit feinen beuten unb ©efdjü&cn in ben Dienfl ber ?anb*
»erteibigung bon fort Ärtljur geflellt l)at!
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Sßtlbelm oen ©d)erff : Q3om ruffifdHapanifdjen Strieg.
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Sfl?eine$ brachten* aber ift bem tapferen 3fbmtraf fein anberer 3udmeg
mehr übrig geblieben.
Wiit feinen abermalä numerifch unb materiell nicht unwefentlicf> ge*
fchwadjten Gräften bem überlegenen ©egner nochmals auf bie bot)* ©rr
entgegenzugehen: hatte, mir bte Dinge lagen, nur in einer tragifcfjen
Tonquidjottiabr enben fännrn.
©chwrrlid) »Are folchrä @nbr „rhrrmwllrr", jrbrnfaH* aber „unnüfcrr"
cjrwefcn, wie jefct!
mt bem $obe 0Btrtr?6frd unb — bem 3u$bleiben ber balttfdjen ftlotte
waren bie ©ürfel
über ben ©eefrieg 1901
rnbgültig juunguntfen SRuglanbd gefallen!
Sehen wir, wie injwifchen ber ?anbfrieg ffcf> gehaltet hatte?
*
*
'JTIö bie Regierung bei SWifabo ficf> im Februar 1904 jum Kriege
entfd)loffen fyatte, )ät)lte bie japanifdie ?anbarmee in 13 Diöifionen
mit 720 ©efchüfcen eine #rieg$*Grffeftiofrarfe oon runb 200000 SWann.
3n 9tefer»e unb Vantircbr mar ein genügenbeö SWenfchenmaterial
vorbanben, um g. burd) 9?euformationen biö jur SBerboppelung ber 'Zivi*
(Tonen, bie ^elbarmee auf 450000 3ttann auägebilbeter ©olbaten
bringen ju fonnen.
©rganifation, Formation unb 2fu*bilbung waren feit etwa 20 3at)ren
wefentlid) nad) beutfdjem 0Bufter geregelt; Didlojierung unb SWobilmachung
in günftiger 2Öeife, namentlid) auch in SRücfjicht auf eine rafdje @infd)iffung
georbnet.
3Danf etned »orjüglicbrn, »om patriotifchrn ©riftr unb ber
SUttrrlichfrit ber alten Ärtrgrrfaftr ber ©amurai befreiten, ba$u
in rinrr allen Qfnforbrrungrn ber 9?eu$eit entfpreeftenben ÜÖeife trefflich
vorgebübeten Dffijierforpd; fowie banf eined außerorbentlich an*
Heiligen unb willigen SD?annfchaft$material$ fo«nte bie 2lrmee fld)
in jeber ^Richtung europaifchen Gruppen ebenbürtig erachten unb hatte ja
auch f*on in ben unmittelbar vorangegangenen kämpfen in (5bina an*
erfannte groben ihrer Sücbtigfeit geliefert.
Sofort mit bem JcriegSaue^brucne hatten bie Japaner ftdj burch S3e*
fefcung brr wichtigen forranifd)rn #afen jum unbetfrittenen #errn biefer
^>albinfel gemacht, unb — bie Stteutralitatderf larung bed fdjuftlofen
Äaiferä ignorierenb — benfelben ju einem ©taatäüertrage gezwungen,
ber fein ganjeä ©ebiet ber uneingefchranften ©ewalt ber japanifdjen SKilitar*
behorben unterteilte.
STOit @nbe Februar waren biefe »orbereitenben Schritte für eine
Cffenfiue in ber SWanbfchurei beenbet.
SKuffifcherfettd waren jur SSerteibigung be$ in ftrage fommenben,
l»ifd)en 5Blabiwoflof*ehaTbin^ort Arthur ein gleichfchenfeligeÄ,
fpifcwinfelige* Dreiecf »on etwa 550 km ©runblinie unb 1100 bid
1200 km Seitenlangen bilbenben manbfdjurifchen ©ebieted urfprünglid) nur
«übbcutfte SJlonatSljefte. II, 5. 26
SDilWm »on ©d)crff : Q3em ruf)ifd)*japamf<hen Ärieg.
pier ofHibirtfdje ©d)ü$enbrigaben (ju 8 ©at.; im Kriege fcioifionen
ju 12$Öat. bilbenb), bie entfprecbenbe Äofafe n*3f rtt [ Icr ie unb Äapallerie,
eine Anjahl fte(tunge,bataiHoneunbbte mÜitÄrifd) organifierte (300002Bann
jahlenbe) ®renj* unb ©ahnfdjufcwache perfügbar gewefen.
infolge einer ©ereifung beä £anbed burch ben Damaligen Kriegs
min iiier jfuropatfin waren bann aber im ?aufe bed 3Binter6 1903/04
biefe Gräfte nod) um vier »eitere ©chüfcenbrigaben unb enblid) um
jwet tjalbe europaifdje IDtoifionen (31. unb 35. ber Äorpä X unb XVII)
pertfdrft worben.
Uli ndchfte Unterftüfcung tfanben bann nod) Idngä ber großen ftbirifdjen
Q>at)n brei oflf i b trif cf>e unb »eiteren eine Anjahl europdifdjer «Referve-
brigaben (ä 4 fcat.) jur Verfügung, Pon benen jebe ftd) mit ber SRobÜ*
madjung auf eine Dipiffon Pon 20—24 fcat. $u fe$en vorbereitet mar.
Einbejüglid) ber brei mobilen ffbirifdjen SKeferoebrigaben unb ber ®renj*
wachen berechnet bae* SD?ilitdr*5Bod)enblatt im Januar 1904 bie rufftfdje
?anbmad)t auf bem mutmaßlichen £ricgÄfd)aupla$ auf r unb 227000 $Rann
mit aber nur 280 ®efd)ü$en.
Aber felbft bie Erreichung nur biefee* Stanbee* wirb fpdter erjl
bie" jum 72. 2J?obilmad)ung$tage (20. April)
für möglich erachtet, unb bie rufjlfche ©tdrfe am erflen 9ttobilmad)ung*tage
(10. ftebruar) nur auf 130000 STOann gefchdfct, benen innerhalb je 20 Sagen:
25000 SWann würben nachgeführt werben fönnen.
£6d)ftfommanbicrenber ber fdmtlichen „£anb* unb ©eetfreitfrdfte
im fernen JDften" war aud) nach bem Jfriegeaudbrudje ber Äaiferlidje ©tatt*
kalter Abmiral Alerejem »erblieben.
93rrcitö Enbe $ebruar aber war bemfelben ber feitfyerige äriegeminifrer
®eneral £uropatfin alt felbßdnbiger „Oberbefehlshaber ber manbfd)urifd)en
Dperationdarmee" jugewiefen worben, bie „Gruppen um 5Blabiwoftof" aber
bem getrennten Unterfommanbo bee" ©enerald ?inrwitfd) unterteilt ge*
blieben.
£)ie offenbar niemale" recht Hat gegeneinanber abgegrenjten S&efugniffe
biefer — in le&ter 3nflan$ aud) noch burd) biref te befehle au$ ^eterdburg
beeinflußten — !)6l)eren ftührer hat unbebingt bie operatipe Sdtigfeit ber
manbfdjurifchen Armee in nachteiliger Sßeife beeinflußt, unb enblid) ja bann
aud) im ©pdtherbft jur Abberufung bee Abmiral* geführt. —
9?ad) feinem Eintreffen in SRufben am 27. SÄdrj hatte ee ®eneral
^uropatfin feine erfle ©orge fein laffen, ben wichtigen ©traßenfnoten
pon ?taujang ju einer Warfen Stellung ausbauen, um hier nach
Maßgabe thrcö Eintreffend feine #auptfrdfte $u perfammeln.
3n ber vermutlichen J&auptanmarfd)rid)tung ber Japaner Pon Söul
über 2Bibfd)u war alebalb ber ©eneral ©affutitfd) mit ber 3. unb
6. oßfib. ©d)üfcen* unb ber $ran£baifa(«£ofafenbtPifion (runb 26000 SWann >
gegen ben unteren 9)alu über bae ®ebirge auf $6ngwanfd)an por*
gefchoben; gegen eine m6glid)e japanifche ?anbung im ©olf pon Siautung,
ber #afen 3nfou unb bie <£tabt Sltutfchwang darf befe$t worben.
«Port Arthur war ber felbftanbigen ftürforge beÄ jum Äommanbierenben
im tfwantungrbiete ernannnten ©enerald ©t6ffel anvertraut, bem für
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SBübelm oou e*erff: Q3om ruffifd>«jap«mfd)en Äneg.
391
tiefe Aufgabe neben ben $eftung*truppen bie 4. unb 7. oftffbiriferje <£d)A$en*
bi»ijion (jufammen einige 30000 SD?ann ) augeteilt waren.
Danf be* langfamen 5*orrucfen* be* ©egner* unb ber — im Au*lanbe
»ielfadj unterfd)d$ten — guten Stiftungen ber großen o|tffbirifd)en $&al)n
war e* bi* (Snbe April ben Bluffen gelungen, tr>re Streitfrdfte um gut
100000 SOfann ju »erffdrfen. 5Bar »on biefen 9?ad)fd)iiben anfd)einenb
audj ein nidjt unbetrddjtlidjer Seil — mefentlid) moljl au* 3n>eifel an ber
Aufridjtigfeit ber d)ineflfdjcn 9?eutralitdt — »om Abmiral Alerejero bei
ßbarbin junief gehalten morben; fo verfugte bod) beim beginn ber japanifdjen
£)ffenfioe ©eneral Äuropatftn in unb Ijinter Dcr 3entralfreHung »on Siaujang
jur3eit(au*fd)ließlid) ber Detadjierungen) bereit* ubernafjeju 100000 SWann.
liefen bod) erft nad) unb nad) jur Durchführung gelangenben ruffffdjen
Defenff»maßnat)men gegenüber, war bereit* um bie SDhtte ÜBarj, bie au*
brei Di»iffonen (@. 1. 12) unter ©eneral Äurofi gebilbete erffe japanifdje
Armee auf ber Straße <S6ul*3Bibfd)u gegen ben ?)alu ed)elontert unb »or*
wdrt* mit ber »on ben Staffen über ben ©renjfluß »orgefdjobenen Sran*baifaU
Äofafenburiffon in Berührung getreten.
Urft am 4. April aber erreicht bie japanifd)e Vorhut unter 3urücf*
brdngung ber feinbüd)en töaoallerie ben Jluß, unb erft SWitte biefe*
SRonate* — id) erinnere an bie Äataflroplje SWafarow am 13. April —
ift bie Armee felbjt um ©ibfdju aufgefdjloffen.
9)?an wirb faum irrgeljen, wenn man biefe operativen 2Jer*6ge*
rungen au*fd)Ueßlid) auf jene ©rünbe jurücffüljrt, bie — wie t)ier früher
behauptet — burd) eine (tegreidje <5eefd)lad)t am 9. ftebruar bei 9>ort Arthur
am wirffamfien ju überwinben gewefen »Ären!
„Die felbffgewollten, auffallenbcn Serj6gerungen in ben
japanifd)en 9)?aßnat)men fangen an, immer unoerftdnblidjer ju
werben" — fdjreibt ba* Wl. 3B. SM. in feiner Siummer »om 19. 4. 04;
unb jmeifellc* tragen biefelben bie J^auptfd)u(b baran, baß e* ben Muffen
gelungen ift, nod) redjtjeitig bem ©egner eine numerifd) ebenbürtige
Armee entgegenstellen. —
2$on ^6ngmanfd)an Ijatte ©eneral ©affulitfd) feinerfeit* ben ©eneral
£afd)talin*fi mit 12000 9». gegen ben unteren sJ)alu »orgefdjoben, unb
burdjau* entgegen itjrer militdrifdjen Aufgabe biefer fdjmadjen Ab*
tetlung befohlen: „ben tfampf aufzunehmen unb in Stellung ju »erljarren."
3n ber 9lad)t jum 1. 9Äai haben bie Japaner ihre SBorbereitungen
für ben ftlußübergang »ollenbet unb am ftrübmorgen greifen ffe, unter bem
<Bd)u&c einer weit überlegenen Artillerie, bie Muffen mit großer Übermacht
umfaffenb an unb treiben bie überhaupt nur $ur Sdtigfeit gefommenen 8
fernblieben Bataillone mit ffarfen Serluften auf ihre £auptfrdftc jurücf.
Dbg(eid) in bem fdjweren ©oben ber grdßere Seil ber Artillerie »er*
loren geht, erfolgt ber Stücfjug bod) in fo fefter Haltung, baß bie japanifd)en
SBortruppen erff am 5. Sage nad) bem ©efed)t (6/6) »or bem nur 50 km
entfernten ftongwanfdmn erfd)einen.
Dem Übergange ber 1. japanifefoen Armee über ben ?)alu folgt jefct un*
mittelbar — am 5. Wlai — bie ?anbung ber — bi* je$t an ber forea*
nifdjen Äufle jurucfgeljaltenen — gleid)fall* au* brei Dioifionen (1., 3., 4.)
26»
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392
iöilbelm oon «djerfir: SJom ru|Tif^«japaiuf(f)c» Ärie$.
unter (General Dfu gebildeten 2. japanifdjen Armee bei 'Pt$eroo
(120 km 6flltcf) «Port Arthur).
Unterjhifct öon $»ei »eiteren Dh>iftonen (5. u. Ii.) einer 3. Armee
treibt ber japanifche ©eneral ben it)m mit ber 4. södjüßenbiüifion entgegen*
tretenben ©eneral $of auf feine befefiigte Stellung auf ber Sanbenge oon
Äintfdjou jurücf, bie er am 26. SD?ai in blutigen, ben ganjen Sag »ab*
renben Ädmpfen erfturmt.
9ttit bem 3urucfn>eid)en ber 9tu|fen über £alni beginnt Qrnbe Wtai bie
erfle Söerennung oon *l>ort Arthur, bie aber erjt üier ©odjen fpdter in
eine eigentliche Belagerung überjugetjen »ermag, beren Leitung hinfort
©eneral SRogi übernimmt.
3ur iHucfenbecfüng ber eriten Operationen gegen bie ^efhing halten
Seile ber 2. unb 3. Armee bie £inie ^utfefjou — $Bafentien gegen Dflen befe$t.
3nj»ifd)en bat bie 1. japanifche Armee nach ihren Erfolgen am
2)alu j»ar bie ruf|Tfchen Abteilungen jundchft über $6ng»anfchan auf bie
®ebirg$pdffe utrutfgebrdngt, i|t bann aber, nachbem ftc hier uberatt auf
hartndeftgen ©ibertfanb geflogen i|t, bi* in bie £inie $6ng»anfchan— Siujan
juruefgegangen!
£a auch bie Muffen nicht über bie »pdffe folgen, tritt oom 17. 3J?ai
ab auf biefer $ront ein oälliger SDperationdftiU(tanb ein.
inii ©eneral &uropatfin »irb ber Vorwurf nicht erfpart bleiben
!6nnen: in ber jweiten $dlfte Wiai bie gunflige Gelegenheit »erfdumt
$u ^aben: (Ich mit feinen annod) überlegenen jtrdften aud ber ?inie
?iaujang— $aitfd)6ng auf bie japanifdie 1. Armee unb in bie 100 km breite
¥ürfe jmifchen it>r unb ber Armee Ofuä ju »erfen, um fo feine fo gefdjicfte
fpdtere „£efenfu>*Strategie" burd) ben unerldfllichen ©eifa$ eined fold) offen*
fipen ©egentfojje* entfprechenb audjubauen.
£5b mangelhafte Orientierung ober Langel an Sntfchlufl bie @d)ulb
trdgt, fann bahingeflellt bleiben. ^ebenfalls »ar ber im Kriege fo hoch*
»idjtige, günf!ige Moment »erpaflt — aH man ftcf> ruffffcherfeitd ju einer
halben iWaßregel entfchlieflt! —
Auf bie 9?ad)rid)t oom Aalle J?intfd)ouö unb ber bamit erfolgten 3jo-
lierung oon 'Port Arthur »ar ndmlid) in ben le$ten SÄaitagen ber ©eneral
». ©tatfelberg mit einer erfl allmählich auf 40000 gebrachten J&eereä*
abteilung — anfeheinenb auf unmittelbaren iVfchl pon *peterdburg unb
jebenfaüö ohne flargebachted militdrifcheö oui — aud ber ©egenb von
J^aitfchöng »e|l»drt$ in ^e»eguug gefegt »orben.
Am 15. 5uni fommt cö bei ffiafantou jur ©chlad)t mit ben von
©eneral Ofu rafd) herbeigeführten Seilen ber japanifchen 2. unb 3. Armee,
in »elcher tie 36000 Wl. unb 94 ®efd>. Stacfelberg* Pon 42000 fW. unb
200 ©efd). be$ ©egner* mit (tarfen Serluften utm iXürfjug gezwungen
werben.
Der Sorftoß ber Muffen ijt nicht nur enbgültig gefcheitert, fonbern bie
bem überlegenen ©egner ifoliert auf über 100 km pon ber Hauptmacht
entgegengefenbete Abteilung beftnbet fleh mehrere Sage htnbufcfy ernflen
©efahr einer »ollen jtatafirophe audgefefct.
9hir ber rafche (SntfchlujJ be$ ©eneral* Starfeiberg, fein gefdhrbete*
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2Ötlbelm rcn Sdjerff: 9Öom ruf|ifc^«iapontfd)en Ärieg.
393
Jtorp* nod) in bfr fflad)t unb am folgenben Sage in rinrm 3uge bi*
#fiung*jo*tfd)6n — 15 km 5Öcg* — jurutfjufuhren;
bie ^angfamfeit bcr Perfolgenben Japaner £>fu*, bif biffen Ort erft
fünf Sage fpäter erreichen unb enblidj
bie UnterlafTung jeglichen »erfuche* ber 3frmee äurofi*: ben jurürf*
gehenben $einb burd) einen Sorftofl gegen feine ftucfjugälinie abjufcrmeiben,
erm6glicf>en bem rufftfcbcn ©enerol ben unbehelligten SGBieberanfchlufl an
feine #auptarmee!
Buch ber japantfchen oberften Heeresleitung ifr ber SBoltfefche Sa$
»on „ber Strategie al* eine* Snfrem* ber 3u*hilfen" nod) nicht ge*
laufig, bie nicht foroohl auf ber „pramebitierten 3Tu*fuhrung im »orau* über*
legter ©ebanfen," al* vielmehr auf bem „fpontanen 2öillen*aft in ber
SBenufcung ffd) bietenber ©elegenheiten" beruht! —
Der japantfchen Ärmee ift injmifcben eine, na* ihrer 1'anbungefteUe
al* „$afufchan«2frmee" bezeichnete Verhärtung unter ©eneral Sttobju
nacbgeführt, beren Spifce fich bi* Grnbe Sunt auf Siujan jwifchen bie um
ftängroanfdjan fonjentrierte 2frmee Äurofi* unb bie bi* £fiung* jo*tfd)6n
porgerücfte ttrmee £>fu* eingefdjoben l)at.
3n einem 200 km mefienben ©ogen umfpannen biefe brei Armeen bie
manbfchurifche 3frmee Äuropatfin* bei £iau.jang, ber mit weit »orgefcbobenen
flarfen Vorrruppen bie ?inie &on Äaitfchou lang* ber ®ebirg*paffe bi* über
bie Strafe Saimafi— SWufben befefct f)h\t.
Vom redeten $lugel beginnen bie Japaner it>re fonjentrifche Vor*
beroegung, unb ber ganje 3u(i ift aufgefüllt mit ben jum Seil (ehr ferneren
unb »erluftreicrjen dampfen, burd) »eiche ffe fich nach unb in ben 33eff$
aller «PaflhoV» fe$en. (Srft in ber briten <K>oche fluguft aber l>at ftd)
ber japanifdje SÖogen oon 200 auf 60 km »erfurjt unb bie feit «Wirte 3uli
unter bem einheitlichen Befehl be* SWarfchall* £>»ama gesellte Ärmee fleht
mit ihrem linfen ftfügel (Ofu) riftling* ber fcalm unb SWanbarinentfrage
bem fteinbe »or Viaujang nahe gegenüber, inbe* ba* 3«ttnim (9?obju) unb
ber redete glugel (ÄurofO jum Seil noch in ben ©ergen f!d> gegen ben
oberen Saitfe*ho au*bebnen.
2fber auch bie ruff!fche2frmee bat nach unb nach betrachtliche Verhärtungen
erhalten, bie ba* numerifche ©leidjgemidjt beiber J^eere bet^e^eUt haben.
Die Vorpofien ber beiberfeit* auf runb 180 000 93?. ju berechnenben
©egner \jabtn bidjte ftübjlung unb jum (Jrjtaunen ber SBelt, welche, ange*
ficht* be* f on jen trif eben japanifdjen SBormarfche* bem ruffTfchen ftelbherrn
nur ben fcfjleunigjten SRucfjug anjuraten weift, nimmt ©eneral Äuro*
patfin bie beöorftehenbe @ntfcheibung*fchlad)t in einer — allerbing*
feit SBodjen auf* forgfaltigfle vorbereiteten, im übrigen aber bod) auch in
einer Stellung an, bie mit bem rechten $(uge( unb bem 3entrum por, mit
bem linfen ftlugel unb ber Sleferoe tynter einem nidit unbebeutenben ^luf«
abid)nittt liegenb — militarifd) nur al*menig gunjtig erfdjeinen muß!
3fm Z\. Buguft beginnen bie Japaner mit ber 3uri>cfbrangung ber
rufflfchen Sorpoflen auf ber ganjen ^ront fiiblich be* 5aitfe*ho ben Angriff;
aber in achttägigen erbittertflen kämpfen gelingt e* ihnen nicht, gegen
rechten ^lugel unb 3fntrum ber 5Kuffen irgenbmetche ^ortfehritte \u machen.
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ffiilbelm t>on ©d>erff: $Jom rufftfaViapanifdben Ärieg.
Srfl al$ mit bem 31. Xugufl auö ber allgemeinen Bngriffdfront Io-S
ge(6fle Seile ber 'Armee .ttnroftä, tum ber ruffifd)en JtanaUeric unentbeeft,
weit oberhalb ?iaujang ben ftluf uberfcfjritten haben unb ihr Drucf f?d)
gegen ben rufO fetten linfen Jlügel in SRidjtung %antai fühlbar ju machen
beginnt, |tel)t ©eneral tfuropatfin feine Gruppen »om linfen ftlußufer in
bie ©tabtbefefligung unb auf ba* red)te Ufer &urud .
2fber erfl aU am 2. ©rptember fein geplanter fonjentrifd>r ©egen*
floß gegen bie injnnfdjen »erfldrfte Äurofifdje Uinfafiung, »or allem burd) ben
»erfrüfjten glanfenangriff ber eben erfl auf bem Schlad) tfelbe etntrefenben
$u)ifTon Orlow gefdjeitert ifl: erteilt ber rufflfdie ©berfelbljerr ben Befehl
jum allgemeinen SKutfjuge hinter ben Schabe!
SBi$ \um 5. September ifl biefe rucfgdngige Bewegung »olljogen, bie mit
einer im hocfiflen ©rabe bevounberungömurbigen Orbnung unb Sicherheit
burdjgefuhrt, bem »om Äampfe ermatteten ©egner fetnerlei nennenswerte
Trophäen unb SJorrdte in J&dnben gelaffen bat.
5Bie aber ber fd)ließlid>e Ü*erlufl ber jehntdgigen Schlacht von Vtamana,
auf bie 3: at fache 5 urücf geführt werben muß, baß fte auf rufftfd)er Seite alt
reine t)efenfiöfd)lad)t gebaut unb burdjgeführt: jebe taftifdje Vorbereitung
für einen entfdjeibenben ©egenfloß oermiffen Idßt;
je liefert fle »on japanifdjer ©eite ben beflen ©ewetd bafür, baß e* mit
bem berühmten flrategifdjen ©djlagwort 00m „©etrennt marfdjieren unb
»ereinigt fernlagen" aflein nid)t getan ifl, wenn bann nidjt aud) taUifä
burd) eine entfpredjenbe „<Sd)lad)tanlage" ba$ redjtjeitige 3ufammenwtrfen
ber tfrdfte gewdhrleijlet wirb!
*
3wifdjen ben erfd)6pften ©egnern tritt junddjit eine längere 5Baffen*
ruhe ein.
SKufflfaierfeitÄ rutfen injwifchen ntdjt unbeträchtliche Verfldrfungen nad);
aber aud) iapanifd)erfeit$ finb nid)t nur bie legten ^inienbtüifTonen auf ben
£riegdfd)aupla$ herübergezogen, fonbern burd) eine Äbdnberung be$
©ehrgefefce* ifl bie 0)?oglid)feit jur Äufflellung unb 9?ad)fcbiebung immer
neuer — flreng geheimgehaltener — Formationen gewonnen.
@in SWitte Oftober oon ben Muffen, ofenbar nur mit teilen ber
$D?anbfd)urtfd)en 'Ärmee unternommener — anfdjeinenb burd) birefte befehle
aud "Petersburg infjenierter unb burd) einen emphatoebeu 'Armeebefehl fdjon
»orber befanntgemadjter — frontaler 2Cngriff6floß »erlduft nad) blutigflen
<£in$elfdmpfen im Saute unb enbet fogar mit ber 3urucftreibung ber rufftfdjen
93orpojlen h*nter Den ©djarjo, auf beflen linfem Ufer fte nur ben fpdter
»ielumflrittenen ^utilow*«£ugel nahe ber großen ©traße unb (Jifenbabn
behaupten.
3luf naheju 160 km $rontau$ber)nung beiberfeit* be* $luffe$,
bid an bie 3dbne oerfdjanjt unb gegen bie grimme tfdlte in <5rbl)dhl™
eingegraben, flehen bie nddjflen ©intermonate h»nbu«*> ***** Armeen ein*
anber gegenüber: jwei Fingern »ergleid)bar, »on benen feiner e* wagt,
bie £anb ju neuem ©rtffe 00m ?eibe bed ©egner* ju l6fen.
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SBtlljelm oon <Sd)erff: 93om rufrtfdH<W«nifd)en ffrieg.
395
Der am 1. Januar 1905 erfolgte £all oon <Port Arthur oermag
jundchft md)M an btefer Äriegdlage ju dnbern.
5Ba$ r>ier nir <5ntfd>eibung ju bringen war, i|t im ©runbe feit bem
10. QCugufl entfdjieben, unb ber enbttdje fcefty ber ferner umrungenen
gefhing (teilt für bie 3apaner mefyr einen 3f f t nationaler Efyrbe*
friebigung, al* einen firategifcben Erfolg »on entfdjeibenber ©ebeutung bar.
2ion ber jmeiten £dlfte Sanuar ab bilbet ja bann freilief) bie gerabe
im richtigen Sftoment freigeworbene fcelagerungäarmee eine willfommene
$erftdrfung ber Dperationdarmee am ©djaljo, ber gegenüber bie Muffen
burdj bat allmähliche Einrücfen weiterer europdifd)er SRad)fd)ttbe im begriff
ftefyen: bie fang angeffrebte numerifchc Überlegenheit «ber ben ©egner |u
gewinnen.
immerhin mup ei bafyingeftellt bleiben, ob bie enb(id>e Erreichung
beä „mi(itdrifd)en Zitlti oon fort Arthur" einen entfpredjenben 3f udgleid)
bafur ju bieten vermocht hat, baß feine Verfolgung ben Japanern in ben
entfeheibenben ©flachten am $aitfe*ho unb <5dja()o einen Ausfall »on
minbeflen* 40—50000 «Rann gefoftet r)at.
3Öie hochintereffant ba* teilweife gerabeju an homerifche tfdmpfe er»
innernbe fingen um bie ftefhtng gewefen: eö* würbe mich rjier ju weit
führen, ndrjer auf badfei bc einzugehen! —
Die burd) bie erwähnten SJerjtdrfungen gegen Enbe M Lahres auf
einige 300000 SRann angewad)fene rufftfd)e Vlrmee tft tnjroifchen in bie
brei Unterarmeen ber Generale Vincwitfch (1. (infer ftlugeh, SÖtlbcrltng
<3. Zentrum i unb ©ripenberg (2. rechter Aiuad) eingeteilt unb erfeheint
mit ©eginn bee" neuen SahreÄ bereit, au$ tt)ren unterirbifchen ÜBinter«
quartieren ben neuen ^elbjug $u eröffnen.
Mi Einleitung ,ui einer großen rufftfehen Offenfioe, für welche
fowol)l bie nötigen Jtrdfte verfügbar ju flehen, wie ber 3u|tanb ber eigenen
Ärmee unb bie bebenflidjen Erfcheinungen im £eimatlanbe, wie enblid) ber
#all »on ^)ort3frtl)ur eine bringenbe Äufforberung ut bilben fdjeinen: wirb
allgemein ein in ber jmeiten 9Bod)e 3anuar 1905 mit einigen $aufenb
vPferben unternommener großer ©treifjug be* ©eneral SWitfchenfo
gegen bie japanifchen $erbinbungen bi* 3nfou hinunter betrachtet.
Die an unb für ftd) wohl fchon hinter ben Erwartungen jurücf-
gebliebenen Schaben biefeä iRaibö ftnb aber oom ^einbe lange bereits wieber
autgebeffert, ehe — erft einige Sage nach bem 5Öiebereinrücfen STOitfchenfoä
am ©chatw — ber ruffifd>e rechte ^lugel (ich jur au*nu$enben Sdtigfeit
in Bewegung fett.
21m 25. Januar beginnt ©eneral ©ripenberg mit einigen 70000
auf bem redeten -önnh^llfer in mehreren ftch folgenben ©taffeln bii
30 km meit »ormdrt* um ben japanifchen linten finget fleh »orjufchieben,
inbe* einige 50000 Wann jwifdjen J&unf)o unb ©chaho bie Serbinbung mit
ber 3. 9?ad)6ar*3frmee fcilberling aufrecht $u erhalten bejtimmt jtnb.
3fm 26. mit ©taffein linW einfe^wenfenb, forcieren bie Muffen —
fd^on nidjt ol)ne fldrfere Serlujte — bie glufjubergdnge unb brdngen oon
Sub, ffiefl unb Sßorbofl bie japanifdjen Sortruppen auf ityren flarf be*
fertigten linfen glugelflu$punft ©anbapu juruef.
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396
ffiü^lm ©on ©<herff: 35om ru|TtfdH<»pamf<hen Ärieg.
$rofc anfänglicher Erfolge gelingt e$ ben jufammenhangeJofeii
ruffifdjen Angriffen aber nicht, fleh t>ed feflen SRebuit« bicfed ^orfe* ju be*
mächtigen unb bereite1 »om 28. ab brutft rafd) aud bem 3entrum herbei*
geeilte iapanifdje £ilfe bie Muffen auf ben £unho jururf.
3n lauter blutigen (Einjrlfämpfen enbet bie <&d)\ad)t fchjieflich mit
bem »ollen SRücfjugc ber Stoffen auf ir>re alten ^>oftttoncn, bie fie am
3. Februar, oom $einbe unoerfelgt, erreichen.
ffiahrenb ad biefer Sage fpielen ftd> im 3entrum unb auf bem linfen
$lugel ber Muffen nur unbebeutenbe Horpoftengefedjte ab, unb jmeifelloe
ift »efentlid) mit biefer Untätig feit bae* Reitern bee* Angriffes jur Vau
ju legen, beffen an fiä) burchauö jroeefmdgiger ©runbgebanfe nicht
beffer belegt »erben fann, al$ bajj
wenig ©odjen fpdter bie Japaner i r>n in umgefeljrter
Stich tung mit glänjenbem (Erfolge jur Xue1 fuhrung bringen!
Unmittelbar nad) bem »erunglüeften 3uge »erlaßt ©eneral ©ripenberg
„fraitfheitdhalber" bie 2frmee; lange aber fdjon »or feiner 2tnfunft in 9>eter4*
bürg »iffen bie 3*ttungcn »on feiner 3lnflage ju berichten — „bafl ihn
ber ©eneral m ur opatf in im ©ttch gelaffen t)abe"!
Aur ben Jtenner rufflfdjer ÄrmeeberbdltnifTe braucht barin nod> nicht
ber SDemeid $u liegen, baß nicht boch »ieOeicht ber $ü\)Ttr ber 2. Armee —
j. 95. auf prioaten ÜBinf »on <peter$burg her — bie ganje Unternehmung
auf eigene Jßanb unb ohne rechtjettige, auäreichenbe $erftdnbigung bes
£)berbefehle*habcr$ begonnen t)at!?
$Bic bem auch, fei — ber SWiflerfolg ift offenbar nicht ohne einen
nachteiligen moraltfchen (Einbrutf auf bie 'Ärmee geblieben, ben auch bae
(Einrucfen eine« neuen europdifd)cn Äorpe" unb breier europäifdjer ©chÜBen*
brigaben am ©chaho nicht ganj r)at überminben f6nnen! —
©etreu feiner feiger bemährten — wie man m. (E. fälfehlicherroeife ju
fagen beliebt bat — „(Ermattungsstrategie" fdjeint ©eneral £uropatfin
entfdilofTen: auch, weiterhin bie ringe an f t ct> heranfommen ;u laffen!
$Bäbrenb aber bie japanifche oberfte «£eereSleitung banf ir>red »or*
trefflich, organiflerten unb burch chineflfch>!tfchunguflfche ©pionage auf* hefte
unterßu$ten 9?ad)rid)ten»efen$ über bie Vorgänge auf feinblid>er Seite
genau orientiert ift, unb »dbjrenb fte felbfl Jtriegdberichterfrattern unb ÜHilitär*
bevollmächtigten jebe nähere (Einfleht vermehrt, aud ben europäischen
3eitungen aber alle wunfehendmerten (Einjelljeiten über bie rufflfehe SKobil*
mad)ung erfährt:
ift ber ruffifche £>berbefef)l$haber einjig unb allein auf bie fcientfe
einer 'Aufgebot*; Weitere: angeroiefen, bereu mangelhafte 3fu$bilbung
fie weber ale* „Kttaätn* noch ale* *3fufflärungd*Äavallerie" ju einem nach
europäifdjen Gegriffen brauchbaren ÜBerfjeuge ju machen vermocht hat!
rem ehemaligen ©eneralftabödjef etnee ©fobelero, beffen jtveifelloe
hervorragenbem ©efehief cd nat)cju ein 3at)r gelungen ift: „entfeheiben be
(Erfolge bee ©egnere h iura nju halten", foll aber jeiu bod) bie (Erfahrung
nicht erfpart bleiben, baf im friegerifehen $anbeln bie reine Negation
ben 3ufdlligfeiten »on ©lücf unb Unglücf »ielleid)t nod) in h>h*™n
©rabe audgefe$t ift, wie — bie entfchloffen jugreifenbe Initiative !
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Jffitlpclm j?en Sd)crff: Horn ruffifd>jflpanifcheit Ärt'cg.
397
2US ber burch bie 3Trmcc SftogiS unb f inc — anfdjeinenb jum Seil auS
foreanifchen Sruppen gebifbete — Xrmee Äamamuru »erftdrfte geinb (Jnbe
ftebruar feinerfettö bic Dffenjlöe mit ber Umgebung beS ruffTfchen rechten
ftlüge^ ber 2(rmee tfaulbarS (»orrjer ©ripenberg) aufnimmt, unb bic
©emegung burd) tjeftige angriffe gegen ben feinblichen linfen ftlugel
(ttnewitfeh) einleitet: laffen bie fdjier unbegreiflichen UnterlaffungS*
fünben feiner SReiterei in ber notigen 2fuffldrung ben ©eneral tfuropatfin
ben richtigen Bugenblicf für feine ©egenmafjnabmen »erfaumen!
X>ie Ghreigniffe ber festen ^ebruar* unb erften STOÄrjtage, bie man
heute unter bem Sttamen ber „Schlacht oon SDfufben" jufammenfaßt, jinb
einerfeitS noch $u n>enig aufgeflärt, anbererfeite im großen ©anjen ju wot)l
befannt, um hier beS näheren auf (Te eingeben ju fönnen ober ju muffen.
^Bieber aber auch jefct bod) perbanft cd allem 2(nfcheinc nad) bie
ruffifche 2frmee wefentlich nur bem perfänlidjen Talente beS ©eneralS
Äuropatfin in ber ^norbnung ber SXutfjugSbewegungen ber erften Jage,
wenn — wie jur (Stunbe nicht meljr bejweifelt »erben fann — bie
japanifcherfeitS »on ihrem ©iege erhofften unb in ben3eitungen bereite
überallhin als gefidjert oerfunbeten Döllen 23ernid)tungSerfolge nicht
unwefentlid) abgefd)wdd)t unb auf ben freilich nicht abjuleugnenben Süer*
Iuft einer großen @ntfd)eibungSfehlacht mit iljren unausbleiblichen
fchroeren folgen befchranft erfcheinen.
2TUerbingS ja dnbert baS jundchß nichts an ber Satfache, bafl — wie
ber <£eefrieg 1904 — fo je$t ber ?anbfclbjug in ber SWanbfchurei
für bie Staffen enbgultig ocrloren i(t.
S3on einer SKetablierung unb einem erneuten crnfllidjen Sßiberftanbc
wirb faum por einer glucfltchen t'lberfchrettung beS <£ungari*$luffeS
unb ber Sereinigung mit ben — wie behauptet wirb — bereite bei
dhar&in eingetroffenen bebeutenberen »erft&rfungen bie «Hebe
fein f6nnen!
*
9?och wirb jur Stunbe in ber gefamten treffe bie ftrage immer
aufS neue ventiliert: ob unter ben obwaltenben Umftdnben ber Jirteg in
ungefchwdchter J^artnacf igfeit fortgefe$t werben, ober bie ndchfie
3eit beibcrfeitS annehmbare ^ricbenSperhanblungen bringen wirb?
23om rcinmilitdrtfchen <5tanbpunfte auS betrachtet, fann fein
3weifel fein, baß bie „ffiehrloSmaehung ber Staffen" burchauS noch nicht
— wie gern behauptet wirb — auf bemjenigen fünfte angefommen i|t, wo
baS Petersburger Äabtnett ffd) „jur unbebingten Erfüllung beS gegneriferjen
3Billen6 gezwungen" fdtje!
Anbererfeite fännen auf japanifcher ©eite, angeflehte ber bereite ge*
brachten außerorbentlich fchweren Opfer unb ber jweifelloS immer mehr an*
wachfenben ©chwierigf eiten einer ÄriegSf ortfefcung gleichzeitig gegen üßlabiwoftof
unb baS flbirifche binnen lanb, fuglich friegSpolitifche ©rünbe fleh geltenb
machen: mit ben bis je$t erreichten IhriegSjielen fid) ju begnügen unb bie
politifchen ftriebenSforberungen nicht |u uberfpannen.
Selbfloerftdnblid) ift eS l)ier nicht meines 3lmteS: baS afabemifche $ür
398
ffitlbelm »on ®rf>crff : 93om ruffifdj»japanifd)cn ffrt'cg.
unb Söiber pon (?ntfd)lüffen gegeneinanber abjuwagen, auf weldje oielleicbt
felbjt bie (Srfal)rung anwenbbar »erben fonnte, baß „auf bera <5d)lad>tfelbe
»ergoffene* 93lut fdjon 6fter jld) al* ein guter tfitt aud) ba erwiefen !>ar,
n>o e* nidjt *3rm in 2Trm«, fonbern »Bug* in 3Cuge« gesoffen war!"
(find nur lieht feft, baß, wenn ber rufftfdw'apanifdje Jtonflift auch
fernerhin an bie @ewa(t ber Söaffen appellieren will: feine @ntfdieibung
enbgultig nur auf bem SReere au*gcfod)ten werben fann.
f§o l)dngt benn aber bod) alle* weitere $unad)fl pon ben geifiungen
ber flotte SRofiebwenfd)fi* ab, bie nad) fadjmdnnifd) beutfd)em Urteile ießt
wot)I imltanbe fein foll, ben japanifdjen ©efdjwabern al* ebenbürtiger
®egner entgegenjutreten.
Damit muffen wir und j. 3- aber begnügen, biefe ©eiterentwicflung
ber Dinge abjuwarten!
Dem ©orte unfere* tfaifer* ,,»on ber 3»»funft Deutfdjlanb*" wirb
aber nad) aflebem fdwn Ijeute bie weitergebenbe »u*legung gegeben werben
muffen, baß hinfort aud)
„bie 3ufunft ber 2Beltgefd)id)te auf ben ffiaffern liegt!"
9Son ben ©eftaben be* SDftttelmeere* über ben 2ttlantifd)en Üjean bat
fid) ber <5d)werpunft internationaler Regierungen nad) ben ©eftaben
be* (Stillen 5Beltmeer* perfdjoben, unb mit erfd)recfenber Deutlidjfeit t)at ber
ruffifd)'japanifd)e ©affengang bie $wifd)enfraatlid)e 9led)t*lofigfe it
berjenigen 2J?dd)te bloßgelegt, beren maritime ©treitfrdfte nid)t au**
reichen:
ifjren eigenen politifd)en ©illen ben iEBidfiirlid) feiten eine* feemdd)tigen
®egner* gegenüber nötigen $alle* aud) mit ©ewalt jur »nerfennung
bringen $u fännen!
JÜein gefunbe* <5taat*wefen wirb biefer etnbrtnglidjtfen ?et)re
be* großen fingen* in Cflafien ftd) furber entjtetjen f6nnen!
*
3d) bin am <5nbe meine* gebrdngten JRucfblicfe* auf bie jeitgen 6ffif d>en
£rieg*ereigniffe im fernen Djien; trofcbem fann id) füglid) meinen Vortrag
nidjt fd)ließen, ol)ne minbeften* mit einigen wenigen ©orten $wei $olge*
wirfungen biefe* Kampfe* berührt ju l)aben, bie jur (Stunbe fd)on iljre
(Sdjatten oorau*werfen.
3n SRußlanb f>aben bie anbauernben Mißerfolge eine* ber großen
SBaffe geifrig unb f6rperlid) gleid) fernliegenben Kriege* bem ertremeren
Seile ber — man wirb nid)t perfennen bitrfen: oielfad) mit einem ge*
wiffen 9ted)t — Aber bie inneren 3ußänbe unjufriebenen (Elemente eine
erfte Jßanbfyabe geliefert, um eine Bewegung in* ?eben ju rufen, von
beren ftorttntxoidlutiQ bie SWadjtfleHung be* großen 3«renreid)e* in EfTen
unb (Suropa leid)t wefentlid) tiefer beeinflußt werben fdnnte al* burd) bie
perlorene <&d)\ad)t bei Sttufben.
3fngefTd)t* be* bunten SB6lfergemtfd)e*, ba* oon ber ©eidtfel jum
2fmur, oom (5i*meer bi* tief nad) 3*ntralafien hinein ba* beutige „efcte
fjeilige Stußlanb" bilbet;
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ffiilljelm seit ©djerff: 93om rufjtfdHapanifcbcn Ärieg.
399
ange|!d)td ber fdjroffen nationalen, fonfeffionetlen unbfogiafen ®egen*
fa$e, fowie namentlich aud) Der einanber burchaud wiberflrebenben po(itifd>en
Sbeale, welche jur Stunbe fd»on nur in ber europaifdjen SXeichähalfte in
blutigen tfonfliften aufeinanberjuftoßen begonnen (jaben:
wirb e* einer außerorbentlid) flarfen, reformatorifchen £anb beburfen,
um biefe bioergierenben Elemente im SRaljmen ber einen ©taatäeinheit
jufammenjuhatten!
2Kißgtöcft biefer $. 3- »on ber rufjtfchen Regierung in nötiger SBürbigung
be* <£rntfe$ ber Sage in erwägenben Angriff genommene Serfudj;
per$6gert fTd) aud) nur bie praftifche Durchführung oon, ben ruffifdjen
Sonberperhattniffen entfprechenb angepaßten Reformen über einen
gewiffen, nicht aUjulangen Dermin hinauf:
fo werben aber aü$u wahrfdjeinlid) gerabe mir Qeutfd)e unb bad
nachbarlich befreunbete :6fterreich in erfter Sinie ffd) mit bem Umflanbe ab*
jufinben Jjaben, baß unoermeibficherweife
eine große ruffifdje SHeoolution bad ganje ©ebaube heutiger
internationaler 3Bad)t»erhaltniffe in Suropa oon ®runb au*
gu erfchuttern brobt!
Saßt aber bie Tragweite biefer „ftrud)t bee" Äriegeä in £)ftaffen" fid)
$. 3« aud) noch nid)t annahernb uberfet)en, fo fleht anbererfeitö fd)on beute
bie $atfad>e feit, baß
3apan af$ neue $Öeftmad)t auf ben spian ber ®efd)id)te
getreten ifl!
3um erflen STOale »ieber feit ben 3*iten ber großen $urfen*<5uftane
freHt bamit eine nichtchriftfiche 9)?ad)t ben djrijtlidjen Staaten jtd) eben*
bürtig jur Seite!
®et)6rt biefe neue ©eftmacht gleichartig einer, ber bi$ je$t allein
bcrrfdjenben weißen, nad) äußeren unb inneren Eigenarten burdjau*
»erfdjiebenen gelben Staffe an;
liegt e$ weiter in ber Sflatur ber Dinge, baß 3apan früher ober fpater
fid) jur Vormacht biefer !KafTe auffchmingen unb namentlich aud) ba$
J£>unbertmü(ionenreid) (S^ina in feine Einflußfphare einbeziehen muß;
fo wirb man unwillfurlid) junachft be$ fatferlicben 9Bal)nworte$ gebenfen,
mit welchen er feinerjeit
„bie 356 ff er Europa* gegen ba* frembenmorbenbe Stfan*
barinentum"
aufgerufen tyatte!
3n bem ®rabe aber bod) al$ burd) bie neue Sföadjtoerfdjiebung in
TCfien bie „gelbe ®efafjr" an materieller Äraft ju gewinnen brot)t:
in bemfelben ®rabe ift wohl aud) beute fd)on bie Hoffnung berechtigt, baß
fle — if)re innere Sflatut oeranbernb — funftigfyin i eben falle" nicht mehr
ben Gbarafter eine* Äampfee oon Äultur gegen Barbarei tragen
wirb !
Die heutige etl)ifd)e ©Übung 3apan$, beren — in tfot)tt Sater*
fanb*liebe, Dpferfreubigfeit, pflichttreue unb ©ittlidjfeit ftd) offenbarenbe —
400
2Btlbelm ton ©djrrff : 93cm ruf(lfd)»j«panifd)fn Krieg.
%xüd)tt Europa \üx ©tunbe fd)on in t r r moralifdjen Überlegenheit
be* Snfeloolfe* über feinen ruffifd)en ®egner anjuerfennen fldj genötigt fielet:
i ft befanntlid) bem 9?ad)ban>olfe urfprunglid) »on <5!>ina überfommen!
SBenn beute ntefjr unb mcljr ba* tfammoerwanbte S3olf be* SWifabo
in erfter ?inie berufen erfdjeint — wirffamer al* irgenbeine anbtrr
Wtad)t ba* »ermidjte! — feine rafd) erworbene europÄifdj*ted)nifcf>e
Kultur auf d)ineflfcf)en ©oben jurucfjutragen, fo wirb naturgemäß:
gerabe burd) biefen Einfluß am rafdjeflen unb erfolgreichen
ber manbfdjurifdje barbarifdje 6d)utt hinweggeräumt
werben f6nnen, ber jurjeit noch
bie einflige l>o r>c ©ei flcdf u f tur be* Älteflen Söolfee ber
@efd>id)te
uberbecft.
Hud) bann freilief) wirb e* ja nid)t an 5ntereffen«&onfliften gwifeben
sü*ejten unb Cfien fehlen, nod) friegerifdje $erwicfelungen jwifdjen ben
beiben Waffen ganj ausbleiben f6nnen, unb weife SWdßigung ober über*
fdjaumenbe* Äraftbewußtfein ber jungen $Beltmad>t wirb hierin ben $on
angeben !
5Bie aber einjt auf ber wefilidjen J£>emifpl)dre au* ber ©eruljrung be*
mittelmeerifd)en Dccibent* mit bem £5rient bod) fdjließlid) bie tjerr*
liehe ©litte
ber Stenaiffance oon Äunfl unb ÜBtffenfdjaft
entfproffen ifl; fo wirb man DieUeidjt aud) je$t mieber ber gef cf>ichrl icr^en
Erwartung leben burfen, baß in näherer ober fernerer 3ufunft: »on bem
£ontafte ber mobern»europaifd)en mit ber ura(t*afiaiifd)en 2Be 1
anfdmuung ber 3(u*gang*punft einer neuen (£pod)e geiziger dtit*
wieflung ber Üttenfdjtjeit wirb batiert werben f6nnen!
£>ann aber fjat bod) nur auf* neue ba* alte J£>erafltt*5Bort |Tch
bewahrheitet, baß
„ber tfampf ber »ater alle* ^ortfdjritte*" tf* !
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$>as X>etfal>ren gegen ben württember giften
Üanfctagsabgeortmeten Suefcrid) Hift in ben
Darren J82J unb l$22.
©011 £ er man n Cofd) in Stuttgart.
£ie Diebaffion ber „<5übbeutfd)en $D?onatdf)efte" l?at mtd) aufgeforberr,
im 2htfd)luß an meine Ausführungen in fflt. 82 bed „©djmabifdjen STOerfur"
rem 18. ftebruar 1905 ,,$einrid) oon Sreitfchfe unb ©ujtao SHümelin über bad
Verfahren gegen griebrid) ?ijt" biefen ©egenjtanb aud) in ben „Sübbeutfmen
SWonatdtjeften" für) ju behanbei 'n . 3d) tue bad um fo lieber, alc auf ben großen
Stalfdwirt gerabe aud) in ber (Segenwart nidjt nadjbrücflid) unb nicht oft
genug fyingewiefen »erben fann; ferner ift bad 25erfal)ren gegen £ijt fompto*
matifd) für bad ganje bamalige 3eitalter, politifd) außerorbentlid) bebeutfam
unb lehrreich, fd)ließ(id) gibt cd mir ©elegenbeir, ben Sßerfuch &urücf$uweifen,
»cldicr auf meinen 2Crtifel tyin gemacht mürbe, mtd) bed Angriffe auf bie
„£r)re" ber Cammer unb einer einfettigen 2(nwaltfd)aft für ftriebrid) ?ift
ju jeirjen.
1. J&einrid) oon Sreitfdjfe, ein ebenfo marmer ald temperament*
ooller ©ürbiger ftriebrid) ?itfd, Wied in bem 3. ©anbe feiner £eutfcben
©efd)id)te ber <Perfon bed Königs $Bilt)elm I. oon Württemberg einen außer*
orbentlid) großen Seil ber Sdjulb an bem ©erfahren gegen \Mft $u, meldjed
ju be^n 2ludjtoßung aud ber Abgeorbnetenfammer führte; ald nun Sreitfdjfe
im 'jähre 1885 biefen 3. Q3anb bem bainaligen tfanjler ber Unioerjttat
Bübingen, ©ujtao iKumeltn, jufanbte, fchrieb ihm Rümelin am 31. De 1885
einen bemerfrndroerteu £anfbrief, in meld)em er bei aller SÖerounberung für
ben großen ©efd)id)tdfchreiber beffen ^Beurteilung bed württembergifeben #6nigd,
namentlid) im 3ufammenrjange mit bem Aalle £ift, ald nid)t ftidjrjaltig nad)*
juweifen fud)t. Diefen ©rief SRümelind oer6ffentlid)te fürjlid) Dr. <S. £chneiber. *)
darauf fd)rieb id) in ben „6d)mabifd)en SBerfur" jenen 'Ärtifel, worin id) bie
£injelbeiten, auf »e!d)e ftümelin fein Urteil ftüfit, ald nid)t beweidfrafttg
nadjjuroeifen fudjte, tro&bem aber infofern it)tn beiftimmte, ald id) bie ent*
fdjeibenbe ©djulb nidjt barin fanb, baß Wilhelm L burd) feinen Ouftijmtnijter
alle 4>anbt)aben ber bamald befteljenben 9ted)tdbud)(taben gegen ben unan*
genehmen Oranger aud ber mebiatijTerten SReidjeftabt Reutlingen anjumenben
gettatrere bjw. befahl, fonbern barin, baß bie Äammer il)m bei biefem
$erftoß nid)t entgegentrat.
2. ftriebrid) ?i|t mar am 6. Uejember 1820, 31 3ah.re alt, oon ber
„guten ^tabt" Reutlingen, feiner 5Bater(tabt, meld)e 18 3at)re juoor (1802)
toürttembergifd) geworben mar, in bie 3bgeorbnetenfammer gewählt werben,
in welcher er foforr eine rege Satigfeit entfaltete. Wlit feinen Wühlern
unb anberen Scannern befprad) er eine Petition an bieÄammer, welche
') 3m rrtfm $tft M Sabrina« 1905 In »ütttfmtftäifafn «tnrtfliabrtbrftf für
eanfcrtjff^i^te.
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402 Hermann eofdj: Da* «erfahren gegen grtecrieb Cift 1821 u. 1822.
bie bamalige wirtfdjaftliche Sage ÜBürttemberg*, ben 3uftanb ber ®erid)t$*
pflege unb ber ©efamtcerwaltung außerorbentlid) freimütig unb fcharf be*
leuchtet unb fd)ließ(id) in 40 (Singelpunften ein — nennen wir e* wurgel*
(jaft grunbliche* unb bal)er „rabifal" genannte* — SKeformprogramm auf*
(teilte, beffen Verwirflichung er fleh in gemeinfchaftlidjer $ortfd)ritt*arbeit
bon ,£6nig, Regierung unb Volf*»ertretung bad}te; er wellte, wa* au* bem
Wortlaut ohne »eitere* rjeroorgel)!, unb in feiner fpateren £enffd)rift an
ben &6nig flar betont ift, ba* Softem angreifen, ba* bteher get)errfd)t habe,
feine ^erfonen. £a er aber aud) bie J£>anbf)abung ber Suftigpflege ent*
fpredjenb gefenngeichnet hatte, fo würbe barin fowotil eine fceleibtgung be*
9ttd)terftanbe* erblicft al* ber Verfud), öffentlich el)ne ®runb STOißaergnugen
gu erregen, gumal ba bie «Petition gur Verbreitung »erbielfdltigt »erben folltc
bgw. werben war. <£* würbe alfo eine fogenannte £riminalunterfuchun$
gegen Sifl eingeleitet, unb ba gwtfdjen Ärimtnaloerbrechen unb politifchen
Verbrechen nid)t genau unterfd)ieben worben war, aud) bie beftei>rnben
©efe$e außerbem formell bie Jßanbrjaben boten, in biefer Üßeife borgugeben,
ba weiterhin ber Suftigminifter bon Sttaucler in ber fcharfften ffieife auf
ben 9fed)t*(tanbpunft fi ct> (teilte, fo erheb fid) ein außerordentlich bramartfehe*
Verfahren, welche* gu erregten Äammerüerhanblungen führte. Vergeblich
berief fid) ?i(i barauf, baß feine Petition feinerlei ^>crfonalinjurien, fonbern
lebiglid) einen allgemeinen Sachverhalt enthalte, pflichtmaßig com Stanb
punft eine* Volf*reprdfentanten au* angefetjen unb fritifiert, »ergeb(td)
»erlangte er, ftatt bor einen Äriminalgerid)t*r)of »or einen ©taat*gerid>t*bof
geftellt gu werben; er würbe gur Verantwortung gegogen nicht nur wegen
be* Inhalt* ber Petition, fonbern aud) wegen be* Inhalt* feiner Verteibigung**
rebe in ber Cammer felbjt, unb al* er begüglid) ber lefcteren 3umutung ftd>
auf feine 2Bürbe unb Aufgabe al* Volf*reprdfentant berief unb au* biefem
©runbe bie Abgabe einer Verantwortung bem Unterfud)ung*rid)ter gegen*
über abiebnen \u muffen erflärte — unter au*brucflid)em #tnwei* auf 5Befen
unb 5Bürbe ber Volf*»ertretung überhaupt — , ließ ihm ber Äriminalfenat
be* ©erid)t*f)ofe* (Eßlingen au*brucflid) eröffnen, baß er biefe* fribole unb
ungebührliche betragen mit 3nbignation aufgenommen habe unb baß er
wieberfyolt unter Jßinwei* auf ba* ©eneralrcffript bie 3bfd)affung ber Tortur
betreffenb gur Xbgabe feiner Verantwortung aufgeforbert werbe. £iefe*
®eneralreffript enthalt nun gwar bie Bbfdjaffung ber eigentlichen „Tortur",
aber behalt 3wang*maßregeln gegen Snfulpaten »or, u. a. aud) bie $W6glid)feit
»on ©toeffireichen. $rettfd)fe l)atte biefe Drotjung gang befonber* nerwerfKch
gefunben, wetyrenb SRitmelin barin eine meljr oratorifche 3fufbaufchung
$rettfd)fe* frnbet, in ber Tfnuahme, baß biefer #tnwei* be* förtminalfenat*
nod) lange fein 93ewei* bafur fei, baß mit ben ©tocfflreichen aud) wirflid)
(Jrnft gemacht worben wäre, 3d) (teilte mich auf brn ©ranbpunft, baß,
wie aud) au* ber 3rt be* Verhör* unb au* bem Verhör*protofoH hervor*
get)t, bon einer lebiglid) „orarorifchen" 9Benbung feine SRebe fein fann;
»ielmerjr geigt bie gange 3frt, wie ba* Vorgeben gegen ?i|t betrieben würbe,
nicht* weniger at* Schüchternheit unb 3urucft)altung in ber 2fnwenbung
red)t*be(lehenber STOittel. Stumelin beutet aud) bie „Unreife" ?ift* an, bjw.
etwa* unruhig fcrängenbe* in feinem SBefen, ba* eine fcharfe 3urucfwetfuncj
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Hermann M*: S>a* »erfahren gegen griefcrid) Citl 1821 u. 1822. 403
mehr ober minber gerechtfertigt r>abe. 21uch in btefer SBejiehung fdjeint mir
bie SRümelinfche (Jrffdrung fehljugreifen. „Unreife" ja, aber feine*meg* auf
feiten ?ifi*, beffen tfenntni* ber ganjen Sachlage rote Serteibigung ben
(Sinbrutf ungewöhnlicher Steife be* polttifdjen Urteil funbtut, fonbern viel*
mehr auf ber Seite feiner ?anbtag*fo0egen. (5* fdjetnt mir bringenb
erforberlich, bie auef) in ber nationaldfonomifchen Literatur bie heute nod)
fpufenbe Segenbe »on ber „Unreife" ?i(l* etwa* ndher in* 3(uge gu faffen.
Sie verfließt bei jeter näheren Prüfung ber Sachlage in nicht* unb Idßt
eine fo unheimliche Unreife ber ?ififchen 3eitgenoffen, gang befonber* aber
ber „Spi$en" jene* 3eitalter* jutage treten, baß man bie <5ntfterjung ber
Unretfbett*legenbe gang wohl begreift. 9ttan fann gur Grntfchulbigung be*
bamaligen 3ettalter* fagen: e* mar, auch in feinen »erhdltni*mdßig
belferen Sertretern nicht fdtjig, einen ®eift, mie ben ?ifrfd)en gu »erflehen,
aber nachbem ba* £iftfd)e tfeben unb Wirten, famt bem 3eitafter, in
welchem e* »or fleh ging, abgefdjl offen ifl unb »or und liegt, mdre e*
nicht nur ungerecht, e* mdre mahrhaft finbifch unb jammervoll, bie Unreife
be* 3eitalter* al* Sorgug unb bie SReife ?itf* in einem unreifen 3eitalter
al* Unreife branbmarfen gu mollen. (5* ifr mor)l begreiflich, baß Seute,
welche in einem gdrenben Wlofte ben guten Wein nicht gu erfennen Der«
mögen, ffd) nachher mit bem ®drung*gufianbe be* SWofte* entfdjulbigen;
aber bamit geigen bod) nur fie, baß fie vom Weine eben nicht* »erftanben
haben. V\c 3lu*ftoßung £ift* aud ber £bgeorbnetenfammer unb feine Darauf*
folgenbe Verurteilung haben berart tief auf feinen gangen bornenoollen
£eben*weg eingemirft, baß e* öon außerorbentlicher Tragweite ift, hierüber
ein unbefangene* Urteil ju gewinnen, hierbei ift noch gu betonen, baß
StfW Sdtigfeit für Vorbereitung be* 3olIoerein*, feine grunblegenben Denf*
fdjriften an bie ©unbe*mdchte bgw. ben tfaifer »on Äfterreid) bereit* »or«
lagen unb baß er ffd) um Württemberg fpegieü fchon feljr große SBerbienfte
erworben h«tte, beren geringfte* allerbing* bie Übernahme ber balb »ieber
aufgegebenen «Profeffur in Bübingen an ber neu — mit auf feine Anregung
hin — gegrünbeten ftaat*wirtfd)aftlichen ffafnlf&t mar. 25a* alle* galt unb
gilt e* gu berücfffd)tigen : griebrich V'tft mar, al* er bie ©ürbe eine* Sanbtag*«
abgeorbneten auf ffd) nahm, nicht mehr ein beliebiger Semanb, ein £u$enb«
abgeorbneter, mie mancher anbere, er mar fchon meit mehr, er mar fogu*
fagen ein neue* ^Pringip, ber $rdger einer gang neuen 21uffaffung be* Staat*«
gebanfen*, ein 2Äann be* gortfehritt* au* ©runbfaft unb Wiffen herauf,
babei »on unbeugfamer Sachlichfeit/ für »iele eine unheimliche (Srfcheinung
im bamaligen öffentlichen ?eben.
3. Wenn ich bie Äbgeorbnetenf ammer wegen ber 31u*ftoßung
*ifr* unb wegen ber bierburch erleichterten bgw. erfl ermöglichten 21u**
lieferung an ben Unterfud)ung*rid)ter in ben SWtttelpunft beffen rücfte, wa*
man bie gefchichtliche Schulb in bem ©erfahren gegen griebrich 2ifl nennen
fann, fo lag mir perfönlid) nicht* ferner, al* eine weitfebweiftge @rfurfion auf
ba* ©ebiet be* bißorifchen, hier vor allem red)t*hiftorifchen unb Verwaltung*«
hiflorifchen Detail*. Ta nun aber Jpcrr Dr. 2(bam, terjeit Tlrchioar ber
Stdnbefammem in Württemberg, geglaubt hat, mich nach biefer Dichtung
hin eine* befferen belehren ju müjfen, unb meint, id) tj&tte bie „@hre" Dcr
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404 Hermann Softf): «öerfabren gegen griefcrtd) 1821 u. IS »-.».
Äammer angegriffen, weil ich bie preisgäbe beä tfammermitgliebed £i|t eine
Selbftentmannung, ja einen Selb|lmorb — natürlich einen politifchen —
ber Äammer genannt habe, ba ferner immer mieber ber bcleibigenbe
Eharafter ber Petition £ifl$ fo feljr betont wirb, fo burfte e$ nicht aber*
flüfffg fein, nebenbei auf folgenbe Sarfachen hinjuweifen. Schon mehrere
3ar)re oor ber SBerfaffung, bie im 3ar)re 1819 in Äraft trat, hatte bie aller*
untertdnigfte unb treuget)orfamfte Stanbeoerfammlung eine S3efd)werbefcf)rift
an ben $6nig in benjenigen Angelegenheiten beS würrtembergifd)en $otfeö
eingereiht, welche auch ?ift in feiner «Petitton (1820/21) behanbelt; barauf
hatte ber £6nig am 16. ßftober 1816 ba* «erfpredjen gegeben, bag in
furjen 3wifd)enrdumen auf bie cinjelnen ©efchmerben allergndbigfte SRefolutionen
erfolgen werben; am 22. 9?ooember 1816 bezeichnet bie Stdnbeoerfamralung
in einer neuen (Singabc ba* Sdjreibereimefen »or allem ald einer burch*
greifenben Sieform beburfttg unb jwar in ganj ärmlichen — nid)t$ weniger
al* fanften — 3fudbrucfen, wie bie fpdtere «Petition ?ijtd; am 11. £ej. 1816
erfcheint bann ein £efret, welcheö ju bem 3wecf ber Einleitung oon Bor*
arbeiten für Abhilfe eine befonbere ÄommiffTon einfe&t; in biefe Äommiffton
würbe £i(t, bamafö noch „SHechnungärat" ald „EftuariuS", ober wie mir
l)eute fagen würben, al$ Schriftführer berufen, weil er ein anerfannter ©ad)'
»erftdnbiger in Sachen ber Äommunaloerfaffung wie ßommunaloerwaltuna.
war unb, wad für württembergifche $err)dltnilTe erheblich ijt, aud) ein ganj
öortreffltcheä Eramen im tjtytrtn $erwaltung*wefen gemacht hatte, 2ijc
war alfo nid)t nur über bie ©egenjtanbe al* SWann, ber im Schreiberei*
wefen gejtanben hatte, wohlunterrichtet, er war fogar ein paar 3af)re früher,
al$ noch ein anberer 5ßinb oon obenher wehte, mit beauftragt worben, ali
Beamter bie Xbfrellung ber alt wohlberechtigt angefehenen Q3efchwerben mit*
oorgubereiten. 2)?an barf wohl annehmen, baß bie 3(bgeorbnetenoerfammlung
im 3ahre 1821 baoon unterrichtet war, be$gf eichen oon ben „praftifdjen"
Ergebniffen, ju welchen bie $dtigfcit jener tfoinmiftlon nicht geführt hatte.
Angcffchtä biefed Sachverhalte* muß ber Vorwurf, ober vielmehr lebiglid) bie
geftfieHung politifcher Unoernunft, auf feiten ber Cammer meine« Erachtend
ebenfo aufrecht erhalten werben, wie ber Unterfchieb jmifdjen Ehrenbeleibigung
unb — Vorwurf politifcher Unvernunft. Wollte man alle politifchen SBor*
würfe ju Ehrenbeleibigungen Rempeln, bann gdbe ed feine £ritif oon ©e<
fchlüffen ber SBolfäoertretungen mehr. £>ocf) bieä nur nebenbei.
4. Aud) bie Satfache, baß bie bamaligen ©efefcc betr. SBajeftdt**
unb anbere ©erbrechen in Württemberg mit ber jwei 3ahre oor ber ?ift*
tragöbie gegebenen SBerfaffung Württemberg^ }. 9>. gerabe bejüglid) ber
Integrität ber 23olföoerrreter nicht in Polier Harmonie flanben, fann an ber
Beurteilung be$ fallet im lernt md)t6 dnbern. 3m 3weife(fa0e war nid)t
bie 5ßerfaffung mit jenen alten ©eneralreffripten, fonbern e$ waren jene
alten ©efe$e mit ber SBerfaffung in EinfTang ju bringen, unb gerabe barüber
im Äonfliftdfalle ju wachen war in Ermanglung einer anberen unabhängigen
Snfranj einjig unb allein bie Solfeoertretung imftanbe unb berufen.
Unter biefem Oerfaffungdmdßigen ©eficht$punfte betrachtet wirb ber
%aü fo überaus benf* unb merfwürbig. ftriebrid) ?ift war (1789) in ber
freien SReichSflabt Reutlingen geboren unb bi* jur Einoerleibung in ben
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Hermann Cofd) : 3ad »erfapren gegen griefcrid) Cift 1821 u. 1822. 405
bureaurrattfcr>*abfoluttftifd)en Serritorialftaat Württemberg (1802) tjatte (tcf> in
Reutlingen ein b°M 3ttaß oon ©elbftanbigfeit be$ ftabtifeben fcurgertum*
«galten. 3m ©egenfaft ju mannen anberen mebiatiflerren Retd)d|tdbten
hatte Reutlingen nur ganj oorübergetjenb eine artflofratifdye Rebujierung
feiner bemofrattfdjen ©tabtoerfaffung bur(f)gemad)t. Der Sater
StfW, ein 3Öeißgerbermeifter, mar nod) „®erid)t$oermanbter" gemefen, alfo
eine 2frt oon Senator. Die 3??uttcr £ift£, offenbar eine gute Reutlinger
SBürgerfrau, mar im jähre 1815 an ben mittelbaren folgen einer brutalen
®et)anblung, meldte fee buref? irgenbein Organ ber neumurttembergifd)eu
2$erroa(rung6beb6rbe erfahren tjatte, geftorben. Da* ©emußtfein biefer
freien ©tabtluft lag im #intergrunbe be* freimutigen Auftretend oon 2ift
nidjt minber ald feine intime Äenntni* ber bamafö offenfunbigen ©Treiber*
roirtfdjaft bem Solfe Württembergs gegenüber. ®i i(l nun überaus be*
jeidjnenb, baß Eifte* Vorgehen ein @d)0 fomoljl bei ben Vertretern anberer „guter
©tdbte" al* bei ben Rittern, b. 1). ritterfebaftlicben Abgeorbneten fanb, meldje
für feine 9*id)tau$lieferung eintraten; aud) ber *öerid)terftatter ber £anbtagd*
fommtffton, Submig Ublanb — ber befannte Didjter — , obmotyl felbft 3uri|t,
ließ fech bureb bie formalen RedjtSbebenfen mdu einfd)üd)tern. Der SDfinberbeit
— 30 gegen 56 (Stimmen — mar ooUfommen flar, baß ed fid) um eine Wlad)U
probe ber neugefdjaffenen VolWoertretung gegenüber hanble, unb baß man
benjenigen Volfdoertreter befeitigen wollte, welcher gleicbjeitig ber uner*
fdjroefenfie unb in politifdjen Dingen reiffle unb jielbemußtefte mar.
Die Art feine« Auftretend erfüllte bie bamalige ©ureaufratte — e*
war ja bamal* nad) ben ©efebmerben ber Äammer felbft eine »irflid»e
©ureaurratie>©d)reibfhtbenl)errfd)aft in Württemberg — mit 3»m unb bie
Äammermitglieber gr6ß tenteilö mit SBeforgnifTen, ba fie gar nidjt mie ©ürger
von Retd)$)Hbten unb Ritter, mitjufpredjen gemeint maren. <&o fiel £ijt
unb mürbe aud) oerurteilt, unb jmar hart oerurteilt, fomobl $u jerjnmonat«
lieber ^eftungÄftrafe mit 3mangöarbeit als ju außerorbentlid) beben .Höften.
Ware bie .Hammer oor ihr STOitglieb getreten, hatte f!e ihn gebeert, fo mdre
er nimmermehr gefaflen; gerabe ein Sttann mie Wiltjelm I. hatte hierauf
t>ermutlid) bie Vehre gebogen, baß eine SBerfaffung, menn gegeben, bie An«
pafTung früherer entgegenftebenber ®efe$e an ben Sinn unb ®eifl ber 93er*
faffung erforbert, niebt umgefebrt. 3d) führte aud, baß biefe Unreife ber
VolWoerrreter Württemberg* ber entfebeibenbe ©efld)t*punft für bie ©efamt*
beurteilung be$ Verfabrene" gegen ?ift fei. Äurj barauf fam ber ?anbtag$=»
abgeorbnete ftnebrid) J^außmann auf ben ^ all jun'icf unb fprad) oon einem nn
begreiflieben Vorgehen, oon einem Redjtäbrud). 3d) (teile auäbrüeflid) feft, baß
i d) baoon nicht gefprodjen habe, meil Dr. Abam aud) mir bie Wieberljolung
„alter Vormürfe*' naebgefagt Ijat. Dm ©egenteil: id) t)atte ben bamaligen
3ufti)tninifter Württemberg* auäbrücflid) mit ©tjolocf oerglid)en. Da* miO
bod) befagen: ber ©ebein 8holccfö mar nad) ben ©efe$en ber Republif
Venebig formell, juriflifd) betrachtet, ooDfommen in Drbnung; bie Anflage,
weldje ber Sutfijminiiter oorbrad)te, fein (Sdjein, mar ebenfalls juriftifd)
in Orbnung. Dad tjinbert aber gar niebt, baß im „Kaufmann oon Senebig"
fo gut mie im Verfahren gegen griebrid) \?ifl ein „Problem" »orliegt. Dort
Ijanbelt ed fid> um außer ftc ©eltenbmadjung unb Verfolgung einer prioar*
2i«bt>eutf<ijc Wonot*^efte. 11,5. 27
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406 ^ermann Cofd): 3a* «erfahren gegen grirtrift ftft 1821 u. 1822.
rechtlichen ftorberung, im galle ?ift banbelte e* fleh um duflerfle ©eltenb*
machung unb Verfolgung oon 6ffentlid)em Rechte, aber nur einem einzelnen
gegenüber, roeldier !)erau*gegriflFen würbe, obfchon er nicht al* privat*
perfon, fonbern lebtglid) in feiner Eigenfchaft al* 33olf*reprüfentant
ffd> mit nod) befiebenben ®efe$e*paragrapben in Äonflift gefefct \)attt unb
obfchon ba*, »ad er in biefer feiner Eigenfchaft al* 23oIf*»ertreter behaupte r
hatte, fdjon Oabrc jupor fowobl von ben ©tünben felbf! al* »on ber Regierung
in ber Jßauptfadje zugegeben mar. Stellt man fid) bei berartigen gefd)id)tlichen
Ereigniffen auf ben ©tanbpunf be* &ud)jiaben*, bann fommt man fd)(ie$(idi
baju, über bie Einrichtung oon 100 ,r.Dernr burd) ba* Kottweiler $of*
geridjt in ben fahren 1551 — 1648 fein SBort ju »erlieren, fonbern einfad)
feftju (teilen, baß babei aüe* mit ftug unb Recht »or (ich ging.
5. Tue ©djicffale V i fl* n ach feiner Entfernung au* ber Cammer werben in
ber Siegel al* befannt oorau*gefe$t, finb e* aber nicht fo fer»r, al* ju wünfcben
wäre. jahrelang irrte er al* Flüchtling unb gebranbmarfter Serbrecher in
SJaben, granfreid) unb ber ©chweij umher, büßte ben grdßten Seil feiner
$eftung*baft auf bem 3(*perg ab, bejahte mit bem größeren Seil feine*
Vermögen* bie ©erid)t*foften unb bie vergeblichen SBerfudje feiner Tieba--
bilitierung, bi* er enblich im Sahire 1825 ber Einlabung be* ©eneral*
Vafancttc folgenb mit feiner Familie in $a»re (Id) einfchiffte unb nach.
Xmerifa au*wanberte. Vcrt hatte (Td) Vift burd) allerlei Erfahrungen bin*
burd) eine oollftünbig neue Erifieng \u erringen unb fd)wang ffd) vom Partner
bei J^arri*burg unb Rebaftor eine* beutfd)en «ofalblatte* in Reabing fa
ju einem Spanne von öffentlichem Range binnen 2 — 3 3at)re auf, einjig
unb allein au* eigener Äraft, eine «eiftung, welche unringefdjrünfte ©e*
wunberung hervorrufen muß. Dort im ©taate ^ennfploania fchneb er aud>
fein neue* ©nftem ber 33olf*wirtfchaft*lebre erfhnal* in ben ©runbjügen
nieber, jene* ©oftem, welche* bie Ämerifaner nie mehr nergeffen fonbern
bi* auf ben beutigen Sag praftijiert tjaben, angepaßt ihren befonberen 93er*
haltniffen; bort fanb er ben ftarfen ÜBiberball ber Ebeljlen unb Jfennrni**
reichten einer freien, neu (ich bilbenben Nation, welche ihre 6fonomifd)ett
©efchicfe felbft in bie J&anb nahm unb in bie <$anb ju nehmen auch
ftanb, — bort würbigten ihn bie leitenben Staat*manner »ortrefflich, »on
bort trat er, burch bie Ernennung jum amerifanifchen tfonful notbürftig
»or feinen eigenen $olf*genoffen gefd)ü$t, bie Rücfreife nach bem europüifchen
kontinente an, geigte in fajt unbegreiflicher geifhger ?eiftung*fdbigfeit unb
Energie burch glänjenbe Denffchriften unb perfonliche* 5Btrfen ben ffran*
jofen, «Belgiern, ©achfen, Greußen, Thüringern, ©apern, Qtabrnern, fefler*
reichern, Ungarn, baf, warum unb wie man Eifenbarjnen bauen muffe,
fchuf in bem Eifenbabnjournal (1835/7) eine wahre ftunbgrube oon
wiffenfchaftlichen unb praftifchen Unterlagen für biefe 3wecfe, rief ba* erfte
moberne ©taat*lertfon in* «eben, fdjenfte ben Deutfdjen ba* nationale
©öftem ber politifchen £>fonomie, ©anb I, grünbete ba* 3oll»eretn**
blatt, jene* au*gejeichnete Organ nicht nur für bie gemeinbeutfche 3ou**
politif, fonbern auch für bie allgemeine beutfche ^Birtfchaft** unb ©efamt«
politif, rümpfte wie nur irgenbein <3ro§er im Reiche be* ©eijte* je gegen
^pgmüen gefÜmpft hat, befdjwor fogar feinen alten geinb unb heimtürfifchen
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Hermann £ofd): Da* 93erfät»ren gegen griebrid) Cift 182t u. 1822.
