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Full text of "Paedagogium"

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1 


Paedagogium. 


Monatsschrift 

rar 

Erziehung  und  Unterricht 

HezauBgegeben 
X>i".  X^"Vie<ii"icli  I>itte». 


17.  Jahrgang,  1882. 


Leipzig  and  Wien 
Verlag  von  Julius  Kliukhardt 
1882. 


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Mitarbeiter  des  vierten  Jahrganges. 


Friedrich  Aacher,  Ui^or  i.  P.  in  Leohen.  S.  288b 

K.  Bluhm  in  Leipzig.   S.  635. 

J.  Bruns.  Lehrer  in  Varel.   S.  72(5. 

Dr.  Friedrieh  Dittes.   8.  1.  59.  121.  183.  195.  19«.  819.  247.  294.  824.  361.  372. 

424.  499.  563.  ÖW.  643.  713.  786.  788. 
Dr.  0.  Dreader,  prakfe.  Ant  in  Breaden.  S.  fö. 
Dr.  Vietor  Emerici^,  Senünaidirector  in  Iglft.  8.  630; 

Joh.  FreiberuM'r,  L.  hrc  r  in  Weitcrsfold.    S.  234.  62&. 

A.  Friesicke,  Rector  in  Freieuwalde.    S.  h')H. 

Ä.  Goerth,  Schuldinctor  in  Innterburg.   S.  17.  151. 

A.  W.  Grube  in  Bregenz.   S.  483. 

Dr.  0.  Haufe.   8.  316. 

J.  Hnftchmidt,  Lehrer  in  Unna.  S.  306. 

Fraa  8.  Sioh,  SproeUefarerm  in  Bzealaii.  8.  774. 

Fard.  Kubiena,  Lehrer  in  MötUing.   S.  110. 

Th.  Lanilmann,  Rector  in  Schwetz.    S.  450. 

J.  Lapajne,  Schuldirector  in  Gurkfeld,   S.  12. 

F.  Mähr,  Prof.  in  Triest.   S.  573. 

Andzena  Xayer,  Lehrer  in  Wien.  S.  783. 

Hdnridi  Morf,  Seminordhreetor  in  Winterthnr.  8.  2.  76.  180.  404.  466. 

WüUbald  Nairl  iu  Wien,  a  44.  95.  639. 

Dr.  H.  Preiß  iu  Kiiniersberg.    S.  335. 

Dr.  Job.  R«  linik<-.  Pmf.  in  St.-(iallen.    S.  38!>.  453.  517.  685.  673.  737. 
Dr.  E.  Schatzmayer,  l'rof.  in  Triest.    S.  IM.  207. 
Frm  Schlinkert  iu  Wien.   S.  37ö.  438.  779. 
J,  A.  8ehnaii;  Tnt  in  Wien.  8.  191. 

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IV 

Dr.  Emil  Scherfig  in  Leipzig.   S.  696. 

Ediianl  Teilt  r,  Lt  lircr  in  Naumbvirg.   S.  577. 

Dietrich  The<ien  in  Hamburg.   S.  261. 

Franz  Tirak.  Srluilinspector  in  Oirnlin.   S.  513. 

Theod.  Vernalekeu,  Seuiinardirector  i.  P.  in  Graz.   S.  325.  621. 

Dr.  Georg  Voiyt  in  Aunaberg.    S.  229. 

().<kar  WaMrck.    S.  lt)7.  281. 

Dr.  J.  Wyrli^Tam  in  Leipzig.   S.  355. 

Überdies  mehrere  auoujme  aiitarbeiter  und  die  Fachreferentcn  des  „Literatur- 


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Inhalt. 


a.  Vach  der  Reihenfolge  verzeichnet 

Seite 

Ein  nothgedrungenes  Vorwort.   Dütes   1 


Ul)«.-rsie<lluni,'  der  Postalozzischeii  Anstalt  von  Biir^'doil:'  nacli  lliinclienlnK  lisee. 

76 

Die  Pflege  der  deutschen  Sprache  an  den  sloyenischeu  Volksschulen.  Lapajue. 

12 

17 

Uttsere  Bauernwelt  und  die  Studien  über  Sprache  uud  Weseu  des  Volkes.  Xagl    44.  95 

Wiener  Geschicliten.    Dittes  ....    59.  121.  183.  219.  294.  3C1.  424.  499. 

ÖÖ3 

65 

HO 

130 

183 

Die  Prilfuni^  und  Ausbildung  der  Lehrerinnen  in  Ostpreuften.    Goerth    .    .  . 

151 

180 

191 

Püliti;sche  Erziehung  

195 

i9r. 

Friedrich  EUckerts  GeUankeuljTik  als  Bildungäiuittel  fOr  höhere  Lehranstalten. 

229 

Wie  wir  uns  ein  Elementarlehrbnch  der  Geosfraphie  denken.   Freiberger   .  . 

234 

238 

Erziehunq-  zur  Arbeit   

247 

252 

Griiiidsutzo  zur  Beurtheilunu:  der  deutsthen  .Tugcndliteratur.    Theden     .    .  . 

261 

(iedanken  über  religiös-sittliche  Bildung  durch  die  Volksschule.    Hut'schuiidt  . 

mi 

316 

324 

Nieman  kan  heberten  kindes  zuht  mit  gerteu.    Ein  pädag.  Bedenken.  PreiÜ 

335 

Die  praktische  Vorbildung:  zum  höheren  Schulamte  auf  der  Universität.  Wychgram 

355 

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VI 

Soitc 

Stroitsätze  zur  (Tynmasialfraye  372 

Vulksbilduuysmittel.    Sthlinkert  375 

Der  Pessimismus  nnd  dift  Sittenlehre.    Rphmkft    .    .     389.  453.  517.  585.  fi73.  737 

Alis  deiii  SriiiiUflicii  ilcv  Scliwfi/.  M  ut   404.  4f>fi 

Eine  Baueriisliiiiiiic  über  ilit'  ScluiU'.    Schliukcrt  438 

Ein  Wiirt  über  dia  Rf>aaortvn  liältnisafi  der  höheren  Mäilplienschiilpii  in  Preiififtn. 

^  Landmann    .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  iäö 

Über  die  Blasirtheit.   Grube    .    .  .  .  ■    ■    ■  :  :  :  .  .  ..  ÜJÜ 

Die  Gymna.stik  iu  der  Volksschule.   Ti<*ak  513 

Über  die  Gesundheitspflege  in  der  Schule.    Friesicke  533 

ApliKrisiiiL'ii  ülx-r  ilcii  Lehrer.    ^Iäl>r  •")73 

Cultiir  und  .Scliiile  im  Kample  mit  der  rotheii  Ka.^se.    Tfller  577 

Erziehung  zur  Selhstthätigkeit  584 

Znr  Friihel-T.iteratnr  584 

Eine  gemeinsame  Mittelschule.   Vernaleken  621 

Wie   wir  uiiserft  Srlmlkiiider  y.iiin   T.ejüen   der  Landkarten  anleitan  nnk-hti»n. 

Freiberger   625 

Das  Pädayoyium  zu  Budapest.   Emericzy   630 

Lehrerprüfungen  in  Fraukreich.   Bluhm    635 

Ehre,  dem  Ehre  gebttlirt.   Nagl   639 

Zur  Überhürdnngsfrage   643 

Zur  Psyi  liuloi^ie  der  Geschlechtsdifferenz.    Seherflg   696 

L1)er  den  (ü-hriuich  von  Lehrbui lieru  in         V"lk--i  ljiiie!i.  L'illc'  .  .  ..  .  LIÜ 

Dt.T  jiuiiTC  Volksseiuillelirer.    Bruns   726 

Zur  Lehrerforthilduüg.   Player   733 

Ein  Wort  über  die  RessortverlKtItiiisse  der  höheren  MäiMu  nschulen  in  Preußen  762 

Antwortsclireiben  an  eine  junge  Lehrerin.   Kroh   773 

Volksthiinilichor  Stil.    S.  hlinkert   778 

Volkswirtsrhatt  iiu«!  Sucialpliilusophie    782 

Eine  alte  Ciiltiirkraiikheit   ,    786 

I'it-  beste  deutsche  Ciraiiimatik  ..  ,  .  .  ..  ..  .  .  .  .  ,  .  ,  .  ,  ,  liiB 

Snhliisswort                                                                                             -    -    -  7H8 


b.  Logisch  geordnet. 

l.  Zur  anthropologischen  Grundlegung. 

Zur  Psj'chologie  der  Geschlechtsdifferenz  696 

Der  Pessimismus  und  die  Sittenlehre   389.  453.  517,  585.  673.  737 

Über  die  Blasirtheit  483 

Modenie  Lichtstrahlen  65 

Über  den  Gottesbegriff  .    .  "  325 

Gedanken  über  den  Idealismus  der  Arbeit   197.  281 

Volkswirtschaft  und  Socialphilosophie  782 

Unsere  Bauemwelt  und  die  Studien  Uber  Sprache  und  Wesen  des  Volkes  .  44.  95 
Cultur  und  Schule  im  Kampfe  mit  der  rothen  Rasse  577 


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VII 

8citc 

II.  Zur  Geschichte  der  Erziehung  Uüd  dea  Unterrichtes. 
Überaiedluii::  der  Pestalozzischen  Anstalt  von  Bunydorf  nach  Mttnchenbuehsee.  2.  76 


Fröht'l-Jul.iläiiiü   1M(> 

Zur  Friil)^|.Lir<^mtiir  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  ,  .  ,  ,  .  .  .  .  .  .  äJÜ 

Eine  alte  Cultnrkrankheit  .   786 

Wiener  Geschichten  59.  121.  183.  219.  294.  361.  424.  499. 

Die  Pflege  der  deutschen  Sprache  an  den  sloveuischen  Volk-sschulen      ...  12 


III.  Zar  allgemeinen  Pädagogik. 

Nieman  kan  beherten  kindes  zuht  mit  gerten   535 

Über  den  Wert  der  Jugondspide   316 

Politische  Erziehung   195 

Erziehung  v.nr  Solbstthätigkeit   584 

Erziehuui?  zur  ArWit    247 

Über  weiblicheu  Erwerb  und  weibliche  Thätigkeit   238 

Über  Jugendlectüre  fllr  Mädchen  17 

Grundsätze  zur  Beurtheilung  der  deutschen  Jugendliteratur   261 

Volksbildungsmittel   375 

Ehre,  dem  Ehre  gebührt   639 

IV.  Über  Unterricht,  ünterrichtsaustalteu  und  Schulerziehung. 

Kindergarten  und  Volksschule   ....  324 

AiitwortschrL-iben  an  eine  juuge  Lehreriu   773 

Gnlanken  flher  religiös-sittliche  Bildung  durch  die  Volk.'tschule   .306 

i'l»r  >lie  (usiindheitsi)tlfye  iu  der  Vidk^.sclnil>'   ."j^H 

Die  Gymnastik  in  der  Volksschule   513 

Wie  wir  uns  ein  ElcniontarU  Iirbuch  der  Geographie  denken   '2'M 

Über  den  Gebrauch  von  Lehrbüchern  iu  den  Volk.HM  hulen   713 

Wie  wir  unsere  Schulkinder  zum  Lesen  der  Landkarten  anleiten  möchten    .  625 

Ana  der  .Schiilsfiihe  .  ,  ,  ^  ,  .  .  ,  .  .  ,  .  .  .   180 

Allniählich.    Eine  orthoirraphi^^ehe  Geschichte   252 

Das  gei.>tii,^e  Eli  iileUt  de.'^  S.itztüues   110 

Die  beKte  deutsche  Grainiimtik  ,  .  .  .  ,  ,  ^  .  ,  .  .  ,  .  .  .  .  ,  Ifift 

Friedrich  Rttckerts  Gedankenlyrik  als  Bildungsmittel  fttr  höhere  Lehranstalten  229 

Eiiip  'Raiionisfininie  über  die  Schule  ._  ._  ,  ,  ,  ,  .  ,  ,  ..  .  iM 

Zur  Behei'zigung   130 

VnlksthihnhVliPr  Stil    778 

Der  junge  VolksschuUehrer   726 

Zur  Lehri-rturtbiMuiii^r   733 

Aphorismen  ttber  den  Lehrer   573 

Die  praktische  Vorbildung  zum  höheren  Schulamte  auf  der  Universität  .    .    .  355 

Eine  gemeinsame  Mittelschule   621 

Streitsätze  zur  Gynmasialfrage   372 

Gj-mna-sium  und  Nationalität   164.  207 

Zur  itberbardungsfrage   643 


vm 

V.  Zur  Charakteristik  des  treffen wärtifren  Schulwesens;  Zeitgesefaichtliches. 
Die  Res.sort Verhältnisse  der  lirdii  rcn  MäiUhenschulen  in  Preußen    .   ,   .   4ö0.  762 

Die  Prüfuiiir  und  Ausbildung  der  Lehrerinnen  in  Uätpreußen  löl 

Aus  dem  Schuilebeu  der  Schweiz  -104.  ■4(5<> 

Dm  P&dagogiam  sa  BadA|^  630 

PSdAgogisehe  Tätigkeit  in  Fhuiknieh  133 

Lehrerprüfungen  in  Franbreieh  686 

Das  La&yette-Gollege  in  Baiton  191 


]Liitei*a.tiii*l>la/tt. 

AlpklbetiiDlieB  Vcrzoiehois  der  Aatoran  (mp.  Hernnagebcr  oder  Titel)  deijenigen  Werke,  welche  ist 
Vorliegeoden  Jahrgtsp  receanrt  siad.  Die  Zißem  beseichnen  die  NiuuDern  dei  Literatublattee. 

Arendt  12.  Ballauf  9.  Bechtel  4.  Berj^old  11.  Bernhardt  5.  Born  7.  Busch- 
mann 8.  Czekala  11.  Ditt.  s  8.  Dr.rpfeld  6.  Durmayer  12.  EffH  10.  Ehlers  8. 
Embiicher  10.  Filek  v.  Wittiiighauseu  4.  Frisch  4.  G<a.sser  1.  Uflbe  8.  Götzinger  11. 
Gude  2.  Gureke  2.  Hartiuger  4,  12.  Uchu  11.  Helmes  12.  Herbst  2.  Her- 
mann 13.  Herzog  ö.  Hirt  8.  Hofinann  4.  Huil^  10.  JSger  7.  Jonas  2.  Kehr  2. 
KiTdimann  3.  Knaver  6.  Kopp  5.  Kosenn  6.  Krause-Neiger  1.  Krones  1. 
Kunz  12.  Lazarus  2.  Lederer  8.  Leypold  0.  Liudner  9.  Ueinhold  12,  Molden- 
hauer 7.  Morse  10.  Neurath  4.  Pädagogisches  Jahrbuch  9.  Peter  12.  Plinius  12. 
Plötz  5.  Reinecko  3.  Reinheimer  10.  Rieniann  8.  Romenthal  10.  Rümmer  2. 
Sauders  7.  Schlitzberger  8.  Schreiter  1.  Schrüer  10.  Schnitze  ö.  Seyffardt  4. 
Siebeck  10.  Simmler  8.  Singer  9.  Spencer  ö.  Sydow  3.  Tempsky  11.  Thilo  1. 
ünger  6.  Vieter  9.  Vogel  2.  Voigt  8.  Walther  5.  WeUenhofer  8.  Wichmann  10. 
Wilbrand  8.  Wittstein  12.  Woenig  6.  WoUfiuth  3.  Wolff  11.  Worpitsky  7. 
Wttnsch  ö.  T.  Zenchwitz  7. 


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Ein  iiotligedrimgenes  Vorwort. 


Das  erste  Heft  des  neuen  Jahrganges  unserer  Zeitschrift  war  zur 
Versendung  fertig.  Ich  hatte  es  mit  einem  Artikel  unter  folgendem 
Titel  eröffnet:  „Wo  stehen  vir?  Ein  Blick  auf  die  Gegenwart." 
Es  war  kt  iiie  Lobrede  auf  unsere  Zeit  und  die  sie  heherrsrlu-iKipn 
Factoren,  das  ist  wahr;  vielmehr  hatte  ich  unverblümt  die  Gebrechen 
im  Cnltnrleben  und  Bildungswesen  unserer  Tage  geschildert.  Aber 
ich  war  uberzeugt,  der  Wahrlieit  ^^edient  zu  hal)en  und  lioütc  auf  den 
Beifall  aller  Freunde  derselben.  Da  vnirda  von  der  k.  k.  8taatjjan- 
waltschaft  in  ^\'ien  die  ganze  iiü'  Österreich  betjtimmte  Auflage  mit 
Beschlag  belegt.  Sofort  bereiteten  wir  ftir  dieses  Gebiet  eine  neue 
Ausgabe  ohne  den  genannten  Artikel  vor.  Aber  nun  kam  ein  weiteres 
Hindernis:  die  Nachricht  von  massgebender  Seite,  dass  auch  in 
Dentschland  die  unverkürzte  Ausgabe  des  Heftes  nicht  gewagt  werden 

Unter  diesen  Verhältnissen  entschloss  ich  mich,  den  inhibirten 
Artikel  einstweilen  ganz  zurückzuhalten  und  statt  seiner  einen  anderen 
aufzunehmen,  überdies  die  Disposition  der  ganzen  Nummer  theilweise 
zu  ändern. 

Im  Hinblick  auf  den  gebliebenen  werthvollen  Inhalt  des  Heftes 
hoffe  ich  noch  immer  auf  eine  günstige  Anftiahme  desselben,  und  im 
Übrigen  erwarte  ich  wol  nicht  vergeblich,  dass  die  geneigten  Leser 
unsere  schwierige  Situation  zu  würdigen  wissen  werden.  Wo  möglich 
werde  ich  den  einstweilen  gebundenen  Artikel  nachliefern,  jedenfalls 
aber  alles  aufbieten,  nm  unsere  Abonnenten  zufrieden  zn  stellen. 

WMen,  21.  October  1881. 

BIttcs. 


P«dafr'>Kiam.    i-  Jahrg.  Heft  1. 


1 


Obersiedlmig  der  pestalozzischen  Anstalt  von  Burgdorf  nack 

Hflnelieiibiielisee. 

Von  H.  Marf-WinUrthur. 

Die  helvetische  Gentnüregiening  sandte  bis  zu  Ihrer  Beseitigang, 
trotz  mehtfiMsheii  Wechsels  von  Personen  nnd  Systemen,  der  pestalozzir 
sehen  Anstalt  in  Bnrgdorf  stets  besondere  Anfinerksamkeit,  ja  Sorg- 
Mt  zn.  Getren  den  in  der  ersten  Emheitsverfinssimg  vom  Jahre  1798 
niedergelegten  Grundsätzen:  „Die  Anfklämng  ist  dem  Wolstand  vor- 
zuziehen; der  Bfiiger  will  die  moralische  Veredlung  des  Menschenge-' 
schlechts,"  beschränkte  sie  sich  nicht  auf  die  blos  moralische  Unter- 
stfltzuDg  des  IhstitatS)  sondern  liess  demselben  di^enigen  Vergünsti- 
guDgen  und  Geldmittel  zukommen',  die  das  BedQiftais  zu  erheischen 
schien.  Die  unentgeltliche  Überlassung  des  ins  Nationaleigenthum' 
aufgenommenen  Schlosses  Burgdorf  mit  den  dazu  gehörenden  Gärten 
an  die  Anstalt,  die  Lieferung  von  20  Klaftern  Brennholz,  die  Aus- 
setzung einer  Jahresbesoldung  von  Francs  1600  für  Pestalozzi  selbst, 
und  von  je  Francs  400  für  zwei  seiner  Gehilfen,  die  Gewähninp:  eines 
successiv  zu  erhebenden  Yorschusses  von  Francs  8000  für  den  Druck 
der  pestalozzischen  Elementarbücber  (bis  zur  Aufliebung  des  Einheits- 
staates waren  P^rancs  40(X)  wirklicli  bezogen  und  verabfolgt,  worden), 
die  Zusicliei  ung  von  Francs  öO  an  Rihlunprskosten  lür  je  einen  Zög- 
ling des  zu  errichtenden  Lehrerseminariunis  in  Burgdorf  etc.  waren 
bei  dt^i"  finuuzlelleu  Xothhige  des  Staates  sprechende  Zeuc^iisse  für  den 
Ernst,  mit  dem  die  oberste  Laudesl)eliörde  eine  ihrer  Hauptauljgaben: 
Förderung  der  Volksbildung,  aulfasste. 

Diese  Handreichung-  war  freilicli  fiir  die  pestalozzische  Anstalt 
eine  Lebensbedingung.  Sie  zählte  wol  UH)  und  mehr  Zöß-linqfe.  aber 
darunter  viele  mit  keiner  oder  nur  einer  ungenügenden  (Gegenleistung. 
Pestalozzi  musste  immer  nocdi  persönliche  Opfer  bringen,  um  sein 
Werk  im  Gange  zu  erhalten. 

Die  durch  Napoleon  bewirkte  politische  Umgestaltung  der  Schweiz 
bedrohte  nun  die  Fortezistenz  des  Institutes  in  hohem  Grade.  Die 


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—   3  — 


^ Vermittelungsacte  des  Ersten  Consuls  der  Friiiikischen  Re- 
publik vom  19.  Februar  IHOli"  wandelte  den  Einheitsstaat  in 
einen  19gliedrigen  Staatenbund  um.  Die  Verbimlung  war  eine  ziem- 
lich lockere.  Die  einzelnen  (Tlieder,  Oantone  geheissen,  ordneten 
ihre  Verhältnisse  selbstständig.  Die  Kauptaufgabe  des  Rundes  be- 
stand darin,  die  neu  eingesetzten  Gewalten  gegen  jeden  Angrift'  „eines 
Cantons  oder  einer  Partei''  zu  schützen.  Die  Centralbehr>rde,  Tag- 
satzang,  eine  zeitweilige  Vereinigung  von  Cantonsabgeordneten,  hatte 
fast  nur  Befugnis  zur  Gewährung  dieses  Schutzes,  im  übriiren  war 
sie  ziemlich  machtlos,  insbesondere  entbelirte  sie  des  gesetzlichen 
Rechts  und  der  Mittel  zur  Unterstützung  von  p]rzieliungs-  und  Unter- 
richtsbestrebungen. Das  NatioTuileigenthum:  Schlösser,  Domänen,  Wal- 
dungen etc.  fiel  an  die  Cantone  zurück,  So  kam  aucli  das  Schloss 
Burgdorf  wieder  an  den  Oanton  Bern,  das  VerfügungsrecUt  darüber 
an  die  Berner  Regierung. 

Die  durch  diese  Xapoleonische  Verfassung  neu  geschaffenen  poli- 
tischen Verhältnisse  traten  am  10.  März  1803  ins  Leben.  Aal  die. 
sen  Tag  masste  die  Centralregienmg  ihre  Schriften  und  Archive  dem 
Laadamniann  der  Schweiz^  zukünftigen  Präsidenten  der  Tagsatznng  — 
der  erste  (von  Napoleon  ernannte)  Landammann  war  Ludwig  von 
Affry  ans  Freibnrg  —  einhändigen  und  sich  dann  auflösen.  Zur 
Ordnnng  der  nenen  Verhältnisse  in  den  Cantonen  fing  ebenfalls  an 
diesem  Tage  eine  von  Paris  ans  ernannte  7  gliedrige  Commission  in 
jedem  der  19  souveränen  Staaten  an  zu  amten.  Die  bisherigen  Re- 
gierungsstatthalter in  den  verschiedenen  Bezirken  hatten  ihre  Geschäfte 
nnd  Schriften  in  die  Hand  dieser  Interimsbehörden  zn  legen.  Auf  den 
15.  April  waren  alle  Behörden  und  Beamten  definitiv  zn  wählen.  Auf 
diesen  Tag  um  trat  der  ganze  Begierungsapparat  in  Function.  Die 
erste  Versammlung  der  Tagsatzung  war  auf  den  1.  Juli  von  Napoleon 
befohlen. 