407
Verfolger, ben dürften SMettrrnidi, mit aßen flÄttteln feiner riefenhaften
Äenntniffe unb Erfahrungen, ben Deutfdjen »irtfdwftlidje Jfraft nad) außen
unb Bewegungsfreiheit im Innern ju geben enblid), aufgerieben unb
an Äörper unb ©eift gebrochen gab er fid), jur Schwermut getrieben, Enbe
November 1846 bei Äufftein felbft ben $ob, jwei Söhre oor ber beulten
bürgerlichen 9tet>olution, welche er fommen fat). (5* ifi meine* Erachten*
überflüffig, über bie Bcbeutung ?ift* Ijeute SBorte )u machen. Er mar
mritau* ber größte theoretifche wie praftifdje SBofWrotrt, ben ba* beutfehe
33olf t)ert>orgebrad)t bat. Tic bereinigten 2raarcn oon SRorbamerifa ffnb
ba*jenige politifch'öfonomifche ©emeinmefen größeren Stil cd, welche* ba*
$riebrid) Viftfchc Sftationalitat*prini.ip praftijiert hat unb immer nod)
praftijiert. rie ©efd)id)te ber amerifanifd)en 3<?HpoIitif, wie ber amen*
fanifchen 93olf*wirtfchaft*theorie tu bafür ©ewei* ; id> erinnere an ba* Urteil
Jt}enr» Eareo* über tift Europa aber l)at ein 3errbilb al* ©egenftücf baju
in £>fterreid)'Ungarn oor 3fugen. ffiaijrenb bie Union ba* nie gefehene
©djaufpiel einer wirtfd)aft*politifd)en „9?attonafität" unter SBerfdjwinben
bjw. unter iRücfbrangung alteuropäifdjer ©prad)* unb 2fbftammung*national*
bifferenjen bietet, jeigt £>fterreich*Ungarn umgefeljrt ein o6llige* »erfagen be*
grunblegenben Elemente* ber natürlichen ©efamtwirtfchaft*nationa(itdt, e*
lebt gewiffermaßen bie auf bie ©pifce getriebene rücfftdnbige reine ©tamme*«
itationa!itdt*auffafFung au*. 9?? an wirb einmenben, baß bie „3uffaffung"
ben tatfdd)lid)en berrjdltniffen entfpredje, b. b., baß ffe nidue anbere*
fei, al* eine burd) bie unabdnbcrlid) gegebene ©achlage aufgebrdngte SRot*
wenbigfeit. 3d) mochte bagegen nur fagen: 5ßenn biefe ©adjfage eine
unabdnberlithe ift, bann wirb ber ©djwerpunft ber Erbwirtfdjaft unb Erb'
politif ffd) }unet)menb oon berartigen ©ebilben wegwenben. £ic ©egen<
wart oerlangt mehr benn je breite, wirtfchaft*politifch jufammengefaßte
fcinnenmdrfte. 2Benn ba* fontinentale Europa ntctjt imftanbe ift, foldje $u
fchaffen, fo wirb e*, weltwirtfchaftlid) betrachet, ftagnieren unb fchließlid)
rücfldufig »erben. Die Bnjeichen biefer SXütfldufigfeit fTnb bereit« oort/anben.
Bit jeigen fleh aud) auf po!itifd)em ©ebiete. Denn ba* eben ift u. a. aud)
bie ©ebeutung ftriebrich Sift*, baß er bie 5Bolf*wtrtfchaft*lehre »on einer
ffiiffenfchaft, bie im luftleeren SRaum nad) SRaturgefefcen fud)te, oerwanbelt
bat in bie poltttf d>e jfefonomie, b. h. in eine Darlegung ber ©adwerhalte,
bei welcher bie politif che ©eftaltung be* ©taat*leben* in ihrem 2Bed)fe(oer<
h&lrniffe jur mirtfehaft liehen Entwicflung unb umgefehrt, brutlich hervortritt.
6. ©chließlid) ift nod) ber michtigfte ®eficht*punft furj hcroorjuf ehren,
welcher mich oeranlaßt hat, ba« 5Bort ju ergreifen. 9?id)t bie iarfadje,
baß jrort fo bebeutenbe beutfd)e SRänner, wie $reitfd)fe unb 5Rümclin
in iljrem Urteil über ba* Verfahren gegen griebrid) ?ifl audeinanbergehen,
ift ba* ißebeutung^oolle, fonbern bie J$eroorfet)rung unb Erffd)tlid)mad)ung
ber tieferen ©rünbe für biefe* ÄudeinanberfaUen be* Urteil*. E* ifl
burdjau« nid)t gleichgültig, wie bie Deutfdjen fyeute bad »erfahren gegen
?ifl unb feine folgen beurteilen.
3d) habe feine SSeranlaffung mit meiner 3fnfld)t hinter bem ©erge ju
bleiben, toennfebon id) fein J^iftorifer bin unb aud) man fein miU.
3nbem ba* toürttembergifcbe Bürgertum burch feine Vertreter
27»
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408 Hermann Md>: 3a* «erfahren 9*9«! griecrid) ftft 1821 u. 1822.
$riebrid) ?ifl oerleugnete, bat e* fein beffere* ©etbjl »erleugnet. Snfofern
hat SXümelin ba* Sied)!, bagegen ftd) ju »ermaßen, baß Srettfdjfe bem
Damaligen £6nig oon Württemberg, SBilhelm I., »or allem, ja nahezu au**
fdjtießlid) bte ©cbutb »or bem $orum ber ©efd)id)te juweifen will.
Die 2Biberftanb*fraft ober *unfraft ber 23olf*pertretung tft ein Moment,
welche* gefd)id)tlid) in Rechnung gepellt »erben muß. Die Mehrheit ber
93olf*pertreter Perfagte ba, wo fte erfhnal* al* felbjtünbige unb einheitliche
üjnftanj grfinblid) unb grunbfa$lid) in ^unftion hatte treten fetten, nicht
nur um be* ©runbfafce* willen, fonbern um ihrer felbft mitten. ©te
fanb nicht ben Mut, bem viel ju fdjroffen Auftreten ber Regierung ihrerfeite
ihre ganje Macht einer heileren Überzeugung unb (£infid)t entgegenjuwerfen.
Ü her ich gebe noch t>ie[ meiter. Die Schult ©ilhelmä 1. oon Württemberg,
welche $reirfd)fe fe fdjarf pointiert, wirb noch, zweifelhafter bjw. nod> mehr
auf ba* jufafjige Maß befdjranft, wenn man angefleht* ber ferneren Meldungen.
unb ©chicffale ?ifl* nach, feiner Rücffehr au* ber neuen SBelt bie Behauptung
auffletlt, baß nicht etwa nur ba* württembergifdje ©ürgertum feinen
23olf*pertreter, fonbern oietmebr ba* beutfehe Bürgertum überhaupt
feinen glÄnjenbften Vertreter, feinen bebeutfamften g6rberer unb Vor*
fümpfer fd)mdl)lid) »erleugnet tjat. Damit Ijat e* fid) felbfi »er*
leugnet unb e* tjat biefe Verleugnung bi* auf ben heutigen Sag
am eigenen ?eibe ju fpüren befommen.
Die SBeweife für biefe Behauptung fännen in biefem 3ufammenf)ange
nicht geführt werben. $ro$bem bürfte e* nicht mertto* fein, einmal auch
ben Re»er* ber Mebaitle, b. I}. bie (Jütfeitigfeit gewiffer traditionell c\c-
worbener ®efd)icht*auffaffung im neuen Deutfdjen Reiche ju firetfen.
9?immermehr wäre e* $u ber rein bemonjrratioen, im großen ©anjen
al* profefforal ju bejeichnenben beutfdjcn Reöolurion üon 1848 fo gefommert,
Wie e* gefommen ijt, wenn ben Deutfd)en ber 3af)re 1819—1846 griebrid)
Sift fojufagen in ftleifd) unb ©tut übergegangen gewefen märe. Da*
potitifche ©umpftrrlicht, Metternich, führte in bie 3rre, führte in bie Sief«,
nicht in bie £6f)e. ©tatt bie Freiheit ihrer Bürger vorzubereiten, {nebelten
bie Regierungen ihre „Untertanen". Diefc tjinwieberum, tfatt ben Drucf
»on oben t)er mit einem zielbewußten ©egenbruef »on unten her ju be*
antworten unb ihn babnreh gegenjtanb*lo* ju machen, beugten ftd) biefem
Drucf. tflcin benfenb unb ftein tjanbelnb pflanzten bie ©d)einftaat*männd)en
ber Äleinftaaten in ohnmächtiger, mit Dünfet gepaarten &ur$fTd)tigfeit ben
Dberbrucf, ber »on Wien tjer erfolgte, nad) unten tfin fort, (latt umgefehrt,
»on unten ber tr?re natürliche 3Biberftanb*fraft ju jtärfen. Da* flare ?id>t
wirtfchaftlidjen unb potitifdjen Serftdnbniife*, wetdje* ber ©ot^n ber freien
SHeichöjtabt «Reutlingen au*|hral)tte, tat att ben guten beuten feine* 3eitatter*
in ben Äugen wef)e.
©0 ging ba* teuchtenbe ©eflirn ^riebrid) ?i(l* am beutfehen Gimmel
unter. Eon STOündjen reifte ber »erjweifelnbe STOann nad) Äufflein ab, in
bemfetben 3al)re, in welchem ?ubwig I. »on ©apern ffd) an bem fatjrenben
Kometen ?ola QÄontez entjürfte. Die Reoolution Pon 1848 hatte weber
einen ftaat*manmfaVpolitifd)en, nod) einen wirtfchaftlid^tetbewußtenßrjarafter.
fehlten eben SttÄnner wom ©chtage griebrid) Stfl*.
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Hermann Cofd): Da* ©erfahren gegen ftriefcrid) Üift 1821 u. 1822. 409
^— ^— ■ — — —
J^intcrbfmrafd)üerpuftengemeinbculfd)en 6urgerIid)en9le»ofution6*
»erfud) erhob ffcf> bie preußifdje 203 1 1 1 1 ä r mon arenie; hinter ihr unb mit
ifjr (lieg ber ©lern be$ preußifchen ?RcaIpofttifrr* fcidmaref auf. Aber
©temartf war nicfjt ber ©oljn einer freien beutfehen THeid^frabt, er war
ein freigefmnter, l)od)ljerjiger unb mit gewaltigen ®aben be* ®eijted unb
<5rjarafter$ auägeftatteter Sanbritter auf preußifd) geworbener (Srbe. Der
attbeutfd^e ©ebanfe ftarb ab unb warb begraben. Der tfampf jwifchen
Greußen unb £>fterreich, jwifchen Horben unb ©üben um bie SorfyerrfAaft
im beutfehen Sprachgebiete SBttteleuropad begann etwa ju berfelben 3eit,
alt in ben gretftaaten ber norbamerifanifchen Union ber £ampf um bie
SSorljerrfdjaft bed Sftorbcnd unb beä ©übend auägefampft würbe. Die
Analogie jmifchen Otto oon ©tämaref unb 21 braham Vinteln liegt nahe,
mag aber r)ier auf (Ich beruhen. Dflerreich unterlag, unb furj barauf
brachten bie ©iege ber unter Greußen geeinigten übrigen beutfdjen ZtiU
floaten bad neue Deutfche SReid).
Diefe* SReich ifl jebem «Xeiehdbeutfchen teuer unb wert, ©ein 2>eflanb
ifl über jebe auch nur ganj leife ©ejweiflung ergaben. Die* fann aber
nicht !)inbern, ju erfennen, baß ed burd) feine Grntfterjungägcfdjidjte wie
burch bie »or allem beteiligten ^erfonen fowotjl einen altariflof ratifdjen
alä einen militari fhfdjen ©eigefchmarf bat. Daä beutfd)e Bürgertum
blieb babei fo gut wie auägefcrjaltet. Daß bie* eine große ®efat)r bebeutet,
ifl offenfld)t(id) unb biefe ©rfafyr wirb baburch nicht geringer, baß baö reich
geworbene Bürgertum fTcf> mit bem alten Abel $u amalgamieren fudjt unb
ftd) fojufagen hinter ben 3RÜitanömuö oerfieeft, um ftcf) cor ber auffleigenben
Arbeiterbewegung ju flüchten, fiatt umgefet)rt, biefe jur Unterlage ihrer
eigenen politifchen Äraft ju machen. Unter „9flilitari$mu$" »erflerje ich
feineäwegä eine bem Stttlttdr gegenüber feinbfelige ©timmung, fonbern
lebiglid) bie $atfad)e, baß auf ®runb ber Äriegäerfolge oon 1870/71 bem
SRilitar ald folchem l)eutjutage im Deutfchen deiche eine gefettfiaftlidje
unb inbireft politifdje 9>rdponberan$ jufommt, welche gewijfe l)ier nicht
naher barjulegenbe ®efarjren in ffd) birgt. Daß bad Deutfche SReid) in
»erifaffungöred)tlid)er J^inflcht, namentlich wenn man feine ©unbedgebiete
überblitft, altarijlofratifche, b. h. erbfeubale J^interunterlagen hat, liegt offen
jutage. Auch in biefer #inftcht ut ed von ber amerifanifchen ©taatenunion
weit überflügelt, woburd) gute geijtige Elemente (ehr jum ©d)aben einer
jeitgemaßen (Sntwicflung politifd) auf bie ©eite gebrüeft unb baher in eine
chronifcfje ©ppojTtion gebrangt werben, eine Dppofttion, welche, weil in ber
J^auptfadje wirfungälod, ffd) weit mehr in rein negatioen 2eben$außerungen
erfdjopft unb einen gewijfen 3uflanb pitiQt, ben man oielfad), weil fein
pafienberer Audbrutf bafür »orrjanben ifl, alt 9leich$mübigfeit ju bezeichnen
liebt. SD?an f6nnte »ietteicht mit met)r SRedjt fagen, baß jmifchen ben jlarf
fortfd)reitenben Aufgaben be* 9Wid)$ aU foldjem unb jmifd)en ber poli*
tifdjen (Jntwicflung innerhalb feiner ®liebflaaten fein rid)tiged ein*
Ijeitlidjeä ^empo befielt.
din ^eilbeifpiel mag baö nod) für) beleuchten. 3Benn ^riebrid) \!ift
mit ^ug unb SRecf»t aud ber württembergifchen Abgeorbnetenfammer entfernt
worben i(t, wie manche in (Sinjelrjeiten wohlunterrichtete ®efd)ichtfchreiber an-
410
Friedrich Naumann: Zeitungsgeist.
annehmen (Acuten, bann jt nb beifpielämeife auch bie in leßter 3eit fo bduftg er«
orterten fog. w®etfterftimmen" in ber »ürttembergifdjen Äammer ber Stanbeä*
herren alte? unb baber gute* unb iXed)t bleiben muffenbeä $ecbr.
TTUein, wenn 'Angehörige eineä fraatäredjtfid) alt Buälanb ju befrachtenben
®ebiete$ nebenbei gleidjjeitig Staatsbürger M jnlanbeä fein unb hart
biefer Satfadje nebenbei bie ®efe$gebung eine* Seilfraate* be* Deutfcben
Steidje* mitbeforgen finnen, ohne babet anmefenb fein ju muffen, fo fann
bte ©ejeichnung „»atertanbdlofe ©efetten" auf bie große 2Baffe ber fojiaU
bemofrafifch gefilmten Arbeiter feinen aUjutiefen pabagogifdjen Sinbrurf
machen, ©erartige Dinge fottte man fleh ftar madjen, wenn bie* auch viel*
leicht unangenehm fein mag; »or aflem aber foflte man f?d) folche Dinge
jur redeten 3eit War mn*ni, benn ba$ ift bie .ftauptfadie. Jnebnrt
2ifl mar ein SWann, ber feinem 3«tafter »iele unb auflerorbentlich wichtige
Dinge red)tjeitig ftar gemacht l>at.
ZJkJm. C«J% «s» '-fe faa filfc caj» tjm *^ läj» • ^ f — - . ^ ^ iAJ=» LAJ=* l4 *=a. ^ -3 .
Ob wohl unsere Zeitungen mehr zur Hebung oder zur Zerstörung des
politischen Geistes in der Bevölkerung beitragen? Verbreiten sie politische
Bildung und steigern sie diese Bildung bis zum politischen Wollen?
Jeden Tag regnet es in zahllosen Zeitungen: Politik, Politik, Reichs-
tag, Landtag, Kreistag; Bülow, Podbielsky, Bebel; Parteitag, Programm-
rede, Wahlergebnis; Kaiser, König, Bischof, Landrat, Staatsanwalt,
Redakteur; Industriestaat, Agrarstaat, Theokratie, Aristokratie, Demokratie,
Sozialismus, Liberalismus, Militarismus, Marinismus, Konfessionalismus,
Antisemitismus, Humanismus; Handelsvertrag, Schiffahrtsvertrag, Literatur-
konvention; Staatsschulden, Gemeindelasten, Zölle, Steuern, Defizit; Russ-
land, Japan, persischer Golf, Mexiko, Windhuk ... es regnet und regnet,
tausend Tropfen auf jedes Haupt. Wann erfuhr seit Adams Tagen ein
Volk so viel von Politik?
Es ist aber unsortierte und unverarbeitete Masse, die dem Leser
geboten wird. Er wird mit politischem Rohstoff überschüttet. Was er
damit macht, ist seine Sache, und im allgemeinen macht er nichts da-
mit, als dass er von tausend Dingen etwas halbes weiss. An politischen
Ideen, ist er vielleicht ärmer als ein Araber. Wer aber arm an ordnenden
Ideen ist, der ist in aller Fülle des Stoffes hilflos, ziellos, willenlos.
Zeitungsgeist.
Von Friedrich Naumann in Schöneberg.
Friedrich Naumann: Zeitungsgeist.
411
Es gibt Zeitungen, die der politischen Ideenbildung dienen, aber
sie sind nicht übermässig zahlreich und auch sie leiden unter der Pflicht,
endlose Nachrichten nebeneinander zu stellen. Die alte Art von Zeitungen,
die bescheiden in der Quantität aber klar in der Qualität war, verschwindet
immer mehr. Wir wollen nicht sagen, dass es früher nur solche Zeitungen
gegeben hätte, aber jeder ältere und erfahrene Mann gibt uns darin recht,
dass vor 30 und 40 Jahren mehr Persönlichkeitsgeist im Zeitungswesen
war als heute. Die Zeitung war mehr ein Bekenntnis als ein Geschäft.
Woher kommt es, dass sie heute mehr ein Geschäft geworden ist? Sind
wir im ganzen schlechter geworden? Oder ist der heutige Zustand etwa
gar ein Fortschritt?
Man wird diese Frage nur dann richtig beurteilen können, wenn
man sie im Zusammenhang mit der modernen Entwicklung überhaupt
betrachtet. Das Schicksal der Zeitungen ist kein anderes als das Schick-
sal der anderen Gewerbe. Das innere Wesen dieses Schicksals ist aber
der Obergang vom Handwerk zum kapitalistischen Betriebe. Wir ver-
suchen die Merkmale dieses Überganges erst im allgemeinen aufzuzeigen:
Der Handwerker ist gleichzeitig Unternehmer und Arbeiter. Bei
ihm verschlingt sich das Interesse am Gewinn mit dem inneren Anteil an
der technischen Arbeit. Aus ihm aber wird im Laufe der Entwicklung
der reine Unternehmer, das heisst der Disponent, der Dirigent von
Arbeit. Die technische Arbeit wird ein Faktor innerhalb des Unter-
nehmerplanes, die ebenso eingesetzt und beurteilt wird wie der Ankauf
von Rohstoffen oder Halbfabrikaten. Aus diesem reinen Unternehmer
gestaltet sich dann durch Wegfallen der Einzelpersönlichkeit das Unter-
nehmen an sich, das allen Wechsel von Personen überdauert und an
keine persönlichen Neigungen oder Überzeugungen mehr gebunden ist.
Dieses Unternehmen kann isoliert für sich bestehen, hat aber keinen
zwingenden Grund mehr, isoliert zu bleiben, sobald der Zusammen-
schluss mit anderen ebenso unpersönlichen Gebilden vorteilhaft ist.
Natürlich ist diese Darstellung der Entwicklung nur ganz schematisch,
aber jeder Leser wird leicht Beispiele für die Richtigkeit dieses Stufen-
ganges finden, mag er nun an Eisen, Garn, Tuch, Zucker, Ziegel oder
sonst etwas denken. Diese Entwicklung ist so allgemein geworden, dass
wir sie wie einen Naturvorgang erfassen müssen, dem gegenüber alle
Gefühlsproteste vergeblich sind. Sie ist einfach das, was wir den Weg
zum Kapitalismus nennen.
Jetzt also ist es unsere Aufgabe, das Zeitungswesen als einen Teil
der Produktion überhaupt zu erfassen. Der alte Zeitungsherausgeber
ist Handwerker. Er lebt noch heute in seiner ältesten und schlichtesten
Form da und dort im Hinterlande und auch gelegentlich in grossstädtischen
Nebengassen. Dieser Mann macht sein Blatt wie der alte Tischler seinen
Hausrat für seine Kunden. Er kauft Papier und Nachrichten wie man
Holz und Firnis kauft, und gibt selbst alles weitere dazu. Je weiter er
sich kultiviert, desto mehr Halbfabrikate übernimmt er fertig: Zeitungs-
ausschnitte aus der Grossstadt, gedruckte Korrespondenzen, geborgte
Marktberichte, abgedruckte Telegramme, Annoncen von einer Expedition.
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412
Friedrich Naumann: Zeitungsgeist.
Er wird, soweit der Inhalt in Betracht kommt, zum Monteur, das ist zum
Zusammensteller. Seine Persönlichkeit verschwindet im Inhalt und tritt
nur noch kaufmännisch zutage: der Uhrmacher wird zum Inhaber eines
Uhrenladens. Das ist die eine Möglichkeit, die bis zum kleinstadtischen
Intelligenzblatt führt. Eine andere Möglichkeit ist aber die, dass der
Handwerker die Zahl seiner Gehilfen so vermehrt und damit die Arbeits-
teilung so fördert, dass er selbst seine Halbfabrikate herstellt und den
alten Handwerksbetrieb auf die Stufe des industriellen Privatuntemehmens
hebt. Er ist die Seele des Geschäfts und bestimmt in dieser glück-
lichen Periode, in der die Kräfte sich vermehren, ohne dass die Persön-
lichkeit versinkt, gleichzeitig Form und Inhalt, Material, Verarbeitung,
Tendenz und Preis. Das ist der Zustand, der unserem Geschlecht als
der Höhepunkt des Zeitungsgewerbes vor Augen steht. Grosse Provinzial-
zeitungen haben diesen Zustand am längsten und reinsten erhalten können.
Wir sehen aber, wie er bald hier, bald da sich auf ganz natürlichem
Wege seinem Ende zuneigt, wenn die Zeit der schaffenden Personen
vorübergeht und Rechtsnachfolger an ihre Stelle treten. Erst von da
an ist das Unternehmen an sich da. Dieses Unternehmen kann sehr
verschieden sein, je nachdem es sich als Erwerbsgeschäft oder als Ge-
sinnungsgeschäft betrachtet oder beides zu vereinigen sucht. Das Er-
werbsgeschäft arbeitet nach dem sehr einfachen Gedankengang: wir
produzieren und verkaufen Zeitungen, wie man Schuhe fabriziert. Das,
was wir Gesinnungsgeschäft nennen, ist komplizierter. Seine einfachste
Form ist die Parteizeitung. Bei ihr ist die Herstellung und der Ver-
kauf der Zeitung nur eine Hilfsaktion innerhalb einer anderen grösseren
Aktion, nämlich der Beeinflussung der Gesetzgebung in bestimmter
Richtung. Von diesem Standpunkt aus wird auch der Käufer nicht so
sehr als Geldzahler betrachtet wie als wählender Staatsbürger. Eine
solche Zeitung kann mit vollem Bewusstsein ein Defizitgeschäft sein
und bleiben wollen, weil sie eben nur ein Teilgeschäft ist. Natürlich
ist es angenehmer, wenn man die Parteizwecke fördern und dabei sich
bezahlt machen kann. Das setzt aber eine breite Parteigrundlage vor-
aus und ist deshalb relativ selten. Ebenfalls relativ selten ist die Mög-
lichkeit, den Betrieb auf Spezialität zu basieren, das heisst auf einen
politischen Einzelgedanken, der ertragreich genug ist, um als eigenes
Gewerbe betrachtet zu werden. In der überwiegenden Zahl von Fällen
tritt das vorhin beschriebene einfache Erwerbsgeschäft ein. Man über-
nimmt oder gründet eine Zeitung als Kapitalanlage und macht die Her-
steller des Inhaltes zu einer Geschäftsabteilung, der man soviel eigene
Initiative gewährt, als zur Erziel ung des Erfolges praktisch erscheint.
Unter Umständen kann es praktisch sein, feste Tendenz zu haben, der
Massstab liegt aber im geschäftlichen Kalkül. Damit ist der persön-
liche Geist ausgeschaltet und das Bedürfnis, für sich allein zu existieren,
verschwindet. Aus einzelnen Zeitungen werden Verbände, kombinierte
Unternehmungen, Herstellungsgemeinschaften, deren kapitalistische Kraft
und kaufmännische Wucht die Betriebe der früheren Stufen zu erdrücken
suchen. Der Markt wird als Ganzes gedacht und die einzelnen Orte
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Friedrich Naumann: Zeitungsgeist.
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nur als Filialen der Zentralbanken für Meinungsversorgung. Das ist es,
was durch den Namen August Scherl deutlicher als durch irgendeine
Beschreibung zum Bewusstsein gebracht werden kann. Es entstehen
Stellen, die den Tageskonsum von Hunderttausenden, ja vielleicht später
von Millionen regeln. Ganz monopolistisch werden diese Stellen nie
arbeiten können, denn Zeitungen sind nicht wie Kohle oder Hochofen
schwere Industrie. Immerhin aber müssen wir uns darauf gefasst machen,
dass wesentliche Neugründungen immer seltener werden, denn durch
die Mittel, die den kombinierten Betrieben zur Verfügung stehen, lässt
sich durch Aufkauf und Verbilligung der Preise die Konkurrenz sehr
erschweren. Ein alter Eigenbetrieb nach dem anderen beugt sich der
zentralisierenden Macht. Es handelt sich vielfach nur noch um die
Kontingentierungsziffer. Einzelne Eigenbetriebe stehen fest, aber auch sie
fühlen die beginnende Umklammerung. Wir brauchen nur 10 Jahre
vorwärts zu denken, um ein sehr vereinfachtes Feld vor uns zu sehen.
Ist einmal die Methode der Fusionierung der Tagesliteratur perfekt ge-
worden, dann arbeitet sie fast automatisch. Das lehren uns die Vor-
gänge auf anderen Gebieten des kapitalistischen Getriebes.
* •
Und wie wirkt die Konzentration des Betriebes auf den Inhalt
der Zeitungen?
1. Die stärkste Macht innerhalb der Konkurrenz bestimmt das
Mass dessen, was an Quantität geboten wird, etwa so wie Herr Ballin
als Leiter der Hamburg-Amerikalinie seiner Konkurrenz vorschreibt,
welche Preise und welches Mass von Luxus sie haben müsse, wenn
sie leben will. Das Mass des Telegraphendienstes hängt von den ersten
Finnen ab, und der Inhalt dessen, was telegraphiert wird, ist zunächst
mindestens quantitativ als »kartelliert" anzusehen.
2. Solange der »freie Wettbewerb" dauert, steigert sich auf diese
Weise die quantitative Darbietung, da diese Steigerung sicherer wirkt
als die Qualitätserhöhung, und es entsteht der von uns im Anfang ge-
schilderte Zustand, wo die Leser von Stoffmasse in unverständiger Weise
Übergossen werden.
3. Da die Quantitätssteigerung über ein gewisses Mass hinaus
an Wert verliert, geht neben ihr eine formale Qualitätserhöhung ein-
her: besseres Papier, Illustrationen, besserer Unterhaltungsteil usw. Das,
was für weniges Geld geboten wird, fängt an, wunderbar zu werden.
4. Der stärkste Rückhalt des älteren Betriebes ist der handwerks-
mässige Betrieb des Annoncengeschäftes. Je mehr dieses entlokalisiert,
zentralisiert werden kann, desto eher vollzieht sich das „Syndikat der
Tagesliteratur". Dieses Gebiet ist aber so kompliziert, dass es hier
nicht nebenbei behandelt werden kann. Es muss genügen zu sagen,
dass die Annonce gleichzeitig als Sicherung des Klein- und Mittel-
betriebes im Zeitungswesen wirkt und als Verflachung inhaltlicher
Tendenzen. Wenn heute der Vorschlag Lassalles, das Annoncenwesen
der Tageszeitungen zu verbieten, durchführbar wäre, so würden die
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Friedrich Naumann: Zeitungsgeist.
Provinzialblätter mehr darunter leiden als die Blatter der Hauptstädte,
da bei einer gewissen Höhe der Auflage die Annonce an belebender Kraft
verliert, während sie beim kleinsten Blatt das Lebenselement zu sein pflegt.
Jedenfalls sind die Aussichten, in den nächsten Zeiten eine Wendung
zur politischen Qualitätserhöhung zu erleben, bei dieser Sachlage nicht
gross. Wir bekommen noch mehr unparteiische Blätter, die allen alles
bringen, Anlagen, die man kaufmännisch überaus hoch achten muss,
und die nur — den Staatsbürger entpolitisieren.
• *
Was wollen wir bei dieser Sachlage tun? Sollen wir die Gesetz-
gebung für die „Erhaltung des Mittelstandes" im Zeitungswesen in An-
spruch nehmen? Aber wenn wir es wollten, wenn wir getrost und mit
fröhlicher Keckheit im Namen des Geistes „reaktionär" sein wollten,
so fehlt uns jede Ahnung, was der Staat machen soll, um diesen Mittel-
stand zu schützen. Er kann die Kreisblätter durch Inserate unterstützen.
Das aber ist doch noch lange keine Erhaltung des Geistes! Etwas Wirk-
liches kann der Staat auf diesem Gebiet nicht tun.
Oder sollen wir alle Welt aufrufen, dass sie nur Blätter mit Ge-
sinnung hält? Wir werden es gern tun, aber täuschen wir uns nicht,
dass unser Appell nicht viel ausmacht! Alle Kreise, die von den
zentralisierten Erwerbsbetrieben im Zeitungswesen erfasst worden sind,
sind ja eben dadurch diesem Appell entrückt, denn ihr Blatt sagt ihnen,
dass es ungebildet ist, sich einem Gesinnungsgeschäft anzuvertrauen.
Das Schicksal geht hier wie so oft seinen Weg. Alle politischen
Parteien leiden gleichmässig unter der Verstaubung aller politischen
Prinzipien. Da die Parteien aber im Grunde nichts anderes sind als
Organbildiingsversuche des Staatsbürgertums, so ist der eigentlich Leid-
tragende der nationale auf Volksmitwirkung gegründete Staat selbst. Die
neuere Zeitungsentwicklung hat in diesem Sinne zunächst einen negativen
Erfolg. Ihn darzustellen würde genügen, wenn wir nur das aussprechen
wollten, was greifbar und beweisbar heute vorliegt. Es verlohnt sich
aber, in Gedanken der Entwicklung etwas vorauszueilen und die positiven
politischen Wirkungen des Syndikates der öffentlichen Meinungsherstellung
zu überlegen, nicht als ob sie schon da wären, aber weil sie nicht un-
vermerkt kommen sollen.
• *
Wir denken uns also folgenden Zustand:
In Berlin gibt es etwa drei wirklich grosse Zeitungsverlage, die
ihre eigenen Annoncensysteme besitzen und Literatur in allen Preis-
und Bildungslagen anbieten. Sie bemühen sich, beliebig viel Provinz-
blätter von sich abhängig zu machen, sei es durch Telephon, sei es
durch gegossenen Satz, sei es auch nur kaufmännisch. Diese Riesen-
verlage werden ganz auf der Höhe stehen müssen, da sie stets von der
Möglichkeit neuer Konkurrenz bedroht sind, gewinnen aber in nicht zu
ferner Zeit eine solche Konsistenz, dass sie ebenso fest erscheinen wie
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Friedrich Naumann: Zeitungsgeist.
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etwa Stumm und Krupp. Unter sich werden sich die drei grössten An-
lagen immer ähnlicher, da jeder wesentliche Fortschritt des einen von den
beiden anderen nachgeahmt oder überboten werden muss. Gegenüber
dieser schweren Dreiheit erscheinen die ältesten und berühmtesten
Zeitungen wie feine alte Steinbauten neben einer Markthalle. Das
Warenhaus der menschlichen Meinungen beginnt sich zu etablieren, und
diejenigen, die im Mittelpunkt dieses Warenhauses sitzen, sie seien Be-
sitzer oder Direktoren, wissen recht gut, was sie zu werden im Be-
griffe sind: die Päpste der kapitalistischen Ära. Von ihnen hängt ab,
was das Volk glauben soll. Zunächst zwar ist es ihnen gleichgültig,
was man glaubt, zunächst heisst es: Kommt dem Glauben der Leute
entgegen, er sei wie er sei! Es liegt aber in der Natur des Gross-
betriebes, dass er gewisse Einheitsformen schafft und Einheitsformen
in der Tagesliteratur sind bereits Beeinflussungen. Man darf zwar nicht
daran denken, dass Literatur etwa so militärisch verwaltet werden könne
wie der Transport auf der Eisenbahn; aber die Zentralstellen werden
beginnen, einzelnes auszuschliessen, was nicht berührt werden darf.
Beispielsweise wünscht Herr Scherl nicht, dass etwas gegen die Jesuiten
gesagt wird. Der Wunsch genügt. Die Politik der Zeitungsgrossmacht
wird sich zunächst in Ausschaltung von gewissen Fragen äussern. Man
hat es in der Hand, ein Thema in Deutschland nicht aufkommen zu
lassen, beispielsweise die Kritik einer Anleihe oder den Entwurf eines
Gesetzes. Im Anfang sträubt sich der Redakteur, aber je grösser der
Betrieb wird, desto mehr werden die Redakteure zu Beamten des Unter-
nehmens, das nun einmal Disziplin braucht. Und das ist der Hinter-
grund, von dem aus sich dann das Riesenliteraturgeschäft als politische
Macht im Einzelfalle abheben wird. Im gewöhnlichen Gang der Dinge
lässt es das Zeitungswasser fliessen, wie es nach Tradition und Neigung
fliessen will, aber wenn dann ein grosser Ehrgeiz, ein grosses Geld-
interesse oder sonst etwas in Frage steht, so wird auf einmal der Ge-
schäftsmann, der an der Spitze der Literatur steht, zum Willensmenschen
und verordnet, dass von morgen ab sein ganzer Leserkreis mit einer
bestimmten Idee gefüllt werde, sie sei Krieg oder Friede, Zoll oder Frei-
handel. Dann hat das Zeitungswesen wieder einen Willen, aber — wo
ist dann die freie Meinung? Es ist anzunehmen, dass die gewaltige
Macht der zukünftigen papiernen Dynastie sparsam verwendet werden
wird, aber dass sie entsteht ist nicht zu leugnen. Die Kartelle schicken
sich an, alle Gebiete des menschlichen Lebens zu beherrschen. Es gibt
keine andere Hilfe als den Bund der Konsumenten. Von dem aber sind
wir noch so weit entfernt, dass es heute zwecklos ist, von ihm zu reden.
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Uunt>fd)aii.
©rutrgarter 23au= unb Äunjlfbrgen.
Der 93ranb be* Stuttgarter £oftbeater* in ber 9iad)t oom 20. auf De n 2 i . 3anuar 1 902
unb bie grage, an meldjer Stelle ba* neue Sbeater errietet »erben fülle, bat eine 5"tte
oon 3>xif(ln/ Sßebenfen unb Sorgen gejeitigt, an benen außer ber $auptflabt auch ba*
ganje württemberger Canb mebr ober weniger teilnimmt. Unb wie ba* fo ju geben pflegt,
bie eine ©aufrage bat jablreidje anbere nad) fid) gejogen. 3ucrft W°§ (id) eine ©ruppe
funflbegeiflerter Männer jufammen unb faßte ben ^lan ba* alte Cuflbau*, rmee ber
fd)önjlen 93auwerfe ber beutfdjen Stenaiffance, oon bem ein in ba* Sbeater eingebaut ge»
wefener Seil beim 'ifbbrud) ber «Ruine jutage gefommen mar, an berfelben Stelle
roieber aufiubauen : (Sine ard)äologifd)e Spielerei, bie einige SRißicnen gefoflet, außrrCcm
aber gar feinen ^med gebabt baben würbe, ba bie 93efud)er Stuttgart* |id) wobl für
bie Driginalfdjöpfung be* ©eorg S3eer oon 1584 — 1593, ntdjt aber für eine ftopie nad>
berfelben au* bem Anfange be* 20. 3abrbunbert* intereffiert baben mürben. (J* war
ein febr glürflidjer ©ebanfe, ber, fooiel id) weiß, iuerfl oon bem *rd)iteften Lambert
auägefprodjen morben ifl, bie SRutne flott beffen lieber fo, mie fie »ar, in bie Anlagen
)u oerpflanjen, reo fie benn aud) n-i.-t , nabe bem oftltdjen Snbe be* Sd)loßgarten*, an einer
unoergleid)(id) günftigen (Stelle (lebt unb mitten im ©rün oiel impofanter unb aud) ©iel
mebr ber urfprüng(id>en 3ntention entfpredjenb wirft al* ber reflaurierte Söau auf Dem
alten 3bcaterp(a$ »" fetlter mobemen Umgebung unmittelbar neben bem riefigen Königin
Clga»Q3au jemal* geroirft batte.
2ßa* aber fotl nun aud bem leeren $b*aterpla£ werben? 2Ran bot üuwifd>en
ein 3nterim*tbeater auf bem nabegelegenen 2(real jmifd)en bem Äöniglid)cn ^rmatgarten
unb bem Königlichen 2Bafd)pau* gebaut. Cr* ifl ein oon außen gan} anfprudj*lofer, in
ben 93erbältniffen nidjt febr gelungener 93au, beffen innere* nur in ber mobernen 2(u**
flattung be* 3ufaauerraum* emi9e «ntereffante fünfllerifd)e SRotioe bietet, mäbrenb anbere
Seile, j. 93. ba* gooer, burd) ibre unoerjlänbigen unb äußerlid) angepappten Stucf*
beforationen 3eu9tM* eon &CT wfdjen unb übereilten $erflettung be* ©anjen ablegen.
3e£t banbelt e* fid) alfo um ben IMai; be* beftnitioen Sbfater*. Der Speater*
intenbant Q5aron ju 'Putlti.« bat ben febr begrünbeten Sßunfd) gebabt, baß fein fogenannte*
Üompromißpau* gebaut werben möge, b. b- fein 4?au*, in bem glcid)jeitig 2Öagnerfd)e SDhifif«
bramen unb fleine intime Cufrfpiele gegeben werben fönnten, fonbern oielmebr jmei räumlid)
miteinanber oerbunbenc #aufer oon oerfd)iebener ©rö§e, ein gropeä für bie Cper unb
ba* anfprud)*oolle Qdidftattungdftürf unb ein fleine* für ba* intime Sd)aufpiel unb bie
Spieloper. S)a* bat einen guten Sinn, benn unfere Sd)aufpieler fpred)en fo fd)lcd)t
unb fpielen fo gebanfenlo* naturaliflifd), baß man fie in großen Käufern fd)on auf ber
»weiten ^arfettreibe nid)t mebr oerflebt. "Xber fein SBuufcb ift nid)t erfuflt morben.
X)ie ginanifommiffion bc* 'Äbgeorbnetenbaufe* bat ba* Doppelbau* abgelebnt unb e*
fiept jefct nur nod) ein einfadje* ^)au*, b. b- ein Opembau* in gragc.
2öo biefe* binfommen wirb, weiß nad) jabrelangem J^inunbberbebattieren unb ^ötn
unbberfd)rciben bi* auf biefen Sag feine 9J?enfd)enfeele. Die ^Jläne unb HRobelle, bie oon ber
SBaubebörbe be* ginanjminiflcrium* unb oon ^rioatardjiteften angefertigt morben fmb, werben
oor bem ^Jublifum forgfältig geheimgehalten. ffiabrfd)einlid) will man fid) burd) bie Sfrtrtf
feine 3irfel nidjt jloren laffen. Unb ba* ifl aud) gani gut, fo bat biefe tfritif fpäter
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SÄunfcfdjau.
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fcem fait accompli gegenüber umfo freiere #anfc. Unfc fco in fcer ginanjfommiffion
fce* Xbgeorbnetenbaufe* unfereö* Sßiffend fcie Kunftoerftänfcigen wemgften* nidjt über»
wiegen, fo wirfc oiettetdpt fd)on fcie Sab! fced 'IManee nicht nach jebermannd ©efdjmarf
fein, ^njttifdjen fann man ftdy aud fcen oon Jcit ju 3e,t in tr" Sageäjeitungen ab«
gefcrucften ©ituatiendffijjen menigflenä ein Urteil über fcie oerfd)iebenen in Q3etrad)t
fommenben SDiöglidjfeiten fcer Placierung büfcen.
Danad) fdjeint ti ftd> neuerfcingd nur nod) um jmei $lä$e ju banbeln, nämlich
fcen alten $beaterpla$ unfc fcen ^lafc bed alten fcem Ebbrud) verfallenen Saifen«
baufe*. Die Regierung ifl entfd)iefcen für fcen 2Baifenbau$pla§, ein gro§er Seil fcer
SBürgerfdjaft ebenfo entfd)ieben fitr fcen alten *pia§. Dabei fptelcn auf fcer le^teren
(Bette manche ^mponfcerabilien cvfcr n*nigflenö" nicht fceutlid) eingeftanfcene ©rünfce mit.
€>o wollen otele offenbar fcureb Jfcftbalten am alten IMac- eine fatbohfebe £offird>e an
fciefer ©teile, fcie man im £inblicf auf fcie Konfeffion fced Sbronfolgere* für fcie 3ufunft
fürd)tet, unmöglich machen. 3ud> bofft man mcüctcht, auf fciefe S5ctfe fcem Doppelbaufe,
lai auf fciefem 7(rea( jefcenfaQ6 feinen genügenfcen splai3 baben würbe,' bauemfc ju enfc»
gefcen. Unfc ed ifl intereffant, weld)e 3Jfübc man ftd) gibt, immer neue Kombinationen
ju erftnnen, um nachjuweifen, fca§ fcer $la§ fogar für ein gro§e* Opernbaud audreidjen
würbe. Sfttmal miß man fcen $3au möglid)ft nabe an fcen Königin Clga«*Bau beran«
rücfen unfc fcie $beaterftra§e jwifd)en ibm unfc fcem ®d)loffe bmfcurdjfübren. gut anber«
mal foll eine Unterfubning unter fcer ®d)lp§gartenfhra§e fcie 93erbinfcung mit fcem Kultffcn«
bau* unfc fcen 3}erwaltung£räumen berftetten. Dann wieber fpridjt man oon einer Uber«
bauung fcer <Sd)lo$gartenftraf?e unfc einer teitweifen 93cnußung fcer Anlagen ju fcen Depen»
fcenjen fced Qtaueä. Dcch fcie Q3aubebörbe fceö ftinanjmtntflerium* bebauptet, aQed oa*
fönne über fcie 3atfad)e nicht binroegtäufd>en, fca§ fcer ^lafc für ein grofjed Cpernbau*
nicht auetrtche.
Und ift fciefer <piafc immer aud äflberifd)en ©rünben für ein Sbeater wenig ge*
eignet erfd)iencn. 3U na& an 9teftfcenjfd)lo§ fcarf ber Q3au fcer ^cuerdgefabr wegen
nicht berangerüeft werben, unfc )ti nabe fcem Konigin Olga*»8au mürfce er mit fciefem
in eine unerträglidje Konfurrenj geraten. Denn fcer grofjc 3J?afjflab biefed ©ebäubed,
fcad offenbar obne jebe 3tücfftd?t auf foldjc Socntualitätcn brei ©toefwerfe bod) unb in
fcen fräftigjlen SJarofformen audgefübrt morfcen ifl, würben ed bem Sbeaterbau, ber ja
auch jiemlid) bod) fein mu§, febr fdjmer mad)en, |lch baneben }u bebaupten. Unferem
©efübl nach gebort an btefe (Stelle ein niebriger 93au in fd)lid)tcn formen, ber nur
burd) bie (£mfad)bett ber 'Xudfübrung unb bie ^chcnibnt ber Sßerbältniffe wirfen würbe,
unb neben bem fowobl bad SRefibenjfdjlof? al* aud) ber Königin Olga*93au ipren be*
fonbern (Sbarafter jur (Geltung bringen föunten.
3n ein neue* ©tabium ift bie Jragc feit furjem baburd) getreten, ba§ ber Q3erein
für ^>anfceldgeograpbie biefen <pia$ je^t für ein etbnograpbifcbed üRufeum in 'Änfprud)
nimmt. Unb }war unterftü&t er biefe /^orberung furch bie Mitteilung, ba§, wenn fein
ffiunfd) erftillt würbe, fofort 900000 SWf. für biefe* SWufcum jur 93erfiigung flänben.
X)ied ijl gewi§ ein Argument oon überjeugenber SJeweterraft, unb aud) unferen Cfftjiöfen
fdjeint ei febr einiuleudjten. Denn fie erflären, man werbe ftd) febr überlegen müffen,
ob man auf ein fold>ed Angebot nicht eingeben fode.
©ewi^, wenn bie ©djenfer, bie ber unermüb(td)e ©raf Cinben für ein oölferfunb*
liehet 3Rufeum gewonnen bat, ibr ©elb einilimmig nur unter ber ^Bebingung bergeben,
bag fcer tßau auf ben alten ^btaterplaö fommt, fo wirb fid) bagegen nid)t oiel mad)en
laffen. ©oflten fic aber in biefer 95e|iebung nidjt übereinflimmen, fo würben wir bie*
febr wobl begreifen. Denn fo lebbaft wir aud) ben 55au eined etbnograpbifd)en 9»ufeumd
begrüßen mürben, ber ja bei bem beben 2Bertc ber fd)on je^t beflebenben oölferfunfc«
liehen Sammlung nur eine ftrage fcer }eit fein fann, fo wenig (ä§t fid) oerfennen, fca§
ein etbnograpbifdKÖ Mufeum ftcb nicht notwenfcig in fo zentraler Cage beftnfcen mu§,
wie fie fciefer SßauplaB aufmeifl. &i biege fcod) fcie Dinge auf fcen Kopf fteOen, wenn
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SRunbfd)ou.
ein neu }u grünbenbe« SKufeum fnr gtolferfunbe, ba* burd)au* md)t nabe am Q5abnbof
ju liegen braucht unb ba$ aud) in gröfjerer (Entfernung oom £er|en ber ©tobt immer
nod) eine bebeutenbe AniiebungSfraft auf baS 'ßublifum aueüben mürbe, an ben vor*
ncbmften fia^ ;u (leben fäme, mäbrenb bie alten fdjon fett 3abrjebnten befiebenben
ftunftfammlungen meiter abfettS in ber SHecfarfhrafje liegen. Unb ci märe ju bebauem,
menn ber $la§ bed alten Cuftpaufeä, fcae" tm 17. unb 18. ^abrbunbert etile meiteren
Greifen jugänglid>e Äunft« unb Altertümerfammlung Stuttgart* entbalten bat, nid)t aud>
je§t mieber in irgenb einem ©inne ber Sturtfi btenftbar qemacht merben formte.
2Wöglid)feiten famen bierfür befonbert jmet in 33etrad)t. Die erfle wäre bie, bar}
bad SRufeum für oaterlänttfctu- Altertümer an btefe ©teile fäme. ©d)on längjt
braucht biefeö" einen SReubau. Denn bie niebrigen unb bunfeln SKäume im parterre Iti
SBiblietbefägebäubeä, bie e* jefct einnimmt, entfpred)en meber nad) ®ref?e nod) nad) SBe*
leud)tung*oerbältniffen aud) nur annäbemb ben ftorberungen, bie man an ein 3entral»
mufeum für caterlänbifdje Altertümer fallen muf}. An einem bunfeln SBintertage fann
man erleben, ba§ man oon ben bier aufgebängten Sßilbem überhaupt irid)td fiebt, unb
bie SDtogau'ne finb längft mit ©fulpturen unb ©emälben fo überfüüt, ba§ man ftd> faum
binburd>minben fann. Die ©teile befl alten £uftbaufe& aber märe für eine ©ammlung,
bie }um Seil aud benfelben alten ber; ca. liehen &unfrfd)ä$en beilebt, welche urfprünglid)
an biefer ©teile aufbemabrt maren, jebenfaUe" ber biftorifd) gegebene «piatj. Dod) fd>et'nt
man in ben mafjgebenben Rretfeti baran mcht ,u benfen. SDenigftenö erinnere tch mid>
nicht, in ©tuttgarter Sagedieitungen jemals eine Anbeutung biefer Art gelefen ju baben.
Da alfo oon biefer ©eitc feine 2Bünfd>e geltenb gemacht merben, mochte ich für
einen jweiten ©ebanfen eintreten, ber für ben alten $beaterpla|j in $8etrad)t fäme.
Sir braueben in ©tuttgart notmenbig ein Auäftellungögebäube für SRalerei, ^latHf
unb Äunftgewerbe. gür Malerei beSbalb, meil ber geflfaal ber Afafccmie ber bilbenben
ftünflc im SRufeum, ber tn ben legten 3<*bren mieberbolt für Heinere Auöftcüungen
benugt werben ift (bie 3J?id)ettt*Au$fletluug, bie AuSfleflung ©leoegtd unb ber franjöftfd)en
3mprefftoniften, bie fürjlid) ftattgebabte $rübner=Audftellung ufm.) oorläufig nicht bauernb ;u
AuäftellungSjmeffen bergegeben merben fann unb aud) für größere Aufteilungen nidjt genügt,
^rüber baben fold)e mobl in bem ganjen füblicben glügel tri 2J?ufeum$ ftattgefunben. Ded>
feitbem bier bie alten Italiener, Gnglänber ufm. aufgebängt finb, gebt bae" nicht mebr,
ba niemanb bie Verantwortung für baö fortwäbrenbc Umbangen ber alten werroottett
Hilter übemebmen fann. Somit baben mir je$t tatfädjlid) fein ©ebäufce, in bem
j. SS. ber bemühe ftünftlerbunb ober bie Bereinigung ber Äunftfreunbe am Dvhrtn aud«
fleßen fönnten. Unb bie Erbauung eine* foldjen erweift fid) gerabeju al$ eine bebend*
frage für bie ©tuttgarter Äunft. SÖirb ntd)t in ben näd)ften 3abren etn Au*fteu"ung*«
baue" erbaut, fo wirb ©tuttgart unfeblbar in funfllerifd)er SBejiebung nod) mebr in bat
^intergrunb gebrängt merben, ale* bied fd)on gegenroärtig ber gall ift.
SBefonberö' unfer neuaufblübenbeäftunftgewerbe bebarf etneä Au*fleDung*gebäubed
»on mobernem (Sbarafter, b. b- eiitfad), fd)lid)t unb anfprudjäleä, einen ^au, bei bem bie
Ardjiteftur um ber audgefleOten ©egenftänbe miden, nid)t umgefebrt ba ift, mit bemeglid>en
3nnenmänben, mit benen man jeberjet't beliebig gro§c SRäume bcrfletten fann, mit JDberltdjt
ober ©eitenlidjt, bc* ganj nad) «Belieben }u regulieren märe. ift bod) ein unbalt*
barer 3»ftanb, ba§ unfer Äunflgemerbeoerein, um in bem progigen ^anbedgemerbemufeum
mit feinem lärmenben $orttffimo oon formen unb Materialien überbaupt aueileden }u
fönnen, fid) fiinftlid)e Einbauten fd)affen muß, bie aHed bad oerbetfen, mag ber Ard)tteft
forgfaltig angebracht bat, um feinem Q3au ben ©tempel ber ,,©d)önbett" }u geben !
gür ein fold)e« ed)t mebernee" Audflellung«gebäube, mit bem ©tuttgart gerabe
im gegenmärrigen fERoment ben anberen Äunfljentren Deutfd)lanb* oorangeben fonnte,
wäre ber alte $beaterp(a$ mie gefd)affen. Der niebrige Ober(td)tbau mit feinen ein«
fachen Rennen würbe oorjüglid) bierbcr paffen unb bie befte 93erbinbung }wifd)en Königin
Olga*55au unb9teftbenifd)lo§,ben bef>enAbfd)lu§ bed ©d)lof pla^ed an biefer ©eitc ber Ofden.
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SRunbfchau.
419
ftür cae" Sbeater blieben aber nod) manche anbcre 9J?öglt'cbfeiteu übrig. ©o fmb
\. 35. bie 35ebenfen, bie man früher immer gegen ben 2Baifenbauäpla$ eerbrad)tc,
qanj hinfällig geworben, feitbem bad «Projeft eine« DeppelbaufeS mit ber ftrent gegen
bic plante aufgegeben worben ifl Tfuf einem fiirilid) im ©taaWanjeiger für 2Bürttem»
borg publiiierten l'ageplan erfcheint baä Sbeater ald einfache* ^>aud mit ber gront
gegen ben £arl*pla$ (ba* Äaifer Wilhelm »Denfmal) gerichtet. Die* ift in ber $at bie
einjige £age, bie ibm an biefer ©rette gegeben »erben fann, benn ba* Terrain fenft
fid> nad) bem Jtarl*pla$ jiemlid) beträchtlich unb e* fann ber ard)tteftonifd)en Strfung
be* «Band nur ©on QSortetl fein, wenn man oon nieberem SRioeau ju feiner gront empor»
ftetgt. Unb wenn ber Q5au oom alten ©d)loß fo weit wie auf tiefem Cageplan ob«
gerüeft ift, rocip id) wtrflid) nicht, tote man ben (Simoanb aufredet erbalten will, ber
bebe Raffen bc* $5übnenbaufe* werbe auf biefen Q3au erbrücfenb wirfen. Unb nod>
weniger flar ift mir, inwiefern ber Jßerfebr an biefer ©teile baburd) beeinträchtigt »erben
fönnte, baß man bie Srambabn um einige «Dieter oerlegen muß.
greilid) »frb man aud) bic tfonfequenj au* biefer 3faorbnung jieben muffen,
nämltcf) baß ba* Jtaifer *ßilbelm»Denfmal um einen rechten ffiinfel gebrebt mirb. Denn
biefe* muß natürlich mit feinem SRücfen gegen ben näd)ftbenad)barten monumentalen
93au, b. h. alfo ba* Theater gerietet fein. Da* lägt fid) freilief) m'dit oerfennen,
baß ber 2Baifenbau*pla$, menigften* in ber unregelmäßigen ©runbform, bie er je§t bat,
für ein 2J?ufeum nod) mebr al* für ein Sbeater geeignet wäre, ©owobl ba* etbno-
grapbifdje al* aud) ba* Tlltertümermufeum würben hier febr gut unteriubringen unb
ardnteftontfd) in burebau* befriebigenber Seife ju löfen fein, felbft ebne baß man bie
Anlagen oor bem 2Bilbe(m*palai* nod) mit jum $5aupla$ binjiijiebcu unb bie 3 nun bahn
bementfpred)enb oerlegen müßte, ma* bei ber Anlage eine* Sbeater* an biefer ©teile
aQerbing* notwenbig wäre.
2ud) fann man gewiß fagen, baß für ba* Sbeater ein $la$ in größerer SRäbe
be* fcabnbof* unb 3nterim*tbcater*, fowic gleiebjeitig an einer ©teile, bie nidjt fo oom
fläbtifd)en flßerfebr umflutet wäre wie ber 3Baifenbau*pla0 , geeigneter fein würbe.
£ieroon finb offenbar bie 3rd)iteften SReinbarbt unb -ixilmhnber bet ibren forgfältig
burd)bad)ten unb böcbft originellen Entwürfen, bie im ©d)wäbifd)en hierfür publiziert
waren, ausgegangen. Stein bar bt möd)te ba* Sbcatcv nabe feinem lue bergen 'Plajje,
aber mebr in ben Stöniglichen 'Prioatgarten binein oerlegen unb mit bem 3nterim*tbeater
refp. bem an feiner ©teile ju erbauenben Heineren £aufe burd) einen Ouerbau, ber bie
Q3erwaltung*räume enthielte, oerbinben. #almbubcr möd)te ben 5? au etwa an ben ^lafc
be* königlichen SRcitbaufe* unb 2Bafd)baufe* fteüen. 93eibe ^Jläne finb aber aud ©rünben,
bte nicht innerbalb ber grage ber ard)iteftonifd)en Jtrccf ma ßigfert ober ©d)önbeit liegen,
md)t weiter oerfolgt werben unb lieben be*balb nidn mebr jur Qiöfuffion.
dagegen möchte id) furj »or $ore*fd)lu§ nod) einen Q3orfd)lag machen, per
»tefleid)t geeignet wäre, allen ^ntereffen gerecht ju werben. X)aß H wünfd)en«wert
wäre, ba* Sbeater in ber 9läbe bed 93abnbof6 unb bed 3nterim*tbeaterS ju haben, wirb
wobl aQgemetn jugegeben. Daß ber königliche ^3rioatgarten nicht baburd) berührt werben
tarf, (lebt nach ben Starbanblungen über ben SReinbarbtfchen tyian ebenfalls fefi. Sie
wäre ti nun, wenn man ftd> entfehlöffe, ed in bie Anlagen, unb iwar unmittelbar
hinter ben großen runben $eid) mit ber Danneef erfchen SRompbengruppe ju fleflen?
SReinbarbt führte bei ber Q3egrnnbung feüied «plane* ganj richtig au#, baß bie
jefct'ge ©d)loßgartenftraße, bie ben urfprüng liehen ©d)loßgarten quer burd)fd)netbet, unb
ben königlichen ^3rfoatgarten oou ibm abtrennt, urfprünglid) nur ein Notbehelf gewefen
fei, entftanben aud bem SBebürfnid einer 93erbinbung jwifdjen ber erft feit ben 40 er
fahren bed oorigen '^abrbuubcrte bcflcbenben 97ecfarfh*aße unb bem ©d)loßp(a$. Da
ber ©d)loßgarten unb ber ^Jrioatgarten urfprünglid) anetnanber fließen unb eine (Jmbeit
bübeten, fann man bie Aufhebung biefe« «ßerbältniffe« burd) bie fid) jwifchen fte hinein-
fd)tebenbe ©traße nur ald eine ©törung ber urfprüng liehen Intention, ali ein 3erreißen
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420
iKuntfchau.
be* urfprünglid) intendierten Snfemble« aufraffen. Sine 33eränberung biefer ©egettb
fann alfo niemals al$ ein rabifaler (Eingriff empfunben werben, unb ber von iRetnbarbt
geplante *ffltlbelmdpla§ mit bem Denfmal bei je$igen Königä wäre an ftd> eine febr
fd)öne Pöfung gewefen, wenn nid)t ber Duerbau, ber jld) jwtfdjen ben beiben Sbeatern
binjieben foHte, bod) wieber bie SJerbinbung jwifchen Schloß unb Anlagen unterbrochen
baben würbe. Anfalle i|l bae je|ige <8erbältni* jroifd>en ber Schloßgartenftraße unb
bem Königlichen ^rioatgarten einerfeitd unb bem Qlnlagetetd) anbererfettö ein aftbenTch
febr unbefriebtgenbeö. HJfan tublt fofort, baß biefe Kombination md)t ber urfpränglicben
3bee entspricht. Die etnfacbfte ?öfung aller Sdjwierigfetten roäre nun, wie id> meine,
bie, baß man bie Sdjloßgartenftraße )u einem balbfreteförmigen $lag gegen bie Anlagen
bin erweiterte, wobei ber 2(nlageteid) in biefen tylafc bineingejogen unb bad Sbeater hinter
ben Seid? gefleHt würbe, berart, baß bie QCnfabrt um ben Seid) berum erfolgen fönnte.
freilich, müßten babei einige Platanen ber SDttttelaHee faQen unb baburd) würben
bie Qlnlagen etwaS eerfürjt werben. Unb man weiß ja, baß bie Stuttgarter, felbjc bie*
jenigen unter ibnen, bie nie in ben Anlagen fpajieren geben, biefen Spajiergang ald ein
Noli me tangere betrachten, an bem ftd) oorfidjtige tfeute aud) in ©ebanfen nicht gern
oergreifen. 9?ur lo erfldrt eä ttd), baß ber urfprünglid) febr ernfl erwogene ©ebanfe,
bae Sbeater mitten in bie Anlagen binein, an bie Stefle be* SRonbeld mit bem gberbarb**
benfmal ju fe$en, neuerbingä ganj aud ber Didfuffion audgefd)ieben ifl, obwohl er oon
ber ^Regierung nod) mit in $3etrad)t gejogen war unb oon KünfHern aOgemein al$ febr
annebmbar bejeichnet würbe. TCber bei ber oon und oorgcfd)lagenen Placierung banbdt
e© fid) nur um eine febr geringe Sdjäbigung ber Anlagen, unb tae fünftlerifcbe ©efubl
fagt wobl jebem, baß tiefer lange Sd)laud) ber Anlagen, ber fid) oom Schloß bii nad)
ßannjlatt gut brei Kilometer weit binjtebt, febr gut eine ard)iteftonifcbe Unterbrechung
ober wenigflenä einen architeftomfd) marfierten Eudgangäpunft brausen tonnte. SRan
fann jugeben, baß ba$ Sbeater an bie Stelle ber Sberbarbögruppe gefegt einen ni
großen Seil ber Anlagen abfebneiben unb profanieren würbe. '.Iber ein ©au unmittelbar
binter bem QCnlageteid) böte in biefer ©ejiebung gar feine ©ebenfen unb würbe, ba er
bem norböftlidjen Sd)leßflügel gerabe arial gegenüber läge, mit btefem unb bem Seid),
in bem er fid) fpiegelte, ein wunberoollee ard)iteftonifd)ed Snfemble bilben. (£r fließe
binterwärtc) unmittelbar an bie grünen Q5äume an unb man fönnte bier, äbnltd) wie
am £eipjiger Stabttbeatcr, eine Serraffe im Jinctmmenbami mit einer SReflauration an»
legen, bie bem weniger unternebmenben Spajiergänger einen 3tubepla$ im freien böte,
wie ibn (Stuttgart, im ©egenfa§ ju allen anberen ©roßftäbten, nod) immer nid)t befi$t.
Die tage wäre fo oornebm unb intim, wie man fie für einen 3Rufentempel nur immer
münfd)en fönnte. Die 9?äbe bed 3n^rimdtbeater*, an beffen Stelle in fpäteren 3«bren
einmal, je nad) Q3ebürfnid, ein fletne* intimeä Sd)«ufpielbaud treten fönnte, böte febr
wefentlid)e praftifd)e Vorteile unb babei würbe bod) bie SRäbe bee fünftigen S&attnbofe*
ben auswärtigen ©efuerjern jugute fommen, worauf oon oielen Seiten befonberer 2Bert
gelegt wirb. Daß man bei ber ffiabl biefed «piafced gegenüber ber be$ 2Baifenbau*pla^e*
brei 9DhQionen fparen würbe, fei nur nebenbei erwabnt.
2Beitere ^erfpeftioen auf größere Monumentalbauten eröffnen tut» baburd), baß
bie geplante Verlegung bed $3abnbofe einen Neubau ber übngend fd)on längtl nicht
mebr genügenben Kunflgewerbefd)u(e notwenbig machen wirb. 3" ben beteiligten
Äreifen mad)t man fid) fd)on feit einiger £tit ©ebanfen über bie fpätere ©cflaltung
biefed 3nlr'^u^/ natürlid) auf bie SBabl be6 ©auplafe* einen entfd)cibenben (Sinflu^
beben bürfte. Soll man fie in 3ufunf* m,t fcer *bt f«* einigen ^a\)nn organifatorifd)
angeglieberten Königlichen V c b r - unb Q3erfud)dwerfflätte, bie je$t in bem alten
Jucht hone untergebracht ifl, aud) räumlid) oerbinben? Dad würbe fid) nur bann empfehlen,
wenn man baran täd)te, bie organifatorifd)e Q3erbinbung beiber 3nfhtute bauernb aufrecht
tu erbalten. hiergegen lajfen fid) aber gewichtige Söebcnfen geltenb machen. S>ie
Äunjlgewerbefchule ifl ibrer ganjen fünjllerifchen ^Richtung nad) fonferoatio, bie geht»
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SHunbfdjau.
421
unb ©erfudjdwerfflätte, bte auÄbrücftid) iur pflege be* mobernen Äunftgewerbed gegrünbet
worben ift, fortfdjrittlid). Die ©rünbung ber lederen ift im «Stuttgarter ffunfHeben epodje*
machent gewefen. SRebrere große Cäben an ber fönigäftraße, in bereit Q(u*lagen man
fruber nur fonoentionette abgebrauste SRufter feben fonnte, fteflen jegt nur nod) SRoberned
aue*. Der Äunftgewerbeoerein bat mit feinen Xuöftellungen unb ^ubltfationen neue
33abnen befcrjrttten. Der Zeichenunterricht im ßanbe bat einen moberneu unb gefunben
3fuffd)wung genommen. Daneben beliebt aber bie biftorifdje reprobufrioe Stiftung weiter
unb fie ftnbet einflufreidje ^nbänger. Wtan fagt, fie f« burdbau* beredjtigt, »eil bie
alten ©titarten eben immer nod) oom $ublt"fum oerlangt mürben. Sttun gut, bann
liebe man taxaui aud) bie Äonfeguenjen. Sine reinliche ©djetbung jmifd)en bem Otiten
unb SReuen fann ja ben Vertretern bed erfieren nur angenebm fein. 3Ran oerbinbe
alfo bie Äunflgewerbefdjule mit ber Sßaugewerf fault, in ber bie biflorifdje 9iid)tung
ebenfalls bominiert unb tat SRotcrne ebenfalls ntd)t oon allen (ed gibt QtuSnabmen)
gern gefeben wirb. Die £ebr* unb SBerfudtfwerfftätte aber gliebere man an bie
vifabemie ber bilbenben fünfte an, in ber ebenfo wie in ü)r mobemer ©et'fl
oorwaltet. Dann mögen bie ©d)ulen im freien SBetteifer miteinanber ringen unb ed
wirb ftd) ja seilen, welcher ^Richtung ftcb bie 3ugenb juneigt.
3d) babe oon jeber bie 9Keinung oertreten, baß Stunftgewerbe unb fogenannte
„bobe" ffunft im Unterndjt nidjt ooneinanber getrennt werben foöten, baß ber ©taat
ein ottale* 3ntereffe baran bat, bie jungen SWaler unb 33ilbbauer fetner Tffabemien aud)
funflgetoerblid) oorbilben ju laffen, ba jle ja bod), mit bie (Srfabrung lebrt, in ibrem
fpäteren £eben mit ibrem bißd)en „te-ber" Äunfl feinen $unb oom Ofen beroorlotfen
tonnen. Um eine foldje ©erbtnbung mit Erfolg burdjjufübren, genügt eä aber nicht,
an einem (Snbe ber ©tobt eine Äunflafabemie }u baben, in ber SERaler unb SBilbbauer
au*gebtlbet »erben unb am anberen Snbe eine &br* unb 93erfud)*werfftätte, in ber
©djreiner unb SKetallarbeiter einen böberen fünftlerifd)en ©d)lifF empfangen, ©onbern
man muß beibe ©d)u(en organtfatortfd) unb räumlich miteinanber oerbinben, fo baß bie
©d)ü(er fd>on burd) biefe 93erbinbung barauf gefloßen werben, baß ein wirflidjer ^ünfller
befonberS in bem Hilter, wo fid) feine (Eigenart nod) nidjt entwicfclt bot, nidjt nur
büber malen unb 'piafltlin fneten, fonbem aud) SBud)fd)mucf unb Tapeten jeichnen,
SERöbel unb Brunnen u. bgl. entwerfen foll.
@d beißt, bie $Baugewerffd)ule werbe bemnäd)fi tt>r jefctge* ©ebäube, in bem fte
fd)on feinen *pia§ mebr bat, an bie regulierte .§od)fd)ule abtreten unb ebenfalls einen
Neubau erbalten. 9Ran möge babei, wie gefagt, tn Erwägung jieben, ob es fid) nid)t
empfteblt, bie Äunjlgewerbfd)ule, bie ebenfo wie fte prinjipieO biftorifdje tabuen wanbelt,
mit ifrr )u oerbinben unb für biefe beiben 3«nitute einen gemetnfamen Neubau ju erftellen.
$ür bie 31fabemie ber bilbenben ffünftc würbe bann bie ^rage entfleben, wie fte
fid) in 3urunft &&rs unb 93erfud)dwerfftätte räumltd) angliebern fönnte. 3«*
je$t'gen ©ebäuben an ber Urbanfh-aße, bte fo ungünfh'g liegen unb fo ungefd)icft oer>
iettelt finb, wäre Dies natürlich, nicht möglid), cö müßte hier vielmehr in trgenbetner
SGeife eine (Erweiterung flattftnben. Sie, tai wirb fid) ergeben, nachtem wir bie SSer«
bältniffe bed SWufeumd an ber ?Recfarflraße tnd Q(uge gefaßt baben.
Diefed ©ebäube ift befanntttd) in ben 3abren 1838-1842 nidjt al* reined 3Bufcum,
f entern g(eid)jeittg aii Itun0fd)ule unb als SRufeum gebaut werten, ©eine raumliche
($lieberung «fl benn aud) oon Anfang au berart gewefen, baß beibe J werfe baburd) ibre 53e
frtebigung ftnben fonnten. Urfprüngüd) befanben ftd) in tiefem (Gebaute außer ben ©älen
für bie (bemalte unb ©fupturen aud) nod) bie Q3ilb(>auer« unb 9J?aleratelierÄ unb bie $ör»
fäle unb 93erwaltung*räume ber lfunftfd)ule, ledere teilweife in einem butteren Qtnbau.
3e^t ift bie Qlfabemie ber bilbenben Stünde räumlid) oon ben ©ammlungen getrennt. Die
Atelier« befinben ftd) mit wenigen Qluänabmen in ben ©ebäuben an ber Urbanftraße,
tai ©ebäube an ber 9?ecfarflraße bagegen wirb faft ganj oon ber ©fulpturenfammlung,
ber ©emälbegalerie unb bem Äupferfh'cbfabinett eingenommen. ,
@übbeutf4e aRonatS^rftr II, 5. 28
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422
9tunbfd)au.
@* ift nun eine £atfad)e, ba§ tiefe SKäume für bie Sammlungen fchoit je§t teil»
weife nidjt mebr genügen. Sie Säle ber plafh'fdjen Sammlung finb ganj angefüllt, unb
bie ftelge baeon ift bie, bafc biefe Abteilung fid) nidyl meiterentwüfeln, befonber* nidjt
nad) ber mobernen Seite weiterentwickeln fann. 2Ba* bte* bebeutet, wirb berjcnige wobl
ermeffen, ber ftcf> oergegenmärtigt, wie mistig für unfere jüngeren Stuttgarter QSilbbaucr
bie Ttnfdjauung mDberner SSerfe, eine* SRobin, SWeunier, ^Bartolome ufw. wäre.
$ür bie ©emälbegalerie beflept nad) wie eor ber Übelflanb, bajj bie alte unb
moberne Abteilung burd) ba* bajmifdjengefdjobene Supferfrid)fabinert getrennt jinb, ma*
für bie Verwaltung unb ba* $ubltfum gleid) unbequem tft. Q(u§erbem entfpred)en bie
SWagajine, ba* SÄeftauration*atelier unb bie Direftorialräume jum Seil burd)au* nicht
mebr ben SBebutfhtflhen, unb bie ©emälbefäle werben in wenigen 3abren wieber fo über»
füllt fein, ba§ eine neue 3(u*fd)eibung, ähnlich ber cor einigen 3apren oorgenommenen,
wirb ftattftnben muffen. Da* ftupferfHd)fabinett aber ifi infolge ber SReumontierung
ber SBlätter ebenfall* in einen empftnblidjen tylafcmangel geraten. <£i laft fid) bemnadj
mit SBefrimmtbrit oorau*fagen, ba§ in fünf bi* jebn Sabren burd) einen SWeubau ober
eine Vergrößerung Xbbilfe gefdjafft werben mup. SBirb man fid) babei mit bem je$igen
©ebäube bebelfen wollen, b. b. einen ober jwei ^lüget rechte; ober linf* anbauen? Ter
'pla$ |ur Cinfen wirb jefct oon bem Denfmal be* ^nnjen ffleimar offupiert. ffitrb
man biefe* nad) fo furier 3«t mteber entfernen wollen? Unb fann man fid) mit einem
.Xnbau auf ber redjten Seite, alfo einer unfommetrifd)en Anlage, begnügen? Unb wären
bamit alle SRißftänbe befet'tigt? 3ch glaube nicht. Sinen Seil ber Sammlungen aber, j. 33.
bie p(aflifd)e, in ein anbere* ©ebäube, etwa in bie jefcige tfunflafabemie )u oerbringen, gebt
ebenfalls nidjt an, ba bie SRäume ber (enteren ba}u nicht geeignet ftnb unb bie Samm*
hingen ein grojje* '^ntcreffe daran baben, unter einem Tache oereinigt ju fein.
(£* wirb alfo wobl nidjt* übrig bleiben, al* bajj man ber eoentuell burd) bie Tin*
alieberuna ber £ebr* unfc SSerfuchönjerfilatte oeraröfierten Ufaltmie nod) ba* ießiae 3Rufeum
einräumt, ba* ja, wie gefagt, trüber felbfl Äunftfdjule war, unb für bie ftinfrfammlungen
ein neue* ©ebäube in '.Äudftdjt nimmt. JBo, barüber bat fid) ber 93erfaffirr tiefer 3ttlen
auch fd)on feine ©ebanfen gemacht, bod) wi0 er fte oorläufig nicht oerraten. 3Cud) werben bic
?efcr oiedeid)t benfen, baf er fd)on bisher reichlich 3ufunftdmufif gemacht habe unb beffer
täte, ber Sntwüflung ibren freien Cauf ju laffen. tKflein mit offentiid)en 93auten unb 33au*
plänen i(! e* eine eigene Sadje. & bängt immer ein« eng am anbern unb ba* ®anje
wiQ auf 3abrjcbntc bt'naue flar ooraudbebad)t fein, wenn feine gebier im einjelnen
gemacht werben foSen. 93or einigen 3<*bren würbe einmal eine Sad)oerflänbigenfommiffton
ein gefegt, bie über aüc biefe fragen beraten foflte. Sie if), fooiel ich weh), einmal
jufammengetreten unb nid)t wieber. 9Ran barf baraud fd)lie0en, baf afle biefe unb
äbnlid)e Äeflerionen je^t im Sdjofce ber «Wmifterien angeftettt unb alle 3»öglid)feiten
bort febr eingebenb erwogen werben. Denn man weif an bi'efen Stellen aanj genau,
bog ein blo§e* „J^ortwurfleln" nad) bem momentanen 95ebürfnio obne ein fefte* 5)effm
ftd) bitter räd)en würbe. Unb ba wir auf bie Uöciäbeit unferer Staatdregierung aud)
in tiefen Dingen oolle* Vertrauen baben, wirb man ti uni nicht oerbenfen, wenn
wir — mebr }u unferem eigenen Vergnügen al* jur SBelebrung anberer — jumetlen
l'ufrfdjlbffer bauen unb unferer $bantafic bie 3ügel fd)iefen laffen. Die Regierung
wirb fid) ba*, wa* baoon brauchbar i|l, fd>on ju eigen machen unb mit ber ftnan}iellen
l'eiflüng*fäbigfeit be* ?anbe* in ginflang )U bringen fud)en.
Bübingen. ^rof. Dr. Äonrab Bange.
*
i£inc neue ^can Paul Zue^abe.
Die 2Certfd)ä§uug eine* Did)ter* beim ^olf jeigt ftd) in ben 'Angaben feiner
Ußerfe. Da ifl nun am beutfd)en Didjtcrbimmel ein Stent erfler ©rb0e, ber ftd) bitter
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Stunbfdjau.