Dass  diese  Ckstaltnng  der  Dinge  f&r  die  pestalozzische  Anstalt 
in  Bnrgdorf  von  weittragenden  Folgen  sein  werde,  konnten  Pesta- 
lozzi und  seine  Fremde  sich  nicht  verhehlen.  Nicht  nur  stand  der 
Wegfiül  der  Besoldung  f&r  Pestalozzi  und  seine  Gehilfen  in  sicherer 
Aussicht,  man  musste  sich  auch  auf  die  Kttndigung  der  bei  der.  Cen- 
tralregiemng  contrahirten  Schuld  von  Francs  4000  gefiisst  machen. 
Im  Fernem  war  zu  hesorgent  dass  das  Schloss  Burgdorf,  welches  bis 
1798  Sitz  efaies  bemischen  Landvogles  war,  dem  neuen  Stellvertreter 
der  Kegierung,  Oberamtmann  geheissen,  wieder  als  Wohnung  ange- 
wiesen und  so  die  Anstalt  um  ein  anderes  Obdach  sich  umzusehei^ 

1* 


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genOthigt  werde.  Auch  war  die  Befürclitung,  der  eifrige  Patriot 
Pestalozzi  dürfte  bei  der  durch  Napoleon  zur  IltiTscliaft  g^elangten 
politischen  Richtung  nicht  gerade  viel  kSympatliie  finden,  nicht  ohne 
Grund.  Dennoch  glaubte  man  nicht,  sich  des  Ausseiften  versehen  zu 
müssen.  Man  hoffte,  dass  Verhandlungen  mit  den  neuen  Maclithabera 
zu  Ergebnissen  führen  würden,  welche  die  Fortexistenz  der  Anstalt 
sicherten,  wenn  auch  auf  die  Anerkennung^  der  von  der  abgetretenen 
Ccntralregierung  Pestalozzi  gegenüber  eingeganß:enen  Verpflichtungen 
über  die  Fortdauer  der  ßegimstigungen  nicht  sicher  geiechnet  wer- 
den durfte. 

Pestalozzi  suchte  zuerst  in  mündlichen  Unterredungen  mit  dem 

Amtsschultheissen  von  Bern  und  einzelnen  Mitgliedern  der  Regierung 

die  Ansiclitcn  zu  veniehmen,  die  in  den  massgebenden  Kreisen  von 

Bern  ihm  und  der  Anstalt  gegenüber  herrschen  mfkhten,  ohne  jedoch 

ins  Klare  zu  kommen.    Am  10.  August  180H  wandte  er  sich  in  einer 

„ehrerbietigen  Petition  an  Meine  Hochgeachteten,  Hochgeehrtesten 

Herren  des  Kleinen  Rathes  Bern,"  der  er  folgendes  Begleitscbreibeu 

an  den  Amtsschnltheiflaen  von  Wattenwyl  beilegte: 

»Insonders  hochgeachteter  Herr  Amtsschnltheiss! 

Seitdem  ich  mir  die  Freiheit  nahm,  mit  Ihnen  und  dnig^  aiuleni 
Gliedern  der  Eegierung  mit  derjenig-rn  ^Yt■}^muth  nnd  Beklemmung  über  m»  iiie 
Lage  zn  reden,  die  die  Möglichkeit,  das  "Wohnhaus  meines  jetzigen  Unterneh- 
mens Yträndeni  zu  müssen,  in  mir  hervorbrachte,  habe  ich  schon  mehr  als 
7  Mal  versucht,  eiu  Memorial  über  diese  Lage  an  M.  Hochgeachteten,  Hoch- 
geehrtesten Herren  des  Kleinen  Bathes  zu  yerfertigeu,  aber  zwischen  Ver- 
trauen nnd  Besorgnissen  sehwankend,  £uid  idi  die  Worte  nicht,  die  beides 
ßowol  d(  r  Ausdruck  meines  Herzens  sind  —  als  meine  Lage  mir  selber  be- 
friedigend daistcllrii.  Bald  fiirohte  ich  nicht,  was  ich  möglich  denke,  bald 
denkt'  ieh  nicht  möglich,  was  ich  fürchte.  Ich  konnte  über  nichts  zu  Worten 
kommen,  als  über  die  Daiieguug  meines  Hechts  und  über  die  Thatsacheu, 
auf  denen  dieses  Becht  rnht. 

„Ich  kenne  keine  Fonnen  in  Qlfentlichen  Schritten.  Verzeihen  Sie,  wenn 
darin  gefehlt  ist  und  genehmigen  Sic  die  Versichernng  meiner  Ehrfurcht,  sowie 
meine  ehrerbietige  Bitte  um  dero  holies  WolwoUen  für  meine  Untemehmong.^ 

Die  ^Petition'*  lautet: 

„Hochgeachtete,  Hochgeehrteste  Herren! 

„Ich  habe  anf  das  Fundament  gesetzIichei-BegierangsbeschlfisBe  nnd  unter 

Begünstigung  gesetzlicher  Begiemngsmassregeln  seit  4  Jahren  meine  Zeit, 
mein  Vennögen,  ich  möchte  sagen  meine  Existenz  zur  Verbesserung  eines  der 
wesentlichsten  Gegenstände  des  öflegtlichen  Wols  hingegeben.  Es  ist  offen- 
kundig: ich  musste  meine  Versuche  unter  allen  Hemmungen  der  Armuth,  der 
Verachtung  nnd  Hintansetzung  anfangen  und  zum  Theil  fortsetzen. 
Dabei  gestatteten  weder  mein  Alter  noch  die  Katar  meiner  üntemehmimg  bei 


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—  6  — 


meinen. Venmchen  langsam  und  sparsam  zu  Worke  zu  geboL   Ich  war  ge- 

nSthigt,  entweder  deiiVei-such  in  meiner  Hand  wie  eine  Seifenblase  verschwin- 
den zn  sehen,  oder  für  denselben  alles  aufs  Spiel  zu  setzen.  Ich  that  das  letz- 
tere. Mein  kleines  Eigentliuni  und  der  Wert  eines  Credits,  der  grösser  ist 
als  mein  Eigenthnm,  stecken  in  diesem  Versuch,  und  mit  dem  Stehen  oder  Fullen 
tetelben  stebt  oder  flllt  dann  die  Möglichkeit  de«  Ersatzes  eines  im  Dienste 
der  Heoschheit  Terloreiieii  Lebens,  den  ich  einer  bis  jetst  um  meinetwillen  ge- 
hemmten und  leidenden  Hansbaltang  schuldig  bin. 

^Ich  sehe  mich  also  ans  Gründen,  die  meinem  Herzen  heilig  sein  mfissen^ 
genöthigt.  in  Rücksicht  auf  den  Fortgenuss  der  meiner  Unternehmung  gesetz- 
lich zugesicherten  Vortheile  dif  Gerechtigkeit  Meiner  Hocligeachteteu, 
Hochgeehi'testen  Herren  elirerbietigst  anzusprechen,  und  nehme  bei  diesem  An* 
Ufls  die  Frdheit,  diese  ünternehmong  Dmen,  Hoehgeachtete,  Hochgeehrteste 
Herren,  in  dero  landesvftteiliches  Wdlwollen  zn  empfahlen,  womit  ich  die  Ehre 
Imhe  sn  eclOf 

Hochgesehtete»  Hochgeehrteste  Heuen 

Dero 

Burgdorf,  10.  Aug.         .  ergebenster  Diener 

1803.  Pestalozzi," 

Der  Kleine  Rath  wies  diese  Petition  an  das  Kirchen-  und  Schiü- 
departement  mit  der  Einladung,  ein  Gutachten  darüber  abzugeben,  „in 
wie  fem  diese  Anstalt  nützlich  and  ob  und  in  urie  weit  einzutreten 
flei.*"  £ine  rasche  Erledigang  war  also  nicht  zn  erwarten.  Unterdessen 
richtete  Pestalozzi  auch  eine  Elingabe  an  die  in  Freibarg  yersam- 
melte  eidgenössische  Tagsatzang,  um  zn  yemehmen,  wessen  er 
ach  von  Seite  der  obersten  Landesbehdrde  za  yersehen  habe: 

„Hochgeachtete,  Hochgeehrte  Herren! 

„Indessen  ich  mit  Rülirnng  und  Dank  gegen  Gottes  Vorsehung  meine  Be- 
mflhnngen  für  den  Etemeotanuttefiicht  anf  einem  Pmikt  sehe,  der  auf  der  einen 
Seite  über  die  entschiedensten  Besoltate  desselben  keinen  Zweifel  fibrig  Usst, 

snd  auf  der  andern  Seite  mir  die  nöthigen  Mittel,  das  Werk  meines  Lebens  in 
je<lem  Lande,  dem  icli  meine  "Dienste  anbieten  wollte,  unbedingt  sieher  stellt, 
finde  ich  mich  verpflichtet,  Ihnen,  luciiie  hocligeachteten  Herren,  mit  Offenheit 
zn  gestehen,  dass  die  Bedürfnisse,  die  noch  erforderlicii  sipd,  um  in  denselben 
mit  Sicherheit  za  meinem  endlichen  Ziel  za  gelangen,  nicht  klein  sind,  sondern 
im  Gegentheil  die  Kiftfte  meiner  Privatlage  weit  übersteigen.  Es  ist  nnom- 
gänglieh:  ich  mnss  an  dem  Orte,  an  dem  ich  für  diese  Endzwecice  meine  letzten 
Kräfte  verzehre,  des  Willens  und  der  Mitwirkung  der  Regierang  zor  all- 
mäligeu  Einführung  meiner  ^fetliode,  und  ilirer  Sorgfalt,  mich  die  gerechten 
Vortheile  meiner  theuer  erkauften  Erfindung  geniessen  zu  lajisen,  versichert 
sein.  Ich  kann  und  darf  mich  nicht  in  die  Lage  versetzen,  zu  gefahren,  den 
Ueinen  Überrest  meiner  Tage  anter  onnöthigem  Drnck  nnd  anter  Hemmungen, 
denen  ich  mich  zn  entzielien  weiss,  mir  selbst,  den  Heinigen,  dem  Vaterlande 
nnd  —  ich  darf  es  ohne  Unbescheidenheit  sagen  —  auch  der  Welt  zu  ver- 
lieren. Ich  soll  und  da^  mich  nicht  in  die  Lage  setseni  durch  nnndthige  Mflh« 


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Belig-keitpii  erdrückt  zn  werden  zum  Lohn  der  Aufopfernngren.  mit  welchen  ich 
meine  Xer.suchc  dnrcliir»"<t'tzt  habe,  noch  tief  verschuldet  zu  sterben  und  am 
I^aud  eines  solchen  (.irabe«  noch  für  die  XichtvoUeudung  ausgehöhnt  zu  werden, 
während  die  Vollendung  in  der  Hand  meines  Muthes  ist,  wenn  ich  nur  will. 

„Hochgeehrte  Herreiil  Ich  habe  die  Maherigen,  die  kostspieligen  und  ge- 
f ahrvollen  Massregeb,  mdner  Unternehmung  unter  geeetssUcher  Begtlnstigimg 
der  abgetretenen  helvetischen  Eegierung,  weldie  mir  fiir  die  Zukunft  wesent- 
licht'  KntscliUdigungen  fiir  nK  iiic  Aufopferungen  zugesichert  hUttc  gfewaprt.  und 
valulich  aus  Liebe  zum  \'aterland  und  im  hohen  Fühlen  seiner  allgemeinen 
diestalligen  Zurücksetzung  and  des  dai'aus  entsprungenen  allgemeinen  Bedürf- 
nisses gewagt. 

„Ich  genoes  von  dieser  Begiemng: 

1)  eine  Pension  von  Frcs.  1600  nnd  zwei  von  meinen  Lehrern  jeder  eine 
solche  von  Frcs.  400; 

2)  ein  mir  gesetzlich  zugesichertes  Loc^l,  auf  dessen  Einnchtnng  mehrere 
100  Louisd'ors  verwendet  wurden,  nebst  anderen  \  ortheilen.  wie  Holz  etc. ; 

3)  sie  gab  mir  ein  Privilegiuni  für  den  Alleinverkauf  meiner  Schriften, 
bis  auf  10  Jahre  nach  meinem  Tode,  im  ganzen  Umfange  der  Kepublik; 

4)  fsmer  die  Znsichening  ihrer  Hltwirkmig  für  den  Verkauf  nnd  die  Ans- 
breitnng  meiner  Bücher  in  diesem  Umfimge; 

5)  sie  vereinigte  mit  meiner  Anstalt  die  Organisation  eines  allgemeinen 
schweizerischen  Lehrerseminai-iunis.  um  die  Vortheile  meiner  Thätigkeit 
meinem  \'aterlande  allgemein  sicher  zu  stellen; 

6)  und  endlich  erkannte  sie  noch  ein  Darlehen  von  Fics.  8000  fiir  den 
Druck  meiner  Elementarbücher,  wofür  ich  wiiklich  die  Hälfte  em- 
pfangen habe. 

„Unter  diesen  ümstBndenf  hochgeachtete  Herren  I  worden  mir  auf  der  einen 

Seite  Aussichten  eröffnet,  meinem  Vaterlande  in  dem  wichtigsten  aller  seiner 
Bedürfnisse  wolthätig  und  wirksam  Handbietung  leisten  zu  können,  auf  der 
andern  Seite  konnte  ich  unter  diesen  Umständen  ohne  (Gewissenlosigkeit  gegen 
die  Jleinigen  und  mit  Walirscheinlichkeit,  wenigstens  nach  meinem  Tode  eine 
Art  von  Ersatz  für  die  Aufopferung  meines  Lebens  zu  linden,  in  meiner  Unter- 
nebmong  handeln,  wie  ich  bisher  in  derselben  gehandelt  habe. 

*  ,,8ollten  mir  ab^  jetit  die  Pensionsgelder  wegfhllen,  das  Frivileginm 
dni'ch  den  Hangel  anTheilnahme  derBegiernng  an  der  Einführung  der  Methode 
vortheillos  gemacht,  die  Wirksamkeit  memer  ThJltigkeit  durch  das  Stillstellen 
eines  alliremeinen  Scluilnieisterseniinariums  geUihmt  nnd  die  Frcs.  4(K)U  ohne 
L'ii(  k>iclit  sowoi  auf  berührte  Umstände  als  auf  den  Nichtempfang  der  ganzen 
Summe  von  Frcs.  8000  zurückgefordert  werden,  so  würden  alle  Beschlüsse,  die 
die  abgetretene  Begierung  zur  Sicherstellnng  meiner  üntemehmnng  anagefer- 
tigt, zn  meinem  entschiedenen  Rain  nnd  dahin  wirken,  einen  nng^ficklicfaen 
Mann,  der  bis  an  sein  nahendes  Grab  unter  allen  Leiden  der  Armnth  nnd  der 
Verachtung  sich  seinem  Vaterlande  aufopferte,  aus  demselben  zu  verbannen. 

..Hochgeachtete  Ilen'en,  es  wäre  njrlit  andeis  möglidi!  Wenn  ich  die  Vor- 
theile alle  verlieren  sollte,  unter  d«  leii  Zusicherung  ich  die  Vorschüsse  und 
Aufopferungen  allein  macheu  konnte,  die  ich  gemacht  habe,  so  müsste  ich,  so 
weh  es  mir  thnn  wttrde,  sowol  nm  der  Sache  selber  willen,  der  ich  lebe»  als 
nm  des  Rechts  wülen,  das  dieUeinigen  an  mich  nnd  an  denOennss  der  Folgen 


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—   7  — 


raeiuer  Lebensarbeit  haben,  notliwendip  iiRiiirn  Autmtlialt  in  einem  Lamle 
Sachen,  wo  der  Genuas  dieser  Arbeit  durch  die  Theünalime  der  Regierung  au 
aeineii  Endzwecken  nnd  durch  Masnegeln  nnd  Handlnngen  gedeheit  wflrde» 
die  denen  wenigstens  g^eleh  sind,  nnter  denen  ich  meinUnteraehmen  in  meinem 
Yaterlande  angefangen. 

,^it  warmer  Vorliebe  zn  meinem  Vaterlande  bitte  ich  Sie,  hochgeachtete 
HeiTen,  mit  Wolwollen  ein  Auge  auf  die  J/,\s:*'  zu  werfen,  in  der  ich  mich  be- 
finde und  mit  Aulnu  rksamkeit  auf  die  \Ortlieih',  die  dem  Vaterlande  durch  die 
Volieudang  meiner  Versuche  zntiiessen  müssen  nnd  denselben  auch  nur  einen 
.Theil  derjenigen  Handbietnng  nndünterstHtKong  augedeihen  zo  lassen,  die  ich 
für  dieselben  aUenthalben  mit  der  grOssten  Leichtigkeit  finden  wHide,  aber 
nirgends  als  in  meinem  Yaterlande  anzunehmen  wünsche  nnd  nnr  im  traurigen 
Nethfall  in  irgend  einem  andern  Lande  annehmen  werde. 

Bargdorf,  den  12.  Aug.  1803.  H.  Pestalozzi." 

Die  Tagsatznng  nahm  PestalozzTs  Zuschrift  nicht  nnfreimdUch 
auf, 'trat  ungesäumt  in  deren  Berathnng  ein,  deren  Resultat  frdlich 

nicht  auf  einen  Beschlnss  zu  directer  Unterstützung  Pestalozzi's 
hinauslaufen  konnte.   Es  wurde  unterm  23.  Auj^ust  180H  erkannt: 

1)  „T)a  nach  den  Grundlagen  unserer  Verfassung  keine  allgemeine  Staats- 
haushaltung existirt,  so  können  Beiträge  zu  Unterstützung  dieser  Lehr- 
anstalt nnr  dnrdi  die  Cantone  adbtten,  sei  es  durch  directe  Geldnnter- 
statznngen  oder  dnreh  Hinsendnng  von  ZSglingen,  die  zn  Schnlmeistem 
gebildet  werden  sollen,  geschehen. 

„Diesem  zufolge  wird  der  Laudammann  der  Schweiz  ersucht,  den  ver- 
schiedenen Cantonsregiernngen  hiervon  Kenntnis  zu  ertheilen,  damit  selbe 
mit  mög-lielister  Beförderung  ihren  daherigen  Kntscliluss  deui  Herrn 
L;mdammann  mittheilen  mit  dem  Wansche,  dass  das  Bedürfnis  besserer 
Sdinlanstalten  In  verschiedenen  Gegenden  der  Schweiz,  der  Wert  der 
Lehranstalt  in  Bnigdorf  nnd  die  Achtung,  die  das  Ausland  der  Lehr- 
methode des  Herrn  Pestalozzi  trSgt,  von  den  Cantonsregiehmgen  in  be- 
hörende Betrachtung  gezogen  werden  möchten." 

2)  ..In  Betreff  der  ferneren  Bewolmung  des  Schlosses  Pnrtrdorf  hat  sich 
HeTT  Pestalozzi  an  die  Regierung  des  Löblichen  (  antons  Bern  zu 
wenden,  und,  gleich  wie  die  von  gedachter  Regierung  ertheilte  lle- 
günstigung  den  ToUsten  Dank  verdient,  so  berechtigt  selbe  zngleli^  zn 
der  angenehmen  Hoffnung,  dass  die  Begiernng  des  Cantons 
Bern  noch  ferneres  dieser  Lehranstalt  das  bewohnende  Local 
fiberlassen  werde." 

3)  „Der  ausschliessende  Verkauf  seiner  Sclmften  ist  Herrn  Pestalozzi 
von  der  alijretirtenen  Kegierung  zugesagt  worden,  und  auf  diese  He- 
günstiguug  liiu  hat  er  deren  Herausgabe  veranstaltet,  welche  des  nahen 
auch  bestens  gegen  nneilanbten  Nachdruck  sieher  gestellt  werden  soll, 
welchem  zufolge  die  Gaatonsregiemngen  ansschliessend  den  Verkauf  der 
von  Herrn  Pestalozzi  veranstalteten  Herausgabe  gestatten  nnd  jeden 
Nachdruck  strenge  unterdrücken  und  bestrafen  werden,'' 

4)  „In  Betreff  der  von  der  helvetischen  Kegieroug  der  Lehranstalt  ange- 


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liehenan  Samme  von  4000  Frcs.  wird  der  LiqnidationacommiHioa  toeh 
Mittheilnng  gegenwftrtigenBeschlüineB  bestens  empfohlen,  bei  der  Gene- 

ralliquidation  der  Nationalsclmld  deivjenigen  Cantonen,  welche  freiwillig 
znr  Tilgung  der  Pestalozzi'schen  Schnld  lieitragen  wollen,  verhältnis- 
mässige Anweisungen  auf  diese  4000  Frcs.  zu  erthoileii." 
5)  „Der  Herr  Landammann  der  Schweiz  ist  ersucht,  dem  Heirn  Pestalozzi 
Bowol  von  diesem,  dem  Abschied  einzuverleibenden  Beschluss,  als  auch 
von  den  erhaltenden  Entschlüfiseu  der  Cantonsregierungen  fiber  fernere 
.  BeitrSge  Kenntnis  zn  ertheflen.** 

Die  Worte,  mit  denen  der  Landammanu  der  Schweiz  die  Mit- 
theilung dieses  Beschlusses  au  Pestalozzi  begleitete,  wareu  tVeundlicli 
und  anerkennend: 

„Ihre  Denksclirift,  wodurch  »Sie  der  Tagsatzung  die  Frage  vorgelegt  haben, 
oh  und  wie  weit  die  jetzig«  schweizerische  Regierung  geneig:t  sei,  dem  neuen 
Eiemeutaronterricht,  dessen  Ertinder  Sie  sind,  Unterstätznng  angedeihen  zu 
lassen,  wurde  von  den  LSbL  Ehrengesandtwshaften  mit  jener  lebluiften  EmpAn* 
dang  behersigt,  welche  dieselben  jedem  gemefamfitEigen  und  wiehtigea  Unter- 
nehmen K^en.  Es  gereicht  mir  zu  besonderem  Vergnügen,  Ihnen,  mein  Herr, 
anzeigen  zu  können,  dass  hei  der  hierüber  gepflogenen  Berathnng  llirer  Ver- 
dienste um  unsere  Jugend,  um  das  X'aterland  und  um  die  Menschlieit  volle  Ge- 
rechtigkeit widerfahren,  und  dass  demnach  der  einstimmige  Wunsch  geäussert 
worden  ist:  es  möchten  die  schweizerischen  Cantonsregienmgen  durch  billige 
Beitrflge  die  neue  Methode  und  ihren  Erlinder  in  iuuenn  Vuteilande  festiu- 
halten  Sachen.  Der  beiliegende  Beschluss,  welcher  den  bemeldeten  Begiemngen 
circulariter  mitgetheilt  werden  soll,  wird  Ihnen,  mein  Herr,  ein  angenehmer 
Beweis  dieser  liberalen  Gesinnung  sein. 

Meine  Wünsche  und  meine  vorzii;rliclie  Achtung  hegleiten  Sie  auf  der 
mühsamen,  aber  eluenvollen  Bahn,  welche  Sie  sich  ausersehen  liaben." 