423
beflogen fbnnte. §ean $aul, ber 2Rann, „an bem nid)td unbeutfd) ifl, al« ber Slame"
(gunf), ber au« bem tiefflen $er}en feine« 93olf« gebietet unb gefdjaffen, entbehrt
nod) immer eine« mürbigen Jtleibe«, in bem feine unflerblt'd)en ©d)öpfüngen ber SRation
ju ©eftd)t unb ju 3}erflänbni« fommen fönnten. Die brei erflen ©on ben Grben 3*an
*Paul« »eranflalteten @efamtau«gaben fetner Dichtungen unb Briefe (1826 — 1862) fmb
ebne metbobifd)en ©eift gefertigt mtt vielen Sertfeblern, namentlich roa« bie Briefe
betrifft, ©erunflaltet unb entbehren nabeju gänjltd) eine« Kommentar«, ber bei %tan
Taut mebr al« bei irgenbeinem antern Stüter nötig tft. Diefe 3(u«gaben, bei Weimer
in QJerlin erfd)ienen, tfnb jubem ©ergriffen unb fommen beute nid)t mebr in Betracht.
Sie nod) umlaufenbe £empelfd)c 3(u«gabe m co. 80 SBänbdjen ifl obne jebe ftritif unb
goni undjronologifd) jufammengefleflt, eine reine ftabrifarbeit, nur auf ben Kauf gemacht.
2ßo ein Kommentar ©erfud)t roirb, mie bei ber „93orfd)ule ber 'jftfbetif", ifl er boftrinär,
fd)ulmeiflernb unb äuferlid). 3tud) ifl bie 3(u«gabe nicht ©ollftänbig. ©onfl eriflieren
nod) ©erfdjiebene Heinere Öbitionen (bei SReclam, ßotta, Äürfdmer u. a.). ©ie fmb
md)t beffer. (Sine fritifdje ©efamtauegabe, bie aßen Tlnforberungen ber 2Biffenfd)aft
genügt, ifl nod) immer ein unerfüllte« Deftberat. Sie fann aber natürlid) nur ©on
einer let'jlung«fäbigen (iterarifd)en ©efeflfdjaft ober vom ®taat unternommen teerten.
5GBenn man bie jablreid)en ©oetbe«, ©d)iller*, ©agner«, Dante», ©bafefpeare«, SKojart»,
©rillparjer«, $ugo Solf», ©tifter* unb fonftige Vereine unb ©efe(lfd)aften unb ibre
rege ffiirffamfett anftebt, fo märe ber ©ebanfe ©iefleid)t ntd)t }u unbefdjeiben, 3ean
tyml bürfte aud) einmal an bie SReibe fommen. S« ifl eine ©djmad) ber Sttatton, baf
fte für einen t'brer größten unb treueflen ©öbne fo gut mie nid)t« getan bat.
3ene £eute, bie mit überlegener SWiene — namentlich bie SRcjenfenten oon 3Cftn
vJ}aul»©d)riften gebärben ftcf> fo — ber 2Belt oerfünben, baf ber Sunfiebler £umorijl
längfl tot fei unb afle 3Äübe, ibn jum Ceben toieber ju enoeefen, ©ergeben«,') baben
entmeber feine 3(bnung ©on ben @eijle«fd)ä$en, bie bei 3ean $aul ju bolen finb, ober
e« gebt ihnen jeter Sinn für ©eelenabcl, ©d)mung ber 3been unb fprad)(td)e 3R«fler»
fcfjaft ab. Senn fo oft ©erfünbet wirb, ba« beutfd)e SBolf lieft §tan ^aul ntcf)t mebr,
fo märe ju unterfudjen, ma« baran fdjulb fei. 34 b*be übrigen« meine ffeptifdjen
©ebanfen über tiefe* Dogma. Senn man bie großen ©eifler Deutfd)(anb« ©on Jiecf
unb Sbeobor £©ffntann, bem Didjter ber „^bantaftefhiefe", ber „(Sliriere be« Seufel«",
bi« ©ottfneb Äefler, 9taabe unb SHtefcfdje »erfolgt, fo ftnbet man bie ©puren 3ean $aul«
aut fallen t genug; bie ©rofjen baben ben ©aoreutber immer al« Cebrmeifler unb SRufler
benüfct unb mancher ©erbanft ihm ba« Q3efle, ber offen gegen ibn Stellung nimmt;
barau« mag man erfeheu, ma« 3f a" 'Paui ber Nation werten fonnte, trenn er freieren
3ugang tu feinem 93©lf batte. HÜ Denfer unb ^bilofepb, al« Stbifer unb religiofer
wie politifd>er Srmecfer, al« £umori(l unb Äunflpbilofopb unb ©or allem al« ©prad)»
mdfler, al« umoerfaler ©eifl nimmt er nid)t minber mie al« X)id)ter eine ganj etnjige
Stellung etn.
SBer bat benn nur ben SO^etapbonfer ^tan ^aul gemürbigt? 3n nie in cm Q3ud)
„3can ^>aul unb feine tBebeutung für bie ©egemoart" (i£Ründ)en bei Dr. Lüneburg)
unb in meinen „3ean*JPaul»©tubien// (ebenba) fud)te id) ben ©eniu« be« X)id)ter« nad)
all biefen ©eiten ju beleud)ten, gletd) mie id) im Q(rd)i© für ©efd)id)te ber *Pbilofopbie (1900,
1. 2) feinen pbüofopbifdjen Sntwicflung«gang au« ben »um $eil nod) ungebrueften ßueüen
banufleden untemabm ; id) halte fo(d)e Sbarafterflubien für mid)tiger al« bie mei|l au per -
liehen SBiograpbien. Da« innere mie äußere l'ebcn 3^an ^3aul« i(l in feinen Sßerfen
unb Tagebüchern nebfl Briefen fo au«fübrltd) unb anfebaulid) enthalten, taf; mit einer
crbentlitfben ©efamtau«gabe aud) nad) tiefer 9lid)tung aöe« gegeben mare. Stein Dicbtcr
i) 0o fagt War ^rrffr in tintx fenfi fe^r tudjttgrn «ritif t>en Werrli** «u«9apf ttx
«riefe 3ean ^aul« an feine ftrau unb Orte, 3. ^. fei „für immer aut rer 2<har lebenhj
trirfentet C^icbtergrcfen auÄgefcfcieben" (öupborien XI, 3 6. 588).
28*
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424
jRunbfdjou.
bat fo fubjeftio gefdjrieben, mit fo unerbörter gRatoität feine 'Perfonlidjfett in feine
©d)öpfungen oerflod)ten wie unfer ©eniud. 2Ber ben jufammenbängenben Cebendgang
©erfolgen »10, bem mödjte id) immer nod) bie bei £ifl in ©erlin erfdnenene pietätoolle
unb fdjön gefdjriebene ©iograpbte ©pajierd, eine© SReffen bei Sintere, trofc ibrer fad)«
lieben Unjulänglidjfeit anraten; benn bie 3lerrlid)fd)e Arbeit ifl ein tcitcrlichce, oon
Acblern fhrofcenbed, in "Xuffaffung unb ©ttl abflofjenbed SDiadjmerf. IDenfelben dbarafter
baben alle fonftigen ^ean-^aul^ublifationen biefed SBanned, namentltd) aud) feine 1 »02
erfolgte 9?euaudgabc ber ©riefe 3ean «pauld an feine ftrau unb an Otto. 9terrltd) bat
fid) nid)t einmal bie SWübe gemalt, bie wichtigen ©riefe, bie aufjerbalb ©erlin© (in
ffieimar unb $Ründ)en) aufbemabrt ftnb, eingeben; er bat oiele, bie ibm „nid)t wichtig
genug erfdjtenen" audgelaffen ober oerftümmelt unb überhaupt elementarfle metbobifd)e
@efe§e übertreten. 2Bad bie Sertbebanblung betrifft, fo genüge ei, ba§ ber ^Referent
im (jupborion in 10 ©riefen allein 103 2tbfd)retbfebler fonftatterte!
2Bad nun eine neue ben wiffenfdjaftlidjen gorberungen genügenbe Sudgabe betrifft,
fo banbelt ei fid) junäd)ft um ftefttfeöung beffen, wad aufgenommen »erben foll. $n
©erlin lagern allein auf ber Äbmglidjen ©ibliotbef 26 mächtige gadjifel, jeber im Surd>=
fd>mtt mit 10—12 $eften ä. 100 unb mebr (Seiten, di ifl bie© ber banbfd)rifilid)e
Dfad)la§ bei Didjterd, ber oon ben (Jrben §ean «ßauld feitend bei preu§ifd)en &taat$
in ben adjtjiger $abren angefauft »urbe. ©aoern batte für ben b*iniifd)en ©enüid
natürlich »ie gewöbnltd» fein ©elb. Diefer 9?ad)ta§ entbält neben oielen (aber nidjt
allen) ©riefen eine UnmafTe ©tubien, Entwürfe, lofer ©ebanfen, Varianten, Vorarbeiten,
(Jrjerpten, ©tubien* unb l'ebendregeln nebft unooQenbeten Arbeiten. 3d) babe im Supborion
VI, 3. 4. unb VII, 1. 2. bad 2Bid)tigfte baraud publiziert, nad)bem fd)on Srnfi görfter unb
SRerrltd) bad Material (aber meift febr feblerbaft) ausgebeutet. Dted aUed mörtltd) in eine
©efamtaudgabe aufjunebmen, möd)te ich md)t befürworten ; ed müfte »eife 3(ud»abl
ftattfinben ; aber ei finb namentlid) in ben ©ebanfen unb ©ittenregeln berr ltdje perlen
entbalten. Drucfoorlagen ber oon 3ean «Paul felbft berauegegebenen ffierfe befinben
ftd) nidjt barunter. . 3u§er tiefem umfangreichen ©d)a§ fommt nod) ale Sertmaterial
in ©etradjt, »ad in 2öetmar, auf ber SRündmer ©ibliotbef (bier ifl j. ©. ta& ©rouflion
jur ©elina) fo»ie im $rioatbefi£ bei Snfeld 3ean ^Pauld, bed Dberftleutnantd ©rir
o. ^örfter in Einrieben fid) bejtnbet. @ro§e ©d)wierigfeit mad)t oielfad) bie geftfMung bed
Serted, ba 3*an ^aul nid)t nur jum Seil (befonbere in feinen ©djmier» unb ©tubienbüd)ern)
febr unleferltd) unb mit flarfen Q(bfürjungen gefd)rieben, fonbern aud) bi© in bie reife
3eit eigenfmnig einer felbfl erfunbenen Ortbograpbie fid) befti§, bie bei ibrem ^Jrinjip
ber 93ereinfad)ung ter ©djrift |. ©. Xuemerjung aller Doppelfonfonaten, ©leid)fd)reibung
aOer äbnlid)lautenben ©ud)flaben (für f, o, pb nur ein Reichen, j*i, d) in ber Glitte -q,
im Anlaut *f), Verbannung bei tonlofen b, bie Sefung febr erfd)»ert. (£ö gebort jur
Wertermittlung nicht nur grapbologifd)e ©d)ulung, fonbern aud) tiefe (£inge»eibtbeit in
ben 3^ngang unb bie Duetten ber 3tan-$aulfd)en ©eifledarbeit.
©o fdbmierig wie nottoenbig ift enblid) ein orbentlid)er Kommentar. 2Bie bunfel
finb für und fd)on oiele Qlnfpielungen 3ean ^auld, bie feiner £eit oietteid)t oerftänb«
lieber waren! §ann »ie reiche 3ufamnieitbcmcje weift X)id)tung unb Heben jcan fauli
auf! 2Bet beifpieldweife nicht bie ©e»iebungen bei ich ter ö }u (Sbarlotte o. Staib, |u
Karoline o. geudjtereleben u. a. fennt, für ben ift ber Sitan nur ein Vornan; wer in
bai ©eelenleben unb bie Srfabrungen bei 5)id)ter© eingeweibt ift, bat im Sitan nod»
ein widjtige© ©türf ©iograpbie, eine (ibarafteranalpfe, ein ©efenntni» bei 'Jtutord.
'ilbnitch ift ed bei jebem Dtd)ter, ber aud bem .öerjblut gefd)afen. Saffo ]. ©. erbalt
feine ©eleud)tung aud bem Verbältnid ©oetbed }um ^>er)og oon UBctmar unb beffen
SRäten ©6r^ unb gritfd). X)er Äommentator 3can «ßauld mu§ nid)t nur bie Literatur jur
3«t bed I)id)terd unb fein innered unb äugered Heben genau femten, er mup aud)
unioerfale ffenntniffe baben, namentlid) ^>bilofopbie unD Sbeologie aud bem ©runb
fennen, um %ean *Paul ju oerfteben unb \u würbigen; ein gewobnlid)er Citeraturfanbibat,
/
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[Xunbfdpu.
425
ber nur mit bem £anbwerf*jeug feine* gad)* au*gerüftet ift, fonn für bie 2(ufgabe
mehre 1 et|tcn.
2Btrb de Arbeit cerftänbig angefangen unt etwa* fcer 3rt geleiftet, wie e* für
tie anbern Didjter, jum Seil weit minberen SRang*, längft gefdjeben, fo mirb ba*
ffierf aud) ftnanjiett fid) lohnen. Da* beutfdje ^ublifum wirb ftaunen, »ad e* an bem
©td)ler bat unb bie ©d)ä§e, bie lang vergraben lagen, in tbrem äßert erfaffen. „(Eine
3eit »irb fommen," hatte SBörne fd)on cor ad)t|ig ^abren gefagt, „ba »irb er aüen
geboren unb ade »erben ibn be»einen. (fr aber ftebt gebulbig an ber Pforte be*
XX. 3«brbunbert6 unb »artet ladjelnb, bi* fein fd>leidjenb 93olf t'bm nad)fommt." 9lun
ift ber STOoment ba unb »ir fteben nid)t mebr fern bem bunbertften 3abre*tag feine«
Sobe*. Sie lang fott ber ©eniu* nod) »arten, bi* man ibm ba* ridjtige Denfmal
fdjafft: eine pietäroolle £erau*gabe feiner ©d)öpfungcn? SWamentlid) »ir ©übbeutfAen
baben bie (Ebrenpflid)t, für einen ber ©rösten oon und, für einen, ber namentlich ba*
fübbeutfd)e ©emüt, unferen marmberjigen .Onmer, in uiroerg(eid)lid)er unb etnjtger Urt
IM (Ebren gebradjt, einige* )U tun. 2Bäre §ean tyaul im Horben geboren, längft wäre
Am al* 9?ationalbtd)ter bie gebübrenbc ©teile gefd)affen; bat ja ber Sterben fogar bie
©eifte*fd)äfie ftd) erworben, bie ber ©üben nidjt feftjubalten oermodjte, unb muffen »ir
bemütig bei gremben betteln, um nur 3ean ^aul fennen ju lernen!
SBann »irb ein 3 ca n f a n 1 - 71 r ch i e nad) bem Butler be* ©djillerfdjen,
(^eetbefchen, #erberfd)en entheben? Sann menigflen* eine ^ean^auUSefeflfdjaft, um
bie (Einleitungen }u treffen?
SOtöndjen, im Qtpril 1905. $ofef 3Büller.
*
Die grage, »ic ber Äünfller über Sfunft urteilt im befonberen »ie im allgemeinen,
tft ftet* oon 3»tereffe gewefen, barum immer wieber aufgeworfen unb beantwortet worben.
4?eute aber, auf ©runb befonberer 93erbdltniffc wieber bieroon »u fpredjen, wirb oer*
bienfllid) fein, ba mifioerftänb lidje Qtuffaffung barüber, ma* oon einem ÄünfUcrurteil ju
erwarten ift, in 3Jfünd)en flaute geiettigt bat, bie nicht nur wiffenfd)aftlid)e, fonbem
allgemeine fulturelle ^ttereffen bebroben. Denn in biefer ©tobt ber Munfller ift, bem
anfd)«inenb günfh'gcn Umftanb ber flarfen SBeoblferung burd) Äunfttreibenbe SRedmung
tragenb, biefen eine 3Rad)t in bie #anb gelegt worben, beren '.Xudübung ju SDttfj«
ftanben fuprt. Drum fei e* geftattet, einige Söetfpielc au* alter Äunft aniufubrcn,
einige Folgerungen anjubringen unb bie Saugltdjfeit ber SWündjener 3nfHtutionen jur
Di*fuffion iu (teilen.
©ewitmt ein Äünftler ju einem 2Berf ein näbere* QSerbältni*, fo werben feine
Starte ber Sürbigung fo oerftänbni*oo(I unb flar fein, baf bie 'Äußerung be* nid)t au*»
iibenben Stenner* bagegen oerblaffen wirb; woblgemerft aber, nur wenn er 3n*ercffe
am Jffierf finbet; fd)arf, ungerecht abfpredjenb wirb er SBeftem, au* anberer Denfweife
<£ntfprungenem gegenüber fein; fo lebrt bie ©efdjicbte, fo aud) ftellt ftd) ber (Erfolg
pfodjologifdjer Erwägung. Dagegen wirb ber Jtunfrfreunb unb ber Äenner, bie beibe bie
©d)were ber Arbeit nicht proben, we(d>e ber 7(u*übenbe taglid) erfahrt, ein gleidjmä&ige*
©efamturteil, allem gered)t werbenb, geben fennen ; benn in (Einfeitigfett liegt bie Äraft
be* Äünffler*, bie »ielfeitigfeit aber entfdjeibet über bie Signung be* tenner*.
(Ein flüchtige* ©udjen nad) biftorifdjen SBeweifen mug fd)lagfraftige 55eifpiele ber
(Etnfettigfett be* Äunfturteile* oon äünftlern in bie ^änbe treiben. 95efd)äftigen wir
une nur mit bem ®egenfa$ ber jeichnenfcheii unb ber malerifd)en ©d)ule, mit 9lom unb
^cnebig unb bebeutfame Urteile (offen fid) anfuhren, bebeutfam in ibrer ©d)ärfe,
bebeutfam aud) ber grofjen 9J?eifter wegen, au* beren 2Eunb fie flammen. 2Wid)elangelo
fiebt Sijian* Danae unb fagt: ,,©d)abe, ba§ $ijian nidjt in 9tom seidmen gelernt bat/*
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426
9tuntfd>au.
©iergio 93ofori nennt ein »Öilb feinet jj/tkgtm§tn unb £anbdmanned ©aloiati, rote er felbrt
ein tttadjabmer bed SUJitbelangelo, bad fd)önfte SÖtlb im 93enebig Stjiand unb Sintoretted.
HJeladquej enblid), oon ©abator 3tofa in SRom gefragt, mad er ju jRafael fagte, ob er,
ibn nid)t aud) für ben heften baltc, jefct, mo er bad ®ute unb ©djöne in 3talien
gefeben babe, gibt }ur Antwort: „SRafacl (um Sud) bie 2üabrbeit ju lagen, benn icb
bin gerne freimütig unb offen) mu§ id) gegeben, gefällt mir gar nidjt." „Sann alfo,"
bemerfte bierauf ©aloator SRofa, „ift in Italien mobl feiner nad) (furem ©efdjmarf,
benn ibm geben mir bie Krone." SMadquej aber ruft:
A Venecia se trova el bon, e'l belo
Mi dago el prirao liogo a quel penelo
Tician xe quel, che porta la bandierra.
(3«t Q3enebig ftnbet man bad ®ute unb ©d)ene, ibrem ^Jtnfel gebe id) ben erften
iMoi5; Jtjian ift ber ^Bannerträger.)
3ufti, aud beffen 5Madquej tiefe Uberfe^ung bed 33eöd>tnt genommen ifl, föltefit
folgenbe ©orte an: „(Sr unb SRafael waren in gemiffer Seife %itipoben. 55ei jRafael
liegt ber ©d)werpunft fo febr in ber £rfd)emung, baf) man glauben formte, ibn aud
feinen ^eidjmmqen bmreidjenb unb beffer ju erfennen, ald aud ben ©emälben; »on
2)eladquej aber gibt ed äu§erft wenige 3*id)nungen. SBei faum einem ÜRaler gebt fo viel
unb wie wenig gebt bei QBeladquej in eine farblofe Siebergabe feiner ©emälbe über."
03eäd)im'6 gereimte Srjäblung tft alfo febr glaubmiirbig unb entfprid)t, mag auch
bie ©d)ärfe nidjt mabrbaft fein, bem Denfen bed SJeladquej über bie 3"4>»ot unter
ben 2Ralern, mag« aud) ben ©refften treffen. Unb 2JKd)elangelo, ber $lafh'fer, ber
Äünftler, ber 3abrjebnte ©erwenbet bat, um eine »Bewegung in enbgültiger Seife fünft*
lertfd) audjutrücfen, fanu er mit feiner entgegengefe^ten Begabung rücfbaltlod aner^
fennenb cor Stjiand farbigen ©d)öpfungen fteben, benen ein ©tubium bed Äörperd in
feinem Sinne obdig abgebt? 93afari enbltd), ber bingebenbe 92ad)abmer SRtdjelangelod,
ber in feinen Silbern fo fräftig ju )eid)nen pflegte, ba§ bie Figuren einjeln foloriert
fdjeinen, fann er ben alle* umftutenben ©efamttönen in 93t(bem Sijiand ober Sintorettod
©erftänbnid entgegenbangen, mufjte er nid)t, weil er fid) felbft unb feine Jfunft liebte
aud inneriler Uberjeugung ©aloiatid Serfc oeqieben, bie ben eigenen oerwanbt finb?
3ebe fräftige Äünftlernatur gebt unbeirrt einen flar gejeidmeten, enggefterften
Seg, fdjroff ablebnenb, mad nidjt ibren ©ebanfen entfprid)t, ;u freubig bad aufhebmenb,
wad fie oon 93erwanbtem fütbet. 3e befKmmter ein Äünftler ift, beflo mebr wirb
lein Urteil fid) in Srtremen ergeben, bier ungerechte 93erad)tung, bort übertriebene Ciebe
oerfünbenb. Unb bie« madjt fein Urteil gefäbrlitf), wenn ei 2Nad)t bat. £>arum fett
man wobl nicht auf bie Anregung vertieften, bie Äünfllerurteile meifl ju bieten oermögen,
fotl aber bad le|te Sort bem nach aOgemeinen ©efe^en urteilenben Äenner überlaffen.
3n iOhindjeu entfdjeiben über alle funfHerifd>en fragen Äoflegien oon Äünfllern.
^Daju tritt bann meift nod) ein ober ber anbere Vertreter ber beftedenben Äörperfcbaft,
ber, hatte er eine eigene ÜReinung, fie ben Äünftlem gegenüber rrtcr)t audbrüefen tonnte unb
fid) barum im wefcntlid)en auf ^6flid)feitdbeKugungen wirb befebränfen muffen. &et
Äonfurrenjen, bei Q5augenebmigungen, ja felbfl bei Qlnfäufen für bie &öniglid)en ®amm>
lungert entfd)eibet ber ftünftler, niijt etwa fein 9tat wirb gebort, fonbem er bat bie
37iad)t. Unb wie qefabrlidi gerabe bier feine ©timme fein mu§, wirb aud bem &c
fagten ;n folgern fein; nidjt nur Äunfl bed 2aged, fonbern bie Serfe ber QClten fmb
feiner fünftlerifdjen ©efdjmacfdridjtung unterworfen, ©er eine ifl für beutfdye Sbtml
unb mag Italiener überbaupt ntebt, ber streite halt ^orträtiflen bed englifd)en ad)tiebnten
3abrbunbertd für Heroen unb n>iU ihnen throne iwifefen benen ber ®rö§ten em'cbtet
roiffen, ber träte bat eine ©d)wäd)e tu r bie Äleinmeifler — bad ©lücf babei if! einjig,
ba§ bie oielen ©timmen fid) niemald unter einen £>ut bringen (äffen unb ed folglid)
niemald }u einem Xnfauf fommt. Xber bie bewilligten SWittel beiwerfen bod) ^äufe.
Die ftommiffion fitr bie Erwerbungen ter Ägl. ^inafotbef beflebt aud fünf 3Ralern, ^ro-
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Dtunbfcbau.
427
fefforen ber 2(fabemie, au* jwei Sammlung*bireftoren, bie gleichfaü** SRaler fmb, au*
einem wetteren SERaler, bem SReftaurator unt) }u guter £e£t Codi nod) au* jmet gadj
männern, bem Direftor be* Jhipferihd)fabtnette* unb bem Direftor ber ^pätafotbef ;
au* unflaren ©rünben i\i nod) ber $tarflanb ber ißibliotpef ber Jim betgegeben. Die
Arbeit ber Äommiffion beftebt ibrer 3ufammente^und gemäß in einem jmecflofen,
ermübenben 9Reinung*audtaufd) oon «JJerfonlichfeiten, beren Urteil fid) niemal* gleid)-
ftnten fann. «Berlin fauft bunbert SBilber, mäbrenb über ben Tlnfauf eine* in aKüncben
nod) beraten wirb. Serbin ift biefe Cangfamfeit ein ©lürf ju nennen gemefen; ba*
große gamilienporträtftücf be* Lawrence, au* ber eng(ifd)en 31u*ftellung im öalon
$einemann befannt, feilte für 170000 9Karf angefauft werben, gür eine Äommiffton
»on $ad)männern batte ber um ba* Sechsfache ju bobe *Prei* ba* Angebot m;
bi*futierbar gemacht. Sa* balfen aber foldje erbenfdjwere Argumente ber Äenner
ber SÖegeifterung ber Äünfller gegenüber? Da* folib unb tüchtig gemalte SÖilb in feiner
anbetmelnben SBiebermaierart, ba* aber jebe fünttlerifcbe unb perfonlicbe Durdjgeitfigung
»ermiffen läßt, ifl in einer Sfnjabl oon Sifcungcn }u einem unvergänglichen SWeiftermetf,
ber ülacbbarfchaft be* SBeflen weit burthgefämpft morben. 3U folcbem Urteil fann nur
ein föinfiler fommen, ber im ffierf ba* SJorbilb für feine 3(rt ftnbet unb barum gleich*
fam für feine eigene 3(nfd>ammg fämpft. Der Beobachter wirb (td> über biefe £anblung
freuen, benn für ibn wirb fte Dofument; wie gering, glaubt er benfen )u foflen, muß
bie Urt eine* Äünfller* fein, ber nicht böberc §bt*U iu ftnben weiß. gür ben Äenner,
mag er qualitätempftnbenber Äunftfreunb ober geübter gadjmann fein, wirb ber 'ßor?
trättfl Lawrence weit unter feinen englifd^en Vorgängern ©ain*borougb unb SRennolb*
(leben unb wirb fleh auch gegen ben franiöftfcben 3tit$cnofcn 3ngre* nid)t balten fönnen.
gür eine Sammlung fann baber Lawrence überbaupt nid)t oon bem 3ntereffe fein, ba*
bie 3u*gabc einer großen Summe rechtfertigen würbe. Dagegen bin ich gerne bereit,
jujugeben, baß in einem großen <c aal im QJiebermaterfhl Lawrence* 93üb al* Deforation**
(Kirf feine gute fflirfung tun wirb : id) bin fogar geneigt, ju glauben, baß e* für folgen
3wecf gemalt ift; unb wenn ber SBefitjer eine* folgen ©aale* ein febr reicher «Oiann i|l,
fo fann er fid) auch auf bie Sttobepreife foldjer Silber cinlaffen.
fflirb wfrflid) geglaubt, baß allein bie großen Summen für bie wahrhaft groß-
artige Sntwicflung ber berliner Sammlungen ben ©runb abgeben? 9lein, neben ber
Eignung be* Leiter*, ift e* feine unabhängige Stellung, ftnb e* bie ftet* flüffigen Littel
in feiner £anb, ijre* bie oollftänbige $u*fd)altung ber Stimme be* ftünftler*,
bie für rafd>e, gute, ergänjenbe Erwerbungen forgen. Die 3iattonalgalerie in Conbon
fott nun aud) ben Äünfller al* Leiter oerlieren — |ule$t würbe fie oom «Präfibenten
ber SKopal Qtcabemp geleitet — weil man ba* Sdjäblid>e biefe* ^rinjipe* beute
erfannt bat. $n 55aoem blübt e* nod), unb foU e* nod) au*gebebnt werben;
weld) reiche Hoffnungen!
giefole. Dr. Cubwig oon ©ucrfel.
„ tÜ&ma* €b<*tt€tton" von Helene Ktc^ter.1)
Q5pron war ein fo glänjenbe* ©efhm am £imme( ber engltfd)en Literatur, baß
er für lange 3eit '"e,ne Umgebung überftrablte. 3«$t fommen aud) bie anberen mehr
iur ©eltung, unb man fchenft ben oor unb mit t'bm lebenben Dichtern (Jnglanb* ooflere
>oeaci)iung. jwan lernt emen viparterton,*) Keate, etnen &peUeo unb iborocworrf
') «Himer Anträge wx rnglifc^m ^btlclcgir XII. ISien unb ««ruj bei fBilbdm Stau»
mullrr. 1900.
■) Pbartfrtcn parf 1770. ©»ron trurbf 1788 %tiextn. «ergl.: BThe Life of Thomas
Chatterton" aul: The Poetical Works of Thomas Chatterton. London. George Bell
and Soos, York Street Covent Garden 1891.
428
SRunbfchau.
fronen unb fd>äfcen; unb wenn wir au« tiefer ©ruppe (Sbatterton berau*nrbmro, fo
gefchiebt e*, weil feine Cebro*laufbabn bie ergreifenbfle oon allen ift. ©ie mar wirfltch
ber ©ernenweg be* ©enie*.
^itcn $üttmann (1840, Ceben be* Dieter« unb feine Dichtungen, 2 55te. ■■
unb (Eb- SBilfon (Biographical Study) haben ftch eingebenb mit öbattrrtcn beschäftigt;
begleichen finbet man 3tu*fübrli<he* über bro jungen Dichter in ber „Encyclopaedia
Britannica". 3n neuerer 3eit bat nun Siebter in bem oben ermähnten ©uche auf
ibn bingewiefen.
Der SRaum ift }u beföränft um beibe*, ben Ceben*gang bei Dichter* fomobl
al* auch feine literarifd)ro (Srjeugniffe gleicherweife ju bebanbeln. Der ^xotd biefer
3nkn ift nur, einen grögeren Ceferfrei* auf biefen Sinter aufmerffam ju machen, beffen
Biographie fo feffelnb ift, ba§ mir beim Cefen berfelben wie unter bem ©anne eine*
elementaren Sreigniffe* (leben, ein (Sinbrucf, bem ficf> faum jemanb wirb entheben rennen.
Diefe* „elementare (freigm*" ift ba* Unglücf, ba* fein geben bereit* im Stnabroalter
jum SOTartorium machte.
'.Xm 20. {Reoember 1752 würbe $boma* ßbatterton in S&riftol geboren; fein
tßater ftarb brei SBonate oor feiner ©eburt. ©eine SRutter lebte in bürftigen 93erbä!t-
niffen, unb bie (Jrjie&ung mar bementfpreChrob. ©ebon mit fed)* fahren leigte er eine
letbenfchaftlich* Ciebe ;u alten ©djriftilücfen. 2Ran ftnbet in be* Safere SRachlafj alte
Noten mit bunten 93erjierungen ; fefert bemächtigt ber tfnabe fid) tbrer unb bie
3Rutter muf» fie ihm überlaffen „weil er ganj verliebt barin ift", wie fte felbft fagte.
9Rit ad)t ^abren ift er fo eifrig hinter ben Q3üd>ern bfr, „baf? er oon morgen* bi* abrob*
in einem fort gelefen hätte, wenn e* ibm erlaubt gewefen wäre''. 3Jtit jebn Sohren
fing er an )u büßten; ben gröfjeftro $eil ber freien ©chuljeit ©erbrachte er fchreibenb.
2Jft't fünfjebn %at)vtn trat er al* ©djreiber in bie ftan|lei be* 3fboofaten 3obn
Lambert ein ; bie ©efd)äft*ftunben wäbrten oon acht Ubr morgen* bi* acht Ubr abenb*.
Ten 9J?ittag*tifch unb bie ©cblaffammer mufjte er mit bem 93cbientro teilen.
dt ftnbet in ber onjlei Samben* „Britannia", oerfenft ftch fofort in ba* ©tubium
ber alten 3eit, unb beginnt felbftänbig in ©pradje unb 7Ui*brucf*weife ber alten ßbronifen
|u bieten; bie ©efebichte feiner «Baterftabt gibt einen Äila& baju.») Sie Hrt felcher
Dichtung war bamal* „SRobe". fftiemanb flimmerte ftd) |. 05. um SRacpberfon, —
ba veröffentlichte er bie angeblid) oon ©fftan, tat fachlich aber oon ibm felbfl verfaßten
©efänge unb würbe berühmt. S* berrfchte allgemein bie Vorliebe jur altenglifc^en
^oefie, unb (Sb«tterton gebort nid)t umfenft biefer literarbiilorifcb.cn Spcchc an.
3lud) ßbatterton fleibet feine Dichtungen obOig in ba* mittelalterliche ©emanb ein.
„<&x oerlangt eine «perfbnlichfeit, ber er jene ©ebichte fupponierro fann, einen 3tutor
für bie mittelalterlichen Srjeugniffe feiner üflufe. Unb wie Sbatterton ftch nach einem
folchen umfiebt, oerfäßt er auf $boma* SRowleo, ^riefler an ber 3ohanni*rtr«he in ber
©tatt «riftol, 1460/'
Sr gibt oielen feiner Sichtungen fogar auch äußerlich ba* mittelalterliche ©ewanb
unb tut ba* mit fabelhafter ©efcr/icfliehfeit. Gr jeigt einem greunbe, wie er „alte
SRanuffripte" berfteflt; er hält ba* beschriebene Pergament über eine 51 er jcurlammf ,
ba§ e* einfehrumpft unb ftch frfwar ,t unb bie ^arbc ber Sinte oeränbert; auch färbt
fr ba* Pergament mit Cef er unb reibt e* gegen ben tßoben um e* „alt )u machen",
unb oerfud)t bann, fid> tonnt ©elb |u oerbienen.
ßbatterton ift funftebn bi* fechiehn 3abre alt, al* er fich mit biefen ©achen be«
faf t, unb jefct fängt biefer Änabe aUmäblich an, oor unferen Äigen in* 9licfcnbafte ju
wachfen. ©treng fachlich, forreft bi* jur ?Rüchternbeit lägt £. dichter bie $atfa<hen in
• * —
3) 1768 wirb Wr neue Briflcltirucff fingnreibt. 6battrrton fdtrrtbt }u ber grier bte
angftttd» einem alten aHanuffriytr rntnemmenf (Betreibung te« „«rfirn Überaangrt te# Bürger*
meiert über bie alte Crücff".
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SRunbfdjau.
429
liefern jungen SJfcnfdjcnleben an un* oorübeqieben, unb eine ©tut fdjlägt un* au* ben
einfachen Sorten unb Satfachen entgegen.
Sir feben in ©ebirn unb £erj eine« ungeföpr fed)|ebnjäprigen Änoben ftd> ba*
gewaltige fingen eine« HJtanne* »efliiepen, ben ftampf be* ©enie* mit ccr HvmuL
(fr lebt wie im ©efängnijfe. 9lur abenb* eon acht bt* jcbn Ubr eilt er |ur Butter
mit arbeitet bann ju $aufe an feinen Sichtungen. £e pält fogar fdjmer, ba* nötige
©cbreibpapier ju befergen; (Ebatterton füblt feine m gliche Cage auf* tieffte unb fcpreibt:
„Cbjwar ich rrft fe chjrhn Japre alt bin, babe ich bod) lange genug gelebt um ju er-
fennen, bag 'Armut bie ©efäbrtin ber Literatur KL"
Unermublid) »erfud)t er, feine Arbeiten in bie effentlidjfett )u bringen. Sr fenbet
meprere fetner Sofumrnte an Salpole, ben bebeutenben 3e*tgenoffen unb »ermögenben
SDtann. Siefer fdjreibt ibm begeiftert |urürf unb »erlangt mebr. Gbatterten ift glücffelig
über ben Srfolg. Qfl>er nun fpielt ibm feine ©ebnfucpt nad) Sabrbeft einen ©treid).
Sfc Siebe |ur Sabrbett, bie er fo fd)ön befingt:
„Sie trug fein ffleib, in ©djönpeit nur gebüßt,
obr Ceib mar nacft, gar jugenblid) unb füg,
Unb alle* fünbet, bag fie Sabrpeit bieg" —
veranlagt ibn, fid) Salpole |u entbecfen. @r fdjretbt ibm, bag er felbft bie Sefumente
»erfaßt babe, bag er ber ©cbn einer armen Sitroe fei, unb fd)ilbert ibm feine Cage.
Unb ber (Jrfelg biefer Sabrpeit*liebe, bie an bem Änaben fdwn auf ber <5d>ulbanf
gerübmt mürbe — Salpole, ber ibm nidjt »rrjeipen fann, bag er felbft bie Sortimente
für edjt gebalten parte, räcpt fid> bafur an Gbatterton, fnbem er ibn oöflig faden lagt
unb ignoriert!
Seilmeife gerat nun ber junge Siebter in eine Htt franfbafter ©elbftüberbebung,
bie aber pfod)ologifd) leidjt erflärbar ift, benn er überragt feine Umgebung geiftig in
gerabeju beifpiellofer Seife. 3n ber löorrebe oon Gpatterton* Serfen beigt e*: „So
mar augenfd?ein(id} (Ebatterton* ©dn'cffal beftänbtg mit SRenfflben von mittelmäßiger
Urteil*fraft unb geringer geiftiger ^äbigfeit }ufammen )u fein, unb mit ben ^erfonlid)*
feiten, mit benen er fpäter üt SBerübrung fam, traf er e* nidjt glücflicper."
Sa* 23erbältni* ju Cambert mirb immer unerträglicher. (£bfin* fagt: „Cambert
r erweiterte ibm ba*, wa* ibm felbft nirfjt© nüfcte; er gab ibm feine Söefdjäftigung,
bulbete aber aud) nicht, bag er (ich felbft befepaftigte."
©etil unb Körper be* jungen 9Rcnfd)en oerjebren ftd> in obnmädjtigem tRingen;
bie Quälereien Cambert* treiben ibn »um 3(ugerften. Sr fennt beffen fureptfamen
ßbarafter, fdjreibt einen SÖrief, ber feinen ©elbftmorb anfünbigt unb fein Seftament
entpält, lägt biefen 95rief - wobl mit 'Äb|id)t - auf feinem «Pulte liegen. Cambert
ftnbet ibn, gerät in fturdjt — unb Sbatterton befommt mirflid) bie erfebnte Sntlaffung.
(St jubelt. Sie 2Belt liegt oor ibm, er ift frei ! ©eine Sebnfucht jtebt ibn nad;
Conbon. STOutter unb <5d)mefter machen ängftlidje (Jinmenbungen. „Sa* fofl id) tun",
entgegnet er, „trollt ibr, bag id) bier bleibe unb oerbungere?"
Jreunbe unb ®önner fdjiegen eine fleine ©ummc jufammen unb am 24. "Äpril 1770
ft^t ber „greigemorbene" mit feinem fleinen $ünbe( auf bem Äugenfi^e be* $oftmagen*
unb fahrt nach feiner Meinung bem ©lücfe entgegen. Km 25. Qtpril fommt er in Conbon an.
©ein ganje* .Dcrj »oH beiger ^artlid^fett liegt in ben Briefen an STOutter unb
©djmefter. Sa* überfdjmenglidje ®lücf*gefübl lägt ibn alle* in oerflärtem Cid)te fepen,
unb er fdjreibt ibnen, ma* er tpnen atte* febenfen molle »en feinen fünftigen Sinnabmen.
5©ar bod) fd)on al* Äinb feine grbgefte ©eligfeit /rfd)rnfrnM )u fbnnen.
3njmifd)en jerrinnt ibm bie fleine, mitgenommene ©umme unter ben $änben;
fleine Sinnabmen »on feinen Arbeiten balten ibn über Soffer. Sa trifft ibn )um erften
2J?alr im Ceben ber ©d)ein eine* ©lürfe*: ber Corbmajor Sßcrffprt intereffiert |ldj für
ibn unb feine Arbeiten, empfängt ibn perfbnlid) unb forbert ibn auf, »ieberiufommen.
Charterten* Jreube ift unbefdjreiblid) ; eine Seit oon Hoffnungen baut fid) oor
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430
5Hunfcfd>au.
u)m auf. Sr febretbt glücffelig nad) £aufe oon fcer ibm wiberfabrenen (Sbre, unb roicltt
befchäftigen fid) feine ©ebanfen bannt, wieoiel ©elb er ben Sieben babeim fdjirfen wirb,
»oenn ftd> bie (f brc in flingenbe äDtönjc umfe|$t.
©eine Sage wirb injwifdjen immer nu§(td)er; er ©erfucht fid) barüber bünocg«
iutäufd)en, bemüht ftd) unaufbörlid) neue 93erbinbungen anjufnüpfen, um feine ffierfe
anzubringen unb arbeitet unoerbroffen »eiter. X)ie Hoffnung auf xBecfforb* ^ntereife
unb auf feinen Ginflug fläblt ü>n. £>a flirbt fcecfforb plofclicfa am 21. 3uni 1770.
ßbötterton ifl wie rafenb. J)ann wieber flürjt er fid) in bie Arbeit unb gewinnt
aömäblid) mieber feine Raffung, gür ein Libretto erbalt er fünf ©uineen, bie grögefle
Summe, bie er je befejten, unb fdjicft fofort ©efd)enfe an SRutter, ©rogmutter unb
©<hwefler.
Unb mteber beginnt fcer Äampf. Da* ©elb gebt attmäbu'd) }u (Snbe. Sie Die*
bafrtonen fmfc überfüllt oon feinen Arbeiten ; jur &eröffentlid}ung gelangt nur wenige* oon
feinen SRanuffrtpten. £* ifl ©eilig jwecflo*, ben SRefcafteuren neue Arbeiten }U bringen.
©eine Q3ebürfniffe maren oon jeber bie benfbar befebeibenften. £r igt fein ^leifdi ,
lebt bauptfächlid) oon Sßrot, etwa* Äucben unb SBaffer. fyiWni faufi er mogltd)fl barte»
«Brot „bamit er länger bamit au*reid)t".
<£r fagt ben (Sntfcblug in* Äi*lanb, nad) 2Cfrifa »u geben, unb ©erfuhr, 93er*
binbungen bafür aniufnüpfen. 2(tte* fdjlägt febl; er (lebt am Ebgrunb. SRot unb
junger ballen fid) fefi an t'bn.
3m 24. 3ugufl gebt er junt legten iDtale au*, um feine SRanuffripte unterbringen.
Um balb jioelf Ubv oormittag* bolt er fid) com Tfpotbefer ßrog Erfenif „ju einem
(Jrpenment".
(Richter fchreibt: „SfBer oermag )u fagen, an toieoiel Süren er ©ergeblicb pochte,*)
burd) rcelcbe ©tragen er bie muten ©lieber fd)leppte, fd)ueglid) plan« unb jwecflo*, nur
um nod) nid)t beimjufebren, um ba* Snbe nod) ein wenig binauäjiifcbteben, um noch
einmal Siebt unb 2uh ui füblen."
2ttr*. Ängefl, feine Sirrin, erjäblte, bog Sbatterton bleid) unb ntebcrgefdjUgen
abenb* 7 Ubr beimfebrte unb obne ju effen ut ibrer ©tube am Äamät ftfcen geblieben fei,
mit gefenftem Raupte, in tiefer ©(bwermut 93erfe in einer alten v&pracbe oor fid) bin*
fagenb. 2* fiel ibr auf, fcag Sbatterton fie fügte, al* er fte oerlieg — ma* er niemal*
getan batte — unb bag er auf jebe ©rufe ber treppe fo befttg auftrat, a(* wollte er
fie jerflampfen.
Unb bann fpielt |id> in feiner fletnen Cammer ber lefcte Seil ber Sragöcie ab.
9Ran bricht morgen* bie Jure auf unb ftnbet iSbatterton tot auf bem unberübrten Sager.
Huf einem tßapierfdjntyel, ba* am »Bofcen liegt, Hebt: „3dj überantworte meine ©eele
t'brem ©d)öpfer, meinen Seib meiner iühitter unb ©chtoefler unb meinen Jlud) brr ©tabt
SBriflol. 5Öenn 9)?r. Gr " ber SRefl ifl abgeriffen. 3n ber 3eugenau*fage oon
9Rr. Grog betgt e* : „. . . 3<b fam in fein 3immer unb fanb tbn gani tot. Äif bem
Rentier (lanb eine ^(afa)e, bie 3(rfeirif unb SBaffer entbtelt ; einige fleine ©tinftben Ärfenif
(lerften jmifd)en feinen 3äbnen. 3<b glaube, bättc er fid) ni(bt felbjl getötet, »are er
bod) balb oerbungert, benn er war ju doli um oon jemanbem etwa* ju oerlangen."
3n feinem $afd)enbu<be fanb man oom 24. 3ugu(l „Se^te QSerfe", fi< «nben :
. . . „Seb wobt, o Butter! — ©eängfrigte ©eele, lag ab!
|>ab ©nabe, Gimmel! Unb bore ich auf |u leben,
©ei mir biefe le^te 2at be* Slenb* ©ergeben !* —
(£r flarb mit ilebjebn 3«bren! ©eine SXutter eilt nad) Sonbon, bolt fid) Die
Überrede ibre* geliebten Äinbe* unb lägt ihn in fcriflol begraben.
•) 3n einem ftragment fagt er:
„@eran}ert rbilcfcrbtf* au' in «tabi,
5ür «rmut fübnc« unb für ^unger^aual."
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3lunfcfdjou.
431
„Die ^renie be* s5d)icffal*, bie über fein Ceben berrfd)tr, maltet nod) über fein
©rab binau*." Gpatterton lag nod) nid)t unter 6er Srbe, al* (am 26. Sugujt 1770)
ein ©etftltdjer au* Orforb, 9teo. Dr. grp nad) «Britfol fommt. „Sr batte einige 9tomleo*
©ebidjte }u @efld)t befommen, bie ibn fo entjürften, bajj er ibren Sntbetfer aufrufen
wollte, tiefer SRann bätte fid) (Sbatterton* mabrfdjeinlid) angenommen/'
Unb weiter berietet 9lid)ter: „Sin balbe* 3abr fpäter fcffelt ©olbfmitb bei
einem getfeflen in Der Royal Acaderay alle 3u&Drer mit öer ©djilbcrung jene« außer*
crbentlid)en ©d)a§e* alter «Poefie, ber oor furjem in fBriftol entbeeft morben fei."
2Bir mtefen oben auf SJpron bin; unwiflfürlid) brängt fid) ein 93erglcid) auf.
Dort SBnron — im ©onnenglanj gebabet; alle fteime feiner (Seele fommen jur (£nt*
faltung unb Huben auf, mit ihrem Duft ade beraufdjenb. $ier ein Änabe, mit feinem
©eift b&d) über feiner Umgebung ftebenb, ba* große, flolje, feurige #er| jutfenb unter
Den ^eitfd)enbieben be* ©d)irffal*. »ergeben* alle Arbeit, aOe ©eifte*» unb £erjen**
fräfte ; ba* Slenb paeft ibn, er fann ibm nid)t entrinnen — unb er oergebt in Dunfel*
beit unb fttadjt.
2Ba* bätte au* ibm werben fonnen, wenn ibn nur bier unb ba wenigften* ein
©onnenftrabl getroffen batte!
ffia* mürbe er barum gegeben baben, wenn er feine SBerfe fo fdjon gebrueft unb
cingebunben, mie fie jefct oor un* liegen, gefeben bätte.
ßbarterton gebort ju benen, bie unfer alte* *öolf*lieb fo mebmütig befingt:
„Sie fmb gemanbert bin unb ber,
Sie baben gebabt meber ©lücf nod) ©tern,
©ie ftnb oerborben — geftorben."
3Wünd)en. C. Cinbemann*Rüßner.
*
Svitbvid) Älofe, ein neuer tTJund>ner.
ftelir SDtottl, ber befonnenfle unb fonfequentefle muftfatifd)e ftortfdjrittdmauu
unferer Sage, bringt aud) in ba* fionjertleben 3J?ünd)en* frifebe ftarfe 3mpulfe. Die
jur oollen $öbe meiflerlid)en 3iad)gefta(ten* gebiebene 'Xuffübrung oon ftrtebrid) Älofc*
fbmpbomfdjer Didjtung „Da* Ceben ein Sraum" rourbe ju einem ber feltcnen Sreigmffe,
bie über ba* ^ublifum unb bie $ublifum*»3lejenfenten binmeg bie benf* unb empftnbung**
fähigen ©eifler aufrütteln, bie £tebc unb £aß ent|ünben. (£* gab flürmifd)en SBeifaU.
(Er bätte aud) fd)toad) fein bürfen: ber wir fit che Erfolg wäre baburd) nicht im minbeflen
beeinträchtigt worben. Sa* SDiottl mit feiner 2Biflen*fraft, mit feinem jart poetifd)en
unb in edjter £eibenfd)aft aufflammenben Vortrag in jebem gafl erreid)en mußte, mar:
in ber beutfdjen Äunftb«uptftabt einer bi*ber bort nod) unbefannt gebliebenen, djarafte*
rifh'fd) felbflänbigen Snbwibualität ©oben ju erfämpfen. 2Bie «Pft&ner, fo ifl jefct aud)
Stlofe für 9J?ünd)en erobert morben. ©ir laffen ibn nid)t mebr frei; wir rechnen mit
ibm für bie ©egenwart unb für bie ^ufunft Durd) ibn finb wir wieber einmal reichet
geworben. Die Xnerfennung, bie man ibm entgegentrug, ber ffiiberftanb, ]u bem er
aufregte, jeugen in gleichem ©rabe bafür, baß er nunmehr ju un* gebort.
Drei ©ä$e. Die beiben erften ftrömen in fd)önem gluffe einer großangelegten
epifd)«l9rifd)en Darftcflung Caput. Der britte ifl — nad) meinem unmaßgeblichen Sin*
tu.A — rbapfobifd) geblieben. (Sr ftebt, wie fo mand)e* ibeenfd)wangere Sonftüd oon
Hefter SBerltoj, beimatlo* jwifeben SDiufcffaal unb SBüpne. ör jeigt ^(ofe auf bem
SBege }u feinem erften, nod) (id)erer auf fünillerifcbem 9?eu(anb begrünbeten bramatifdjen
ffierfe, jur w3lfebifl". ©utc* Sbeater fann e* im Äonjertraum nid)t geben, aber
intereffante* Sbeater. Daiu gebort e*, wenn ba* £>rd)efter mie ein (loljer fcaum |ur
©pätberbfljett ficf> attmäblid) entblättert, bi* fdjließlid) in minterlid)er Obe eine anfröftelnbe
epred)fKmmc erflingt. Da$u gebort ba* SWelobram, fofern e* nid)t a(* bittige
432 SRunbfdjau.
AapeQmeiftermujif jufammengepappt, fonbern oon bod)begabten SÖfufifern wie fllofe unb
(rdnUing* bi* bart on bie ®renje brt äftbetifd) SBabren gefübrt wirb. Daju gebort
rnblid» ber moberne 42i?ertber. ber bereite Schopenhauer unb Sßaaner hinter ttch bat
unb, ehe er #anb an ftcf> legt 111 abgeriffenen Abfa^cn einen gerabeju genialen Trauer»
marfd) eichtet, unmittelbar cor ber endgültigen Verneinung be* Dafeinä feinen SBert
nodj burd) einen fd)öpferifd)en ©ebanfen befräftigenb. Die mannigfachen feffelnben, »ms
Jeil bebeutenben Stnjelbriten btefe* <£a§e* fommen mebr jur ©eltung, wenn man im
fttllen ÄämmerUin bie Partitur lieft, alo wenn man im Äonjertfaal gewabr wirb, wie
Dirigent unb Deflamator fid> bemüben muffen, mit gar forgfam abgemrfFenem ®letdv
fd)ritt in bie guiftapfrn be* fdjaffenben tfünßler* ju treten. Die DarftellungSfompe-
nenten fd)lie§en fi<f> beffer in ber 'Art jufammen, .ba§, wie e* im vergangenen 3«bre }■
jpeibelberg gefdjab, nad) bem aufcgefprodjenen 2Bunfd) Älofe* tai fflerf mit mberftn»
rrdjcfter ju ®ebbr fommt. Die jwette SWüncrmer 'Äuffübrung ber erfmbungörräftigev
fpmpbonifdjen Didtfung wirb gel« aJtottl unftreitig im $riniregenten«Sbeater leiten,
gl ftebt uno alfo wieber ein feftlid>er Qlbenb in 3Cu*|ld)t. Weine (Sintritttfarte bat'
id> bereite befteOt.
9?un mu§ aber bie $onbid)tung über bie ^bealjone £arl$rube»2J?ünd>en binaul
m tai weitere Dtnch. tWidjt jum wenigften wirb baju bie banblidje 9?rofd)üre beim;,
bie dtubolf £out* foeben peröffentlid)t bat.1) 3" U»r fprid)t er mit bem embringlidj
rubigen, üben«U9«nben $on be* 2Rannee, ber bei Erfolge« ber »on ibm pertretenen
©ad>c gewn} ift, über ben ©ilbungdgang Älofe*, über fein „Ceben ein Sraum". (£r
quält ben ßefer nid)t mit fleinlidjen Deuteleien; er birigiert ibm bie mufifalifd>en unb
feelifdjen ^auptmotipe ber $ontid)tung per. Daju ift ei freilich nötig, baf» man 2»ufifer
fei, unb bafj eine gewiffe ffiabloerwanbtfdjaft jwifdjen bem porträtierten unb bem
^orträtierenben beftebc ffienn unfereiner bicr gemabr wirb, wie fid> £oui# neben SRotti
unb Älofe al* ein nidjt Unebenbürtiger bebauptet, fe föbnt er ftd> wenigften* für einen
rerübergebenben »ugenblicf mit feinem fritifd>en 9Walefijberufe au*.
SHündjen. Paul SBarfop.
*
5ur &d)iUevftiev.
Hui bev". 3ubiläum*btbliotbff, mit ber Deutfdjlanb feit einem balben $abre über»
fd)wemmt wirb, greifen wir jwei fleine Veröffentlichungen berau«, um fte ben l?efern |ii
empfeblen: tXuägewäblte ®ebid)te pon <5d)iller, ali breiunbfed)jigfte* ^>eft ber
UDiedbabner 93plf»büd)er erfdjienen (®efd}äftdftelle : «^einrid) ©taabt, 2öie$baben), unb
bic pon Jbcober 9)?aud) beraudgegebenm ©d)iller*7(nefboten (Stuttgart, 91. Cu6).
Die Pom $übinger Hermann gifdjer beforgte unb glücflid) eingeleitete Xudwabl foftet
nur breiig Pfennige; fie wirb aud) bem Jreube madjen, ber ©djitter« ®ebid>te ali
Eigentum, aud? al* geiftige*, beft^t. 3Ran fann nur wünfd)en, ta% bie Xuöwabl weitefte
Verbreitung ftnbe. SRaud) perfud)t, an ber ^>anb biograpbifd>er Dofumente ba* „naioe
Detail einer bebeutenben (Triften)" wirffam ju machen, unb ti gelingt ibm. Die -ib
wefenbeit biograpbifdjcr Äonftruftion berübrt angenebm. 3U9 um 3U9 födjlid) unb
frafrig ba, unb runbet fid) ju einem menfd)lid)en, nid)t ibealiftifd) farifierten Porträt.
g&ündien. 3. |)ofmiller.
Bret»enfon über T>ela6que$.
Der 1 900 rerftorbenc Professor of flne arts at University College in ?ioerpool,
91. H. ÜJ?. ©tepenfon ift — voai man feinen jarten, buftigen Canbfd>aftcn gar niebt
anftebt — ein glübenber Verebrer pon ©elaöquei gewefen unb b«tte ben großen
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SRunfefdjau.
433
Spanier ju feinem ?ieb(tng6maler erforen. Steoenfon ift auch, mad man feinen
nid)t gerabe abwed)flungareid)en Canbfchaften wieberum nicht anfielt, ein febr feiner
gebanfenoofler Sd)riftftetler gemefen, fem man manchen guten Tfuffafc unb manched
n ii gliche 93ud) oerbanft. 'äudj über ©elaäquej bat er ein Buch, gefebrieben, bae" oor
Für je m (Sberbarb oon fßobenbaufen ini £)eutfd)e ubertragen bat.1) Damit ift un* n>trfltd>
ein wertootle* ©efdjenf gemalt werten
Steoenfon« SMadquej (lebt eigentlich ebne «Parallele in Der neueren fünft*
qeichtchtliaVn Literatur ba. Hn 'Xuperima,eu oon ftünftlern über ftmifl feblt cd beute
fo wenig wie trüber; aber tic au per ort entliehe Älarbeit, bad jurücfbaltenbe r er nehme
SOBefen unb bie Jwcrf mäßigfett oon Steoenfond Schrift febeint mir feine anbere von
einem Äünftler berrübrenbe Stubie ju beftgen. 3* geftebe unocrboblen, baß ich cd
mit ®oetbc balte unb ben SRaler lieber an ber Staffelei ald am Schreibtifd) febe.
£eute fmb biefe ^ronunciamentod ber Äünftler allgemein (Begenftanb ber größten, oiel*
leicht etwad bumpf anftaunenben ©erebrung. Sie Meinung, bie bie Jtünftler über
$unftwcrfe im <$erjcn tragen, mag bäuftg audgeieichnet fein; bad Urteil aber, bad fle
audfprrcben, ift oft genug burch (Jtnfeitigfeit, manchmal an* turch SBodwilligfeit in
feinem 2Bert recht firagwürbtg. tiin ©aleriebeamter fann barüber ungemein ergö^licbe
Stubien machen. Seid) berr liehe SIReifterwerfe oon großen Rünftlern in granbiofer
©leichmüttgfeit ald Sdmnb bejeidinet werben, »cid) jämmerliche Äruften oon benfelben
SOfännern wegen irgenbeined bübfeben euren bie Marina entftanbenen Aleif en? ah) er«
babene Schöpfungen bejeiebnet werben, baoon bat ein anberer Sterblicher feine
Qtbnung. Unter ber güfle tiefer wiberfpreebenben Urteile gewöbnt man fid) fcbließlich
bie gleite Seelenrube an wie bie ftünftler unb nimmt ihre Äußerungen nicht als Offen*
barungrn bed Äunftgetfted ber 3J?enfd)beit, fonbern ald je nad) bem Sinjelfafl mebr ober
weniger belangooUc Meinungen oon $rioatperfonen. ©er #err Uberfefcer bat Steoenfond
S8ud) eine Einleitung ooraudgefd)icft, bie oom entgegengefegten Stanbpunft audgebt unb
fo muß id) gefteben, baß id) auf bie bei ftünftlern üblid)C orafelmäßige Kxt bed Urteilend
gefaßt war. Uber faum jemald bin id) angenebmer enttäufd)t worben.
Steoenfon bat in feinem 93eladquej ein Q5ud> gefd)rieben, bad funftpäbagogifch
gerabeju muflergültig ift. @r fagt im ganjen nidjtd SWeued unb fagt aud) nid)t gar oiel;
aber bie $crm, mit ber er ben £auptgebanfen feiner Sd)rift immer wieber oon neuem
oorbringt, ift etwad in ber funftgefd)id)tlid)en Literatur ganj einjig Daftcbenbed. SOtan
benfe nur an £iebermannd berühmte $uffä£e, bie auf furjem SXaume eine Unmenge
oon 3ttJten unb geiftreid)en Einfällen über afled mögliche beroorfprubetn unb gerabe
ben SRann ober bie $bee, um berentwiflen ber Q(uffa$ gefd)rieben würbe, ganj nebelbaft
bebanbeln, unb man wirb Steoenfon« 93erbienft würbigen müffen. Gr greift bie eine
Sigenfd)aft im Stile bed «eladquej beraud, bie fd)on lange ald bie wid)tigfte gilt: bie
weber oor ihm noch nad) ihm je wieber erreichte ftunft, bie Totalität bed Einbrucfed
in allen (iuijclbeiten jwingenb burd))ufübren. Steoenfon gebt nun ben Bebingungen
biefer Sigcnfcbaft nad) unb fuhrt in ftetd neuer Beleuchtung burd), baß Sßeladquej nur
ben ©efamtembruef, ben fein TTuge oon einer ^Jerfon ober einer Situation patte, bar=
ftetlt, baß er feiner ^bantafie am ^udgeftalten biefe* öinbrucfed gar feine Jreibeit ge»
wäbrte. Steoenfon jeigt immer wieber, baß ed fid) bei biefem Äünftler unb überbaupt beim
guten 3Raler um bie Jatfad>cn hantelt, bie baö Tütge beobachtet unb inbem er immer
wieber bei ber Qkbanblung ber ^arbe, ber Jeidinunq unb ber Stompofttion bed
Q3e(adque} auf biefe optifd)en (Srfabrungen lodgebt, lehrt er ben Cefer feben, prägt ei
ihm auf tao teutlichOe ein, baß gegenüber ber Beobachtungsgabe eined zlWmneo wie
«Beladquej nid)t bie lanbe*üblid)en ©orfteOungen über bad 7(u«feben ber Dinge maß»
gebenb ftnb unb baß e* einem Äünftler mit folgern Oefubl ffir bie ebrlichfte
0 9t. xl. VI. etrornfon: Vflalgurj übrrfe|t unb rfnselettet «on Dr. etrrpart »on
fiotrnt)aufrn. l'iün*fn 1904 fcti *rucf manne lifrUqeanftalt.
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434
Runtfdjau.
ffiiebergabc fccr ffiirflid)feit gelingen mufctc, etwa* ganj SReue*, bi* babin Unerbbrte*
tu fdjaffen unb ba§ biefer Stünfller notwenbig ber Webling einer 3eit werben mußte,
bie wie bie unfrige, auf bie reine ffiirflid)frit*barflettung au*gebt. (Jr jeigt aud), obnr
trgenbmeld)e* ftretc auftuftetten unb ebne irgenbeine* }u verleben, baß mit ber Xrt, wie
9ßela*quej bie Letalität feilhielt, aud) eine reine ©djönbeit entfteben mußte.
Senn ©teoenfon im allgemeinen jlet* auf bie »Begrünbung biefe* einen ©aße*
hinarbeitet, fo faüt nebenbei fo mand)e SBemerfung ab, bie red)t febr oerbient, beamtet ju
werben. 9?ur eine foll bier erwäbnt werben. (Sr bebanbelt gelegentlich ben
<J5orträtftil be* Antonio 2J?oro, ber ju be* Referenten ftänbiger Sßerwunberung al* einer ber
größten ^orträtiflen gilt, bie bie Sfunflgefd)id)te femtt. ©teoenfon fuhrt aber mit Biet
©efdjirf au*, baß bei aQem Streben nad) Wahrheit unb bei aller bi* }u einem gewiffen
©rabe ja überjeugenben $reue im herausarbeiten ber £tn|el|üge, 2Boro e* bod) nie»
mal* erreid)t bat, einen 2J?enfd)en \o carjuftellen, wie er — malerifd) genommen —
auegefeben bat. Da* ifl eine* jener Urteile, bie bie tfunflbiftorirer früber fo feiten
au*fprad>en, unb bie man mit foldjcr Rücfftd)t*lofigfeit aud) gewöhnlich, nur oon Sfünftlern
boren fann. Srogbem mochte Referent gerabe bei biefem au*gejeid)neten SÖud) barauf
jurücffommen, baß ftünfller nicht bie geeigneten Männer jtnb, um über Äunfl )u fcbjreiben
ober }u lehren. Srflen* ifl e* ein £anbfd)after, ber ba* 33ud) über ben Porträtmaler
93ela*quej gefdjrieben bat unb nod) ba|u fein febr bebeutenber £anbfd)after. Dem
öela*quej gegenüber ifl ©teoenfon bod) bloß ein Caie unb Dilettant unb {weitend oer«
fpürt man ber Sinfettigfeiten nicht wenige. Dag SBilb be* fpanifdjen Stünfller* unb
feiner ftunfl enthalt auch gar oiele 3U9C/ tlc unbebingt befprodfyen fein muffen, um ber
betreffenben tXbbanblung ben fflert einer abfd)ließenbcn ©tubie ober Unterfudping ju
»erleiben. 3Ban ftebt aber beutlid), baß biefe wichtigen 3üge: ber wäblenbe ©efebmaef,
bie ffiürbe, bie ibealifierenbe Senbenj, unb bie Unlufl an fonfreten, oon innen berau*
begrünbeten formen für ©teoenfon gar nid)t erijherten.
9Büncben. Starl «Boll.
*
©03Wlpnan3teUe &unt>fd?au.
Die bieSjäbrigen {Berliner ©teuereinfd)a$ungen werben ibr bebeutenbe* SKebr nur
auf ba* 95anfgefd)äft jurüeffübren rönnen, ba ber Sarenbanbel en gros ein SWmber«
refultat um ca. 20 $roc. ergibt. Der ledere böd)ft bead)ten*merte Umflanb bangt nidjt
mit ben ©d)wantungen ber SBaummoupreife jufammen wie manche annehmen motten,
fonbern mit ber madjfenben ftenfurren; in faß allen #anbel*jweigen. Da* ifl ein ^Sunft,
ber nicht oerfd)wiegen werben barf, benn jener immer flärfer au*artenbe ffiettbemerb
brürh nicht nur bie (Gewinne jufammen, fonbern erhobt juqleich bie Unfoflen. Einerlei,
ob auf foldje 2Beife bie Qfilgemeutbefdjäftigung großer wirb, ob ba* faufenbe fyiblifum
beffer bran ifl (ba* fitf) auch fireilid) feine SBare anjufeben bat), fo fubrt biefe ©trömung
bod) fd)lte§lid) |u nidjt* ©utem. 3n ber $at baben ba* 3abr 1904 unb oon 1905
ba* erfle tluartal }ablreid)ere ftonfurfe a(* je aufgewiefen unb man fragt ficf> mit 9ted)t,
ob nicht ben foeben au*gefd)iebeneu ©cbäblingen neue folgen werben. 9Ba* bie Qtanfrn
mit ibren gemaltigen Stapüalt'en betrifft, bie burd) ibren ©i$ in ber 9teid)*bauptflabt fo
au*gebebnte 3entralifationen bilben fonnten, fo ifl e* flar, ba§ bie*mal ibre oerteilbaren
Reingewinne 9J?illionen unb SMionen umfajfen müffen. 3nbeffen im 93erbältni* ju
ibren Tfftienfurfen jinb tie Dioibenben nicht gro§ (uirgcnb* über 43/4<>/0) unb femer
barf man nid)t oergeffen, bag bie ungeheuren SReferoen jwar oorbanben, aber feine*weg*
»u oernnfenbe* Kapital barflellen.
* *
*
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SXuntfdpu.
435
Sie neuen 3«P<»ner jum ^Betrage oon 2? HJfttlionen <Pfunb Sterling (30 SERiflionen
jum Äurfe oon 00 o/0) Ratten eine überaus glänjenbe 3< iepnung aufjuweifen. Unb tro£*
bem tie Smerifaner, welche allein 500 3Mionen Dollar* fubffribierten, ibre 3uteilungen
mit einem paar ^rojent 9hi$en jum Seil weiter oerfaufen werben, fo wirb btefe* rein
ajiatif<pe unb reu feiner europäifdjen EDtachi fontroQierte Staatlpapier toep fein Anlöge«
oublifum fid>rr finben. Vor aQem faßt ba ber englifepe SERarft in* ©ewidtf, beffen
nnenbafte Xufnabmefäbigfeit bier in biefem gafle unmoglicp nur oon Spmpatbien ge*
tragen werben fann, fenbem in erfter Cinie oon bem Vertrauen ju ber Crbnung eine*
uralten, aber un* erfl je£t entbüllten lulturftaate*. Um fo auffaflenber bleibt bie
Schwache unferer äufjerlicp bod) gewifj fo großartig geleiteten Lanfert, bie auch bei
tiefer jmeiten Ärieg*an leibe 3apan* gan} unoorbereitet gewefen fmb. 'Auf biefe Seife
fear ba* ^Jrefh'ge ber beutfepen .^oeppnanj, bem fi<f> unfer Kapital mit feiner Unter*
nebmungftluft viel )u flarf unterorbnet, eine, man fann rubig fagen: moralifepe lieber«
läge erlitten, 8lo<p ganj abgefeben oon bem Umftanbe, taf? unfer }ufünftiger .£>anbel
mit 3apan oon nun an mit Vorurteilen ju redjnen baben tonnte, bie bei einer Smtffton
jener bleibe aud) in Berlin unb granffurt wobl faum anjutrefen wären. Sinjig ein
Hamburger Hanfbau* (3R. 3R. Sarburg & (So.) parte oon öden beutfd)en girmen ben
3Rut, (ich al* 3tid)<nfoüe aufjutun unb bie Herren in ^Berlin eerfeblten baraufbin
feine*meg* einer allgemeinen {Beteiligung entgegenarbeiten, e wirb 3"t, bajj fid> bie
3nteQigen}en unb ^erfonlicpfeiten im beutfd)cn SBanfiergewerbe oon ber SBeoormunbung
einer frpmalen JReibe ©ro§infWtute wieber mebr freimachen. 3U 3f,*cn leiber ju früb
oerftorbenen ©oftor Siemen* wären bie obigen Vorgänge fepmerlid) möglid) gewefen.
dt parte bie ©ebeutung jene* 3nfelreufct für unfern $anbel unb unfere 3"bufrrie
rechtzeitig erfannt unb bemgemäfj auep bie 4>änbe gerübrt.
* *
*
Unferem ©etreibepanbel (lebt ein Scplag beoor, ber natürlich wieber oon ben
Agrariern ausgebt. 3Ran wünfept nämlid) bie 3oßrrebite fdwn jefct aufzubeben, anflatt
wie ber 9tei<p*tag e* oorper beftploffen batte, erft bei eintritt be* neuen £ed)fdni$}olIf*.
3nbem nun 10000 Sonnen Serben fdwn ca. 33?. 350000 3ett foften — eine Summe,
fcie ein mittlerer $anbler in einem 3apr weit überfdjreitet, fo ifl bie fofortige SBejablung
febr läftig. Denn bie äRuQer belieben ihren SBebarf boep in diäten unb bejablcn bem»
gemäf} auch in SRaten. Stegen in biefem gatle wieber bie ©ro§grunbbeft$er, fo würbe
unfer ganjer ©etreibepanbel oielleicpt gehört werben unb bie (£in}e(oerforgung müfjte
ricUcicbt ebenfalls nur gegen fdjneßfte 33arjablung unb iwar jebe*mal für ben ©efamt-
auftrag oor iid) geben. 3ene Partei, ber tie 9legiernng, wie e* ftpeint, brüte alle*
ju Oerallen tun mochte, jt'clt babei offenbar gegen \u flarfe ©etreibeimporte, bie nod)
für} oor $orfd)lu§ oon unferen ftaufleuten befepafft werben fbnnten, alfo bann nod)
1 90« bem beutfepen ©etreibe unmillfommene Äonfurrcni maepten. ^Xfl biefe Jurcpt, tie
auf anbere Saren wobl weit fiärfer juträfe, gibt aber nod) fein 9ted)t ju berartigen
plo^litpen Störungen be* freien $anbele\
«
Unfer entfepiebene* Auftreten jugunften ber weiteren Unabbängigfeit oon STOaroffo
fann jwar bie ©idjerpeit, ja 2J?enfd)enwurbigfeit ber bortigen 3"ftänbe um fein ^>aar
heiler erferjeinen laffen, atö fic ftnb, adein te?balb brausen wir un* oon ben ^ranjofen
ned) nicht majorißeren )u laffen. Sie erfl ba* Q$eifpiel oon Juni? wieber bemiefen bat,
liegt im Softem eine* franjöfifcpen ^Jroteftorat* eine foldje 3lu*fd)lie§lid)feit, ba0 bie
.OanbeUintereffen ber anbem Kationen eben gefd)äbigt werben. Sine fold>e SÖebrobung
ren unfern gegenwärtigen ober iufunfrigen ©cfdjäften fernjubalten, bürfte natürlid) ben
SBeifaO jebe* ©eutfepen ftnben. Sie fo gani anber* finb boeb bie Gnglänber, tro^bem
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436
9tunbfd)au.
biefe bei ©ubmtfftonen bie eigenen Canb*leute nad) Äräften }u beoorjugen pflegen!
Unfere ffaufleute mtffen e* ju erjäblen, baft e* eüi|tg unb allein bie englifd)en Kolonien
gewefen fmb, wo fte fid) oon jeber ber ©oflfommenflen Q5emegungdfreibeit erfreuen tonnten.
Died fdjon ju 3c'ten/ reo oon einer beutfd)en ©ro§mad)t faum bie SRebe n>ar unb jabl -
reidje Bürger oon Ciltputflaaten in ben britifd>en Kolonien fowie im 3Jlutterlanbe felbfl
ibre Äräfte rubig entfalten fonnten.
Die QJergwerfdnooelle, fobalb fie jur parlamentarifd)en Debatte flanb, bat auf
bie Äurfe ber Äoblenaftien gebrücft. Eigentlich mit Unrecht! Denn ba bae beriid)tigte
Oluffen aufgeboben werben fofl, tro§bem unfere 5Rontangröf?en bied all abfolut unent«
beprltd) binflellen, ifl bod) baran ju erinnern, bafj fogar ber ftttui an ber ©aar —
eine gewifc pebantifdje Verwaltung — biefed Hutten fett langem freiwillig aufgegeben
bat. ferner baben bie 3tftionäre nid)t ben geringften ©djaben oon einer (£infd)ränfung
ber 9J?utung$red)te. Denn bei ben Erwerbungen oon SBergwerfdeigentum, wie fte feit
3abren an ber SRubr gang unb gäbe fmb, ifl ti fafl immer nur eine Qfnjabl eingeweibter
unb lofaler ©röfjen, benen bie ©elegenbett offen frebt, m aller ®tiße unb fafl fann
man fagen : in Untätigfeit ju ben umfaffenbflen 3leid)tümern ju gelangen. — 3n jwncruMt
ifl in ber Äommiffion mit einem foldjen 93orbebad)t gegen eine SXeibe oon notwenbigen
<8erbe(Ferungeoorfd)lägen gearbeitet worben, ba§ man auf bie ^efligfett ber Regierung
gegenüber jenen reaftionären ©efhrebungen gefpannt fein mu§. Sin ©tretf, ber glücfli'd)
beenbet worben ifl, fann nod) immer jablretdje Söieberauflebungen erfabren.
* *
3m Orient bat ber grübling wieber ju Unruben getotft, fo bafj bie Jrage oon
©efdjü^anfd)affungen bort unter ber aufmerffamflen Bewerbung ber europäifdben ©äffen»
inbuftrten nur }u begreiflid) erfd)eint. Ü8erle$enb babei ifl aber bad Auftreten bed
fran}öftfd)en SJotfdjafterS in Äonflantinopcl, welker bie Äanonenbefletlung bei ftrupp,
felbfl nad) erfolgter 3utetlung, nod) offen ju bintertreiben fud)te. Der Sultan würbe
jwar gerne ben ftranjofen gefällig fein, befonberd in ber Duaifrage, aber ba, wo ei
auf gute ©efd)ü£e anfommt, gebt ibm bod) Ärupp augcnfdjetnlid) über jeglid>e btplomartfcbe
9törffid)t. Unter* (lebt ed oielleidjt in «öelgrab, ba bort neben ber beutfdjen ginanj
aud) bie franjöfifdje unb öflerreid)ifd)e bie ^ntereffen ibrer beimifdjen ffiaffenfabrifatio«
nad) Gräften ju oertreten fud)en. Derartige ffämpfe fmb immer intereffant, weil fie
bie enge IBerbrüberung »eigen, in ber beute ^olitif unb ^nbuflrie ju einanber (leben.
ftranffurt a. 9R. ®. o. £alle.
©«rantwortlKb für ben fojialpolüifäen Xril: Öriebriä) »Jlaumann in (Säöneberg; für ben übrigen 3n&aü:
fJoul «Kölau* «Obmann in Wünajen.
3io4bruÄ ber einaelnen ©eUTäge nur auÄjugBwelfe unb mit genauer Quellenangabe gemattet.
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3n bct alten @onne.
5Jon # er mann #effe tn & Nienhöfen am SÖobenfee.