Durch  Oircular  vom  81.  August  1803  ladet  der  Landammann 
unter  Beifügung  des  Tagsatzungsbeschlusses  die  kantonalen  Regie- 
rungen „zur  Würdigung  und  Beherzigung  der  Talente  des  Lehrers 
aowol  als  seiner  Erziehungsanstalt''  ein  und  bittet  um  beförderiiohe 
Bflckäusserungen.  Die  angesprochoien  Antorit&ten  .beeilten  sich  nicht 
sehr.  Solothurn  z.  B.  fi«gte  zuerst  yertranlich  die  übrigen  Begie- 
mngen, was  sie  zu  thun  gesonnen  seien;  es  wolle  das  Seine  beitragen, 
wenn  es  sich  aus  den  erbetenen  Mittheüungen  überzeuge,  dass  nicht 
durch  einen  „einseitigen  Beitrag  der  Zweck  der  vorhabenden  Unter- 
stützung yerfahlet  werde." 

Noch  am  1.  Februar  1804  musste  die  Mehrzahl  der  Regierungen 
von  Freiburg  aus  zur  Vernehmlassung  aufgefordert  werden. 

Von  der  Pestalozzi^schen  Schuld  von  Fres.  4000  übernahmen: 
Zürich  Frcs.  1000,  Waadt  Frcs.  483,  Aargau  Frcs.  400,  St  Gallen  . 
Frcs.  320,  Thurgau  Frcs.  200,  Schaffhausen  Frcs.  160,  Zug  Frca  20, 


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die  übrigen  12  Cantone  betheiiigtoa  sich  nicht  Der  Best  von  Frcs. 
1417  blieb  ungetil^. 

Da  die  Tagsatzung  Pestalozzi  wegen  des  Burgdorfer  Schlosses 
an  die  Regierung  von  Bern  wies  und  „die  angenehme  Hoffnung  aus- 
brach, diese  werde  femer  der  Lehranstalt  das  bewohnende  Locale 
überlassen",  säumte  der  also  Aufgeforderte  und  Ermimterte  nicht  lange, 
eine  spedell  auf  diesen  Punkt  zielende  Anfrage  an  die  Gantonsregie- 
rang  zu  richten,  obgleich  anf  die  mehr  allgemein  gehaltene,  ziemlich 
dner  Verwahmng  gldchende  „V^iitiitm^  vom  10*  August  noch  keüie 
Antwort  eingegangen  irar.  Diese  Eingabe  sandte  Pestalozzi  an  den 
in  einem  Privathanse  in  Bnrgdoif  wohnenden  Oberamtmann  von 
Stftrler  mit  der  Bitte,  dieselbe  an  die  Begiernng  zn  Ikbermitteln.  Sie 
ist  Ton  einer  frischeren,  freieren,  fröhlicheren  Stfmmnng  getragen,  als 
jene  „Petition"  nnd  die  Zosehiift  an  die  Taj^aatEong.  Pestalozzi  lebt 
wieder  anf  in  festem  Glanbfia  an  sehie  Mission  und  „in  der  Holfirang 
anf  wenigstens  theOwose  Fortdauer  bisher  genossener  Haadbietuig". 
Er  irrt  nur  in  der  Yoraiissetiiuig,  dass  die  Adressaten  yoii  eben  der 
Begeistenmg  fttr  Volksbfldnng  beseelt  seien,  wie  er.  Diesen  lagen 
frdüch  ganz  andere  Dinge  am  Herzen.  Wenn  auch  das  etwas  ein- 
gehende Schriftstfick  nicht  gerade  Neues  Uber  die  Lage  des  Institutes 
bringt,  so  lUsst  es  dodi  einen  Blick  thun  üi  das  Innere  des  edlen 
Hannes,  der  nur  von  Gedanken  an  das  Wol  der  Menschheit,  der 
Jagend,  der  Annen  lebt  und  beglückt  ist.  Es  soll  darum  dem  Leser 
in  seinem  ganzen  Um&nge  vorgelegt  werden: 

Hochgeaehtete  und  Hochgeehrteste  Herrenl 
i^Da  der  Erfolg  meiner  Versnche,  vorzüglich  in  RQcksicht  auf  die  Mittel, 

das  Wissen,  Wollen  und  Thun  der  Menschen  in  grössere  i'ljereinstininiung 
zu  bringen,  und  dadurch  der  Volksbildung  allgemein  sichere  und  allgemein  be- 
mliigende  Fundamente  zu  ertlieilen,  immer  wichtiger  wird,  und  jetzt  wirklich 
bei  den  sorgfältigsten  und  einsichtsvollsten  Kegierangen  und  Particularen,  ick 
daif  es  wol  sagen,  eine  betaiahe  aUgemeine  AnfinerkBamkeit  nnd  Theilnahme 
erregt  hat,  so  wird  mebie  Lage  ebenso  mit  jedem  Tage  wichtiger  und 
cdiwieriger,  indem  ich,  ohne  dass  ich  es  gesucht  habe,  in  der  bestimmtesten 
Pflichtstellung  mich  befinde,  nichts  zn  vei-sänmen,  was  noch  in  meinem 
Leben  zur  Erheitening  dieser  der  Welt  alljreniein  wichtigen  Gesichtspunkte 
etwas  beitragen  kann.  Da  nun  aber  ohne  ökonomische  un<l  häusliche  Beruhi- 
gung auch  das  Äusaerste  meines  Strebens  nach  diesem  Ziele  mir  keinen  be- 
nüiigenden  Erfolg  versprechen  kann,  so  fordert  die  Wichtigkeit  beides  meiner 
Zwecke  ond  metaierSteUiuig  mich  dringlich  auf,  diesfalls  alle  Schritte  an  meiner 
^dkerheit  zu  thun. 

„Ich  habe  auch  in  dieser  Rücksiclit  schon  vor  einigen  Wochen  Ihnen, 
Bctneo  hochgeacbten  und  hochgeehrten  Herren  und  später  der  lüblicUen  eidge- 


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nössischf^n  Tatrsatznne:  in  Fniluirg  das  Selnvit- 1  ii^e  und  Bedenkliche  meiner 
gegeü  wärt  igen  Liige  darzustclleu  gesucht.  Das  Antwortschreiben,  das  ich  von 
Sdner  Ezcellena,  dem  Herrn  Landammann  der  Schweiz,  empfangen  habe,  er- 
regt auf  der  einen  Seite  in  mir  die  Hd&uingr,  die  löbliclien  Gantone  der  Eid- 
genossenschaft werden  mein  Unternehmen,  das  iiunmelir  bei  den  edelsten  Men- 
schen 60  viele  Uoitiiangen  r^  gemacht  hat,  nicht  ohne  ihre  Theilnahme  und 
nicht  oline  ihre  Handbietuniar  in  ihrer  Glitte  einem  tranrijsren  Schicksalo  über- 
lassen, auf  der  andern  Seite  erimieit  mich  die  von  jenem  Schreiben  begleitete 
Besolutiou  der  helvetischen  Tagsatzung  an  die  l'tlicht,  Ihnen,  meine  hochgc- 
aditeten  nnd  hochgeehrtesten  Herren,  ehrerbietigst  fOr  die  Vetgttnstigungeu, 
welche  ich  in  RttckBicht  anf  mein  Unternehmen  bis  jetct  Ton  Hochdenselben 
genossen,  m  danken  nnd  dabei  ehrerbietigst  nnd  bittlich  bei  Hochdenselben 
anzufragen: 

1)  Ob  ich  mich  tur  meine  Lebensjahre  oder  wenigstens  fiir  eine  gewisse 
bestimmte  Anzald  Jahre  des  unentgeltlichen  Aufenthaltes  in  hiesigem 
Schlosse  versichert  halten  dürfe? 

2)  Ob  meine  hochgeachteten,  liochgeehrtesten  Herren  gendien  wollen,  die 
nothdtritige  Unteihaltnng  'des  Schlosses  wie  vorher  anf  dero  Beohnung 
geschehen  zu  lassen? 

3)  Ob  Hochdieselben  ebenso  geruhen  wollen,  mir  das  Ueneficium  der  Be- 
h(dznng  und  der  Pünten  (Gürten  und  Püauzplätze),  die  ich  benatze, 
forthin  unentgeltlich  angedciiien  zn  lassen? 

„Hochgeachte,  hochgeehrte  Herren!  Meine  Lage  ist  theils  in  Rücksicht  auf 
meinen  Zweck,  theils  in  Rilcksicht  anf  mehie  Wirtschaft  von  einer  Natnr,  dass 
ich  ohne  Veiletzang  meiner  heiligsten  Pflichten  nicht  weiter  in  einer  schwanken- 
den Ungewisdieit  über  die  Fundamente  derselben,  meine  Zeit,  mein  Vermögen, 
mein  Zutrauen,  meine  Ehre  nnd  selbst  mehne  Endzwecke  auf  ein  unsicheres 
Spiel  gesetzt  sehen  darf. 

„Noch  ist  der  ^n(i;?sere  Theil  meines  Vrtlkseizieliungsphines  ]jei  weitem 
nicht  einmal  tlieoretisch  vollendet,  und  dann  wartet  meiner  noch  ein 
grösseres  Tagewerk.  Ich  nfthre  den  unauslöschlichen  Wnnsch,  den 
Abend  meines  Lebens  in  einem  Versnche,  Tanner-  (Kleinbauern-) 
nnd  Banernkinder  aus  der  bedürftigsten  Volksclasse  auf  meinem 
Gute  ganz  in  der  einfachen  und  beschränkten  Arbeitssphäre  ihres 
Standes,  aber  ziiirleich  im  Genuss  des  ganzen  Einflusses  meiner 
Methode  auf  ihren  (ieist  und  auf  ihr  Herz  erziehen  zu  lassen,  und\on 
diesen  Kindern  umgeben,  meine  Augen  au  dem  Orte  zu  schliessen,  an  welchem 
ich  ehi  halbes  MenscheniUter,  wahrlich  um  eb^  dieser  Zwecke  iMUen,  in  namen- 
losem Elend  lebte.  Es  ist  mir  durch  meine  jetzigen  Versnche  gdungen,  mir 
die  wesentlichen  Mittel  dieses  für  die  Menschheit  so  wichtigen  Zweckes  und 
selber  das  Personale  sicher  zu  stellen,  das  mir  mit  Freuden  bis  an  mein  Grab 
dazu  die  Hand  bietet  und  nach  demselben  diesen  Zweck  nicht  aus  den  Aug«& 
lassen  wird. 

„Ich  traue  zu  Gott,  er  werde  mich  nicht  sterben  lassen,  bis  ich  duich 
unwidersprechllcfae  Thatsachen  bis  zur  VoUendung  bewiesen,  dass  riditige  Bil- 
dung des  Geistes  nnd  hohe  Eriiebnng  des  Herzens  mit  einer  wahrhaft  christ- 
lichen, gottergebenen  Deakr  und  Handlungsweise,  eome  mit  allen  bescheidenen 
Tugenden,  die  man  mit  Becht  Ton  dem  armen  nnd  niedern  Manne  im  Lande 


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—  11 


zu  erwarten  hat,  vereinbar  ist.  Ich  trnne  os  (iott.  er  werde  mich  nicht  sterben 
lassen,  bis  mein  Glaiibe  an  die  Müplichkeit.  dem  Armen  im  Land  an 
Leib  und  Seele  mehr  Haudbietnng  leisten  zu  küuueu,  al»  mau  bis- 
her geglaubt,  ausser  allen  Zweifel  gresetztJst! 

sfHoebgeaditete,  hoehgeehrtesteHerreii!  Man  hat  sieh  in  demllmfangr 
meiner  Zwecke  ganz  goirret,  indem  man  ohne  Ursache  angenom-  • 
men,  sie  beschrilnken  sicli  anf  eine  mechanische  Erleichternng  der 
Ii lossen  Element  arfertigkeiten  des  Lesens.  Schreibens  und  Rechnens, 
NeinI  Meine  Versuche  beschrilnken  sich  nicht  liierauf,  sie  greifen 
tief  in  das  Wesen  der  höheren  iutellectuelleu  und  sittlichen  Bil- 
dung nnd  in  die  tiefsten  Untersnehnngen  Uber  die  Hensehennatnr 
8 elber.  Das  Ausland  erkennt  dieses  Eingreifen  nnd  wlU  das  Wesen  meiner 
Unternehmung  mit  fester  Hinsicht  auf  dieses  Eingreifen  untersucht  wissou 
Wenn  aber  diese  so  wichtige  Untersuchung  ein  befriedigendes  Resultat  hervor- 
brineren  soll,  so  ist  es  unumgänglich,  dass  die  Regierung  des  Landes,  in 
welchem  dieselbe  geschehen  muss,  diese  Versuche  mit  ihrem  Wolwollen  beehre 
nnd  begünstige.  Und  da  das  Schicksal  meines  Lebenszweckes  und  mit  ihm 
auch  das  Schicksal  der  geliebten  Heinigen  von  diesen  Untersnehnngen  und  von 
den  Handbietungen,  die  sie  zur  Folge  haben  werden,  abhftngt,  so  hAngt  offen- 
bar auch  die  Möglichkeit  meines  ferneren  Bleibens  in  meinem  Vaterlande  von 
dem  WolwoUen  und  der  Handbietnnpr  der  Regieiung  des  löblichen  Cantons 
Bern  ab.  in  welchem  meine  Uutemehmaug  angefangen  und  bis  auf  diesen  Punkt 
fortgeiulirt  worden. 

tfMehi  Herz,  das  bis  zur  Wehmath  daran  hängt,  mein  theuree  Vaterland 
mit  dieser  Unternehmung  nicht  yerlassen  zn  m&ssen,  stärkt  und  beruhigt  sich 
in  der  Hofihnng,  eine  Regierung,  deren  Vorfahren  seit  Grändnng  der  Eidge- 
nossenschaft in  allen  Hauptepochen  des  Vaterlandes  so  vieles  für  die  Erleuch- 
tung, Beruhigung  und  Beglückung  der  Landeseinwohner  frethau  hat,  werde 
nicht  zugeben,  dass  ich,  ehe  der  Wert  oder  Unwert  meines  Thuns  dem  weisen 
prüfenden  Manne  zur  Überzeugung  heiter  geworden,  blos  nm  die  lichtige  and 
vollendete' Untersuchung  dieses  Thuns  m(fglich  zu  machen,  ein  Land  verlassen 
mllsse,  dem  ich  meine  Versuche  so  vorzUglich  und  mit  so  vieler  AnhSogliclikeit 
immer  geweiht  habe,  und  um  dessentwillen  ich  auch  die  äusseren  Beschweilieh- 
keiten  meiner  drückenden  Lanfbalm  bis  jetzt  mit  8tandhaftigkeit  immer  ge- 
lingen und  noch  ferner  so  lanj^e  zu  tra^-en  bereit  bin,  als  es  ohne  Gefahr  des 
völligen  Scheiterns  meiner  Zwecke  müy-lich  i.st. 

Genehiiiij^en  Sie  etc. 

Burgdorf,  den  9.  September  1803.  H.  Pestalozzi.* 

(SehloM  folgt.) 


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Die  Pflege  der  deutschen  Sprache  an  den  slorenisehen 

Volksschulen.*) 

Von  SckMireäor  Joh,  Lapajne'Qurkfdä, 

Unter  dan  vielan  Ostenpeiehisoheii  V9Uuni  imd  YSlkchen  gibt  es  kaum  • 
ein  einziges,  weldies  mit  gi^BoBeter  IMe  vnd  Sympathie  die  dentsdie  Sprache 

gepflegft  hätte,  als  das  circa  l*/.,  Millionen  zUhlende  slovenische,  welches 
soit  dem  f).  Jahrhunderte  Krain,  Steiermark  (jetzt  blos  den  südlichen  Theil). 
Kärnten  tSüdkärnten)  und  Küstenland  bewohnt.  Diese  anfreV)orene  Kin- 
neig^ung  zur  deutschen  Sprache,  die  von  Vielen  sogar  der  Muttersprache  vor- 
gezogen wird,  erkläi*t  sich  im  allgemeinen  schon  aus  der  angestammten  Natur 
der  Slawen  ttberfaanpt,  welche  eine  gresse  Achtung  fremdmi  Sprachen,  Sitten 
and  Oebränchen  seit  Alters  her  sollen.  Es  hatte  aber  anch  die  deutsche  ^nushe 
bei  den  Slovenen  inebeeondere  einen  historisc  hon  Wert,  indem  alle  Fürsten, 
Grafen  und  Gutslierren,  denen  jene  seit  Karls  des  Crrossen  Zeiten  Fntei-tlians- 
und  Froudienste  leisten  mussten,  deutscher  Abstammung'  waren.  Somit  war 
die  deutsche  Sprache  die  Sprache,  der  HeiTschaft,  und  dadurch  gewann  sie  an 

'  Ansehen  bei  Klein  und  Grofls,  bei  Jnng  nnd  Alt  Trotzdem  konnte  Mi  der 
sloTenisohe  Laadmann  —  das  war  der  einzige  Stand  der  slo venischen  BevQlkening 
&8t  bis  in  das  jetzige  Jahrhundert  —  die  deutsche  Sprache  lange  Zeit  nicht 
aneignen,  denn  viele  Gegenden  in  Obei^steierraark  und  OberkUnit^n  behielten 
bis  in  das  12.  und  13.  Jahrhundert  ihren  slovenischen  Charakter;  ei^st  ^ej^en 
das  Ende  des  Mittelalters  und  im  Anfange  der  Neuzeit  nahmen  die  .slovenischen 
Landlcute,  die  aber  in  diesen  nördlichen  und  gebirgigen  Landestheilen  nui' 
spftrlieh  angesiedelt  waren,  die  Spiache  der  deutschen  (baierisehen,  fränkischen 
und  fharingischen)  Golonisten  uk,  uriUirend  die  in  dichteren  Massen  sasamm«i- 
wohnenden  slovenischen.  Bauern  der  südlichen  innerösterreichischen  Lftnder 
ihre  slovenische  Sprache  bis  zum  heutigen  Tage  fast  unbeeinflusst  von  der 
deutschen  beibehielten.    So  stiinden  die  SprachenverhUltnisse  in  diesen  LRnder- 

•  gebieten  fast  bis  zum  Ausgange  des  18.  Jahrhunderts,  während  die  Cultur- 
verhältnisse  bei  beiden  Nachbarvölkern  einen  ziemlich  gleichen  Stand  hatten. 
Die  allgemeine  Bfldong  des  deutschen  wie  des  slovenischen  Banem  in  Kftmten 
oder  Krain  war  nämUch  beinahe  gleich  NulL  Schreiben  und  lesen,  Volks- 
schulen und  Volksbttcher  waren  dazumal  in  unseren  Gegenden  spanische  Dörfer. 


*)  Indum  wir  diesen  Artikel  Uber  eine  neuerdings  viel  besprochene  Streitfrage 
znm  Abdmek  bringen,  halten  wir  selbstTentftndlich  einer  etwa  nöthigen  Gegeniede 
die  Spalten  im'^erer  Zeitschrift  offen.  Wir  wollen  nicht  einem  Parteünteresse,  sondern 
der  Wahrheit  förderlich  sein.  D.  H. 


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—   13  -~ 


Was  die  deutschen  Colouisten  für  die  Verbreitung  der  deutsehen  Spraclie 
in  allen  südlichen  Ländern  Österreichs  vor  1000  Jahren  thaten,  das  und  noch 
mehr  thaten  Josef  II.  imd  seine  Nacbfolger  auf  dem  (fstenreiehisehen  Eaiaei^ 
throne  durch  Einffihmng  von  VolkBschiilen,  die  alle  wegen  flures  deutschen 
Charakters  kurzweg  den  Namen  „deutsche  Schulen"  im  Gegensatze  zu  den 
lateinischen  Schulen  trugen.  Diese  ersten  deutschen  Jlnster-.  Normal-,  Stadt- 
und  Marktscliulen  thaten  nun  vieles  für  die  Einbürgerung  der  deutschen  Si)i  aclie 
in  allen  Städten  und  Mäikteu  des  südlichen  Steiermaik,  Uuterkärnteus  und 
zum  Tbeile  auch  des  Us  avf  den  Bezirk  Gottschee  rein  alovenischen  Erains. 
Der  wisabegierige  Stadt«  nnd  Uarktbewohner,  der  als  Handels-  und  Gewerbe- 
mann  namentlich  auf  den  Verkehr  mit  den  benachbarten  Dentsdben  nnd  mit 
dem  deutsch  sprechenden  HeiTscliaftsbesitzer  und  dessen  Beamten  angewiesen 
war,  benutzte  nun  recht  flfissig  diese  ihm  dargebotene  Gelegenlieit  und  erh'i-iite 
in  kurzer  Zeit  die  deutsche  Schrittspraclie,  die  in  der  Schule  V( »iget ragen 
wui"de,  mehr  oder  weniger  geiäulig,  mitunter  aber  so  gut,  diiss  sich  geborene  * 
Deitsche  tob  BUdnng  nnd  Bang  nicht  genug  darüber  wnndem  konnten.  lob  glanfte 
nichts  Neues  za  erzählen,  wenn  ich  anführe,  dass  Wiener  und  Orazer  noch 
Tor  wenigen  Jahren  zu  sagen  pflc^;ten,  dass  die  Laibacher  das  schönste  Deutsch 
sprächen.  Laibach  ist  aber  bekanntlich  eine  Stadt  mit  überwiefreiul  sinv(Miischer 
Bevölkerung,  da  sich  bei  der  letzten  Volkszählung  von  24Ü0Ü  jbUnwohnexn 
circa  19000  zur  sloveniselien  Umgangssprache  >)ekannten. 

Die  unter  Kaiser  Josef  II.,  Leopold  II.,  Franz  I.  und  Ferdinand  1.  ge- 
gründeten Schulen  in  den  doventochen  Städten  und  Mttriiten  hatten  einen  fiber- 
wiegend dentsehen  Charakter  und  beliielten  denselben  bis  in  die  ffinfidger 
und  sechziger  Jahre,  während  die  wenigen  Landschulen,  die  vor  dem  neu  be- 
lebenden Jahre  1848  ins  Leben  gerufen  wurden,  weder  in  der  einen  noch  in 
•  der  andern  Si)rache  etwas  Bedeutendes  leisten  konnten:  für  den  sloveniselien 
Unterricht  fehlte  es  an  Schulbüchern,  für  den  deutscheu  (an  passenden  Büchern 
war  zwar  auch  in  dieser  Sprache  Maugel)  war  die  sloveniscbe  Bauemjugend 
duichaus  unempftnglich. 

Besser  gestaltete  sich  das  dovenische  Schulwesen  in  Bezug  auf  den  allge- 
meinen Fortsidiritt  und  in  Bezug  auf  die  Pflege  der  deutschen  Sprache,  seit- 
dem die  sloveniscbe  Nation  in  politisclier  nnd  sprachlicher  Hinsicht  einen 
grösseren  Aufschwung  genommen  hatte.  Wilhrend  früher  deutsche  Sprache 
aof  eine  rein  mechanische  Weise  vorgetragen  wurde  und  die  Kinder  aus  rein 
deutschen  Bfiehern  sowol  deren  Inhalt  als  auch  die  Sprache  lernen  mussten^ 
führte  man  um  das  Jahr  1865  neue,  sweispradiige  und  auf  Grund  der  sloy^ 
nisclien  Kuttei-sprache  ausgeaibeitete  deutsche  Sprachbücher  ein,  womit  man 
viel  bessere  Erfolge  erzielte. 

Nun  gehe  ich  über  auf  die  Schildening  des  sloveniselien  Volksschulwesens 
in  Bezug  auf  die  Ptlcgc  der  deutschen  Sprache  in  der  allerneuesten  Periode, 
d.  i.  in  der  Ära  der  neuen  Schulgesetzgebung  und  der  neuen  Schulbehördeu, 
deren  Wirksamkeit  bekann^eh  in  österreidi  in  den  Jahren  1868  und  1869 
begann.  In  Bezug  auf  die  UnterrichtsspnMdie  in  den  slovenisdien  Volkssehulen 
nehmen  die  neuen  Schulbehörden  anftlnglich  keine  wesentlichen  Änderungen 
vor.  Die  besondere  Ptlege  der  einen  oder  der  andern  Sprache  ordneten  weder 
die  Reichs-  noch  die  Landesschulgesetze  an,  sondern  sie  überliesseu  dies  der 
freien  Wahl  der  autonomen  Landes-^  Bezirks-  und  Ortsschulriithe.  Diese 


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—   14  — 


echeukteu  alsbald  der  Sprachentrage  bedeuteude  Aufmerksamkeit,  imd  da  be- 
merkte man  hier  eine  grössere  VorlielM  f&r  die  denlaehe,  dort  ftr  die  alore- 
niaehe  Sprache.  In  Folge  der  Verordnung  yom  14.  September  1870  des  Landes- 

schulrathes  von  Graz  mu^te  in  alle  slovenische  Schalen  der  Stdermark  auch 
die  deutsche  Sprache  &ls  Unterrichtsgegenstand  eingeführt  werden,  sobald  sicli 
dio  (licsbeziijrlirh  coinpetoiiten  Orts-  und  Bezirk^sclmlrilthe  dafür  entsclüeden. 
Die  dt'Utsclu'  Spraclu^  nmsste  auf  den  oberen  Schulstufen  nach  der  bereits  ge- 
naimteu  \  erurdnuug  selbst  als  UuteiTichtssprache  verwendet  werden,  mindestens 
bei  der  dentodMi  Spiaehlelire  seBttt»  was  man  vom  pttdagogischea  Standpunkte 
ans  nur  bedingongswelse  billigen  kann. 

Der  LandesBchsIrath  in  Laibach  wahrte  awar  den  Yolksscholen  in  Erain 
mit  Ausnahme  von  Gottschee  iliren  slovenisehen  Charakter,  ordnete  aber  mit 
der  Verordnung-  vom  10.  Oktober  1870  die  Pflege  der  deutschen  Sprache  in 
allen  4  dassi^i-en  \'(»lksschuleu  als  obligaten,  in  den  übrigen  Schulen  als  nnob- 
'  ligaten  Lehrgegeustand  an,  für  letztere  i^Lategurie  der  Schulen  nur  dann,  wenn 
der  nach  dem  Getetae  dasn  berafene  Ortsschnlrath  die  FJnfmirang  beantragt 

Viel  SB  weit  ist  meiner  Ansieht  nach  der  Landesschnlrath  von  Kärnten 
gegangen.  Er  hat  in  einem  Erlasse  aas  dem  Jahre  1S72  die  vollkommene 
Kenntnis  der  deutschen  Sprache  als  Ziel  und  Endzweck  in  den  wenigen  slove- 
nisehen Volksschulen  dieses  Landes  hingestellt,  indem  er  den  Gebrauch  der 
Muttersprache  nur  als  Mittel  zur  Erlernung  der  «b  iit sehen  Sprache  gestattet, 
und  dies  blos  auf  der  Unter-  und  Mittelstufe,  während  sich  der  slovenische 
Lebrer  auf  der  Obetstafe  iiir  der  deatsehen  Sprache  bedienen  soll,  ohne  B&ek- 
sieht  darauf,  ob  die  Kinder  das  nSthige  Verständnis  für  dieselbe  haben  oder  nicht 

Bei  diesen  Verordnungen,  die  gleich  in  den  ersten  Jahren  der  Wirksam« 
keit  der  neuen  Landesschnlbehörden  zum  Vortheile  der  deutschen  Sprache 
erlassen  wurden,  bliel»  man  aber  nicht  stehen.  Im  Sinne  des  steiermilrkischen 
Erlasses  vom  14.  September  1870.  nach  welchem  der  Unterricht  in  der 
deutscheu  Sprache  das  Sprachvei-stüudnis  und  die  Sprachfertigkeit  anstreben 
sollte,  beantragte  mau  in  der  im  Jahre  1874  tagenden  steiermärkischen  Lan- 
deslehreroooferenz  die  EinfOIimng  der  deutschen  Sprache  als  Unterrichtssprache 
in  alle  höheren  Classen  und  Abtheünngen  der  slovenisehen  Scholen.  Obwol 
dieser  Antrag  des  Landesschnlinspectors  in  Folge  eines  entgegengesetzten,  von 
der  Leinerschaft  aiisf^egfangenen.  welcher  die  deutsche  Sprache  nur  als  Lehr- 
gegeustand betrieln'u  wissen  wollte,  nicht  dnrclidrang,  so  waren  die  vielfachen 
Bemühungen  der  niederen  .Scbulbehörden,  namentlicli  der  Bexii-ksschulinspectoreu 
nnd  der  Bwrirkshanptlente,  von  dem  Erfolge  gekrönt,  dass  bereits  jede  slove-. 
nische  Volksschnle  des  steierischea  Unterlandes  den  Unterricht  in  der  dentschen 
Sprache  betreibt,  und  zwar  in  den  unteren  Classen  nnd  in  den  min4er  organl- 
sirten  Schulen  als  Lehrfach,  in  den  oberen  Classen  der  höher  organisirten 
Schulen  als  alternative  oder  ausschliessliche  V(»rtras^sprache.  Nicht  mindere 
Sniirfalt  erwies  dicsei'  Sprache  die  Landessclmlbt-hörde  v(in  Krain  durch  die 
im  Jahre  1875  verüüeutlichten  und  den  Lehn  rn  zur  Befolgung  anenipfuhleneu 
Lehrpläne.  Obwol  das  Prindp,  die  Hntter.>prache  als  Vortragssprache  zn 
gebranchen,  beibehalten  nnd  die  Rinfühning  der  dentschen  Sprache  in  die  ein- 
dassigen  Volksschulen  nicht  gestattet  wurde,  so  wies  man  doch  der  letxteren 
eine  grössere  wöchentliche  Stundenzahl  zu  als  der  slovenisehen  Muttersprache 
z.  B.  an  vierclassigen  Schalen  der  Muttersprache  nur  19,  der  deutschen 


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Sprache  24;  an  dreidassigen  sind  der  dentocheu  19,  der  sloveiuschen  18 

Stunden  begtimnit. 

Als  Ziel  des  deatscken  Sprachunterrichtes  an  den  nicht  deutschen  \'olks- 
Msbitleii  Endns  fixirte  dar  LandfiMdiiilroflt  dnroli  den  Im  Jabre  1879  rw^  ' 
^UBBiitliditen  Lehigang  die  Befihigimg  der  Sohfller,  die  deotedie  Spraehe  als 
Umganps spräche  in  Wort  und  Schrift  zn  gebrauchen,  beziehungsweise  den- 
selben den  Eintritt  in  eine  Mittelschule  mit  deutscher  Unterrichtssprache  zu 
eiTnög-lichen  —  eine  Anfsrabe.  der  die  Lehrer  Krains  nicht  ausreichend  p:e- 
Nvachsen  sind.  Bei  dpni  d*^tailliitcii  Lflirjranere  für  die  deutsche  Sprache  hat 
aber  der  genannte  Laudeäschulrath  nicht  melir  au  dem  (.Grundsätze  festgehalten, 
da»  nur  die  Untterspraehe  der  Kinder  als  Yortragssprache  gelten  aoUe^  sondem 
er  hat  die  dentsdie  Spraehe  mr  heeseren  ElnBhiing  anch  heim  ünterridite  in 
anderen  Gegenständen,  wie  beim  Bechnen,  'empfolilen.  In  Eftrnten  vmräe 
durch  eine  Verordnung:  'l^^n  Talire  1877  den  Lehrem  an  slovenischen 
Schulen  die  Pflege  der  deutschen  Sprache  zur  besonderen  Pflicht  gemacht 
und  die  Verleihung  von  Dienstalt ei-szulagen  von  der  genauen  Beobachtung  dieser 
speciellen  Verordnung  abhängig  gemacht,  zn  deren  leichteren  Elrfullnng  der 
Landesschnirath  in  Klagenftirt  ein  Sehriftehen  unter  dem  Titel:  „Anweisung 
snr  geaprftciuweiflen  Einflihnmg  dovenischer  SehnlUnder  in  die  dentaehe 
Sprache"  herausgegeben,  gegen  deren  padagogiaeben  Wert  sich  gar  Tieles 
einwenden  Hesse.  Im  Küstenland  vergnss  man  bei  der  Zusamnienstellnng 
dor  Lehi-pUine,  welche  man  in  vier  Sprachen  (deutsch,  italieniseli,  slovcnisrh. 
kroatisch)  im  Jahre  1878  veröfi'ent lichte,  auch  die  Pflege  der  zweiten  Landes- 
spradie  nicht,  worunter  hauptsächlich  die.  deutsche  Sprache  verstanden  wird. 
Per  in  diesem  Lehrplane  empfolilene  Lehrgang  fOr  eine  aweite  Landesspraclie 
ist  wol  durchdacht  und  entspriobt  den  pädagogisch-didaktischen  Grundsätzen 
deijenigen  Schulmänner  der  Jetztzelt,  die  sich  in  ihren  Ansichten  nicht  durch 
politische  Beeinflnssungen  beirren  lassen.  Auf  Gmnd  dieses  Lehrplanes  wurde 
auch  im  Jahre  1879  80  in  einigt"  Volksschulen  des  Küstenlandes,  hauptsäch- 
lich in  der  Grafschaft  Göi*z,  und  zwar  selbst  in  einclassige  Schulen,  der  Unter- 
ridit  in  der  deutschen  Sprache  als  obligater  Lelirgegenstand'  eingeführt;  er 
bfldete  daselbst  schon  in  den  Mheren  Jahren  einen  nndbligaten  Oegenstand, 
da  die  in  diesem  Fache  den  üntenicht  ertheilenden  Lehrer  Remunerationen 
ans  den  vom  Reichsrathe  bewilligten  Staatsuntei-stützungen  erhielten.  Nach 
den  vorgt'srliriebenen  Lehrpliiiien  ( v.  J.  1875)  und  nach  dem  im  Jahre  1879 
verüftent lichten  Lehrgange  wurde  in  Krain  an  allen  fünf-,  vier-,  drei-  und 
zweiclassigen  Schulen  der  deutsche  Unterricht  in  einer  bedeuteuden  wöchent- 
lichen Standenzahl  als  obligat  ertheilt,  sobald  sich  der  Ortsschnlrath  mit 
BUUgimg  der  LandesscfanlbehOrde  dalBr  ausgesprochen  hatte.  Und  so  blieben 
nnr  noch  einige  wenige  höher  organisirte  slovenische  Volksschulen  in  Krain, 
welehe  den  deutschen  Sprachunterricht  entbehrten.  Durch  den  Erlass  des 
Landesschulrathes  von  Krain  d.  d.  17.  Juni  1881  wurde  aber  auch  diesen  auf- 
getragen, die  deutsche  Sprache  als  unobligaten  Lehrgegenstand  zu  pflegen, 
sobald  sich  nur  10  Schüler  dafür  melden. 

Wenn  man  nnn  alle  Anordnungen  und  Bemühungen  der  Landesschnlbe- 
hfirden  von  Oias,  Klagenfnrt,  Laibach  und  Triest  fiberblickt  und  würdigt,  so 
muss  man  gestehen,  dass  für  die  Pflege  der  deutschen  Sprache  durch  die 
sloTenischen  Volksschulen  viel  geschehen  ist  und  noch  geschieht  Ich  möchte 


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—   16  — 


ßelbst  die  Beliaiiptiiug  aufstellen,  (la8s  mau  vuni  pädajtroKisch-didaktischtii  Stand- 
punkte aus  zu  weit  gegriüeu  hat,  was  sich  uur  durch  den  grosseu  praktischen 
Werty  den  die  deatacSie  Spraehe  fOr  die  Slovaun  hat,  theUweise  nohtfertigen 
iHatt.  Nach  dem  heutigen  Stande  des  doTeniichen  VeOoBchvlwesens  mit 
Eücksicht  auf  die  deutsche  Sprache  gibt  es  nämlich  in  Steiermark,  aUwo  drca 
220  Schulen  von  slovenischen  Kindern  besucht  werden,  und  in  Kärnten  mit 
circa  100  slovenisolien.  keine  einzigre  Volksschnle,  in  der  man  die  deutsche 
Spraclie  f^ar  nicht  Vjeriicksichtigen  würde:  in  Krain  wird  blos  an  den  ein- 
dassigen  Vulks^chuleu  die  deutsche  Sprache  nicht  gepflegt,  und  iiu  Küäteulaude 
konnte  «um  auch  kaam  60  itoveniMhe  Schulen  anfisKUen,  in  welchen  man  diese 
Spirache  nnberllcksichtlc^  VBmL  Die  Efympathie  für  die  dentsehe  lynche,  welche 
die  Slovenen  thefls  qMntan,  theils  auf  Anregung  der  Schulbehörden  an  den 
Tag  legen,  vermissen  wir  sowol  bei  den  Italienern  und  Kroaten  des  Küsten- 
landes, als  anch  bei  anderen  slavischen  und  romanischen  Stämmen  der  Monarchie. 
Aus  dieser  wahrheitsgemässeu  Schilderiuig^  der  slovenischen  Sprachenangelegeu- 
heit  werden  die  verehrten  Leser  des  Psedagogiums  ersehen,  w  elcher  Wert  den 
Beriditen  pdlitisdier  und  pädagogischer  Bl&tter  beizulegen  ist,  wenn  dieselben 
▼on  Abneigung:  des  sloTeiiischen  VoUnstammes  gegen  den  deatschen  Spraeh- 
nnteiTicht  sprechen. 


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thev  Ju^endlectfire  für  Mädchen. 

I  •     •     .  . 

Ton  JHrector  Am  Qo^rth-Jnatetinirf»  •   .  • 

Die  Ansiditeii  Ober  den  Zweck,  sowie  Qbtor  den  -  Nntzen  oder 
Sehaden  der  Jngendlectttre:süid  noch  nicht  so  geklflrt,  daes  man  die  Acten 
dnraber  als  'gesohiosaear  ansehen  dOrfte.  Die*  pädagogischen  Schrift- 
steller, welche  dies  Thema  erirbert  haben,  und  anter  ibüen  nanieiitliäi 
dkgemgea,  w«lehe:die  JoseiiAecMbn»  ftae  Hftdehen  hespreeheOj  g^Aen 
meiBer  Ansicht  nadi  darin  fehl,  dass  sie  den  Wert  der  Besdiftftigung  ität 
Lesen  fiberschfttaen.  Sie  spredien  gar  schon  darüber,  wie  die  Deetftre 
wirkan  sott  und  «nter  Umstfinden  anch  wlrken  kann;-  aber  «ie  sdheihen 
niebt  genügt  beobachtet  m  haben,  wie  die  Sadie  sich  fn  '^klich- 
kdt  gestaltet  Ich  helfe  darum  dnrdi  mehie  Worte,  welche  sich  auf 
Nachdenken  nnd  18jährige  Beobachtung  der  mir  anTertrauten  Juj^end 
stützen,  ein  wenig  zur  Klärung  dieser  Angelegenheit  beitmgen  zu  können. 

Es  "wird  behauptet:  „Die  Jngeudlectttre  Lst  eines  der  \\irk.<anisteii 
Bilduu^smittel,  vortrefFlich  dazu  irpeijrnet.  Haus  und  Srlmlp  heim 
Unterrichte  und  Plrzirhungsweike  zu  unterstützen;  Ja  schon  mancher 
Mensch  hui  ihr  vurzugsweise  seine  Tüchti^-keit  im  Leben,  oder  gar 
st'inc  Berühmtheit  verdankt,  so  dass  man  wol  behaupten  darf,  die 
Privatlectüre  könne  unter  l  nist^üiden  den  Unterricht  ersetzen.  Sie 
ist  nämlich  ein  allseitigi^s  Bildunf^sniittt  l,  denn  abgesehen  davnii.  dass 
sie  viel  niitzhche  Kenntnisse  zuführt,  vei  inair  sie  den  |]fanzeu  ^^lenschen 
zu  erfassen:  seine  Sj>raclie  zu  bilden,  seinen  Verstund  zn  scliärfen, 
seine  Phantasie  zu  beleben,  wie  auch  wieder  zu  züirehi,  seinen  (rc- 
ßchmack  zu  veredeln,  sein  Gefühl  zu  erwärmen  nnd  zu  läutern,  seinen 
Willen  auf  das  Sittlicligute  zu  richten.  Was  die  Kinwirknnir  auf 
Gefühl  und  Willen  betrifft,  hat  die  Privatlectüre  sogar  einen  miver- 
kenubareu  \'oi-teil  vor  dem  minullirhen  UnterHchte;  indem  nämlich 
der  .iun<re  Mensch  sich  still  mit  seinem  Buche  Viesehäfti<j:t  und  sich 
darin  wie  in  eiuem  S|iieirel  un*rest(irt  beschauet,  kann  er  die  G'edankeu, 
welche  in  ihm  anL:ere<:t  worden  sind,  nach  f belieben  fortspiunen.  die 
goten  Lehren  im  Herz«  n  erwägen,  edlere  Gefühle -tieto  Wurzel  schlagen 

TmiMgitgimm.  4.  Jahrg.  Ueft  L  2 


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—   18  — 


and  zu  löblichen  Vorsätzen  heranreifen  lassen,  wälu*eiid  er  beim 
mflndlichen  Unterrichte  oft  da  vom  Strome  mit  fortgerissen  wird, 
wo  gerade  für  ihn  ein  Ifiogeree  VerweileB  beim  Gegenstände  heilMm 
sein  würde." 

In  ähnlicher  Weise  sprechen  sich,  soweit  meine  Kenntnis  reicht, 
auch  die  andern  SchrifitsteUer  aus.  Manche  wollen  von  Jogendlectüre 
nichts  wissen,  aber  nur  aas  dem  Grande,  weil  die  Gefahr,  welche 
dem  Kinde  ans  der  „Lesewuth''  erwächst,  ihnen  sn  bedenklich  erscheint. 
Dass  die  Leetlkre,  ftlls  es  gelingt,  die  Lesewnlh  zn  verhAten,  die  oben 
angefikhrten  Tortiieile  bringen  könne,  acheint  niemand  zn  bezweiüdn. 
Ifsk  bin  anderer  Ansicht 

Man  hatte  zinAehst  Eine  &8t:  wahrhaft  bildend  können  nnr 
solche  Bflcher  wirken,  deren  Inhalt  wisaenselinftlleker  oder 
kttnafleriadier  Art  ist  Zu  diesen  gehören  nur  die  Werke  echter 
BiiAtkinist;  n  jenen  darf  man  ausser  streiur  wiffff'*>'*^J><tftii^hftn  Wffflfffl 
noch  wissenschflftliohe  DarsteUnngen  in  popottrer  Form  nnd  tokhe 
Werke  rechnen,  die  anregend  wirken,  z.  R  gute  Joanahurtikel, 
Kritiken,  Anftfttae  Itter  Streitfragen,  Sammlnngen  geistvoUer  Anasprache 
nnd  encUieh  die  der  -sageoannten  schönen  literator,  wie  Goethe'a 
„Dkhtong  nnd  Wahrheil^,  Heiners  ,iHmnmf*i  Senme's  ,ySpazier- 
gang  nach  Syrakus". 

Ausser  diesen  Werken  existirt  noch  die  sogenannte  Unter- 
haltung:sliteratur.  Es  sind  Erzeugnisse  dilettantischer  Ptusilierei, 
Novellen,  Reiseabenteuer  in  novellistischer  Form  und  endlich  miitano:- 
reichere  Erzählungen,  denen  frischweg  der  Name  Roman  beigelegt 
wird.  Sie  dienen  als  .,Lesefutter''  für  dius  weniger  gebildete  Publicum 
und  werden  benutzt,  um  ,.die  Zeit  zu  vertreiben".  Diese  ganze  Literatur 
bringt  gai-  ktiuen  Nutzen  und  erregt  einem  gebildeten  Menschen  nur 
Widerwillen,  ja  Ekel.  Ich  will  lieber  10  Stunden  lang  Hefte  comgireu, 
als  eine  Stunde  lang  solch  Zeug  leisen.  Alwr  noch  mehr:  diese  Literatur 
bringt  grossen  Schaden,  denn  sie  verdirbt  den  Geschmack,  macht  das 
Denken  unklar  und  erfüllt  die  Kopfe  mit  leeren  Phantastereien.  Sie 
hat  dai'um  giu*  keine  sittliche  Berechtigung  und  muss  als  ein  bedenk- 
liches i'bel  bezeichnet  werden,  von  dem  sich  die  Menschheit  im  Interesse 
des  Fortschiitts  zum  Ideal  befreien  sollte. 

Fragen  wir  uns:  Auf  welche  Weise  können  wir  durch 
wirklich  gute  Bücher  in  unserer  Bildung  gefördert  werden? 

Mit  der  Leetüre  künstlerischer  Art,  mit  den  Werken  der 
Dichtkunst,  pflegen  selbst  gebildete  Leute  es  gar  leicht  ra  nehmen. 
Man  meint,  es  genttge,  dieselben  mit  wenigen  Ausnahmen  wie  Unter* 


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—   19  — 


haltungsstoff  zu  behandeln  und  sich  auf  flüchtigen  Genuss  zu  be.schi'änken. 
Ich  biB  der  ^leinung,  dlchteriBche  Kunstwerke  jeglicher  Art,  selbst 
kleine  lyrische  Gedichte,  legen  uns  die  Verpflichtung  ernsten  Sta^mns 
anf^  nnd  erlaube  Inir,  den  geneigten  Leser  auf  den  Aufsatz  hinzuweisen, 
ik  welchem  ich  diese  Ansicht  erOrtert  und  begrttndet  habe«*) 

In  Bentg  auf  4ie  Behandlung  der  wisaensohafiliohen  Leetflre 
hoffe  ich  nkht  Mf  Widen^meb  sa  «tossen.  Alle  solche  Wake  mtesen 
stndirt  werden.  Man  mnsa  sie  „mit  der  Feder  in  der  Hand 
lesen**;  wir  mftssen  einen  je  naek  den  Werte  des  Buches  kftrzeren 
oder  längeren  Aismg,  aoftrt^ien,  naeh  Bedfiifhia  diesen  Anssag  dem 
Gedächtnis  gut  einprftgen  und  so  den  Inhalt  ea  unsenai  geistigen 
BigentiMini  machen.  Nor  anf  diese  Welse  ist  es  mOgüoh,  yon  den 
eiazebken  ThisÜeB  -  des  Werkea  und  deren  YerfaAltniB  zam  Ganzen 
die  rechte  Ansohaumig  za  gewimken  und  die  neuen  Begrüe  und.  Er- 
kenntnisse unaenn  Begiiflb?orrath  so  au.*  assimflirai,  dsas  wir  damit 
geistig  arbeiten,  deuloen  kAnnen,  dass-  wir  sie  Aar  Qewah  unsors 
Geistes  su  wiUkflittcher  Beproduction  habsn.^  Diese  Forderung  güt 
ilr  aKe  wlraeosehaftlidiin  BOdier  ohne  ünterseUed.  War  sich 
anf  einmaliges  Lesen  heachränkt,  hat  Yon  der  Lectftra  nicht 
nur  keinen  Gewinn,  sondern  den  erheblichsten  Nachtheil. 
Man  erhfilt  halbe  oder  obefflftefaliche  Anschauungen,  halhwahi«  Uräieile» 
sdiiefe  Ansiebten,  unklare  Begriffe  und  gerftth  dadurch  in  den  Zustand» 
den  der  Schfilmr  im  „Fauste  dnrcb  die  Worte  kenmeichnet: 

Es  wird  mir  von  alledem  ao  domm, 
Geht  ifiir  wie  *n  imUnid  hn  Kopfe  honun. 