(®<hui§.)
rücften furj t)intcreinanbrr im Saufe M (September jmei neue
tXnfommlinge ein unb $mar $mei feljr »erfdjiebene.
2)er eine t>ic§ 2oui* Äellerbal*, bod) farinte fein STOenfd) in ber (Stabt
tiefen tarnen, ba ?oui* fchon feit 3aljr$ebnten ben ©einamen .£olbria trug,
beffen Urfprung unerfinblich i|t. <£r mar, ba er fdjon »iele 3al)re l)er ber
©tabl jur Vau fiel, bei einem freunb inten Jßanbmerfer untergebracht gemefen,
»o er et* gut hatte unb mit jur ftamilie $at)lte. tiefer Jßanbmerfer mar
nun aber unvermutet fdjnell geftorben, unb ba ber Pflegling nicht $ur Grrb*
fd)aft mitgerechnet merben fonnte, mufte ihn je$t ber (Spittel übernehmen.
dr hielt feinen Grinjug mit einem moblgefüHten Seinmanbfdcflein, einem
ungeheuren blauen 9tegenfd)trm unb einem grün bemalten «ßoljfdfig, bann
faß ein fet)r feifter gero6f)n(id)er Sperling unb lief ftcf> burch ben Umjug
menig aufregen. £er Jßolbria fam ldd)elnb, herzten unb ftrahlenb, fdnittclte
jebermann innig bie #anb, fprad) fein SBort unb fragte nach nichts, gldnjte
t>or SBonne unb #erjen*güte, fo oft jemanb il)n anrebete ober anfat) unb
hatte, auch wenn er nicht fchon Idngfl eine überaß befannte fttgur gemefen
»dre, e* feine Siertelftunbe lang »erbergen formen, baß er ein gutwilliger
unb ungefährlicher ©djmachftnniger mar.
25er jmeite, ber etma eine 5Boche fpdter feinen (Jinjug hielt, fam
nicht minber lebensfroh unb mot)lmoQenb baber, mar .aber feinedmeg* fchmach
im £opfe, fonbern ein $mar h arm l der, aber bur* trieben er $)fifftfu$. <Sr
bieg (Stefan infcnbctn unb flammte am ber in ber gangen (Stabt unb ©egenb
»on altert her mehlbefanntcn Canbjrreicher« unb S&ettlerbonafrie ber $infen>
beine, beren femplijierte Jamilte in vielerlei 3weigen in ©erberäau anfäfflg
unb anhängig mar unb oiele Dufcenbe oon SBttgltebern jaulte. &ie $infen*
beine maren alle fajt ohne aufnähme fytüt unb lebhafte tf6pfe, bennoch
hatte e* oon jeher niemal« einer »on ihnen irgenb ju etma« Sflennendmertem
gebracht, benn »on ihrem ganjen ÜBefen unb Dafein mar bie SSogelfreitjeit
unb ber #umor bed 9Kd)t$t)abend ganj unzertrennlich.
©efagter (Stefan mar noch feine fedjjig alt unb erfreute ffa) einer
eübbruttfe 2Honat»l>efte. 11,6. 29
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438
Hermann §t ife : 3" ttltcii ©onne.
fel)Icrtofen ©efunbfyeit. 3*»ar *»ar « etma* mager unb fafl gart »on ©liebern,
ober jdh, unb jlet* worauf unb rüflig, unb auf weldje fdjlaue üBeife e*
ib,m gelungen war, (Td) bei ber ©emeinbe al* 3fnwdrter auf einen <BpitttU
f!$ einjufdjmuggeln unb burd)jufe$en, mar rdrfelfjaft. (5* gab ältere, Stenbere
unb fogar Ärmere genug in ber ©tobt. Allein feit ber ©rünbung biefer
2tnftalt t>atte e* it)m feine 9tul)e gelaffen, er futjtte ffd) jum ©onnenbruber
geboren unb wollte unb mußte einer merben. Unb nun war er ba, ebenfo
ladjelnb unb lieben*mürbig wie ber trcffltd>e Jßolbria, aber mit mefentlid?
leichterem ©epaef, benn außer bem, ma* er am Veibe trug, brachte er einzig
einen jroar nutt in ber $arbe, aber tecb in ber ftcxm roebkrhaltenen fieifen
©onntag*b,ut von alroaterifd) bieberer Grleganj mit. Üöenn er itjn auffefcte
unb ein wenig eitel fcfjtef nad) Innren rücfte, mar ©tefan ^infenbein ein
flafjtfdjer Vertreter be* $ppu* SBruber ©traubinger.
(Sr führte fid) al* einen roeltgemanbten, fpaßtjaften ©efellfdjafter ein
unb mürbe, ba ber £olbria fd)on in #urlin* ©tube gefteeft »orben mar,
beim ©eiler JßeUer untergebracht. UM fd)ien tl)m gut unb loben*»ert ju
fein, nur bie ©d)meigfamfett feiner Kameraben gefiel ir/tn nidjt. (Sine ©tunbe
vor bem 3benbeffen, ald alle »iere beifammen braußen im freien faßen,
fing ber ginfenbein plöfclid) an: ,,$6r' bu, £err gabrifant, ifl ba* bei euch
benn alleroeil fo trufelig? 3t)r feib ja lauter Srauermebel."
,,2Td) faß mid)."
„9la, mo i.c ii': benn bei bir? Überhaupt, marum hoefen mir alle fo
fab ba herum? 9)?an fdnnte bod) menigflen* einen ©d)nap* trinfen, ober ntd)t?"
.öuriin hordue einen 3ugenblicf entjücfr auf unb lief feine muben Äuglein
gldnjen, aber bann fd)utte(te er »erjmeifelt ben Kopf, breite feine leeren
^ofentafdjen um unb machte ein leibenbe* ®eftd)t.
,,Vd) fo, Ijaft fein SWoo*?" rief ftinfenbein lacffenb. „«ieber ©ott,
id> l)ab' immer gebadjt, fo ein ftabrifant, ber bat'* allemeil fo im ©aef
tjerumflimpern. 21ber t)eut ijt bod) mein 3nrritt*feft, ba* barf nid)t fo
rrorfen »orbeigeljen. Kommt nur it)r Seute, ber ginfenbein Ijat jur 9?ct
fd)on nod) ein paar Kapitalien im 3»et)ameeberle."
Da fprangen bie beiben Srauermebel bel)enb auf bie $uße. Den
©djroadjflnnigen ließen ffe fi$en, bie brei anbern holperten im Silmarfcb
nad) bem ©ternen unb faßen ba(b auf ber ©anbbanf jeber »or einem ®iai
Korn. J>urlin, ber feit 2ßod)en unb Monaten feine $Birt*fhibe mehr von
innen gefe!)en blatte, fam in eine freubige Aufregung, dt atmete in riefen
3ügen ben lang entbehrten Dun fr be* Orte* ein unb genoß ben Korn;
fajnap* in Meinen, fparfamen, fdjeuen ©djlucfen. Üöie einer, ber auä
fdjmeren träumen er»ad)t ift, füllte er ficf> bem Seben »iebergefdjenft unb
»on ber motylbefannten Umgebung (jeimatlid) angejogen. dt Ijolte bie
»ergeffenen füljnen ©eflen feiner ehemaligen Kneipenjeit eine um bie anbere
mieber Ijerüor, fdjlug morbdmaßig auf ben $tfd), f^nippte mit ben Ringern,
fpuefte »or ftd) r>in auf bie Diele unb fdmrrte t6nenb mit ber ©oblc baruber.
2Tud) feine iKebemeife naljm einen pl6|Kd)en 3(uffd)mung unb bie ooUtinenben
äraftauäbrücfe au* ben Sauren feiner J£>errlid)feit flangen nod) einmal foft
mit ber alten brutalen ©id)erb,eit von feinen blauen kippen.
^BÄb^renb ber ^abrifant jTd) biefermaßen »erjungte unb im Sttadjglanje
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Hermann «§effe: 3n Der alten ©onne. 439
feine« einftigen SBirtuofentum« unb ©lurfe« fonnte, blinjelte ^ufad J&eller
nachbenflid) in fein ®la«chen unb Ijielt bie 3eit für gefommen, wo er bem
©toljen feine 93eleibigungen unb ben entehrenben SMechhieb au« jener Sttacht
heimjahlen finnte. <Sr f)ieft ffd) (ittt unb wartete aufmerffam, bt« ber rechte
Xugenbluf ba wäre.
3njwifd)en (jatte J^urlin, n>ie e« früher feine 2(rt gewefen mar, beim
jweiten ©fafe angefangen ein ©hr auf bie ©efpradje ber ?eute am Sieben*
rifcf) ju Ijaben, mit Äopfnitfen, SXdufpern unb SDfienenfpiel baran teilju*
nehmen unb fchlteflidj auch jwifchenein ein freunbfchaftlidje« 3aja ober
©ofo bareinjugeben. Er füllte ftd) ganj in ba« fchone (Remote jurücf*
»erfefct unb al« nun ba« ©efprdch nebenan lebhafter würbe, breite er (Tcf>
meljr unb mehr bort tjinuber unb nach feiner alten Seibenfdjaft ftürjte er
fid) balb mit fteuer in ba« 2öogen unb 3fneinanberbranben ber Meinungen.
Die Siebenben arteten im Anfang nicht barauf, bi« einer oon ihnen, ein
guhrfnecht, pl6$lich rief: ,,3efe«, ber ^abrifant! 3a, wa« willft benn bu
ba, alter ?ump? ©ei fo gut unb f>alt bu beinen ©chnabel, fonfl fd)wd$ td>
beurfcf) mit btr."
betrübt wenbete ber 3Tngefd)naujte flcf> ab, aber ba gab ifjm ber
©eiler einen EUbogenftof unb flüfterte eifrig: „£af bir bod) oon bem 3ocfel
ba« SWaul nicht »erbieten! ©ag'« if)tn, bem Drallematfch!"
Diefe ef)renoolle Ermunterung entflammte fogletd) ba« <gr>rgefü()t be«
^abrifanten ju neuem ©ewuftfein. Srofcig hieb er auf ben Sifd), rücfte
noch mehr gegen bie ©precher hinüber, warf fuljne SMitfe um ficf> unb rief
mit tiefem ©rutfton: „9*ur etwa« manierlicher, bu, bitt ich mir au«! Du
weift fcheint1« nicht, wa« ber ©rauch ifh"
Einige fachten. Ter ^uhrfnccM trebte nod) einmal gutmutig: „9)af
3d)tung, ^abrifantle! Dein SÄaul wenn bu nicht t)d(tft, fannft wa« erleben."
,,3d) brauch nicht« |U erleben," fagte Jpürltn, »on geller wieber burch
einen ©tof angefeuert, mit $Burbe unb Sttachbrucf, „ich bin fo gut ba unb
fann mitreben wie ein anberer. ©o, jefet weift bu'«."
Der Änedjt, ber feinem $ifd) eine Stunbe bejaht tjatte unb bort ben
Herren fpielte, flanb auf unb fam herüber. Er mar ber tfldfferei mute.
„@eh heim in ©pirtel, wo bu f)»ngef)6rft!" fchrie er £urlüt an, nahm ben
Erfchrocfenen am Äragen, fdjleppte ihn jur ©tubenture unb t>alf ihm mit
einem Sritt tynaüt. Die ?eute lachten, fahen beluftigt ju unb fanben, e«
gefcheh* bem ©peftafler recht. Damit war ber Heine 3wifd)enfall abgetan
unb fie fuhren mit ©chwiren unb ©chreien in ihren wichtigen ©efprächen fort.
Der ©eilermeijter war feiig. Er »eranlafte ^tnfenbein, noch ein
legte« ®ld«chen ju fpenben. Unb ba er ben UBert biefe« neuen ©enoffen
erfannt tyattt, bemühte er fleh nach Gräften, (ich mit itjm anjufreunben, wa«
^infenbein fleh ruhig unb Iddjelnb gefallen lief. Diefer war »or 3eiten
einmal im #urlinfchen 3Tnmefen betteln gegangen unb »on bem Jßerrn
^abrifanten (Ireng hinaiiegewiefen worben. ^ro^bem ha^e er nicht« gegen
ihn unb ftimmte ben ©efchimpfungen, bie J^eller bem 2lbwefenben je$t an*
tat, mit feinem ©orte bei. dr war beffer al« biefe au« glüeflicheren Um*
flanben 4>erabgefunfenen baran gcw6hnt, ber 2ßelt ihren ?auf ju laffen unb
an ben ©efonberheiten ber Seute feinen ©paf ju haben.
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Hermann £effc : 3" ttt alten ©onne.
„?aß nur, ©eiler," fagte er abwehrenb. „Der J^urltn itf freilid) ein
Sflarr, aber nod) lang feiner »on ben übelften. X)a banf id) bod) fd)6n ba*
für, baß wir ba broben au* nod) butntne -ftanbei mtteinanber haben feilen."
geller merfte ftd) ba* unb ging gefügig auf biefen »erf6ljn liajen Jon
ein. tiö mar nun aud) 3eit 511m Xufbrecnen, fo gingen ftc benn unb tarnen
gerabc red)t jum 9?ad)teffen heim. Der $ifd), an bem nunmehr fünf Seute
faßen, bot einen gang ftattlid)en 2Cnblttf. Obenan faß ber ©triefer, bann
fam auf ber einen ©eite ber rotwangige J^olbria neben bem Mageren, »er*
fallen unb gramltd) audfeljenben .Durlin, ihnen gegenüber ber bünn behaarte,
pftfftge ©eiler neben bem ftbelen, Ijeadugigen ginfenbein. tiefer unterhielt
ben £au*»ater »ortrefflid) unb brachte ihn in gute Saune, jwifdjenein
madjte er ein paar ©pdße mit bem QMöben, ber gefchmeidjelt grinfte, unb
al$ ber $ifd) abgeräumt unb abgewafdjen war, jog er ©pielfarten Ijeraud
unb fdjlug eine Partie »or. Der ©triefer wollte e* oerbieten, gab e* aber
am (Snbe unter ber SDebingung ju, baß „um nid)t*" gefpielt werbe, ^infen*
bein lachte laut.
„Natürlich um nid)t$, #err ©auberle. Um waä benn fonfl? 3<h
bin ja freilid) oon .fpauö aud SRillionar, aber bae" tfl atteä in <$ürttnifd)en
3ftien braufgegangen — nid)td für ungut, «£err ^abrifant!"
Bit begannen benn unb baä Spiel ging aud) eine ©eile ganj fröhlich
feinen ®ang, burd) $at)lreicr>e Äartcnwipc bee* ^tnfenbetn unb burd) einen
»on bemfelben SJinfenbein entbeeften unb »ereitelten STOogeloerfud) bed
©eilermeifler* anregenb unterbrochen. 3fber ba fladj ben ©eiler ber«£aber,
baß er mit geheimnidoollen 2(nbeutungen immer wieber be$ Abenteuer* im
©ternen gebenfen mußte. Jßürlin überhorte e* juerjt, bann winfte er
ärgerlich ab. Da lachte ber ©eiler auf eine fchabenfrohe 3frt bem grinfen*
bein ju. J^urlin bliefte auf, fah baä unangenehme Sachen unb QMinjeln,
unb pldfclid) würbe ihm flar, baß biefer an ber $inau$merferei fcrjulb war
unb fld) auf feine Sofien luftig mache. Daö ging ihm burd) unb burd).
($r oerjog ben üftunb, warf mitten im ©ptel feine .Harten auf ben $ifd)
unb war nid)t jum üBeiterfpielen ju bewegen. Jpeücr merfte foforr, wae
lo$ war, er hielt ffd> oorjtchtig jrtU unb gab ftd) nun boppelt 3)? übe, auf
einem red)t brüberlid)en j^uß mit ^infenbein ju bleiben.
war nun alfo jmifdjen ben beiben alten ©egnern wieber aUei
»erfd)üttet, unb befto fd)limmer, weil Jßürlin überjeugt war, fttnfenbetn
habe um ben ©treid) gewußt unb ir>n anfliften Reifen. Diefer benahm ffdj
unoeranbert luftig unb famerabfd)aft(id), ba aber J^firlin ihn nun einmal
beargwöhnte unb feine ©paße unb Titulaturen wie jlommerjienrat, £err
»on J^ürlin ufw. ruppig aufnahm, jerftel in ©Albe bie ©onnenbrüberfdjaft
in jmei Parteien. Denn ber ^abrifant hatte ffd) alä ©d)laffamerab fd)nett
an ben blöben #olbria gewohnt unb ihn ju feinem ^reunb gemad)t.
SBon 3eit ]u 3eit brachte ^infenbein, ber aud irgenbme(d)en oer*
borgenen Duellen her immer wieber ein bißd)en f leine* ©elb im ©aef hatte,
wieber einen gemeinfamen Äneipengang in SBorfdjlag. 3Tber «Ourlin, fo
gewaltig bie Serlocfung für ihn war, hielt ffd) jiramm unb ging niemals
mehr mit, obwohl ed ihn empörte ju benfen, bap Jpcllcr befto beffer babet
wegfomme. ©tatt beffen hoefte er beim J£>olbria, ber ihm mit oerfldrtem
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Hermann .Seife : 3" «Ken Sonne.
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Vacbcln ober mit &ngjt(td) großen Bugen jur)6rte, menn er flagte unb fd)impfte
ober barüber phantafterte, ma« er tun mürbe, menn ihm jemanb taufenb
2)?arf Cterjc.
Sufa« #eUer bagegen l)ielt e« flüglid) mit bem fttnfenbein. fttUUtj
hatte er gleich im Anfang bie neue $reunbfdjaft in ®efar?r gebracht, dx
war be« 9*ad)t« einmal nach feiner ©emobnbeit über ben Kleibern feine«
(Schlaffameraben gemefen unb harte breißig Pfennige barin gefunben unb
an ffd) gebracht. Der beraubte aber, ber nicht fchlief, fab rub/ig burd)
balbgefdjloffene lieber ju. Um Qttorgen gratulierte er bem (Seiler ju feiner
^ingerfertigfeit, bie er höchlich lobte, forberte ihm bae ©elb mieber ab unb
tat, att mare e« nur ein guter ©cherj gemefen. Damit fyatte er oodenb«
2ftad)t über J^eller gemonnen, unb menn biefer an ir)m einen guten unb
luftigen &ameraben l)atte, fonnte er ifjm bocr) nicht fo unoermetjrt feine
jtlagelieber oorffngen mie «£ürlin bem feinigen. Sttamentlid) feine Sieben
über bie ©eiber mürben bem ftinfenbein balb langmeilig.
„'« ift gut, fag ich, (Seilerdmann, '« ift gut. Du bift aud) fo eine
Drehorgel mit einer emigen ?eier, tjaft feine SReferoemalje. 2Ba« bie ©eiber
angebt, baft bu meinetmegen recht. 2(ber ma« juoiel ift, ift juoiel. 9ttußt
bir eine SReferoemalje anfehaffen — mal ma« anbere«, meißt bu, fonft fannft
bu mir gefroren merben."
93or foldjen Ghrfldrungen mar ber ^abrifant ftcher. Unb ba« mar
jroar bequem, aber e« tat iljm nicht gut. 3e gebulbiger fein 3ur/ärer mar,
befto tiefer müblte er in feinem Qrlenb. Sfodj ein paarmal fteefte if>n bie
fouoerdne Sufttgfeit be« $augenid)t« ^infenbetn für eine (>a(be (Stunbe an,
baß er nochmal« bie großartigen J^anbbemegungen unb Äernmorte feiner
golbenen 3eit herwrlMigie unb übte, aber feine £anbe maren bod) alimdblich
jiemlid) fteif gemorben, unb e« fam ihm nimmer »on innen tjeraud. 3n
ben legten fonnigen £erbfttagen faß er jumetlen nod) unter ben melfenben
Apfelbäumen, aber er fchaute auf ©tobt unb Sal nimmer mit Stteib ober
mit Serlangen, fonbern fremb, mie menn all btefe« irjn nicht« mehr anginge
unb if)tn fernldge. @« ging ir)n auch nid)t« mehr an, benn er mar fid)tlid)
am 31brüften unb harre Innrer fuh nuhr* mcr)r ju fudjen.
Da« mar merfmürbig fdjneU über it)n gefommen. 3war mar er fdjon
balb nach feinem (Sturje, in ben bürftigen 3*it*n, ba bie „(Sonne" ihm »er*
traut ju merben begann, grau gemorben unb fyatte angefangen, bie SBemeg*
liebfeit ju oerlieren. 3(ber er r)4tte ffd) nod) jahrelang berumfd)lagen unb
manchen (Schoppen trinfen unb mand)e«mal ba« große ÜÖort am 3Birt«rifd)
ober auf ber ©äffe führen Ennert. (5« mar nur ber (Spittel, ber ir)m in
bie tfnte gefdjlagen hatte. 311« er bamal« fror) gemefen mar, in« 3ffol ju
fommen, hatte er nid)t btbad)t, baß er ftd) bamit felber feinen beften ftabtn
abfcrjneibe. Denn ot)ne *Projefte unb or)ne 3(u«fTcht auf allerlei Umtrieb unb
(Speftafel ju leben, baju r)atte er feine ©abe, unb baß er bamal« ber SRübig*
fett unb bem junger nachgegeben unb ftd) jur ?»uthe gefe$t harre, ba« mar
erft fein eigentlicher ©anfrott gemefen. 9?un blieb ir)m nid)t« mer)r al«
fein 3eit(ein PoDenb« abjuleben.
@« fam baju, baß Jßürlin allzulange eine 3Birt«t)au«eriftenj geführt
hatte. 2(lte ©emobnfjeiten, auch menn fte ^after ftnb, legt ein ©raufjaariger
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Hermann £efFe: 3n ber alten Senne.
nicht ohne (Schaben ab. £ie (?infamfett unb bie Jßanbel mit geller Ralfen
mit, ihn »oUenbt ftill ju machen, unb wenn ein alter SMagueur unb ©freier
einmal jlitt wirb, fo ift bat fd)on ber Ijalbe SBeg $um Kirchhof.
@t tjt unerquicflid), anjufel)en, wie ein in 9ttd)tigfeiten, «Prahlerei unb
(Selbflfucht alt geworbener SebentfünfHer geringer 3trt, flatt in bem ibm
jufommenben (Stil etwa bei einer (Schlägerei ober bei einem nachtlichen
.fceimwanbel üon ber Äneipe binjufatten unb ju »erfchwinben, auft lefcte
nod) trübfinnig wirb unb alt ^fufdjer auf bem ihm §eitlebent fremb ge*
wefenen ©ebiet bet (Sentimentalen enbigt. Allein ba bat tägliche ?eben
bod) unbeflreitbar ein gewaltiger dichter ifl unb alfo feine flnnlofe ÜBiDfür
üben fann, bUibt einem niebtt übrig ale jugufchauen, ftcf> ju perwunbern
unb ftd) bat befte babei ju benfen. Unb fd)ließ(td) hat bat ja an* feine
Sragif unb (Sd)6nbeit, wenn fold) ein lebenslang oerwaljrloftet unb rot)
gebliebene^ unb vergewaltigtet ©emüt ganj am <?nbe nod) rebelliert unb
fein 9Ud)t fjaben will, mit ungelenfen ^lügelfchlagen taumelt unb ffd), ba
ihm nid)tt anberet bUibt, wenigftent nod) an (Schwermut unb älage
erfdttigen will.
St war vielerlei, wat je$t an biefer rüben unb übel erlogenen
(Seele ju rütteln unb ju nagen fam, unb et jeigte ftd), baß ftc ungeachtet
ihrer früheren Starrheit unb ©elbjtherrltd)fett red)t wenig befefligt war.
Qtt J^autoater war ber erfie, ber feinen 3uftanb erfannte. 3«m Stabt*
pfarrer, alt biefer einmal feinen 3>efud) mad)te, fagte er achfeljucfenb:
„Ter .iruirltn fann einem fd)ier leib tun. Seit er fo brunten iß, jmtng
ich tb,n ja ju feiner Arbeit mehr, aber wat hilfst, bat fl$t bei ihm anfcer«
w&rtt. (5r finniert unb ftubiert ju mel, unb wenn id) biefe ©orte nid)t
fennen täte, würb id) fagen, *t ift bat fd)led)te ©ewiffen unb gefd)iel)t ihm
recht. Kber weit gefehlt! £t frißt ihn oon innen, bat ift't, unb bat halt
einer in bem Hilter nicht lang aut, mir werbest feb,en." 2luf bat t)in faß
ber ©tabtpfarrer ein paarmal beim ftabrifanten auf feiner (Stube neben bem
grünen 6pa$enfafig bet £olbrta unb fprad) mit ihm »om Seben unb (Sterben
unb oerfud)te irgenbein ?id)t in feine ftinfiernit gU bringen, aber »ergebent.
.£ürlin b^rte ju ober tfhttt nicht ju, niefte ober brummte, fprad) aber nichtt
unb würbe immer fahriger unb wunberlicher. $on ben ©igen bet ftinfenbein
tat ihm ju S^itc:: einer gut, bann lachte er leit unb troefen, fdilug auf ben
5ifd) unb niefte biQigenb, um gleich barauf wieber in ffd) hinein auf bie
verworrenen Stimmen ju horchen, bie ihn befchaftigten unb quälten, unb bie
er nicht »erjlanb.
9?ad) außen jeigte er nur ein ftilleret unb etwat weinerlich geworbenet
«ffiefen unb jebermann ging mit ihm um wie fonft. Sttur bem (Schwad)*
finnigen, wenn er eben nicht ohne Serjtanb gewefen wäre, tjatte ein Sicht
über J^ürlint 3uftanb unb Verfall aufgehen fonnen unb jugleid) ein ©rauen.
X)enn biefer ewig freunbliche unb friebfertige J^olbria war bet ^abrifanten
©efellfchafter unb ^reunb geworben, (Sie hoeften jufammen vor bem J&olj*
faftg, jtreeften bem fetten ©pa$en bie Ringer hinein unb ließen ftd) pirfen,
lohnten morgent bei bem je$t langfam hcranfommcnbeu ©interwetter am
leicht geheijteu Dfen unb fahen einanber fo oerflanbnitooll in bie QCugen,
alt würen fte $wei ©eife unb nicht $wei arme Ijofnungtlofe Stoma gewefen.
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Hermann $effe : 3" ber alten oonne.
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SD?an fleht manchmal, baß jmei gemeinfam eingefperrte 2Balbe$tierc einanber
fo anblicfen — je nadjbem man miß unb geftimmt tft, fann man ihren
©lief flumpfffnnig, brollig ober erfd)recfenb feelenooll ftnben.
3Öa* am l)efrig(ten an £ürlin jehrte, ba* mar bie auf J^cllcrd ÄnfHften
im ©ternen erfahrene Demütigung unb ©d)anbe. Tin bem 3Birt*tifd), mo
er lange 3«tcn faft taglid) gefeffen mar, mo er feine le$ten fetter f)atte
liegen laffen, mo er ein guter ©aft, £au*freunb unb 5Bortfüf)rer gemefen
mar, ba Ratten ©irt unb ©äfte ruhig unb mit ©elddjter jugefehen, mie er
hinaufwerfen mürbe. <5r harre co an ben eigenen Änodjen erfahren unb
fpuren muffen, baß er nimmer borthin gehöre, nimmer mitwähle, baß er
»ergeffen unb au*geftrid)en mar unb feinen ©chatten oon SXedjt mehr befaß.
$ur jeben anberen b6fen Streich hatte er gemiß an geller bei ber
erften (Gelegenheit 5Kad)e genommen. Uber bieämal bradjtc er nicht einmal
bie gemohnten ©djtmpfmortc, bie ihm fo I orfer in ber ©urgel faßen, t)erauÄ.
3Ba* fottte er itjm fagen? Der ©eiler mar ja ganj im SKedjt. ffienn er
nod) ber alte tferl unb nod) irgenb etma* mert mare, l)dtte man nid)t ge*
wagt tr>n im «Sternen an bie Suft $u fefcen. @r mar fertig unb fonnte
einwarfen.
Unb nun fdjaute er »ormdrt*, bie ihm beftimmte fdjmale unb gerabe
Straße, an ungezählten Leihen von leeren, bunflen, toten Sagen öorbei bem
Sterben entgegen, an ba* er halb fafl mit ©eljnfudjt, halb mit jorntgem
©raufen bad)te. Da mar alle* feftgefe$t, angenagelt unb oorgefdjrieben,
felbfroerßanblid) unb unerbittlich. Da mar nicht bie 2R6g(id)feit, eine $Mlan$
unb ein 'Papierdjen ju fdlfcben, ftd) in eine Xftiengefetlfdjaft ju oermanbeln
ober in ©otte* tarnen fld) burd) ©anfrott unb 3ud)tl)au* auf Ummegen
mieber ine Vcbcn hinein ^ufdilcid^ctt. Denn er mar je$t feine Air -na unb
fein 9*ame mehr, fonbern lebtglid) ein mürber alter SÄenfd), »or bem ber
Sbgrunb be* Unenblidjen fld) grauenhaft geöffnet hatte unb bem ber burre
Stippenmann fhll unb grinfenb ben SRutfjug »erfperrte. Unb menn ber ftabri*
fant auf »ielerlei Umftanbe unb Lebenslagen eingerichtet mar unb fld) in
fte ju ftnben mußte, fo mar er bod) auf biefe nidjt eingerichtet unb mußte
f?d) nicht in f?e ut ftnben, fonbern halb fdjlug er ungebarbig abroehrenb mit
fdjmadjen ©reifenarmen um ftd), balb flecfte er ben Jcopf in bie #änbe,
tnadjte bie Äugen ju unb jitterte in 21ngft »or ber unentrinnbaren gaufl,
bie er bejtanbtg feinem Warfen nahe fühlte.
Der gute ^infenbein, ba er allmählich ahnte, baß e* bei bem Ar.br:
fanten crbcblidi fpufe, gab ihm nidu feiten ein ermunternbe* SBBort ober
flopfte ihm mit gutmütig tröflenbem dachen auf bie ©cfjulter.
„Du, Oberfommerjienrat, jlubier ntdjt fo oiel, bu bift aflmeg gefdjett
genug, rjafl fo oiel reidje unb gefd>eite ?eute feinerjeit eingefeift, ober nidjt?
— 9tid)t brummen, #err 9Billiondr, '* ift ntd>t b6* gemeint. 3ft ba* ein
©prifcigtun — SBann ©otte*, benf bod) an ben tyiliQen 23er* über beiner
ttettlabe."
Unb er breitete mit pajloraler ffiurbe bie 31rme au* mie jum ©egnen
unb fprad) mit Salbung: „Äinblein, liebet eud) untereinanber !"
„Ober paß auf, mir fangen je$t eine ©parfaffe an unb menn fte ooQ
ift, faufen mir ber ©tabt ihren fd)äbigen ©pittel ab unb tun bad ©chilb
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Jpcrmann #effe ! 3" btt alten ©ottne.
rau* unb machen bie alte Sonne mieber auf, baß &I in bie franft ÜRafthine
fommt. 2Ba* meinft?"
„ftünftaufenb 9ttarf wenn wir Ratten — " fing £urlin $u rechnen an,
aber ba ladjten bie anberen; er brad) ab, feufjte unb ftef in fein «Brüten
unb ©tieren jurücf.
5Bäf)renb e* »ollenb* ©inter mürbe, fal) man ir?n fHller unb rurjefofer
werben. <5r harre bte ©emotjntjeit angenommen, tagau* tagein in ber ©tute
hin unb mteber \u traben, einmal grimmig, einmal angftöotl, ein anbermal
(auemb unb tuefifd). ©onft aber ftörtc er niemanb. Der Jßolbria (eiflete
ifjm häufig ©efeflfehaft, fd)Ioß fid> in gleichem Sritt feinen Dauerläufen
burdi* 3immer an unb Beantwortete na* Gräften bte SMicfe, @ejlifufationen
unb ©eufjer be* unruhigen ©anberer*, ber befiänbig »or bem böfen ©eifte
auf ber flucht mar, ben er bod) in fleh trug. ©enn er fein Vcbcn lang
fdjminbelljafte SKoflcn geliebt unb mit roedrfelnbem ©lücfe gefpielt Ijatte, fo
mar er nun baju »erurteilt, ein »erjmeifelt traurige* (Snbe mit feinen
ban*murftmaßigen Sanieren burchfpielen ju muffen. <§r fpielte benn auch,
miferabel unb läd)erlid> genug, aber menigflen* mar bie Stolle ed)t unb ber
frühere «Pofeur trat nun jum erflenmal unb nicfjt ju feinem SJorteü olme
2tta*fe auf. Die 3fl)nung be* Umigen unb ber Dürft nad) bem Unau**
f»red)lid)en, ber aud) biefer ©eele eingeboren unb ein ganje* Sehen fang
»ergeffen unb »ernad)ldffigt morben mar, fanb nun, ba er überquoll, nach
feiner ©eite f)in feinen 2Tu*brucf unb gebdrbete fiefj in ©rimaffen, Q5e*
megungen unb Zornn feltfamfier 3frt abfurb unb lächerlich genug. Uber
er mar boeb eine echte Äraft, unb biefe* ftd> felber nicht »erfterjenbe Sterben*
trollen mar gemiß feit Jahrzehnten bie erfte großartige unb im höheren Sinn
vernünftige Regung biefer geringen ©eele.
3u ben (Sprüngen unb Kapriolen be* au* bem ©eleife ©efommenen
gehörte e*, baß er neuerbing* mefyrmal* am Sage unter feine SÖettftart froch,
ba« alte ©onnenfcfn'lb rjert)orr)oJte unb einen fe{jnfud)tig ndrrifchen tfultu*
bamit trieb, inbem er e* halb feierlich »or fid) fjertrug mie ein rjeilige*
©efjauftuef, balb »or fid) aufpflanjte unb mit »erjutften Bugen betrachtete,
halb routenb mit Barnten fctjlug, um ce bann mieber forglid) 511 miegen, ju
liebfofen unb enbltch, an feinen »erborgenen Drt juruef ju bringen. TM er
biefe f»mbolifd)en hoffen anfing, »error er feinen 9le(l »on Ärebit bei ben
©onnenbrubern unb mürbe gletd) feinem ftreunbe Jf?>olbria al* »dlliger 9carr
betjanbelt unb befprodjen. Sttamentlid) ber Seiler fah ihn mit unverhohlener
Verachtung an, fydnfelte unb bemutigte tf>n mo er fonnte unb Ärgerte fleh,
baß .frürfin ba* faum ju merfen fdjien.
Einmal nafjm er irjm fein ©onnenfdjilb unb »erflecfte e* in einer
anberen ©tube. 3H* £urlin e* Ijolen mottte unb nid)t fanb, irrte er eine
3eit im £au* umfjer, bann fud)te er mieberfyolt am alten £>rte banad), bann
bebrol)te er ber SRetye nach aUe £au*genoffen, ben ©triefer nid)t aufgenommen,
mit mad)tlo$ mutenben iXeben unb Sufthjeben, unb aU alle* ba* nid)t* tfalf,
fe$te er ffd) an ben $ifd), legte ben Stopf in bie J^dnbe unb brad) in ein iammer*
»oDe* beulen au*, ba* eine halbe ©tunbe bauerte. Da* mar bem mitleibigen
^infenbein ju »ie(. <£r gab bem gu ^ ob erfchreefenben ©eiler einen mächtigen
gauflljieb unb jmang if)n, ba* »erflecfte Äleinob foajeich herbeigubringen.
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Hermann #efFe : 3n ber alten ©enne.
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£er jdbe ^abrifant f>dfte trofc feiner faft weiß geworbenen £aare
nod) mand)e Satjre leben f6nnen. 2fber ber ÜBiBc jum Sterben, ber wenn
an* unoerflanben in ihm axbeitttt, fanb balb einen 2(u$meg unb madftt
ber unfd)6nen tragifdjen tfomdbie ein ermünfdjteä @nbe. 3n einer £ejember*
nadjt fonnte ber alte Üttamt jufdllig nidjt fdjlafen. 3m ©ett aufftfcenb gab
er ftd) feinen 6ben ©ebanfen l)in, flierte über bie bunflen ÜBdnbe r>tn unb
tarn ftd) »erlaffener vor alt je. 3n Langemeile, 2fngft unb Sroftloftgfeit
flanb er fcf)[te0(tcf) auf, ofyne red)t ju roiffen waä er tue, nejtelte feinen
hänfenen jpofentrdger loi unb hängte ftd) bamit gerdufd)lo$ an ber Türangel
auf. <2o fanb ir>tt am SÄorgen ber J^olbria unb ber auf be$ Marren
dngflltd)e$ ©efd)ret fyerubergefommene J£»au$»ater. Da* ®ejtd)t roar ein
wenig bldulidjer geworben, fonft war wenig baran ju enttfeüen gewefen.
Sdjrecfen unb Überrafchung waren nid)t flein, aber »on ferjr furjer
2>auer. SRur ber ©djwadjfmnige flennte leife in feinen Jtaffectopf hinein,
alle anberen wußten ober fugten, baß biefed Qrnbe be$ ^abrifanten nidjt jur
unrechten 3*it gefommen war, unb baß ei weber jur Älage nod) jur ©ntrüjtung
hinreidjenbe SBeranlaffung biete. 3fud) batte it)n ja niemanb lieb gehabt.
Natürlich jturjten ftd) aud) ein paar lumpige ffiinfelrebaf teure auf
ben intereffanten $a\l unb teilten in ihren Sdjunbbldttlein ben Lefern nebft
ben nötigen moralifchen Vollhaftern bie $atfad)e mit, baß ber einft nidjt
unbekannte ©anfrotteur Äarl J^iirlin nunmehr oerbientermaßen im Tfrmen*
fjauä aU Selbflmorber geenbet rjabe.
3Bie feinerjeit ber ftinfenbein al$ oierter ©a(t in ben Spittcl gefommen
war, hatte man in ber Stabt einige Älagen barüber oernommen, baß baö
faum gegründete 3ff»l ftd) fo ungehörig rafd) beodlfere. Sttun war fdwn
einer »on ben Übersteigen »erfdjwunben. Unb wenn e$ wahr ijt, baß bie
Armenhäusler meiftenö merfwürbig gebeihen unb ju tjoljen 3af)ren fommen,
fo ifl eö bod) ebenfo wahr, baß feiten ein Lod) bleibt wie eö ift, fonbern
um ftd) freffen muß. So ging eä aud) hier ; in ber faum erblühten Lumpen«
folonie war nun einmal ber Sd)wunb ausgebrochen unb wirfte weiter.
3undd)fl fd)ien freilid) ber ^abrifant »ergeffen unb fonft alle* beim
alten ju fein. Lufad geller führte, foweit ftintenbein e* juließ, ba$
große 3Bort, madjte bem Stricfer ba* Leben fauer unb wußte »on feinem
bißdjen Arbeit nod) bie £dlfte bem willigen £olbria aufjutjalfen. So füllte
er ffd) ferjr mohi unb Reiter, begann ficf> im 9?efle warm ju fTfcen unb be*
fd)loß, unter fo bel)aglid)en Umftdnben ffd) feine Sorgen ju mad)en unb
jedenfalls nod) reichliche jähre in biefem Wohlleben ju »ermeilen, ber
©emeinbe jum 'Ärger unb ffd) jum IMdffer. dt war nun, nach £ür(in£
Hobe, ber dltefie oon ben Sonnenbrubern, fühlte ftd) gang heumfeh unb
hatte nie in feinem Leben ftd) fo im fönftang mit feiner Umgebung unb
Lebenöjtellung befunben, beren ob aud) Ärmliche, bod) fturmf7d)ere ^Knhc unb
Trägheit ihm 3eit ließ, fid) ju behuen unb $u fühlen unb ftd) a(* ein
ad)tung«werter unb nid)t unwefentlid)er 5eil ber ®efellfd)aft, ber Stabt unb
bed ÜBeltganjen »orjufommen. 3hm war ed feelenwof)! babei, ben Umtrieb
hinter ftd) unb »or ftd) bie 3fudftd)t in trdge, forgenlofe 3ab,re ju fabelt.
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446
Hermann £effe : 3n ber alten ©onne.
3fnber* erging e* bem ftinfenbein. £a* ibeale ©Üb, ba* feine lebhafte
^>l)antaftc fld) einft oom ?eben eine* ©onnenbruber* erbaut unb t>errltd»
ausgemalt Nute, mar ganj anber* geroefen al* ma* er in 3Btrfttd)feit hier
gefunben unb geferjen Ijatte. %war blieb er bem Änfeben nad) ganj ber
alte Setditfu^ unb ©paßmadjer, genoß freubig ba* gute ©ett, ben »armen
£)fen unb bie folibe, rcicMidjc &oft unb fernen feinen SDtangel 511 empftnben.
(?r brachte aud) immer mieber bon gef)eimni*»ollen 2Tu*flugen in bie ©rabt
ein paar Wiefel für ©cfjnap* unb Sabaf mit, an metdien (Sutern er ben
(Setter ohne ®ei$ teilhaben ließ, 2lud) fehlte e* ihm feiten an einem 3*it*
»ertreib, ba er gaßauf gaßab jebe* ®eftd)t rannte unb worjlgelttten war,
fo baß er in jebem Vorgang unb oor jeber Sabenture, auf fcruefe unb ©reg,
neben ?ajtfur?ren unb ©djiebfarren l)er, fomie im Sternen, im Seuen unb
im fdjarfen dd jeberjeit mit jebermann jtd) be* ^laubern* erfreuen fonnte.
Sroßbem aber war il)m nid)t red)t mot)l in feiner «£aut. Denn ein*
mal waren geller unb #oIbria al* tagltdje Äameraben oon geringem $Öert
für ihn, ber mit flotteren unb ergiebigeren beuten umgeben fonnte, unb bann
brüefte tf>n je langer je merjr bie SRegelmaßtgfeit biefe* bebend, ba* für
2tuf|leben, (Sffen, Arbeiten unb 3ubettgerjen fefle ©tunben »orfd)rieb. ©efjlicß*
luii, unb ba* war bie J£auptfad)e, war bie* Seben $u gut unb ju bequem
für ir>n. dr war gewohnt, #ungertage mit ©djlemmertagen ju med)feln,
NUb auf Sinnen unb ba(b auf ©tror) ju (d)Iafen, balb bewunbert unb ba(b
angefct)naujt ju werben. @r war gewohnt, nad) «Belieben umtjerjuftreifen,
bie ^olijei ju furcfjten, fleine ®efd)dfte unb ©treibe an ber Äunfel ju tjaben
unb oon jebem lieben Sag etwa* 9?eue* ju erwarten. fctefe $reit)eit,
2lrmut, ©emeglicfjfeit unb beflanbige ©pannung fehlte ü)tn rjier »ollfommen
unb balb fat> er ein, baß ber mit vielen ?i(ien unb ©djifanen ermöglichte
Eintritt in ben ©pittel nid)t, wie er gemeint rjatte, fein 0Äetfterftucf,
fonbern ein bummer ©tretd) mit betrüblichen unb lebendlangen folgen
gewefen mar.
freilief), wenn e* in biefer #inftd)t bem ginfenbein wenig anber*
erging al* oorfyer bem ftabrifanten, fo war er in allem übrigen bejfen
fertige* ©egenteil. $or allem lieg er ben Äopf nidjt fangen wie immer
unb ließ bie ©ebanfen nid)t ewig auf bemfelben leeren gelbe ber Trauer
unb Ungenüge grafen, fonbern rjielt jtd) munter, ließ bie 3ufunft moglidffi
außer 2tugen unb tanbelte fld) leichtfüßig »on einen Sag in ben anbertt.
Orr gemann bem ©triefer, bem ©impel, bem ©eiler geller, bem fetten
©perling unb ber ganjen ©adjlage nad) SD?6glid)feit bie ftbele ©eite ab unb
rjatte au* feinem früheren Seben bie bequeme a3trtuofengewol)nl)eit herüber*
gebracht, niemal* über bie gegenwärtige Sage hinau© ^tdne $11 machen unb
ffiunfdje unb Hoffnungen $u »eranfern. rannt gelang e* ihm aud) jetjt
nod), ba er bod) für allezeit »erforgt unb oerjTchert war, ba* Seben ber
SJöglein unb fliegen ju führen, unb ba* tat nid)t ihm allein, fonbern bem
ganjen J£aufe gut, bejfen tdglidje* Seben burd) ilm einen #aud) »on %rti*
ffnn unb jierlidjer #eiterfeit befam. Den fonnte e* freilief) n6tig brauchen,
benn jur Erweiterung unb 93erfd)onerung ber gleichförmigen Sage Ratten
©auberle unb fetter au* eigenen Mitteln ungefdljr fo wenig wie ber gute
SBafferfopf ^olbrta beijufleuern.
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Hermann J^>cffe : 3n Oer alten Sonne.
447
<ii liefen alfo bie Sage unb ÜBochen fo letbltd) hm, unb wenn eä
nicht immer frcbltd) herging, gab eö bod) aud) feine Jpdnbcl unb Argerniffe.
Der $au*pater fchaffte unb forgte (Tel) müb unb mager, ber Seiler genoß
etferfucfjrig fein billige* ÜBohlfein, ber ftinfenbein brüefte ein 2Cuge \u unb
hielt ftd) an ber Dberfladje, ber £olbria blühte in ewigem Seelenfrieben
unb nahm an Siebenämürbigfeit, gutem Appetit unb Beleibtheit taglich $u.
Da« 3b»a »Are fertig gewefen. Äflein e$ ging inmitten biefed nahrhaften
^rieben* ber Magere ©eift be$ toten ftabrifanten um. Da* £od) mußte
um f?d) freffen.
Unb fo gefd)at) eö an einem SBittwod) im Februar, baß t'ufaä fetter
morgend eine Arbeit im «£oljflaU ju tun harte, unb ba er noch immer nicht
anbert alä ruefweife unb mit langen Raufen fleißig fein fonnte, fam er in
Schweiß, ruhte unter ber 3ure aud unb befam Ruften unb Äepfmeh. 3u
Wittag aß er faum bie #dlfte wie fonft, nachmittag^ blieb er beim Ofen
unb ganfte, hufiete unb fluchte gewaltig, unb abenbö legte er ftd) fdjon um
ad)t Ub,r in* ©ett. 2(m anbern ÜÄorgen holte man ben Softer. Diesmal
aß J?eller um «Wittag gar nicht*, etwa* fpater ging ba* lieber lo*, in ber
9iad)t mußten ber ginfenbein unb ber £au*pater abwedjfelnb bei ihm wachen.
Sag* barauf ftarb ber (Seiler bahin, wiberwillig, neibifd) unb fetne*weg*
gebulbig unb Idrmlo*, unb bie Stabt mar »ieber einen Jtoftganger lo* ge*
werben, ma* niemanb ju Serbruß gereichte.
8ic foUte cö aber halb nod) beffer befommen. £* brach nämlich im
STOdrj ein ungewöhnlich frühe* Sommerwetter unb ÜBad)*tum an. Die
großen Berge unb bie Meinen Straßengraben mürben grün unb jung, bie
Straße mar Pon ptdftlid) aufgetauchten Hühnern, ernten unb Jßanbmerf*«
burfeften frdhlid) beo6lfert unb burd) bie Wie jtürjten fid) mit freubigem
Schwünge große unb Heine S6gcl.
Dem ginfenbein war e* in ber junehmenben Sereinfamung unb Stille
be* J£>aufe* immer enger unb bänglicher um* 4>erj geworben. Die beiben
SrerbefdUe fchienen ihm bebenfltd) unb er fam fleh immer mehr wie einer
»or, ber auf einem unterffnfenben Schiffe al* ?e$ter am Seben blieb. Sttun
roch unb (ugte er ftünblid) jum $enfter hinaitö in bie SBdrme unb milbe
Aruhjahräbldue hinein. <£* gdrte ihm in alten ©liebem unb fein jung ge*
bliebene* #erj, ba es ben lieben Jaibling witterte, gebad)te alter Reiten
unb begann ju uberlegen, ob nicht auch ihm bei biefem allgemeinen Duellen,
Sproffen unb SBohlergehen vielleicht ein ?enj befchieben fei.
Sine* Sage* brachte er aud ber Stabt nicht nur ein iWcflein Sabaf
unb einige neuefte Sfteuigfeiten, fonbern aud) in einem fchdbig alten 2Bad)**
tücMctn jwei neue Rapiere mit, welche jwar fdumc Schndrfel unb feierliche
blatte 2fmt*(tempel trugen, aber nicht Pom SRatbau* geholt waren. 9Bie
follte auch ein fo alter unb fühner Sanbfabrer unb Sürflinfenpufcer bie jarte
unb geheimnidoolle tfunft nicht »erflehen, auf fauber gefdjriebene alte Rapiere
beliebige alte ober neue Stempel ju ubertragen. Sticht jeber fann unb weiß
e*, unb e* geboren feine Ringer un0 eine flUte Übung baju, Pon einem
frifdjen @i bie bunne innere Jßaut ju Idfen unb mafello* audjubreiten, bie
Stempel eine* alten #eimatfd)ein* unb SBanberpaffe* barauf abgubruden
unb reinlich pon ber feuchten ^aut aufd neue Rapier ju übertragen.
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448
Hermann £effe : 3n ttr alten Sonne.
Unb wieber eineö Saged war Stefan ftinfenbein ohne Sang unb Älang
au* Stabt unb ©egenb »erfchwunben. dr tjattc auf bie Steife feinen l)ol)ett,
(reifen Srraubingerhut mitgenommen unb feine in Billiger 3ufl6fung be*
griffene alte ffiollenfappe al$ einjigeä Änbenfen jurücfgelaffen. £ie fceh&rbe
fleHte eine Heine oorflchtige Unterfud)ung an. £>a man aber balb gerücht*
weife ocrnahm, er fei in einem benachbarten Cberamt (ebenbig unb oergnugt
in einer beliebten Äunbenherberge erblicft morben, unb ba man fein 3nterefe
baran hatte, ihn ebne Slot $urücfjuholen, feinem etwaigen ©lüefe im ÜBeg
,u flehen unb ihn auf Stabtfoflen weiter ju füttern, mürbe auf fernere
2Rad)forfd)ungen flug üerjidjtet unb man lief ben lofen Soge! mit ben beflen
ÜBünfchen fliegen wohin er mochte. (£& tarn auch nach fed>d $Boef)en eine
«Poflfarte »on ihm aud bem $5a»rifchen, worin er bem ©triefer fchrieb:
„Seester J£err Sauberle, ich bin in SBanern. (Sä tfl ^ier jiemlicf) fditer.
ffiiffen Sie ma$? Pehmen (Sie ben £olbria unb feinen Spafc unb raffen
fie für ®elb feben. UBir fännen bann mitnanber brauf reifen. 3Öir bangen
bann bem £ürlin felig fein Schilb rau$. 3f)r getreuer Stefan ftinfenbein,
$urmfpi$enoergolber."
Vielleicht hatte in bem faß geteerten Sflefle baö SBerbangnte nodj weiter
gemutet, aber ber bermalige le$te Sennenbruber Jßolbria mar allju fchufbloä
unb allm fephaft. @6 ffnb feit Jßetlerd $obe unb Ainfnibcinö 3luä$ug
funfter/U j>abrc »ergangen unb ber $Sl6be baufr noch immer feifl unb rot»
baefig in ber ehemaligen Sonne. &v ifl juerfl eine 3«tfang allem geblieben.
£>ie zahlreichen Giranten gelten ftch eine gute 2Beile befcheiben unb ängjilich
juruef, benn ber fcrjaueroolle Sob beä ftabrifanten, baä fchnelle ©egfterben
be$ jähen Seiler« unb bie gludjt $tnfenbetn$ Ijatten ffd) jur allbefannten
Vortrat gemattet unb umgaben etwa ein halbes 3abr fang ben 2Bohnfi$
be$ SMäbftnnigen mit blutrunfligen Sagen unb SchrecfenÄgefchichren. 2TQein
nach biefer 3*if trieb bie 9?ot unb bie Srdgbett wieber manche ®afle in bie
alte Sonne hinauf unb ber #olbria tu oon ba an nie mehr allem bort
gefeffen. $uriofe unb langweilige trüber bat er fommen, miteffen unb
flerben feben unb ifl jurjeit ber Senior einer Jßauögenoffenfchaft »on fieben
äumpanen, ben Hausvater nicht mitgerechnet. 2(n warmen, angenehmen
Sagen ftct)t man ftc häufig oolljahlig am 9lain be$ ©ergftrafjleine" h«>cfen,
Heine Stummelpfeifen rauchen unb mit oerwitterten ©ejTchtern unb »erfchteben*
artigen ©efuhlen auf bie injwifdjen talauf unb talabwärts etwa* großer
geworbene Stabt hiuunterbltcfen.
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5)er VDüftenitittt.
SBon 2(bam SWicfiewicj.
Deutfd) ton ©iegfrieb Sipiner in Sien.
ffiie fröfyltd) ba$ ©oot, wenn e* bem ¥anb entflogen,
Sich wieber auf ber blauen SWeerflut wiegt,
SWit lujternem SRuber ityre 35ru|l umfdjmiegt,
"30?it fdjlanfem 3direancnhalö bingaufelt über bie SBogen:
<Bo ber Araber, wenn er vom ^elfenranb
Sein SKoß hinabfprengt inö weite SEBujtentat,
Dag, wie im SÖafier Reißer ©tal)!,
Dumpfjifd)enb bie J^ufe perflnfen im ©anb.
@d)on fdjwimmt mein Ütoß im troefnen SÄeer bat)in,
Tic fdrnigen fluten teilenb, wie ein Delphin;
immer fdjnefleren, fdjnefleren ©djwungä
Über ben Mied t)infegenb jagt e$,
3mmer leeren, I)6l)eren (Sprung*
Uber bem 5Birt>el beä ^lugfanbd ragt ed.
SRein Stoß i|t fdjmarj, ber Sffiolfe gleid), ber wettertrddjtigen,
Die SMdffe gleicht bem 9Äorgenftern, bem liebltd)*prdd)tigen ;
Dem Spiel ber SOinbe beut ee bar ber ©trauflenmdfyne üppigeä J>aar,
Unb $Mi$e »irft'd oorn weißen #uf im $lug, im mddjtigen!
J^ebe bid>, Oöei^uf, fjebe bid) frei!
3l?r fcerge, it>r SBdlber, »orbei, porbei!
9J?ir winft fo toefenb bie >Pafme ju
2Wit tabenben ^rud)ten, mit ©djattenrulj :
Vorbei ! id) reife mid> lod!
3n ©d)am entflieg jte, — wifpert jum £ol)ne
Dem ©toljen nad) au« ber SMdtterfrone,
Unb ffnft in ber Oafe <5d>o0. —
Die ber #eibe Saum bemadjen, ein ftoljer 9BaO,
Die Reifen Miefen witb auf ben ÜBüjlenfobn;
SRadjdffenb be* ^»uffdjlagd legten ÜBiberljatl
tÄffo murmeln jie unb brolj'n:
„ÜBofjin reißt eö ben rafenben $oren?
ÜBo ^euerregen Pom J^immet fdllt,
ÜBo ber Sonne Pfeile in* #aupt f«d) bohren, —
5öo nidjt bie «Palme, grünbefyaart,
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450
'Xbam SDttcftewtcj : £er SBüfteitrciter.
9iid)t ein fdjimmernbeä 3*lt it)n watjtt:
(Sin 3elt ift bort — ba* J&immelfyelt.
Dort nddjtigt niemand alä ftelSgejtein,
Dort lagern im freien bic ©terne allein."
SBormartä! Drof)e, »ad brofyen mag!
3d) »erbopple ber #ufe ©djlag.
©ief)e, bie Reifen, bie mid) gefd)rerft,
Die ftol$en, ffnb fd)on bahnten n>eit;
$lief)en in langer 3"le gereift,
(£iner hinter bem anbern »erjiecft.
Der ©eter oernaljm ff« — : ba l)at*$ iljm flar gefdjienen,
Umfangen in ber SßBüjtc merb1 er ben SBebuinen!
Unb auf jur 3agb, mir nad) bie ftlugel fdjwang er,
Dreimal in fdjwarjem tfreid mein #aupt umfdjlang er.
„$eid)enbuft, fradijt er, loittr' id) runbum,
Der Leiter bumm, ber Kenner bumm, —
Der Leiter fud)t feinen 2Beg im ©anb,
Der Stenner fudit n>ot}( SBeibel anb;
JD SReiter, o SK6ßlein, »erlorene$ treiben!
SßJet einmal Ijerbrang, muß t)ier bleiben.
Der ©turmwinb fd)weift auf ben Söegen ber £eibe,
Dorf) mit fid) tragt er feine ©pur;
SRidjt für Stoffe ift biefe OBeibe,
Stabe ijl fie für ©drangen nur.
<$ier nächtigt niemand alö Sotengebein,
£ier lagern im freien bie ®eier allein."
Unb er wagt' e$, mit blifcenber Pralle mir in bie Äugen ju pra!)lrn,
Unb 2Tug' in 2tuge fatj'n wir und ju breien SBalen.
ÜÖem warb bang? bem ®eier warb bang —
Daß er fid) (traefd l)od> in bie ?ufte fdjwang!
Unb wie id) ben Söogen fpannte, bie $red)l)eit ju aljnbcn,
Unb t)inter midi fdjaute jurütfe,
Um nad) bem ®eier ju fafynben:
©djon hing er, ein graulicher ^Punft, in ber £uft,
ÜBie ein ©perling groß, — ein ©dmietterling, — eine SButfe —
93i$ er gang $erfd)molj im blaultdjen Duft.
£ebe bid), SÖeißljuf, l)ebe bid) frei!
Sorbei, iljr Reifen — ifyr ®eter, »orbei!
Da, unter ber ©onne Ijeroor fam bie SBolfe M UBejten* geflogen,
Sagte mit weißer ©djwinge mir nad) am £immel$bogen, —
©te wollte broben gelten al$ £tmmel*Durd)fturmerin,
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Utam 50?tcfi'e»ici : Der SBüftenreiter.
451
Sjßie id) ber J^eibe Durd)ftürmer bin!
Über bem Jpaupt mir blieb fte fangen,
3C!fo »ifpernb bie ÜÖorte, bie bangen:
„$ßot)in ret^t e* ben rafenben $oren?
3Bo bie brennenbe ©ruft fein Kröpfen le$t,
Äein Siegen, au* l)immlifd)er 5Öolfe geboren,
Die fanbbebetfte ©tirne nefct;
Die feimlofe $lur burd)tönt fein Duell
mt Sauten, lieblid) unb (Überall,
Den $au, ttf er jur (Srbe rinnt,
UBegfaugt tljn flug* ber hungrige SEBinb."
SSormärt*! Drolje, »ad broljen mag!
3d) »erbopple ber $ufe *Sd)lag. —
Die 2Bolfe, fte roanft, — wirb muber unb muber,
©enft tiefer, tiefer bie (Stinte tyernieber,
SM* fic matt auf bie Reifen gelefynet lag.
Unb nun »erriet fte, roa* fte geljecft für 3(rg:
Üßie bie 9t6te ber ©o*l)eit in* 2(ntli$ il>r fdjoß,
ffiie bie ©alle bc* 9?eibe* ffe überflog,
9M* fte fdjroarj warb, wie ein Seidjnam, unb in ben fcergen ftd) barg.
£ebe bid>, $Bet0t)uf, fjebe bid) frei!
3l)r ®eier, iljr SÖolfen, »orbei, »orbei!
Unb über ber (Sonne SRunbbaljn fdjmeifte je$t
«Kein 3Cuge fudjenb untrer,
Db am Gimmel, auf Grrben nod) jemanb mid) f>e$t:
dlun faf> id) niemanb meljr.
#ier liegt bie ©d)6»fung in ©djlaf gcfrretft,
SSon menfd)lid)en dritten nie gewecft;
©tili träumt hier jeglid) Clement,
3Bte ba* Uöilb, ba* nod) feinen Sdger fennt,
Da* nid)t in 2lngft von bannen fliegt,
2Öenn e* ben erften Sttenfdjen fiel)t.
O @ott! 3d) bin l)ier ber erfte nid)t!
Äuf fanbigem SGBerber, »erfdjanjt im $rei*,
3Ba* für £eerfd)ar blinft bort im 2id)t?
SBerirrte? SKäuber, bie lauernb fd)leid)en?
Die Weiter in 2Bei£, — bie *Pferbe fo graunhaft weiß!
3d) fpreng' auf fTe ju — fte ftefjen in 9luf)';
3d) rufe fte an — fein Saut, fein 3eid)en:
Da* ftnb Seidjen!
<£ine alte Äarawane
2fu* bem 6anb gemüht oom 2Öinb:
Än6d)ernc Weiter auf fnädjernen Äamelen;
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452
Warn 90ticfKHWC|: Der 2öüflenretter.
Durd) bte äugen [ofen fehlen,
Durd) Die nürlctfditen liefern rinnt
Siafdjelnb ber ©anb — mit fdjrecflidjem 9J?aljnen
Unljeimlid) fnirfdjt er in mein £)t)r:
„©ebuine, finntofer $or,
2Bem renntf bu entgegen? ben Drfanen!"
23orn>art*! $D?id) fdjrccft'd nid)t, n>a* e* aud) fei!
#ebe bid), SEBeißfjuf, bebe biet) frei,
Veidien — ßrfane, »orbei, »orbei!
Der Orfan, ber fd)Kmm|te SBütrid) au* Xfrifa* ÜBüftenbranb,
©djlenberte einfant über bera ftrubelnben ©anb;
58on fern erb lieft er midi — ba ftufct er, ba üaunr er,
Unb ftd) im $rei* umfdjmtngenb, fo 5 it j!d) felber raunt er:
„$Öa$ für ein (Sturm ijt ba* bort, uon meinen jungem trübem,
SWit biefem ÜBud)*, bem »innigen, — biefem ^lug, bem niebern?
Der wagt1*, bie £anbe ju treten, bie id) jum Qrrbe gewann?"
fcrüuY auf unb al* «Pnramibe jog er auf mid) Ijeran.
Unb al* er fal), baß ief) fterblicfjer 3frt,
Unb baß mir nidtf bange warb:
Da Ijat er t>or 9ßut auf ben ©oben geftampfr,
Daß ganj Arabien in ©taub gebampft.
Unb über mid) hergefallen,
SBie ein ftalf auf ben iXaub, paeft er mid) mit ben Prallen, —
©engt mit bem TTtcm, bem SÖranb'fdjnaubenben,
-pettfdu mit ben klügeln, ben ©anb«ftaubenben,
(Smpor mid) wirft er, nieber mid) (türmt er,
Labungen Äie* auf* Jßaupt mir türmt er.
Dod) id) raffe mid) auf — an ben $eib rücf id) iljm,
Die geringelten ©lieber jerftüd' id) il)m,
Den fieftgen «f 6rper in gefcen jerreiß' id),
2»it »ütenben 3at)nen bie ©ruft il)m jerbeiß' id); —
Da — au* meinen Ärmen Ijimmelwdrt*, faulengteid) reeft er ffd):
ftretfommen woßt' er — nid)t fam er frei!
bitten im Setbc reißt er entjmei,
©türjt, fpeit »on oben »ud)tigen ©anbregen* ©d)maH, —
Sttun, nue ein riejTger 2BaU,
3u meinen %h$t% ein tfeidmam, ftreeft er ffd).
Dd) atmete auf! 3n bie !)immlifd)e $erne
©tolj f)ab' id) ben ©lief ju ben ©ternen gefd)icft:
Unb nc alle mit golbenen Äugen, bie ©terne,
3fße tyaben auf mid) gebtieft.
Denn im ganzen irbifdjen Umfrei* hier
3Bar nun niemanb, außer mir.
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Valbert (Stifter: «riefe an £einrid) Würfel.
453
#ier au* bem 3nner(ten tief aufatmen — roeldje £ujt!
SBeit atm' id), breit au* »oller ©ruft,
£ag meinem 3ftem faum genügen fann
£a* ganje ^uftmeer oon 2frdbiftan!
SRit ber 2fugen ganjer ©et)fraft fdjau'n f)ier — roetdje ?ufl!
ÜBie ffe ficf> öffnen, rote ftcf> weiten
Dabin in bie Unenb(id)feiten —
£>af; mehr ber ffielt mein ©lief in* Buge bannt,
2CI* ring* ber J&orijont umfpannt.
SDftt aller SD?ad)t feine 2lrme flrecfen l)ier — meierte Suft!
©egen bie 5Öelt r>in flrecft' id) fte freunblid) unb (jolb,
211* roenn id) »om Dften jum «Bf (Im ffe umfangen fo&Y!
9>feilfd)arf in ben oberen Äbgrunb flog mein ©ebanfe »on binnen,
@mpor, empor, empor — bi* an be* £immel* 3innen;
©leidjroie bie ©iene il)r #erj laßt, ba roo jTe ben ©tacfjel üerfenfet,
©o t)aV id) mit meinem ©ebanfen mein ?eben im Gimmel ertrdnret!
J>k Bttlh lalk GfldÜ EAlBk UHl IHM 14» I4| Jk UM EASfe EAJM EflLMl iMJm. CMJm. tA1>k (AJM CAM\ CAJA MJMi UMM
3Drei Briefe Valbert Stiftete an feinen Steunfc
t>en tttalet 6einci(|) BücEel.
3Ritgcteüt ©on Cubrotg ©on ©ürfel in fttefole.
ftaum eine ber greunbfd)aften jwtfcrjcn Did>ter unb bilbenbem IfünfHer, beren e*
viele gab, b«t jroei fo gleichartige Naturen mie 'Äbalbert ©tifter unb -ücmn'd) Würfel
»erbunben. Sin 3abr trennt ibre ©eburt, ein 3«br ibren $©b. Sie ©öHig gleite 3eit
olfe tft c*, in ber jie »irren, engoermanbt fmb aud) bie STOenfcben, an bie ftd) ibre Äunft
wenbet. »So fiegen fic beibe unter ben dbnlid)ften Umftänben. Denn wie in SRundjen
in einer %eit, in »eld>er man ftrembe*, (Jrborgte* unb Unpaffenbed in bie Äunfl binein*
jutragen befhrebt n>ar, ber SDtaler SÖürfel mit feiner fd>ltcfjteitr felbfterlernten, fo burd)»
au* anberen ftunfi auf* angenebmfte überrafd)te, fo mar ber ftarfe Erfolg ©on ©tifter*
(Grilling, ben „©tubten", baburd) bebingt, ba| er im ftarfften ©egenfa$ ju ber anbren
literartfdjen ^robuftion ftaub. Denn bie fteber ftritt für greibeit, e* garte, c* föchte
allentbalben in Kiefen Sagen, oft Stifter* liebevolle Olaturbeobadjtungen, mie ein ©e*
fd>enf au* anbrer Seit erfd)ienen. Unb nad) biefer Äoft griff ber Stampfer ebenfo für
feine SRubeftunben, roie ber feinfüblige, gebilbete Deutfd)e, meiner ber vPo(mf au* bem
2Bege ging. Die beiben haben juil ju rechter $cit ibrem ßanbe ba* SRid)tige gefdjenft.
Unb mie ©erroanbt ift aud) fonfl beiber ©djaffen. Äu&en in ©otte* freier Statur
erquiefen fte ibren ©inn, ber ba* ©enoffene in ben Serien miberfrrablenb, bie anberen
ju SRttgemefcern mad)t. fceibe jieben jle binau*, jufrieben in ibrem Salb, in ibren
@übbeutf$e 3JJonat8^cfte. II, 6. 30
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454
abalbert Stifter : Briefe an £etnrid) SÖiirfeL
bergen wetlenb, anbäd)tig, banfbar nacbJcr/afFenb im Söcwußtfctn, bafe" ibre Äunft fa>n
£6d>fted Iriftcn würbe, wenn fte ünftanbe wäre, an bie Sflatur berangufommen.
Valbert Stifter bat felbft oon trüben Sagen an gemalt unb bat lange Jnt gc*
braucht gur (£rfenntnid, baß er mit ber Acter beffer fdjaffen fönne, ald mit bem ^infel.
Q(ber ein SRaler iß er aud) ald Scbriftfteöer geblieben; er bat eine Sedjnif äbnlid) ber
bed SDfalerd unb fein ©Raffen ift aud), id) modjte fagen, bad bed bilbenben Äünftlerd.
Stifter fiebt ein Canbfcbaftdbilb im ©etft, bad er mit unerbörter Sreue »ibergibt; ift tad
SBüb in allen feinen (Sinjelbeiten oo0enbet, fo fubrt und ber Didjter fdjnell weiter, um
balb barauf und gu langem Verweilen bei feinem neuen SBilbc ju laben. Die Seebmf,
bie er benu$t, mag beute auf manchen, nad) fcrjneflem ©enuft ftrebenben SERenfcben
unferer Sage ermübenb wirfen, mand) anberer wirb fid> mit größtem Q3ebagen in tiefe
liebeoofl cbrlidje Arbeit oerfenfen. Sie ber 2J?aler legt er in großen Strichen ben
©runb an unb beginnt bann bamit, bie Selber unb bie Siefen in ber gerne auf*
gutragen. 3o»»en gliebert er ben SDttttelgrunb mit feinem SBaum* unb Straudjroerf an,
um enblid) mit fptgem ^infel jeted 'Pftängdjen, jebed Stetncr/en im QSorbergrunbe auf«
gutragen. 3ft nun feine £anbfd)aft aufd liebcooQfte audgefübrt, fo fe§t er feine SRenfcben
ald Staffage binetn, nur um fein Serf weiter gu beleben. Orr bolt fic aud feinem
Sftggenbud), in bem otel beriet fcfr/lummert unb tamponiert fte in fein 93ilb unb fo gwar,
bafj fle für bie £anbfd)aft, nid)t aber bie Canbfd)aft für fie befteben. Unb »eil fic
biefen Dienft gu tun in bie Seit gefegt finb, oermiffen wir gar oft bad gortfdjretten
ibrer inneren Sntwicftungen unb muffen und bafür entfd)äbigcn, ben gaben ber ewici
frtfd>en Canbfdjaft, ber fein ganjed Denfen gilt, gu oerfolgen.
Unb fragen wir bei fDta'fter SÖürfeld Söilbern nad) ben Sd)icffalen ber 33?enfcben,
bie er bargefleQt bat? Hud) fic finb gur Belebung unb äRotioterung ber üanbfcbaft nur
oorbanben unb oerraten oon ibren Ceiben fo wenig, bafe unfere 9tübrung feinen gu§
faffen fann. Sie finb feine fd)wermütigen ^bilofopben, bie betten greunbe, fic freuen ftd>
bed Sdjönen unb ^eiteren unb geben bem Sdjmerg unb ber Trauer in ibrer Äunft aud bem
Sege, wobl benfenb, bafj bad £eben bed SDJifjltdjen fd)on genug bringt, um ftcb, noa>
im £etb oerfenfen gu müffen. Unb barum finb fic aud) beffere 'ßbilcfopbcn; benn ibre
Q(rt gu leben, bringt ibnen, wie ben greunten ^rer Äunft ben Sroft, ben ber ©rübler
nie finben unb fcfyenfen wirb.
Ser erfreute fid> bed Cebend
Der in feine Siefen blüft?
Die bier wiebergegebenen Briefe finb aud bem legten Degennium bed Cebend ber beiben
greunfcc. Sie fannten ftd> feit langem unb liebten fidj, wie ibre Shmft. Der 3nbalt ber
brei Schreiben begiebt ftd) auf fctlber, weldje ber in ber Umgebung oon £ing lebenbe
Did)ter im Äunftoerein biefer Stabt gefeben bat. Stifter batte 1858 feine STOutter
oerloren unb fid) in ber golge gang gurüefgejogeu. SDiu&tc er nicht gegen fd)on bamald
auftretenbe ftraufbeiten Spuren, gumeift in Äarldbab, gebrauchen, fo lebte er, auch bie
Sinter burd), in ben bergen oon Sing; nidjt gar oft flieg er ind $al berab. ©rünb*
lid)fle biflorifdjc Vorarbeiten gu feinem SHoman „fflitifo" ber 1864 erfdjeint, füllen bie
3eit. Der Äorper fd)afft ibm mandje Ceiben unb fdjwer bcbrütfte t'bn bie 9Jieberlage
fetned geliebten Sbfterreid). 3m SBinter 1867 werben bie Äranfbeitderfdjeinungen beftiger
unb oerfünben bad ntcb;t gu ferne Qnte. Die frifd)c ©enußfreubigfeit bed legten Q3rtefcd,
ber brei ÜTtonate oor bed Did)terd Sobe gefd)neben ift, wirb in gleicher Seife über*
rafeben unb wobltun, wie ber SRangel irgenbeiner ftlaqc über ben forrcrltcben Jujlanb.
Stifter bat Sc^werfted erlebt, faum ein 9Wi§mut ift gu oerfpüren, immer tönt bed bergend
bctler, frenbiger Älang, wie er biefen ©riefen an ben ftreunb entftrömt.
Hüd) für ben SDfeifter tßürfel finb ed ebrenbe «Blätter; benn welch ftrengerer
SRidjter bätte ibm erfteben fonnen, ald ber felbft malgewanbte, feinfte Sd^ilberer ber
ewigen ©ottedwerfe?
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Walbert Stifter : «Briefe an £etnrid) Sßürfel.
455
«£od»erel)rter lieber Aren üb!
dlcd) nie ift mir et»a$ fo fd)»er geworben al$ biefer ©rief. 3d)
fdjob it)tt lange auf, »eil id) meinte, id) werbe anberen ©inneä »erben;
aber enb(id) muß id) bod) baran, »enn id) nid)t eine große Unart gegen
Xid) begeben foll. Xiefe* (schreiben enthalt bie freunbfdjaftlidje ©itte,
mid) meinet 2ßorte$ jutn Snfaufe be$ ©ilbed mit ben Pütjen 511 entbinben.
3d) bitte Xid), nimm bie Urfadje nid)t übel auf: baä ©üb gefallt mir nad)
ber 2Tu«fu!)rung »eniger, alö e$ mir in bem 3u|tanbe gefallen Ijar, in
»eldjem id) c$ bei Xir fat). 3d) »iü* »erfudjen, ba$ auäeinanber ju fe$en.
Xu b«ft ben unteren Sljeil1) ber i'uft unb ben £intergrunb neu gemacht.
Xic neue ^arbe fdjeint mir mit ber alten nidjt ju fdjmeljen, unb id) fürdjte
aud) nod) überbied, baß ber neue Shcil auä»ad)fen unb einen $lecf bilben
wirb. Xaä neue ©rün, »eldjeä Xu auf ben Siafen ber jtütje gejteUt tjaft,
erfd)etnt mir ju fefyr bem ©erggrün Ahn ltct> unb fdjetnt mir ein falfdjer
3on ju fein. 3d) »iU fyiermit feinen $abel gegen bad ©Üb auöfpredjen,
eä ijt nur meine einzelne Sttetnung. $Benn id) nun ein ©üb toon einem
fo großen 2ttei|ier, »ie Xu bift, beft$en foll, fo follte fein Schatten eine«
3»eifel$ bie reine greube trüben, namentlid), ba id) nid)t reid) genug bin,
mir bret ober öier bebmtenbe ©ürfcl faufen gu finnen. 3d) »ollte Xid)
bitten, mir ju erlauben, baß td) anjtatt be* $l)ierjtücfeö" ba$ ©ebirgöftücf mit
bem £aufe unb bem alten 2)?ann faufe; allein biefed ©üb faufte unfer
herein, id) »ottte nid)t$ bagegen fagen, um nid)t ben Vorwurf auf mid)
ju laben, baß id) alt 3udfd)uß unb 23or|tanb|telloertreter bie bellen ©tücfe
an mid) jietye, unb fo jtanb id) nun in 3»*if*In ba. Der <Pferbemarft
enrjürft mid) »ot)l fefjr, id) fann aber je$t md)t fo oiel ©elb ausgeben.
9ffienn Xu mir mein ©ort jurücf gibft, fo »äble td) mir »oi)( im fünftigen
Am Minne, in »cid» cm id) 8 3Bod)en in SOTündjen jubringen »ill, ein fertiget
©üb »on Xir; benn beftyen m6d)te id) benn bod) nod) eined, ba mein
UBefen bem Xeinigen fo dt)tütcf) ifl, baß feit etwa 25 Sauren l)er fd)on
Xeine Arbeiten meine ftreube machten, ©ibft Xu mir mein SBort nid)t
jurücf, fo wirb ba$ unfere ^rcunbfdjaft nidjt trüben, fo »ie id) glaube,
baß meine ©itte Xid) nid)t erzürnen »irb.