^yer  diese  Art  von  Leserei  fortsetzt,  f^eräth  naturg-emäss  in  Halb- 
"wisserei,  in  geistige  Zeifahrenheit,  in  jene  Oberflächlichkeit,  die  alles 
wissen,  überall  mitsprechen  will  und  sich  oft  genus:  gerade  aus  diesem 
Grunde  mit  widerlichem  geistij^eni  Hochmuth  paart.  Mangelhaftes 
Wissen  und  Können  bläht;  tüchtii^es  macht  den  Menschen  Ijescheiden! 
Gute  Bücher  sind  unsere  Lehrer.  Wer  von  einem  Lehrei-  mit 
Erfolp:  unterrichtet  wird,  ist  im  Stande,  dessen  Vorträge  klar  zu  ver- 
stehen und  zusammenfassend  zu  wiederholen  und  wird  sich  die  «ge- 
wonnenen neuen  Begriffe  und  Erkenntnisse  zuj^leicli  so  fest  einpräofen, 
dass  er  Neues  mit  Hilfe  des  Erlernten  leicht  versteht  und  am  Ende 
der  Unterrlchtazeit  über  sänuntliche  Vorträge  klar  und  verständig 

•t  S.  Pa'dac'otrinm  III.  Band.  Januar-  nnd  Pehruarheft:  Weiche  Ant'orderuiiireii 
stellt  die  wi!$.seiu»cUattIiche  Piedagogik  au  den  liühereu  Unterricht  in  äpiaciieu  und> 
Liieratureu? 

2* 


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.        20  — 


■Reclicnscliaft  abzuletren  vermag.  Dasselbe  Resultat  mnss  derjeiiig'e 
aufweisen  köuueii,  der  ein  gutes  Buch  mit  Erfolg  studiit  hat.  Die 
Beliauptung:  Ich  weiss,  was  der  Scliriftstellei*  sagt,  vermag  es  nur 
nicht  aoszuspreclien,  ist  ein  thöhchtes  Geschwätz.  Wer  über  den 
Inhalt  eines  WenJceB,  »emer  wissenschaftlichen  Abliandlungf  sich  nicht 
klar  aiiszasprecben  Termag,  besitzt  darüber  kein  rechtes  Wissen,  sondern 
höchstens  eine  dunkle  Bückerinnemng,  so  dass  er  bei  klarer  Dar^ 
Stellung  durch  Andere  sagen  kann:  Ja,  ich  entsinne  mich,  so  ist  es 
richtig.  Um  durch  Leetüre  zu  rechtem  Wissen  zu  gelangen,  wird  es 
daher  gar  oft  nOthig  sein,  grossere  Werke  wiederholt  zu  stndiren,  zum 
besseren  Verständnis  derselben  andere  dnrchzQaarbeiten,  die  Gedanken 
verschiedener  Schriftsteller  mit  einander  zn  vergleichen  nnd  dabei 
seine  eigenoi  Anschauungen  nnd  Ideen  mitarbeiten  zu  lassen.  Das 
beste  Mittel  zum  rechtoi  Stadium,  sagt  man  mit  Beeht,  ist  Ftodudren.*) 

Wir  bilden  nns  im  Leben  ferner  auch  dadurch,  dass  wir  klagen 
Mäonem  zahdren,  wenn  sie  uns  durch  geistvolle  Beden,  schSne  Vor* 
tiSge  erfreuen  oder  beim  eorosten  Gesprftch  in  zwangloser  Weise  den 
reichen  Schatz  ihres  Wissens  entfiüten.  Aber  auch  in  diesen  FfiUsn 
werden  wir  rechten  Gewinn  nur  dann  haben,  wenn  es  uns  gelingt, 
das  Empfangene  unserm  Geiste  so  zu  assimiliren,  dass  es  uns  Jeder 
Zeit  zur  freien  Verfügung  steht.  Darum  müssen  wir  auch  solche 
Schriften,  die  ich  oben  als  anregende  Lectüre  bezeichnet  habe,  sobald 
wir  den  Inhalt  bei  einmaligem  Lesen  nicht  behalten  können,  in  ähn- 
licher Weise  wie  gute  Bücher  studiren.  Man  kann  dadurch  sehr 
viel  lernen  und  namentlich  zu  klarem  X'erständnis  schwerer  Scliriften 
gelangen.  I)a;;u  ist  es  »rut,  sich  von  Zeit  zu  Zeit  für  sein  Studium 
ein  bestimmtes  Ziel  zu  setzen  und  alle  dazu  passenden  (bedanken  zu 
sammeln.  Oft  wird  durch  ein  geistvolles  Wort,  das  man  in  einem 
j;uten  Journalartikel,  in  einer  kleineren  Abhandlung  findet,  iilützlieh 
blitzartig  über  das,  was  uns  noch  unklar  war,  eine  solche  Helle  ver- 
breitet, dass  wir  schnell  und  leicht  zur  Klarheit  gelangen. 

Endlich  bildet  man  sieh  im  Leben  auch  noch  durch  erlVi-dituden 
< icdaukenaustausch  mit  »Solchen,  denen  man  an  Wissen  und  i\ünnen 
ebenbürti«:  ist.  S.»  wird  der  wissenschaftlich  (icbildete  manche  gute 
lUicher  finden,  die  solclien  ebenbürtigen  Freunden  gleichen.  Das  ist 
lur  ihn  Unter haltungslectüre.    Bei  solchen  Büchern  wii'd  man 


*)  Scbenhaft  hdnt  es:  Ich  bin  avf  diesem  Gebiete  nicht  bewandert;  deshalb  will 
ich  ein  Buch  darttber  schreiben.  Solch  ein  Buch  kann  wenigstens  dem  Verfiuser 
unter  UnistSnden  recht  viel  nützen. 


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—  21  — 


sidi  ohne  Scbadeii  mit  blossem  Lesen  begnügen  können.  Man  wird 
dabei,  'wie  durch  jene  Gesprftcbe,  Anregung  und  Eifriscbnng  gewinnen.*) 

Dabei  ist  nodi  Eins  henrorzoheben.  Das  Stndinm  der  wisQensebaft- 
fieben  und  anregenden  LectOre  gewftbrt  nie  C^emiss,  sondern  eine 
edle  Freude,  die  man  Denkerfrende,  Arbeitsfreude  nennen 
konnte.  Oenuss  gewähren  nnr  Wwke  der  Knnst  Wenn  dieser  Gennss 
der  rechte  sein  soll,  so  mnss  er  der  echt  ästhetische  sehi  und  nicht 
der  stoffliche  des  Ungebildeten.  Der  wahrhaft  Gebildete  wfard  also 
ausser  der  wissenschaftlichen  Lectfire  nnr  noch  zn  der  echt  k&nst* 
leriachoi,  zn  den  Werken  echter  Dichter  greifen;  jedoch. nicht  eher 
rohen,  als  bis  er  seinen  Gennss  durch  Stadium  zu  einem  äeht  ästhe- 
tischen yerfein^  hat 

tV^enn  Lectfire  überhaupt  för  die  Jugend  wahrhaft  bildend  wirken 
soll,  so  muss  sie  in  der  oben  ja^eschilderten  Weise  pehandhabt 
werden.  Wenn  Erwachsene  durch  flüchtige  Vielleserei  in  ilirer  Bildung 
>ve^iiiträchtigt  werden,  so  muss  diese  Gefahr  in  noch  höherem  Masse 
K  in  dem  und  halbreüen  Menschen  drohen.  Es  ist  richtijr,  dass  ..mancher 
3Iensch  .seine  Tüchtigkeit  im  Leben  oder  gar  seine  Berülimtheit  der 
Jugendlectüi*e  verdankt";  aber  siclierlicli  nur  dann,  wenn  er  so  ge- 
lesen hat,  dass  ihm  daraus  der  oben  geschilderte  (rewinn  envachsen 
ist.  den  die  über\viegende  Mehrzahl  der  Menschen  nur  durch  ernstes 
Stadium  zn  erzielen  vermag.  Wir  müssen  die  Kinder  also  frühe 
anleiten,  solche  Bücher,  die  ihnen  nützliche  Kenntnisse  zu- 
führen können,  „mit  der  Feder  in  der  Hand"  zu  lesen.  Bei 
flüchtiger  Leetüre  können  gut  begabten  K/ipfen  immerhin  zerstreute 
Kenntnisse  im  Gedächtnis  bleiben;  aber  daraus  erwächst  ihnen  eher 
Schaden  als  Gewinn.  Werke  der  Dichtkunst  mögen  sie  nach  Gefallen 
lesen.  Die  feineren,  an  denen  nur  ein  gebildeter  Mensch  Gennss  zu 
finden  yermag,  werden  sie  von  selber  bei  Seite  legen;  an  den  ein-  - 
lächeren  mögen  sie  sich  ergötzen,  soviel  sie  wollen.  Nur  Novellen  und 
Bomane  hat  man  unter  sorgfältige  Controle  zu  stellen.  Daneben  hat 
man  jedoch  die  Aufgabe  zn  yerfolgen,  sie  schon  firUhe  darauf  aufmerksam 
m  machen,  dass  ihr  Gennss  an  dieser  Lectüi'e  nur  stoffUchei'  Art  ist, 
and  durch  soigfiUtige  Belehrung  und  Hinweis  auf  spätere  Stadien 


Es  eribr  Menschen  von  so  ausgezeiclineter  Begabung-,  dass  sie  nicht  nOthig 
haben,  sich  Ex<  erpte  zu  inaf-hen.  Dies  wird  von  dem  l)eriilmiton  Savii^iy  und  anderen 
Gelelirten  er/älilt.  Aber  suklie  Manner  sind  sehr  dünn  i^esiiet  ;  llir  die  überwiegende 
JdelirzahJ  sk.lb.st  derjenigen,  fdr  welche  die  Beschäftigung  mit  der  Wi.'^sensfhaft  die 
Ukea»iägiLhe  Uldet,  wixd  die  oben  geediflderte  Benntznng  der  Lectttre  noth- 
ynalßg  eein. 


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die  richtige  Ausbildung  ihres  GeschmackB  anzubahnen.  Der  Genuss 
der  sogenannten  Unterhaltungslectnre  (für  Erwachsene) 
sollte  ihnen  ganz  untersagt  werden,  weil  sie  ihnen  wie  jedem 
andern  Menschen  nnr  Schaden  bringen  kann. 

Unter  der  zahllosen  Menge  von  Jugendschriften  linden  wir 
zunächst  reiche  Sammlungen  von  Märchen,  Fabeln,  Sagen  and  Legenden. 
Als  Erzen  frnisse  echter  Kunst  eignen  sie  sich  vorzüglich  zur  Lectttro. 
Sie  eririschen  Geist  und  Gemfith,  geben  der  Phantasie  gute  Nahrung 
nnd  leiten  sie  auf  die  rechten  Bahnen.  Das  Lesen  solcher  Bücher 
gewährt  dem  Kinde  Gennss. 

Neben  ihnen  finden  wir  Bteher,  wetehe  dm  Zweck  verfolgen, 
der  Jngend  ans  den  Terschiedenen  Gebieten  der  Wissenschaft  nfttslidie 
Kenntnisse  znznftthren.  Man  meint,  sie  werde  dieselben  leichter'  anf- 
nehmen,  ▼eim  man  sie  in  der  gefUligeren  Form  der  Erzfthlnngen 
bringt  nnd  dnrch  gnte  Bilder  rechlich  für  Ansduurangen  aller  Art  sorgt 

Die  Idee»  die  Belehmngen  dnrdi  Bilder  zn  nntei'stfitzen,  hat  steh 
in  der  That  hOchst  segensreich  erwiesen,  nnd  es  werden  viele  nfttaUche 
Kenntnisse  dadurch  hat  mflhelos  nnd  dcher  dngeprftgt  Aber  wenn 
man  meint,  die  blosse  LeetBre  solcher  Bücher  bringe  dem  Kinde  einen 
ahnlichen  Gewinn  wie  ein  gnt  geordneter  Unterricht,  so  ist  das  nach 
meiner  Er&hmng  dnrchans  unrichtig.  Ich  habe  ih  meiner  Knaben- 
zeit eine  grosse  Menge  solcher  Bftcher  durchgelesen,  habe  aber  nie 
gemerkt,  dass  mefai  Wissen  nnd  KOnnen  dadnrch  wesentlich  bereichert 
worden  wftre.  Dieselbe  Beobaehtong  habe  ich  an  meinen  eigenen 
Kindern  nnd  an  meinen  Schttlem  nnd  SchtQerinnen  gemacht  Durch 
blosses  Lesen  geht  der  Gewinn  bis  auf  wenige  serstreute  Kenntnisse 
verloren.  Auf  Fragen  nach  dem  Inhalte  erhält  man  entweder  keine 
oder  ganz  nngenflgende  Antworten.  Mädchen  woUen  von  solchen  Büchern 
überhaupt  nichts  wissen.  Sie  blättern  dieselben  durcli,  besehen  die 
Bilder  und  lesen  allenfalls  soviel,  um  zu  wissen,  was  das  Bild  vor- 
stellen soll,  aber  von  wirklichem  Interesse  zeigt  sich  dabei  keine  Spur. 
Ist  (las  Buch  in  der  Weise  geschrieben,  dass  die  Belelirnnp:,  wie  z.  B. 
in  den  neueren  Robinsonaden  —  Robinson  Hurtig,  der  schweizerische 
Robinson  —  an  eine  fortlaufende  Erzählung  geknüpft  werden,  so 
suchen  sie  sich  von  dem  Fortgange  der  Handlung  zu  unterricliten; 
aber  alle  Belehrungen  werden  so  tapfer  überschlagen,  wie  die  bekannten 
belehrenden  ( bespräche  in  dem  Robinson  von  Campe. 

Bei  geweckten  Knaben  k(»mmt  es  zuweilen  vor,  dass  dies  oder 
jenes  so  für  die  Jugend  verfasste  Buch  in  der  That  mit  Nutzen  gelesen 
wird,  ^^'eun  sich  früh  in  ii'gend  einer  Richtung  ein  lebhattes  Interesse 


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zeiirt,  sei  es,  dass  dasselbe  (IuitIi  tüclitige  Lehrer  erregt  ist,  oder  dass 
»larin  das  „unbewusste  Scliaueii  des  Gt'iiius*'  hervortritt:  so  komnit  es 
vor.  dass  solche  Kinder  einzelne  Bücher  mit  wahrer  Lust  durcliai  beiten. 
Dana  bleibfs  aber  nie  bei  einuuili^^em  Lesen.  Im  Gegentlieil 
wird  (las  Buch  dann  gar  oft  vorgenoniuieu.  Einzelne  Abschnitte  werden 
so  oft  gelesen,  dass  man  dem  verehrten  Lelirer  den  Inhalt  erzälden 
kann;  andere  werden  mit  Kameraden  besprochen,  ,um  diese  in  das 
Interesse  mit  hineinzuziehen;  ttber  nnglaublicha  oder  anklare  Dinge 
wird  das  Urtheü  des  Lehrers  aufgeholt,  oder  man  macht  Versuche 
imd  Experimente,  um  selber  zu  erproben,  was  da  so  interessant  dar- 
gestellt ist.  Solch  ein  Lesen  kommt  in  der  Tbat  vor;  aber  man  trifft 
es  sehr  selten.   Bei  Mädchen  habe  ich  es  noch  nie  gefunden. 

Ich  BieiBer  solche  £r£edinmgen  berechtigen  voUstfiadig  zn  der  Be- 
hrapUmg»  dass  alls  solche  Bttcher,  welche  der  Jagend  in  anmntJilger 
FoTB  nfttadiohe  Kenntnisse  zollUiren  imd  den  wissenschalUichen  Unter- 
riebt  unterstützen  sollen,  den  Kindern  nie  zn  einmaligem 
fltkehtii^en  Lesen  gegeben  verden  dürfen.  Entweder  gebe  man 
sie  gar  nicht,  oder  man  halte  darauf  dass  das  Kind  das  Bneh  in  der 
Weise  dorcharbelte,  wie  der  Erwachsene  ein  wissenschaftliches  Werk 
stidirt,  d.  h,  sich  einen  Anszog  mache.  Wo  sich  gar  kein  Interesse 
zeigt  und  aach  dnrch  den  Unterricht  nicht  erweckt  werden  kann,  da 
mfige  man  die  Kinder  mit  solchen  Auszügen  nicht  quälen;  wo  aber 
geistige  Regsamkeit  rorhaaden  ist,  da  möge  man  sich  nicht  daran 
Stessen,  dass  sich  anfiings  Unlust  zeigt.  Die  Lost  wächst  mit  der 
zmelimeiiden  Erkenntnis,  dass  der  Schatz  von  Wissen  und  KOnnen 
dnrdi  solche  Excerpte  wesentlich  vermehrt  wird.  Es  genügt  auch 
schon,  wenn  nur  dann  und  wann  ein  Bucli  gut  durchgearbeitet  wird. 
Wer  studirt  hat,  wird  wissen,  dass  man  sich  oft  Wochen  und  .Monate 
lang  nur  mit  einem  g-rösseren  Werke  beschäftigen  muss.  Wenn  mau 
während  dei'  Zeit  andere  Studien  aussetzen  oder  nur  nebensächlich 
betreiben  kann,  so  bringt  das  immerhin  keinen  Scluideu,  weil  der  durch 
jene  ernste  Aibeit  erzielte  Gewinn  die  Bildung  so  llirdert,  dass  man 
später  bei  anderen  Studien  leichter  und  sicherer  zum  Ziele  o^elangt. 
Es  wird  dem  Kinde  also  schon  erheblich  nützen,  wenn  man  nur  von 
Zeit  zu  Zeit  einen  grösseren  Auszug  verlangt  und  von  anderen  Bücliern 
nur  einzelne  Stellen  excerpiien  lässt.  Auf  Gymnasien  i)lletrt  man  von 
den  SchüleiTi  der  Oberclassen  zu  verlangen,  dass  sie  durch  Kxcerjtte 
über  ihie  Privatlectüre  Rechenschaft  ablegen.  Ich  meine,  man  darf 
schon  früher  darauf  halten.  In  meinem  vierzehnten  Lebensjahie 
begann  ich,  aas.  der  bekannten  Beckerschen  Weltgeschichte  einen  Aas- 


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—  24  — 


zug  äu  schroil)en.  Ich  hesiize  denselben  noch  jetzt;  er  zählt  488  eng 
geschriebene  (|>iiartseiteu.  Ans.serdeni  besitze  i<'h  ans  jener  Zeit 
kleinere  Auszüge  aus  der  alten,  mittleren,  neueren,  der  preussischen. 
französischen  und  enirlisclien  (-Jeschichte.  In  diesen  letzteren  stehen 
nur  kurze  Daten  und  am  Rande  Jahreszahlen,  wie  in  den  Gcschichts- 
tabellen.  die  man  Kindern  zum  Lernen  in  die  Hand  gibt.  Ich  weiss 
fienau,  dass  mir  jene  Arbeiten  selu*  viel  genützt  haben,  denn  ich 
galt  in  Gei^c.hichte  und  deut«chera  Aulsatz  .Jahre  lang  als  der  best^ 
Schüler  und  glaube,  dass  das  spätere  Streben.  <lurch  Kxeerpiren  von 
guten  Büchern  zu  sicherem  Wissen  zu  gelangen,  im  wesentlichen  auf 
jene  Jugendai'beiten  zurückzuführen  ist.  Irh  meine  auch,  dass  nur 
duich  solche  Arbeiten,  durch  selbstthätige  Versuche,  seine 
eigenen  oder  die  eben  gelesenen  Oedanken  in  eine  gute  Form 
zu  bringen,  Gewandtheit  far  sprachliehe  und  schriftliche 
Darstellung  gewoDBen  werden  kann.  Die  Behauptung,  dass 
dieselbe  dnrch  blosses  Lesen  erzielt  werde,  halte  ich  für  durchaus  un- 
richtig. Bei  Mädchen  habe- ich  stets  gefunden,  dass  die  Vielleserei 
auch  in  dieser  Hinsicht  gar  sehr  sciiädlich  wirkt.  Der  mündliche 
und  sehnt tliche  Auacbruck  wird  unklar,  gesucht,  geziert;  das  Mädohui 
hascht  nach  Pliraaen,  gefallt  sich  in  hodiklingeftden  und  nichtssagen- 
den Worten  nnd  sucht  den  einfiMshBten  Stoff,  der  dnrchanft  nsr  eine 
nliohteme,  klare  -Behandlmiy  veriangt^  durch  lialb  oder  gar  xneht  Ter- 
stasdene  dichterische  Wendungen  aussusdimttdien.*)  Alle  dkjfloifen, 
wekhe  meiniii,  dass  jene  halb  wissenaeluiftiUdi  gehaltene  Jugendleetttre 
bei  oberflaohficken  Lesen  Nutsen  bringen  kdnne,  vergessen  das  alte 
Wort,  dass  vor  alles  Gute  die  Gttter  den  Sehweiss  und  die  mlttievoUe 
Arbeit  gesetzt  haben.  Der  Begriff  „ari»eiten*  seUiesst  den  Begriff 
^Behaglichkeit"  ganz  aus.  Anoh  das  freudigste  Arbeiten  ist  mit  MOhe 
und  Selbstbeherrschung  vetbuiden»  Daher  möge  man  bei  der  Jugend- 
lectüre  soigftltig  das  Lesen  als  Arbeit  v«n  dem  Lesen  als 
Geiwss  tremm  mid  dabei  erwftgen,  dass  jeg^iohes  Tänddn  mit  der 
Arbeit  den  Menschen  sittlich  entnerven  mnss. 

Es  bkibt  endlich  noch  die  Unterhaltungslectttre  su  be> 
trachten,  welche  eigens  für  Kinder  geschrieben  wird. 

Das  „Leseftitter''  fttr  Erwachsene,  wie  wir  es  in  der  ,,GarteB^ 
lanbe**  und  ähnlichen  Jonmalen,  in  den  Zeitungen  und  als  gern  gelesene 

*)  Ähnlich  vrie  Herr  Masins  in  seinen  Schildeningen  aus  dem  Xaturleben.  „Der 
Teich  ist  die  Wici^e  des  jungen  Fro-nhos;  gell)e  Ilahnenfnssljlüthen  seine  bunte 
Decke'*  etc.  Wie  oft  habe  ich  Iiiiren  miis-?en,  da«^  Frauen  nnd  halb  gebildete 
Mäuuer  solche  Schilderungeu  „reifend,  eutzäckeud,  poetisch"  finden. 


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—  26  — 


Bochfir  in  den  Leihbibliotlieken  finden,  ist  unbedingt  schädlich,  selbst 
dtim,  wenn  es  blosse  Phantasterei  ist  nnd  keine  absolut  unsittlichen 
Grundsätze  nnd  Ideen  verbreitet.    Mit  der  Untcrlialtunirslectflre  fär 
Kinder  steht  die  Sache  zum  Theil  anders.    Wer  die  Unmasse  von 
iadm  und  oft  geföhrlicbem  Geschwätz  kennt,  das  in  der  Form  von 
Jogendleetttre  Jahr  aas  Jahr  ein  erschemtf  gekaoft  and  gelesen  wird, 
iBiisB  freilich  oft  in  Yenachmig  gefthrt  werden,  Uber  diese  ganze  Art 
von  Uteratar  den  Stab  zn  brechen.  Aber  man  darf  nicht  „das  Kind 
mit  dem  Bade  anssehütten''.    Es  gibt  in  der  That  MiiilLer  nnd  auch 
Fraoen,  die  für  Jogendsdiriften  soldier  Ali;  kfinstlerisehe  Begabung 
bemtM,  oder  besessen  haben.  Sie  unterscheiden  sich  von  dem  Tross 
der  andern  dadurch,  dass  sie  echten  Dichtern  gleich  den  Stoff 
idealisiren  nnd  dabei  in  eine  Form  bringen,  die  besonders 
fär  Kinder  verständlich  und  interessant  ist  Aber  die  Zahl 
dieser  Scäriftstdler  ist  nicht  gross;  auch  ist  nicht  Jedes  ihrer  Bftcher 
SB  Wert  dem  andern  gleich.  Einige  unter  diesen  Jugendschriftstellern 
sind  Vielschreiber  geworden,  haben  Bftcher  auf  Aecord  geliefert  und 
m  diesem  Zwecke  Novellen  und  Bomane  geplfindert  Es  ist  also  sehr 
nothwendig.  die  Unterhaltungsliteratnr  für  Kinder  sehr  sorgsam  zu 
sichten.   Aber  die  wirklich  guten  Sachen  darf  man  den  Kindern  geben, 
da  sie  wie  leichte  dichterische  Kunstwerke  wirken.   l)as  Lesen  solcher 
BÄcher  gewährt  der  Jugend  einen  reinen  Genuss.  Dagegen  miisseu 
alle  schlecht  ge^schriebenen  Bücher  dieser  Art  den  (reschmack  ver- 
derben, die  Phantasie  venvildeni,  die  gesunde  geistig»'  und  köri>tnliehe 
Entwicklung  des  Kindes  schwer  beeinträchtigen.   Am  meisten  werden 
von  GefahniU  dieser  Art  die  Mädchen  bedroht;  denn  in  den  letzten 
Jahrzehnten,  seitdem  die  „Frauenfracre"  zu  einer  ..breinienden"  ge- 
worden, hat  .sich  eine  übergrosse  Menge  von  Weibern  auf  Jugend- 
>chriftstellerei  geworfen  und  hat  mit  Hilfe  von  schlauen  Verleirern  die 
Lesewut h  der  weiblichen  Jugend  und  die  'i'horheit  und  Sorglosigkeit 
der  KlteiTi  in  so  schamloser  Weise  ausgebeutet,  dass  man  in  der  That 
versucht  wäre,  gegen  dieses  Treiben  die  Hilfe  der  Polizei  anzurufen. 
Solche  Bücher  werden  fein  ausgestattet,  mit  hübschen  Fildern  geziert, 
erhalten  als  Beigabe  zum  Titel  die  Bemerkung  „für  reitere  Mädchen'' 
fÄT  „Mädchen  von  13—16  Jahren",  für  „meine  jungen  Freundinnen", 
für  „Töchter  der  höhem  Stände",  werden  fast  sSmmtlich  auf  den  Weih- 
nachtsmarkt gebracht  und  von  den  Eltern  so  eifrig  gekauft,  dass  die 
Verleger  gute  Gteschäfte  machen  und  die  Schriftstellerin  selbstver- 
ständlich za  nenen  Leistungen  auffordern.   Die  unschuldigsten  Sachen 
enthalten  fades,  silssliches  nnd  frömmelndes  Gheschwätz,  einzehie  sind 


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—   26  — 


aber  so  gefithrlichen  Inhalts,  dass  man  in  der  That  oft  erschrickt. 
Für  den  Culturliistoriker  und  den  Mädchenschullehrer  sind  sie  insofern 
interessant,  als  sie  „Einblick  in  die  P>ziehung  der  Mädchen  in  den 
liöheren  Ständen",  in  den  ..yuten  Familien''  gewälu'en.  Abei*  dieser 
Einblick  ist  wahrlich  kein  erlreulicher.  In  den  oft  mit  photographischer 
Treue  gezeichneten  Bildern  zeigt  die  dort  gesdiilderte  weibliclie 
Jugend  nirgends  sittlichen  Ernst,  nirgends  eine  ideale  Lebensanschauun^r, 
sondern  überall  das  widerlichste  Tändeln  mit  der  Arbeit,  ein  frivoles 
Spielen  mit  den  edelsten  und  heiligsten  Gefühlen  des  Menschenherzens 
und  ein  übermässiges  Haschen  und  Jagen  nach  (renuss.  Nirgends 
zeigt  sich  eine  Spnr  von  Interesse  an  geistigem  Leben:  es  ist,  als  ob 
das  gesammte  Denken  und  Streben  sich  in  seinem  Kern  um  die  Frage 
drehe:  Wie  kriege  ich  einen  Mann,  wie  mache  ich  recht  bald  eine 
„gute  Pai'tie'S  damit  ich  mich  hübsch  putzen,  viele  Vergnäguugeii  mit- 
machen und  recht  behaglich  leben  kann?  Überall  leichtahmige  nnd 
gedankenlose  Sinnlichkeit;  es  ist,  als  ob  für  diese,  hier  geschilderte 
Welt  der  kategorische  Imperativ  der  Pflicht  überhaapt  gai*  nicht 
ezistire.  Hat  diese  Gesellschaft  recht  viel  genossen  und  ist  sie  in 
ihrem  Streben,  eine  gnte  Partie  zu  machen,  gescheitert,  so  wird  sie 
fromm  und  ergeht  tküOL  in  schwungvollen  Schildemngen,  wie  sie  in  dem 
Leben  in  Jesu  nun  endlich  „Buhe  gefunden".  Nach  Art  der  Blau- 
strümpfe haben  simmtiiche  Schriftstellerinnen  in  den  geschilderten 
Mädchen  sich  selbst  contotftit  oder  Scenfin  nnd  Handlangen  geschildert, 
an  denen  sie  selbst  als  Backfische  nnd  Jnngfinanen  im  blflkhenden  Alter 
inniges  Behagen  gefUUt  haben;  denn  sonst  vfirden  sie  .nicht  so  natnr^ 
wahr  enihlen  und  durch  die  Erzählungen  jungen  Mädchen  Genuas 
b^ten  vollen.  Nnn  sollte  mtm.  mehien,  dass  solche  Darstettangen 
wenigstens  der  Mehrzahl  von  Mädchen,  die  eine  höhere  Töchterschule 
besacht  haben,  widerlich,  ja  abscheulich  sein  mttssten.  Das  ist  aber 
durchaus  nicht  der  Fall  Im  Gegentheil  findet  die  Mehrzahl  gerade 
an  sdohem  SpOiwasser  sit  venia  verbo  —  den  grQssten  Gennss. 
Warum?  well  diese  Mädchen  aus  der  sogenannten  guten 
Gesellschaft,  die  Töchter  gut  situirter  Eauflente  nnd  der 
höheren  Beamten,  darin  eine  treue  Schilderung  ihres  eigenen 
Denken»  und  Treibens  finden  und  infolge  ihrer  mangel- 
haften Erziehung  dies,  alles  als  „reizend,  entzflckend*'  be- 
trachten. Ich  spreche  aus  Erfiiüirung.  Als  ich  vor  fünf  Jahren  mein 
jetziges  Amt  Übernahm,  wurde  mir  zugleich  die  AuMoht  Aber  die 
ziemlich  umfemgreiche  Schfllerinnenbibliothek  Übertragen.  Am  Ende 
des  ersten  Jahres,  als  ich  Zeit  gewonnen  hatte,  mich  eingehender  um 


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die  Privatlectüre  der  Schüleriimen  meiner  Oberclasse  zu  bekümmern, 
bemerkte  ich,  dasB  die  Mädchen  besonders  eifrig^  die  von  Frauen  Ter- 
U/asUrn  Schriften  verlangten.  Ich  hatte  bis  dahin  diesen  Zweig  der 
.Tugendliteratur  noch  nicht  kennen  gelernt.  Die  Leselast  meiner 
l3esten  SchOlerinuen  veranlasste  mich,  zunäclist  einige  der  gelesensten 
Bacher  dnrchzaarbeiten.  Zu  rndnem  irahren  Entsetzen  monto  ioh  finden, 
dasB  sie  ein  Zeng  enthielten,  ^raiehee  nur  einen  ganz  verdorbenen  Qe- 
sehniack  imdeinbedeiddiehTeiaogmeBQemttthi^^  Ich 
forsoiite  meine  Vfidehen  ans.  In  ihrar  mtianliahen  Weise  erklilrtMi  sie 
mir  fiust  ohne  Ausnahme,  dass  sie  diese  BBeher  „tekmdf  entzUckend" 
fsnden.  Die  zwei  besten  Sdittleorinnen,  Töchter  eines  Beehtsanwattes, 
ganz  vorzaglioh  begabte,  Msrige  and  für  ihr  Alter  kenntnisreidie 
Midchen,  fSuiden  ,,hesonderB  kOstUch*^  ein  gans  widerlich  vnd  frivol 
geechziebeneB  Booh:  ,3M]disehidiens  Leideii  und  Fkwiden'^  von  Clemen- 
tine Heifan.*)  Sie  erzfiUten  mir,  ihre  in  Snglaiid  lebende  Schwester, 
eiae  Lehrerin,  aiMte  daran,  dies  Bnch  ins  Engüsche  zn  fübersetseii. 
Faeta  loqnnntar!  Ich  .wlU  meinem  Vorgänger  damit  keinen  Vorwnif 
machen.  Möglich,  dass  «r  die  Sicher  nicht  selbst  gelesen,  sondern 
nnr  anf  Empfehlung  hin  augeschafit  hat.  Das  kann  einem  vielbe- 
schfiltigten  IHrjgenten  einer  grossen  Anstalt  schon  passhren.  Die 
Sache  liegt  tiefer;  sie  fällt  der  Erziehung  des  Elternhauses 
zur  Last  und  nicht  der  Schule.  Die  Leute,  welche  das  zerfah- 
rene und  frivole  Leben  und  Denken  so  vieler  in  Tochterschulen  ge- 
bildeter Mädchen  diesen  Anstalten  zur  Last  legen,  urteilen  zu  ein- 
seitig und  teilweise  ganz  unrichtig.  Freilich  wird  in  vielen  von  Frauen 
geleiteten  Piivat-Töchterschulen  und  Pensionaten  dies  Tändeln  mit 
der  Arbeit,  dies  Haschen  nach  äus.^ereni  Schein,  die  Lust  zu  Putz 
und  Tandi,  und  die  gefährliche  Frauenkrankheit,  der  Kigensinn,  eher 
begriinstigt ,  als  energisch  unterdrückt:  aber  die  Ausbildung  dieser 
Fehler  lallt  allein  den  Familien  zur  Last.  Wenn  die  eitle,  hoch- 
muthige  und  gedankenlose  Mutter  schon  die  kleinen  Mädclien  wie  Zier- 
äflfchen  putzt,  auf  „reizende  Kinderbälle"  führt,  sie  sorgfältig  vor  dem 
Umgänge  mit  Kindern  ..subalterner  Menschen''  zurückhält,  weil  der 
.*^tand  ihres  Mannes  solclie  Rücksichten  fordert;  wenn  sie  selbst  den 
Mädchen  mit  Eigensinn,  mit  Putz,  Haschen  und  Jagen  nach  Ver- 
gnügungen, Tändelei  mit  der  Arbeit,  Coquettiren  mit  der  Männenvelt,  « 
herber  Bekrittelung  ihrer  Mitmenschen  und  lägenhaftei*  Höflichkeit 
und  nKatzenfreundlichkeit"  Tag  ans  Tag  ein  als  Muster  vorangeht: 


*)  Der  Inhalt  dieses  Bnehes  wird  wdtarfain  besprochen  werden. 


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wie  soll  da  in  dem  zum  sinnlichen  Geniessen  «?('neif>"ten  G-emttth  des 
Kindes  der  katei?orische  Imperativ  der  Pflicht  ausi^ehildet,  wie  soll  da 
das  Gute  g-etordert,  die  Seele  für  ideales  Streben  erwärmt,  auch  nur 
interessirt  werden  k(3imen?  Die  Mädchenschule,  welche  wie  jede  andere 
sich  diese  Aulgabe  stellt,  hat  unter  diesen  Umständen  eine  wahre 
Sisyphusarbeit,  und  es  gehört  wahrlich  die  ganze  Begeisterung  und 
Hingabe  an  den  Lehrerberuf  dazu,  um  bei  solcher  Erkenntnis  nicht 
zu  verzagen  und  ohne  Aussicht  auf  tüchtigen  Erfolg  ..das  Gute  schwei- 
gend in  die  unendliche  Welt  zu  werfen  und  zu  hotten,  dass  der  ruhige 
Khythnuis  der  Zeiten  endlich  die  EntAsickelung  bringen  werde".  Viel- 
leicht werden  einige  meiner  Herren  CoUegen  behaupten,  in  ilii'en  Schu- 
len zeigen  die  Mädchen  einen  liesser  gebildeten  (Geschmack,  so  dass 
sie  an  dein  von  Frauenhand  geschriebenen  Lesefutter  keinen  (xefallen 
finden.  Ich  miiss  dies  entschieden  bezweifeln.  Seitdem  ich  meine 
Mädchen  über  die  innere  Hohlheit  und  Gemeinheit  jener  Jugendschrif- 
ten aufgeklärt  habe,  verlangen  alle  nach  besserer  Leetüre  und  die 
mehr  als  100  Bände  dieses  Geschreibsels  liegen  unberührt  abgeson- 
dert in  einem  nur  mir  zagäogliclu  u  Winkel  der  Bibliothek;  aber  ich 
Inn  weit  davon  entfernt  zu  glauben»  nun  habe  sich  der  Geschmack 
meiner  Schülerinnen  im  wesentlichen  verändert.  ^lein  Wort  gilt  ihnen 
als  wahr;  aber  von  der  auf  Autoritiit  gegi-ündeten  Annahme  bis  znm 
wahren  Interesse  an  besseren  Geisteswerken  und  vollends  bis  zur 
echten  Freude  an  dem  Genus  derselben  ist  noi  h  ein  sehr  weiter  Weg. 
Da  dieser  Weg  durch  die  oben  geschilderte  Erziehung  der  meisten 
Mädchen  erschwert  wird  und  das  Familienleben  der  „besseren  Stände** 
überall  das  gleiehe  ist:  so  muss  ich  annehmen,  dass  die  höheren 
Hädchensehulen  in  dieser  Hinsicht  Überall  dieselben  wenig 
trostreichen  Erfolge  erzielen  werden.  Man  m9ge  mich  nicht 
tadeln,  dass  ich  so  offen  spreche.  Die  Jugendlectttre  ist  gerade  für 
die  weibliche  Jugend  eine  Sache,  die  nicht  sorgfältig  genug  erwogen 
^und  beachtet  werden  kann.  Da  hilft  nicht  Schönförberei,  sondern 
klare  Erkenntnis.  Ich  will  darum  hier  noch  in  der  Kürze  aus  der 
Fülle  der  von  mir  ausgemerzten  Schriften  diejenigen  be^rechen,  welche 
damals  von  meinen  Mädchen  am  begierigsten  gelesen  wurden. 

Aus  der  Pension,  Briefe  einer  15jährigen  an  eine  17jährige, 
•  frei  nach  dem  Englischen  von  Sophie  Verena. 

Unser  Buch  ist  bereits  die  4  Auflage.  Der  Inhalt  ist  fblgender.*) 


*)  Ich  gebe  nur  abgerisseue  Xutizeu,  um  deu  Leser  zu  orieutireu.    Sie  werdeu 
genügen,  um  mdne  obigen  Behauptungen  cu  rechtfatigen. 


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Kätclien  wird  vou  ilirer  „bösen''  Mama  in  die  Pension  jresiliickt. 
Scliilderuiig  der  Lelirerin  in  der  Weise  eines  verzogenen  t'reclien  Back- 
fisches, der  keine  ^Spur  von  feinem  Gefühl  besitzt.  Kätrhen  „verhei- 
ratet' sich,  d.  h.  sie  spielt  mit  einem  andern  Backfisch  Mann  nnd 
Frau.  Ihr  „Manu",  Fanny,  ist  im  Stillen  mit  einem  Seecadetten  ver- 
lobt, hat  eine  Locke  seines  Haares  im  Busen  verborgen.  Kfitchen  muss 
ihr  als  dem  Manne  alles  geben,  sicli  beherrschen  lassen.  Boshafte 
Schilderung  ihrer  Mitschülerinnen.  Alle  weiblicben  Untagendcn  kom- 
men dabei  zum  Vorscliein,  bekritteln  des  Anzuges,  der  Familienver* 
hältnisse  u.  s.  -w.  Alle  Backfische  erhalten  geheime  Briefe  von  Ca- 
detten,  Apothekern  etc.,  sie  seihst  einen  von  ihrem  Anbeter,  im  Ärmel 
des  neuen  Kleides  versteckt  ,^a,  wir  werden  doch  noch  einmal  Mann 
und  Fran  werden,  wenngleich  es  noch  lange  dauern  wird,  denn  Arthnr 
ist  erst  Chdett^  Gemeine  Streidie,  nm  die  Lehrerinnen  zi  ärgern« 
Berichte  nher  die  Lehrer.  «Arno,  ich  liebe,  das  mögen  wir  Alle  gern 
coigngiren  nnd  ich  denke  dabei  an  Ihn,  wenn  ich  lerne.  Herr  Lnciaa 
Sflberblidc,  der  Mnsiklehrer.  Schwärmerei  für  den  httbscheii  Geck, 
der  seine  feinen  Hände  bewundern  lässt,  duftiges  Haar,  feine  Wäsche 
trägt  tf&DSt,  als  ich  beim  Spiel  einen  zu  grossen  Lärm  machte,  er- 
griff er  meine  Hand  und  sagte  mit  sflsser  Stimme:  Jch  kann  diesen 
kleinen  weichen  Händen  nicht  gestatten,  so  alle  Harmonie  zu  morden,^ 
und  —  ich  glaube,  ich  fiUilte  emen  ganz  leisen,  sanften  Druck,  aber 
so  zart  und  leise,  wie  von  einem  Kinderhändcheo.  Ich  trug  gerade 
den  httbechen  Bing,  und  seitdem  soll  ich  ihn  jedem  der  Mädchen  zm* 

Cla vierstunde  borgen.   Als  ob  es  blos  der  Ring  wäre,  der  

„Gestern  war  Freitag  und  Vollmond.  Wir  entkleideten  uns,  stell- 
ten uns  im  Halbkreise  auf  und  sprachen  langsam: 

In  der  stillen  Stunde  der  Ifittomacht, 

Wo  der  Vollmond  Idar  am  Himmel  atraMt, 

Sei  schüchtern  die  Bitte  daigebiacht, 

Dass  der  Tniuni  nns  dcsson  Bildnis  iiialt, 

Per  einst  bestimmt  ist,  liier  auf  Krdcn 

Unser  treuer,  liebender  Gatte  zn  werden." 
Den  Traiun  will  sie  nicht  erzählen,  denn  tlit'  Strafe,  unverheiratet 
zn  bleiben,  tindet  sie  zu  enlspt/lidi.  Sie  vcrlaii^^t  vom  ihrer  Freundin, 
sie  solle  Arthur  als  ihren  veriieiratelen  Kruder  juitbrint^en .  damit  er 
Zutritt  zn  dem  Pensionate  erhalte.  Ich  ^-laube,  diese  Proben  werden 
geniigen,  um  das  Buch  zu  kennzeichnen.  I^s  ist  in  der  „(Gartenlaube^* 
and  in  fler  „Nationalzeit nn<r"  sehr  g-elobt  worden! 

Backlisc heben s  Leiden  und  Freuden  von  Clementine  Helm. 
Ein  Backfisch  von  15  Jahren,  auf  dem  Lande  erzogen,  kommt  zur 


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—   30  — 

woUiabenden  Tante  Ulrike  nach  der  Stadt,  Tim  liier  feine  Lebeusiirt 
zu  lenien.  Ihre  Leiden  bestehen  darin,  dass  sie  gewöhnt  wii-d.  sich 
«auber  zu  waschen,  zu  kämmen,  die  Ziüiue  zu  putzen,  allerlei  Unarten 
und  Dummheiten  abzulegen.  Ausserdem  wird  sie  angehalten,  feine 
Knixe  zu  macheu  und  sich  den  Regeln  der  „Geheimrats weit"  gemäss 
zu  betragen.  Das  Leben  dieser  Kreise  wird  dabei  in  der  ti-ivialsten 
Weise,  ohne  eine  Spur  von  Idealisirung  gezeichnet  Wenn  das  gute 
Ding  ihren  natürlichen  Gefühlen  freien  Lauf  lässt,  wird  sie  sofort  ^n 
die  ,.Jitikette"  gemalmt,  dabei  oft  in  einer  Weise,  dass  man  die  Tante 
Ulrike  als  Erzieherin  geni  ins  TfefFerland  schicken  möchte.  lu  einer 
der  ..feinen'*  Gesellschaften  jener  Kreiste  lernt  sie  einen  jungen  unge- 
lenken Baron  kennen,  nimmt  sich  freundlich  seiner  Verlegenheit  an, 
und  es  bildet  sich  bald  ein  Liebesverhältnis.  Der  junge  Baron  will 
sie,  das  16 jährige  Ding  heiraten.  Sie  gibt  ihm  mit  Bedaum  eineii 
Korb.  ,^ch  ich  wünschte  von  Herzen,  er  fände  bald«  was  er  sacbte 
und  was  ich  Ihm  nicht  bieten  kann!"  Tante  Ulrike  nimmt  nadi  einiger 
Zdt  ein  anderes  junges  Hidcben,  £agenie,  bei  sich  aufw  Qegentheü 
von  Gfetohen.  Ganz  Teraogeor  herrisch,  eigensinnig,  faul,  gennssttch- 
tig,  will  nur  die  voniehme  Dame  spielen.  Die  Erziehung  der  Mädchen 
in  den  Hänseni  der  Eeichen,  die  dem  höheren  Adel  nachäffen,  wird 
duooh  ihi*  Benehmen  mit  widerlicher  Treue  dargestellt  Das  einfach 
erzogene  „Gänseblümchen",  erhält  nan  die  Aufgabe»  durch  sein  Bei- 
Ufigü  und  seine  Ermahnungen  das  verzogene  Mädchen  zu  bessern!  Dabei 
entpuppt  sich  dies  widerliche  Ding  plötzlich  als  i»«Mfdi«H  W<^thAterin 
der  Armen,  als  fiBine  Kennerin  der  Werke  nnseier  grossen  Diohter. 
Sie,  das  junge  Dingi  das  bisher  jeden  Untsmcht  ^  langweilig^  ge- 
tmBim  iiat»  tot  VMe.mlt  fefaifiniYflratindiKfol  SehiÜeraag  edaies  BaUes 
nrit  ail  4kn  ThoKheiten  und  .ftden  L&elteleieii,  'die  dabei  so  oft  ebe 
HauptroHe  spielen.  Man  eurlge:  sedoehiglUiiige  Backfische  auf  solch 
einem  Balle.  Dabei  stellt  die  Yerfltfserin  Tante  Ulrike  als  das  Küster 
einer  Erzieherin  auf!  Ausflug  auf  das  Land.  Baron  Senft,  der  abge- 
wiesene Liebhaber,  rettet  die  Mädchen  von  dem  Angriff  eines  wild 
gewovdenen  Stiens.  E^genie  will  mit  ihm  euie  Liebelei  anknftp&n, 
schreibt  an  ihn.  «»YorsteUung  zu  wolthfttigem  Zweck",  die  bekannte 
Lieblingtbeschäftignng  der  JMiersn  Stande",  um  die  Zeit  zu  tttdten, 
den  Ji)eadigftigten  Mitesiggange**  sn.MhMnL  Die  ganse:Frivfklität 
der  Lebensanschauung  dieser  Kreise  tritt  dabei  ekelhaft  deutlich  zu 
Tage.  Der  schflchteme  Baron  hat  sich  seit  Jener  Stier-Aifoire  sterb- 
lich in  Eogenie  verliebt  Da  er  seine  Liebe  nicht  zu  gestehen  wagt, 
schreibt  sie  an  ihn  und  führt  damit  die  Verlobung  herbei  Die  Yer- 