Sttit bem größten Vergnügen vergegenwärtige id) mir bie befeligenbe
(Smpfinbung, »eld)e id) in Xeiner 3frbeit$ftube unb in Xeinem Umgänge
Ijatte. 9Benn mir einmal baä ®efd)icf g6nnen foflte, meinen bauernben
<H?ol)nfi$ in SWüncben nehmen ju f6nnen, »erbe td) Xid) »ol)I juweüen ein
»enig mit meiner ®egen»art plagen, id) »iU befd)eiben fein, unb Xir nid)t
riel 3*it nehmen ; aber mandjrö SÖ?aI »irft Xu fd)on erlauben, baß id) mid)
an Xeinen Herfen erquide, unb eä fönnte aud) fein, baß mir gegenfeitig
burd) unfer ©efpräd) und aufheitern. «£abe id) Xir oon bem ©Übe erjaljlt,
»eldjed unfer @rjt)er$og granj Äart »on Xir beft$t? dt ffnb Kohlenmeiler
im 3Binter unb im SRebel. (St»ad ©eidjere* unb 9teijenbered \)abe id) faum
je gefel)en. Xetne ©tlber auf unferem Vereine baben feljr gefallen. Xu
bift fdjon eine befannte ftigur bei und unb felbft ?eute unteren ©tanbed
*) 9i i<J etiftft« criginalf €*tfihpeiff &«bf$altfii. 5>opr«lfonfonantfn rflrgt rc nic^t
aufjufdirfitrn; rfcfnfc fütjt tc aür „unt" wir „fcaf".
30»
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456
"Äcalbert Stifter : ©riefe an 4?einrich Würfel.
fagten: ,,'äd), ba ifi um et er ein Surfet." ®ott gebe Dir noch recht lange
©efunbljeit unb .Straft unb erhalte Dir bad feine @efül)[ Deined «£er$end.
SKdgen Dir ftetnbe ftebjer »ormerfen, Du wirft auch beriet' haben, obwohl
ich ©über »on Dir renne, an benen id) nicht ben geringften fdnbe, m6gen
fie Dir folche »orwerfen, ed lebt je$t boch feiner, ber Did) in Deiner 3rt
erfefcen finnte, wenn Du einmal ben ^infel weglegt ober gar ftirbjt
Dein freunbliched (Srfchnnen auf bem ©afjnrjofe bei unferer Abfahrt t>ct
und febr gerührt, wir reben gerne ba»on unb meine %vau meint, Du feift
ein weit befferer STOann ald ich; id) gebe ed aber nicht ju. Deine glaube
©ein jtetfte ich in meinen Uberrocf, um fie nad) hier ju bringen; allein im
©afynfyofe in Salzburg legte id) ben Uberrocf etwad jn arg auf einen Stuhl,
bie $(afd)e brad) unb id) hatte ben ÜBein jwifchen bem ftarfen Suche unb
bem bid)ten Seibenunterfutter in einem Schlauche, wie bie antifen ^aune.
SÄelbe Deinem liebendwürbigen boffnungdootten ©ohne »on meiner
©attin unb mir bie t)erjlid)ilen ©rüfle, Deine ©attin, obwohl mir fie per*
f&nlid) nid)t fennen, erlaube, baß wir it>r unfere SBerehrung audbrüden,
unb Du felber nimm atted ?tebe unb #erjlid)e »on und entgegen. Schreibe
mir einige 3eilen jur Erleichterung meine« $erjend.
?ebe wol)l unb benfe manche* 9Bal ein biiä)tn an
Deinen Did) »ererjrenben ftreunb
«inj, am 6ten 9?o»ember 1860. Qfbalbert Stifter.
Sftein lieber, t)od)»eret)rter greunb!
Dein (Schreiben »om 5. b. 2ft. rjat mid) fer>r erfreut unb Ijat mir
burd) Deine 9J?ittr}cilung großen arger oerurfadjt. 3d) rebe juerft »on bem
legten, um ihn einmal weg ju befommen. Dein ©ilb fam gar nicht jur
33erlofung. Der Sereindbiener fagte mir bamald (id) war nid)t bei ber
Serlofung), ber #crr ^rdlat (2fbt »on Schjctge, ?anbedf)auprmann »on
£>ber*£>ftcrreich, 2*orjtanb bed Sereind) wtffe fdjon barum. Damald bad)te
id), etwa tft bad ©ilb für bie Sanbedgatlerie bejttmmt, baß ed nid)t bejablt
ift, wußte icf) nid)t. Erft »or furjem bei einer Sifcung erfuhr id), unb mit
mir aud) ber SSorftanb, aud bem 9ttunbe bed Äafiierd, baß bad ©ilb boch
nid)t befahlt ifl. Sichrere Jßerren fagten bamald, ba« fei übet unb muffe
balb m6glid)ft beglichen werben. «Riebet meinte id), man tvibe ftd) fd)on
über biefen ©cgenftanb mit Dir »erjtanbigt, unb war erftaunt, baß bad nid)t
ber ^all war, wie id) aud Deinem ©riefe erfat). Ed l)at ein 2fgent bed
SBcreined nid)t rechtzeitig eingefenbet, unb bad mag bie (5affe empfunben
t>aben. ©ei und ifl ed närjmüd) bad ©efe$, baß jährlich ber ganje ©elb*
eingang »erwenbet werben muß, bat)er, ba bie ©elber »on bem Sanbe herein
erft gegen bad (Snbe bed ^ereindjal)red eintreffen, ift ber ftatl nicht unm6glid),
baß einmal bad ©elb für bie befd)(offenen Einfctufe nidjt reicht. 3d) war
immer für einen SReferoefonb. ÜBenn ed fo war, fo hatte man Did) »er*
ftanbigen follen. OTtr trjut bie ©ad)e fet)r leib, weil ed eine fd)led)te Meinung
»on bem Vereine erregen fönnte. S8erft6ße ober einjelne 2Billfül)rlid)fftten
fommen in jebetn SBerein »or, entfdjulbige baljer mit Deiner Dir eigentüm*
liehen ©üte bie (Sache. Der KU »on Schläge wirb jeben Sag in «inj
erwartet, id) werbe iljm fogleid) 9Äittl)ftlung »on ber ©adje machen unb um
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'Ätalbcrt Stifter : ©riefe an ^ettirid) ©ürfel.
457
fofortige ©egleitfiung bitten, wie aud), baß bod) bie SSorfommnifie möglidjft
»oHftdnbtg im 2Tudfd)uffe bebanbclt werben mögen, jeh bin SBorjtanb'
fteUoertreter be$ 25creine$ unb habe al$ foleber unb nod) mehr alä Äunjb
freunb unb einiger 2ttaßen Kenner mancbeÄ ßreuj ju tragen, tae id) ber
Äunfi $u Riebe gerne trage. $a|t um>er)eü)lid) erfdjeint ce mir, baß man
Dir auf it'iiiL Anfrage, ob Langel an 3uöfteUern fei, feine Antwort gab.
üßir rjaben heuer merjr ©Über alt je; aber einem ©urfel muß l)ierin Antwort
gegeben »erben, feCbfi wenn er nid)t$ fenbet, baÄ erforbert fein Sttame unb
wenn er etmad fenbet, muß ed und eine Stjre fein; benn ©urfel ftnb nidjt
»tele in ber ffielt. Unb wenn Du auf ben Serein böfe bi|t, fo fei ed nid)t
auf ben armen Stifter, ber hier in ber Äunflwujtenei ftyt, unb tjaft Du
einmal ein ©üb, oon bem Du benfit, ba$ fönnte Stifter gefallen, wenn e*
aud) ju tbeuer ift, fo baß mir e$ nid)t anfaufen f6nnen, fo fenbe e$, baß
id) mid) red)t erquirfen fann; benn menn Du aud) t>iel Verehrer h a »t, fo
befreite id), baß eö einen größeren geben fann, a(ö id) bin. Deine ©Über
geben mir immer ein Stücf Sd)öpfung$fraft. Du tyajt mir burd) bie Vme
Deiner angefangenen ©Über freute unb Dual gemad)t, ^reube, baß Du
fo thäna bift, unb baß id) aufrufen fonnte: 3(d) roie muß bad prdd)tig
fein, unb Dual, »eil id) bie Dinge nid)t feljen fann unb mid) mit 23er*
mutungen abmartern muß, roie fie au$feb,en mögen. 3d) »erbe fd)»erlid)
nad) 2Eünd)en fommen fönnen, e$ häufen ffd) ju Piele ©efdjAfte, namentlid)
bin id) in einem 2Berfe nid)t fo rafd) fortgefommen, ald id) gehofft tjatre.
Hbtr ganj gebe id) bie Hoffnung bod) nid)t auf. Sollte id) fommen, fo
fcfjreibe id) Dir et)er. Arbeite fröhltd) unb wobjgemutl), ber Weitere unb
berjendriefe ©urfel »irb fo balb nid)t in ber ®elt erfe&t werben fönnen,
»enn er einmal ben *pinfel »eglegt unb fagt: „3e$t malt il)r anberen weiter."
Siebü Du nie meinen eblen, lieben freunb ^ifer^bad)?1) ©ruße ihn
von mir t)erg(id), er möge mir bod) einmal fünf ober fed)6 3eilen fd)reiben.
Od) freue mid) fct>r auf ifyn, wenn id) bod) nad) 3Rund)en fomme.
Rebe wohl, meine Wattin unb id) fagen Dir, Deiner ©attin unb
Deinem liebenäwurbigen Soljnc, ben wir fennen gelernt l)aben, bie t)crj*
lidtfen ©ruße unb SBünfdje für <£uer ©obl.
3d) »erbleibe Dein freunb unb 2krer?rer
i'inj, am 9. September 1861. Valbert Stifter.
SWein feljr geliebter 5re"n&'
3d) bflbe einen Singriff in Dein <Jigentl)um gemadjt, unb fomme nun
ju Dir betditeu unb um ?odfpred)ung ju bitten.
3m hicfigcn Vereine war ein ©Üb Pon Dir, bad aud Ußien gefd)icft
worben war auägejtellt, einen ^elfenweg oom 2(d)cnfec oorftcllenb. Üttir
unb meiner Wattm gefiel baö ©Üb außerorbentlid). o_\> thut fo innig wohl,
in unferer 3eit pratylerifdjer Arbeiten wieber einmal ein echte* Äunfnocrf
ju fernen, ba$ jeben gifd)fang »erfdjmAr/enb, nur in feiner eigenen $iefe,
2Bürbe unb ?ieblid)feit rul)t. £)bwot)l ein ferjr aufgetafelter Sttorbgreen *),
*) 3ot»- &if<tta|, »rtfcifnfboU« 8anfcfd)afrt» unb ©enrnnolrc ta alteren Birnrr
edmle, t in SRunaVn 1871.
") «Kl Korfcgtfn, fa)»fbifd)nr 8anfcfa>af«malfr, 1828—1888.
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458
Valbert Stifter : SBriefe an #emrid) Starrel.
ber mit Äanonen ©eifaH forberte, baneben unb jwar auf bem befferen
^Plafce [Miuy, feljrten bte 2(ugen immer auf ^cin ©Üb jurücf, ja ei würbe
gerabe burcf) ben Sttorbgreen (normegifchee" Hochgebirge, ein grauer ötetnblocf
mitten, unb allerlei grelle* ©rae* unb ©djnee unb Ijarte hinten) immer
fd)6ner, unb brachte julefct ben dlad)bar um.
5Ötr befchloffen, nämlich meine ©atttn unb id), rem ©Üb ju laufen,
unb td) wollte an Dich fdjreiben, wad ed für mid) foffet. Allein meine
®attin mürbe franf. <Ste l>a«t baä 95ilb nur einmal gefeljen. 3d) batb
babjer ben herein, nad) <5d)luß ber 2Tu$fteUung ba* fctlb an mich ju fenben,
td) würbe eo* bei Dir fchon »erantworten. 53or mehreren Sagen fam bad
SBilb ju mir. <&i würbe auf eine Staffelei geflellt unb gefiel und »on
<stunbe ju 6tunbe immer mehr. Da« ift ber alte, liebe, Ijerjige ©ürfel.
3d) »erbanfe bem ungeft6rten ©enuffe biefee* 5Mlbed einige ber fd>6nften
vstunben meined bebend. Tu wirft ei mir baber gewiß »erjeibten, baß id)
fo mir nichtd Dir nid)t$ Dein $Mlb ju mir nahm. $ötrb in ber ffielt fo
»iel geraubt, warum foll ein $unftnarr nicht aud) einen Äunitgenuß
rauben? Sftimmt er ja bod) »on ber Sache nichts weg, wie bte anberen
Zauber tljun.
3d) würbe enblid) aud) franf, wie bie grau (eine febr bfoartige
©rippe) unb jule$t erfranfte nod) unfere #6d)in, fo baß bie 91id)te meiner
grau allein bie" jefct gefunb blieb. Da ich für brei «Perfonen, bte ©attin,
mid) unb bie Richte, burd) brei Saljre her meine ©rofdjen l>abe nach
#arl$bab tragen muffen, wofür wir freilid) gefunb würben, fo muß id) jeßt
bai ©elb, baä für Dein SMlb befttmmt war, bem 3Trjt, ber fd)on ^Bochen
tn'ö $auä get)t, unb nod) $öod)en get)en wirb, unb bem 2(pott)efer geben,
unb auf ben Mauf »erjichten, ba td) baä QMlb erft fpater, wenn bte £ücfe
ftd) wieber gefüllt bat, jatilen fonnte. ($i tft bar/er ber Singriff gefchebeit,
bap id) über Dein 3>ilb »erfügt habe unb baß eö bei mir ijt. 2Jer$eibe
mir, ja id) bitte Did) fogar, laffe mir ei nod) einige Sage, baß id> ed recht
tief genieße unb bann 3Tbfd)ieb ba»on nehme, (ii gefd)iel)t baran ffcher
»tel weniger etwaä, alä wenn eä in einem Spebittondgewälbe wdre. 3d)
werbe ei Dir wobl»erwat)rt überfchiefen. £at bod) Ulbert 3immermann
einmal freiwillig ein SMlb an mid) jum 2fufchauen gefd)tcft. <5r erhielt ei
freilid) nid)t mehr jurücf, weil ich »eranlaßte, baß ei für bie \)iefae,
werbenbe ©alerie gefauft werbe.
©ott erhalte Dich in Deiner Sd)6pfungSfraft, ein ©ürfel fomtnt fo
halb nidjt wieber auf bie 3Belt, liebe mid) ein btddjen für bai SBtcle, womit
id) Did) liebe, unb fenbe mir einige freunbliche 3^ Üen.
3Retne grau unb td) grüßen Did) auf'** inntgffe, unb grüßen auch
Deinen lieben 3ot)n, ben wir fennen gelernt haben.
3d) fchlteße einige gebruefte 3etlen bei, bte id) in unferer ?anbe$>
geitung über Dein Q3t(b gefd)riebcn habe.
Üttit gr6ßter Hochachtung unb Verehrung
Dein treuer greunb
Valbert Stifter
?inj 21. 92o»ember 18H7. f. f. £ofratl).
p. S. ©rüße ben lieben, alten gtfehbach, wenn Du ihn flebfr.
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«Peter Gorneliu* : Hui meiner @rinnerung*mappe.
459
Dem Sörtefe beigelegt fmb folgcnbe gebruefte Stilen au* ber Cante*ieitung.
„3n 53 ift ein Heine* Q3üb eon Würfel in Mündjen ,Der Sdjenfee' au**
gcftellt. 3ene 9?ai»ität, eine t>er fdjonften Q3lumen bober Äunft, bie in alten 2Öerfen
fo berrlid) blübt, bie in unferen ^eiUn fo feiten ift, unl) immer feltener »irb, bie bei
ber Arbeit weber an ftd) nodj an irgenbeinen 93efd>auer benft, fonbern fid) mit Webe
bem ©egenftanbe Angibt unb feine ®d)önl?eit ju faffen beftrebt ift, leuchtet und tn'er
nod) in ©cllcr SReinbeit unb Urfprünglid)feit entgegen. 9ltrgenb* ein SBeftreben nadj
SBtrfung, nirgenb* in einen Seil einen ®e»altfd)lag gelegt, nirgenb* eine einzelne Sdjbn»
beit, fonbern alle* fd)ön, obne bafc man fagen fönntc, bier ober bier liegt bie Sdjönbeit.
2Jftt gleicher Webe ift ba* Stäublcin auf bem Reifen unb ber Sdjnccberg unb ba*
Steineben auf bem 2Bege brbanbelt. Unb alle* ift au* einem ©uffe unb in einem
jarten Scbmelje, bafc feine barte, feine leere Stelle |id> aufjeigt. Unb tiefe Sftetfter»
febaft »on Arbeit, ber man eben barum bie SEReifterfcbaft nid)t anfiebt, ift ber Sräger
einer Snnigfeit, ^ner Stefe, SReinbeit unb Qtnmut, bie 0* alS Seele be* 33übe* in
unfere Seele fenft, unb ibr eine fanfie 3iube unb fcefriebiguug ferjenft. 3<*) glaube,
bafe biefe* 95ilb bei »eitern bie fünfte {Janbfdjaft ber Stellung ift/'
2fus meiner £rinnetungsmappe.
93on ^peter @orneltu*.
Mitgeteilt oon Garl Maria (Sorneliu* in Söafel.
Der fletne 'Äuffafc meine* 93ater*, ber bier »iebereeröffenttidjt wirb, »ar bi*»
ber oerfdjoöen. Unb ba* ift nid)t ju cer»unbern, wenn man bort, an meld) au*gefudjt
entlegener Stelle er feinerjeit erfcrn'enen ift. Der berliner ^örfencourier batte eine
Sonntagsbeilage „Die Station" berau*gegeben, bie jebod) »ie mir berietet »urbe,
nid)t über einige wenige SHummern btnau*fam. 3n einer folgen, unb )n>ar juft in
ber *probenummer »om 12. September 1868, ftanb ber bier folgenbe Xuffa$, ber
fd)on oerloren gegeben mürbe, »eil niemanb, wie e* fernen, ibn aufgeboben batte unb
fogar ber 93erlag, bei bem id) anflopfte, fein (Srcmplar baoon befag. Da fanb id) ein
foldje* jüngft ganj jufädig in einer Mappe au* bem 9?ad)laffe be* SDeimarer SBibliotpefar*
SRcinbolb Nobler unter anbem mir lieben Reliquien, bie tiefer treue ^reunb meine*
93ater* forgfam »eneabrt batte. 3d) freue mid), biefe* Srinnerung*b latt gerabe im
Sdn'Qerjabre bringen ju fonnen. — Der £uffa$ gebort ju einer SRcibe von 'Äuffa^en,
bie mein QSater auf ffiunfd) te* ibm befreunteten bamaligen SRebafteur* be* «Berliner
SBörfencourier* #errn ©eorg Daoibfobn geplant batte. Sie füllten unter bem Sitel
„Hui meiner @rinnerung*mappe" erfer/cinen. Dod) fmb offenbar nur j»ei jur 'Xu$*
fi'ibmng gefommen. Der eine „(Sine beutfdye ftünftlerfamilie" (Die Fretter*) ift bereit*
in ben m. Söanb ber litcrarifdjen ffierfc (SBreitfopf unb Härtel 1904) aufgenommen
»orben, biefer j»eite barf nun al* 97ad;trag ju jenem Söanb ber „Qtuffä^e" gelten. —
Da* ©ebidjt am gnbe, ba* in etma* abweidjenber Raffung fdjon in ben „®ebid)ten"
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^etcr Sorneltu* • Hui metner (£rtnnerung*mappe
(1890 unb 1904) »eröffentlidjt würbe, wirb frier im 3ufammen&ange ganj fo mfUnben
werben, wie e* gebad)t ift: ali %mvvt>i>tfcition ju ber Chartert ©d)t'flerfeter, bte jemate
gehalten werben ift. SRöge unter od ben lauten £utbiguugen, bte jurjeti bem größten
beutf^en 3&e°Wen bargebradjt werben, aud) bt'efer let'fc $on eine* retngefhmmten ®e*
mute* mttflingen.
<§in fHüe* ©dnfferfefr.
2Bar'* tm £rbprinjen, $u be* alten £emleb 3eiten, unter ffiilr)elm*,
be* Dberfellner* treuer ©br)ut unb Pflege, »ar'* im SRufftfdjen £ofe beim
»ürbigen greife!, »ar** im ©d)»anen, »o find 3ad>aria* SBerner ge*
wohnt hatte, ober »ar '* im 2CbIer, unter beffen ©dnptngen ©enefli jldt
manchmal »or ben g(üt)enben Pfeilen be* ©onnengotte* rettet — id) wen)
e* nidjt mehr; genug, e* mar in SBeimar unb j»ar am 9. SD?ai 1855, ba§
id) mit meinem ftreunbe Dr. £5*far ©djabe,1) bem rürjtnlid) befannten
©ermaniflen au* £ad)tnann* <2d)ufe, ju Sifd) faß. 3d) rjielt ein bortige*
3eitung*blart in ber J£anb unb madjte einem Keinen 2fnfaß Pon #rger
barüber£uft, baß in einem auf ©djiller* fünfzigjährigen $obe*tag bejüglirten
furjen 2frtifel gefagt war, e* lagere fid) eine $rauer»o[fe über gan}
£eutfd)Ianb. „£iefe ewige abgefd)macfte trafen madjerei" meinte id> — i
„»arum md)t gar fjeutc nod) »einen, baß 5BaItb,er pon ber 93ogel»eibe
ober Sßotfram, ober ©ottfrieb por mehreren 3ar>rl)unberten einmar geftorben
ftnb! IDtcfe 11 nfter blichen fleigen herunter unb fd)ütten ba* aü Ilhorn ihrer
©aben unter un* au*! 21 u f rote fange haben mir fie benn gepachtet, ober
haben mir ff c ctroa fo treft (id) gebettet, baß fte nid)t je etjer je lieber natft
ber etoigen Heimat roieber juruef begehren fottten? Arenen feilen rotr un$
an foldjen 5 agen über ba* rjerrfidje <Sd)6ne, ba* ©Ott au* beutfenem SMute unc
SWarf über bie gan je $Belt unb für alle 3etten b,at »ad)fen lafien." —
„3a," entgegnete ©djabe, ,,»enn biefe ?eute mit ihren fd)6nen ©orten nur
»irflidj nod) ein £erj für bie ©adje Ratten — aber ift e* benn ntd)t un*
erhört, baß b,ier in ÜBetmar am heutigen Sage aud) nid)t ba* minbefle jum
3fnbenfen an ©djiller gefd)ieb,t? Äeine Stjeaterporfteflung, fein garfeljug,
fein SBortrag, nid)t ba* minbefle 3eid)en, womit man ba* Bnbenfen be*
großen Soten ehrte, ba ein f)albe* 3abrl)unbert barüber Einging, feit er
unß entriffen roarb!" — „jDafür", fagt' id), „f6nnte SRat »erben, »ir müßten
e* nur mad)en »ie J£»offmann oon ftaücr<ben mir neu(id) eqdhlte, ba^
er1* mit ein paar ^reunben in 5>rc*Iau gehalten habe, ge(egentlid) etne*
ab,nlid)en ©ebenftage* für Offling, ©ie perabrebeten ftd) ganj etnfaef),
abenb* in einer betreffenben Äneipe jufammenjufommen, J^offmann la*
ben ftreunben einen ganj ge()6rigen Sooft auf Sejfing »or, fte trennten <id)
fpüt unb in fjofjer Sßegeifterung unb — am nddjften Sag »ar in ber 3«tt"«9
ju lefen, baß eine Keine, bod) au*er(efene @d)ar beutfd)er Scanner unb
2iteraturfreunbe ben ©ebenftag ?efffng* mit Srnfl unb ©egeiflerung unb
aud) nid)t o!)ne bie entfpredjenbe poetifd)e S3erb;errlid)ung be* großen SWanne*
gefeiert i)dtten."
„dlun ja!" rief @d)abe, inbem »ir auf btefen guten 3Bi$ anließen,
„tfl benn ba* nid)t aud) ba* ©abjc? unb fommt e* benn auf bie 3«^
>) Ott. 25. IRarj 1826, wirft ne$ ir|t oll ?>roffffet an fcrr UniwriUat «6nial*«rf
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'Peter (Sorneliud : Hui metner Srinnerungdmappe.
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unb flel)t benn nicht gefdjrieben: ©o nur brete »on eud) beifammen fmb
unb ihr gebenfet mein, fo »itt id) unter eud) fein!?"
@in SBort gab bad anbere unb ber *pian bed ftefted war baib ent*
worfen. ^olijetlicbe <£rlaubnid brauchte ed glüeflicberweife nid)t, obgleich
und biefe ber treffliche Dr. #6»fner gewiß nicht öerweigert l)Ätte. ©chabe
übernahm bie ©efteflung bed Sorbeerfranjed unb id) fturjte nad) #aud, um
bie ^eftberfe ju mad)en. 3wifd)fn fünf unb feebd Uljr holte mid) ©djabe
ob. 3d) lad ihm mein ©ebiebt — feine (Strenge furebtenb, benn er t)atte
mir fd)on manchmal feine jfritif angebeitjen (äffen, unb fic mar von febonungd*
lofer, menn aud) fdjließlid) immer l)eilfamer ©d)ärfe; bod) heute, afd ©d)iller*
gieftfomitee, war er »oll ganj erfldrltdjer SDh'lbe unb 9?ad)(Td)t gegen ben
einjigen Dichter, Aber ben er juft ju »erfügen hatte, unb bem man anberer*
feitd wieber nicht »or ben £o»f flogen burfte, weil er nid)t allein fclbjl jum
Komitee gehörte, fonbern weil aud) alle übrigen Teilnehmer entweber feljr
nahe »erwanbt ober bod) eng befreunbet mit ihm waren, ©o bewegte fid)
benn ber Heine ^eftjug 3Trm in Ttrm an bem ©cbaufyielhaufe »orbei, wo
SBaUenjtein juerft gegeben worben war, über bie @d»lanabc an ©djilierd
Wohnhaus »orüber, bann am ©oethetjaud tytr in bie ftriebhofftraße — unb
balb ftanb er an ber ^ürftengruft. <5d war ein herber fr6ftelnber SKaiabenb,
unb bie ©efabr lag nahe, baß einige Teilnehmer bed 3uged fid) erf Alten
fonnten. 2)ie ©ruft war »erfdjloffen unb bie fleine ^eftfpenbe bed Äranjed
nnb ©ebidjted würbe bem SKaume anvertraut, welcher jwifdjen ber ©ladbeefe
ber ®ew6lbrotunbe unb bem ffe fcbüfcenben (Sifengitter fid) beftnbet. X)ie
geier war beenbet. üBir brüeften und jlillfchweigenb bie £anb.
3d) brachte bie folgenben Sommermonate im Ttjürtngerwalbe ju unb
ald id) im £erbfte nach SBeimar jurütffehrte, »ernahm ich etned Taged ju*
fällig unb nicht ohne bie entfprecbenbe 2(utoreneitelfett, baß mein ©ebidjt
auf Sofien bed J^ofamted gebrueft worben fei unb baß ed ben ©efuebern ber
^ürfiengruft ald 3lnbenfen mitgegeben werbe. 3cb felbft tyabe mir eine 2(n*
jabl Grremplare beforgen laffen unb mancher $rembe, beffen SÖefanntfcbaft
ich machte, jeigte mir meine SSerfe, bie er aud ©djillerd ©ruft mitgebracht
hatte, lohnte bad auch ber Sflübe, einen großen Toten aufjufuchen, um mit
ben 3(nftrengungen behelligt ju werben, welche »on ber Jßälfte eined %t$*
fomiteed für bie befdjeibenfte ^eier gemacht würben, welche im Sehen unb
Tob jemald ju feinen <£l)ren begangen warb? SBenn id) aber hoffen barf,
baß ber große ©d)iller»erein mit 9?ad)ftd)t auf ben fleinen herabfehen wirb,
beffen fceftrebungen ©egenftanb biefer wenigen 3eilen waren, fo fürchte ich
aud) nicht mir einen 9Jad)brucfdörojeß »om 3Beimarifchen J^ofamt auf ben
Jßald ju laben, wenn id) bad Jve (tgebidjt bed einjigen @rinnerungdfefled hier
noch einmal abbrutfen (äffe, welched im 3ahre bed Jßeild 1855 bem halb«
hunbertjdhrigen Tobedgebenfen unfered unterblieben ©djillerd gefeiert würbe.
3(m neunten 9Kat 1855.
SWtt rinfm ffranj auf ®*iünr« ©ruft.
©eir ein fdjmucflod febwarjer ©arg
©chillerd irb'fche J^utte barg
©chwanben fünfjig Sahre;
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©tegmunb ocn «öauöegger : Äinber* unb 3ugenbjat>re in ©raj.
Damalä folgt mit fhimmem ©d)tner$
(Sine« ganjcu SöoIFcd £erj
(Sined £td)terd ©atyre.
'Äber tjeut' am neunten Üftai
Meint ©eiftedfrömmefet!
9?td)td von „Srauermolfe!"
Sdjiüer flarb^, il)n beefet @taub,
Uber feinem $ob jum tKaub
V'ebt fein ©etft im &olfe.
8d)iUer lebt in ©eifte«htft;
l'agt bie Soten in bie ©ruft
3b,re $oten fenfen;
9?ur auf frifdigeflocfytnem Äranj
Der ©egeijtrungdtrane ©lanj
fteire fein ©ebenfen.
$Öeld)e* ?ob aud) anbren tont,
3Befd)er Äranj bie ©eften fr6nt,
8d)iller mar ber greifte,
Der in Denfen, $at unb ©ang
J£>6d)flen SD?anneSprei$ errang,
ftretyeit fanb im ©eifte.
Unb ber Äranj, ben Siebe fdjfingt,
Unb ba$ Web, ba$ (Te bir jTngt,
©datier! blüh/ unb t6ne
Ußie an beiner ©ruft ein ©d)tt>ur:
„ftrcitytit auf beä ©eifleä ©pur!
ftreitjeit burd) baö ©d)6ne!"
Äinfcer* unfc 3ugenfcjal)tc in (Braj.
Q3on ©iegmunb »on £audegger in Jranffurt am 9Ram.
3met ©d)icffal$gaben waren H, meieren id) bie bejtimmenbe Ourfuuna
meineä bebend »erbanfe: Die (£rjieljung im elterlichen #aufe unb ber
3auber meineö J&eimatlanbeä.
©egen Horben, in »eitern ©ogen »on ernflem SKittelgebirge um*
fdjloffen, welche* bie fruchtbare ladjenbe dbene ju feinen ftügen cor ben
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«Siegmunb von $au*egger : Äinber* unb 3ngenbjabre in @roj.
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Stürmen bed fteirifchen J£od)lanbe$ fchüftt, liegt meine Vaterftabt ®raj,
an beiben Ufern ber oft über 9Jad)t jum reißenben ©ebirgäftrom anfdjwetlen«
ffliur. Vom Schloßberg überragt, breiten fleh bie Stabtteile »on einem @nbe
be$ $aleÄ jum anberen inmitten einer ftüilt Den ©arten unb ^arfanlagen
auö. 3ßie follten in folcher 9?atur nicht fchon bem laufchenben .ftinber*
gemütc £ain unb ftlur in wunberfamen SWelobten erflingen, jumal wenn
im Slternhaufe 9J?ujtf fojufagen bie £uft erfüßr.
Denn im Sälen be$ 9tcd)tdanwalte$ unb ^>rioatbejenten für Sttujif*
gefd)i(f)te, Dr. ftriebrid) »on Jßauäegger, »erfammelte fleh regelmüßig
ein uattltdicr Äreid »on Äüntflern unb funftoerjtctnbigen Dilettanten $u
jwanglofen mujlfalifchen Veranftalttingcn, bei welchen ber ^auÄljerr alä »er*
trefflicher $la»ierfpieler, bie «£au$frau mit einer feiten fchönen «Stimme begabt,
mitwirkten. $eilä im 9?cben$immer, teilä, wa$ aber al$ gan$ befenbere 3uö«
nähme galt, im 2J?uftf$immer, empfing ich fchon im finblichften Hilter meine erften
mujlfalifd)en (5inbrücfe. Äein $8unber, baß id) mid) balb am Älaoiere mit
allju freien ^bantafien »erfudjte, inbem ich mit ben flachen #ünben auf
ber Jtlaoiatur herumtrommelte, liefen Sttufiftrieb in vernünftigere ©almen
gu lenfen, mar junüdjjt meine Wlntttr bemüht, welche mir bie Anfang**
grünbc bf$ Älacierfpiel* beibrachte, Allerbing* war hierbei bie Schwierigfeit
ju überwinben, baß mein um brei 3at)re jüngerer ©ruber $ri$erl, ein
außerorbentlid) geweefteä unb fchöned Jttnb, üfluflf btreft al$ Schmerj
empfanb, vielleicht ba$ erfte 21njeid)en balbigen Sobeä: grifcerl tfarb mit
fieben 3ahjen. SÄeiner leibenfdjaftlichen £iebe jur ?D?ufif jtattgebenb, über*
nahm nach »ollenbetem 6. 3ahre ber Vater ben mujtfalifchen Unterricht,
wahrenb bie Sföutter mich mit liebenber ^ürforge in bie Äenntniffe ber
Volfäfchule einführte.
Damals, im 3al)re 1878, war ed, baß bie Äunbe erfcholl, SKicharb
©agner beabftchtige, in ®raj ein Jtonjcrt ju birigieren. Deutlich entjTnne
ich mich ber freubigen Erregung, mit ber meine Altern twfften, ben großen
©eniu* bei fid) begrüßen ju bürfen. Leiber fam baä Äonjert nicht jultanbe.
Sttit 10 Sahren (1882) fam ich in$ jweite Staatdgnmnafium. Dbmol)!
ich att jüngfler unb fleinjter ber Älaffe manche mutwillige Sflecferei meiner
Jfameraben über mich ergehen laffen mußte unb beö^alb oft bie heftigften
$et)ben auäjufampfen ijattt, »erfammelte ich boch balb einen Ärete »on
Knaben um mich, welche gemeinfam mit mir au* meiner ^oetenfeber
ftammenbe Srauerfpiele nach ber griechifdjen unb r6mtfchen ©efd)td)te $ur
Aufführung brachten. Die «ßauptfadje hierbei war baä Verfertigen »on
©äffen unb ^oftümen, fowie nach glütfltd) gelungener kremiere ein aü-
gemeiner jtampf mit antifen J£>ol$fd)Wertern unb ^>appfd)tlbern. 3u ben
Dramen fomponierte id) £>u»ertüren, auch pflegte ich mit Vorliebe ganje
Sjenen $u improoifieren, ^>elb, ^elbin, Serrüter unb (5l)or in einer 7)erfon
»ereintgenb. Aber nicht nur Selbftgefchaffened, auch bie lüngflen ©ebichte
unferer Älaffifer würben auf biefe ©eife „üertont". 3n ben obern Älaffen
be$ ©nmnafium^ wenbete fld) meine Sympathie mehr norbifd)*germanifd)er
Sage unb ©efd)id)te ju. <£i entjlanben bie „Dramen" „£nrmann, ber
Öherudferfürd", „^rmenrich" unb „£arolb" (nach ©ulwerd Vornan). Sine
Ouoertüre ju „@rmenrich" fchiüerte im mobernflen Orcheftergewanb, ganj
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©iegmunb oon .ßauäegger: Äincer* unb 3ugenbjabre in ©raj.
unter bem für mid) immer mutiger werbenben Grinfluffe SBagner*. Sor^cr
noch hatte id) ©elegenfjeit, mid) im Äirdjenfh'l ju ergeben. 2fnCctf rief) einer
patriotifd)en fteter forberte mid) ber Dtreftor be* ©omnaflum* auf, eine
für ben geftgotte*btenjt befhmmte unb burd) <Sd)uler ber 2(nflalt aufju*
futjrenbe Stfeffe ju fomponieren. SKit Feuereifer mad)te id) mid) an bie
Arbeit. QÄein Sorbilb mar fein geringere* al* ©ad)* h-moll STOeffe, bie
• ber lßjÄfyrige $onfe$er in grücffict>cr 3ll)nung*lofTgfeit an fontrapunftifdjer
Äunfl womöglich nod) übertrumpfen wollte. Sebenfaß* füllte ba* UBerf
burd) breitete Einlage imponieren, wa* id) benn aud) nur ju (ehr erreichte:
e* erwie* ftd) al* für bie liturgifdje J^anblung t>ie( $u (ang unb bot über«
bie* bem &nabend)or unuberwinblidje Schwierigfetten. Steine @nttaufd)un$
war groß, jumal aud) ein jweiter SBerfud), bie 9J?effe einem renommierten
Äird)end)or anjupertrauen, fd)eiterte. 9?un entfdjloß ffd) mein Sater, ber
große* ©ewicht barauf legte, baf id) meine Jfompofftion felbft f)6re, bie
SWeffe burd) ein (Snfemble eingelabner ©oltften, (5t)or< unb Crcheftermitg lieber
jur Aufführung $u bringen. Üjd) felbft follte birigieren. 3u biefem 3n>*<*
gab mir ber Sater Anleitung in ber Dirigierfunft, berart, baf er am Älatner
ba* £>rd)efter barjMte, ba* id) burd) bie magifd)en Sachen meine* ?afr>-
ftoefe* ju feiten tyatte, wobei befonber* abjTdjtlid) tnfjenierte (Jntgleifungen
unb ©djwanfungen mit @etfte*gegenwart au*$ugletd)en waren. Tcv etwa
50 £D?itg(ieber gat)lenbe C5bor oerfammelte ffd) bei mir ju ben groben; balb
mar ba* 5Berf foweit gebieten, baß e* im alten SD?u(Tfoerein*faale »or etwa
200 3ul)6rem ergingen fonnte. Sfteine feierlich gehobene Stimmung würbe
burd) aufmunternben fceifatt, fowie t>on mir mit ftoljer ©enugtuung beob*
ad)teter SKübrung einiger 3«f)ominnen wefent(id) geweigert. Die Hoffnung,
welche ein Äririfer au*fprad), baß in mir ein $ird)enfomponift f)cranwad)fen
fonnte, erfüllte ffd) nidtt. ©alb wanbte id) mid) wieber weltlicher Sftuftf
gu unb fdjrieb eine Älamerpbantajte: Die (Jliriere be* Teufel* nad) @.
X Jßoffmann* Ghrjahlung, bie ba* jugenblid)e ©emut in wahren lieber*
parori*mu* öerfefcte. dint ganje Diethe öon sPhantaffcn, Sonaten, Biebern
ol)ne üBorte, fowie ein Älaöierquartett (lammen au* jener 3*it, (entere* ein
feltfame* ©emifd) oon flafftfdjem unb mobernem Stile.
9flein 3ntereffe an ben Sehrgegenftdnben be* ©pmnaflum* Ijatte (Td)
in ben oberen klaffen in fafl bebenflidjer SCBeife auf beutfdje Literatur unb
©efd)id)te fonjentriert, wogegen mir SÄathematif unb ^»fff, fowie bir
©rammatif ber alten Sprachen feine Siebe abjuringen Permod)ten. Dafür
ermachte ba* ©eburfni*, auf eigenem SBege ©Übung ju gewinnen. Mehrere
junge Seute »ereinigten fid) mit mir ju einer „wiffenfdjaftlidien ©efeflfehaft",
weld)e fid) allw6d)entlid) üerfammelte. Um ihren Sttitgliebern m6glid)ft
»ielfeitige Anregung ju bieten, follte jeber au* feinem 3Btffen*gebtet ben
anberen mitteilen, ta war Literatur, ^)t)t(ofopl)ie, .Hunü, Aftronomie,
SWathematif, ©efd)id)te ufw. oertreten. 3n l)i$igen Debatten würbe über
bie funbamentaljlen $l)emen, wie „Da* 2Befen ber Äunfl", „Snblid) unb
unenblid) in il)rer pf)ilofopl)ifd)en ©ebeutung", „3Ba* ifl Siebe" gejlritten.
Da wir im geheimen eine autograp()ierte $erein*$eitung i)erau*gaben, waren
wir in beftanbtger Zngfl »or ber ^olijei, unb faljen un* im ©eifie fdjon
»or ben ©d)ranfen be* ©eridjt*.
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Sicgmunb von £au*egger : Ämter« unb 3u3cnDjaljre in ©roj. 465
3m 3ahre 1890 »erlieg id) bad ®nmnaj!um mit bem Hochgefühle,
nun ben freien afabemifchen Boben betreten ju bürfen. ©id ju biefem
3eitpunft t>attc au«fcf)(ie#Iicf) ber Sater meinen mutffalifchen Unterricht in
ber £anb, ber fleh auf Jflaoierfpiel unb Theorie erftreefte; nur für SSioline
befucfjte ich bie Schule bed fteiermdrfifchen Üftuflfoereind. Auf ber Orgel
»erfudjte id) mich autobibaftifd) unb »erfab, burd) 3al)re im ®»mnafial*
gottedbienfi bad Amt bed ©rganifren.
Tic SD?etbobe, nad) ber mein Sater bei meinem Unterricht »orging,
war eine burdjaud von ber Schablone abmeichenbe. Die Auffaffung ber
Äunft, ald Audbrucf ber *Perfön lieh feit, wie er fie in feinen Schriften »ertrat,
galt auch ald 9tid)tfchnur bei meiner @rjiet)ung. „Stetd foll ald 3iel
im Auge gehalten werben, Schüler ju bilben, welchen bie SDhiflf ein be*
fruchtenbed Clement in ihrem geizigen (Sntwüflungdprojeffe werbe, berart,
baß fie ihr ganjed ÜBefen erfaffe unb alle Äußerungen bedfelben lauternb
beeinftoffe. Die SKuftf foll ben Deutfdjen werben, wad iy povoixr] ben
©riechen war, fein %aä)f fein einzelner 2Biffend$weig, fonbern ber 3n*
begriff einer, ber Eigenart bed Sßolfed entfpredjenben, biefe $u ben lichten
«£6hen h^monifcher (Jmpfinbungd* unb Audbrucfdmeife leitenben Bilbung."
Deshalb burfte in mir nie bie @mpftnbung auffommen, ald fei £D7uftf
etroad, bad pflichtgemäß gelernt werben muffe. (5d tyanbelte ffd) vielmehr
barum, mein $ßefen $ur u7?uftt ald bem ihm notwenbigen Audbrurfdmittel
hingulenfen. 3wifchen Erlebtem unb mufifalifcher Betätigung mußte ber
innigfle Äontaft l)errfd)en. Dad rein mechanifche Üben war auf bie
Stunbe unter ber Aufftd)t meined SJaterd befchrdnft, außerhalb berfelben
fonnte ich fpielen, wad id) wollte, wenn ed aud) meine $ed)mf weit über*
fdjritt. SSon einem $ag auf ben anbern tyatte id) eine fleine theoretifdje
Aufgabe ju fchreiben, welche in ber Stunbe burchgefpielt unb befprochen
würbe. Der Unterricht war ein fehr genauer unb grunblicher. 3n ben
fchwierigften fanonifchen formen unb oor allem in ber ^uge mußte id) mid)
DoUfidnbig ju «£aufe fühlen. 3d) erinnere mich, mit wahrer £eibenfd)aft
eine Unzahl $ugen gefchrieben $u hoben. Steine .ftompofltionen beeinflußte
ber SBater hingegen in feiner $Beife; barin follte id) »olle Freiheit genießen,
unb fiheinbar meinen 5Beg felbft finben. Scheinbar, benn mir ganj un*
merflid), wußte mich ber SSater aud) b>r ju leiten, baburd), baß er mir ba
unb bort beftimmter geartete Anregungen $u neuem Schaffen gab ober meine
Aufmerffamfeit auf Porbilbltche Äunftmerfe hintenfte. Auch meinen Äunft*
gefchmaef ließ er ftd) inbioibuell entwicfeln, oon ber Anficht audgehenb, baß
ber Dünger nicht fofort ju ben großen (Jnbrefultaten einer @pod)e gelenft
werben, fonbern aud bem feelifchen Bebürfntd unb 5afTungdocrmogen bed
jeweiligen Alterd fld) feine ^ieblingdmeifter frei wühlen folle. (£d gab für
mich eine 3eit, in ber ich leibenfchaftlid) für ftielbfche Sttofturnod, SWenbeld*
fohnfehe lieber ohne ©orte unb ®riegfd)e Sonaten fchwdrmte. Sie würben
»erbringt burd) einen feurigen Schumannfultud. 3mmer mdchtiger würbe
aber ber 3auber ber $Bagnerfd)en Äunft, ber enblid) jugleid) mit ber
fchranfenlofeflen Begeiferung für Beett)o»en unb Bad) oon meinem 3Befen
»6(lig BejT$ nahm. @in fritifd) ffepttfehed herantreten an bad Äunfimerf,
wie ed leiber $u oft fchon bei ben jüngjten tfonferoatori|len gefunben wirb,
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Stcgmunt »on .£>aueeggcr: Äinber» unb ^ugencjapre in @raj.
hätte mein SSater niemals gebulbet. fernen foltte man »on ben ©ro§en,
fle lieben unb nid)t befrttteln. BUer Äunft ein wanne* J^erj entgegen*
jubringen, war aud) fein lettenber ©runbfafc in 2lu$übung bed Äritifer*
berufed. Äein 9?6rgler, ber 3*nfuren erteilt unb fein 2fugenmerf barauf
richtet, bie „fehler" anjufretben, um burd) fdjulmetiterlidjen Säbel feiner
eignen *Perfon mehr ©emient \u »erleiden — fold)e SÄettjobe fei aud) bem
Stümper juganglid) — , fonbern ein Vermittler jmifcfjen Äunftroerf unb
^ubltfum muffe ber Äritifer fein. 5Ba$ jeneö fagt unb bebeutet, folle bem
£6rer burd) bie ßrtttf ju lebensvollem unb Haren ©emußtfein gebracht werben.
Üßo ftd) ernfte$ Streben unb funfllerifdjer Sinn jeige, folle ermutigt unb ange*
ftacf)e(t »erben. 9h'd)t Einreißen, fonbern Aufbauen fei ba$ Tlmt bed tfritifer*.
3fud) in ber Aufnahme »on SDhtjif würbe nad) (trengem 9>lane »on
gegangen. Seid)te Unterbaltungdmuftf mar burdjwegä audgefdjlofTen.
3n meinem 11. 3ahre burfte id) bie erfte £)per t)6ren: Den „fliegen*
ben ßollanber." ©alb würbe id> in bie Äonjerte be$ Steiermdrfifctjen
Sftuiifoereinä mitgenommen, roeldje unter anberen ^erbinanb $t)i«rtot,
Dr. $Ö. ,tienjl, Dr. Stfucf leiteten. Siefen (Stnbrucf machten in ber #ra
bed letztgenannten Dirigenten eine gldnjenbe SReueinfhibierung ber iVeifier
finger (1885), meldte in ©raj wie ein dreigniö wirfte unb meiner Saterftabt
jum erftenmal baä b.err(tcrte $Befen biefed ©erfeä crfdjloß, fowie bie (Srft*
aufführung ber VII. Snmphonie oon ©rutfner (1886); bem perftnlicb
erfdjienenen ÜBtener Stteifter unb bem genialen Dirigenten würbe mit
ftürmtfd)er ©egeifterung jugejubelt. Einen Äunftgenuß eigener 2(rt bot eine
freie 3mprooifation auf ber trefflid)en Orgel be$ Stephanienfaale*, bie
©ruefner oor einem fleinen Greife »on 3ul)6rern bem tfonjerte folgen ließ.
Damals erwarte in mir jene warme Verehrung für SBrutfnerä Schöpfungen,
weldje (Id) gelegentlich ber Uraufführung ber V. Snmphonie unter a van ;
Sdjalf in einem Äonjert be$ ©rajer itjeaterordjeflerd (1895) fldrte unb
fefligte, unb ber id) feitbem treu blieb.
3m breijehnten 3at)re (1886) fdjon betrat id) in feierlid)fter Erwartung
bie geheiligte Statte ^anrentbe. Srifian unb ^arftfal liefen mid) jum
erftenmal bie »olle @r6f}e 2Bagnerfd)er Äunfl ahnen. Diefer ©anreutrjer
Sfahrt folgten in ben nadjften 3al)ren weitere, welche für meine funftlerifcfre
Entwicflung »on einfdjneibenbfter ©ebeutung waren.
3fuf ber Unioer fHüt btfad)tt id) Sorlefungen über Literatur*, Äunft*
«Wufi fgef d)id)te, Wlofoprjte unb ®efd)id)te. 9teid)e Belehrung unb Anregung
oerbanfte id) ben Äunjtgefd)td)tö»orlefungen J^ofrat Dr. Strjngowdfi*,
weld)e mid) fo ju feffeln »ermodjten, baß id) mid) längere 3«t mit bem
«Plane trug, $unjtgefd)id)te al$ ©rotflubium ju roh\)Un. Grin fr6r>Hcf>ed unb
ungebunbened Stubentenleben fam a6er bei biefen Stubien nid)t \n furj.
3m J^aufe bed ÜlegierungÄrated 9?o6 Ratten wir greunbe unfere oft feb,r
lauten 3ufammen fünfte, bei benen felbjtgebid)tete SRitter* unb ©efpenfler*
bramen oon jwerdjfellerfd)ütternber 3Öirfung aufgeführt würben. 3lber auch
bie Äunfl »ernad)lÄf(igten wir nidjt. Sieben ^ammermufff würbe leiben«
fd)aftlic$ 9Bagner gepflegt. Äftweife würbe ber 9ting unb Sriflan burd)gerafi
unb gebrüllt; gewohnlid) fdjlidjen wir und bann in wortlofer Ergriffenheit
gum ^rühft^oppen, wo ffd) bie erfdjütterten ©emüter »teber rafd) faßten.
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©iegmunc vcn .öau$eggcr: Ämter« unb 3ugcnbjapre in @rai.
467
2Tnregenbe Stunben »erbrachte id) im £aufe beS 2frd)iteften #ofmann,
ba* (Aon feit Sauren ein ©tellbidjetn ber ßunfller oon ©raj bilbete. Dort
»erfefjrten SBeingartner, Äienjl, 9ttucf unb in le$ter 3ett £ugo «IBolf.
Unoergeßlid) wirb mir bleiben, wie 2Bolf feine eigenen Sieber, ohne jebe
Stimme, aber mit enormem Au$brucfSoerm6gen unb mit ber un»ergleid)lid)en
spoeiie feineä ÄlaöierfpieleS »ortrug.
Dm 3Binter beS 3ar)reö 1891 reifte id) mit bem SSater nad) 5Bten,
wo id) in einem gefelligen Abenb beS UBagncroereinS eine 9teif)c meiner
Äompofttionen unter freunblidjem Beifall oortrug. Am folgenben Sage
machten mir bei SohanneS BrahmS ©efud), ber meinem SBater oon feinem
langjährigen Aufenthalt in $Öien t>er wotjlbefannt war. BrahmS follte mir
einen 9tat für meine fünitlerifche 3«funft geben, tiefer war nicht fel)r
ermutigenb. AIS ber SWeitfer l)6rte, baß id) fomponiere, riet er mir batton
ab mit bem JfrnmeiS barauf, baß „fchon alle« befefct fei". 3d) folle tüchtig
©eige tfubieren, bann fonne id) alS jweiter (Seiger in einem Ordjefler
unterfommen, unb wenn eS fd)on fein muffe, nebfibei fomponieren. Söenig
erbaut empfat)( id) mid). Aber ohne bem ©ebanfen, jweiter feiger ju
werben, ndt)er ju treten, tamponierte id) bicffäpftg braufloS.
trrft entftanb eine ^rühlingSfnmphonie in brei Sägen, für ein 9011,5
unmöglichem Drchefler inflrumentiert. 3d) mußte mir hierfür eigenS 40linigeS
Stfotenpapter bruefen laffen. Grinem Sraum, ben mir mein Sater erjärjlte,
entfprang bie Anregung ju einem mufTfalifdjen SRärchen $clfrib, beffen
$ert id) red)t unb fd)led)t felbfl t>iä)tete. DaS einaftige ffierf würbe ju
meiner großen ©eglütfung im ©rajer ?anbeStf)eater unter Garl «PobJigS
Leitung aufgeführt unb fanb reichen Betfall. Der Dtd)tung lag bie Sbee
jugrunbe, wie einen in freier Sttatur, fernab oon allem ÜBeltgetriebe auf*
gewachsenen ÄinigSfohn ber Anblirf eine* wefenSoerwanbten SBeibeS jum
erjten Siebe begeiftert. 9cun hatte mir'* bie Bühne angetan. Die ftreuben
rem StubentenlebenS, fonne ben Äampf beS ibeal geftnnten 5üngliugS gegen
materialifltfche ©eltauffaffung unb oerfnochertcS 9>l)ilijterium galt eS in
einer breiaftigen, humoriftifd)*phantafHfd)en Oper bramatifd) barjuftellen. Sie
nannte ffch 3»nnober unb war nad) ber (£. Z. A. «£offmannfd)en Ghrjählung
Älein 3<*d)eS (genannt 3»nnober) gebidjtet. 3m Sanuar 1895 lag bie
«Partitur fertig »or. Der Sater unb id) traten eine SReife nad) ©erlin an,
wo id) mein 9Berf ÜBeingartner, Dr. Bie, SRicharb Strauß, Dr. 2tturf
unb einigen anberen Autoritäten oorfpielte unb meine Erwartungen burd)
bie uberau« beifälligen Urteile weit übertrojfen fal). Strauß riet mir, bie
«Partitur bei ber Üttündjner $ofbüt)ne einjureidjen, wo ffe aud) tatfädjltd)
angenommen würbe. Die Aufführung »erfdjob fid) leiber bis jum 3uni 1898.
Dafl fie unter Leitung oon SRidjarb Strauß feinen 2ßunfd) beö Äomponiften
offen ließ, war felbfloerjtänblid). Dr. kalter unb Charlotte @d)(oß
waren bie ausgezeichneten Vertreter ber beiben Hauptrollen. Der äußere
(Srfolg war ein außerorbentlid) lebhafter unb id) hatte begrunbete Hoffnung,
baß bie Oper im J^erbfl wieber inS Repertoire aufgenommen würbe. Seiber
»erließ ©trauß bamalS üTJundjen, um feine Berliner Stellung anjutreten,
unb mit feinem SÖeggang war aud) baS ©djicffal beS üöerfeS besegelt: eS
würbe „ber ©ibliothef einoerleibt".
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468
©iegmunb von £au$e gger : Ämter» unb Sugenbjapre in ©raj.
3n bicfcr 3eit lernte id) Äonrab fterbinanb SWeperd unb ©ierbaum*
®tt>id)te fennen, meldje mid) $u ben er(ten 33erfud)en auf bem ©ebtete be*
2iebe$ anregten. ÜÄit Vorliebe »ertönte id» Dtdjtungen, bie eine 9?atur*
ftimmung jum ©egenftanb Ratten. Der fftaturflnn würbe in mir burd) fctc
malerifdje Umgebung metner SSaterftabt, fomie burd) ben regelmäßigen
©ommeraufenthalt am guße bee* Dadjftein in einer an großartigen ©ilbern
reuten ©egenb frühzeitig geweeft unb ba(b jum integrierenben ©ejtanbteil
meineä fünftlerifdjen (Smpfinbenä. ftafr nie fonnte id) hierbei beobachten,
baß ein lanbfd)aftlid)er (Jinbrucf mid) unmittelbar ju muftfalifdjer (£nt*
Äußerung brangte; fo i ehr er ficf> in mujtfalifdje Stimmung auötöfte, fo
gemattete erft ba$ ruhigere (Srinnerungdbilb bie <£elbftbejtnnung, in welcher
fonfrete mufifalifdje ©ebanfen feftgehalten unb gehaltet »erben fonnten.
Die Sicbfompofttion mar oornerjmlid) geeignet, bae* 2M$u»iel ber ©türm*
unb Drangjahre einjubammen unb ju fnapperer, mit befd)eibeneren Mitteln
arbeitenber 2tu$brutfömeife ju jwingen. Sftod) einmal aber wollte id) allen
jugenblidjen Überfd)wang fdjranfenloä austoben. 9?ie$fd)ed „®eburt ber
$rag6bie" lenftc meine 3Tufmerffamfeit auf ba$ bionpfifdje unb apo0inifche
SRoment in ber &un(l, unb gab mir ben 3n(ioß ju einer „Dionpfifdun
^Pbantafie" in gorm einer fpmphonifdjen Dichtung. SBegeifterte bebend«
bejafyung foQte ffe prebigen. (Sin gdnjlid) anberdgearteted (Smpftnbungägebiet
erfd)loß fid) mir, ale* im $erb(t bed 5at)red 1897 bie Deurfd)en SbjterreicM
in heller Empörung gegen bie il)nen oon ber flawifchen Majorität aufge*
jwungenen <5prad)oerorbnungen aufloberten. Die föinbgebungen gegen bie
©ewaltmaßregeln be* STOiniftertumÄ fcabeni nahmen reoolutionären Qba*
rafter an. SBon ben genilern unferer ffiotjnung fonnte id) beobachten, wie
eine taufenbf6pftge SBolfamenge fd)retenb »or ber anfprengenben Reiterei jer*
ftob, um im nadjjcen 2fugenblirf ftd) wieber ju fammeln, unb in hodifter dr*
bttterung gegen bad $>oli$eigebäube $u (türmen. Die aufregenbften Bericht«
über blutige Kampfe unb baö (Einbringen ber bewaffneten 2£ad)t in?
9>arlamenrdgebaube würben auf ber (Straße »erlefen unb mit ot>renbetäubenbem
pfeifen unb Schreien beantwortet, faxten, alä hantle e$ (id) um 2eben
unb $ob für bie Deutfct)en. Die ringä fo wilb aufflammenbe Solfömut
mußte aud) in meinem J£>erjen jnnben. ©eibeld Qtallabe „griebrid) ©arbarojTa"
welche id) urfprüng(id) oertonen wollte, fonnte mid) nid)t mehr befriebigen.
Die bittere ©ebrangniä, weld)e*einjt bad bid)tenbe SBolf jene (tolje (sage
»om alten #elbenfaifer «Öarbaroffa fdjaffen l)ieß, ber in t?6d>fter diot ali
Detter erfdteinen wirb, erfuhr id) im eigenen £erjen. So fonnte meinem
leibenfdjaftlid) erregten Grmpftnben enblid) nur ber weitau$t)olenbe »plan
einer bretfäfcigen fpmphonifchen Dichtung genügen, welche eine Verherrlichung
beutfdjcr 3lrt unb einen flammenben *Proteft gegen bie Unterbrütfer bar»
(teilen follte. SWannigfadje #inberniffe (teilten (Td) aber ber Äompofftion
bed SÖarbaroffa entgegen, ber erft im «ßerbft 1899 unb jwar nid)t meljr
in meiner Heimat, fonbern in München oollenbet würbe.
4>anb in J^anb mit ber probuftioen ging bie reprobuftioe 3atigfeit.
Die er(ten Uiii^cnlratts jähre bienten bem Xuöbau meiner mu(!falifd)en Q3ilbung.
3m ©teiermürfifdjen 9Rufifoerein nahm id) Unterrid)t im ^Partiturfpiel
unb Dirigieren, bei Äarl 4Pol)lig, bejfen h»ftorifd)e Älaoierabenbe ju ben
/
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Stegmunö ton $ou*egger : Ämter* uno 3ugenbja&re in ©raj. 469
fd)6n|len Einbrüchen metner ©rajer 3eit gefreit, Älaoieritunben. «Weine
ÄapeUmeifiertattgfeit begann id) im intimen Stabmen be$ ©rajer ÜBagner*
»ereinä. Jßier würben unter meiner Rettung bie oon meinem Sater in$
Deutfd)e uberfefcten, unb pon mir biaxbtittten Opern Le devin du village
von SJtouffeau unb L'6preuve villageoise »on @r6tr» fjenifd) gegeben. T&fö
Vorbereitung ju ben ®anreutt)er ^eftfptcCcn com öahrc 1896 oeranftaltete id)
bie fonjertmdßige Aufführung beä Sttibelungenringed, roobet id) atlerbingä
auf bad £)rd)efter »er$id)ten unb mit bem #faoier oorlieb nehmen mußte.
Die Durchführung biefed, $at)(reid)e ©djmierigfeiten bietenben SSorbabenä
ermöglichte mir in erjter 2inie ba$ #ünftlerpaar £rdmer*2Bibr, roeld)eö
nid)t nur feine ©efangäfdjule jur Verfügung flellrc, fonbern flcf> felbft in
heruorragenbfier 2öeife aU ©rünnbilbe bjm. £oge unb STOime an ber 2Bieber*
gäbe beteiligte, ©efonberä plafiifd) treten au$ ber ftüUe fd)6ner Erinnerungen
an jene Qfbenbe ber mcifterljafte ©iegfrteb fterbtnanb Sdgerä unb ber
prdd)ttge ÜBotan Dr. ©oebelä fjerpor.
Die SHingauffübrung batte bie Aufmerffamfeit beä Sbeaterbireftord
©Otting er auf mid) gelenft; auf feine Qfufforberung leitete id) burd) jmei
3al)re eine Üteitje oon SDpcrn.
5m Üjabre 1897 beteiligte id) mid) an ber mufifalifcfjen 2Tfftftenj in
^»anreuth, unb fefyrte oon ber freubigen ©enugtuung erfüllt beim, baß bort,
im ©egenfaß jum ©efdjdftägetft, wie er faft allgemein in ben Äunfttempeln
berrfdjt, ber ftolje Auäfprud): Deutfd) fein r>eißt eine ©adje um ibrer felbft
mitten tun, in tatenfrobefter unb ooUenbeter SÖetfe lebenbig mürbe. 3m
3al)re 1899 leitete id) einer Einlabung Dr. tfatm* golge unb birigierte
in Üttündjen ein Äonjert, befterjenb aud ber @ortolan*£>uoerture, metner
bionp(tfd)en ^bantafte unb ber VII. ©ompbonie »on ©rurfner. 2116 id),
nod) beraufd)t oon ben gldnjenb »erlaufenen SERündjner Sagen jurütffam,
fanb id) meinen 2>ater auf bem »Sterbelager. Tim 23. Februar entfd)lief er.
2Bad biefer 2>erluft für mid) mar, wirb fd)on auä biefen, meinen Äußeren
unb inneren ÜBerbegang nur flüchtig anbeutenben SMdttern ju entnehmen
fein. Sttit biefem Ereigniffe fdjloffen für mid) bje forglod beiteren 3ugenb#
tage ab: 3d) mar ol)ne ^wb^er auf mid) felbjt gebellt. Dem reichen 23er*
mdd)tnid oertrauenb, baß mir bie/ flctd mit unoerminberter SebenöfuUe in
meiner Erinnerung fortmirfenbe ^erfdnlidjfeit be$ Saterä fd)uf, perließ
id) im #erbft 1899 mit meiner Butter bie J^eimat, um meine (Stellung al*
Dirigent bc$ J?aimord)efrerd anjutreten.
©übbeuttöe aHtmat*$eftc. 11,6. 31
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3ugo TDolf in feinem Pecl>ältnie $u Uidjacö
tt)agnet,
SDfirtcilungen unb $öerrad)tungen oon Äarl £ecfel in SRannpetm.
ffiagner t>at frühzeitig auf SÖolf mit einer STOadjt eingewirft, bie beffen
lehrjaftetfe ©egeiflerung entjünbete. 9*ad) ber benfwürbigen $annt)aufer*
2Cuffül)rung in 9Öien unter ber perfonlidjen Snwefenrjeit SÖagner*, im
SRooember 1875, fd)rieb ber fünfjeljnj&rjrige 5Öolf nad) £aufe: ,,3d) bin
burd) bie STOufTf biefe$ großen 2Äeifler$ ganj außer mir gefommen unb bin
ein ÜBagnerianer geworben." STOtt rüt)renbem (Jifer wußte er jid) baraate
bei 3Bagner Eingang ju »erfdjaffen, um ifjm feine Kompositionen $ur StV
urteilung »orjulegen. 3fber Weber SBagnere" leidet begreifliche 3fb»eb,r:
„2fld ich nod) fo jung mar, wie Sic je$t, unb fomponierte, fonnte man
au di md)t fagen, ob idj ee* weit in ber Wtufit bringen f6nnte," nod) bae
(Scheitern ber in ben nad)jten fahren mieberi)o(ten 23erfud)e perf6nlid)er
Tfnnarjerung, »ermodjten 58olfö" reine Eingebung gu trüben, ober gar ib(m
bie übermächtige fünftlerifdje Srfdjeinung ©agnere" ju »erfleineru. 3m
3at)re 1883, mehrere Sage nad) Wagner* $ob, fcrjrieb er an Sffottl, mit
bem er im Sarjr juoor „in grenjenlofer ©egetflerung" ben ^arfifaf in ©aoreutb
gebart blatte: ,,9lod) rjeute fann id) faum glauben, baß ber ©tonn tot itf,
ber un$ elenbe ?eb,mpa$en erft ju iföenfdjen gemalt rjat."
Tic Äritifen enblid), bie 3Bolf roabreub »ier jähren ins „Liener
©alonblatt" fdjrieb, (äffen feinen 3meifet barüber auffommen, auf welcher
(Seite er in bem Kampfe ftanb, ber in 3Bien befonber* rjeftig jwifeben
„Wagnerianern" unb „£ntiwagnerianern" tobte. 'Iber er »erteibigt aua>
bie 5ßerfe 5ßagner$ gegen jeben 2h,eaterfd)Ienbrian. 3BaÄ in ben Wiener
3fuffüt)rungen, jum ©eifpiel M „$annl)aufer", be$ „?ol)engrin" unb in
„Sriftan unb 3folbe" gegen ben @eift ber Werfe »erfaßt, wirb »on ihm
auf ba$ fdjärffte angegriffen mit Waffen, bie er ffd) aud Wagner* (Schriften
gefdjmiebet rjat.
greilid) eine* jeigte ffd) fdjon bamal*: jum blinben Parteigänger
taugte Wolf nid)t. ifl burefjaud nid)t ber Meinung, atte Welt müffe
nun im Stile ber großen Werfe Wagnerd fomponieren, fonbem er entfefct
fid) über jebeä nitag tretenbe SD?iß»erl)dlrntS jwiftfjen 3wetf unb OTittel.
9ttit fdjarfem Spott befampft er eine Wagner naebahmenbe „Serenabe" unb
fd)reibt: „2fußer ber türfifdjen SfttufTf fehlen nur noch, bie oier Wagnerfdjen
Suben, allenfalls nod) oier ©locfen, um bie Stimmung für ein 3benb<
ftanbehen im ^ublifum ju erzeugen, ifl wirf(id) erfiannlid), wie weit
ba$ ®ro$ unferer mobernen Komponiflen orjne ©runb unb Urfad)e über bie
(Srenjen ber mufifalifcfjen STOittel unb ber gorm fld) h,inwegfeRt. ©ew6h.n*
üd) b,eißt e* bann: bad ffnb bie ^ofgen ber 9Bagnerfd)en SRufif, bie »er*
brel)t ben jungen beuten bie Ä6pfe, feiner tut*« meljr ot)ne großem Or--
d)efler u. f. f."
Stieltet ffd) biefer Angriff bereit« gegen bie wiHfürIid)e 3(nwenbung
großer OTudbrucf^mittel bort, wo fein ©ebürfnie* fie erforbert, fo ging $Bolf
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Äarl #etfel : #ugo ffiolf in feinem JBerbälrni« ju SRüharb Sßagner. 47 1
balb weiter unb befämpfre nicht nur ben Sttißbraud) ber Littel, fonbrrn
aud) ba« ©ejlreben, ftd) allju l?or>e Aufgaben ju (teilen, ju beren Wfung
eben nur ein SXidjarb ©agner berufen war. ©erabe, baß er ©agner« un*
»ergleidjliche @r6ße, wie faum ein anberer, in ihrem ganjen Umfang em*
pfanb unb erfannte, mag hierbei beftimmenb auf tf>n gewirft haben.
31« Antwort auf ben 58orfd)lag eine Oper „S&ubblja" ju fomponieren,
fdjrieb er an ©rohe in SRannheim: „©agner Ijat in feiner unb burd) feine
Äunft bereit« ein fo gewaltige« <5rl6fung«werf oollbrad)t, baß wir un« beffen
nun enblid) aud) erfreuen f6nnen, baß mir ganj unnufcerweife ben Gimmel
(türmen, meil er und bereite erobert ift, unb baß e« ba« ©efcheitefre ift, in
biefem fd)6nen Jßimmel ein recht freunblidje« piafcchen und ju fud)en."
Unb in einem Briefe an mid) l)eißt e«: ,,3d) befenne gern, baß mein
mufifalifche« Talent ju gering ift, einen Stoff »on ber ®r6ße unb ©ebeutung
be« fcubbha »ottfommen ju beherrfchen; baju getane ba« ©enie eine«
9tid)arb ©agner. Da« (Srperimentieren ift anberfeit« wieberum nid)t
meine Sache."
9?td>td lag ihm ferner, al« in ©agner« ftußftapfen $u treten. Stticht
immer befchrdnft fid> feine 2fbwel)r auf eine, übrigen« bereit« mit einem
guten Seil Sronte getrdnfte ©efdjeibenheit, fonbern e« emp6rt ihn, für einen
„Äumpan" ju gelten, ber „aud)" wagnertfd) fomponiere. Unb, wo er biefer
Tluffaffung wirflid) ober oermeintlid) begegnet, mad)t er feinem Unmut in
uberfprubelnber ©eife V u fr, wobei ihn fein gerabeju pirtuofe« Talent ju
fd)impfen bie wiUfommene ©elegenhctt bietet, burd) f6ftlid)e Überbietungen
feine« arger« biefen felbft ju uberwinben.
(Sin charafteriftifche« fceifpiel, wie l)od) ©olf ©agner »erehrte, erjärjlt
fein portrefflicher Biograph, @rnit £ecfe»: „©enn £ugo ©olf im (Scfftetnfchen
greunbe«freife au« ©agnerfd)en Partituren »orgetragen l)atte — unter
anberem führte er an einem flbenb bie Parfifalmujtf in munberbarfter SSer*
flarung am Älaoier auf — bann fdjloß er ben ftlügel, benn er bulbete nicht,
baß nad) ©agner nod) anbere« gefpielt werbe."
Einen Schritt weiter unb wir »erflehen aud), baß ©olf Pom ©runbe
feine« oeret)renben #er$en« au« weber oon f?d), nod) oon anbern bulben
wollte, baß nad) ©agner innerhalb beffen eigentlicher Sphäre „nod) anbere«"
gebid)tet unb fomponiert werbe, „©agner unb ©ruefner, ba« genügt ooU*
auf, um ein ganje« SWenfdjen leben mit ben ebelflen ©enuffen unb allen
nur erbenflid)en ©onnen au«jufüllen," »erflcherte er feinem ftreunbe
Paul matt.
SD?and)e« aßju fd)arfe, unb in abfolutem Sinne gewiß ungerecht ju
nennenbe Urteil ©olf« erflÄrt fid) au« biefer £erbe unb äonfequenj feiner
SBerefjrung. Sflur feine nachgeahmte ®r6ße unb anempfunbene Seibenfehaft!
(Sin bejeichnenbe« SBeifpiel ifl mir in Erinnerung. SÄtt großem
Sntereffe griff ©olf nad) bem Älaoierau«jug einer erfolgreichen mobernen
£)per, ben ich ihm vorlegte; wollte er bod) bamal« benfelben Stoff fom*
ponieren. 3ber al« er in ber erjten Sjene bie SBorjeidjnung „Wtit efjta«
tifchem 3ubel" fanb, ba meinte er: „hier oben fleht1«, aber ba brinnen ift
nicht« ju merfen," unb fd)lug mit ber Überzeugung, baß ber Stoff nod)
nicht fomponiert fei, ba« ©ud) ju.
31»
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472
Storl #ecfel : |>ugo 2Bolf in feinem 93erbdltnid ju 3itd)arb Sagner.
$Bir »tffen au« ben Briefen »ort (Sorneliu«,1) wie biefer feie (sonnen*
ndbe $öagner« mteb, au* ^urd)t, aUgu mächtig angezogen ju werben, unb
wir begreifen e«, baß Üßotf, ber fchon fo jung in ben 3auberbann biefer
mächtigen Üuntf geriet, unb ber in 3Öien befonber« unter ben „SÖagnertanern"
greunbe unb im Schöße be« SÖagneroerein« »erfidnbni«willige 3ub6rerfanb:
feine füntflerifdje Unabt)Ängtgfett oon ©agner nur in frrengtfer Selbfljutht
erwerben unb behaupten fonnte.
3Bag bei anberen bie 3agb nach SRemim«$enjen eine ausgiebige 23er*
gnügung bieten, bei 2Bolf bagegen läge e« nafje, Spuren nachzugeben, bie
al« bewußte ober unbewußte 2(u«biegungen »or 5Bagner erfcheinen unb
ntd>t feiten oon bem gunachfHiegenben 5Beg ableiteten. £)arau« mag fleh
pielleicht manche ©tjarrerie erfldren, gewiß aber fetjr oft auch bie Erfdjließung
neuer 2ru«brucf«formen.
2Bal)re Verehrung jeigt fleh bei bem reifen Äünftler nicht in ber SRaaV
abmung, fonbern in ber Scheu, bem ©roßen ju nahe ju treten. Da« ftanb
bei ffiolf feil. Unb wer in ©anrcutb ,,al« ber berufende Nachfolger 5Bagner*"
gewertet unb gefehlt würbe, pon bem »erlangte er Eigenartigere*, al« nach
feiner Überzeugung in £umperbincf« SWarcbenoper geboten würbe.
£ic übertriebene Scharfe feine« offenen Urteil« erfdjeint und babei
aUerbing« um fo ungerechtfertigter, wenn wir bebenfen, baß $umperbincf,
gan$ im Sinne 9ßolf«, bereit« bei ber 5Bat)l be« Stoffe« ben SBillen zeigte,
bie 9?acf)eiferung ber berotfeben @r6ße ©agner« ju »ermeiben. Überhaupt
bürfen wir nicht überfeinen, baß ffiolf« Urteile jtarf »on momentanen
Stimmungen beeinflußt würben, unb baß er oft felbft fte wieber umfließ.
3Äan wirb e« baber begreiflich ftnben, baß weber „bie »erntalebeite
Xicbterbrut", auf bie er bie febaumenbe Schale feine« 3orne« au«goß, noch
bie „mufljierenben Sdjwarmgeijter" fich feine abfpredjenben Urteile aßju
fetjr ju ^»erjen nahmen, wie Diele fteinbe ihm feine „borftige Eigenart",
beren er fleh in einem ©riefe an £umperbtncf felbjt anflogt, auch machen
mod)te.
„E« ffnb impuljtoe, nicht prinzipielle Äußerungen, Stimmungen, nicht
Entfcbeibungen." £tefe« ©ort tJecfen« gilt oon oielen brieflichen Hui*
laffungen über ÄünfUcr unb ©erfe, ebenfogut wie oon ©olf« geringfügigen
©emerfungen über bie 3c'rDcrun9 feiner .Humt burch bie ©agner»ereine.
3lber hier, wie bort lag eben boch, wie wir feben werben, feiner Antipathie
eine tiefere Urfache jugrunb, au« ber (ich t>iele 7(u«laffungen (eicht erflArcn.
©olf oerhehlte fleh burebau« nicht, wie oiele« er ber ^Propaganba ber ©agner*
»ereine oerbanfte, jundchll in ©ien, bann aber auch in ®ra$, Mannheim,
Darmjlabt unb in anbern £>rten, unb e« lag ihm fern, biefe« Eintreten
nicht anjuerfennen.
3n einem überau« herzlichen ©riefe »om 24. $ebr. 1897 fchrieb er
an mich: „£a ich perfonlich ju bem ©agneroerein in Mannheim fetnerlei
gühlung fyabt, glaube ich am heften ju tun, wenn ich mich an Sie wenbe
mit ber SMtte, bem herein meinen tiefgefühlteren Danf für fein fornpatbifebe*
Verhalten meinen ©cflrcbungen gegenüber, gu übermitteln." 3lber er hatte
y) *Jgl. $rfl i trt II. Sahrgang« btefer 3«tfartft.
f
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Äarl #ecfel : £ugo SBolf in feinem 93erbältnte )u SR{rf>ort> 2Bogner.
473
nid)t 5Bolf fein muffe«/ um fdjweigenb ba$ ®eful)l ju überwinben, baß man
ihn in ben Vereinen »telfad> nur ald $omponi(t ber 3Bagnernad)folge —
al$ einen unter »ielen — fd)d$te, orjne tljn in feiner, fo heftig nad) Un*
abljdngigfeit ringenben Eigenart ju erfennen.