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—  81  — 


fasserin  begleitet  diesen  Schritt  mit  den  Worten:  „Konnte  man  sie  (h's- 
hilb  tadeln?  Da  er  dies  Wort  nicht  auszusprechen  wagte, .warum  sollte 
sie  es  nicht  thun  und  dadurch  die  Pforten  ihres  Glückes  öffnen?*' 
Sie  wird  nun  mit  einem  Male  ^old  und  sittig"*,  später  eine  vortretf- 
liehe Gattin.  Nun  folgen  eine  Menge  Reimetiidrttcke,  erhakea  auf 
eiMr  Bäfie,  die  Gretchen  mit  der  Tante  macht  Im  Gebirge  wird 
m  von  bösen  Kerlen  bedroht,  von  einem  der  jmigei  Doctoren»  die 
aaf  dem  Balle  uid  in  den  Gesellschaften  sich  ihr  genaht  hatten,  aus 
dieser  Gefahr  gerettet  und  dieser  Edle  wird  BU  Hags  t4er  Geliebte 
ikrer  Seele^  and  sehHeeilich  ihr  Gatte.*) 

Das  Kr&nselieii  vm  Clementiiie  Helm,  «hmge  WMm,  mm 
grossen  IMl  nodi  Backfisehe,  imd  tmreife  jm^fe  Leute  bildeB  ein 
KrSiiMlieiL  (Ort  der  Handlmig  Berlin.)  Der  Zweck  ist,  die  ZeitMin 
TerMdeln,  skih  sn  amOsiren  und  junge  Leite  sa  aagehi.  Das  Game 
endigt  denn  auoh  ndt  allgemeiner  Terlobnng  md  Hochzeit  Doroh 
das  siemU«^  nnfimgreiche  Boeh  zielt  eioli  eine  Brafthfamg,  die  an  das 
SehidDBal  einer  vertianntiBn  pofauschen  Familie  geknüpft  wird;  aber 
8te  ist  nirgends  mit  den  einzelnen  Versammtmkgen  des  KrSnscheiis 
rngtsBOMch  verbmden,  sondern  dient  rar  daau,  das  ganm  Ilde  nnd 
ftirole  GesobwfltE  in  die  Lftnge  zu  ziehen.  Die  geselligen  Abende 
des  wKrinachens"  sind  trea  nach  dem  Lehen  gezeichnet  Man  glaubt 
die  albernen,  unreifen,  halbgebildeten  und  venogenen  Dinger  w  mk 
tu  sehen,  wie  sie  durcheinander  schnattern,  klatschen,  sdimähen,  sich 
eieren,  mit  Blicken  nm  sich  werfen  und  mit  den  jungen  Leuten  coquet- 
tiren.  Diese  Schilderung  soll  aber  nicht  als  abschreckendes  Beispiel 
dienen,  sondern  sie  wird  im  Gegentheil  /ur  Niichahmung  tVir  „Töchter 
höherer  .Stände"  empfohlen.  Nachdem  alle  Mitglieder  de^s  Kränzchens 
eine  „giite  Partie"  gemacht  haben,  lässt  die  Verfasserin  eine  der  Da- 
men sagen:  „Wenn  wir  alles  recht  überdenken,  hat  den  Grundstein 
zu  unserm  jetzigen  Lebensglück  einst  unser  , Kränzchen' 
gelegt" 

Die  Besprechung  der  beiden  letzten  Bücher  dürfte  genügen,  um 
die  ^'e^fasserin  Clementine  Helm  zu  charakterisiren.  Ihre  Schriften 
sind  ohne  Ausnahme  aus  Schülerbibliotheken  auszumerzen.  Die  Mäd- 
chen lasen  von  ihr  noch:  ,J*rinzesschen  Eva",  „Frau  Theodore"  und 
,»Lilly's  Jugend",  Schriften,  die  an  &deffl  Geschwätz,  an  alberner 

*)  Dasä  jene  beiden  Uiddieii  dJeeesBoch  lo  leisend  fandeo,  hatte  eehienOriuid 
darin,  da«  ihr  Vater  „ein  aehr  grosses  Hans  maehte"  and  die  Kmder  das  ganze 
tkdis  albene^  theOs  frirole Treiben,  wie  es  imBaehe  geeohfldert  wird, ans  dgenerBr* 
fidinag  kflOBen  getemt  hatten. 


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—   32   — . 

• 

pliantastischer  Eiliiulung  und  frivolem  Geist  die  oben  geschildeiten 
wouiöglicli  noch  überbieten. 

Blüthen leben  von  Lina  Morg-enstem.  Wirr  durcheinander  ßfe- 
worfene  Ereignisse  werden  ohne  Geist  und  Leben,  oft  olme  Sinn  und 
Verstand  in  der  widerliclien  ^^'eise  schwatzender  Blaustrümpfe  ei-zälilt. 
Laura,  eine  der  Hauptpersonen  des  Buches,  beginnt  am  Voiabende 
iiires  10.  Geburt staj^es  ein  Tagebuch  zu  schreiben.  „Zu  dichten  und 
zu  siniren-,  zu  studiren  und  zu  sclireiben,  mich  in  die  AVunder  der 
Natur  zu  versenken,  stundenlang  den  bestiraten  Hiumiel  zu  beobachten, 
über  die  Gesetze  naclizudenken,  welclie  das  Weltall  zusammenhalten, 

das  war  meine  innere  Lust;  aber  Strümpfe  stopfen  "  „Confir- 

niation!  Nicht  ohne  iunei'en  Kampf  und  Selbsti)rüfiing  ging  jene  Zeit 
der  Weihe  au  mir  vorübei  .  Meine  Religion  sei  Menschenliebe  und 
nichts  so  sehr  mein  Feind  als  Heuchelei  und  Glaubenshass  ....,.** 
,4)och  ein  anderes  Bild  tritt  mir  vor  die  Seele.  Als  ich  ihn  zum 
ersten  Mal  im  Kreise  der  Frohen  gesehen,  erbebte  mein  Herz.*)  Der 
Tanz  vereinigte  uns,  ab^  wir  sprachen  wenig  mit  einander,  denn  er 
ist  unserer  Sprache  nicht  mächtig  und  ich  nicht  der  seinigen.  Seine 
Zurückhaltung  hält  man  fttr  Stolz  und  nennt  ihn  den  pohlischen  Adiei*. 
Aber  es  ist  nichts  als  Traurigkeit  ^ 

Die  Liebelei  mit  diesem  Polen  zieht  sich  durchs  gajute  Buch. 
Daneben  alle  möglichen  anderen  Liebesgeschichten.  Keine  Spur  von 
höheren  Ideen,  von  Idealisirung  des  Stoffes.  Laura's  Tagebuch  hat 
nur  insofern  Wert,  als  es  jedem  nur  halbwegs  gesunden  M&dchen 
diese  Manie  gründlich  verleiden  muss. 

Weihnachtsmärchen  von  Louise  Büchner.  Die  Ver&sserin  hat 
das  liebliche  deutsche  Märchen  von  I<>au  Holle  zur  moralischen  Be- 
lehrung für  unordentliche  Kinder  und  —  „schmutzige  Mamas"  ein- 
gerichtet. Dies  wird  genügen,  damit  sich  jeder  dies  Zeug  ausmalen 
könne.  In  ähnlicher  Weise  wird  die  Erzählung  vom  „Knecht  Rup- 
rechts, vom  „Kräntlein  Eigensinn",  vom  „Tannenbaum"  behandeli  Unter 
anderem  sollen  die  Vögel  Feuer  von  der  Sonne  holen.  Der  Zaun- 
könig bringt  einen  Sonnenstrahl  im  Schnabel! 

Frau  Lina  Morgenstern  und  Frau  Louise  Büchner  sind  als  Füli- 
reniiiK'U  in  den  Bestrebungen  der  i^'rauenvereine  wol  bekannt.  Wenn 
ich  nicht  irre,  sind  ihre  Porträts  sogar  durch  die  „Gartenhiube'*  aller 
Welt  vor  Augen  geführt  worden.  Sie  mögen  in  mancher  Hinsiclit 
segensreich  wirken  j  aber  zum  J^chriltstelleru  haben  beide  keinen  Be- 

*)  Damals  war  iie  16  Jahre  alt,  Backfiüch,  vielleicht  noch  Schulkind. 


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—  33  — 

iQ^  und  am  allerwenigsten  soUten  sie  fttr  die  weibliche  Jugend  schrei« 
ben.  Ihre  Schriften  sind  gldchiSüls  anf  den  index  libromm  prohibi- 
tonuH  zn  setzen. 

In  fthnlicher  Weise  schreibt  Rosalie  Koch.  Ihre  Schriften  ent- 
haitea  durchweg  Mes,  langweiliges  Geschwätz  und  phantastische  Er- 
fiBdong  und  können  danim  nur  verbildend  wirken,  wenngleich  ihre 
Ansichten  nicht  wie  die  von  Clementine  Helm  als  firivol,  sondern  nur 
alsscfawftcUich,  sentimental,  oft  als  albern  zu  bezeichnen  sind.  Sie  mnss 
mit  ihrem  Geschreibsel  ein  gntes  Geschäft  machen,  denn  unsere  Biblio- 
thek sählt  allein  16  Bände  von  ihrer  fland  und  darunter  recht  um- 
fiuigreiche  Sachen.  Viel  gelesen  wurden  in  meiner  Schule  ihre  Bilcher 
„Gedenke  mein.**,  „Veilchenmoos"  und  „Maiblumen'*.  Alle  drei 
enthalten  bald  kärzere,  bald  längere  Erzählungen.  Überall  eine  phan- 
tastteche  Welt,  wie  sie  sich  in  der  Phantasie  einer  halbgebildeten 
alten  Jungfer  malt,  die  Personen  überall  Masken,  durch  deren  Mund 
die  Verfasserin  ihi-e  nichts  weniger  als  klaren  und  vernünftigen  An- 
sichten aussprechen  lässt;  tiberall  grelle  und  unwahre  Darstellung  der 
guten  Armen  und  der  bösen  Reichen.  In  Nr.  3  der  Sammhing- 
blnmen"  werden  2  Familien  geschihha-t.  Tu  der  Dachkammer  ilie  ent- 
si'tzlicli  arme  Schlosserfamilie,  im  JSalun  die  des  geheimen  Domainen- 
raths.  Hier  Betrug,  Unterschlagung  von  Geldern,  um  den  gi'ossen 
Aufwand  zu  bestreiten;  dort  unverscliuldetes  Elend.  Die  Tochter  des 
Geheimraths  kriegt  Lust,  die  schönen  weissen  Zähne  der  Tochter  des 
Scblossei*s  zu  besitzen  und  bietet  ihr  für  jeden  Zahn  1  Goldstück. 
Das  Mädchen  lässt  sich  2  Zähne  ausreissen,  um  tur  den  Erlös  iliren 
Eltern  eine  \\'eihnachtsfreude  zu  maclien!  Die  Goldstücke  bringen  dann 
die  Familie  in  ungerechten  Verdacht,  und  in  grosses  Leid.  In  ,,Ge- 
deidve  mein"  knüpft  sich  die  Entscheidung  einer  Erzählung  an  ein 
goldt-ncs  Kn*uz,  das  von  dem  frr»nnnehideu  Mädchen  „aus  Liebe  für 
die  armen  blinden  Heiden  geoplert  wird".  Diese  Liebe  bringt  ihr  eine 
recht  LMite  Partie  ein.  In  eim-i-  andern  i^rzählung  lässt  die  V<'r- 
fasserin  eijien  Oberturster,  der  grossen  Abscheu  gegen  Hhuistrumpferei 
zeigt,  durch  die  Frzälilung  curiren,  dass  Agnes  Franz  mit  dem  Er- 
lös aus  solchem  Geschreibsel  4  Waisen  erzieht.  In  einem  andern 
Stück  werden  uns  die  Leiden  eines  jungen  Mannes  geschildert,  der 
als  vorgeblich  reicher  Erbe  von  einem  Mädchen  unter  Vorspiegelung 
wahrer  Liebe  geangelt  wird.  Das  enttäuschte  Weib  und  deren  Mutter 
behandeln  den  Ungldcklichen  so  entsetzlich,  dass  er  am  gebrochenen 
Herzen  stirbt. 

Das  soll  Leetüre  für  Mädchen  sein!  Dadurch  sollen  sie  für  Schöna«^ 


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—   34  — 

und  edles  iiKMisclilk'hes  'I'liuu  begeistert  werden!  Wie  ist  es  nur  nir>g-- 
lich,  dass  eine  Dame  Jahr  aus  Jahr  ein  solcli  ein  Zenir  zusammen- 
sehreibeu  kauu!  In  all  den  16  Bänden  ist  genau  dieselbe  Mache  zu 
linden. 

Ganz  älinlich,  nur  noch  fader  und  liässlicher  sind  die  Schriften 
von  Thekla  von  (rumpert.  Auch  sie  ist  eine  Vielschreibenn.  In 
unserer  Bibliothek  tragen  15  Bändchen  ihren  Namen.  Ausserdem  ist 
von  ihr  eine  ganze  Werkstatt  eingerichtet  worden,  in  der  sie  im  Ver- 
ein mit  anderen  Schriftstellerinnen  Jahr  aus  Jahr  ein  dicke  Bände, 
benannt  ,.Töchter- Album"  und  „Herzblättchens  Zeitvertreib", 
iabriüirt.  All  die^  Zeug  ist  aus  Jugeudbibliotheken  zu  entfernen, 
wenngleich  die  Mädchen  darauf  ^vie  versessen  sind.  Wer  da  meint, 
ich  schfltte  das  Kind  mit  dem  Bade  aus,  der  quäle  sich  wie  ich  es 
gethan  nnd  lese  die  Bände  durch.  Er  wird  mir  schnell  genug  Recht 
gehen. 

Erzählungen  von  Emmy  von  Roskowska.  Die  Verfasserin 
wurde  in  der  Conflictszeit  vor  1866  angeklagt,  für  eine  demokratische 
Zeitong  Novellen  von  aufrührerischer  Tendenz  geschrieben  zu 
haben.  %ftter  scheint  sie  von  der  politischen  Schriftst^erei  $xs£  das 
Abfhssen  von  Jugendschriften  gekommen  zu  sein.  Leider  ist  der 
Jugend  daraus  kein  Heil  erwachsen.  Ihre  Erzfihlungen  zeigen  genau 
dieselben  Mängel  wie  die  von  Bosalie  Eodi;  nur  schildert  sie  noch 
in  viel  grelleren  und  flbertriebeneren  Farben.  Obgleich  die  Ehrzählongen 
überall  eine  Art  von  moralischer  Tendenz  zeigen,  wird  man  von  den- 
selben doch  geradezu  angeekelt;  denn  alles  ist  Aberkannt  und  unwahr 
und  man  ftthlt  nur  zu  leicht  heraus,  dass  die  Verfiisserin  auf  den 
treuen  Schüdenmgen  der  ganz  verzogenen  Jugend  der  hOhmn 
Stände  mit  grosserer  Vorliebe,  als  auf  den  phantastisch  gemalten 
BUdem  aus  dem  Leben  der  ärmeren  Classen  verweilt 

Erzählungen  von  Marie  Nathusius.  Die  Yer&sserin  hat  zum 
Erzählen  Talent  Znweil^  interessirte  mich  der  Anfang  emes  Stockes 
so,  dass  ich  glaubte,  eme  echte  Dichterin  vor  mr  zu  haben.  Aber 
es  ist  doch  nur  eine  recht  gute  dilettantisdie  Begabung  vorhanden, 
und  leider  wird  alles  durch  eine  widerliche  tendenziöse  ErOmraelei 
entstellt  und  dadurch  ganz  verdorben.  Die  kleineren  Erzählungen, 
wie  „Tante  Sophie",  „das  Rectorat",  „David  Blume*',  „der  Weg  zum 
Glücksbaum",  könnte  man  noch  gelten  lassen;  aber  die  gi-össeren,  wie 
,.l)er  Vormund"  und  „Die  alte  Jungfer"  sind  auszumerzen.  Im 
„Vormund"  ist  ein  junges  Mädchen  durch  ihre  franzr>sische  Erzieherin 
mit  Hass  gegen  die  Pietisten  erfüllt  worden,  so  dass  sie  vuu  ihrem 


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—  35  — 


Vormofid,  einem  überaus  frommen,  der  pietistisclien  Ricbtung  ergebenen 
Manne,  anfangs  durcliaus  nichts  wissen  will  Sie  wird  schliesslich  so 
bekehrt,  dass  sie  sich  wie  eine  Erweckte  aus  dem  Wupperthale  ge> 
berdet  In  der  „alten  Jnngfer"  hat  die  Verfasserin  iluen  eigenen 
Lebensgang  geschildert  '  Wenigstens  beginnt  sie  mit  den  Worten: 
JSkJXMßn  ans  meinem  Leben  will  ich  niederschreiben^  und  gibt  nirgtmds 
dne  Andeatang,  dass  das  Ganze  nur  Fiction  seL  Der  Zweck  des 
Baches  ist,  Jonge  Mädchen  mit  dem  Stande  einer  alten  Jungfer  ans- 
zosOhnoL  nnd  ihnen  die  th^richte  Heiratslnst  zu  verleiden.** 
Der  zuletzt  genannte  Theil  ihrer  Absicht  ist  thöricht;  der  erste  wäre 
verdienstvoll,  wenn  sie  es  verstände,  die  Mädchen  fftr  ernste  sittliche 
Arbdt,  für  aufopfernde  Liebe  zur  Menschheit  zu  begeistern.  Aber 
kider  zeichnet  sie  uns  ein  ganz  widerliches  Lebensbild,  und  wenn 
dies  wirklich  das  ihres  eigenen  Lebau9ganges  ist,  so  sind  wir  voll- 
kommen berechtigt,  ihre  Schrifiben  der  weiblichen  Jugend  zu  ver- 
bieten. Als  junges  Mädchen  im  Pfiurrhanse  erzogen,  wird  sie  in  die 
Familie  eines  Barons,  des  Patronatsherm  der  Pfiurre,  eingeführt  Ihr 
ganzes  Sinnen  und  Denken  dreht  sich  in  dieser  Jugendzeit  um  Ter- 
gnügungen.  Putz,  Liebeleien,  um  das  Angeto  nach  dem  jungen  Baron. 
Später  kommt  sie  in  die  gi-osse  Stadt  und  dort  in  vornehme  Kreise, 
glänzende  Gesellschaften,  prächtige  Bälle.  Ihr  Wesen  wird  dadurch 
nicht  gebessert  Das  Angeln  nach  einer  gut^  Partie  wird  fortge- 
setzt, von  irgend  einem  dtüicfaen  Streben,  von  irgend  einer  Lust  zu 
emster  Arbeit  ist  keine  Rede.  Aber  das  Angeln  glückt  nicht  Endlich 
bietet  ihr,  als  sie  schon  passee,  schon  26  Jahre  alt  ist,  ein  tüchtiger 
Kaiitniaiiu  seine  Hand  an.  Der  Mann  ist  wolhabend,  ja  reich  zu 
neuueu,  ist  ordentlich,  reclit.scliaüen;  aber  er  ist  ein  Biirf^erliclier, 
stammt  aus  einer  ganz  oidiiiäreii  b  anülie,  und  sie,  obschou  die  l'ochter 
eines  bürgerlichen  Planers,  hat  doch  zur  Mutter  eine  Adlige  aus 
vornehmem  Hause!  Sie  weist  den  Kaufmann  ab.  Nach  einem  Jahre 
tritt  ein  alter,  verlebter,  ziemlich  roher  Major  als  ihr  Bewerber  auf. 
Sie  ist  anfangs  geneigt,  ihn  zu  lieiraten,  um  «rnädige  Frau  zu  werden 
und  später  womöglich  den  reichen  Mann  beerben  zu  können.  Da  wird 
sie  ^vom  Herrn  erweckt*'.  Sie  wird  mit  einmal  überlromm,  schlägt 
aus  „relitri^isen  Rücksichten"  die  gute  Partie  aus,  widmet  sich  der 
Pflege  der  Ihrigen  und  erzälilt  uns  nun,  wie  glücklicli  sie  seitdem 
durch  das  Leben  in  Jesu  geworden  ist.  Alb'  Tlieile  der  Erzählung, 
namentlich  Anfaufr  und  Ende,  sind  so  reichlich  mit  Citaten  aus  der 
Bibel  und  mit  Gesangbucliversen  geschmückt,  dass  man  merkt,  die 

Verlassei'in  ist  eine  frümmelude  pietisüsche  ^hwärmerin  geworden* 

8* 


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—   36  — 


Vor  solch  einem  Treiben  wollen  wir  unsere  Mädchen  denn  doch  emst- 
lich zu  behüten  snclien. 

Älmlich  Avie  Marie  Nathusius  sclireibt  eine  Dame,  die  sich  die 
„Verfasserin  von:  Wie  Gott  will"  nennt.  In  ihrem  Bache  ,J)a8 
glückliche  Loos"  führt  sie  uns  in  die  vonielimen  Kreise  der  Resi- 
denz, in  das  Haas  eines  Oberst  Martens.  Die  Schilderung  des  Lebens 
in  diesen  Familien  ist  tren,  aber  nichts  weniger  als  erfriscliend.  Der 
Oberst  ste(;kt  bis  zum  Halse  in  Schulden,  erfüllt  trotzdem  seinem 
Liebling  Flora  alle  thörichten  Launen,  wälirend  er  den  armen  hungern- 
den Schuster  mit  seiner  Rechnung  hochmüthig  abweist.  Flora  figorirt 
in  der  Erzihlmig  als  heiteres  Weltkind,  ihre  Schwester  Margarethe  — 
vielleicht  das  Selbstportrftt  der  Verfiisserin  —  als  die  frOhreife  tugend- 
hafte Frömmigkeit.  Sie  erkennt  die  „Sündensdinld  ihres  Vaters", 
betet  für  ihn,  dass  ihm  seme  Sflnde  vergeben  werden  mOge!  Nach 
dem  jähen  Tode  des  Vaters  beginnt  fttr  beide  Mädchen  eine  Zeit 
glänzender  Bienstbarkeit  bei  vornehmen  Leuten.  Die  tugendhafte 
Fromme,  deren  Mund  bei  jeder  Gelegenheit  von  salbungsvollen  Phrasen 
überströmt,  mrirbt  sich  die  Liebe  eines  frommen,  sehr  frommen  Oan- 
didaten  und  wird  schliesslich  „Frau  Pastorin**,  —  das  höchste  Glück, 
das  sich  frömmelnde  alte  Jungfern  erträumen  —  das  Weltkind  scheitert 
in  seinen  Liebesaffairen  und  wird  barmherzige  Schwester. 

Die  Lectflre  erregt  durchweg  WiderwiUen,  der  sich  an  vielen 
Stellen  bis  zum  Ekel  steigert. 