©d)on 1889 erflärte er ©dialf, ben üßiener 3Bagner»erein nidjt mehr be*
fuchen $u wollen, aud) wenn er ffd) auf biefe ÜBeife ben 2Beg jur Äffend
lid)feit »erfd)ließe. „Oft e$ nicht Piel beffer unb fd)6ner pon einigen SBenfdjen
geliebt unb »erftanben, ald Ben taufenben get)6rt unb gefd)tnaf)t ju fein?"
„9?ur feine Apoftel!" ruft er bamalä auä. 2fber Pier Dafyre fpdter,
in einem Briefe an (Smil Kaufmann, urteilt er wefentlid) anberd, unb eö
bebarf feine$weg$ einer großen (5d)arffid)tigfeit, um ju erfennen, baß eä in
9Bien weniger bie £>ffentlid)feit felbft war, bie er fd)eute, aU bie frembe
flagge, unter ber er feinen @injug galten füllte.
„2Rir fdjeint gar," fjeißt e$ in bem ©riefe an ßauffmann, ,fid) fange
an, in Bübingen Sflobc ju werben, ^ublifum, ©Anger unb Äritif »er*
fd)m6ren flct> ja färmltd), mid) mit ©ewalt jum berühmten Jtomponijten ju
machen. 9?un, fo eine S3erfd)m6rung barf man ffcf) wotjl gefallen laffen!
2Ber m6d)te ba nidjt aud) gleid) £>pfer fein? Unb wa$ ba$ ©onberbarfte:
bted alleS gefd)iet)t ohne patent unb angemaßte 2ßurbe, ohne ©leiänerei unb
Augenüerbrebung, ohne baö unumganßlid) notwenbige @rl6fungdbebürfntä,
fur$ otjne 3Öagner*5Berein ober ^Bagner^weig^erein, ja fogar ofyne ben
l)6d)(ten ©apreutljer ©egenü ©lauben ©ie, baß man ohne ben lefcteren be*
flehen, baß man ohne itjn überhaupt $un(Her, 3cttgenoffe, Üttenfd) fein fann?"
<S$ machte il>m greube: baß (Id) „außerhalb ber 5Öagnerpereine fojufagen
aud) nod) SD?enfd)en fanben" bie für ir>n eintraten, benn er empfanb e$ ba*
mal* al$ ein tjobe* ©lücf: rein um feiner felbjt willen, ganj unb gar un*
abhängig Pon Sßagner, beurteilt unb in feiner ©elbftanbigfeit unb Eigenart
erfannt ju »erben.
Unb bennod): fo bewußt unb jtanbljaft 5Bolf e$ Permieb 3ielen ent*
gegenjuflreben, bie it)n in bie Bahnen SEBagnerä fjinüberjiefjen fonnten, e$
wdre falfd), barin nur eine ©elbjtbefd)ranfung um ber eigenen Originalität
willen ju fet)en unb nidjt aud) bie urfprüngi ufu ®egenfafclid)feit 2Bolf$
$ur SRatur ©agnerS ju erfennen. 9?id)t nur generell jmifdjen ber (Jmpftnbungä*
weife beö protejtantifdjen Sadflen unb bed fatbolifdjen ©teiermdrferä, fonbern
aud) inbtwbuell bi$ in bie legten ©pmpatljien unb Antipathien ihrer
Sflaturen. Wlan wirb Pergeblid) bei $Bolf nad) Urteilen fudjen, bie, etwa
im ©inne ber ©apreuttjer QMdrter, bie pt)ilofopt)tfd)*etl)ifd)e ©ebeutfamreit
ber ffierfe ÜBagner* Perrjerrlidjen. Unb man wirb fofort feine große 95or*
liebe für bie „2Eeijterfinger" Per|ief)en. J^ier »or allem war „bie funfUe*
rifdje ^reiljeit" unb „^eiterfeit" ju ftnben, bie edialf alt erfler bei 5ßolf
erfannte.
3n beftimmter iHid)tung nod) bejeid)nenber aber erfd)eint mir bie Snmpa rb u-
2ßolf$ für eine anbere Arbeit 2Bagnerö, bie fld) an Umfang fo gar nid)t mit
feinen großen SOBerfen meffen fonnte, ja bie er felbjt ald eine w^ripatfompofftion"
bejeid)net hat. 3n einem ©riefe Pom 6. Dejember 1871 an meinen Sßater
bejlimmte ffiagner Sage unb ©tunben für bie groben \n bem großen Äonjert,
baä er in SP?annl)eim birigierte, unb fufjr bann fort: „20 £e$ember: dim
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474
Äarl |>erfel : £ugo ffiolf in feinem ©crbältni* ju SRidjarb SSagner.
f leine ^riöatunter Haltung für mid) unb [ehr wenige nächftc greunbe; jum
£urd)fpielcn einer Keinen >"Priüatfompofitton wirb ald ®unft unb befonbere
®efälligfett erbeten 6—8 erjte ^ioliniften, 7—8 jweite »ioltniften [ufw.] . . .
Stimmen bringe td) mit." fctefe $ri»atfompo(ttion, beren Aufführung in
SKannheim bamafd, außer $rau 3Bagner, 9iie$fd)e, SRitter unb $ol)l, nur
nod) ber 33orjtanb bed 3ßagnen>ereinS unb einige wenige AuÄerlefene bei»
wohnten, t>at 5Bagner (leben 3aljre fpäter aU „Siegfrieb*3b»ll" ber
£ffentltd)feit ubergeben. Sie würbe ÜBolfä Liebling. Gr gerät in Empörung,
als er bie reine ffiirfung in einem Konjert burd) ju rafdjeä Sempo getrabt
ficht unb fd)reibt im „©teuer Datenblatt": „5Ber im lefcten Philharmonien
Konjert btefed himmltfcrje Stücf jum erjten SKale ^chert, fonnte unmöglich
ein richtige* ©ilb oon bem lieblichen Stimmungdjauber, ber jTd) wie golbtger
2J?aienfd)ein über biefed buftige Songemälbe ausbreitet, gewonnen haben."
£a* war im SD?ar$ 1887. Aber fdjon brei 3at)re »orf)er war SBolf für ba*
«eine SBerf, ba* er in fein £erj gefchlofien, eingetreten. Jfm Schluffe jener
fdjarfen Kritif über bie Serenabe, beren Bufmanb an AudbrucfSmitteln ihn
empörte, l)eifjt e$ oom Siegfrteb*3b»ll: „Dad ift ein fehr ernfte* Stütf unb
gan j unb gar nicht au$ Spaß f omponiert. 5?? an [che fleh baä Drcheftcr an :
eine $(6te, eine Jßoboe, eine [2] Klarinette, ein ^agott, ein J^orn, eine
trompete unb baö Streichquintett. 9?un? Klingt eä nid)t bod) recht hiibfcfi,
aud) ohne bie 2>erboppelung ber J&oljbläfer? ohne bie üblichen oier ferner
unb jwet trompeten? ohne Raufen? welche fnappe, einheitliche ftorm, unb
freilief) nicht ju »ergeffen ben 3nt)alt! Konnte man biefed Stücf wol)I anberd
betiteln a(6 3b»fle?" Die Vorliebe SBolf* für biefed buftige Songemälbe
mit feinem „golbigen SWaienfchetn" ift (Te nur im pofftioen Sinne für SBelfd
SBerhältnid ju ©agner charafterijhfd), laßt fte nicht aud) ben Schluß ju, baß
bei aller Verehrung bod) baö mächtige patljod, bad bie t)i(lorifd)e ©r6ge
©agnerd audmadjt, bem Jßergen be$ jungen SBufiferd ferner ilanb? Unb
jwar aud ©rünben tiefinnerfter Sflatur?
£>ie STOufif ifl bie mad)tigftr Kunft. ©id man SBagner auf bad hoch fte
loben, fo rühmt man, wie feine Kunft $ur 3fnbad)t jtimme unb enblid) ben ganzen
SDIenfdjen gefangen nehme, tf)n bid in feine Siefen erfd)üttere, bid jur Selbft*
»ergeffenheit überwältige . . . Aber ber SWufif Übt aud) eine anbere 3Birfung
inne, »ermöge ber wir nid)t in wißcnlofcr J&ingebung »erftnfen, fonbern aller
Schwere »ergeffenb, und erhoben füllen. 9Ran fragt ffd) mit ?Red)t, fottre
3Bolf nur bad efilatifdje ©ebaren „ber Epigonen «Weoerbeerd unb ©agnerd"
(fd)on biefe feine 9?ebeneinanber(iellung ift »erbAchtig) oerworfen l)aben, foOte
er niemald bie mächtigen 3lffefte ber 3Bagnerfchen Kunft felbfl ald einen
feiner Sttatur wiberflrebenben I)rucf empfunben h^ben? Unb follte er biefe
(Smpfinbung nie auögefprochcn haben, trofc feined unbänbigen Cranges nad)
offenherziger rürfh^^ofer Mitteilung?
3n ber $at, wir beff$en ein folched 3*ugniö. 3n einem ©riefe »om
5. 3ugujt 1893 berichtet üßolf an Kaufmann, baß er eifrig bie le$teu Sonaten
©eethoüenS fpiele unb einen hohen ®enuß barin ftnbe „ben ganjen prächtigen
93au in feiner wunberoollen 3frd)iteftonif mit ein* \u überfchauen unb üoD
auf (Ich wirfen ju laffen," unb fährt bann fort: ,,9?ad) ber beraufchenben
inarfofe 3Bagnerfd)er Kunfl bünft mich ©eethooenfehe ÜÄufff wie J&immelS*
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Äarl £ecfel : £ugo 2Bolf in feinem «ßerpältm'd ju 9ti(f>arb SBagner.
475
äther unb SBalbedluft. 3ene benimmt mir ben Stern unb fchmettert mid)
ju ©oben, biefe aber erweitert bie Hungen unb befreit ben ®eift unb macht
einen förmlidi jum guten SWenfchen, wie bie ffiagnerfdje Äunft in ihrer
Überfülle einen $um ÜÖurm begrabiert." 5aft fd)«nt SBolf felbfi über biefe
Üßorte erfdjrocfen ju fein, benn er fe$t fofort l)inju: „iJedljalb aber burfen
(Sie nicht annehmen, baß ich plö$lid) unter bie 3nti*3Bagnerianer gegangen,
wogegen ich mid) allerbingd ernftlid) 51t »ermatten Ijätte, wäre ed aud) nur
um meine eigene fünfHerifdje (£riftenj ju rechtfertigen. UBagner m unb
bleibt boef) ber £>bergott, wenn er feinen Anbetern »ieHeicht aud) mel)r $urd)t,
ober wenn ©ie wollen, £t)rfurd)t ald Siebe einfloßt."
Sud biefer ®egenfä$lichrett feiner Sttatur ju SBagner gewann SBolf
ben Äbflanb, ber ed iljm ermöglichte mit offenen ©innen unb warmem
#erjen bie Äunjt ÜBagnerd in (Td) aufjun ernten, oljrtc ftd) an ifym $u »er*
lieren. prüfen wir nun, in welcher Seife 2Öolf 9Öagnerfd)e <prtn$ipien
feinem ©chaffen jugrunbe legte! ©efjen wir »or allem $u, wie er ffd) bad
»on SBBagner befttmmte SBcrtjÄItntd von SGBort unb Zon aneignete. 23om
©tanbpunfte HEBagnerd aud f6nnen wir fagen, baß bie ©timmung aud ber
ein ®ebid)t geboren wirb, burd) bad $Bort allein nicht »ollftänbig jum 2lud*
bruef fommt, fonbern baß ber Dichter gezwungen ifi, mad fid) im legten
®runbe ald unaudfpred)bar erweift, bem ©efür>t nur anjubeuten. Dad
gilt natürlich nur bort, wo bie Stimmung einem bem SBort allein un*
erreichbaren Untergrunb entquillt. Denn in einem ®ebid)t, in bem bad
Oßort refUod ben Snljalt erfd)6pft, bleibt für bie «Wufif feine Aufgabe übrig.
3um minbeften oermag fie ffd) nur begleitenb unb iHujlrierenb ju »erhalten,
nid)t aber wie bei SBagner unb ÜÖolf: »om ®runb aud ergänjenb.
X)iefe (5rgän$ung, bie bem 93ert)ältnid »on ?D?ann unb 2Beib entfprtdjt,
ijt jebod) nicht ber SWelobie allein mäglid); benn biefe oermag nur ben
bid)terifd)en 2Tudbrucf ju Reigern, fonbern »or allem: ber Harmonie.
3t)r Wied $Bolf in feinen Biebern eine neue, oor 2Bagner unbenfbare 3fuf*
gäbe ju. 2lld er feine lorifdjen SÖerfe nid)t für ©efang mit $la»ierbe*
gleitung, fonbern ald Sieber für eine ©ingftimme unb ßlaoier bejeichnete,
ba wottte er nicht etwa nur auf eine bem ®rab nad) wichtigere Betätigung
bed Älaoierteild hinweifen, fonbern er war fid) bewußt, baß biefer Bejeid)'
nung eine tiefe, wefentlidje Berechtigung jufam.
3Bolf hat — (leiten wir und bied mit »oller Deutlichfeit fejt — in
feinen Siebern bem Äla»ier jene orcheftrale Aufgabe juerteilt, bie SBagner
ald bie eigentliche Beftimmung bed Drdjefterd erfannt bat. Cimlich bie 2fuf*
gäbe, bem ®efül)le bad unmittelbar funbjugeben, wad ber 2Bortfprad)e un«
audfpred)lid) blieb.
3ßie fleh 2Öolf nicht begnügte, nur „forreft" ju beflamieren, fonbern
wie er ganj im ©inne ©agnerd: bie SRelobie aud bem ©prad)»erfe f)er»or*
gehen lief — burd) naturgemäße Steigerung feined 3fudbrucfd — , fo be*
beutet auch bie miterflingenbe Harmonie nidjt eine frembe iUuflrierenbe
3utat, fonbern in ihrem reichen »ol»»l)°nen ©ewebe ben lebenbigen »laftifchen
Ä6rper bed Stebed, ald beffen charafteriflifche ^l)»ffognomie wir bad gefungene
2Bort bezeichnen bürfen.
Uaraud, baß SBolfd SWuflf ffd) jebe wittfürliche egoiflifche Unabhängig*
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476 ftarl Hertel : ^ugo 2Bolf in feinem 93er haltmo ju 9ltcf)arb SÖagner
feit »erfagt unb bagegen burd) tnntgfle Sttacfjempfinbung bad ©ebtcf>t nach
ber $tefe erganjt: erfl&rt ed ffd), baß wir bei irjm nidjt, wie fonft wohl,
über bem jtomponifren ben Dichter »ergeffett, fonbern ganj im ©egenteil ju
ber Überzeugung gefangen, nun erfi ein @ebid)t in feiner SSollftdnbigfeit ju
»ernennten, nun erjt ed in feiner runben Äärperrjaftigfeit mit bem geijtigen
2(uge ju erfdjauen, wo mir »orber manchmal nur eine (Silhouette fahren. 3a, ed
mag gefd)eb,en, baß mir ju ber (Smpfntbung fommen, 3öotfd Harmonie fei ber
Ü)?utterfd)oß, aud bem nidjt nur bie STOelobie, fonbern aud) bad mit ihr
wefendgfetdje ©ebidjt nun erjt geboren werbe.
Damit aber hejeugen wir nur, baß ed SBolf gelang, gemdß ben »on
SBagner aufgehellten ©runbfa$en, in feinen Biebern organtfdje $un(i<
werfe ju fdjaffen. Dad gleidje faßt ftd) nur »on wenigen anberen lieber*
fomponijten fagen, fobalb wir und an bie oon ffiagner gegebene Definition
halten. Xenn Wagner laßt ald organifcfjed £unfhoerf nur bad gelten, wad
bad S3ebingenbe mit bem ©ebingten tn fccf> fcfjließt unb beibed jur fennt*
lidjften tfBarjrneljmung mitteilt. Drganifdje Äunflwerfe im (Sinne 2ßagner*
flnb alfo weber jene zahlreichen mobernen tfieberfompofttionen, bie ftd) mit
mer>r ober weniger Raffinement rein iffuftrierenb jum ®ebid)t »erhalten unb
bedhjalb nidjt jur ©ejtaltung ber mufifalifcfjen <£tnl)eit gefangen, noch
jene Sieber, bie jwar ald muftfalifcfje @int)eiten erfdjeinen, aber bafür ber
innigen SBerfdjmeljung mit bem ©ort entbehren. 2>ad ©ebingte ffnb (Sprach*
»erd unb bie if)tn abaquate SDMobie, bad QSebtngenbe: bie burd) bie polyphone
Harmonie funbgegebene Stimmung; aber aud) bie Situation unb bie Um*
weit, fo weit ffe auf biefe (Stimmung einwirfen.
2fuf biefem (Stanbpunfte angelangt, eröffnet ftd) und eine weitere (£in*
f!d)t in bie SBerftarfung ber bidjterifdjen $Birfung burd) bie SRufif. Sffiabrenb
ber lorifdje £5id)ter auf eine einmalige ober bod) nur »ereinjelt ju wieber*
f)olenbe Äennjeidjnung ber (Situation befdjranft bleibt, ift ed bem SD?ufifer
— ald £armonifer — moglid), und biefe (Situation fortgefefct ald an*
bauernb, ober aud) ald »ariierenb ju vergegenwärtigen, gleid)»iel ob ih,re
Linien parallel mit bem ©ortoerd laufen ober nid)t. 2Ber SÖolfd lieber
nafjerjprüft, wirb Salb erfennen, baß er ftd) nid)t begnügt, nur bie jeweilige
befonbere ©timmung unferem ©efuhjl mitjuteilen, fonbern baß er burd)
geniale $eranfd)aultd)ung ber (Situation bie 2Birfung ber nunmehr
muftfa(ifd)#bid)terifd)en (Sd)6pfung mächtig oertieft. 2fud) hierbei hantelt ed
ftd) wieberum nid)t um bloße SHujtrationrn, fonbern um bie SBerbeutlidjung
bed realen Untergrunbed ber fd)6pferifd)en Stimmung.
3(ld d)arafteri(lifd)ed ©etfptel für eine foforttge unb anbauernbe Mtnn*
jeidjnung ber Situation, wo fold)e im ®ebid)t erjt »erfpdtet unb nur einmal
jur Äunbgebung gelangt, m6d)te id) bie 93eranfd)aulid)ung bed SBetterd burd)
bie unaudgefefct nieberfallenben Regentropfen im „<Sd)otar" bejeidjnen; aud)
bad SD?arfd)tempo in bem fpanifd)en ?tebe ,,©ie blafen jum 2fbmarfdj" unb
nod) »tele anbere S&eifpiele waren anjufüljren. 3wei jeitlid) getrennte 3?or*
gange werben und auf biefe SÖeife in (Sidjenborffd „©tdnbdjen" burd) ©off
gleichzeitig oeranfd)aulid)t: inbem und ber tflaoierteil bad (Stimmen unb
luftige (Spielen ber ©itarre bed mufijierenben ©tubenten vorführt, wihrrnh
ber ©dnger felbft, nidit etwa ein (Stanbcfjen bringt, fonbern und erjaljlt,
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I II — _ ,
Äarl Werfet : £uge Seif in feinem 93erbältnid ju S»id)orb Sßagner. 477
ba§ er einmal in jungen Sagen an ber gleichen (Stelle fpieftc unb fang; fo
bag wir ebenfowohl bie ?uft bed einen, wie bie wehmütigen Erinnerungen
bed anbern nachempfinben. (Sehr treffenb fyar tyaul SWüller, um biefen »or*
trefflichen Interpreten 3Belfd anjufübren, Pom „sprometheud" gefagt: „ÜBolf
macht baraud eine ganj bramatifche Sjene, einen Dialog jmtfehen ^rometheud
(Singftimme) unb bem jürnenben 3eud (Älaoter). Dad (Stütf beginnt mit
einem gemaltigen ©ewitter, bem ^Prometheud antwortet: „Bebecfe beinen
Gimmel 3eud mit SBolfenbunft." 3mmer wieber fahren bie wuchtigen
Donnerfchlage in bie fraftooll trofcigen Sieben bed Titanen hinein. STOancrj?
mal fdjeint ed, ald t)6re ber gehöhnte ©ort mit »erhaltenem ©rimme ju:
bann roieber brechen bie Elemente entfeffelt lod, unb unter Donner unb
Bli$ fchließt bad gewaltige (Stücf."
5ßie bei (Schubert unb (Schumann aud) bei Sßolf, betreffe ber Bühne,
»on einem gelegentlichen Qludflug ju fprechen nad) einem fremben unoertrauten
©ebiet, ijt nur bem m6glid), ber nicht weiß, wie tief 3Bolfd «Sehnfudjt nach
ber Oper in feinem ÜÖefen wurjelte, bad ftetd nach rejtlofer 2fudfd)6pfung
unb »oflfommenfler Darftellung einer (Stimmung »erlangte. 2Öenn Brcthm*
im Berner ^reunbedfreife, ald un»erbefTerlicher .ßagefiolj, erffdrte: „lieber
heiraten, ald eine Oper fchreiben," fo fagt und ÜBolfd leibenfchaftliched (Suchen
nach einem ihm abaquaten Opcrtert: lieber auf alle freuten bed bebend,
ald auf bie Oper perjidjten.
Daß eine folche übermächtige (Seljnfucrjt nach bramatifcher ©eftaltung
aud einer innerlichen Äraft entfprang, bie nach freier Betätigung »erlangte,
ift leicht $u begreifen, 9?ur befanben jTch SBolfd greunbe, unb mit ihnen
wohl er felbfr, im Srrtum, ald fic glaubten, ed genüge ein — mögliche »on
aller ffiagnernacheiferung entfernte« — ©cbicfrjt in jwanglofer bramatifcher
$orm unb baju 2Bolfd prägnante Vertonung, um ein wirfamed Bühnenmerf
ju fchaffem
Ußolfd ^Jrometheud, mit fo »ielem Stecht man auch »on feiner brama*
tifchen 3Birfung fpricht, würbe burchaud nicht ohne weitered bie (Sjene eined
Dramad abgeben f6nnen. Dad Bilb, bad unfere s)>hantafie »on bem
fertgefefct Blt$ unb Donner fchleubernben 3eud ffch macht, ift ein anbered
ald ed bie Bühne bietet. 3a bie Aufgabe ber mufifalifchen Darftellung
bed einen Bilbed ijl »on ber bed anberen im ©runbe »erfchieben. Ed geht
nicht, ffch gwar für bad mufffalifch*bid)terifche Empfinben an bie Vorgänge
auf ber Bühne ju halten; babei aber bie Einbrütfe, bie bad 3(uge gleich*
jeitig empfangt, ju ignorieren. Dad gilt »om tfomponiften in gleichem
fltfafle, wie ed Pom Dichter gilt. Dad Dramatifdje in ffiolfd Biebern befleht
barin, ba§ ed unfere Empfinbung auf bad machtigfre fleigert unb gleichjeitig
unfere ^>hantafle ju mitfdjaffenber Sdtigfett erweeft unb ju lebenbigfler
Sorfteflung anregt. Eine folche felbfiherrltche Sftitwirfung ber ^h<*ntafte
wirb »om Theater burdjaud audgefchlofTen. 9J?ag ber »ornehme Äünftler
biefed Brachlegen ber mitfehaffenben Einbilbungdfraft auch bef lagen: ed geht
nicht an, fld) an etwad ju wenben, bad nicht mehr in $attgfeit treten fann,
fo wenig ed angeht, bad unbeachtet ju raffen, bad ald Ufurpator an feine
Stelle getreten ift.
3tuch h»er erweifr ffch ein Blid auf SBagner ald aufflarenb unb
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478 ftarl #ecfe 1 : #ugo 2BoIf tu feinem 93ert>ältmS ju 9tid)arb Söagner.
lehrreich. IBäbrenb wir bei $Bagner immer mieber bie Übercinitimmung
bed fjenifdun Vorgang* mit bem Drcfjefier alö ungemein wichtig betont
ftnben — man fennt feine flrengen ^orberungen biefed Sinneä an bie
JtapeUmeifler — , jeigt ffiotf für bie ©jene eine ©teichgütttgfeit, bie burd)
folgenben Vorfall bei ben groben jur erften Aufführung bed „Sorregibor"
in SWannrjeim i>ell beleuchtet wirb.
2tld ber bie SKegie felb(t fütjrenbe Sntenbant be* £oftbeaterd (icr?
ÜBolfd Urteil erbat über eine vorgenommene mefcnttidje Äbdnberung bti
fjenifchen SMtbeä, jeigte ti (Td), baf UBoff biefe SBeranberung nid)t nur nid»
aufgefallen war, fonbern baf er bem 93üt>nenbilbe überhaupt nod) feinen
©lief jugewenbet harte, er wehrte eö ab, auf bie geseilte $rage überbauet
einzugeben; benn bie ©jene, baä fei ©ad)e ber $ert*Did)terin, nicht bie feine.
Smmer wirb Sttiefcfche mit feinem 3uöfprud) red>t behalten: „Der
bramatifche SWufTfer mu% aud) mit ben 2(ugen t)6ren."
2Bagner hat nid)t nur baö 2Bort „Oper", fonbern aud) bie wiUfür-
(id)e ©ad)e fetbfl verworfen/ ald er eine organifd)e ©emeinfamfeit ber fünfte
für bad bramatifche „Äunftwerf ber 3ufunft" forberte. 5Bolf erfannte bie
ÜBagnerfchen ^rinjipien an, ot)ne jebod) aU Dramatifer in gleicher Strenge
iljre Äonfequenjen |U iierjen, wie er bteä jum SSorteil be$ beutfehen Siebe*
at$ tfvrifer getan I)at. ÜBolf* ©per würbe vielleicht tro&bem bie ftarfe
©irfung, bie it)r vermöge if>red hoben muftfalifchen SBerted jufommt im
Jhcater nod) mächtiger ausüben, wenn ntef^t SBerftöge gegen naturgemäße
unb barum unumjtöfjliche bramatifche 93orau$fe(jungen vorlagen. <$i ift
falfd), fdjon in ber 9ftifd)ung M i'nfnpieltoneä mit tragifdjen Sänen in
feinem „(lorregibor" eine foldje SBerferjlung ju feljen. ®emijj, bie große
©jene be$ $io ?ufa$ fallt aud bem 3 n( be$ iertbudjeä heraus. (Sie über«
(dircitet bie ©renjen bed ?ußfpietd)arafterö unb jwar muftfalifd) äugen«
fd)ein(id) weit über bie 2(bftd)ten be$ Did)terÄ hinauf. Aber biefer Uber*
fdjreitung ift unbebingt ba$ ÜÖort $u reben; nid)t nur, weit ffe ben
mefentlichftcn £anblung$moment ber ©per entfpredjenb r>ert>orf)c6t unb bamit
eine mächtige unb ergreifenbe SBirfung erjielt, fonbern aud), weit biefe
Überfd)reitung in ber «perfon bed $io ?ufa$ burdjauö begrünbet ijt. Unb
jmar nid)t nur tnbivibuell, fonbern aud) tvpifd). Denn cd liegt, wie td)
fdjon bei früherer ©elegenbeit nad)gewiefen l)abe, im (Sbarafter beä fpanifeben
Sbcatcro (im @egenfa$ jum ita(ienifd)en), ba$ Äomifche ju einem fünfte
ju führen, wo eö ftd) unmittelbar mit bem $ragifd)en berührt, ebne jebod)
nunmehr in biefem atifjugcbcn. Der p(6$tid)e Umfd)(ag in ber ütliiai*
befiimmten Temperatur fceö 3tücfeö war alfo red)t wohl mögtid), wenn im
weiteren Sertauf bed ©tücfeÄ burd) einen abermaligen ÜBetterfhtrj ber
bramatifd) unentbehrliche 9lücffd)lag in bie ©runbflimmung be* 3Berfed
eintrat. 3n unferem ^He alfo wot)t burd) bie ©jene im ©djtafeimmer
ber Öorregibora. Da aber ba$ Tertbud) über biefe entfd)eibenbe ©jene
notgebrungen nur referieren laßt, unb l)ier, wie aud) fonfl wotjt, bie J&anbtung
nicht immer genügenb in ben bramatifd) wefenttichen Momenten verbid)tet,
fo bebrütet bie allmähliche 3tuf(6fung in 9Bol)(gefa(Ien jwar ebenfalls bie
Diiicffcbr in ben Sufifpietton, aber ale« verhängnisvolle £erftad)ung per
' bramatifchen ÜBirfung. Die fpäter vorgenommenen Äürjungen unb an*
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flarl £e(fel : #ua,o Bolf in feinem Serpältni« |u 9tid)arb Sagner.
479
berungen im »irrten 2Cft laffen »war biefe @mpfinbung nid)t merjr auf*
fommen, bilben aber aud) ein großem muftfalifd)e« Cpfer. Unb ©olf behalt
»ießeid)t mit ber *propl)ejeiung redjt, bie er feinen Mitteilungen an mid)
über biefe Seranberungen beifugt: ,,3d) glaube eine belfere 26fung i|t nid)t
herbeizuführen. Die Sjene ifl furj, fdjfagenb unb gut motioiert. Sflatürltd)
entfallt bie ganje @rjai)lung, bie Ühöre ufw. ufw., wa« mir fd)recflid) (eib
tut. riefe Bearbeitung gilt aber aud) nur für bie QVibne. Da« ©rrf foH
fünftigfyin in 2 2(u«gaben erfdjeinen, in ber urfprünglidjen unb in ber
2Tu«gabe für bie Duhnen, ©lauben (Bie mir, e« wirb bie %tit fommen
Cunb oieUeid)t erleben mir ffe aud) nod)), mo man ben (Sorregibor in
feiner Urgetfaft unb nur in feiner Urgefiaft geben »irb. SM« bal)in wirb
e« freitid) nod) feine guten ©ege rjaben."
2Ü« @bmuno Tellmer ein »om ©iener #ugo ©otf*2Jerein fjerau«*
gegebene« ©üdjlein über ben „ßorregibor" einleitete, fdjrieb er bie ftrage
nieber: „Der ©unfd), biefe« pradjtuoUe <5tücf £ugo ©offfdjen Temperamente«
unb ©eifte« im grellen Trjeaterlicbt ju genießen, jaubert r>eure fall nod) flcf)
«m|Mtd) funbjugeben . . . Die beutfdje ©üt)ne, über n>e(d)e 9ttd)arb
SÖagner wud)tet, — ifir fie für fo r>od)gefpannte ©eijtigfeit fdwn frei
genug?" . . .
Diefe Ieid)t mifjuüerfiefyenben ©orte erzeugten eine lofale tReoofution
unter ben „©agnerianern" be« ©iener ©olfoerein«. 2ftlerbing« fofdje
©orte ffnb nid)t flug. ©ie forbern ju einer ©egenüberftetlung oon ©agner
unb ©olf auf ein unb berfelben ©tufe rjerau«. Unb ba« rjatte ©olf
felbjt nie gebulbet. 3u« SBefd)eibent)eit ober au« ©tolj, wie man wiU.
Da« eine fdjließt ba« anbere nidjt au« unb wenn irgenb wer, fo Ijdtte
©olf oon ffd) fagen finnen: ©er mid) überfd)ü$t, ber — unter*
fdiüftt mief)!
<Bo wenig ©olf nad) ber ©ud)t ©agner« (hebte, fonbern nad) bem
gcrrltd) leidjten «schritt, ben Sliefcfdje »om STOufifer verfangt, fo unberechtigt
bliebe bod) ber ©tauben: ©agner« $att)o« habe ©olf« ©rajie im Theater
nid)t jur ©eltung fommen (a|fen. Gr« gebt aber mdu an, für bie tl)eatra(ifd)en
<Ed)mäd)en nur grau Qftanreber, bie SBerfaffertn be« Tertbucfje« oerantwortlid)
^u madjen. grau SWanreber ifl eine Did)terin »on bifferenjierter ^>fpcf>e,
»on fubtilfrer ©eifttgfeit, »erbunben mit ebelfrem ftormgefüfjl, aber fie ent*
betjrr jener Unwillfür, bie j. ©. glaubert »erlangte, al« er ba« «Paraboron
au«fprad): „un bon livre doit fitre böte". Da« Drama bebarf, um al«
organifd)e« £un|twerf ui wirfen, biefe Unwillfür, biefe bid)terifd)e Triebfraft,
biefe« fonjtituierenbe Unterbewuftfein nod) »iel tntenftoer al« ber Vornan.
Die unpatljetifdje Diftion be« Tertbuche«, feine Souveränität über ben
3fcft, feine an gei|treid)en Änfpielungen unb ©enbungen reiche übertat
wenbet fidi an bewußt genießenbe 3ui)6rer, ttidu aber an ba« unmittel-
bare ©efüt)l«oer|(änbni« eine« naio genießenben sPub(ifum«, ba« ©agner
a(« wid)tigfte Sorau«fe$ung für eine weit)eoo0e tbearral tfdie ©irfung erad)tete.
©eber STOapreber nod) ©olf füllten |id) ju jenem oon ©agner al« „un*
befangen" gefd)ü$ten »Publifum Ijtngejogen, im ©egenteil, fie teilten SWie$fd)e«
ariflofratifdje Sßerad)tung für ba«felbe. 3m Theater opfert aber notgebrungen
aud) ber pl)anta|tebegabte intetteftueUe 3ul)6rer feine arijrofratifdjen 3fn*
1
480 Karl £erfel : £uge Seif in feinem 93ert)dltnid ju SRiAarfr ffiagner.
fpräd>e. <5r oerjidjtet auf bte intime, »on feiner fremben ©egenwart
beeinflußten SÖirfung auf feine 9>fnd)e unb auf alle Sefbftl)errlid)feit ber
spfjantajTe unb nimmt teil an ber gemetnfamen SXeaftion auf bie bramatifdjen
23orgdnge mit it)ren Spannungen unb ?6fungen. 9?id)t nur bie Qffefte M
Dramad, fonbern aud) bie tnpifdjen @mpftnbungen ber 3ul)tfreffd)aft wirfen
auf ii)n ein unb f)emmen unb f6rbern, Jd)wad)en unb fldrfen, erf Alten unb
ert)i$en feine ®eful)fe. Qrd fei benn, baf? ffd) ber fritifd)e SSerftanb »er
feinem J£erjen aufpflanje unb aller Suggejtion, bamit aber aud) ber un*
mittelbaren SIBirfung be$ Äunjtwerf* ben 3ugang »erfperre.
Üßolf erfannte biefe $atfad)e redjt wef)l, aber er fdjdftte fte nicfjt al*
mdd)tige 2Baffe in ber £anb beä Dramatiferd, fonbern ffe werfte it)tn, bem
feinen fyrifer, ber gewohnt war, ftd) an eine mitfdjaffenbe 9>l)antafTe, nidjt
aber an ein IwpnotifTerte« 9?er»enf»ftem ju wenben, ein Unbehagen, ba*
ftd) in fouoerdnem Spott au$jul6fen »erfudjte.
Sange oor ber Xuffufyruitg beä (Sorregibor fcrjrieb er an firau SD?a»reber:
„9?iefcfd)e fyat bod) red)t mit feinem 2fudfprud) 00m Sr/eater: Da regiert
ber d1ad)bar, ba wirb man 9?ad)bar." 2(ud) ein anberer 3TuSfprud>
Sttiefcfdjed: „(Srfolg auf bem $l)eater — bamit finf r man in meiner Achtung
bid auf Sflimmerwieberfeljen; SERißerfolg — ba fpifce id) bie Dfyren unb fange
an ju adjten," wirb »on ir/m mit SBofjlgefallen gittert.
«Kit einem üßort, fo fetjr OBolf ba* Ordjefter be$ Sweater* aU fünft*
lerifdjen ftaftor fd)dfite unb mit Sttotwenbigfeit beburfte, um jur »otten
Entfaltung feined auf bie inmgjle Srgdnjung ber ^oefte burd) bie SBuftf
gcrid)teten ©enied ju gelangen: fo fern lag itym bie nid)t muftfalifd)*
bid)terifd)e, fonbern fjenifd)*bramatifd)e ©irfung ber ©ütjne. Da er empfanb
itjre ^orberungen alä Idfligen 3wang. 3Öolf »ermeibet ei, fid) al$ „teuerer"
ju geben unb teilt baber burebaud nidjt ben 2Öiberwillen SDfaoreberÄ gegen
Monologe, obwohl er im übrigen bie mobernen bid)terifd)en Srrungenfdjaften,
wie einen reafifttfd)en Spredjton, t)od) ju fd)dfcen weiß unb ihm alö erjler
muftfalifd) »oflauf gerecht wirb. Die moberne fHealiftif, bie ttjre JDbjefte
mcfjt in g6ttlid)er $erne, fonbern in menfdjlidjer 9idl)e ju »erfldren ftrebt,
ift ibm nid)t nur ein jtarfer #alt in ber ÜBaf>rung feiner 3frt gegen 3ßagner,
fonbern aud) ein unterfd)eibenber Stanbpunft gegen »orwagnerferje Venoben
geworben.
$refe beö großen belel)renben Grinfluffeä UBagnerd bei ber Snfrrumen*
tation bed „@orregiborä" trdgt biefer nid)t bie 3"g* be$ 3J?eifterä. Siel et)er
f6nnte man manchmal »on befjenbierenber $erwanbfd)aft mit SWojart fpred)en.
SDtit bem „ßorregibor" Ijatte 9Bolf einen weiteren Sdjrttt jur »ollen Selb*
ftdnbigfeit — fernab oon $Bagner — getan unb feine (£rftarung: in 3ufunft
nur nod) im Stile 9)?ojartd fomponieren ju wollen, fonnte und mdu uberrafd)en;
benn ffe bebeutete — ba$ bewei|t und ber buftige „grütjlingädwr" aud bem
Manuel Senegal, fowie ber Monolog bed gelben — nid)tö anberd, ald »oll
unb ganj ffd) felbft ju »ertrauen.
Die Sdjwierigfeit, ein für il)n geeignete^ ^ertbud) ju erhalten, wieber*
\)oltt ffd) aud) bei ber äompojTtion ber jweiten C per. J^ojfnung unb Entt&ufdiung
folgten ffd) aud) biefedmal auf ben Herfen, ba ÜBolf (Td) in ber erfien
Beurteilung nur »on feiner augenblicflidjen Stimmung leiten lief.
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Äarl |>ecfel : £ugo ffiolf in feinem 9Öcrt)ältntd ju SRicbarb ©agner.
481
3n ben ©riefen an feine greunbe unb Verehrer (Tnb ungemein im*
pulftoe, jum Seil in ihrer farificrenben (Batire festliche 2(udlajfungen über
bie ihm angebotenen Jcrtbucher enthalten, bie leicht baju fuhren mögen,
beren bid)terifd)en ÜBert fetjr gering anjufdjlagen. Uber wie fe!)r 2Bolfd Ur*
teil umfdjlagen tonnte, bafur feien menigftend für ben ßorregibor* unb ben
SSenegadftoff jwei ©eifpiele angeführt, ba ffe und gleichjeitig mit ber @e*
)d\id)tt biefer beiben Opern UBolfd befannt machen.
ÜÖie grau Sbmunb ?ang in einem 3uffaß in ber „3ett" berichtet, er*
ging (ich $öolf in ber fchärfften erbarmungdlofeften Äritif über bad 9tta»reber*
fdje Sertbud). „^Namentlich bie ©analitdt ber Sprache erbitterte it>n färmlid).
gort bamit! war bad Grnbe."
2>ad mar 1890. 2fld er aber nach fahren badfelbe 3ertbud) wieber
(ad, ba fdjrieb er an ©rohe: „(Sin ÜBunber, ein $Bunber, ein unerhörte 6
3Bunber ift gefdjehen. £er langerfeljnte Cperntert t>at ftd) enblid) gefunben;
fir unb fertig liegt er oor mir, unb ich brenne nur fo oor ©egierbe, mich
an bie mujlfaUfche Äudfütjrung ju mad)en."
Umgefet)rt erging ed SOBolf mit bem Venegadtert. @r fchrieb mir im
ütfärj 1897: „grau SWanreber Ijat mir biefer Sage ben »oll|tdnbtg aud*
geführten Sert »om erjten 3fft bed SSenegad jugefdjicft. SBenn bie jmet
folgenben 2ffte bad galten, wad ber erfte 2fft »erfpridjt, fo itf feit ffiagner
nidjtd Äbnliched bageroefen. Die Sttine ift gelegt, bad ©ewttter im 3(n*
juge. 3?un mag'd lodgehn!"
Tiber ftfton in einem ber nächften ©riefe heifit ed: „£emnad)ft werbe
id) 3h«en ben $ert jum Sttanuel Venegad jufommen laffen. 3d) bin r)6cr>fl
gefpannt barauf, wad (sie baju fagen werben. 3d) glaube, mit bem erfien
Eft t>at ed noch feine bebenfliche ©chwierigfeiten."
2Tud) bei biefer Bearbeitung erwted (Id) grau SWaoreber ald bid)terifd)
ungemein feinfühlig. 9?id)t ben Situationdoerwicfelungen an (Td), fonbern
ber Vertiefung ber pf»d)ologifd)en Momente mar ihre tfunjt jugewanbt. £ad
Serbältnid bed Senegal „jum Knaben mit ber 5Beltfugel", bad ganje ftnb*
liehe Verhältnis biefed bid in bie legten tyba\'en wahrhaftigen Sttenfdjen jur
Religion feiner Sugenb fam wunberbar jum Budbrucf.
3d) berichtete SBolf audfut)rlia> über ben empfangenen (Jinbrucf unb
befürchtete, ba0 bie ©ülmenwirfung ausbleiben werbe, ba bie SßerfajTerin
ffd) nid)t auf SKeflerionen, bie mittelbar ju einer J^anblung ober ©anblung
führten, befdirdnfe, fonbern aud) unabhängig batton |7d) in Betrachtungen
ergebe, bie nur ben gebanflidjen ©ehalt erläuterten. Od) oerlangte, inbem
id) mid) auf SBagner berief, ba@ alle iHeflerionen ftd) bem J^erjfd)(ag bed
organifchen Äunjtmerfö unterorbnen, nicht aber in <Sefbftr>errrid)feit herüer*
treten, fafl unabhängig »on bem Äreidlauf bed SMuted, beffen notmenbige,
nicht »illfurliche ©ahn, ba* ?eben M Dramad bebinge. 3fld Äernpunft
M Problem* erfd)icn mir bei SBenegad „bie Übermacht ber Sttatur über
bie tfonoention".
'Xi* 3Öolf meinen ©rief beantwortete, hatte er bereite noch eine anbere
Bearbeitung ber 9?ooelle 211arcon$ burd) einen 3Öiener ©elehrten in J£>änbcn.
dt fchrieb: „SSon $raunfird)en aud wirb 3hnen biefer Sage ber Entwurf
jum 9J?anuel Senegad oon Dr. J^oerned oerfaßt jugetjen. — grau SKapreber
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482
Äarl Werfet : £ugo Seif in feinem fBerpältni« ju 9ttd>arc SBagner.
t)at in metner ©egenmart 3l)ren ©rief gelefen unb ftch fet)r gefreut über
3l)re feinfühlige Beurteilung be« Serte«. ©te ftnbet, baß ©ie oon einem
»ottfommen richtigen ©tanbpunft au« tr>rc Arbeit betrachtet unb beleuchtet
rjaben; bennoch fann fte fleh ju fetner umfaflenben tfnbcrung entfchlteßen.
Sielleicht aber bringe id)'« bod) juftanbe, (te ju bemegen, mit £oerne« ge*
meinfam ba« Sertbuch au«juarbetten. J^oerne« hatte nicht« bagegen ein»
jumenben. leiten ©ie mir, lieber J^err #ecfel, bitte, balbigfl mit, mie
©te über #oerne« ©jenartum benfen. 3fn bem, worauf ©ie befonbere« ©c*
midjt legen, an 3Birfung — feljlt e« bem #oerne«fchen Entwurf mafyrltch nicht.
2fuch fcheint mir bie matte Sermicfelung mit bem unbramatifchen Brief
burd) bie 2frt unb QBetfe, mte J£>oerne« bie ©ad}e auffaßt, glücflid) beheben
ju fein. 93or attem aber treten in ber neuen Raffung bie #auptperfonen
meljr in ben SBorbergrunb, moburd) ba« SnterejTc an benfelben um ein Be*
beutenbe« erf>6t>t mtrb. tfurj, in puncto Büfjnenmirffamfeit bürfte bie 3frbeit
meine« fünftigen Äomoagnon« ber anberen weit »orjujteljen fein. Doch «**
teilen ©te felbjt."
SBod) fcharfer fprad) er fleh gegen benfelben $ert in einem Briefe an
spaut Mütter au«, STOaoreber fyabe au« bem Vornan eine bialogifferte SRooelle
gemacht: „3m Drama hingegen müffen bie ^Jerfonen für fleh reben (ber
Dichter t)at ba« Maul ;u galten) ba« ijt boch bie erfte bramatifche Siegel,
oon ber aber gxau M. feine 3fljnung ju Ijaben fchetnt."
3ud) wenn mir ben SBorjMungen feiner ftreunbe in btefem ftaüt
einen befttmmenberen (Einfluß jufchreiben motten, al« früher, bleibt tiefer
fchroffc 5ßechfel be« Urteilt auffällig. <5r jeigt und »or attem, baß 3Bolf
ben urfprünglich oft gering gefchafcten 2lnfprüd)en ber Büljne je$t eine größere
Bebeutung jumaß. ©eine treffenben SÖorte über bie Aufgabe ber «Perfonen
im Drama, im ©egenfafc jur 9?o»ette, bezeugen, baß er auf bem SEBege war,
mit bem Sweater unb feinem ^ublifum in ein richtige« Sertydltni« ju ge*
langen, jum minbeflen, baß er bereit mar, einen $>aft mit tljm ju fchltcßeu.
Mit außerjtet Ungebulb hatte eö ÜBolf banad) verlangt, in ben Beff$
eine« Sertbuche« ju „Manuel Senegal" ju gelangen, er hatte „3Berg auf
feiner tfunfel", bie einzelnen ©eftalten lebten bereit« für tfyn, in ihm, fein
muftfalifche« Sermägen mar burd) ben Vornan anttjtpanbo befruchtet morben
unb oerlangte in fd)6pfertfchem Drange nach ber ©eburt be« 5Öerfe«.
Tüarcon nicht .£oerne« l)at biefe« Üßerf erjeugt, ba« leiber nicht jur »oll*
enbeten ?Reife gelangen fottte.
9Bof|I fdntft 2Bolf auch bie Bearbeitung oon £oerne« ben ^reunfcen
jur Begutachtung *u, aber er martet nicht erft ir>re tfunbgebungen ab, fonbem
unternimmt rafch entfchloffen it>re tfompofttton. 2ßar biefe übergroße <5ile
»on bem SSorgefüf)l eingegeben, baß tl)m nur noch eine furje 2lrbeit$friit
befchieben mar? 9Ber miß ed entfeheiben?
3Cm 20. 3fugufl fchrieb mir 2Bolf: e« mar bie lefcte Mitteilung »or
feiner Srfranfung:
,,©eel)rte(ler J^>err J^ecfef! Bitte mir umgetjenb mitzuteilen, ob Dr. SD?anr
au« München 3l)nen ben neuen $ert »on SSenega« bereit« jugefenbet. 3m
beja^enben ^atte Ijaben ©ie bie ®üte, ben $ert auch unferm ^reunb ©robe
unb gxl. 9leiß jufommen ju laffen. 3ch bin bereit« mit ber mufif.
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fcorl |>erfel : $uao Sßc-lf in feinem 93erbältnid ju SÄidjorC Sagner.
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3udfül)rung bed $erte$ befdjaftigt. — £>ireftor ^rucfl in Strasburg
wirb bemnäcrifi ben (Sorregibor jur 'Aufführung bringen. 3iur fo »iel für
tjeute. 3n aller (Sile 3ljr ©te t>er)Itcf> grügenber #ugo 2Bolf."
5ßir haben gefeljen, bafl UBolf nid)t nur um ber ®efat)r einer SttaaV
al)mung SBagnere" au$ bem 2ßege ju gel)en, patl>etifd)e ©pernftoffe »erwarf,
fonbem aud) »erm6ge ber ©egenfd$lid)feit fetner Jttatur.
3tber wir fdnnen nod) weitergeben unb in biefem Verlangen nad) ®e*
flaltung einer erljeiternben, erhebenden, »om £rutf ber Sßelt befreienben
tfunft, dr>n(tcf> wie bei Sttiefcfdje: eine ©d)u$. unb ffietjrfraft, einen injttnf*
ti»en tfampf fefyen, gegen ba$ bunfle SSerljangni*, bem beibe julefct benned)
unterlagen.
Da* an Seiben unb Entbehrungen fo reiche ?eben ÜÖoffd unb ber tiefe
(intft feiner Äunftliek haben nidjt nur feine 3Rannl)eimer greunbe, als
ihnen fein 3ßefen fld) nod) nid)t »oll erfdjloffen l)atte, ju bem fo bebeutfam
»on ÜBoff jurüefgewiefenen SBorfdjlag »erführt, einen Stoff wie „SBubbtja"
ju fomponieren, fonbem aud) <Paul SKüUer, fein tapferer Sorfampfer in
Berlin, »erfiel in einen ähnlichen 3rrtum.
„Golomba habe id) fdjon »or 15 3af)ren gelefen. £er ©toff ifl un*
fomponierbar. SMutradje ijt für und «Onperborder fein abdquate* Shema
— unb 9>anbora? Herrgott, auf wad für unm6glid)e ©toffe ©ie »erfaHen,"
antwortete er Füller.
2fn ©rohe aber fd)rieb er: „©ollen wir benn in unferer 3?it nicht
mehr »on bergen lachen f6nnen unb übermütig fein, muffen wir 2ffdje anf&
^>aupt (treuen, ©uggemdnber anjiehen, bie ©ttrn in tieffinnige galten fleiben
unb ©elbftjerfleifdjung prebigen? SD?öge bie 3Belt erldfen, wer ben QM6fer*
beruf in ffd) fühlt, mid) fchert bae" wenig. 3cf) für mid) wifl fjeiter fein,
unb wenn hunbert ?eute mit mir ladjen fdnnen, bin id)'* jufrieben." <£r
Witt feiner Äunft einen $la$ fudjen „in einer fröhlichen unb originellen
©efeOfdjaft, bei ©itarregefltmper, 2iebe$feufjern, aRonbfd)einndd)ten, ßfjam*
pagnergelagen ufw., furj in einer — fomifdjen Oper, unb jwar ganj ge*
wohnlichen fomifdjen SDper, ot)ne baä büfterc welterldfenbe ©efpenfl eine*
©d)openljaucrfd)en ^pbilofopljen im J^intergrunbe".
Deutlicher fonnte ber ©egenfafc ju SBagner nid)t jum Xuäbrucf fommen,
beut(id)er aber aud) faum bie 'Annäherung an Sttiefcfdje, ben SBolf oerehrt,
al$ „abgefaßten ^einb aller SWufff, bie fd)Wi$t".
Die ©eite »on ÜBolfd Begabung, bie auf ba* fettere gerichtet tjt,
würbe anfangt auffallenb wenig erfannt, obwohl fTe ffd) bod) in feinen
Siebern auf bad f6(llid)(le enthüllte. 3a, afö id) in einem 3uffa$ „2ßagner
unb 9?ie$fd)e" in ber „Stteuen I)eutfd)en 9lunbfd)au" einige 3cit »or bem
(?rfd)cinen be$ ,,(5orregibor" auf ba« beutlid)(te auf ©olf aH Opcrnfomponi|len
im ©inne Sfliefcfdjed fflmiti, würbe biefe 3fnfpielung felbfl oon ÜÄünnern
wie ^Öorge* nidjt »erjtanben, ber bod) »on SBolf perfdnlid) über feine Zitlt
unterrid)tet war. Die betreffenbe ©teile lautet:
„^EBenn nid)t alle 3^td)en trügen, t)aben wir in einem SRuftfer, ber
unbeirrt — ,ein 2Bolf war er feigen ^üd)fen' — auf bem burd) ^EBagner
erfd)loffenen ©ebiete ben UBeg jum neuen ?iebe fanb, ben ^onbid)ter $u
erfennen, ber aud) im Stjeater wol)Iberea^tigte ^orberungen 9?ie$fd)ed er*
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484 Karl $ccfcl : #u<JO SBolf in feinem 93erpältnid ju 9Kd)arO ffiagner.
füllen wirb, ©tolje fiegberoußte STOuftf, bie nur tt>rc eigene flangfrotje ©praAe
rebet, bie in plaftifdjen fernen fcfjÄrffle (Srjarafterijtif mit ebelftem ÜBotjW
Mang »erbinbet, inbem fie jid) ,ber Sollfommenrjeit im tfleinften befleißigt4
unb feinem unmürbigen £)id)tern>ort fld) oermatjlt: eine Oper, bie im (Sinflana,
mit 9?ie$fd)e ,nur bie Sraurigfeit M tiefjten ®lücfe$ fennt unb fonft feine
Sraurigfeit', ber ba$ gute ©eröiffen im #erjen unb ber ©d)elm im SRacfen fi|t."
SD?an benfe an ben 3*oiegefang „3n foldjen 3benbfeierjtunben" jn>ifd»en
ftradquita unb $io ?ufa$, um biefe „Sraurigfeit be* tiefften ©lücfed" bei
SÖolf ju finben.
Uer belle, leicfjte, oft übermittig fpöttifd)e ßrjarafter ber SÖolffdjen 2J?ufif
iit nid)t nur bort ju erfennen, n>o er unmittelbar burd) ben 3toff r»erau$*
geforbert mürbe, fonbern er (ad)t unb leuchtet und entgegen aud feinem ge<
famten (schaffen, ba$ allen fchroeren Grrnjt fajl nur ald Äon traft ju biefer
beflügelten Sermfudjt nad) fonniger J£>immeldblaue gelten Lift.
3Bor/l fonnte f?cf> im Seben feine $rcubigfeit »erm6ge be$ furchtbaren
ßampfcä, ben feine reizbare, überempftnbliche weil panjerlofe dlatux gegen
ba$ brorjcnbe <Sd)icffal führte, oft nur in »ilbem tiberfchroang unb in tollen
Subelfdjreien äußern, aber in feiner 2D?uO"f lebt bie ©lut unb ber ©lanj
biefer füblanbifdjen „vollblütigen #eiterfeit" frei oon attem Übermaß; renn
ein ftarfer ebler ^ormenjTnn bannte bei ÜÖolf ben roilb entjtromenben Cuett
fletd jroifchen unüberfchroemmbare Ufer. $Bar boch ber Steigt um feinet
(Srftnbung nicht geringer als bie Sttadjt feiner (Jmpftnbung.
ÜBolf ftet)t mit feinem ganjen 3Öefen auf ber Schwelle bee jroanjigilen
3ar)rt)unbertä. Denn feine Äunjt roenbet ffd) an 3ul)6rer, bie mit Schopenhauer
unb ÜBagner ben erfennenben unb arjnenben ©tief furchtlos in bie 2fbgrunc»
tiefen be$ tfebene" binabgefenft tjaben unb beren fdjroer belafteteä J£>erj nun
in ungebrochenem £ebendmut nad) £elle unb #eiterfett, nad) bem befreienben
„©üben" »erlangt. Smmer werben $Öolf jene baÄ größte @mpfangn&
oerm6gen entgegenbringen, bie nidjt flumpf jTnb für bie Dualen innerer
©chmerjen, nid)t taub für bie klagen be$ Seibenä, beren 3tuge aber fonnen-
fror) aufleuchtet beim Unblid beÄ unbero6lften J£ummelö, mie it)n 9?ie$fd>e
unferer ©er/nfucht entr/üllt unb beren ©br M willig labt am ©otjllaut einer
floljen, flangfrotjen 3J?ufTf, bie „ju jubeln »erjterjt"!
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Das System der Biologie.
Von Hans Driesch in Heidelberg.
Am Schlüsse meines Aufsatzes „Die Selbständigkeit der Biologie
und ihre Probleme"1) habe ich den Lesern dieser Zeitschrift dargelegt,
wie die Gesamtheit dessen, was das .Leben« an Fragestellungen dar-
bietet, in zwei grosse Problemgruppen zerfallt: in die Probleme der
Gesetzlichkeit des Geschehens und in die Probleme der Systematik.
Diese grosse Zweiteilung der Aufgaben ist aber, wie eine kurze
Überlegung zeigt, nichts der Biologie als solcher Eigenes; sie zeigt sich
vielmehr in jedem Gebiete von Naturerscheinungen, in welchem uns Ge-
schehensverläufe in wechselnden Sondergestaltungen oder Nuancierungen,
die man wohl als individuelle oder spezifische bezeichnen könnte, ent-
gegentreten. In jedem solcher Gebiete des Naturwissens fragen wir
einmal: nach welchen Allgemeinsätzen geht hier das Veränderungs-
geschehen vor sich? zweitens aber sind wir auch berechtigt zu fragen:
warum tritt das Allgemeine hier gerade in diesen und in keinen anderen
Sonderformen auf; liesse sich die Gesamtheit des Besonderen als solche
etwa aus einem einheitlichen Gesichtspunkte begreifen? Oder, um
weniger abstrakt diesen den Leser vielleicht etwas fremdartig anmutenden
Gedanken auszudrücken: Das Allgemeine an der Gesetzlichkeit der
Formbildung etwa oder des Stoffwechsels ist wohl für alle Lebens-
formen das gleiche: wie aber kommt es, dass wir Würmer, Medusen,
Insekten, Wirbeltiere und alles mögliche andere unter diesen Lebens-
formen unterscheiden können, gibt es etwa irgendein Verständnis dafür,
warum es gerade diese Formen gibt und keine anderen? Die Gesetze
der Lichtbrechung und der Allgemeinanordnung der Flächen (in „Zonen"
nach dem Gesetze der „rationalen Indices") ist dasselbe für alle Kristall-
gebilde: warum doch gibt es eben diese Kristallsysteme und keine
anderen?
Wollten wir nun die Kristallographie oder etwa auch die Chemie
zum Gegenstand unserer Betrachtungen machen, so würden wir manches
Wichtige über eine „rationelle Systematik", d. h. über die Einsicht in
die Notwendigkeit der Gesamtheit der Sonderheiten, sagen können;
das biologische System jedoch, das zurzeit noch eine bloss vorläufige
Orientierung bedeutet, kann uns leider keinen Stoff zu einem
tieferen, wirklich „rationalen" Eindringen bieten, und so wollen wir
denn das „System der Biologie" nur insoweit studieren, als die
Gesetzlichkeit der Veränderungserscheinungen an lebenden
Körpern in Betracht kommt. Was man im weitesten Sinne »Physiologie"
zu nennen pflegte, ist also das Objekt unserer methodologischen Unter-
suchung, wobei freilich dieses Wort wirklich im weitesten Sinne zu
fassen ist, nicht aber in dem üblichen, welcher darunter nur die Lehre
J) Diese Zeitschrift, I. Jahrgang Heft 1.
©ÜDbeutfae anonatfWte. 6- 32
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
von den Funktionen des Erwachsenen begreift, die Funktionen der
Formgestaltung aber ausschliesst.
Auf Grund der gegebenen Tatsächlichkeit zerfällt alle Biologie,
also auch die biologische Geschehenslehre, die Physiologie, in einen
von den Tieren und in einen von den Pflanzen handelnden Teil, also
in Zoologie und in Botanik. Der zoologische Teil der Biologie soll das
eigentliche Objekt unserer Untersuchung sein, wennschon alles, was
wir ausführen werden, auf die Wissenschaft, welche sich mit den
pflanzlichen Organismen beschäftigt, mit geringfügigen Änderungen oder
sogar ohne solche übertragen werden kann.
Um nun zur Einsicht hierüber zu gelangen, welche Sonderprobleme
die Zoologie, soweit sie nicht Systematik ist, darbietet, könnte es —
so dürfte der unbefangene Leser meinen — wohl das zweckmässigste
sein, ein Lehrbuch dieser Wissenschaft vorzunehmen und in Kürze dar-
zulegen, was in dessen verschiedenen Teilen behandelt wird; so müsste
doch wohl zu einer vollständigen Übersicht über die Sonderprobleme
des Wissensgebietes, also zu einem „System'4 desselben, am leichtesten
zu gelangen sein. Gewiss „ müsste u das so sein, aber es ist nicht so.
Wenn wir uns die üblichen Lehrbücher der »Zoologie" ansehen
oder auch das, was — mit verschwindenden Ausnahmen — in den
Universitätsvorlesungen über „ Zoologie" vorgetragen zu werden pflegt,
so finden wir immer nur einen Teil dieser Wissenschaft, nie das Ganze:
es gibt beschreibende Anatomie der Tiere, etwas beschreibende Ent-
wicklungsgeschichte, viel Systematik, weiter nichts. Freilich existiert
meist ein einleitender Abschnitt über sogenannte .Allgemeine Zoologie*,
aber der bliebe wahrlich besser fort! Er pflegt sich in einigen äusser-
lichen Analogien der Formbildung zu ergehen und etwas »Darwinismus*
und „Vererbungstheorie" zu bringen, von wirklich strenger Gesetzlich-
keitsdarlegung, von gut durchgeführten Experimentaluntersuchungen rindet
sich keine Spur. Der Leser eines der üblichen Zoologielehrbücher
kann wahrlich auf den Gedanken kommen, dass die Tiere nur in kon-
serviertem Zustande oder als schön gefärbte «Schnitte" existieren: dass
sie leben — davon ist nirgends die Rede.
Aber solches gehört in die „Physiologie", wendet man mir ein, die
nun einmal durch die historische Entwicklung von der „Zoologie" im
engeren Sinne getrennt und der „Medizin" zugeteilt wurde. Ich werde
von diesen historischen Verhältnissen alsbald noch reden. Zugegeben
selbst die Berechtigung des durch sie „Erklärten"; zugegeben selbst,
dass die Lehren von den Funktionen des Erwachsenen definitiv der
Medizin zuerteilt seien und dass die „Zoologie" nur biologische Formen*
künde sei: jedenfalls hätte sie denn doch das, was man über die
tierischen Formen weiss, vollständig zu behandeln, hätte also vor
allen Dingen das darzustellen, was experimentell über die Gesetzlich-
keiten der Formentstehung aus dem Ei oder bei sogenannten Regene-
rationen, was exakt-statistisch über Variabilität erforscht ist: aber alles
dieses wird entweder überhaupt verschwiegen oder mit einigen nichts-
sagenden, wenn nicht gar unrichtigen Worten abgespeist; es bleibt im
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
487
günstigen Falle bei der „vergleichenden Anatomie" und ähnlichem,
im ungünstigen Falle findet der Leser „phylogenetische" Spekulationen
und „Gesetzes"-Konstruktionen luftigster Art.
Wahrlich kein Zustand, welcher des höchsten unter den natur-
wissenschaftlichen Wissensgebieten würdig wäre.
In der Botanik ist das alles nicht so; ein Blick in das mit Recht
viel verbreitete sogenannte „Bonner Lehrbuch", das hier aber nicht
etwa eine Ausnahmestellung einnimmt, genügt, um von dem gänzlich
verschiedenen Umfange dessen, was sich praktisch „Botanik" und was
sich „Zoologie" nennt, zu überzeugen.
Wie kommt das?
Hier ist nun wohl der Ort zu jenem schon oben angekündigten
historischen Exkurs.
Im Beginne modernen Wissenschaftsbetriebs waren Medizin und
Naturwissenschaften noch ungetrennt und an den Universitäten in den
Händen eines und desselben Vertreters vereint. Die Lehren vom An-
organischen, vornehmlich also die Physik und Chemie, schieden zuerst
aus dieser Vereinigung aus; die biologischen Disziplinen blieben noch,
wie das ja in der Natur der Sache lag, mit der Medizin verbunden.
Es folgte die Absonderung der theoretischen „Medizin" von der prak-
tischen, alles innerhalb der „medizinischen Fakultät": ein Professor
vertritt alles, was man theoretisch vom Lebendigen weiss, aber stets mit
besonderer Rücksicht auf den praktischen Mediziner, welcher natur-
gemäss Bau und Funktionen des menschlichen Körpers besonders ein-
gehend kennen muss. Es scheidet dann die Botanik aus der allgemeinen
biologischen Wissenschaft aus; alles was man vom tierischen Leben
weiss, bleibt noch vereint, und zwar immer noch in der medizinischen
Fakultät. Endlich folgte eine zwiefache letzte Trennung: die Lehre
vom tierischen Leben erhält einen rein theoretischen Vertreter, einen
„Zoologen" in der philosophischen Fakultät, in der medizinischen
Fakultät ernennt man zwei Professoren für tierische Biologie, den
„Anatomen* und den „Physiologen", welche beide je einen Teil der
tierischen Biologie mit besonderer Rücksicht auf die Bedürf-
nisse des Arztes lehren.
Beurteilen wir die letzte Phase dieser Entwicklung, welche un-
gefähr unverändert noch in der Gegenwart Geltung hat, vom Stand-
punkte logischer Berechtigung, so ist, unbefangen betrachtet, gewiss
nichts gegen sie einzuwenden als höchstens, dass der „Zoologe" denn
doch wohl ein bisschen gar zu viel zu vertreten hat.
Wenn aber nur die Realität dem idealen Schema der Professuren
entspräche! Das ist nun ganz und gar nicht der Fall: man kann
dem „Anatomen" und dem „Physiologen", welche unmittelbar im Dienste
der Medizin stehen, freilich keinen Vorwurf daraus machen, dass sie
vornehmlich Bau und Funktionen des Menschen und der Wirbeltiere
behandeln, das müssen sie tun, denn der angehende Arzt muss in
dem, was ihn zunächst angeht, eine gute natursachliche Bildung erhalten.
Aber was lehrt der „Zoologe"? Wir sagten es schon: viel Anatomie
32*
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
und Systematik, ein wenig beschreibende Entwicklungsgeschichte, gar
nichts vom eigentlich »Lebendigen*.
Das ist auch »historisch- nicht .begründet": warum ist denn die
ebenfalls aus der Medizin abgezweigte Botanik eine wahre Vollwissen-
schaft geblieben, eine Disziplin, deren Vertreter in der grossen Mehrzahl
der Fälle wirklich naturwissenschaftlich allgemeingebildet sind?
Als eine gewisse Entschuldigung mag für den wenig befriedigenden
Zustand der »Zoologie" an den Universitäten der Umstand gelten,
dass eben der tierische Formenreichtum weit grösser ist als der pflanz-
liche und schwierigere Komplikationen, auch grössere Schwierigkeiten
der Untersuchung aufweist. Ein Mann könne, so sagt man, nicht mehr
als nur das deskriptiv Formale der Zoologie gut vertreten. Zugegeben ;
aber warum sorgte dieser eine dann nicht selbst aufs energischste dafür,
dass er an seine Seite einen zweiten bekommt, der das vertritt, was
ganz offenkundig fehlt! Und nun gar die geradezu als unvoll-
ständig zu bezeichnenden Lehrbücher der »Zoologie"! Hier gibt es
überhaupt keine Entschuldigung.
Ich weiss wohl, dass man sagt, das Zoophysiologische sei Sache
des »Physiologen", und dass man die Studenten der Zoologie in die
physiologischen Vorlesungen der medizinischen Fakultät schickt: dort
hören sie gewiss oft sehr viel Gutes, aber auch sehr vieles, was
für den angehenden Mediziner sehr wichtig, für den theore-
tischen Biologen fast bedeutungslos ist. Und was für sie be-
deutungsvoll wäre, das hören sie zum grossen Teil nicht: vom aller-
wichtigsten, von der Physiologie der Gestaltung, erfahren sie hier
ebenso wenig, wie im »zoologischen" Kolleg; und dem medizinischen
Funktionalphysiologen erwächst aus allem dem kein Vorwurf.1)
Doch beenden wir den polemisch-kritischen Teil unseres Aufsatzes,
und sagen wir nur noch dieses: dass eine wirklich stetige und von
weiten Kreisen ausgehende Förderung der »vergleichenden Physiologie*
im engeren Sinne und der »Entwicklungsphysiologie" in dem Masse,
wie sie in Nordamerika statthat, so lange bei uns unmöglich sein wird,
als der jetzige Zustand noch andauert, ein Zustand, in welchem die
wenigen energischen Vertreter wahrer tiefer »Zoologie*, der Formen-
physiologie nämlich und der »vergleichenden Physiologie", im Gegensatz
zu allem »Offiziellen* arbeiten, daher bei Anstellungen eher übergangen
als bevorzugt werden und daher auch keine Gelegenheit zur Heran-
bildung eines tüchtigen Schülerkreises haben.
Die wenigen deutschen Vertreter der universellen Physiologie und
der »Entwicklungsmechanik* haben vielleicht gerade darum eine im
Verhältnis zu ihrer Zahl recht erhebliche Einsichtsmenge zutage ge-
') Manche »medizinische" Physiologen haben sogar die allgemeine Physiologie,
durch Studium auch niederer Organismen, erheblich gefördert, was eigentlich Auf-
gabe der »Zoologen" gewesen wäre. Solche Forscher hatten dann naturgemlss
alles Reaktionäre ihrer Zunft gegen sich, entsprechend dem »Zoologen", welcher
nicht Deskriptivforscher ist. Für wirklich allgemeine Physiologie ist eben »offiziell»
— gar kein Platz.
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
489
fördert, weil sie in stetem Kampfe und aus wirklich sehr wenig „prak-
tischen" Motiven arbeiteten: sie werden es aber nicht verhindern können,
dass der Zoologiebetrieb Amerikas denjenigen Deutschlands — und der
europäischen Staaten überhaupt — an Quantität und an Qualität bald
sehr erheblich überflügeln wird, falls nicht der offizielle Betrieb der
Zoologie an den Universitäten eine ganz durchgreifende Änderung erfährt.
Es geht eben nicht ohne Schaden auf die Dauer an, dass ge-
rade diejenigen Forscher, welche sich am tiefsten um die
theoretische Erkenntnis des tierischen Lebens bemühen, von
zoologischer Seite als „nicht zoologisch" und von medizinisch-
physiologischer Seite als „nicht physiologisch" beiseite ge-
schoben werden.
Doch nun zu dem, was wir unter „Zoologie" verstehen, und zu
dem System1) von Problemen, welche unsere „Zoologie* — von allem
Systematischen, wie ausgeführt, abgesehen — darbietet.
Die unbefangene Beobachtung des Gesamtlebens eines Tieres
ergibt die Einsicht, dass ein tierischer Organismus durch eine Reihe
von Formwandlungen hindurch aus einem relativ einfachen Ausgangs-
punkt entsteht und diesen Ausgangspunkt von sich aus wieder erzeugt,
dass er sich eine Zeit hindurch erhält, und während seines Sicher-
haltens gewisse Stoffe von der Aussenwelt aufnimmt und andere an sie
abgibt, dass er sich endlich zu dieser Aussenwelt in wechselnde örtliche
Beziehungen zu setzen vermag.
Aus dieser dreifachen Erkenntnis ergeben sich ohne weiteres die
drei grossen Hauptteile der von Gesetzlichkeiten der Veränderung
handelnden Hälfte der Zoologie: die Lehre von der Formbildung, die
Lehre vom Stoffwechsel und die Lehre von den Bewegungen.
Alle drei Hauptteile erhalten ihre Benennung a potiori: denn
Stoffwechsel ist sowohl mit Formbildung wie mit Bewegung, Bewegung
ist mit Formbildung, Formbildung ist oft mit Stoffwechsel verbunden;
aber dem eigentlichen Formbildungsprozess gegenüber erscheint be-
gleitender Stoffwechsel als ausführende Nebensache, bei den eigentlichen
animalischen Ortsbewegungen kommt es letzthin eben nur auf die „Be-
wegung" an und so fort.
Zu tieferer Einsicht in die Gliederung des zoologischen Gesamt-
gebietes muss nun jeder ihrer drei grossen Hauptteile für sich analytisch
betrachtet werden.
« •
•
Die Lehre von der Formbildung beginnt passend mit der Unter-
suchung der Frage, welche elementaren Mittel denn der Gestaltung
') Man beachte: Die Biologie als grosses Ganze ist uns das „System" ihrer
Probleme, eines dieser Probleme handelt vom „Systematischen", d. h. von dem
Ganzen der gegebenen verschiedenen Lebensformen als einem System.
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
des Organismus aus dem Keim zu Gebote stehen. Der Ausdruck
„Mittel" ist teleologisch, denn jedes Mittel setzt einen Zweck voraus:
er soll aber hier in einem durchaus beschreibend -teleologischen
Sinne verstanden werden, d. h. es soll nur die letzten Einzelprozesse
bezeichnen, deren Kombination zu dem gegebenen Ziele der Form-
bildung in jedem Falle führt.
Die Mittel der Formbildung gliedern sich unschwer in äussere
und innere; die äusseren Mittel können passend auch Bedingungen
des Formgeschehens genannt werden und lassen sich dann weiter in
physikalische und in chemische Mittel sondern: hier wird z.B. er-
forscht, in welchem Grade Wärme und Sauerstoff, auch wohl das Licht,
oder, bei Meerestieren, ein bestimmter, bestimmt zusammengesetzter
Salzgehalt des Wassers zur Entwicklung nötig ist. Im übrigen hat auf
diesem Gebiete die Formbildungslehre die Untersuchung nur zu be-
ginnen, um ihre weitere Verfolgung dann der Lehre vom Stoffwechsel
gleichsam zuzuschieben; denn für die Erhaltung der Organismen gelten
zu einem grossen Teil dieselben „Bedingungen" wie für ihre Entstehung,
und ihre Bedeutung tritt hier noch mehr als solche in ihrer Sonderheit
hervor.
Die Lehre von den inneren Mitteln der Gestaltung ist dagegen
der Formbildungslehre recht eigentliches Feld: der Aggregatzustand
der gegebenen lebenden Substanz ist hier das erste Objekt der Unter-
suchung. Dieser ist in der grossen Mehrzahl der Fälle ein flüssiger,
und zwar von schaumiger Struktur; daraus folgt sofort, dass auch die
Gesetze der sogenannten Oberflächenspannung oder Kapillarität1) für
das Organische Geltung haben; es gilt zu untersuchen, bis zu welchem
Grade das der Fall ist.
Chemischer Stoffumsatz ist ein zweites inneres Mittel der
Formbildung: durch ihn kommt die typische „histologische Differen-
zierung", z. B. von Muskelfasern, von Knorpel und Knochen zustande.
Auf diesem Gebiet kann wieder der allgemeinen Stoffwechsellehre die
tiefere Untersuchung überwiesen werden.
Ganz der Formbildungslehre zugehörig ist dagegen wieder das
Studium der letzten physiologischen Elemente der Form-
gestaltung: soweit die eigentlichen Tiere2) in Betracht kommen, sind
diese letzten Elemente die sogenannten „Zellen"; die Lehre von der
Zellteilung zumal wird damit ein sehr wichtiges, dem experimentellen
Studium zugängliches Gebiet des ersten Hauptteils der Formbildungs-
physiologie. Freilich darf die Bedeutung der „Zelle" nicht in dem
Masse überschätzt werden, wie das wohl hin und wieder geschehen ist:
schon allein der Umstand, dass bei den sogenannten Protozoen, z. B.
den Infusorien, ganz ausserordentlich komplizierte Entwicklungsvorgänge
innerhalb einer Zelle ablaufen können, zeigt, dass es falsch ist, die
Zelle etwa als Elementarorganismus in ganz generellem Sinne zu be-
') Man denke an Seifenschaum oder auch die Blasen in einer Bierflasche.
a) Die „Metazoen" im Gegensatz zu den „Protozoen".
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
491
zeichnen; auch haben die neueren Untersuchungen über Formbildungs-
regulationen an höheren Tieren gezeigt, dass diese nicht etwa Zellen-
aggregate, sondern etwas in tiefem Sinne Einheitliches, dass sie wahre
.Individuen" sind, und die Bewegungsphysiologie lehrt wohl Ent-
sprechendes. —
Neben der Lehre von den Mitteln der Formgestaltung geht die
Lehre von der Verteilung der Formbildungsvermögen oder
.Potenzen* einher. Dieses wichtige und schwierige Gebiet der Biologie
ist durchaus eine Schöpfung der letzten zwei Dezennien; auf ihm bewegt
sich heutzutage die Mehrzahl der als .entwicklungsmechanisch* be-
zeichneten Untersuchungen; aus ihm wurden die Beweise für die
Autonomie der Lebensvorgänge gewonnen, von denen in meinem
vorigen Aufsatz die Rede war, wie die Lehre von den Potenzen denn
überhaupt begrifflich besonders scharf durchgearbeitet worden ist:
Sind die Teile des Keimes in gleichem oder in verschiedenem
Masse zu den Formbildungsleistungen befähigt, und in welchem Grade
ist das der Fall? Solches sind die Probleme, die hier Objekt der
Experimentaluntersuchung, meistens also operativer Eingriffe sind: durch
Entnahme von Teilen des Keimes oder durch Verlagerung derselben
und durch Beobachtung des sich ergebenden Resultates wird hier eine
Entscheidung erzielt.
Von besonderer Wichtigkeit erscheint nun hier zum ersten Male
die Unterscheidung einer normalen und einer regulatorischen Ent-
wicklung, wie denn überhaupt das Regulationsvermögen der Orga-
nismen hier zum ersten Male bedeutungsvoll in den Kreis der Be-
trachtung tritt, d. h. jenes seltsame Vermögen, auch trotz Störungen
des Geschehensverlaufes Normales, Typisches zu leisten.
.Primäre Potenzen* sind Grundlage der normalen, .sekundäre* sind
Grundlage der regulatorischen Entwicklung; beide können ganz ver-
schieden verteilt sein: mit Hilfe sekundärer Potenzen geschieht unter
anderem alles, was man .Regeneration* nennt, aber auch viele „harmo-
nisch-äquipotentielle Systeme*, von denen im vorigen Aufsatz die Rede
war, sind solches in bezug auf .Sekundäres*. —
Die Lehre von den .formativen Reizen" ist der dritte Haupt-
teil der Formbildungsphysiologie: es wird gefragt, von welchen Einzel-
Faktoren die Örtlichkeit und die Eigenart (.Spezifität") der einzelnen
Formbildungsgeschehnisse abhängt, welches also jeweils deren .Ursache*
in einer vertieften Bedeutung dieses vieldeutigen Wortes sind. Eine
Voruntersuchung trennt hier die Teile des werdenden Organismus in
sich .selbst differenzierende* und sich .abhängig* gestaltende; ihr folgt
die positive Ermittlung der formativen Reize. Als typisches Beispiel
einer formativen Reizwirkung sei hier erwähnt, dass die Linse des
Wirbeltierauges in der Örtlichkeit ihrer Entstehung durch die Berührung
des sogenannten Augenbechers mit der Körperhaut bestimmt wird.
Die Unterscheidung des Normalen und des Regulatorischen, des
.Primären* und des .Sekundären* tritt nun auch hier wieder, wie bei
den Potenzen, in den Vordergrund: knüpfen wir an das Beispiel der
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
Augenlinse an, so entsteht diese, wie gesagt, im Normalen aus der
Körperhaut, sie . regeneriert" sich aber, wenn sie fortgenommen war,
aus der Iris; das ist ein Ergebnis in Hinsicht der primären und se-
kundären „ Potenzen". Die Frage nach primären oder sekundären
„formativen Reizen* hängt mit ihr zusammen ohne mit ihr identisch
zu sein : der primäre formative Reiz ist die Berührung durch die Augen-
blase, wie wir mitteilten; was ist der „ sekundäre" Reiz im Regenerations-
falle? Derselbe wie der primäre sicherlich nicht. Etwa die Wunde?
Aber die Iris ist gar nicht verwundet. Oder die blosse Tatsache des
„Nichtmehrvorhandenseins" der Linse?
Wir wissen es nicht; ja, wir wissen beinahe in keinem Falle,
welcher Faktor letzthin die Wiederherstellung, die „Restitution", nach
einer Organisationsstörung auslöst. Hier liegen die wichtigsten Auf-
gaben für die Zukunft; botanisch ist hier etwas mehr ermittelt als
zoologisch, ohne dass aber, wegen der grossen Verschiedenheit der Sach-
lage, die tierische Biologie viel von der pflanzlichen profitieren könnte. —
Wenn wir nun verschiedene Nebenaufgaben der Formbildungs-
physiologie übergehen, die sich, wie etwa die Frage nach dem der Ent-
wicklung noch fähigen „Keimesminimum", wohl auch dem einen oder
dem anderen ihrer bisher geschilderten Hauptteile eingliedern lassen
möchten, so bleibt uns als ihr letzter grosser Hauptteil die Lehre vom
Zyklischen der Formbildung und alles, was damit zusammenhängt.
Ich verstehe aber unter dem Zyklischen der Formbildung die Tatsachen
der „Befruchtung" und der „Vererbung".
Es ist gewissermassen schon verbal und definitionsmässig im Begriff
des „Zyklischen" enthalten, dass die von ihm dargebotenen Probleme
ebensowohl als die ersten wie als die letzten Aufgaben der Formbildungs-
physiologie angesehen werden können: der Organismus entsteht aus
dem Entwicklungsausgang, in der grossen Mehrzahl der Fälle also aus
dem befruchteten Ei, und er bildet diesen Ausgangspunkt aufs neue
für neue Entwicklung; was das erste war, ist zugleich das letzte.
Im einzelnen treten hier nun zunächst die Probleme der eigent-
lichen Befruchtungslehre auf: was ist eigentlich Befruchtung, was
bedeutet, was leistet sie, warum kann sie auch unterbleiben, wie das
bei der sogenannten „Parthenogenese" geschieht? Die Lehre von der
Entstehung der Fortpflanzungsprodukte, zumal von der sogenannten
„Reifung" des Eies, steht mit diesen Dingen in engstem Zusammenhang.
Als zweites Hauptproblem der Lehre vom Zyklischen erscheint
die .Vererbungstheorie": was heisst es eigentlich, dass Formbildung
sich rhythmisch wiederholt, und welches sind die Voraussetzungen solches
Rhythmus? Auf diesem Boden ist die Lehre vom „Keimplasma", ist
auch der zweite Beweis der Autonomie der Lebensvorgänge erstanden.
Doch ist mit diesen beiden Grundproblemen die Lehre vom
Zyklischen noch nicht erschöpft: ein Problem eigener Art bietet sich
ihr dar, ein Problem, welches gewissermassen ein Ende dessen bildet,
was wir „Gesetzlichkeit des Veränderungsgeschehens" genannt haben,
eine Frage, die zu den Problemen der Systematik überleitet: der
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Hans Driesch: Das System der Biologie,
493
Rhythmus des Zyklischen ist nicht ganz streng, konkreter gesprochen:
die Kinder sind den Eltern nicht immer ganz gleich. Inwiefern sind
sie ihnen ungleich? Was bedeutet die Ungleichheit, woher kommt sie?
Die statistische Variationsforschung sucht hier die kleinen
quantitativen Ungleichheiten auf formelmässigen Ausdruck zu bringen;
bedeutsamer noch erscheint die Lehre von den »Mutationen", welche
sprungweise Änderungen der Spezifität hervorzurufen und zu studieren
versucht; auch die Versuche über Temperaturbeeinflussungen von
Schmetterlingslarven gehört in dieses Gebiet, mag es sich auch zum
grossen Teil nur um entwicklungsphysiologische Hemmungen dabei handeln.
Auf dem soeben flüchtig durchstreiften Felde liegt auch, zumal in
der Lehre von den Mutationen, das Wenige, das sehr Wenige, was wir
von einer sogenannten „Deszendenz" der Organismen wirklich wissen.
Denn es kann gar nicht oft genug betont werden, dass für die
„Deszendenztheorie"1) bis jetzt kein wirklicher Beweis, sondern nur
Indizien, zumeist tiergeographischer und paläontologischer Art, vorliegen.
Es wird noch langer Zeit und der resignierenden Arbeit von Gene-
rationen bedürfen, um die verdienstvollen Anfänge nach deszendenz-
theoretischer Forschung zu wirklich fruchttragenden Erkenntniszweigen
zu entwickeln.
Übrigens wäre eine gewisse rationelle Systematik, eine Einsicht in
das Problem: „warum diese Gesamtheit der spezifischen Formen und
keine andere?" auch wohl vor Lösung der Deszendenzfrage, die im
tiefsten Grunde doch nur eine historische Frage ist, ganz wohl denkbar.
* *
•
Die Probleme der Stoffwechsellehre stehen, ihrer grossen Be-
deutung unbeschadet, an einschneidender Wichtigkeit für das eigentliche
Grundkennzeichnende des Lebendigen den Formbildungsproblemen nach,
und zwar deshalb, weil sich bei vertieftem Nachdenken leicht die Ein-
sicht gewinnen lässt, dass nicht „ein Stoff", im Sinne einer chemischen
Verbindungsart, des Lebens Grundtage sein kann. Die Stoffwechsellehre
untersucht somit immer abgeleitete Erscheinungen, Tatsachen zweiter Hand.
Das Wesentliche am Begriff des Stoffes, sei er chemisch betrachtet
„Verbindung" oder „Element", ist räumliche Gleichförmigkeit
seiner Menge: es gibt so und so viele Kilogramme Eisen oder
Schwefelsäure oder Zucker, die einen so und so grossen Raum gleich-
massig einnehmen. Das Wesentliche am Lebendigen ist typische
Ordnung spezifischer Ungleichförmigkeiten: es hat durchaus
keinen Sinn von so und so viel Grammen oder Kilogrammen „Adler"
oder „Löwe" oder „Regenwurm" zu reden. In diesen Andeutungen
allein liegt schon die Abweisung des Begriffes einer „Lebenssubstanz",
eines „Lebensstoffes"; der Begriff der „Entelechie" hat vielmehr an
seine Stelle zu treten, und zwar in der in meinem vorigen Aufsatze dar-
gelegten Gestalt.
») Von dem widerlegten sogenannten „Darwinismus" reden wir hier nicht.
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494 Hans Driesch: Das System der Biologie.
Mit allem diesen aber ist der Stoffwechsellehre dasjenige Problem
entzogen, welches im andern Fall ihr grundlegendes sein würde.
Wenn wir vorbereitende Untersuchungen, wie z. B. die Erforschung
der spezifischen Funktion von Drusen oder von Darm- oder Nieren-
teilen hier ausseracht lassen wollen, als mehr noch der deskriptiven
Forschung zugehörig, so stellt sich die Theorie der Atmung als das
eine Grundproblem der StofTwechsellehre dar: Atmung im allgemeinsten
Sinne ist die zum Zwecke des Gewinnes freier Energie eingeleitete
Zersetzung gewisser Bestandteile des organischen Körpers verbunden
mit einer «Oxydation*, einer Sauerstoffbindung, der zersetzten Bestand-
teile. Die Oxydation braucht nicht mit Hilfe des freien Sauerstoffs
der Luft zu geschehen: auch nach dessen Abschluss atmet sogar der
Tierkörper noch eine Weile, ein Phänomen, das man „intramoleculare
Atmung* genannt hat; ja, gewisse Bakterien, die Anaerobien, und ge-
wisse Eingeweidewürmer brauchen den Luftsauerstoff überhaupt nicht:
sie nehmen den zur Verbrennung notwendigen Sauerstoff aus Teilen
ihres eigenen Körpers selbst. Im einzelnen ist noch fast alles auf-
zuklären bei diesen Erscheinungen, die oftmals sehr deutliche »regula-
torische*, d. h. Störungen ausgleichende Züge tragen.
Dass bei den höheren Tieren Sauerstoffentziehung den Tod herbei-
führt, erscheint seltsam: man sollte nur einen Stillstand der Lebens-
funktionen, zu denen die Atmung die Betriebsenergie liefert, erwarten;
wahrscheinlich entstehen im Laufe des sonstigen Stoffwechsels gewisse
Produkte, die eben verbrannt werden müssen, sollen sie nicht „giftig*
wirken. Atmung hätte dann zwei „Zwecke*: die Lieferung von Be-
triebsenergie und die Beseitigung von Schädlichkeiten.
Es ist unmöglich, Atmung ganz scharf von anderen chemischen
Umsetzungen im Organismus zu trennen, die ebenfalls dem Energie-
gewinn dienen, wie das namentlich manche Spaltungen an und für sich
schon tun. Am besten wohl fasst man alle diese Phänomen als Be-
triebsstoffwechsel zusammen. —
Die Lehre vom Aufbaustoffwechsel oder Assimilationsstoff-
wechsel würde dann als zweiter Hauptteil der Stoffwechselphysiologie
der Lehre vom Betriebe gegenüberstehen.
Hierher gehört alles, was über die Bedeutung der Nahrung für
die Bildung der organischen Teile erkannt ist: wie entstehen die Be-
standteile des organischen Körpers aus den zugeführten Nahrungsbestand-
teilen, wie setzen sie sich ineinander und, was entsteht bei alle dem
als gleichsam nicht mehr brauchbarer Abfall? Solches sind hier grund-
legende Fragen. Probleme regulatorischen Charakters aber treten auf,
wenn der Effekt zugeführter abnormer Stoffe oder die Wirkung von
Nahrungsentzug, von Hunger, untersucht wird. Das regulatorische Ver-
mögen des Organismus ist hier enorm: zuerst verbraucht er seine so-
genannten „Reserven*, dann seine funktionierenden Gewebe, und zwar die
bedeutungslosesten zuerst, die wichtigsten zuletzt. Übrigens ist klar, dass
im Hungerzustand nicht nur die Assimilation, sondern auch die Atmung,
und zwar in Hinblick auf das „zu Veratmende* eine Regulation benötigt.
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
495
Da wir eine lebende Substanz nicht zulassen können, so ist für
uns klar, dass der Organismus immer nur aus bestimmten scharf ge-
kennzeichneten chemischen Stoffen andere macht; dass er aber nicht
etwa einen Universalstoff „auf-" und „abbaut". Er leistet alles mögliche
verschiedene Einzelne, jeweils nach seinen Bedürfnissen.
Mit welchen Mitteln nun leistet er das alles? Es ist klar, dass
wir diese Frage auch schon in Hinblick auf den Betriebsstoffwechsel,
der ja auch in Einzelleistungen besteht und regulatorisch lenkbar ist,
hätten stellen können. So gilt denn die Antwort für beide grosse Teile
der Stoffwechsellehre gemeinsam:
Diese Antwort aber besagt, dass „der Organismus", d. h. das eigent-
lich Leitende an ihm, meist mit noch unerkannten Mitteln Aufbau und
Abbau seiner Bestandteile lenkt, dass er sich aber oftmals sogenannter
„Fermente" dazu bedient und sich das chemische Prinzip der „Kata-
lyse" nutzbar macht.
Die neuerdings im Vordergrund sowohl des chemischen wie des
physiologischen Interesses stehende Erscheinung der Katalyse aber be-
steht darin, dass durch den Zusatz sehr kleiner Mengen gewisser Stoffe
chemische Umsetzungen grossen Betrages erzielt werden können, die ohne
jenen Zusatz gar nicht oder ganz langsam ablaufen würden. Das ganze
Gebiet der Katalyse gehört zu den allerschwierigsten; es muss darum
hier bei diesem blossen Hinweis verbleiben, und es muss die Mitteilung
genügen, dass eben in vielen Fällen der Organismus sich der Katalyse-
toren für seine Zwecke bedient.
Ich lege besonderes Gewicht darauf, dass die Fermente nie etwas
anderes als Mittel für das eigentlich Leitende am Organismus sind,
dass sie nicht an und für sich dessen Stoffwechsel letzthin erklären:
werden doch eben die Fermente von dem eigentlich Letzten im Orga-
nismus gebildet, wo und wie dieses Letzte sie braucht. Ihre Bildung
also eigentlich ist der wahre Vitalvorgang. —
Wollen wir neben den beiden grossen vom Betriebs- und vom
Assimilationsstoffwechel handelnden Teilen der Stoffwechsellehre noch
einen dritten unterscheiden, so könnte das die Lehre von den Anti-
toxinen und von den Gegengiften überhaupt sein: es scheint, dass der
Organismus, wenigstens der höchsten Tiergruppen, für fast jedes orga-
nische Gift, ja für jeden fremden Eiweisskörper ein Gegengift zu bilden
vermag. Einzelne Ausnahmen und Einschränkungen ändern an der
fundamentalen Bedeutung dieser Tatsache, deren Untersuchung noch
mitten im Fluss ist, nichts.
Wir haben hier das Regulatorische des Organischen in einer seiner
reinsten Formen vor uns; mir scheint, man könne mit Recht hier von einem
dritten Hauptteil der Stoffwechsellehre reden: vom Schutzstoffwechsel.
Die Lehre von den organischen Bewegungen kann darum -
als der menschlich bedeutungsvollste aller Teile biologischer Wissen-
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496 Hans Driesch: Das System der Biologie.
schaft angesehen werden, weil auch der handelnde Mensch ihr letztes
und höchstes Objekt ist. Nicht als ob sie sich mit der eigentlichen so-
genannten „Psychologie" zu befassen hätte; die Psychologie in strengem
Sinn ist keine echte »Naturwissenschaft": aber die Bewegungslehre als
biologische Naturwissenschaft hat alles, was es an organischen Be-
wegungen gibt, zu ihrem Objekte, und dazu gehören denn auch die-
jenigen sich bewegenden organischen Körper, welche wir kurz „handelnde
Menschen" nennen.
Die Bewegungslehre beginnt, der Formphysiologie analog, passend
mit dem Studium der elementaren Bewegungsmittel: die Bewegungen
nackter Protoplasmamassen, die Muskelkontraktion werden hier analytisch
untersucht; auf der anderen Seite ist die Nervenleitung Untersuchungs-
gegenstand, mit allem was an sie anknüpft: die Begriffe Erregung,
Hemmung, „Tonus", Schaltung usw. werden formuliert. —
Die organischen Bewegungen werden durch die Faktoren der Aussen-
welt veranlasst: die Art und Weise, wie solche Veranlassung statthat,
und durch welche der Aussenweltfaktoren sie geschehen kann, bildet
den zweiten Hauptteil der Erforschung tierischer Bewegungen; wir
wollen ihn mit Benutzung der Terminologie neuerer Physiologen die
Lehre von der Rezeption nennen. Das, was man Physiologie der
Sinnesorgane zu nennen pflegt, gehört in erster Linie hierher; bedingt
doch Art und Komplikationsgrad dieser Organe ganz wesentlich die Art
und Mannigfaltigkeit der „Reize", von denen ein Organismus überhaupt
getroffen werden kann. —
Sind elementare Bewegungsmittel und die Organe der Rezeption
bekannt, so kann die Lehre von den organischen, insbesondere den
tierischen Bewegungen zu ihrem dritten wichtigen Teile schreiten:
der Lehre von den Potenzen der Zentralorgane. Es ist hier aus
der elementaren, beschreibenden Biologie natürlich die Tatsache, dass
es solche „Zentralorgane*, dass es z. B. Hirn und Rückenmark gibt,
als bekannt vorauszusetzen.
Im übrigen wird hier deutlich, wie viele Analogien die Bewegungs-
biologie zur Lehre von der Formbildung aufweist: auch dort handelte
ein wichtiger Hauptteil von den „Potenzen" und ihrer Verteilung.
Das Experiment war der „Lehre von der Lokalisation der Hirn-
funktionen" wesentliches Hilfsmittel: und zwar die Extirpation, die
Entnahme von Teilen. Sie ergab, ganz wie bei den Keimesteilen, dass
oft in sehr weitem Grade die Funktionen des einen Teils von anderen
übernommen werden können, dass es freilich auch Störungen geben
kann, welche irreparabel sind; das erste positive Ergebnis ist das theo-
retisch wertvollere. —
Die Lehre von der Reaktionstypik ist nun der Schlussteil der
Bewegungsphysiologie, ist derjenige ihrer Teile, welcher alle anderen
voraussetzt: das spezifische Verhältnis zwischen dem Typischen der
Reize und der Reaktionen wird hier untersucht.
Das Studium beginnt bei sich bewegenden einfachen Protoplasma-
massen, wie sie bekanntlich nicht nur unter Protozoen, sondern auch
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Hans Driesch: Das System der Biologie.
497
im Körper der höheren Tiere in den weissen Blutkörperchen („Pha-
gocyten") vorkommen, zum wichtigen Schutze des Gesamtorganismus.
Reize und Reaktionen sind hier einfacher Natur, es handelt sich um
geradlinige Bewegungen welche auf Licht-, Wärme- und chemische
Reize hin, oder von ihnen ab gerichtet sind; der Begriff der „Stimmung"
tritt auf als einzige Komplikation in diesem Gebiete: je nach Umständen
kann derselbe Organismus „positiv" oder „negativ" gestimmt sein, das
heisst, sich zu derselben Reizquelle hin oder von ihr ab bewegen.
Nun geht die Untersuchung zu den „Reflexen", einfacher und
zusammengesetzter Art, über und wendet sich den sogenannten „In-
stinkten" zu. Die Frage, ob diese restlos in Kombinationen von Re-
flexen, das heisst von festen, nicht variierbaren Bewegungsreaktionen,
auflösbar sind, darf schwerlich als entschieden gelten; namentlich aber
ist zu untersuchen, ob es etwa „Instinkte" gibt, welche gleich das erste-
mal von typischen Reizkombinationen („individualisierten Reizen")
ausgelöst werden, oder ob nur „einfache Reize" Instinkte wachrufen.
Wäre ersteres der Fall, so würde schon die Instinktlehre die Basis für
einen weiteren Beweis der „Autonomie des Lebens" unseres Erachtens
liefern.
Sonst wird ein solcher Beweis erst geliefert durch das analytische
Studium der wahren Handlung des Menschen und mancher höher
organisierter Tiere verschiedener Gruppen. Das, was populär als „Er-
fahrung" oder „Gedächtnis" bezeichnet wird, ist eine der wesentlichen
Grundlagen des Handelns, auf dessen Analyse näher einzugehen natür-
lich in keiner Weise dieser methodologischen Darlegung Zweck sein
kann oder soll. In der Analyse der „Handlung" ist das höchste Problem
der Wissenschaft von den Gesetzlichkeiten des tierischen Lebens erreicht.
» •
•
Solches also ist der eine Hauptteil wahrer Zoologie in seiner
Gesamtheit; ein vollständiges Bild, ein wahres „System" dessen, was
über die Gesetzlichkeiten des organischen, insonderheit des tierischen
Lebens erforscht werden kann und in der Tat erforscht wird. Die
systematischen Probleme treten, wie erörtert, als Gegenbild dazu.
Wäre es nicht angebracht, dass unter dem Namen „allgemeine
Zoologie* jenes Bild dem Lernenden wirklich in seiner Vollständigkeit
als grosse bedeutsame Einheit vorgeführt werde?
Wäre in solcher Form „Zoologie" nicht auch für den Nicht-Fach-
mann ein wahres und tiefdringendes Bildungsmittel?
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@elbftbettad)tungett.
93on einem Apotbcfer in ©übbeutfcblanb.
3n früheren Seiten tfaben bic Arjnei an»enbenben Ärjtc biefe felbjr
zubereitet/ ein ©pftem, au$ bem ficf> große unb bei junerjmenber ©peziali*
flerung ber mcbijinifd)cn unb pbarmajeutifdjen $ed)nif unerträgliche Übel*
ftdnbe ergaben: ^ortfafl jeber Kontrolle, Unm6glid)feir, beibe Sdrigfetten
gleichzeitig ein»anbfrei aufyuüben u. bgl. <5oldjc Unjutrdglidjfeiten Per*
anlasten barjer fd»n Por langer 3eit eine, wenn man pon ben drjtlidjen
.£anbapotr>efcn abfiebt, allgemein burdjgefüljrte Abtrennung ber pjjarmajeu*
tifdjen betriebe üon ber drjtlichen <Prari*.
cjä war bamit ein 3ujtanb gefeftaffen »orben, mit bem ber aufjicbt*
fütjrenbe ©taat, baä arjneifonfumierenbe ^ubltfum, bie Arjte unb aud» bie
Apotfyefer felb|? xcd)t »oi)I jufrteben fein fonnten. Denn bie ^rage, ob bit
Apotbefen itjrem 3»ed> ben bequemen unb bittigen ©ejug tabellofer Arjneien
$u ermöglichen/ bienen, fonnte für bie beutferjen Dffijtnen, bie überall im
AuSlanbe a(ö muflergültig angrfeben mürben/ bii por wenigen 3ahrjebntcn
in il)rem Pollen Umfang bejaht »erben. <£$ mar SXegel, nichts abzugeben,
»ad man nicht entmeber felbft juberettet ober — für bie »enigen %h\it,
»o man auf ©ejug pon auswart* angewiefen war ~ forgfattigft geprüft
batte. @$ entwickelten ficfj babei bie Apotrjefen ju fegen$reid)en SBoblfabrtfc
anhalten, aud benen babnbredjcnbe gorfcher unb piele grunblegenbe »ijTen*
fchaftliche Arbeiten fyerporgtngen.
£a mürbe bie 9tteberlajfungÄfreil)eit für aHe ®e»erbe eingeführt.
dliä)t fo für bie ^rjarmajie. Unb ba$ mar gut; benn fonjl rjdtten mir jefct
in SDeutfchlanb 3u(tdnbe, mie ffe ftd> in ben Apotbefen $ranfretehö unb ber
edimcij geigen. Aber eö mar nur eine negatipe ?eijtung; bie allein richtige
pofitipe tfonfequenj ju Riehen, bie Apotbefen ju pcrftaatlicrjcn, hat man
bamalö unterlagen. Unb ba(b jetgen flcf> bie folgen biefer Untertaffung^
fünbe/ burd) »eiche ber Apotbefenbetrieb ein ^ripüeg gemorben mar, in
ber anfangt (angfam/ fpdter rapib ffd) ent»icfelnben unpernunftigen Steigerung
ber Apotbefenpreife, »elcher ber ©taat nicht untdtig unb teilnabmlod \)httt
juferjen bürfen. Denn man fonnte fleh'* an ben Ringern abjdrjlen, bag
ber Apotrjefcr bebufa Sßerjinfung feine* r)6>ren Anlagekapital* an jeber
einzelnen Arjnei je$t mer)r perbienen mußte.
©leicfjjeitig mürbe jeboch ber Reingewinn ber einjelnen ®efd)dftr
immer geringer unb jmar aud folgenben ©rünben:
9?eben ben Apotbefen unb ald $onfurren$ für biefe t)at ftcfy eine
anbere Art pou ©efdjäften entmicfelt, beren *Perfonal meber Perpfllicbret
noch in ben meijlen $dllen befähigt ift/ bie bort abgegebenen Arjneimittel
auf ihre Dualität bin ju beurteilen: bie SD?ebijinal*£)rogerten.
Diefe »erben Pon unferer ©efe$gebung begünftigt; bie 3abl ber SKirrel,
beren Sertrieb ben Apotrjefern Porbebalten fft, wirb fortgefefct perminbert:
gemiffe ©ubtfanjen, afd SBenjin, Gblorfalf, Sttatron ufm., »erben je$t in ben
Apotbefen meift nur ju ben 3eiten perlangt/ »o bie Drogerie gefd)lofien ift,
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93on einem ^potbefer : Selbftbctrachtiingen.
499
alfo Sonntag* unb nacht*. — 3n Ubertretung*fällen wirb ber £>rogtjt
meifr außerorbentlid) milb, ber 3Cpott)efer Dagegen brafonifd) geitraft.
@* ftnb un* aber aud) nid)t wenige gälle befannt, wo ber flrjt ben
»Patienten $um SVjug feiner 2frjnei au* bem Drogengefdjaft »eranlaßt, ba*
»eber ©runb nod) <Pfltd)t hat, für feine ÜBare \u garantieren. #nbererfett*
hat ftd) öon (Snglanb, granfreid) unb bem Sttutterlanb alle* 6d)Wtnbel*,
Qftnerifa tyer, unterftüfct burd) eine efelfjaft aufbringliche ed)t amerifanifd)e
Qfrt ber SXeflame, eine neue ^orm oon 2Tr$neien, ein immer größere* ©ebtet
erobert: bie 3)atentmebt)inen, bie ©ehetmmittel. SÄan (äffe ftcb oon einem
Stabtapothefer fein „<Spe$ta(itaten"Iager geigen unb man wirb über bie un*
glaubliche Spenge bon 3ubereitungen (raunen, welche ber 2fpotr)efer mit ©e«
braud)*anwetfung fertig »erpaeft bejteht unb wetterüerfauft, ohne »on ihrer 3u*
fammenfefcung eine 2Thnung ju l)aben. früher hatte ein beutfdjer ^harmajeut
ben Vertrieb berartiger „Heilmittel" für nicht gut mit feinem ^Pflichtgefühl
vereinbar gehalten; jefct freilief) mußten folche tfleinlid)fetten unb engherzige
©ebenfen fchwinben, feitbem ftd) Ärjte, barunter weltbefannte <profefforen
baju hergegeben haben, ben ©eheimmittelfabrifanten bie fdjmeichelhafteflen
©utadjten über bie unübertreffliche ©irfung ihrer spantfcfjereten ju fdjretben.
Durd) ben Serfdjletß biefer ©pejialitaten ifc aber ber '#potf)efer
3wtfd)enhanbler geworben. Um, wa* er felbft gefauft tjat, otjne Prüfung,
ohne aud) nur bte Umhüllung ju entfernen, weiterjuüerfaufeu, braucht er
feine roiffenfchaftltche unb feine tedjnifdje 2fu*bilbung. Er braucht aud) nicht
oiel baran $u »erbtenen; er hat ja wenig Arbeit bamit. X)aß ber äonfument
ftd) bennod) oiel teurer bei biefen fertigen QÄitteln ftcljt, al* bei folchen, bie
für fein tnbwibuelle* SBebürfni* eigen* angefertigt werben, roirb niemanben
muntern, ber in irgenbeiner 3ettung bie 2(nfünbigungen fo »teler unent*
behrltdjer unb unfehlbarer SWittel lieft. Dicfe fpaftenlangen Eharlatanerien
foflen »iel ©elb. 3at)len muß e* natürlich ber tfonfument.
Soweit hatten fleh bie SBerhaltniffe entwicfelr, al* im 3at)re 1890 ba*
ßranfenperftcherung*gefe& in Äraft trat. Die greife ber 2tpott)efen hatten
eine ungefunbe $6l)e erreicht, ber ©ewinn au* ihrem betrieb mar burd) bie
£ntftet)ung ber Drogerien unb burd) bie Einführung ber ©ehetmmittel beji*
miert worben. 9htn leuchtete eine neue Hoffnung auf, bie »ielen armen
Arbeiter, bie bi* bahin, wenn eine föranfheit fie angefallen hatte, niemanben
befonbere Serge machten, al* bem 2lr$t, ber fie umfonft behandeln unb bem
2fpothefer, ber ihnen umfonft Ärjneien liefern burfte, hatten auf einmal bie
Stechte »on roirflichen 2)?enfd)en erlangt, waren auf einmal fehr oerebrte
Patienten unb ßunben geworben: J^ebung be* Umfafce*, glatte Rechnung.
Unb wieber gefdjah, wa* ju erwarten war: mteber ließ ftd) ber
Staat bie Gelegenheit jum Eingriff entgehen: wieber trat £auffe an ber
tyiothefenborfe ein.
2Tber wenn bie Ermerböoerhdltntffe für ben 3fpothefenbefi$er fo un*
günftig ffnb, woher jum Teufel fommt bie flarfe Nachfrage nad) oerfduf*
liehen apotfjefen, wie leißt fid)1* erflaren, baß ftd) immer nod) Üeute für bie
Pharmajeutifcfje Laufbahn ftnben?
3Cu* jwet einanber flü^enben ©rünben: ben immer nod) fleigenben
ganj unjtnnig hohen QTpothefenpreifen unb bem baburch wirffam erhaltenen
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500 33oh einem Äpotbefer: (Selbftbetrachtungen.
Aberglauben ber großen SKaffe »on ber guten Rentabilität ber 2lpotbeten
einerfeit* unb anbererfett* au$ ber beharrlichen Steigerung ber Regierung
bie »on 2lpotr»efern fchon fo oft geforberte SWaturitat al$ ©ebingung für
ben Eintritt in ben pharmajeutifchen ©eruf einjufür/ren.
SVibe ^aftoren greifen fo ineinanber ein: .£at ein junger 9Äann feine
ffeben ©»mnaftalflaffen hinter fleh, fo erwacht in ib/tn ber *?IBunfch, einmal
unbeauffTchtet in« sll^ irre hauö ju get^en, auf bem Spaziergang feine %\§am
ju rauchen unb wa« bergleichen barmlcfe summa bona eine« »Penndleri
mehr flnb. — £a« barf jeber (5chufterlehr(ing; aber ber beurfdje ©nmnajiait
f6nnte (Schaben barunter leiben. 3ft er fo weit, fo Äußert er feinem 93ater
gegenüber ben $Bunfch, Tfvorbcfcr ju werben. Diefer, ber e$ ja beobachtet
hat, wie fdmell bie Spothefen feine« ©ohnort« bie fcefifcer gemechfelt haben
unb jebe«mal teurer »erfauft würben, macht in ben metjten fallen gar feine
Grinwenbungen, fonbern bringt feinen hoffnungsvollen @ohn hoffnungtoefl
in bie 2lpothefe, wo biefer »on ber engen 3ucht be« ©pmnafium« enblt*
befreit, fich in ben erflen fahren leiblich roohl fühlt, ficf> fogar ein gerottJeÄ
©ehagen fuggeriert in bem ganj richtigen ®efübl, baß für ihn, ben Smmatunri,
ba« Umfatteln boef) einen recht bebenflichen #afen bhttc.
Unb ift er erjt ein paar 3ahre bei ber s])harmajie, fo fyat er gewöhn*
lieh, felbft roenn er wollte, gar nicht mehr bie (Energie jum Umfatteln.
<£« werben nämlich an einen Pharmazeuten ganj enorme 2lnforberungrn
gefleflt: fooiel S3erantroortlichfeit, fooiel Stunben ununterbrochenen, auf*
regenben unb ermübenben Dtenjt, roie er, tjat fein anberer ju übernehmen.
£>er fceftfcer, ber ju teuer gefauft hat — unb ba« ha&en in ben legten jebn
Sahren bie allermeiiten — muß fein perfonal m6glichft au«nu$en, um bißig,
b. h- fo arbeiten ju tonnen, baß ihm bie 3at)lung feiner 3»nfen unb ein
antfanbige« i'eben mit feiner gamtlie ermöglicht wirb.
Einern im ©effts ber Approbation jum felbflänbigen betrieb einer
3lpothefe befinblichen ©etjilfen wirb bie ©tunbe feines* £ien|te« burchfchntttlicb
mit 49 Pfennig vergütet unb ba« ift ein £ienft, bei bem er abgefehen »en
ber 9Rittag«paufe unter Umftdnben ben gangen Sag nicht baju fommt, (i*
auch nur einmal hinjufefcen.
ra ber ■pharnrnjeut im allgemeinen nicht« anbere« gelernt hat, al<
fein ftach — er hatte einfach feine 3eit baju — , bei ber beftehenben Über-
ladung auch feine einen 92eben»erbienft abwerfenben Arbeiten übernehmen
fann, benft er in ben meijlen fallen fo: „©effer \)abt ich e« immerhin a\i
93efi$er; jum minbeften brauche ich mich nicht ben Jaunen eine« <5t?ef* ju
fügen." @r wiU alfo um jeben prei« ein eigene« ©efchaft, jumal er »on
ben Äoften, mit benen ein foldje« betrieben wirb, meift eine recht unflare
Sorftellung h«t, ba ihm ber (5t>ef ben @inblicf in bie ®cfd)Äft«büchcr
gemeinhin nicht geftattet. 3ft er nun noch »erlobt — wenn er überhaupt
heiraten will, fo ift e« jefct 3eit, baju ju tun — , bringt bie SÖraut jur
«Jpochjeit, fo wirb er meift eine 3ett lang fleh nach (Gelegenheit jum Anfauf
umfehen, um (ich fdjließlich boch — anjufaufen.
3ule$t nach »olljogenem M a u i, wenn er erft einmal in feiner 3potbefr
warm geworben ift, lieht er aHerbtng« bereuenb ein, baß er al$ ®er;ilfe ein
jwar befchrÄnftere* unb befchwerlichereä, aber boch forgenfreiere« ?eben g<*
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tBen einem Apotpefer : ©elbflbetrad)tungen.
501
fuhrt bat. dlun will er aber wenigflenä taö beim Serfauf gewinnen, wa$
er beim ^Betrieb ju erwerben pergeblid) gehofft tyarte. Unb fter>e ba, er
ftnbet einen nod) größeren Dpttmiften, einen nod) 23ertrauen$feligeren, einen
nod) Urteileunfätjigeren, ber tljm nod) mehr $af)ft, alä er fd)on oeraudgabt l)at.
3uweilen freilief) nidjt fofort. Dann muß er eben fein ®efd)äft nod)
behalten. SSBeldje SBanoper aber bann juweilen angewanbt werben, um ben
Umfafc $u heben, baruber bere man einen ^adjmann (benn bie Xpotfyefen
»erben, fo unglaublid) bad Hingt, nad) bem Umfa$, erft in jweiter £ime
nad) bem ^Reingewinn bewertet, wa$ ja früher feine Berechtigung Ijatte, fo
lang in allen normalen 2fpott)efen ein giemlid) gleicher ^rojentfafc beö
Umfd)tag6 Reingewinn war). $Bir wollen aber ntd)t perfekten, hier auf
bie (Gefahren htnjuweifcn, bie mit bem Betrieb einer Xpotfyefe für ba$
fub lifum oerbunben fein fönnte, wenn beren Befi$e r ju bebe Bnifen herauf*
fd)lagen muß. Daß bie ®emijfenl)aftigfett burd) bie Notlage ntdjt gefirbert
wirb, leuchtet ofme weitered ein; benn jeber tft ffd) felbfl ber 9*äd)fte unb bie
bellen ®runbfä$e müffen in einem pon Sorgen gequälten ®emüt unmirffam
werben. — Äommen bod) fleine ®efe$e$ubertretungen felbft in gutgeleiteten
2lpotf)efen oor: bie freit)änbige Abgabe pon 3rjneten, bie nur auf fXejepte
abgegeben werben burfen; bie verbotene 3Öteberl)olung »on gewifien Mitteln
ebne ärjtlid)e Genehmigung, larer ®iftt)anbel, baö* ben 3pott}efern unter«
fagte £>rbinieren (in är$t(id)en Greifen mit Vorliebe „Äurpfufdjerei" genannt).
Unb baö alle* nur, um bem taufenbfäpfigen Brotherrn, bem »Publifum nid)t
oor bie taufenb Ä6pfe $u flößen, aud $urd)t por ber Äonfurrenj, bie oiel*
leicht weniger Umfiänbe mad)t unb teehalb pon ben Junten beporjugt
werben rennte. 2(ud) bie (Spezialitäten wären nie $u ihrer heutigen Bebeutung
gelangt, wenn ber Xpotfyefer nid)t materiell abhängig unb auf jebe Gelegenheit
$um SJerbienfl angewiefen gewefen wäre. ,,3d) weiß wol)l, baß btefer ober
jener ®egenftanb, ben td) perfaufe, ©d)winbel ijt; aber er wirb perlangt unb
bringt etwad ein: non olet."
3llfo, wenn ber @el)ilfe ffd) felbftänbig mad)t, fo bettet er (!d) ge*
wotmlid) nid)t auf SKofen. 3|t er aber pemünftig, perjidjtet er auf bie (?l)e
unb auf bie Erwerbung eine* ®efd)äfte", fo $eigt folgenber einfacher tfalful,
wie er für feine alten Sage forgen fann:
Pehmen wir j. B. ben a a U , er habe pon feinem Vermögen mährenb
ber Vehr; unb Äonbittonäjett, alö Stufcent unb ald Einjähriger fooiel Per«
braud)t, baß er nad) erlangter Approbation eine Stelle annehmen unb im
erften SWonat feiner Sätigfeit ale* approbierter 2lpotl)efer Pon bem fHeft feinet
Vermögend leben fann. £>a$ muß er; benn er wirb pojinumeranbo bejahte
Bei äußerjter, an ®eij grenjenber Sparfamfeit foll e* il)m raoglid) fein —
er muß eben auf ben Umgang mit ben Herren, bie mit il)m gebient l)aben
ober bie feiner ©tubentenoerbinbung angetjären, oerjidjten — fagen wir
60 SM. monatlid) juruef' unb perjindlid) anjulegen. 60 l)at er am (fnbe
be$ erjlen 3al)re$ 720 Wll
dr foll bann 26 3al)re alt fein unb wir fefcen porau*, baß er nod)
26 3af)re ale* ®el)tlfe tätig tft. Sänger fann er ntd)t, weil in Beftfcerfreifen
eine mit mangelnber Bemeglidjfett unb ftügfamfeit begrünbete Abneigung
gegen ältere ®ef)ilfen befielt. Anfangt ber fünfziger 3al)re tjat fid) ber
©übbcutf d»e 'JJJonaielirftf II, & 33
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502
QScn einem TLpotbetex : @elbftbetrad)tungen.
®el)ilfe — unter ber gewagten unb in 99°/0 aller $dCe unjutreffenben
2lnnaf)me, baß er bei feinem anftrengenben, l)of)e Snforberungen an feine
Sflerttenfraft (leUenben ©eruf nie franf geworben ift, niemal* einen längeren
<Srl)ofung*urIau& M 8<fl*«nt W — ttwa 28000 ©tt. t>erjin*lid> angelegt.
SBon ben nidjt ganj 1000 0Äf., bie er nun jdljrlid) ju »erjeljren rjat, fann
er »erhungern. JDber aud) er fann baoon (eben, ©enn er ndmlid) fein Kapital
angreift; bann fann er fld) gleichzeitig auftrennen, in welchem Moment er ber
iffentlicrjen #rmen»erforgung ju Laft fallt. — Sttan wirb einwenben, baß ber
(Gehilfe \~\d\ wenn er eine längere Dienftjeit aufweifen fann, bod) mehr erfparen
muß, weil er bann ein hebere* ©ehalt beliebe. .fteinc 2t()nung! SWan fd)d$t
bie jungen Ärdftc unb bejah lr einer dlteren vielleicht weniger, feine*fafl* mehr 1
©oöiel über 3fpotl)efem>orftdnbe unb i^re Hilfsarbeiter. 2lber bem
«Publifum fann all ba* gleich fein, wenn e* nur „tabellofe 2frjneien biQig
unb bequem" bejietjen fann.
3n Deutfd)lanb meljr al* irgenbwo fjat 3lrjt unb Patient bie ÜBa&r*
fdjeinlichfeit, baß er nur ba* SBefle, ma* überhaupt jugdnglid) ift, in fcoHenbet
fadjgemdßer 3ubereitung befommt, fobalb e& fld) um DUjeptur hanbrit.
Jür bie «Spejtalttdren freilich, bie ja ber (Staat in (e$ter 3*it, allerbing*
mit burdjau* un$uldnglid)en SWttteln, befdmpft, barf biefe ftorberung billiger*
weife gar nicht erhoben werben.
iöon gewtffen Seiten wirb e* al* Sport betrieben, auf bie teuren greife
ber 2frjneien hjnjuweifen. 9Äit Unred)t; benn fle ftnb bei und immer nod>
bittiger al* irgenbwo im 2lu*lanb. Unb bod) iji e* anbererfeit* »ollftdnbig
richtig, baß fle nod) billiger fein fonnten, wenn ber 3fpotr>efer nidjt jweef*
Seqinfung be* fyoljen Sbealwerte*, ben er für fein ®efd)dft gejafjlt l>at,
fom'el baran »erbienen mußte. Unb wie fiel)t e* mit ber $rage ber bequem*
(tchfett aud? Dafür bat man ja in ber legten 3eit burd) jahlreicbe 9ieu*
fongefffonen geforgt. Buch in l)inreid)enber Üßcifc? (£* ift be* ©uten ju*
&iel gefd)et)en: man bat Qfpotf)efen in £)rtfd)aften entliehen laffen, wo fle
ftd) nun unb nimmermehr rentieren fonnen unb ber ©ejlfcer, ber gugleid)
J£>au*fned)t ift, nod) Kolonialwaren führen unb bie <Poftagentur übernehmen
mußte, um überhaupt, wenn aud) nur al* Äettenljunb, leben ju fdnnen.
Die Bnforberungen, bie man an ein fo Meine* ®efd)dft jiellt, gel)en
»iel ju weit. Der 2fpotl)cfer muß, wie ber ©eftfcer einer 3eutralapotl)efe ein
Laboratorium l)aben, in bem er »ieUeid)t ba* ganje 3atjr nid)t arbeitet. (5*
ift befannt, baß fld) bie Jßerftellung ber meiflen *Prdparate nur bann lob,nt,
wenn fle im ®roßen betrieben wirb. 2Ber m6d)te e* alfo einem folgen
bebauern*werten Dorfapotljefer »erargen, wenn er, ber jeben Pfennig breimal
umbrehen muß, ffd) billiger au* einem großen Laboratorium toerforgt, wenn
er bie Drogen unb <§t)emifatten, bie er begießt, nur oberfldd)lid) prüft, um
von ber geringen Wenge, bie er befommen, nicht einen atlju großen Seil
burd) bie Unterfud)ung verloren gehen ju fefyen. — Unb bod) ftnb ba* oft bie
tud)tigften unb praftifd) wie tl)eoretifd) l)en>orragenbflen Ärdfte. Tiber bie
Ungunfl ber 2Sert)dltniffc t)at fle nid)t an eine ©teile fommen laffen, wo fle
iljre tfrdfte fjdtten entfalten f6nnen. Die $TO6glid)feit eine* bequemen 3trjnei*
bejug* ift gegeben; allerbing* auf Äoften ber Bpothtfer, bie fTe jum großen
Seil felbfllo* für bie »Ugemeinbdt bejahen.
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QSon einem ty>ett>efer : Selbftberradjtungen.
503
3ro$bem nun bie ben tfrfic 2fpotf)efe bem oberf!Ad>(id> prüfenben SMid alä
ein OrganidmuÄ erfd>eint, ber feiner Aufgabe gerecht wirb, behaupten wir, jte
geb,t iljrem Verfall entgegen, nein, fle flürjt in it)r Serberben, wenn ber Staat
nid)t balb rücffTd)tdlo$ unb energifd) eingreift, tiefer barf nid)t bulben, baß bie
SPerriebdf!d)ert>eit in einem fo wichtigen 3nftitut, burd) wirtfdjaftlidje Schwierig*
feit ber ©efffcer unb Dienftüberlaftung ber ÄngefteUten in ftrage gefteUt wirb.
9?un ifl ja freilid) tabeln leid)t, beffermadjen fdjwer. Äant nennt
„<pidnemad)en" eine üppige prab,lerifd)e ®eifte*befdjdftigung. (?S ifl un*
enblid) fdjmierig, pofftioe Vorfd)ldge ju machen, bei benen man ftcf> fdjmetd)eln
bürfte, niemanb wetye \u tun. Tic folgenben treten aud> nidit mit bem 2ln*
fprud) auf, ben allein gangbaren 3Beg ju weifen, ffe wollen vielmehr miglidjft
riefe 3ntereffenten für bie Sadje — unb ba$ müffen eigentlich^ alle fein,
benen bie gefunbe 3ufunft unfereä S taa tc$ unb bie tDtefyrung unfereä National»
oermogenä am #er$en liegt — jum Sudjen nad) biefem Üßeg öeranlaffen.
9?ur bie je$igen 2fpotl)efenbefi$er, bie beim Verlauf gewinnen wollen,
flnb e$, bie in 3fbrebe (teilen, baß Verftaatlidjung bie ibealfte 26fung ber
Äpotljefenfrage wdre. 3l)re Argumente flnb Unm6gltd)feit, bie Äpotljefen*
werte abjulöfen, unb Verteuerung ber ®efd)dft$füb,rung. Diefe (Sinmdnbe
ffnb nur jum geringflen Seil berechtigt.
1. 3ur 3(bldfung. 2lllerbing$ wdre et? ftnanjieller Selbftmorb, wollte
ber Staat ben ®efi$ern bie greife bewilligen, bie fle felbft gezahlt haben
ober gar, bie ffe forbern werben. Tonn jeber will beim Verfauf Perbienen.
Uber bie Übernahme wirb ganj (eid)t, wenn ffe von langer Jpanb vorbereitet
wirb. £ie neuen Äonjefftonen fännten bei ber nddjjten (Srlebtgung jutn
(5inrid>tung$mert »om Staat übernommen unb oerpadjtet werben. Viele,
bie aflermeiflen Xpotfyefer würben biefe 3frt ber Selbftdnbigfeit bem Äauf
eine* SXealredjtS oorjietyen, lefctere baburd) im greife ffnfen unb tonnten in
abfeljbarer 3ett ju angemeffenem ^>rei* »erftaatltdjt werben.
2. 3«r ©etriebSoerteuerung. ^reilid) würbe ber &taat feine pfyarma*
jeutifd)en Beamten nidu biö jur I)ienfhinfdbigfeit auönugen unb bann aiö
Quohren, bie ihre Sdjulbigfeit getan haben, gefyen betten, wie baö jetu oon
feiten ber (5bcf£ gefd)iet)t, weil fle nid)t anberö formen.
3lber fo teuer, wie bie ©egner it>n ausrechnen, wdre ber ©etrieb ber
Staatäapotfyefe nid)t, weil mit bem Xugenblicf, wo ffe entftdnbe, eine ganj
anbere Organifarion, »or allem 3entraIifation eintrdte. T>tt aßergr6pte
Seil jener pljarmajeurtfdjen Sdtigfeit, bie ber tedjnifd)e Kuibvud Defeftur
bejeidjnet, würbe billiger, beffer, jwecfmdßiger in großen 3entrallaboratorien
beforgt, bie jum Seil mit ben ^anbcöunioerfftdten »erbunben fein f6nnten.
(Sin großer Seil be* «Perfonald ftdnbe bamit $u anberen 3wecfen jur Ver»
fügung. würbe nid)t nur ®elb gefpart; eö würbe and) »ertjinbert, baß
labrlidi große Summen ine Tfuölanb abfließen. 3n Bonbon }. beflebt
eine ftabxit, bie gang £eutfd)lanb mit ihren <probuften (in ber ^auptfad)e
fomprimierte Tabletten aud Trogen unb Ohcmifalien > überfd)wemmt. Sie
ffnb nid)t (Srfinbung ber englifd>en ^irrna, woi)( aber t t>r 9?ame „Sabloibö"
unb werben wegen ihrer tatfdd)(id) eleganten unb bequemen ftorm oiel ge*
fauft. 3Bir Ijaben bie liberjeugung, baß beutfdje tÄrjte unb beutfd)ed
^ublifum ba$ beutfdje Staat^prdparat oerwenben würben, — wenn e$ eind gdbe.
33*
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504
Friedrich Naumann: Was ist Kapitalismus?
,£atte aber erfl ber ©taat fdmtlid)e 2fpotbefen in #anben, fo flünbe
ber »eiteren (Sanierung ber beutfdjen ^M)artnajie gar ntd)td tnetjr im 5Öeg.
Siele je$t freigegebene ©ubflanjen würben auf bie Spottete befardnft
»erben, wie man ba$ mit bem (Sacharin getan bat, beffen ©djablidtfett
nur barin befielt, bafl ed nidjt ben f)ot)cn «ftabrwert bed 3ucfer$ tjat, ben
ber Ädufer wegen feiner ©üflfraft barin »ermutet. £>er ©taat fäme nidjt
fd)led)t babei weg.
rcr $>barma$eut müßte mit fejlem @et)a(t angefleUt »erben unb
burfte »on ben ©toffen, bie er »erfauft, ebenfomenig einen ©ewinn baben,
»ie ber Zollbeamte an feinen abgegebenen Warfen. @r(t baburd) »ürbe
er unabhängig »on ber Snrannid ber tfunben unb bdtte feinen ©runb mebr,
einem guten jablfrdftigen Käufer gcfe$»ibrige ©efdUigfeiten ju erweifen.
Die größten, teuerflen Bpotbefen jlnb je$t juweilen im $Öeff$ red)t
junger spfyarmajeuten, bie auf ein burdjaud nid)t gldnjenbe$ Sramen jurücf*
b liefen unb aud) fonft red)t mdfige Dualififation aufweifen. ©d)aben wirb
ein foldjer ja freilid) »enig anrichten, »eil er in ber Siegel »ob! felbft
nid)t arbeitet. „IBenn idi ^ebn ^ferbe $af)len fann, ijl ttyre ,u raft bann nidjt
bie meine?" Denn eö braud)t jemanb nur fein 3pprobationöeramen gemacht
$u haben, beffen 3tnforberung nebenbei bemerft, an ben einzelnen Unioerfltdten
jiemlid) »eit au$etnanber geben, bann fann er jebeä Diealrecht übernehmen,
©o jung allerbtngä nur, »er ober »effen ©d)Wteger»ater »iel ©elb bat.
£a* j. 3>. würbe »ob! anberö »erben, din jeber fdme juerfl auf*
?anb ober in fonfl unbequeme Stellungen unb rürfte nad) attagnabme feiner
Dualififation unb feiner Seiflungen »or, wie jeber anbere ©eamte.
3ufunftdm6glid)feiten! ©erben ffc jemals Stealitdt annehmen?
Was ist Kapitalismus?
Von Friedrich Naumann in Schöneberg.
Durch die Sozialdemokratie ist bei uns das Wort Kapitalismus ge-
läufig geworden. Vorher schon gab es den Begriff Kapital. Er stammt,
soviel wir wissen, aus der mittelalterlichen Volkswirtschaftslehre und
bezeichnet dort etwa das, was wir heute Stammkapital nennen, die ur-
sprüngliche Einlage in ein Geschäft, das Kopfstück eines Borgverhält-
nisses. Die gelehrte Volkswirtschaftstheorie hat schon immer mit diesem
Wort zu tun gehabt, aber sie hat das Kapital nicht als den Ausgangs-
punkt alles ihres Denkens angesehen und konnte deshalb nicht dazu ge-
langen, vom Kapitalismus als dem herrschenden System zu reden. Auch
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Friedrich Naumann: Was ist Kapitalismus?
505
heute noch ist in der akademischen Volkswirtschaftslehre im allgemeinen
das Wort Kapital in reichlichem Gebrauch, die Bezeichnung Kapitalismus
aber nicht in Verwendung. Erst Professor Sombart setzt den Kapitalismus
in die Universitätswissenschaft hinein und verlangt, dass man ihm dabei
folge. Bis heute geschieht es nur sehr zögernden Fusses. Es handelt
sich nämlich keineswegs bloss um eine beliebige Bereicherung des wissen-
schaftlichen Sprachgebrauches, sondern um Aufnahme eines Gedanken-
ganges, der bisherigen Methoden und Ergebnissen wissenschaftlichen
Denkens zu widersprechen scheint. Im Wort Kapitalismus liegt die
Idee, dass das Wirtschaftsleben unserer Zeit wesenhaft von dem früherer
Epochen unterschieden und in sich einheitlich sei. Wir haben ein System
des Wirtschaftslebens, das es früher nicht gab! Worin besteht dieses
System? Was ist das Neue, das wir erleben? Wer kann es sagen?
Die gewöhnlichen Versuche, den Kapitalismus zu bestimmen, gehen
vom BegrifF Kapital aus, wie er sich im wissenschaftlichen Sprach-
gebrauch gebildet hat. Kapital ist eine Erscheinungsform des Eigentums
und zwar ist es solches Eigentum, das zum Erwerbe benutzt wird, be-
rechenbares Vermögen, das Zins oder Rente bringt. Da es nun aber
unbestreitbar werbendes Eigentum schon in den urältesten Zeiten ge-
geben hat, solange überhaupt Recht und Handel bestehen, so scheint
es, als zerfliesse gerade bei Anwendung dieser geläufigsten Methode
der Kapitalismus in ein Nichts. Kapitalisten gab es nämlich, bei dieser
Art zu untersuchen immer, denn was waren die alten Phönizier oder
Syrakusaner, wenn nicht Leute, die ihr Vermögen durch Geschäfte ver-
mehrten? Mag es heute etwas mehr solcher Leute geben, die Sache
selbst war immer vorhanden und ist in keiner Weise ein charakteristisches
Zeichen der Neuzeit.
Es ist richtig, dass man auf diese Art den Begriff Kapitalismus
verschwinden lassen kann; die Mehrheit der Menschen beruhigt sich
aber nicht bei dieser theoretischen Abweisung und ist dennoch der An-
sicht, es gäbe etwas, was früher nicht da war und was uns alle beherrscht.
Es soll die Grösse und leichte Verwendbarkeit des Reichtums in den
neuesten Zeiten sein. Kapitalismus soll soviel bedeuten wie Übergewalt
des Reichtums in wenigen Händen. Es würde also der Kapitalismus
sich durch Quantität von früheren Reichtumsgestaltungen unterscheiden.
Diese Auffassung liegt fast aller konservativen und antisemitischen Be-
trachtungsweise zugrunde. Man hält es für Recht, dass es reiche Leute
gibt, nur sollen sie nicht gar zu reich werden. Kapitalismus ist die
Überschreitung der natürlichen Grenze des Privatvermögens. Wo aber
liegt diese natürliche Grenze? Wenn sich die Bibel an der Wohlhaben-
heit Abrahams oder Salomos freut, so soll das noch kein Kapitalismus
sein; wo aber beginnt er dann? Ist es vielleicht etwa so, dass Besitz
an Land, Wald, Vieh, Untertanen nicht Kapitalismus ist sondern erst
der Besitz von kaufmännischen Betriebsmitteln, das mobile Kapital?
Es gab eine Zeit, wo man geneigt war, nur unaristokratischen Besitz
als kapitalistisch anzusehen. Heute wird dieser Versuch kaum mehr
gemacht, denn es ist allzu offenbar geworden, dass das, was gestern
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506
Friedrich Naumann: Was ist Kapitalismus?
mobiles Kapital hiess, sich heute in ein Bergwerk oder Rittergut ver-
wandeln kann. Ist es aber damit geheiligt und sozusagen entkapitalisiert?
Man weiss ja nicht, ob es morgen nicht wieder Lust bekommt, sein
Rittergut zu verlassen und auf die Getreidebörse zu fahren.
Der Gegensatz von arm und reich ist sicher nicht das Wesent-
liche am Kapitalismus, denn dieser Gegensatz war im Lehenssystem
mindestens so gross als jetzt. Auch die Möglichkeit, sich aus der
Tiefe in die Höhe zu arbeiten, war früher nicht grösser, eher kleiner
als in neueren Zeiten. Ein höriger, Schollenpflichtiger Bauer war wirt-
schaftlich nicht weniger abhängig als in unseren Zeiten ein Bergarbeiter
oder Spinner. Auch er konnte sich als Einzelperson seinem Schicksal
nicht entreissen, wenn er sich nicht ruinieren wollte und musste auf
den langsamen Gang der Weltgeschichte warten, die seinen Urenkeln
einen Teil des Landes als Eigentum geben wird, das die Ahnen in
Abhängigkeit beackert haben. Wer also den Kapitalismus als die
wirtschaftliche Herrschaft der Reichen erklären will, der mag nur ruhig
zugeben, dass schon die Umgebung Karls des Grossen aus lauter
Kapitalisten bestand.
Oder besteht der Übergang zum Kapitalismus darin, dass die
Menschen der früheren Zeit ihre Arbeit ohne rechnende und technisch
konstruierende Vernunft getan haben, dass aber wir die Methode des
Spekulierens, Rechnens, Konstruierens gefunden haben? Sind Kapitalisten
solche Erwerber, die mit Hauptbuch und Maschine arbeiten im Gegen-
satz zu solchen, die nach Gewohnheit und Herkommen wirtschafteten?
Es kann sein, dass uns diese Fragstellung der Wahrheit näher bringt,
zunächt aber ist festzustellen, dass es auch im Altertum gute Rechner
gab und dass schon das alte Babylon tönerne Hauptbücher kannte und
dass in ihrer Art schon die Bewässerungsanlagen Mesopotamiens grosse
spekulative Unternehmungen und dass die Kornversorgungen Roms sehr
beachtliche Grossgeschäfte waren. Und wenn die Maschinen der Neu-
zeit auch in Herstellung der mechanischen Kraft und in Kompliziert-
heit des Arbeitsvorganges Wunderwerke sind, die die Vorzeit nicht
hatte, so bleibt trotzdem wahr, dass die Vervollkommnung des Werk-
zeuges auch früher nie ganz geruht hat. Rom hatte Manufakturbetriebe
und Bergwerke und die Baukunst des Mittelalters ist doch offenbar
eine technische Leistung, der auch wir unsere Achtung nicht versagen.
Wo also ist der Begriff Kapitalismus zu fassen? Wir erinnern
uns, dass er durch die geistigen Väter der Sozialdemokratie zu uns
gekommen ist und dass diese als Wissenschaftler in erster Linie Ge-
schichtsphilosophen sind. Sie kamen von Hegel und Feuerbach her
und entfalteten vor ihren Lesern ein Gemälde des Menschheitsganges
von der Barbarei oder der Harmonie des Urzustandes bis zum seligen
Kommunismus der erhofften Endzeit aller Dinge. Dass sie zu dieser
Geschichtsphilosophie durch politische Motive geführt wurden, ist richtig,
kann aber hier ausser acht gelassen werden. Es genügt zu sagen, dass
sie nicht als Wirtschaftshistoriker ihre Hauptsätze gefunden haben
sondern die Wirtschaftsgeschichte nur als Hilfsmittel zur Auslegung
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Friedrich Naumann: Was ist Kapitalismus?
507
ihrer dichterisch und theoretisch gewonnenen Generalideen benutzten.
Dass die Marxisten bei ihren wirtschaftshistorischen Arbeiten viele
dunkle Gebiete erhellt haben, wird dadurch in keiner Weise bestritten.
Der Begriff Kapitalismus entstand also nicht durch vergleichende Einzel-
wissenschaft, sondern durch Ableitung der Zukunftsidee des Kommunismus
aus der Gegenwart des privatwirtschaftlichen Wirtschaftslebens heraus.
Kapitalismus ist bei ihnen in Wirklichkeit der Übergang vom Gegen-
wartssystem des Rechtes und der Wirtschaft zur gläubig erfassten Zu-
kunft. Kapitalismus ist diejenige Gestaltung des Wirtschaftslebens, in
der der Einzelunternehmer sich verflüchtigt, indem er durch Vervoll-
kommnung seiner Betriebsweise eine Organisation der Produktion her-
beiführt, die ihn in seiner bisherigen Besonderheit beiseite schiebt.
Dieser Gesichtspunkt, dass der Kapitalismus sich selbst überwindet,
sein eigenes Leichentuch webt, kurz dass er eine Übergangserscheinung
ist, ist für allen Marxismus ganz wesentlich. Ohne diesen Gedanken
würden die Marxisten gar kein Interesse daran haben, den Kapitalismus
als einen Hauptbegriff einzuführen. Ohne diesen Gedanken würde man
auch gar nicht verstehen, weshalb der Sozialdemokrat bei aller Feind-
schaft gegen die Kapitalisten doch dem Kapitalismus als solchen freund-
lich gegenübersteht. Er kommt gar nicht darauf, ihn als etwas bleibendes
zu denken. Würde er ihn als etwas Dauerndes denken, so müsste er
sich vor ihm fürchten. Das aber stellt er wenigstens in der Theorie
ganz entschieden in Abrede. Er sagt, dass man den Kapitalismus un-
gehindert wachsen lassen soll, damit er von selbst zum Kommunismus
werde. Es ist also, wenn man sich nicht an einzelne zufällige Wort-
bestimmungen, sondern an den Gesamtgedankenbestand des Marxismus
hält, das Charakteristische im Kapitalismus die Überwindung des Privat-
eigentums durch Wirtschaftsorganisationen, die sich nicht mehr als
Privatbetriebe bezeichnen lassen, die aber auch noch nicht Gesellschafts-
betriebe sind.
Indem Professor Sombart zwar von den Marxisten den Begriff
Kapitalismus übernimmt, aber das Endziel des Marxismus ausser Be-
tracht lässt, verschiebt sich bei ihm die Absicht der Aufstellung dieses
Begriffes. Er sucht das Wesentliche des Kapitalismus in den Vorstufen
dessen, was für den Marxisten erst der eigentliche Kapitalismus ist.
Ihm ist bereits die gesteigerte Spekulation und Technik, die Methode
der Geldwirtschaft an sich, das Wesen des Kapitalismus. Deshalb
fängt sein Kapitalismus bereits im ausgehenden Mittelalter an. Er be-
schreibt die Überwindung des alten selbstgenügsamen Ackerbaues und
Handwerks durch den kaufmännischen Produzenten und leistet damit,
selbst wenn die Einzel kritik seiner Fachgenossen noch so viele Frage-
zeichen an den Rand seiner Arbeit macht, etwas Grosses. Was ihm
aber unseres Erachtens nicht ganz gelingt, ist die Abgrenzung seines
Kapitalismus gegenüber den kaufmännischen Erscheinungen der Vorzeit.
Er stellt als Kapitalismus nicht etwas dar, was vorher so noch gar nicht
vorhanden war, sondern nur die sieghafte Durchdringung einer Ge-
schichtsperiode mit Anschauungen und Tendenzen, die es schon vorher
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508
Friedrich Naumann: Was ist Kapitalismus?
gab, die aber nun erst den Makel der Unehrenhaftigkeit und Besonder-
heit von sich warfen. Während vorher der kaufmännische Geist eine
Einzelerscheinung im ganzen der Völker war, wird er im Laufe der
letzten Jahrhunderte zur Normalform : Jeder kauft und verkauft. Damit
ändern sich Betriebsweise und Gesinnungen. Es ist also nicht wunder-
bar, wenn die fachmännische Kritik dem Sombartschen Begriffe des
Kapitalismus vorwirft, dass seine Elemente nicht neu sind, sondern schon
immer vorkommen. Das Neue ist das massenhafte Heraustreten der
kaufmännischen Seele und die dadurch hervorgerufene Erweiterung
aller kommerziellen, technischen und rationalistischen Tendenzen. Die
alte Welt treibt als ihre letzte Frucht die Geschichtsperiode der welt-
beherrschenden Händler aus sich hervor. Diese Periode ist es, in der
wir gelebt haben und leben und die wir erkennen müssen, wenn wir
uns selbst erkennen wollen. Ob aber diese Periode schon Kapitalismus
ist oder nur Ouvertüre des Kapitalismus, das ist die Frage, die man
sich stellen muss, wenn man den Gegensatz zwischen Sombart und der
Mehrzahl seiner Fachgenossen sich verdeutlichen will.
Nehmen wir an, dass erst mit den Syndikaten, Kartellen, Gross-
banken und kombinierten Betrieben der eigentliche Kapitalismus ein-
setzt, so haben wir eine festere Grenze zwischen alter und neuer Wirt-
schaftszeit gewonnen und bleiben der ursprünglichen Absicht des ge-
schichtsphilosophischen Begriffes Kapitalismus näher. Das Wesen des
Kapitalismus ist dann die Organisation der Produktion für ein Volks-
wirtschaftsgebiet, das weit über die alten Stadtgebiete hinausgeht. Auch
die alten Stadtgebiete hatten eine Organisation der Produktion in ihren
Zünften, Gesellenverfassungen und Marktrechten. Diese alte Organi-
sation zerbricht in einer privatwirtschaftlichen Zwischenperiode. Nun
aber hebt sich aus dieser Zwischenperiode, die bei Sombart bereits als
der Kapitalismus erscheint, eine neue weitere Organisation heraus, die
den auf sich gestellten Einzelunternehmer wieder in Abhängigkeit ver-
setzt, ihm vorschreibt, wieviel und unter welchen Bedingungen er
produzieren soll. Bis zu welcher Ausdehnung sich diese neue Organi-
sation entwickeln, ob sie alle Gewerbe erfassen, ob sie sich an Staats-
grenzen halten oder international auftreten wird, lässt sich heute mit
Sicherheit noch nicht beurteilen, soviel steht aber schon jetzt fest, dass
etwas ganz Neues in die Weltgeschichte eingetreten ist: der Wille, die
Herstellung der menschlichen Bedarfsgüter als Aufgabe zentralisierter
Körper zu erfassen. Bei diesem neuen Anfang handelt es sich nicht
um etwas, was heute kommt und morgen wieder geht. Wir werden
nie wieder syndikatsfrei werden. Alles, was von heute an geschehen
kann, ist die innere Umgestaltung der neuen Verbände, eine andere
Verteilung der Macht in den Produktionsgemeinschaften, die Verbände
als solche setzen sich durch, denn wir sehen sie mit festem Naturtritt sich
Platz machen. Wo sind die Kräfte, die sie wirklich hemmen könnten?
Das ist das Hervorragende an der Geschichtsphilosophie von Marx,
dass er hinter dem Privatunternehmer eine Organisation der Produktion
heranrücken sah, ehe sie vorhanden war. Bis zu diesem Punkt gibt
i
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Friedrich Naumann: Was ist Kapitalismus?
509
die nach ihm kommende Geschichte seiner kühnen dialektisch geschulten
Phantasie recht. Nicht ebenso sicher ist, ob sie ihm noch mehr recht
geben wird. Es entsteht vor unseren Augen der Kapitalismus als
System, die Zusammenfassung des erwerbenden Eigentums zur greif-
baren, formulierten Organisation. Das, was wir bisher gehabt haben,
war kein System, sondern nur eine Gleichmässigkeit vieler ähnlicher
Privatunternehmungen. Es fehlte das Merkmal der Gesellschaftsordnung,
um im Sprachgebrauch der Marxisten zu bleiben. Die Menge der ver-
einzelten Privatkapitalisten machen, solange sie vereinzelt sind, noch
keine Gesellschaftsordnung aus. Eine solche streckt jetzt ihre Arme
aus und wir fühlen ihren Griff. Sie beginnt im Gebiet von Kohle,
Eisen und Grossfinanz. Ihr zentraler Sitz scheint die Herrschaft der
Kohle werden zu wollen. Was vor 50 Jahren marxistische Theorie
war, fängt an, materiell da zu sein. Der Kapitalismus als solcher steht
vor der Tür. Ob er aber nur kommt, um sich nach marxischer Vor-
hersagung baldigst in demokratische Gesellschaftsproduktion aufzulösen,
das ist der sehr unsichere Punkt. Vorläufig sehen wir nur, dass dieser
Kapitalismus im Aufsteigen ist, sich erst selbst seine Ordnungen schafft
und sein Machtgebiet erweitert. Ehe er sich selbst durchgesetzt hat,
sind wir alle, die wir heute leben, längst gestorben. Wir können ihn
nicht aus dem Sattel heben, ehe er sich selbst müde geritten hat.
Daran aber denkt er noch nicht. Wir werden in diesem Kapitalismus
leben müssen, von ihm umsponnen, umzogen, beengt, bedrängt, getragen.
Unsere Sorge aber muss sein, dass er nicht die Seele aller Mensch-
lichkeit und Menschenarbeit tötet: das persönliche Wollen. Deshalb
müssen wir ihn nicht nur als eisernes Schicksal kommen sehen, sondern
als eine Organisation, die von Menschen gemacht, auch von Menschen
in ihrem Wesen bestimmt werden kann. Der Staat, die noch privat-
wirtschaftlich tätigen Bürger, die Beamten und Arbeiter des Kapitalismus
sind alle zugleich daran interessiert, dass die neue Wucht uns nicht
alle [zerdrückt. Sie alle haben nicht die Möglichkeit und, wenn sie
verständig sind, nicht die Absicht, die grossen technischen und volks-
wirtschaftlichen Vorteile, die in der Gesamtorganisation der Produktion
und ihrer Bedingungen liegen, zu hemmen und zu zerstören, aber sie
müssen alle ihre Kräfte vereinigen, um diese Vorteile allen Beteiligten
und im* letzten Grunde allen Volksteilen zuzuführen. Da wir einmal
in den Kapitalismus hineingeraten, dürfen wir nicht dulden, dass er
sichjabsolutistisch und rein privatkapitalistisch gestaltet. Da der Kapitalis-
mus da ist, muss er demokratisiert werden, wenn er uns nicht in der
allgemeinen Menschenkultur zurückwerfen soll. Wir sind ihm nicht
feindlich, aber wir wollen, dass er der Gesamtheit diene.
Digi
Uunt>fd)au.
Sur (Brajer ^onfun(tlen?erfammlung.
Sir boben bereit* im 3(ugufrȣefte bei oorigen 3abrcS a"f We in ben Sagen
oom 31. SDtai btd 6. 3uni ju ©raj unb Sien ftattftnbenbe Senfünftleroerfammlung
beä Allgemeinen £)eutfa>en SRufifoereind bingemiefen. (£i feien bttu bie Sorte nochmals
wiebergegeben, mit benen $aulSD?arfop biefe feftlid)en unb bebeutfamen 93eranflaüungen
begrü§t bat:
„3" ©raj, im #erjen ber beutfd)en Alpen, wirb unfere nädjfrjäbrige $agung
flattfinben . . . 9tid)t nur ben waeferen, rübrigen 93orfämpfern bei mufifalifd>en gort*
fdjritteÄ im 9?ad)barreicbe, aud) ben in alten unb neuen ©türmen gebarteten, mannhaften
Vertretern be$ beutfdjnationalen ©ebanfene gilt berBefucb bei AHgem einen Deutfdjen
SD?ufifoeretnd. 3D?it ben $änbebrürfen, bie mir in ©raj audtaufdjen, wirb nod) ein
anbered bcftegelt werben, al$ tat redete (Smeerflanbni* in wid)tigen Äunfrfragen ber
©egenroart unb ber abfebbaren 3ufunft. gern liegen mufj und jeber ©ebanfe an ^olitif.
Dod) bleibt e* un* unbenommen, un* oon ganjem |)erjen an ber «Begeiferung ju
erfreuen, mit ber männiglid) bie Älänge bei „Äaifermarfdje*" in ben ©rajer gefrtagen
begruben wirb!"
*
Julius Äntefe.
£errmann 3umcc »ergönnte fid) feiten ein Cädjeln. (£r bielt ängftlidj an einem
würbeootteu Auftreten fefl unb oerfügte nur an AudnabmStagen über einen jabflüfftgen
£>umor. Sie er benn aud) über bai Sbeater nie ganj §err würbe, weil er ftd) felbft
mit bem oberftadjlidjften Äomöbianten in ebrfamem S)idfurd auöeinanberje$te. (Einmal
ift ibm aber bod) ein ©djerj geraten. Sir fafjen }u Bapreutb im „grobfinn" bei
frugalem SD(ittag$ti|d) : feine Berübmtbeiten, feine geuilletoniften, feine aufgebonnerten
«Patroneffen — nur 9)?uftfer mit ebrlid)em tarnen waren beieinanber. £)a öffnete ftd}
bie Sure. Cangfam abgemeffenen &d)xittti, mit )ufammenge)ogenen brauen fam 3>*mpe
auf uni ju unb fprad): „Si§t ibr fdwn? £>er ftaifer oon SRufjlanb leibet an ©röpen«
wabn. (£r bilbet fid) ein, er wäre Äniefe!"
SWan bat ben beften Blicf für bie f leinen Sd)mäd)eu ber £eute, mit benen man
feinem Sefen nad) eng oerwanbt tfl 3»«»pe brauste nidjt oiel mebr al* fein (Spiegel*
bilb aufjufangen, um ftniefe mit treffenb farifierenbem ©trid) abjufd)ilbern. Unter
ben fleißigen Talenten finb eine größere Anjabl felbftbemußter SRaturen }u ftnben ald
unter ben regfamen ©enied. S)ai 3a(ent, bai feine Hilfsmittel mdjt aui bem Ärmel
fdjüttelt, ifl ftärfer auf metbobifdje Sätigfeit angewiefen, fann fid) alfo bie aufgewenbeten
Arbet'Wftunben leidster jufammenred)nen unb füblt fid) geboben, wenn fie eine bobe
Summe auemadjen. Äniefe burfte mit SRedjt unb gug auf feine Ceifrungen fh>U fein.
Sad ibm oon 3»fpü-ationen aud »ertrautem Umgang mit Stteijlerpartiturcn, aud auf*
bedenben Beratungen mit grau Sagner jufam, baö bat er, unermüblid>en ßiferd ooO,
in flare, fpred)enbe reprobujierenbe Äunfl umgefe|t Sr war ber eifeme Präger im Bau
oon Bapreutb — ber 9)iann bed wurjelfeflen ^üid)tbewu§tfeind, ber inmitten brt
©ewirrd oon bunbert fid) freujenben @inflüffen im ©egeneinanberfheben ber (£itelfeiten
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9lunfcfd)au.
511
unfc SgoiSmen fcurd) feine jäbe Snergte, curd) feine (Sbörafterfefligfeit, fcie feinen TCugenblicf
mit fid> fpafen lieg, alle 3Bitwtrfenfcen ju pünftlid)em, ftrengem «BorberettungSbientt
beranjroang. SDton oermag eS ft<t> fdjmer oorjuftetten, nie fcie oorbilfclidjen Sßapreutber
Aujfübrungen fceS „Copengrin" unfc fcer „SDteifterfinger" opne Äniefe jußanfce gefommen
wären; man fann fcie bange grage nid)t unterfcrücfen, »er fid) berufen fable, fein Amt
unfc feine Verantwortung auf fieb ju nehmen.
2DaS ein SBülow, ein SCRottl, ein £anS 9ticf>ter mit fcer tedjnifdjen unfc gcifh'gen
Durcpbilfcung fceS SBagnerifdjen CrcpefterS erreichen, fco« bat Änt'cfe mit fcer mufter»
gültigen Schulung fceS (SboreS im mufifalifdjen Drama fcer ©egenroart erjtelt. 3lbptbmifd)e
©enauigfeit, einmanfcfreie, beflimmte 'Pbrafierung, tafcelloS beutlid)e AuSfprache unfc
finngemäfje Betonung: fcaS maren in jefcer Seftfptelperiobe fcie (Srgebniffe feiner HS
jum äufjerflen angefpannten ^robentätigfeit. Auf fcem ©ebiete fcer fünftlerifcben
DiSjiplinierung fcer Staffen trug er feine £aupterfolge fcaoon. Gr mar fcer geborene
(Sberpäfcagog, bis |u fcem ©rafce, fcafc er, als er fpäterbin aud) fcen ©oliften näbertrat,
fcie ©runfcregeln fceS preislichen ßborregenten nicht immer mit ©lürf auf fcaS infcim'fcueU
iu bebanfcelnfce SHcöenflubium anmenfcete. DaS (Jbormitglieb, fcaS jumeift in mebr*
ftimmig geführten ©ä$en unfc mit ftärferer Ordpefterbegleitung fingt, muf} fcie ftonfo*
nanten nid>t feiten fd>arf, bier unfc fca überfd)arf nebmen, berauSfcred)feln, bei fd)roffen
Afjenten fojufagen „anbauen", um bem 3uberer fcaS Sort gut oerflänfclid) ju machen.
SSknn fcer ©olift fciefeS 2Jerfapren einfdjlägt ober cinjufdjlagen angeleitet »irfc, läuft er
©efabr, fein .peil in brüchiger Deflamation ju fueben, mit fcem Atem roiflfürlid) ju wirt*
fdjaften, eine efcel gefeproungene Vmie ju jerreijjen unfc fd)lie§ltd) fcie geringe (Signung
für gebundenen Vortrag, fcie er als Deutfcber mit auf fcie SQöelt braute, »oUenfcS ein*
jubüfjen. Äniefe mar niept Dbne ©cpulfc an fcer Ausbreitung fceS «DhfjoerftänbntffeS, fca§
fcer fcurd)auS melofcifcbc Bagnerifcbe ©pradjgefang ein in unerfreulieber ©ilbenpacferei
fiep abbafpelnfcer ©preepgefang fei. hingegen baben aud) fcie (Jütjelrunftler fcer Sßübne
im ftniefefd)en ©agnerfeminar fid) eine niept boep genug eiit)ufcpä§enbe Sugenfc er*
werben: fcie Ad)tung cor fcem feflgefügten 93iereterteltaft, cor fcen peinlid) ftreng inne
m baltenfcen fleinen unfc fletnften SHotenmerten — unfc aud) »or fcen Raufen, fcie juft
bei Dramatifern roie 9Äojart unfc 2öagner nur fcann berefct jlnfc, meint man fcie 93or*
leidjnungen nid)t im geringften antaftet.
Die Ciebe jum ©entuS lägt ficr> niebt anlernen. SBobl aber fcer SHefpeft ©or
feiner $anbf(prift. Darauf »erflanb fid> Äniefe. An erfler ©teile ftebt fcie (Erjiebung
jur ©rünfclidjfett. 3br fal«}* meiterbin fcie ©uggeftion fcer barmonifdjen Abtönung, fcer
Anmut, fceS feinfinnigen ©efcbmacfeS. SBdrc Äniefe ein längeres Ceben befebiefcen ge*
wefen, fo mürfce er feinen Sinjelpfleglingen roobl aud) fcaS ©d)önbeitSgefe^ in fcer
SBagnerifcfjen ©efanglinie munfcgered)t gemad)t baben.
SDJüncben. ^aul OTarfop.
Ulbert ©c^wettjer, J. S. Bach le musicien-poete.
«eipjig, ©reitfopf unb Härtel 1905. XX u. 455 <&. — ©rofd). 8 Wll
AIS ^ranj Cifjt im 3a^re feüien befannten Sjfap über ©erlief ^)arolfc«
©»mpbenie febrieb, fübrtc er unter fcen SBcrläufern fceS genialen granjofen auf fcem ®e*
biete fcer ^regrammmufif aueb 3- <£. ^ad) mit feinem (Sapriccio „Auf fcie (Entfernung
eines febr teuren ©rufcerS" an, unfc feitfcem parafcierte fciefeS ©tücf neben ÄubnauS
„SBiblifcben ^iflerien" als ©lanjnummer in ad fcen biftonfkrenfcen fpiaifcoperS, fcie ju»
gunflen fcer neueren ^rogrammmutlf gebalten murfcen. Demgegenüber fiel eS fcenjenigen,
fcie Od) ben ©lauben an Q3ad) als eine fcer <$auptftü$en fceS abfclut mufifalifeben Äunft»
ifcealS nid)t rauben laffen moUten, leicht geltenfc ju machen, fca§ eS fcod) roobl bie 95c>
fceutung jener faum aQju ernftbaft gemeinten 3«9«ibarbeit gewaltig überfd)ä^en bic&f/
512
SRuntfdjau.
wenn man ibr bei (Jntfdjeitung ber grage, inwiefern ftd> ber große Sbomadfantor bet
feinem Staffen burd) außermuftfalifd)e ©ebanfen unb 3mpul|e babe leiten laffen, all*
juoiel @ewid)t beilegen wollte. ©d)werer bürftc eS teerten, fid) mit bem »erliegeitben
QSudje auÄeinanberjufe^en, ebne baß bie landläufigen 3nfd>auungen über Q3ad> al£ einen
unanjweifelbaren Vertreter ber „abfoluten" SDJujlf wesentliche (Sinfdjränfungen unb
SD?obtftfationen erfahren müßten. Der ißerfaffer ifl ein franjeftfd) fdjreibenfcer unb in
mebr al* einer £tnfid)t oud) franjöftfd) benfenber Slfäffer, oon £au* au? preteflantifdjer
Sbeologe, ubertieS ein tbeorettfd) unb, wie ti fd)eürt, auch prafrifcb (al* Crgantfi)
burdjaud gefdjulter unb bewahrter 23?ufirer. ©d)on lai erfd)eint nidjt bebeutung$lc*.
9©ie er burd) feine angefkmmte Deppelftellung jmifdjen jwei nationalen Kulturen, von
beneu bie eine irrem ganzen ffiefen nach SBad) innerlich )u fremb gegenüberftebt, um
ibn fid) jemals ganj .ju eigen mad)en ui fonnen, mäbrenb innerhalb ber anberen Srabittcn
unb 93orurtetl fid) bereit« fo tii)t um bie ©eflalt be* 2J?eifter$ gelagert baben, baß e#
bier fdjon nidjt mebr ganj leidjt fällt, ibn in ooflig freiem unb unbefangenem Cidjte ut
erblicfen, — wie alfo ber Deutfdjfranjofe ober franjöfifd) Deutfd)e bod) wobl in manche:
einfd)lägigen Jrage flarer unb richtiger (eben fonnte, ald e$ bem reinen Deutfdten
ober gar bem reinen granjofen möglid) getoefen märe, fo baben fid) auch Sbeologe unt
SD?uftfer bei biefem 55ud)e in ber benfbar günftigften SBeife gegenfertig in bie 6ant
gearbeitet. Daß ein Sbeologe, ber nid)t SRufifer ift, faum etwaS poftti» ©eleljrenbe*
über baö Staffen eineä SBad) mürbe fagen tonnen, tft oon oomberetn Har; aber aud>
einem SWufifer, ber md)t in ber lebenbig empfunbenen ©ebanfen* unb ^Borfteflungöweit
bed 'ßrotcfianttemud wabrbaft beünifd) ift — unb wieviele gebtlbete 8aien fonnen ba*
beute nod) oon fid) rübmen — , aud) ibm wirb mebr al$ eine Q5ejtebung entgeben
müfTen, bie für bie ©efamtbeurteilung ber Q3ad)fd)en Äunft oon au*fd)laggebenber 93e*
beutung ifl. — (5b. SR. SBiber, ber berübmte franjöfifd)e £rgelmeifter, crjäblt in ber
QJorrebe, bie er ju bem ©d)meü}erfd)en 53ud)e gefdjrieben bat, beffen SntftcbungS*
gefd)id)te. Gd)wei§er hatte öfter SBibor aufgefud)t, um fid) 9tot über bie Interpretation
ber großen Crgelmctfterwerfc oen ibm }u erbolen. Dabei legte ber £ebrer bem Sdjüler
felbfl gelegentlid) bie Sxoetfei unb SBebenfen oor, bie ibm angefidjtä gewiffer, in rein
mufifalifd)er #infid)t fd)led)tbin unbegreiflidjer ©cltfamfeiten in ben ßboraloorfpielen
3. ©. ©ad>d aufgeflogen waren, ©djwei^er, ein oortrefflid)er Äcnner ber alten
proteflantifd)cr Sboräle, war meift imftanbe, ffiibord Sfrupel burd) Hinweis auf tie
ZcxU ber betreffenben Sboräle befdjwicbtigeit }u fonnen, inbem er ibm nadjmie*, wie
ber SDfeifter burd) ben poettfd)en 28 ortlaut fid) in ber ffiabl ber mufifalifd)en Hui'
brucfdmittel babe becinfluffen laffen. Diefe 9?ad)weife waren bie erflen Äeime, aui
benen fid) affmäblid) ber ©ebanfe einer umfaffenben ©tubie über ben poetifierenben
Sombolidmu* ber Q5ad)fd)en 3Kufif entwicfelte. ©et ben Sboraloorfpielen, auf beren
^Xnalpfe ©djwei^er fid) urfpri'inglid) befdjränfen wollte, fonnte er nidjt fteben bleiben.
Denn ed jeigte fid), ba§ biefelbe eigentümlid)e '^irt ber Q(bbängigfeit 00m 2Bort, ber
Q5eeinflufFung ber iD7ufif burd) ben poetnehen ©ebanfen fid) aud) in ben anberen 2Berfen
bed 3Keifter# mieberfinbet, fo oor ädern in ben Hantaten, ben ^affionen, ben 2J?otetten
unb ben SWeffcn. Diefe 93ofalwerfe mußten in bie Unterfudjung mit einbejogen werben
unb fd)lie§lid) fleflte fid) bie JWotwenbigfeit berau«, bie 9lcfultate ber biftorifd)en unb
biograpbifd)en gorfd)ung, fo weit fic $8ad)d Ceben, feine Seit, feine Vorgänger, bad
Sntjleben unb ©erben ber oon ibm oorgefunbenen unb benu$ten Äunflformen unb
berglcidjen betreffen, nid)t außer adjt ut laffen, ba nur mit ootler ©erü(ffid)tigung ber
gefd)id)tlid)en 3"fa»"»n"tbänge eine mabrbaft lebenbige unb oerftänblid)e QSorfubrung ber
©efamterfd)einung beö a^eifler« aud) nad) tiefer ©eite ter poetifierenten $entenjen
feined ©djaffenS bin |U ermbglidjen war. Die JüOe ber neuen ©efidjtdpunfte, bie ba*
fo entftanbene Q?ud) bietet, macht ed unjweifelbaft }u ber bebeutenbflen ^ublifation auf
bem ©ebiete ber ^ach Vtteratur, bie und feit ©pittad monumentaler ©iograpbie gefd>enft
würbe. Daß ed in feinen QErgebniffen oiclfad) angefod)ten werben wirb, fonnte biefer
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3tunbfd)au.
513
fetner SSebeutung felbft bann nid)t atljugroßen 2(bbrud) tun, wenn fid) tteraudjMcn fotttc,
ba§ c? tati'ad^ltdi in (Sinjelbeiten anfechtbar tfl. (Sine ©efabr tag für ©d)toei$cr be»
fonberd nabe, bic nämlid) 33ad) burd) bie 33rifle bed Qtnbängerd bcr mobcrncn Programm*
mufif ju betradjten. Gd oerbient befonbcre Encrfennung, fcafj er biefe flippe erfannt
unb glücflid) oermteben bat. (5r roeifj febr mobl, morin bie peetiftcrenbe SDiufif eine*
S3ad) priniipieü oon ber ber Siebenten ftd) unterfdjeibet, unb roenn aud) bie gormu*
lierung biefed Unterfdjiebed — »ie überhaupt aHed allgemein *flbetifd)c bei ©d)roet$cr —
»obl etroad fd)ärfer unb präjifer batte gefaxt merben fönnen, fo fpridjt er ftd) bod)
flar genug barüber aud, um nid)t ben 93erbad)t auffonimen )u laffen, ald fei ed ibm
barum ju tun, aud feinem Reiben einen üßcrlaufer ber neueren ^Jrogrammmufif ju
mad)en. SBebenflidjer ifl ber Langel, bafj bie beiben ftategorien: beffriptioe Sfluftf
(Tonmalerei) unb 3(udbrucfdmufif nid)t binlänglid) audeinanber gebalten merben; \)iev
tfl ber 'Punft, mo eine fruchtbare Ärtttf ber ©d)roei§erfd)en Srgebniffe etnjufe^en batte.
©ine fold)e Äritif wirb mobl oon bcutfdjer ©ette fommen muffen, unb fd)on bedbalb wäre
ed bodjfl erwünfdjt, menn red)t balb eine gute beutfdje Überfefcung bed ganj aufjer*
orbentlid) anregenben Serfed erfdjetnen mürbe.
üWündjen. SRttbolf Couid.
*
Wir erhalten folgend 3ufd}rtft:
3tl feiner ©dn'lberung ttalttnifdjer Sieifen CXprilbcft b. ©übb. SDtonatdb.) fprid)t
9D?etfler Tboma oon Ttermifjbanblungen, bie ibm ben „©nbruef oon bem fdjönen
Ttooli oerleibet" bätten. Unb er fügt bütju:
„$Wan barf foldje ©d)eufjltd)fctten gar nid)t erjäblen."
©cflatten ©ie bem unterjeid>neten Cefer ber ©übb. SRonatdbcfte eine ©egenbemerfung.
Dafj £and Tboma in feinen roillfommenen Erinnerungen (bie und bie Seit oon
ber ©onnenfeite jetgen) nid)t bei biefen ©d)euf}lid)fetten oermeilt, fann man ibm baufen
— jugegeben, fte paffen nid)t in feine Seit.
Tiber ntdjt erjäblen bürfte man fte? ©inb fie bod) ba! ©freien bod) bie Dualen
unmünbiger ffreaturen jum Gimmel! Durd) ©d)ioeigen linbert man fie nttfjt! Kein!
81id)t bringlid), nid)t oernebmlid) genug fann man fie erjäblen, unb foH man fie immer
wieber erjäblen!
3d) mu§ gcfleben, ed ift mir aufgefallen, bafj bie ©übbeutfd)en SHonatdbefte ju biefen
Dingen nod) feine Stellung genommen baben. ©cbören bie Tierfdju^beftrebungen etwa
nid)t mefentlid) jum «Silbe beutfdjer ffultur? Unb ifl bad «öerflänbntd für bie Ticrfeele
nidjt ein gcrmanifdjed Q3orred)t?
Sie licht ed bamit bet und in Sirflidjfett?
3d), mir brauchen nidjt nad) Italien )u geben, um 3^9« nufclofcr, gebanfenlofer
Tierquälerei ju merben.
3d> greife ein Söeifpiel aud meiner näberen Umgebung betaud. 3m oorigen
3Äonat bat ein tbüringifd)er Arbeiter einen #unb gefd)lad)tet unb ibm — »äbrenb bad
Tier nod) lebte unb beulte — bad ge0 abgejogen. Diefer — SCRenfd) (homo sapiens)
erbielt 10 Tage |>aft.
3ur Beleuchtung bcr — wenn fd)on gefhraft merben foß — lädjerlidjen 9??a§=»
nabme erlauben ©ie mir eine merfroürbige Verfügung amerifanifd)er ©efefcgeber mitjuteilen.
„fflad fott man baju fagen, fd>reibt bad Berl. Tagebl., ba§ bie Cegidlatur oon
Slebradfa, bcr bort erfd)einenben ,©ermania4 jufolgc, jc$t ein ©taatdgefe^ angenommen b«i,
monad) ber bidber ben menfd)lid)en Arbeitern gemäbrte ©dju^ aud) auf bie Sßierbänber
audgebebnt mirb? Die Seifen baben nämlid) bie Q3eftimmungen bed 2(d)tflunbcngefe^ed
aueb für bie fleinen 'Äffen, bie SanberfünfUer bed £eierfafiend mit fid) }u führen pflegen,
ald oerbinblid) erflärt! Diefe 'Äffd)en brausen in 3uf«nf* olf° nux mebr nod) ad)t
514 SHunfcfami.
Stunben ju tanjen. ©erben fie länger |ur Arbeit gejwungen, fo türfen fte Sntrüfhing«*
oerfammlungen einberufen." O ibr biflig Sdberjenben, wenn bte unmünbigen Siere
protejh'eren fönnten, fie batten'« längfl getan, bafj eud) bte Obren Hangen!
Gbrfurcfjt cor bem fflunber be* Ceben« ! „SRed)t«anerfennung alle« Uebenben" (SBelrrid?)
— wie weit finb wir noch baoon entfernt, wieviel bat bie Srjiebung jumal ca
■ ii tun! -Öut foOte aud) ber naturwiffenfd)aft(id)e Unterricht in ben Sdjulen emfe§en
— auf bie 3«bl ber #ufe, auf biefe unb jene 2Berfjeid)en fommt e« weniger an aW
barauf, ju miffen, baf wir lebenbe SÖefen oergewaltigen, bie ein SKed)t jum Ceben baben
wie wir — juweilen ein beffere« (exempla docent).
9ltd)t bie forgfame $3ebanb(ung ber Siere (ebiglid) aud 9?üglid)fcit«grünben —
nein, bie Urempftnbung, bafj alle tfebewefen und oerwanbt finb unb ibr eigene« SRecbt
uim Ceben baben, werbe anerzogen.
Sun Sie etwa* baju, bafj biefe Smpftnbung ©emetngut werbe unb gönnen Sie,
gcebrte SRebaftion — tai ift meine Sßitte — in bem reiben 3nbalt ber SübbeutfoVn
?DZonat«befte aud) bem SRed)t ber unmünbigen $iere einen ftanbigen, bauemben Qtnteil.
£« itf, nid)t« für ungut, böcfofle« Äulturwcrf.
*rnflabt i. $b., 3pril 1905. tXlfreD «©alter.
<£ine neue ^jean paul Ausgabe.
3u ben 3(u«fübrungen Dr. 3ofef ERüller« im SWatbeft baben wir 3"fd)riften t>cn
Cefern erbalten, bie fid) bereit erfldren, einer ju grünbenben ^ean^auUGJefellfdjaft bei*
jutreten. fflir werben auf bie Qutgelegenbeit in einem ber folgenben #efte jiirücffommfn.
Unfer ^nbufhrieauffdjwung madjt weitere gortfdjritte! sDJan bort oen bem SBteber»
anblafen alter £od)öfen, ©on 3bfid)ten be« ©tabloerbanbe«, bie $Beteiligung«jiffern ber
Sfßaljbrabt* unb SRöbrenfabrifen wefentlid) ju erboben ufw. ufw. Unb angefleht« be« reich'
liefen Einfließend ber 'Aufträge »on aaen Seiten brauchen fid) unfere 3nbufrrieHen au*
feine fo ftorfen *preidbrücfereien mebr gefallen ju (äffen. Denn oftmal«, wo bic fce*
bingungen beute weit niebriger finb al« früber, rubrt bie« nur oen ben Selbfrfoflen
ber, bie wir in}wifd)en ted)nifd) unb faufmännifd) billiger ju gehalten gelernt baben.
SRaturlid) fehlt e« nid)t an bem bbfen 38iüen ber ©rofjoerbraudjer, mögticfjfl wenig ju
bejablen, aber bieran würben fie ja früber oon ber gabrifation felbfl gewohnt. SD?an
benfe nur an ben tollen ffiettberoerb um unfere ©täbte feiten« ber eleftrifdjen Unter«
nebmen, bie 2J?agifrratc unb Stabtoerorbnete mit SKiHionen«Unterbietungen fbrmlicb
überfd)wemmt batten. Ob übrigen« bie außerorbentlid) gute SBefdjäftigung bei un*,
nid)t in ben Äurfen bereit« einen übertriebenen 3(u«brucf finbet, ifl eine anbere grage.
3nbeffen pflegt ihrer ganjen Üiatur nad) bie SBörfe einer gefd)ctftlid)en »Bewegung ftetf
ooranjueilen, ebenfo wie fie oft peffimifh'fd) febon in Reiten geworben war, wo faum
eine erfte '.Xbfdjmäcr/ung füblbar würbe.
* *
*
SÄufHanb bat wieber ©elb befommen unb jwar in gorm »on Sd)a§med)feln, bie
9 SKonate ju laufen haben. (Sogar englifd)e Di«fonteure fd)einen bem $aufe SRenbel««
fobn einen Soften abgenommen ju baben unb aud) bie Ämcrtfaner, foweit fte ruffifaV
Aufträge, befonber« in audgebebnten Sd)iff«bauten baben, bürften fdjliefjltd) flarfe Hn*
jablungen in 3arenmerten ntd>t juruefweifen, bie ja oorldufig nod) immer oerfauflieb
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ülunbfcbau.
515
bleiben. — ©efdbäft bleibt eben @cfd)äft! ©eilte jebed) bie bortige Tfutefratie ibre
g egen»ärtige#aldftarrigf eit fortfielt unb ben unabläfflg nötigen Siefermen nur unter ber >8e»
tingung geneigt fein, ba§ bie SWitarbeiterfdjaft weiter Greife hierbei weiter audgefdjloifen
bleibt, fo würben jene SHefermen nur auf bem Rapier ju (leben femmen. Aldbann
fennte aber aud) bie ©ebulb ibrer bunbedfreunblid)ften ©laubiger aümäblid) ju (£nbe
geben, bie ebenfo wie bie neuen beutfdjen Q3efi§er oon rufftfeben Jenbd ebne um»
faffenbe ja tiefgebenbe 33eranterungen, über bie Jnfnnr't Slujjlantd nur trübe )u benfen
vermögen. 3n|wifaVn lauten bie wirtfdjaftlidjen ^Reibungen and bem Cften: "Med
eber, ald beffer. 98or allem feilen bie SRei'djäbanffiltalen im Innern bed 9teid)ed je£t
»iefcerbelt eerfud)t baben, bie Sinlefung oon Söanfnoten gegen ©elb balb ganj ju eer*
weigern, balb nur teilmeife audjufubren. ffiürbe biefe ganj neue unb jebenfalld ton
^terdburg audgebenbe Situation fertbauern, fo fame bied einer ffiteberaufbebung ber
rc-cb ned) fe jungen ©olbmäbrung jiemlid) nabe. 03er allem aber würbe ein Tfgio
entfteben, bad bie rem Tfudlanb bejegenen gabrifate unoerfebend bebeutenb eerteuem
müßte. 3n ben OOer 3«breu fd)en batte bie Regierung einmal ibre reiben fflöfter
eeranlafjt, bie een ibnen angelegte ©olbrente gegen ^apterrente ju oertaufdjen, bamit
man ben granjefen, bie een gonbd in <Papieroaluta md)td miffen wellten, gangbared
Q}erfaufdmaterial jur Serfügung (teilen fönne. 93telleid)t ift bied aud) jefct wieber gefebeben!
* *
*
Die Q5erfd)leppung ber SWoeeUe jum Q3erggefe$ lägt und in bie ffiüblfraft unb
in ben (Jinflufj einer fdjmalen SReibe een ©rojjtntereffenten ganj eigenartige QMirf e tun !
2Öie entrüftet unb ©ielleidjt wie ebrlicb entrüftet waren bie eerfd)iebenften Parteien bed
preu§ifcben Canbtaged, ald ber Streif im SRubrgebiet, fegar unter Äontraftbrud), aud«
gebrochen war. 2Bie feft würbe bierburd) bad Vertrauen ber Q(udftänbifd)en ju bem
guten ffiiQen ber 93elfd»ertretung, bie allein burd) biefe Haltung gar nid)t abjufeben»
bed Unglücf unter jabllefen Darbenben eereiteln balf. Unb beute erleben wir bad
feltfame ©djaufpiel, baß bie Regierung mit ibrer bod) gewi§ mafjoollen Steformnoeelle
bunbaud in ®tid) gelaufen werben feil. Uli bunfele ©ewalten in biefer Angelegenbeit
laffen ficf> lebiglid) erftc Arbeitgeber unb biefen nabeftebenbe Männer beraudfpüren, bie
aber in tbrem fttöen ober lauten ganatidmud ben Stäben gan) überfeben, ben fie
bierbei bem eigenen ©elbbeutel jufügen. ©enn bie ©runblage aller gemerblicben Sätig«
feit biiUi bed) bie ©tdjerbeit ber Arbeitdeerbaltniffe unb biefe bürften unter einem
etwaigen Siege ber ^rinjipale unb beren greunbe im £anbtage lange pinburd) fd)wanfenb
bleiben. .Hemmt jened ©efe§ nirf?t juftanbe, bad nur OMmcheit ald überflüffig bar»
(retten fann, fo wären alle Äoblenaftien fünfjig 'Projent weniger wert. (Jd gibt aber
ned) itealere Sffiertc ald bie, weldje ber Äurdjettel eerjeiebnet.
* *
*
Unfere #anbeldaueweife für bad 3abr 1Ö04, bie biedmal prompt erfd)ienen ftnb,
geben ju intcreffanten Tuimerfungen ©elegenbcit, bie bie ©tatiftif allein nid)t liefern fann.
93 er allen begeben wir wieber unglcid) mebr von (Jnglanb, bad feit 1898 gegenüber
Qfrnerifa in {weite Stelle gerüeft war. Damit wäre freilid) nur bewiefen, ba§ (Jnglanb
feine 3J?acbt ald 3»ifd)enbänbler erneuert bat, ba ja wegen ber günftigeren SRücffracbt,
93ejüge een JRebftoffen auf biefem ffiege faft immer leid)ter waren. SRan benfe nur
an bie ©ilbereerfäufe aud ber Union ned) Dftafien, bie fenft regelmäßig via Cieerpool
eerfanbt würben, ^ür bad eerftoffene 3°br fällt freilid) bie mangelnbe amerifanifd)e
©etreibeaudfubr ind ©ewid)t, intern bie Union in SBeijen nutt audfubrfäbig war. TLud)
bie ftarfen ©olbfenbungen Snglanbd jn und, befonberd für 9led)nung ber 9lcid)dbanf,
bie ibren ißarbeftanb ftarfen wollte, machen in ben englifd)en 'Xudfubrjiffern gigur.
beffen fennten bied aud) amerifanifd)e ©utbaben in Conbon jum 2cil gewefen fein, ba
JWewporf je^t eielfad) grofe ©olbbeträge, fogar ecrleibt. Srportiert baben wir nad>
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SKunbfdjau.
Srandoaol weniger, wäbrenb bod) große Seile unferer 3nbufrrie fd)pn unmittelbar nad)
rem Kriege, ©roßbritanniend Aufträge über Aufträge, auö jenem ©olblanbe ficber erroartet
hatten. Argentinien fonnte mehr ton und ald fonfl faufen, weil mir anbererfettö un-
gleich mebr ©etretbe oon bort brauchten, ba ja bie Union, mie gefagt, auäfiel. — Sa»
gegen fcbwädjte ftcf> unfer (Jrport nad) SRußlanb ab, meil bad (entere tro§ fetner reichen
Srnte eine florf oerminberte Kauffraft aufwied. Sntweber ei fehlten bie 93erfebr£mtttrl
für bie (Jrnte, ober bie bortigen @ut$beft§er beburften fo rafd) @db, baß fte nur billige
greife erjtelen fonnten.
©egen tai 4?eranjieben ber ©cfellfd)aften mit befdjränfter Haftung iur Sin»
fommcnflcuer mirb bie ^Berliner #anbeldfammer beim Jtnanjminifter aufe" entfd)iebcnfle
oorfleOig merben. ©o leidjt bürfte ei aber niemanb fallen, ben preußifdben gtefuä jum
Aufgeben eined einmal gefaßten ©teuerobjefteä ju bemegen. ©old)e ©efeUfdjaften haben
ba, mo e* fid) um Heinere Kapitalbeteiligungen banbelt, gewiß ibr ©uted, obgleich man
bie Kaufleute, meld)e hier Rrebit geben fallen, oft genug flogen bort, baß ei ftd) in
berartige Unternebmen nicht genügenb bineinfeben läßt. Anbererfett* benu^cn aber febr
große ©rünbungen neuerbtngft biefe gorm unb man fann nicht einmal fagen, baß fctei
nur jur Srfparung bed febr foftfpieligen ©tempele* erfolgt. 93orfid)tige fbnnen in tiefer
£tnfid)t faft fletö billiger fahren, wie tiei ber fiiitui erlebt bat, atö bie Allgemeine
SlehrijitätdgefeQfcbaft fid) mit ber Union fufiouiertc. Sßalb barauf: bie 3ntcreffengemetn»
fdjaft ©iemen$*©d)ucfert bat eine ähnliche 5ran§aftion titelt ancer*, aUJ unter gaiti
unvergleichlich teureren ©temprlfoflen burchiuführen oerflanben.
Sine unferer größten djemifcbeii Unternehmen, bie garbmarenfabrifen oorm. tBapcr
in ßlberfelb mit bieämal 30 °/0 Dtoibenbe flogen in ihrem 3abrc$bertd)t über bie #ärte
ber £anbeläoerträge. (Soweit aber ber fünftlicbe 3nbtgo in Betracht fommt, in bejfen
Werfte Un iT q (Slberfelb mit obenan fleht, ftnb wichtige #anbeldoerträge günfhg aufgefallen.
Denn oon nun an wirb biefe« Äunflprobuft nicht mehr al$ ©rogue joüamtltd) bebanbett.
Auch oon feiner SnterefFengemeinfchaft mit ber SBabtfcben Anilin« unb ©obafabrif in Cubwig**
hafen fpricht ber SÖencbt, er hofft aber erfl für fpäter lohncnberc SRefultate, befonbert
wohl aud), wai bie bann mehr fonjentrierte Sättgfett in ben Laboratorien betrifft. 3*
länger fold)e Hoffnungen fid) oerfchleppen, b«fto weniger wtffenfd)aftltd)e Shemifer werben
natürlich brotloä, oon welchen QSeränberungen fcbließlid) boch tai Auälanb profitiert.
Ober foUten j. 33. bie Amerifaner ihre oieljäbrigen Abfluten auf beutfdje Sbemifer,
etwa unoerfeben* aufgegeben haben?
granffurt o. 9B. ©. o. £alle.
»erantwortUdj für ben fojwlpoUttfflen Zeil: &riebri* 9touaiann in ®d)8neberg; für ben übrigen Inhalt:
-Vzul "Jitfolaufi. üoff mann in SHündjen.
♦Jiadjbutcf ber einzelnen Beiträge nur aitfjugfiwcife unb mit genauer OueHenangabe gemattet.
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tu
Januar w!?/X1ubüC
lieft 1
Sübbeutfcbe Jüonatsljefte
Unter mftviiHung oon Jofef fjofmüter, Frfebrid] TIaumann, fjans Pfitjner,
fjans Tfyoma # * flerausflifleben oon Paul TTfkotaus Coffmann
I
Inhalt:
IDIlljelm Rfdjer-eraz: f}ans fjeinzHn.
Crzaijlung. Kapitel 1-3
Cubrofg Tboma: Sdjneebenblpfelfen.
€rza*t)lung
Peter Cornelius unb Kidiarb Wagner :
Ungebnicfcte Briefe
fjans Tboma: In Tüöndjen im Anfang
ber 70*r ]abre
Frltf Tüautbner: Spinoza
Frfebrfd) ITaumann: sdjuifragen
Runbfdjau: mit Beitragen von K. Flcfd] (IDol)-
nungskongreft), major faller (Port flrttju r),
rj. Pf lljner (Berliner Tljeater), P.marfop (niottl),
fj. fjeffe (Karl llon), S. o. rjalle (Finanzninbfctjau).
K5
I
labresprels m. 15- Das OlcrtclJaDr m.
ntls drs rtmtlnen neftes i mark 50 Pf.
» V I * ' ' *
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-
Sfibfceutfctje 9WonatSljefte
t>er 3ö^re8<jrei8 Beträgt SR. 15.—, »er Quartal&>rei8 SR. 4L—, ba*
Ginjelfjeft fofiet SR. 1.50. Abonnenten t$ unb fceftellungen auf Sinjf riefte
werben burdj aße SßuaV unb jrunftyanblungen be* 3n« unb Huilanbti unb,
wo f c Idi c turf)t Ietcr>t erreichbar, burd) ben JBerfag entgegengenommen.
3ttfcrtiratyrei»: Die Seite SR. 60.—, bie b,albe ©eite 2». 35.—, bie metet
©eite SR. 20.—, bte adjtet @ette SR. 10.—. ttei breimatiger Aufnahme 25%
Rabatt, bei (ehemaliger 33 V/o/ W iwilfmaHger 50#/0. «eilagegebufcr AR. 10.—
pro Saufenb. @rdfere Aufträge nah befonberem Übereinkommen.
A0e 9ted)te auf ben 3nf>ait biefer 3eitfcf)vift, in*befonbere bat be* 9? ad),
bruef* unb ber Überfe$ung bleiben vorbehalten.
ftebaftimteOe Sufenbungen Coline £in}ufugung von ^erfonen* nnb ©trafen»
tarnen) an bie „SKebaftion ber ©ubbeutferjen SRonattfyefte, SRun$en." ©et ber
großen Anjaf)t ber an und gelangenben SRanuffrtpte muffen wir bitten, nur
beuttih getriebene BRanuffripte mit breitem ftanbe ein jufenben nnb Stücfporto
beizulegen.
©»rediflunben ber dtebafrion: SRündicn, JtÄntgtnfrrafle 103 III L,
©amttag* von 3—5.
Alle gefdjdftl (djen 3ufd>riften unb Genbungen, fowie ®elb*
fenbungen an ben Sertag: SRündjen, JtAniginfrraße 59.
£aö am 15. 3anuar erfdjetnenbe jweite (Februar«) J^eft enthalt u. a.
SEBtl&elm «aBeiganb tfl au* ®efunb^ei«rucfft*(en »ort ber fettung
b*r ©übbeutfdjcn Sttonattfaftc, beren sOtftfxgrunber «r mar, juruefgefretetu
SSvtcfe au$ SJieapel unb otjilicn.
y Google
Soeben erschien du erste
Alles zusammenfassende Buch
Ober
Die Kunst des • •
xix. Jahrhunderts
von
Privatdozent Dr. Haack, Erlangen.
408 Seiten Lex.-8° mit 200
Abbildungen und 5 Tafeln.
In Pankok'tcfon Elnbtnd g«b, Mk. 10.—.
Da* I«e «rtOtiat aktttac ifia au Baad V
4«t trasdrltm itr Kaaftecstlim toa
taakc-fmraa. ta »laa tetaea aetaaeta
Cornelias Garlitt schreibt uns Ober
das Buch :
»Der Verfasser schafft sich mit Sach-
kenntnis «f in Urteil nicht in der Ästhetik
tob) heute, sondern anter Berücksichtigung
der |cvelligen ZeitiUtherik. Wir haben |etit
sovlele geistvolle* Darstellunten, daes
rvlachcndurch eine solche von ruhiger Sach-
llchkelt wohl tut*
Paul Nett Irlti (Ctrl Bfichle). Stitlgvl
Qßmöldesanl in Frankfurt d.h.
Permanente Kunstausstellung,
Verkauf von Gemälden enter moderner
and Älterer Meister.
Rad. Bangel, Kunsthandlung,
1869!
Terlag G. Birk & CoM München.
Soeben erschien:
Aug. ülttlier,
= i%rbeitcrs<Kr<tariatc =
und ArbeiterVersicherung in
== (cntscbtMl =
184 S., broseb. M. 3»—.
Dnroh alle BneabsadluaiaB and Ketsartsurt
lowle direkt TMS Verlags am belieben. _
sjasr* Verlagsverzelchnia umsonst und frei. ~9G
Paul Letto Verlag, Berlin W. SO.
Soeben ist erschienen:
Roman von
Felix Hollaender.
Geb. Mk. 4L—, elegant geb. Mk. 5.—.
Bin amüsnotfn, fs\rbenrelenes und
ho>h*t wlrMnnarsirnlles Kulturbild aus der
dsBtscbcn Reichshauptatadt von heute. Der Ver-
fasser wird mit diesem Werke den Leser von Anfang
bla xb Eade fesseln. (Zeit, Wien.)
an alle mir aufgegebene Adressen
versende ich meine neuen YerUgs-
Froipekte. je jßjßjtjßjß jß je j* j»
UEOBG ni LI Verla«,
MfSCHEX, Könl«instr.
Diesem Hefte liegen Prospekte folgender Firmen bei: Literarische
Anstalt, Frankfurt a. M., Georg Müller, Verlag, München,
R. Piper & Co., Verlag, München, Dietrich Reimer, Verlag,
Berlin, Schuster & Loeffler, Verlag, Berlin, die wir der gütigen
Betchtung unserer Leser angelegentlichst empfehlen.
eübbeutftfjc Monatshefte
Z>tx 3<ujre«preU bctrAgt ÜB. 15.—, ber Ouartaltyret* 9». 4.—, ba*
fcinjetljefl fofret 3??. 1.50. Abonnemente unb ©efteuungen auf Sinjrtyfftr
werben burd) ade ©ucrj« unb .Runjtyanblungen bei 3n« unb ÄudlanbeÄ eitt*
3nffrtion8prei8: Die Seite 3R. 60.—, bie Ijalbe ©ette 9B. 35—, bie »ierirl
Seite SW. 20.—, bie adjtef ©eite 2». 10.—. «Bei breimaftger Aufnahme 259/a
Rabatt, bei fedjdmaliger 33 V/«,, bei jw&lfmaliger 50°/0. 33eilagegebüf)r SR. 10. —
pro Saufenb. ©rohere Auftrage nad) befonberem Übereinfommen.
9ted)te auf ben Sitfyatt btefer 3«tfd)rift, indbefonbere ba* be* 9?ad>>
bruefö unb ber töberfefcung bleiben yorbebalten.
v.Hebaf tionelle Sufeubungen (ohne £injufugung t>on ^erfonen* unb Strafen*
9?amen) an bie „SRebaftion ber ©übbeutfdjen SNonat$I)efte, STOundjen." fcei ber
gropen Vdijahl ber an und gelangenben STOanuffripte muffen mir bitten, nur
beutlid) gefdjriebeue SWanuffripte mit breitem Stanbe ctnjufcnben unb SXütfporto
beijulegen.
©precfjjtunben ber SXebaftion: SNiindjen, Jtdniginfrrafle 103 III (.,
©amdtag* »on 3 — 5.
3ffle gef*aftltd)en 3ufdirtffcn unb ©enbungen, fomic Selb»
fenbungen an ben Verlag: SRüncfjen, Ädniginfrrafle 59.
$)ie für baä jroeife Quartal angefunbigte 93eröffentfid>un<j ber
ncueflcn Arbeit 9Kay Qctbfi mußte auf einen fpdteren Seitpunft »er?
(tyoben merben. 2)aä britte Quartal eröffnen n>ir mit ber Srjd^lung
£>te 33rautfal)rt &e$ Damian 3aö$
gegengenommen.
I
ftüv ftreimbe wertvoller geiriecjener Citeratur
9?cucrfcf)ciuunc\cn be* Verlag* ©eorg 3ftüller
3)iünd)en, ^ömgmfrrafje 59
bettffd>e ©rama
ber ©egentoarf
t>on SKubolpf) £otf>ar
25 }Jog. gr. 8° mit 25 Äunftbcilag. u. über 130 größtenteils gantfeit. 3Uuftrationen
Umfcblagjeidjmmg unb Vignetten DOt) 3^fef Öötttw
©e&. 9Kf. 10.— geb. 12.50.
Über t>ic aufjerorbentlid) günfrige "Slufnabmc, bie biefeä prächtige
l^ud) gefunden £at, mögen nacbftebenbe i^ritifau^jüge berichten:
„Cfinc anfpreebenbe fleißige Arbeit in tünftlcrifcb auuuitigcr Mm»
rabinung." Wtutt QBiener Tageblatt t>. 18. S)ej. 1905.
„'jhiS bctrcici)tlid>cm Schafte eigenen QUiffcnS unb Könnens fd>öpft
ber geipanbte \Mntor unt> bcbcrrfd)t ben vetoff meifterhaft."
»amburger 9iacbrid>tcn, 22. $ebr. 1905.
„ffs ift ein gute* Q3ncb, benn es bat Öcbanfcn unb "Sttut unb meeft
ber anberen (Sebanfcn unb auch neuen ^ut. SKan bat vielleicht bas ©cfübl,
mit jeinanb geftritten au b<*ben, menn man ben ^anb tpeglegt, aber ber
3R<um mar ein ehrlicher Ä'cd, ein ^rcunb. Lothar macht feinen t'efer nicht
Hein, mie cg oft gelehrte ^erfaffer tun, er nimmt ihm nicht fein Mraft-
bemumfein, er mabrt es." Oicue freie treffe Ißten
am (f d>luft einer 12n>alt1<|en Strttif.
„Q^er ins Theater geht, mirb jvreube an biefem 33ueb haben» el
frifct>t Erinnerungen auf unb maebt alte (finbriiefe mieber neu."
30. Qöiener <S$rrablatt, 26. 3an. 1905.
„T>er prächtigen 'Olusftattung bes Tflcrfcs muft rühmenb gebaut merben.
T'ic luftigen lateinifd>en Oettern unb ber moberne ^3ucbfd)imut cattlers,
fornic zahlreiche treffliche T>erträts unb v3^cncnbilber beftimmen Lothars
3öcrt für ein großes ^ublifum, bas viel Anregung unb angenehme ^e»
lebrung aus ihm fduHn'eit 655?
" ©eutfebe eiteraturjeitung 1905, %r. 8.
3luffefren in roeiteften Greifen erregt:
m geicfoen be3
?tl>J)ortemen x>on 3folbe $urj
($e\). 5.—, geb. in 7, Pergament 6.50
„3folbe BlSäl ncuc* ^uct) »3|W 3cichen bcs 6tcinbodg" ^cigt von
einer Oxcifc 55 OViftcs, von einer inneren v5elbftanbig!cit unb reinen y>ormonic,
bic Qtxobt£u ftauncu*wcrt finb. - 3d) müfjtc cnblo* girieren, um eine Dox'
fteflung von biefer cpcrf6nlici>fctt unb ihrem 93ueb $u geben.
43cfe ee, h>er es irgenb fatm!
von Äuuffer in bem internationalen Sftmft* unb Sbcrtteran^eiger.*1
T>a$ ^ueb bebeutet eine 'ptylofopfcic, ein (9laubcn*bctcnntni« vom
Qafem beä 93tcnfchcn, feinen ,V>ohen unb liefen, feinen ifcblcru unb
Sugeubcu, feinen 3bcalcn unb feiner ©egenmartsbetättgung. jtür.yr ober
länger gehalten, fein flifelicrt, tlar unb febarf, fübrt un$ 3folbc tt'ur* cm
Vcben POt unb bannt ihre ^htefpriicho unb Darlegungen in folgenbc Maiutcl:
$mgcmcinc* vom ??u'nfd>cnba|~cin, -?iann unb ^eib, "21 ug ber 7flcll bc*
Acr^ene. ^oni Minbc, (*thit unb ?\bmhmu*, 7*on ber Sprudle. Hon fficniiuv
T>oefic, tt'unft unb Mnnftlcr, Unter 9Ptcnfchcn.
w9iorbbcutfcbe StBgemeine 3eitung", 18. Januar 1905.
„(£«f ift ein tiefer unb gebilbeter löcift, ber Jner 411 unä rebet. Clüef
in allem ein 33ucb, ba$ jeber (Scbilbete mit 3ntcrcfle lefen unb bem er
mannigfache Anregung bauten wirb, fttpcifcllog eine ber bebcufenbftcn
\Mpborii?incnfomtulungen, bic je von jyvauen gcfdjvieben werben finb."
von 6tcm in ber „^cutfdjcn Welt ■
„3ßo mir ben inbaltrcid)en ^anb auffcblagcn, ift er feffelub unb fein»
finnig; unerwartete unb ungewohnte Schlaglichter wirft er nach ben per-
fduebenften (Schieten. - deiche unb bauernbc Anregung bürftc lebcrmann
in ber eigenen, cingehenben £crrürc ber Sammlung finben; fie ift ein 33ucb,
baä man nicht einmal burcblieft, fonbern flu bem man wie &u einem guten
Tfrreunb Aurüdfchrt." „Frauenberuf.*
„3)<tfi febönc 33ucb verbient eine au«füt>rlict)c lÖurbigung. Cf g tann
ben s21phori6mcn ber Cgbncr--iifcbcnbacb flur <3citc geftcllt werben."
„vBdnväbifcbc Tagwacht*'
bleiche Slnerfennung fanb baä 9?üd)lcin beä befannten 3Rfin$net
3oologert:
?luguft ^Mlfi), 2Ip$ori*mett
tfel). 3K. 2. , geb. 3R. 3.- tjj
tiefer ift einer von ben feltcuen belehrten, bic ihre IBiffcnfcbaft bahin
geführt bot, baj? jic in ber 33clt ein tf'unfnvert crblidcn, ba* fic verehren
unb genießen." Beilage jur „ilUgcm. 3eitung", gOWincben.
(gteinboefe
Soeben erfetyieu:
SHnton fruchtet
TOt Bielen "porträt* unb frjfftmileg
geb. 5.—, geb. in % ^Pergament 9R: 7.—
ffiit feinem hinten ^nuefner bat l'ouig ein vunbeg, fpredxnb
ähnliches", in ber fri>d)ft umffainen aber nie äufoerlid) cffeftttoUen 03er»
teilunq von i'icht unb vrdwtten gan^ auggc^ciduieteg (Sbarofterbilb
gegeben. T>aul 3??arfop in „Sübbeutfcbc Sttonatäbefte", 1905.
©erabe über bie ^erjerfreuenben (JtyaraftereigentümUchteiten
^rurfner* gibt ba$ 93ucty üon ?\nbolf £ouig ben beften Sluffcblufe
unb niemanb feilte bag T$ud) ungelefen laffen, ber einmal uon ffiruefner
ergriffen war. „Liener allgemeine 3e«ung" 22/XII. 1904.
Qfin l)od)t>erbienftlid)eg ^ud), eingegeben von lauterer Eingabe
an ben perfannteften ber ffieifter beutfd)er Sonwett, uerfafct in voller
OHiffegfduirfe dftbetifd)en •S'icfblicfg. £ier rebet ein berufener,
ber an ftd) erfabren, baft 93rucfnet nicfyt ermeffen, fonbem nur gefüllt
werben fanu, betn bafcer &unäcbft Qm Äerjen liegt, bie Eigenart be«
9?ienfc^en ^ruefner bem £cfer aufjubcefen . . . pflöge bag Q&erf,
bag bag y>er& gegeben unb ffrenge QiMffenfcbaftlidifeit geprägt bat,
ccgen ftiften unb 'Dcnfenbe aneifern, fürbertun ©rofteg ju tyeqcn, fo
lange eg unter ung weilt, Eigenartigem ijingebenb »olleg Gügleben
\u geftatten, n>o cg ung begegnet.
CliKun't oviiciicb in ber :.\i.Mf 1905, &eft 13.
Ct\ä%t4-/\tt^ä4\i\i*^ <3" offenem «Srtefmntolafl ait
-Ot]l^UjU;vlIl Drucffflcbe für 3 "Pffl. julSffi«)
>:iu* bero Berlage »on (SeOtg Füller in ^Ütldjen, Äöniginftr. 59
beftetle id) hiermit
^BL..... Crempl. £otf>ar, §)rama, gefc 3R. 10. -
- m — m — geb. 3W. 12.50
KX.> * * Äurj, ßteinboef, geb. <3W. 5.—
Eä» - m — m — 9eb. SR. 6.50
0 Paulp, $lp£ori«men, geb. 9R. 2.—
jt.^ „ — ^ - geb. SR. 3.—
„ „ Von ig, %rton fruchtet, geb. SR 5.—
fcH- — » — » — geb. SR. 7.—
„ Qtorim, ^unber^orn, geb. SR. 4.—
Kl:«. ..... „ 3)eutfchcg ^aUabenbud^, geb. SR. 5.—
i ?;i(t>t0e)pUit((J)te0 l»ur<t>ftrci*en)
ttenauc .loreffe:
3u>ei beutfd>e $au*f>üd)ev
ffl)rt gurc bcutfdjen SKeifter
oon Bürger bi«f t'iliencron, mit einer Einleitung
berauägegeben \jon TßUfyelm t>on 3d}o($.
Qrin ffarfer 33anb uon 650 Seiten gebunben <3Jl. 5.—.
2lrnim unb Brentano
3n einer s2lu6n>a()( neu fjerauägegeben von ^(Utl Crmft.
ßn ftarfer 'öanb t>. 600 6eit. in präebt. Qnnb. 4.—.
„ftcrbinanb (#regori, ber befannte Joofburafcbau»
fpicler, febreibt über beibc Bücher am £ebluffc einer proben
begeifterten 3*cfprt$ung im „Holfeerjicbcr":
QSJcr alfo K2lrnim unb Brentano« TJoltebucb niebt bat, ber
laufe e* fieb jetjt au$ bem Berlage von (öeorg Füller in München.
Orr Unrb nicht nnbeglüett trieber um ber .SSanb legen.
(jin entyttetenber Crinbanb fcbliefit bic fbftlicben ungewollten
Q?erfe ein.
Crbenfo beutfeb mie „TVe K'naben Wunberborn" ift ^inlbelm
von v3d)olacn« 3}eutfd>e* ^aüabenbud;. ^frenbc unb ^c«
a,eiftcrung obne Cfnbc, wenn man in biefen reichlich 600 leiten
blättert.
>Sunbertfi'mfaig 3abve bidnerifeber Kultur liegen in biefem
73anbe unn (Greifen ba :
©reift ju, tt>enn if>r ©eutfe^e feit)!
$lüc in biefem Q3er5cid;ni« genannten 3Berte finb in allen
befferen ^ucbbanblungeit vorrätig ober $u beziehen bureb
©eotg 9JZüller, Verlag,
'Sftündjen, ft'ömghiftraßc 59.
Atrrcfi & 3<tmfcn, QJ. tu. b. R.f SMttfnl'crg.
tteue Äücfcet.
«Bei ber iHebaftion ber SübbeutfaVn 3ttonatSbefte finb folgenbe «Büdjer eingelaufen :
6ojialpolitiF unb poltrtP.
Die giottenfrage. »on Sri d> 92 e üb au*. (59 Seiten.) Ceipjig, gelir Dtetrid).
ÖfterreidjS «Bebränger. «Ben SKubolf »rba. (639 Seiten.) ^rag, Selbftoerlag.
Der Sßeg »um &euifd>:öftemidH'fd)en 3olloerein. »on 3 c f c f $erger. (29 Seiten.)
3Ründ)en, 3. a CebmannS Verlag.
Der SRarionalitäten» mit »erfaffungSfonflift in Dflerreidj. »on SHubolf »rba.
(292 Seiten.) ^Jrag, Selbftoerlag.
Jricbricb, Naumann. »on heinrid) SRet)er*«Beufeo. (Xu. 19t Seiten.) ©öttingen,
»anbenboecf & 9tupred>t.
£anfcbud) ber ©irtfdjaftSfunbe DeutfdjlanbS. herausgegeben im Huftrage beS beutfdjen
»erbanbeS für baS faufmänmfdje Unterrid>tSroefen. »ierter «Banb. (7 18 Seiten.)
?eip}ig, Drucf unb »erlag »on «B. @. Seubner.
Die hauptinbuftrien DeutfdjlanbS. herausgegeben im Auftrage beS beutfdjen »erbanbeS
für bae faufmännifdje UnterricfytSwefen. Dritter «Banb. (1047 Seiten.) Ceip|ig,
Drurf unb »erlag oon «8. ®. Seubner.
&cUgtonegef<f>td>te.
3obn henro ffarbtnal Dlemman. »on (Jbarlotte Cabp SB lenn erraffet. (272
Seilen.) «Berlin, »erlag oon ©ebriiber $aetel.
Der 3efutriSmuS. »on flatus (Dr. »ictor Dlaumann). (IX u. 591 Seiten.) Regent«
bürg, »erlagSanftalt oorm. @. 3. SOTanj, «Bud)* unb ftunftbrutferei X«®., STOündjen*
SHegenSburg.
«Paulu*. Der üftenfcb, unb fein tfflerf: Die Anfänge beS llbriftentnmS, ber ftirdje unb
beS Dogma*. »on heiimdj SBetnel. (316 Seiten.) Bübingen, »erlag
3. <£. «B. SD?obr (^aul Siebecf).
pi>tlofopJ>ie.
(fin Kroger, ein Sobn ber Sdjöpfung. »on Hbe-müberf a. (130 Seiten.) £eipjig,
»erlag oon $uliuS ©erner.
3Rebitationen. »on h«9° 3Rar cuS. (220 Seiten.) «Berlin, »erlag oon @. Ebering.
Stbif als Äulturpbüofopbte. »on ^aul «Bergemann. (632 Seiten.) tfeipjig, »erlog
von §beobor hofmann.
92ie$fd)eS i'ebre in ibren ©runbbegriffen. »on OScar Gtroalb. (141 Seiten.) «Berlin,
Srnjt hofmann & ßo.
3«" 3eid)en beS SteinbocfS. *XpboriSmen oon 3folbe Sturj. (XVI u. 287 Seiten.)
3Jtönd)en unb Ceipjig. «Bei ©eorg SDiütter.
ffieltroefen unb iffiabrbeitroitle. »on hermann ©ottfdjalf. (VIII u. 464 Seiten.)
Stuttgart, »erlag oon Srrecfer & Schwober.
Philologie unt) päfcagogiP,
fflie benft baS »olf über bie Sprache? »cn SBeife^olle. (MO Seiten.) Ceipjig-
«Berlin, «8. @. Seubner.
2Do bleibt bie Schulreform? »on Dr. 3tbentuS. (l56Seiten.) l'etpjig, ftelir Dietrid).
«Silber auS bem Jttnberleben beS «peftalojji.grbbel.haiifce in «Berlin. h«mburg.©ref borftel,
®utenberg.»erlag.
I
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fragen fcer grauenbilfcung. «on 2Bilb- Clingen. (108 Letten.) Ceipjig mit Berlin,
Drutf unfc ©erlag »on ». @. Seubner.
Die förperlidje 3U(bt,9un!i bei Äinfcererjiebung tu ©efdjtdjte unfc »eurteilung. «on
Dr. D. SSiefer. (196 Seiten.) Berlin W 15, «erlag oon QObert ffobler.
(Befaßte.
©efdjicbte fcer fceutfdjen Äultur. «on Dr. ©eorg Steinbaufen. (Xu. 717 ©eilen.)
eetpjig unfc SBien, »ibliograpbiftr/e* 3nftfoit.
3tuttf*.
Unfer S<b»»arii»alfc*»auernbau«. «on Dr. SRa* gifdjer. (38 Seiten.) ftretburg
i. »r., «erlag »on ©pener & Äaerner.
»eetbooen im eigenen 2öort. «on ftriefcrid) flertf. (213 Seiten.) »erlin unfc
l'eip}ig, Sd)ufter & CoefFler.
Literatur.
"Xfcalbert Stifter. Sein i'eben unfc feine SÖerfe. «on 'Xloid SKaimunfc £ein.
(XVI u. 698 Seiten.) $rag, 3m Selbfroerlag fceo" «ereine" für ©efcrjidjte fcer
Deutzen in »öbmen.
«on fcen altefren Drurfen fcer Dramen Sbafefpeared. «on SRobert^relf. (IV u.
Ut Seiten.) fripjig, «erlag ton g. TL. »erger.
«Peter SRofegger. (£in ßbarafterbtlfc »on Sbeofcor Stappftrin. (XV u. 331 Seiten.)
Stuttgart, Drucf unfc «erlag »on ©reiner & Pfeiffer,
©oetbe* Cebendanfdjauung in ibrer gefd)id)tlid)en @ntt»icflung ton ßbritfopb Sdjrentpf
Grfter Seil: Der junge ©oetbe. (VIII u. 196 Seiten.) Stuttgart, $r. Jfromanirf
«erlag ((5. £auff).
©oetbe. «on SJiar Die|. (ISO Seiten.) Stuttgart, gr. grommannd «erlag
«J. £auff.) *
frriefcridj Stiegel gragmeute. •Äudgemablt unfc berau^egeben »on griefcricfc \
»on fcer Ceoen. mt Vortrat. (ISO Seiten.) $ena imfc £eip|ig, «erlegt bei N
Sugen Diefcericbä.
©ottfriefc #erfcer 3been. jinammnuKt^Ht griefcrieb »on fcer Ceoen. 30ttt
Porträt. (XX u. 230 Seiten.) 3ena unfc ?etp|ig, «erlegt bei Sugen Diefcerictj*.
3iigettt)f<|>nftett.
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Der fceutfer/e 3""3l'«9- herausgegeben oom Deutfcr>en «erein für tae gortbilfcuna,*«
toefen. IV. »anfc (192 Seiten). Cetpjig unfc »erlin, «erlag »on ». ©. Seubnrr.
Deutfd)e ©6ttergefd)id)te. Der $ugenfc erjablt oon d. gald). (46 Seiten.) frtpjig
unfc »erlin, Drucf unfc «erlag »on ». ©. Seubner.
Sölfungen unfc Stiftungen. Der >sinit erjablt »on (S. gald>. (40 Seiten.) l'etpjia,,
Drucf unfc «erlag »on ». ©. Seubner.
•©einrieb Äecf, Deutfdje £elfcenfagen. 3*m\U eoÜtfanfcig umgearbeitete Auflage »on
Dr. »runo »uffe. 3»etter »anfc: Dtetricb »on »em. (VI unfc 306 Seiten.)
Cetpjig, Drucf unfc «erlag »on ». ©. Seubner.
Unter fcen Goroafco*. «on 3(lfrefc gunfe. (VII unfc 285 Seiten.) tfeipjig unfc
»erlin, Drucf unfc «erlag oon ». ©. Seubner.
II
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Sdjummerftunbe. ©on Sari Söble. (251 Seiten.) Berlin, 53. 58fN ©erlog.
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fchniittf. ©erlag.
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Sbeober Unger ©erlag.
So« 3d>«(£oangelium. ©on griebrid) Robert STOefferfdjmibt. (56 Seiten.)
£re$ben*Blafenng, $ofoerlag SR. ©on ©rumbforo.
gente©" SRelufinac. ©on S. Änobt. Witt filtern ©on @. Äampmann. (76 Seiten.)
Ottenburg, S.*X, Stepban ©etbel ©erlag.
®elfenfd)atten unb #obenglanj. ©on ©ottfrieb Sdjioab. (102 Seiten.) Xigäburg,
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Feuertaufe, ©on Smil Srtl. (344 Seiten.) Ceipjig, ©erlag ton C.
£a* goltene Jtegelfpiel. ©on SHufcolf ©reinj. (188 Seiten.) Üeipiig, ©erlag
©on €. Staarfmann.
äcrimoelieber. ©on £einrtd> ©ierorbt. (151 Seiten.) £eibelberg, Sari Sinter*
Unioerfitätdbudjbanblung.
XiS meiner Jöalberfe, ©ebicfjte ©on Äarl Srnft Änobt, mit 3tid)i\un$er\ oon
©. Äampmann. (202 Seiten.) Wtenburg, S.*X, Stepban ©eibel ©erlag.
SWaldja unb Sborilt. ©on $ofepbine Steffel unb Qdberta ©. grepborf.
(XII unb 135 Seiten). Strasburg i. S., ©erlag ©on 3©fef Singer.
«Wafuccio. Forellen. I. 3um crflenmal übertragen ©on Dr. $aul Safolowäfi.
(166 Seiten.) Ottenburg S.«X, Speobor Unger ©erlag,
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Sin Sebnen. ©on Sbarlot Straffer. Bud)fd)mucf ©on .£>anno Bap. (150 Seiten.)
Bern, X granefe ©erlag.
Sftutter unb $od)ter. SRoman oon Termine ©illinger. (221 Seiten.) Stuttgart,
©erlag oon Qffcolf Bonj & So.
2Bolfenfd)atten. SWeue lieber unb Sonette oon Sbuarb $ au lud. (158 Seiten.)
Stuttgart, QCfcolf Bonj & So.
SÜ>er Ärcaterfteig. SHoman aue" bem .§od)gebirg oon Tinton greiberr »on Verfall.
3flufrriert oon £ugo Sngl. (433 Seiten.) Stuttgart, ©erlag oon TCboff Bonj & So.
i'erbeer unb 3J?orte. Nerdlen oon Srnft Scfftein. (232 Seiten.) Stuttgart, ©erlag
oon Qlbolf Bonj & So.
Suribor ber Unglürflicpe. Srjablung oon Ctto £ auf er. (200 Seiten.) Stuttgart,
©erlag oon !X6olf Bonj & So.
©annejapfe ue 'em Sd)>©arji©alb. Cufabigi (Be&tdytlt oon Qluguft ©antber. (140 Seiten.)
Stuttgart, ©erlag oon 'Äbolf Bonj & So.
3(rme Seelen. @efd)id)ten unb Sdmurrcn oon g. o. Oftint. (244 Seiten.) Stuttgart,
©erlag oon 3bolf Bon) & So.
Sonne |>omere\ Weitere gabrten burd) ©rtedjenlanb unb Sijtlten 1902—1904 oon
Cubroig £eoefi. (428 Seiten.) Stuttgart, ©erlag oon TTfcolf Bonj & So.
„ffienn e* rote SRofen fdjneit." ©ebidjte oon ^)ebba Sauer. 2Wit Bilbem oon
Slidjarb 5efd>ner. (60 Seiten.) ^rag, ©erlag S. BeOmann.
Bergbreoier. Berglicber aui $irol. herausgegeben oon ^rtbur oon SDallpad).
(XI unb 144 Seiten.) 3nn*brucf, X Sblinger* ©erlag.
III
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Die #eitnatlofen. (Sin neue* £pod von ^ai&)<tli (©eorg 2Beicf). (155 ©etten.)
©tra§biirg, ftriebricr/ ©ufl, »erlag*bud>banblung.
grauen. Sttoeetlen oon £elene Gbriftaller. (119 (Seiten.) 3ugenbeim a. b. fcergfrra§e,
©ueoia«93erlag.
gltta. 93on SWabel So Hin* unb . Hui bem Sngltfdjen überfe$t oon SWit*
gliebern ber Theosophical Society. (VÜI unb 350 »Seiten.) 3"9"l^f»,n
o. b. SBergfrrofje, ©ueöia«93erlag.
\?crmtfd>teu.
Die QBerbanblungen be* fünfjebnten eoangelifd)»fojialen Äongreffe*. (186 ©etten.)
©Ottings SBanbenboerf & SRupredfot.
@d)erj unb Srnft in ber 9ttatbetnam\ 93on Dr. SB. Qtbrend. (522 ©eiten.) Ceipsig,
93er(ag oon SB. ©. Seubner.
(Sin flciner ffulturfampf. «Bon (S. ©. (Sbriftaller. (VIII unb 59 Seiten.) 3ugenbetm
o. b. Söergftrafje, Sueoia-33erlag.
Ttntiferualidniud unb 5ttrd>e. Q3on £. @. ßbriftaller. (16 ©eiten.) Sugenbetm
a. b. SÖeraftrafie, ©ueoia'Uerlaa.
2Rene Sefel. (Sine Strofprebigt on bie flirre. 93on @. ©. (Sbrtftaller. (26 ©etten.)
3ugenbctm a. b. Söergftrafje, ©ueota^crlag.
QBei^nad)tcn 1904 erfdjien bei
©COrg ^üUcr, Verlag, OTütt^cn, £öniginftra&e 59
3folbe ^UtJ
3n feinftcr ^ugftattung o 2 farbigem 3)rutf
geb. 5.—, in V, Pergament geb. 6.50
SluS ben ja&Ireid)en begeifterten ^efpredjungen mögen biet nur einige
wenige <plat> ftnben:
ift ein tiefer unb gebilbeter ©eift, ber yter ju und rebet. SlUe*
in altem em 93ucb, ba$ jeber ©ebilbete mit 3ntereffe tefen unb bem er
mannigfache Anregung banfen wirb, jWcifclloö eine der luÖcutcitDÜctt
ftMoriamenfammlunflcn, Die je »on Statten ßcfdjricben tnoroen
iMfe*« SR. 9*. t>on 6tern in ber „SJeutfcben Söelt".
„<2Bo mir ben m^altreicben 93anb auffd)lagen, ift er feffetnb unb
fetnjtnnig; unerwartete unb ungewohnte ©d)laglicbter wirft er nacb ben
t>erfd)iebenften Oebieten. — 9*eid)e unb bauembe Slnregung bürfte jeber«
mann in ber eigenen, etnge&enben Ceftüre ber Sammlung ftnben; fte ift ein
Q3ucr;, ba$ man nidjt einmal burcblteft, fonbern §« petn man wie ju
einem gnien ftrrenn* lurürffdjrt." „Frauenberuf."
3)a$ fdjbne 33ucb oerbient eine ausführlichere 3öürbigung. <£ $ tarnt
ben Slp&ortemen ber (£bner-(£fcbenbacb jur Seite geftellt werben."
„6cbwäbifd)e $agwad>t."
IV
Seebad Misdroy
Dterraschend schone Lage am Ostseestrande,
= umschlossen von Hochwald und Bergen. =
Vorzügliche Einrichtungen für Kur
und Unterhaltung. Sandstrand mit
kräftigem Wellenschlag. Kühles
Sommerklima. Meilenweite staub-
freie Strand- und Waldpromenaden.
See-, Sol-, Moor-, kohlensaure
und andere Bflder; Sonnenbad.
Kurkonzerte täglich, Reunions,
Kinderfeste u. s. w., Tennisplätze,
Radfahrwege, Seefahrten. Vornehm-
behaglicher Aufenthalt für Familien.
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über Stettin und über Ducherow
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KOMÖDIE IN 5 AUFZÜGEN
Umschlagzeichnung von BRUNO PAUL
geh. M. 2. — , geb. M. 3. — .
Auf den dem Hefte bei-
liegenden Prospekt von
Georg Miller,
München, KOniginstrasse 59
erlauben wir uns unsere Leser
ganz besonders aufmerksam
zu machen.
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DIE PROPYLÄEN
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Tut thrr :il>oniifntfn POti t>rr „'.mind?™« .^fituttj" - «rfdffinl ]tbtn Dwnfla^ ümo ^rfita^.
Pru.f uiiö Dtrtag br$ inutvtynrr SttlUN^MircIdg, ©. tu. b. Ii. üfjujsptfis brt _2nün.i>rnrr
"rtnitt^" mi» „propiMrrr : in ntriiiiyn Hüft in &rn DorftiSöt*« Ulf l 95 pirrtrljdijdid}. 65 pfg.
monailidj; tuet bj» ^o'\ irior.atit* ffl fjfj, pkr»l;4lpfid| IUP. 2-10 (cJjne SuiteB^rbaijt).
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PIE MUSIK
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Herausgeber: Kapellm. Bernh. Schuster
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Sonderheft: AMERIKA
===== Ans dem Inhalt: =====
Felix Weingartner : Amerika. Eine zwanglose Plauderei
Henry T. Finck: Bedeutende amerikanische Komponisten
Arthur Laser: Musikleben in Amerika
Dr. Martin Darkow: Stephen C. Fosterund das amerikanische Volkslied
Dazu 10 Porträts mit 4 Muslkbeilag-en
Umfang: 100 Seiten * Einzelpreis: 1 Mark
Ende Mai erscheint das
Münstlerfestheft für Graz
== Ans dem Inhalt: ==
Dr. Ernst Decsey: Graz als Musikstadt
Dr. Paul Marsop: Die soziale Lage der Orchestermusiker
Carl Fr. Glasenapp: Richard Wagner als lyrischer Dichter
Die Analysen der auf dem Programm siehenden Werke
von: Liszt, Max Schillings, Willi. Kienzl, Hans Piitzner,
Max Reger, E. Jaques-Dalcroze, Ernst 1 Joe he, Otto Naumann,
Guido Peters, Julius Weismann, Paul Ertel u. a., sowie
die Porträts der Komponisten und ausführenden Künstler, und
eine Musikbeilage aus „Walhall in Not* von Otto Neitzel
Umfang: 100 Seiten * Einzelpreis: 1 Mark
Verlag Schuster & Loeffler, Berlin SW. II.
IV
DigitizedjDy.f^ygdf
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erfdjienen unb burd) alle 83ud$anMungen 311 bcjie^en:
Surf StiefoS SScrfc.
Bialvhtoit^tmtgen.
WtlV* mVfVSUU 3feue ©ebidjte in oberbaberiföer 3Runbart. 13.$luflage.
SUuftricrt Don $ugo (£ngl. ©rofc Dftaö. ffart. 3tt. 3.—, eieg. geb. 3». 4.—
^afcf« a SdinBtb!? SRcuc ©ebic^tc in oberbaö,erifdjer3Hunbart. 11. Auflage.
3ttuftriertöon§ugo@ngl. OJrofe Dftaö. #art. 2«. 3.— eleg. geb. 3tf. 4.—
Mm SltlttUlilKItfc'« SHeue ©ebicffte in oberbatjerifdjer 3Hunbart. 8. Auflage.
3auftrtertöon$ugo©ngf. ©ro&Dftaö. Äart. 3tt. 3.— , clcg. geb. 3K.4.—
& ^Odliett in fci* fcrg*. SHdjtungen in oberbaö,erifc6er 3Hunbart.
mit 25 ©ilbern in £id)tbrucf öon §ugo tfa uff mann. 3. Auflage. ©rofe
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Jlt &Bt SommBrfcipCft*» ©ebifye in oberbat>eriföer 3Hunbart. 3Hit
Jöilbern in fiicrjtbrutf öon $ugo Äauffmann. 2. Auflage, ©rofi Dftaö.
(Sieg. geb. mit ©olbfänitt 3E. 8.50.
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5üxfj(atlt»0liBt»er. II. Auflage, ©rofe Dftaö. (Heg. geb. 3tf. 5.~
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&U0 5rembB mtfc $ gtmat ©ermiidjte Auffäfce. 2. Auftage, ©rofe
Dftaö. ®e$. 3». 5.40, cteg. geb. 3K. 6.80.
^Urrft Krieg |Ultt Jrofcett. ©timmungäbitber au8 ben Sauren 1870
unb 1871. 2. Auflage, ©rofe Dftaö. ©e$. 3». 4.— , efeg. geb. 3K. 5.—
Bafut- unfc Ttbmabiibw aus ton Äljren. 2. Auftage. ©ro&
Dftaö. ©ef). SR. 5.40, clcg. geb. S». 6.80.
&eij*&in>*r au* ter^an^cn*!: Jett ©rofe Dftaö. ©leg. geb. 3R. 2.—
^PrEßCt ÜM Äarf ©tieler ber ba tyerifdje ^od)tanb$bid)ter. 3ttit einem
©itbniä beä $>uf)ter$, einer öibliograöljie fetuer ©djriften, foloic einigen
bisher ungebrueften ©ebid)ten unb ©riefen Statt ©tielerS. Dftaö. ©ef).
3)?. 2.—, efeg. geb. 3)?. 3.—
<£tne mobertte Dramaturgie
Prämatur gif d)e 93lätfer
Sluffä^e unb Gtubien au$ bem ©ebief e ber prafttföen Dramaturgie,
ber 9*egiehmft unb $£eatergefc$i$fe
öon
gugen Kilian
(Ein ftarfer Banb t>on über 400 Seiten gr. 8°
©efreftet 90t. 7.—, gebunben in fialbfrana 30*. 8.50
3nbalt: Die Mncbner Öbafefpeare^übne unb ibre QJorgefcbicbte. — Sbatefpeare auf ben
mobcrnen <33übnen. — S5er Sbatefpearifebe Monolog unb feine Gpielwelfe. — QSorfcbläge
$ur Aufführung be# Äbntg £ear. — 3ur Aufführung be< Sommernacht^ traumä. — 3«
93übneneinrid)tung ber SBiberfpenfttgen. — 9JJo| für 3Ra§ auf ber beutföen «Sübne. —
©oetbe* ©ö$ oon 93erli(bingen auf bem $beater. — Älcifti Scbroffenjteiner auf ber
93übne. — gjaimunb* ©efeffelte 'pbantafle in neuem inufWalifc&en ©etoanbe. — €ine
Oictturtq oon 93auernfelbS Fortunat. — ©rabbel 3)on 3uan unb ?auft auf ber 33abne.
— ättugemann* SJraufcbwetger ^b^aterieitung. — Sofepb 6cbre&öogel att £eiter bef
QSiener 93urgtbeatert. — Gcbuarb 3>eorient. — 9legiefünben. — S)er Äeroorrttf bei
6d)aufpieler«\ — 95om Sbeateraettet Sj.
3n bem Berfaffer biefe* 93ud?cä, bem langjährigen belannten ©cbaufpielregijfeur
am Karlsruher Softbeater bereinigt fieb ber prafrifcb gefebulie $b*oterfacbmann mit
bem toiffenfcbaftlicb gebilbeten Siteraten unb ^^eaterbiftorifer. 3>ie ^armomfebe Ber-
einigung tiefer beiben Elemente brüeft bem vorliegen ben Buche fein djarafterifhft^el
©epräge auf. Sluf ftreng ^iftorifc^xr unb literarifcber ©runblage toirb bie Bühnen»
einriebtung ^a^treic^er flaffifcber ©ramen, inäbefonbere pcqebicbencr gbatefpearifeber
(Stficte, in allen (Einzelheiten entroicfelt unb neben ber litcrarifeben öeite t>or allem
ben praftifeben fragen ber 3nfoenierung unb BübnenbarfteÜung mannet Sntereffe
jugeroenbet. 9ßeben t^eater- r^iftorif c^en Arbeiten fielen $luffä$e, bie fieb mit ben
©runbftügen ber mobemen 9\egiefübrung befaffen. Unter Bermeibung ermübenbet
abfrrafter Theorien febopft bie Darfteüung bei Buche* überall au* bem lebenbigen
puell ber (Erfahrung unb bei tonfteten Beifpielä. 3nbem im Eauf ber ^)arfteflunfl
beinahe fämtlicbe (Gebiete ber Bübnenfunft unb ber 9Regiefübrung geftreift »erben,
geftaltet fich ba$ Buch trofc ber Berfcbiebenarrigteit feine* 3nbalt* ju einet ' bunfr eine
aerotjTc ginbett aufammenge^Itenen mobemen Dramaturgie. (5m $eil ber Äüianfeben
Sluffäfte rnüpft an bie fünftlerifcben Unternehmungen bei Karlsruher AoftbeoterS im
legten Sabrdebnte an. 3)aburcb wirb bie ©onberftellung, bie bat? sESBS3(St ©ebau-
fpiel unter ber 3ntenbanj oon Gilbert Bürllin in bem beutfefcen $b*<*terleben entnahm,
bie ftcb bureb feinen au^gefprodjen literarifeben tyatalttx, burd; jablreicbe rocrtrclle
unb bebeutenbe fünft lerifebe ilnternebmungen auf bem ©ebiete ber Uafftfcben Citeratur,
bur$ bie 6elbftänbig!eit unb 93ornebmbett feines 9iepertoirccbara!terä funbtat, in ebenfo
objettioer roie juoerläfftgcr QBeife litcrarifcb feftgelegt unb bie babei geroonnenen (Er-
fahrungen unb 9Rcfuttate ber 5lUgcmcinbcit jugänglicb gemacht. G)ai ^erf roirb
nicht nur bei Bühnenleitern, Gehoufpiclcrn unb Cttcrarhiftorifern, Tönbern auch bei
allen ©ebübeten Beachtung finben.
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