Die  Besprechung  der  vorliegenden  Bücher  dürfte  genügen,  um 
die  Sclireibweise  der  schriftstclleinden  Damen  zu  cliarakterisiren. 
Gelesen  liabe  ich  ausserdem  noch  Schriften  von  Louise  ThalhfiiH, 
^larie  v.  Olfers,  A.  Stein,  Julie  Hirsclimann,  Henriette  Hohenfeld, 
Kathi  Dietz,  Mary  Osten,  E.  Ebeling,  Elise  Püttner,  Louise  Alt, 
Marie  Hutbcror,  A<(n<*s  Franz.  Elise  Polko,  L.  I).  (der  kleine  Hausirer, 
die  Fistherstochten,  Emma  Laddey,  Johanne  Siedler,  Hedwig  Prohl, 
Marie  W'illkonuii.  Marie  Berger,  J.  Ruhkopf.  Die  ffenannten  Damen 
haben  sännntlich  zur  Jugendschriftstellerei  keinen  He  ruf,  denn  ihre 
Erfindun*ren  sind  durcli we<^r-  phantastisch  und  zeugen  von 
einem  bedenklichen  ManL'^el  an  soliden  Kenntnissen,  ihre 
Schreibweise  ist  iibers]»annt,  geziert,  oder  lanj^weiüg  und  schwatz- 
haft, ihie  LebensanschauunL''  beschränkt,  ohne  idealen  Schwung, 
oft  angefressen  von  widerlicher  Frömmelei,  oft  frivol. 

Ihre  Schriften  habe  ich  aus  unserer  Bibliothek  entfernt.  Einaelne, 
wie  „Die  beiden  Burgen"  und  „Strassburg"  von  E.  Ebeling  und 
ein  Schriftchen  von  K.  Dietz  wollte  ich  anfangs  noch  behalten,  habe 


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—  37  — 


flje  aber  nach  reiflicher  Überlognng  doch  ausgemerzt,  weil  sie  trotz 
mancher  gelimgeaen  Erfindung  nnd  Schilderung  doch  va  viel  phan- 
tastisches Zeng  darbieten.  Als  Jagendschriftstellerinnen  von 
Beruf  kann  ich,  soweit  meine  Kenntnis  reicht,  nur  (^Ue 
WiMermutli  und  Louise  PleUer  bezeichnen. 

Nachdem  daigdegt  worden  ist,  welche  Jngeadlectttre  den  Kindern 
zur  Arbeit  und  welche  ihnen  zum  Genuas  gereicht  werden  soll; 
nachdem  gezeigt  worden,  dass  man  bei  Auswahl  der  zum  Genuss 
dienenden  Unterhaltungslect&re  alle  Ursache  hat,  sehr  yorsichtig  zu 
sein,  bleibt  noch  die  Frage  zu  erörtern,  in  welchem  Masse  man 
den  Kindern,  namentlich  den  Mädchen  diesen  Genuss  zu  ge- 
währen hat 

Jeder  Genuss  wirkt  erst  aufregend  und  dann  ei^chlaffend. 

Beide  Zustände  stehen  zu  einander  in  proportionalem  Verhältnisse. 
Dalum  soll  der  Griiuss.  welcher  Art  er  auch  sei,  im  Leben  nicht  als 
Speise,  sondern  nur  als  Gewürz  betrachtet  werden.  Daraus  erjribt 
sich  für  Eltern  und  Erzieher  die  ernste  Malinunir.  das  Lesen,  welches 
grossen  Genuss  bereitet,  sehr  sor^altijj:  zu  üljei  waclien.  Als  Grund- 
satz möi::e  gelten,  dass  das  ilädchen  sich  au  rnterliailungslectiire  nie 
vor  der  Arbeit,  namentlich  nie  während  der  Arbeit,  sondern  nur 
nach  derselben  er<j:ötzen  dürfe. 

Dabei  ist  iiocli  Folgendes  zu  beachten:  Mäddien  sind  der  Melir- 
zahl  nacli  auf  solche  Bücher  „wie  versessen";  sie  haschen  namentlich 
gern  nach  Erzählungen;  welche  recht  grosse  Spannung  hei-vorbringen. 
Während  des  Lesens  sitzen  sie  nach  vorn  übergebeugt,  meistentheils 
die  Fti.sse  übereinander  geschlagen,  aufgestützt  fest  auf  einer  Stelle 
and  fliegen  die  Erzählung  duich.  Infolge  dessen  steigt  das  Blut 
übennisag  nach  dem  Gehirn,  ihr  Gesicht  wird  hochroth,  das  Herz 
Un^  an  nnregelmässig  zu  klopfen,  und  damit  gerathen  sie  in  einen 
Zustand,  der  nur  zu  sehr  geeignet  ist,  Störungen  im  Blutumlauf 
namentlich  im  Pfortadersystem  zu  erzengen  und  die  Nenrenthätigkeit  • 
zu  stören.  In  Memel  litten  drei  meiner  Schülerinnen  an  kramp&rtigen 
ZniUlen.  Ich  erftihr,  dass  sie  mit  Erlaubnis  der  thörichten  Mütter 
Jahrelang  bis  Mittemadit  Jugendschriften,  Bomane,  Novellen  und  die 
Erzählungen  ans  Zeitschriften  wie  die  „Gartenbube"  gelesen  hatten. 
Unter  meinen  hiesigen  Schülerinnen  sind  bisher  alle,  welche  in  der 
Zeit  der  Entwickelung  an  Bleidisucht  litten,  in  Folge  mangelhafter 
Erziehung  tou  der  ,Jie0ewnth**  beaessen  gewesen.  Ich  habe  privatim 
und  Öffentlich  die  Eltern  vieliSu^  ermahnt,  diese  Vielleserei  nicht  zu, 
dulden;  aber  die  Mütter  sind  meistentheils  zu  schwach,  den  Bitten 


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9 


—  38  — 


der  MSdchoi  zu  widerstehen,  namentlich,  wenn  sie  abends  sdhst  gerne 
lesen.  Daher  ist  es  unsere  Angabe,  die  Beschäftigung  mit  der  Unter- 
haltungslectflre  nie  m^  als  eine,  höchstens  zwei  Stunden  t&glich 
zu  dulden.  So  lange  das  MSdchen  die  Schule  besucht,  darf  die  Erlaubnis 
nur  an  Sonn- und  Feiertagen  auf  2  Stunden  ausgedehnt  werden.  Sobald 
man  dem  Gesichte  die  Erregung  ansieht,  wird  das  Buch  ohne  Wider- 
rede zugeklappt  Wenn  dabei  auch  Thrftnen  fliessen,  so  hat  das  nichts 
zu  sagen.  Niemals  dulde  man,  dass  „nur  noch  ein  paar  Seiten",  nur 
noch  „diese  eine  schOne  Stelle'*  gelesen  werde.  Dadurch  gewöhnt  man 
das  Midchen  an  Gehorsam  und  Selbstbeherrschung,  Eigenschaf- 
ten, die  dem  weiblichen  Geschlecht  in  bedenklicher  Weise  mangehL 

In  dieser  Art  habe  ich  meine  eigenen  Kinder  erzogen  und  darf 
(Jottloh  sagen,  dass  memo  feste  und  strenge  Erziehung  bei  den  sehr 
zur  Lesewuth  neigenden  Mädchen  gut  eingeschlagen  ist.  Wenn  die 
Schulmidchen  an  den  Nachmittagen  im  Winter  ihre  Schuhirbeiten 
angefertigt,  Clavierspielen  geübt,  vielleicht  noch  eine  Zeitlang  sich  mit 
Handarbeiten  beschäftigt  haben,  so  muss  bei  naturgemässer  Erziehung 
um  8  Uhr  nach  dem  Abendbrot  „der  Sandmann"  kommen.  Diesen 
Fingerzeig  der  Natur  soll  man  wol  beachten  und  nicht  dulden,  dass 
durch  aufregende  Leetüre  der  Schlaf  vertrieben,  das  Gehim  künstlich 
gereizt  und  überreizt  werde.  Bis  zum  14.  Lebensjahre  sollen  Kinder 
im  Winter  um  8'  .,  aV»e]uls  schon  rnliip:  schlafen:  dann  werden  sie 
später,  wenn  es  gilt,  iiacli  dem  Abendbrut  noch  zu  arbeiten,  im 
Stande  sein,  rüstig  ihrer  Pflicht  zu  frenügen. 

Wir  liabiii  noch  Folgendes  zu  erwägen;  Die  Leetüre  beschäftigt 
die  Seele  vorwiegend  in  der  Richtung,  welche  die  Psychologie  als 
Phantasiethätigkeit  bezeichnet.  Das  ist  ein  freies  Spiel  mit  Bildeni. 
Sind  diese  Bilder  klar,  rein,  auf  rechte  Anschauung  ge<rründet,  so 
wird  die  Phantasictliätigkeit  auf  reclite  Bahnen  gelenkt,  sie  wird  ti<'f 
und  wahr.  Sind  die  Bilder  verworren,  unklar,  phantastis(di  d.  h.  auf 
leeren  Einbildungen  beruhend,  so  muss  die  «ranze  Phantasiethätigkeit 
mindestens  eine  fals<he  Kichtung  erhalten,  sie  muss  Phantasterei 
werden.  Nehmen  wir  den  besten  Fall  an,  dass  das  Mädchen  vor 
unreiner  Lectüre  bewahrt  bleibt,  und  dass  ihm  nur  wirklich  gute 
Unterhaltungslectüre  geboten  werde,  so  kann  es  bei  flüchtiger  Viel- 
leserei  doch  nui'  unklare,  verworrene  Bilder,  unklare  Ideen,  schiefe 
Frtheile  in  sich  aufiiehmen.  Wird  das  Mädchen  älter,  so  beginnt  es 
mit  diesen  phantastischen  Bildern  selbständig  zu  spielen  und  baut  sich 
.  eine  Traumwelt  auf,  die  der  Wirklichkeit  in  keiner  Weise  entspricht 
£s  wird,  wie  die  tägliche  Erfahrung  nur  zu  oft  zeigt»  überspannt. 


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—   39  — 


Die  Gefahr  ist  Danientlich  für  das  \vfil)liclie  Gesrhleclit  so  sehr  gross, 
weil  dasselbe  vcrmtige  seiner  Org-aiiisation  zu  solcher  Phantasiethätig- 
keit  viel  mehr  neigt  als  das  niännliclie.*)  Die  lii'spreeliung  der 
schlechten  Jugendschriften  hat  znr  Genüge  bewiesen,  wie  gross  diese 
Ge£Ekhr  gerade  für  die  begabteren  Mädchen  ist. 

Wer  von  irg^d  einer  Leetüre  mehr  als  den  ganz  flüchtigen  Ge- 
wiss da\T»ntragen  "will,  muss  im  Stande  sein,  den  Inhalt  des  Grelesenen 
in  den  Hauptzügen  zu  wiederholen.  AA'ir  sollen  daher  bei  unseren 
Kindern  soviel  wie  möglich  darauf  Ii  alten,  dass  sie  uns  den  Inhalt 
des  Lesebuchs,  welches  sie  so  eben  beendet  haben,  frei  erzählen. 
Der  vielbeschäftigte  Vater  wird  dazu  selten  Zeit  haben;  aber  die 
ICntter  kann  es  thun.  Damit  sie  den  Inhalt  selbst  kennen  lernen, 
empfiehlt  sich's,  die  Mädchen  anzuhalten,  das  Buch  laut  and  mit 
guter  Betonung  vorzulesen.  Dadurch  "wird  schon  wesentlich 
flfieiitiges  Lesen  verhindert,  und  eine  rechte  Mutter  erhält  zugleich 
Gelegenheit^  manch  ein  verständiges  Wort  einzulegen  und  das  Gemüth 
ihres  Kindes  in  der  rechten  Weise  zu  bilden. 

So  weit  meine  Erfahrungen  reichen,  hat  man.  bisher  gerade  bei 
der  Erziehung  des  weiblichen  Gesdilechts  viel  zu  wenig  Gewicht 
darauf  gelegt,  das  Lesen  als  Genuss  von  dem  Lesen  als  Arbeit  zu 
trennen  und  die  flüchtige  Vielleserei  in  ganz  gefilhrlicher  Weise  be- 
gOnstigt  Die  reich  ausgestatteten  Schülerinnen-Bibliotheken  haben  das 
Übel  nur  zu  sehr  fördern  helfen.  Freilich  soll  jedes  Kind  nur  wöchent- 
lich ein  Lesebuch  erhalten  und  im  Laufe  der  Woche  kein  zweites 
Buch  lesen.  Wer  kann  aber  verhindern,  dass  die  auf  Leetüre  erpichte 
Mädchen  dies  Gtebot  übertareten?  Wer  vermag,  wenn  Bitten  und  War- 
nungen nichts  helfen,  die  Kinder  zu  Hause  zu  controliren?  Die  Ver- 
lockung ist  gar  zu  gross;  das  Sündigen  gar  zu  angenehm!  Wo  finden 
wir  in  den  gebildeten-  und  besser  situirten  Ständen  Mütter,  die  geneigt 
sind,  in  stfller  häuslicher  Weise  zu  leben  und  ihre  Töchter  sorgsam 
zu  erziehen?  Mindestens  drei  Abende  in  der  Woche  muss  man  doch 

*)  Kant  tagt  m  seiner  Anthropologie:  ..Weil  bei  dioatr  LeMKi  die  Absicht  nur 
ist,  sich  für  den  Augenblick  zu  nntcrbalten.  indem  man  weiss,  dasa  es  blosse  Er- 
dichtungt'n  sind,  die  Leserin  also  hier  volle  Freiheit  Imt,  im  Lesen  nach  dem  Laute 
ihrer  Einbüdung.skraft  zu  dichten,  welches  niitürlicher\vci.sc  zerstreut  und  die  Geistes- 
abwesenheit (Mangel  an  Aufmerksamkeit  auf  das  Gegenwärtige)  habituell  macht: 
8o  mufls  das  GedftchtiuB  dadurch  uoTenneidUch  geschwächt  werden.  Diese  Übung 
hl*  der  Kunst,  die  Zelt  su  todten  und  sich  Ar  die  Wdt  unnäts  m  machen«  hinter* 
her  aber  über  die  Kflrze  des  Lebens  zu  klagen,  ist  abgesehen  von  der  phantastischen 
(rem ii t h>8timmung,  wekhe  sie  hervorbringt,  einer  der  feindseligsten  Angriffe  auf  das 
Gedächtnis." 


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—  40  — 


GeseUschaften,  Concerten^  dem  Theater,  den  Bftllen  "widiDea  nnd  da- 
neben gibt  es  noch  so  reizende  VorbereLtungen  zu  liebhaberthealm, 
Verlosungen  zu  -wolthfltigem  Zweck  nnd  ähnliche  Zerstrennngen. 
Mnss  man  zn  Hanse  bleiben,  so  liegt  der  vergangene  Tag  in  den 
Gefiedern;  man  f&hlt  sidi  abgespannt  nnd  ist  froh,  durch  ein  wenig 
leichte  Handarbeit  oder  Lesen  die  überreizten  Nerven  bemhigen  zu 
können.  Ach  da  sind  die  Fragen,  die  Bitten,  die  raschen  Bewegungen 
der  munteren  Kinder  gar  sor  listig!  Wie  bequem,  sie  an  ein  httbsches 
Lesebuch  zu  verweisen,  mit  dem  sie  sich  stundenlang  still  be- 
schäftigen. 

Das  Lesen  als  Arbeit  können  wir  durch  die  Schulerziehung  zwar 
anbahnen,  aber  immerhin  nicht  so  weit  fördern,  dass  man  sicher  sein 

könnte,  ein  guter  Theil  der  Mädchen  werde  später  selbständig  diesen 
Weg-  weiter  verfolgen.   Ich  gebe  den  Mädclien  meiner  Oberclasse  zum 

Excerpiren  die  nüthige  Anleitung"  und  controlire  die  Excerptenhefte; 
aber  ich  weiss  nur  zu  genau,  dass  diese  ernste,  die  reclite  l^ilduiig  so 
selii'  fiii'dernde  Arbeit  nach  dem  Austritt  aus  der  Schule  nur  sehr 
selten  fortgesetzt  wird.  ^lan  vergesse  nielit,  dass  die  3Iädchen  täglich 
mindestens  2' Stunden  auf  Anfei-tigung  <ler  Scliularbeiten  zu  ver- 
wenden haben.  ^Fau  daif  also  tür  das  Excerpiren  wiiclientlich  nur 
eine  ganz  beschränkte  Zeit  lordern,  um  die  Kinder  nicht  zu  über- 
bürden. 

Nach  dem  Austritt  aus  der  Schule  beginnt  gerade  für  die  Mädchen 
gutsituirter  Kitern  der  g«duldeten  Stünde  eine  Art  von  beschäftigtem 
Müssiggang.  Vielleicht  tühlen  einige  noch  die  Neigung,  sich  um 
die  Wirtschaft  zu  bekümmern.  Pa  sie  aber  von  der  ^Futter,  welche 
diese  Sorge  der  tüchtigen  Köchin  oder  Wirtschafterin  überlässt,  nicht 
im  mindesten  dazu  angeleitet  werden:  so  begnügen  sie  sich  damit, 
ein  Tändelscliürzcluii  vorzubinden,  zuweilen  in  Küche  und  Speise- 
kammer zu  laufen  und  nach  Behagen  kleine  angenehme  Verrichtungen 
auszuführen,  oder  der  Köchin  zuzusehen,  wie  sie  den  bereits  fertigen 
Kuchen  aus  dem  Ofen  zieht.  Wird  diese  Beschäftigung  allmählich 
langweilig,  so  fallen  sie  auf  die  Kunst.  Da  wird  ein  wenig  gemalt, 
ein  wenig  Ciavier  gespielt,  ein  wenig  gesungen  und  im  Sommer  recht 
viel  —  flanirt.  Im  \\'iuter  denkt  man  wol  mck  an's  Arbeiten. 
Bann  wenden  hübsche  Stickereien  gemacht  und  man  nimmt  theil  an 
„reizenden,  amüsanten^*  t'bungen  in  englischer  und  französischer 
Conversation  und  au  reizenden  Lesekränzcheu.  An  ernste  sittliche 
Arbeit  denkt  niemand.  Da  k<>inmt  denn  die  Komanlectiire  wie 
gerufen,  um  die  Abende  auszufüllen,  die  man  nicht  Vergnfigungen  und 


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jener  tfindelndeQ  Beschäftigung  widmen  kann.  Wenn  die  Unter- 
ludtnngen  am  TheeÜsch  in  feineren  Cirkeln  auf  Werke,  wie  Schleiden: 
Die  PHaaze  und  ihr  Leben,  oder  hewis  aber  Goethe,  PalleäKe  aber 
SehiUer  hinweisen,  so  liest  man  wol  anch  solche  Schriften;  aber 
70B  Lesen  mit  der  Feder  in  der  Hand  ist  nirgends  die  Bede. 
So  bdudten  die  Mädchen  davon  gerade  nur  soviel,  um  sagen  zu  kOnnen, 
dass  sie  das  Werk  kennen  nnd  dasselbe  „reizend,  entzttckend"  finden. 
Da  thnt  man  sidi  wol  auch  zu  „wissenschaftliclien  Lesezirketat^  (!) 
zasammen,  in  denen  ernste  wissenschaftliche  Werke  vorgelesen 
werden.  In  Danzig  rOhmte  mir  eine  Lehrerin  sehr  den  Girkel,  an  dem 
sie  tbeflnahm  und  erzählte,  sie  haben  im  vergangenen  Winter  in  dem* 
selben  Kaglers  Ennstgeschichte  gelesenl  Das  war  eine  Lehrerin. 
Solch  ein  Treiben  ftthrtr  natnrgemäss  zum  BlanslnimpfeB- 
thm.  Besnlagte,  mit  reger  Phantasie  begabte  Mädchen  fangen  an 
zn  dichten,  Novellen  und  schliesslich  Romane  zu  schreiben.  Ist  es 
gelungen,  eine  solche  Novelle  oder  ein  ])aar  Verse  drucken  zu  lassen; 
hat  das  Mädchen  erst  einmal  die  8üssigkeit  gekostet,  „sieh  gedi*uekt 
zu  sehen",  so  ist  der  Blaustrumpf  fertig.  Ernstes,  tüclitiges  Studium 
krmute  sie  noch  retten;  da  ilir  al)er  (hts  'I'ändehi  mit  der  Arbeit  bt-reits 
zur  zweiten  Natur  geworden  ist:  so  wird  es  ilir  unmöglich,  den  t*iu- 
gescblagenen  tliöric-liten  Weg  zu  verlassen.  Ist  mittlf^rwt'ik'  die  fröli- 
liche  Jugendzeit  vergangen;  ist  die  Hoffnung  aut  eine  gut»'  Heirat 
ETeschwunden,  so  gewährt  es  eiiu'u  walireu  Uenuss,  sicli  in  diese 
{•hantastiselie  Traumwelt  zu  stiirziii.  Dass  dies  Scliriftstellern  keine 
Arbeit  ist,  dass  es  ^vie  jede  elende  Pfuscherei  den  Mensclien  entelirt, 
fallt  niemand  ein.  Gibt  es  doch  derer  genug,  die  solch  eine  Be- 
schäftigung, weil  sie  Geld  einbringt,  sogar  verth(Mdigen  wollen. 

Zum  Schlüsse  noch  ein  Wort  darüber,  in  welchem  Masse  man 
dem  jungen  Mädchen  den  Genuss  an  Werken  echter  Dicht- 
kunst zu  gewähren  habe.  Ich  sagte  oben,  sie  werden  erhabene 
Dichterwerke,  falls  man  ilinen  dieselben  zur  Leetüre  gibt»  von  selbst 
bei  Seite  legen.  Wenn  einzelne  meiner  Herren  Collegen  behaupten, 
Schülerinnen  lesen  mit  Genuss  eine  „Iphigenie,"  einen  „Ta.sso^'  .uier 
die  Dramen  nnsers  Schiller,  so  muss  ich  unwillkürlich  lächeln.  Ich 
habe  alle  diese  Werke  als  junger  Mensch  von  drca  20  Jahren  gelesen 
und  mich  dabei  herzlich  gelangweilt  Erst  yiel  später,  nachdem 
ich  der  Dichtkunst  Jahre  lang  ein  eingehendes  Studium  gewidmet 
hatte,  wurde  mir  die  Schönheit  erschlossen.  Wie  soll  ich  annehmen 
dfirfien,  dass  irgendwo  in  der  Welt  16Jährige  Backfische  dies  Schöne 
mit  Genuss  lesen!  Der  Irrthum  liegt  auf  der  Hand.  Aber  es  gibt  in 


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der  Kunst  Werke,  die  man  wol  anr  Unterhaltungslectüre  zu  rechnen 
pflegt.  Dies  sind  Romane.  Novellen  und  erzählende  Gedichte, 
wie  „Otto  der  Schtttz*'  von  Kinkel,  „Der  wilde  Jäger**  von  J.  Wolff. 
Manche  Pädagogen  wollen  Romane  und  Novellen  ans  der  Leetüre 
junger  MSdchen  ganz  streichen.  Ich  bin  anderer  Ansieht  In  Bezog 
auf  Novellen  stimme  ich  bei  Denn  die  echte  Novelle  behandelt  in 
geistvoller  nnd  pikanter  Weise  die  LOsong  eines  psychologischen 
Bäthsels  nnd  ergeht  sich  in  erster  Linie  Aber  Herzensverirrangen  im 
G^ebiete  der  geschlechtlichen  Liebe.  Das  ist  nur  LectOre  für  reifere 
Menschen.  Ich  war  ganz  entsetzt,  als  ich  hören  mnsste,  dass  zwei 
meiner  Schfilerinnent  Mädchen  im  Alter  von  15 — 16  Jahren,  von  ihrer 
Mntter  die  Novellen  von  Paul  Heyae  zum  Lesen  erhalten  hatten.  Ich 
verehre  Panl  Heyse  nnd  halte  ihn  f&r  den  Novellendichter  par  excellence; 
aber  unreifen  Backfischen  dürfen  seine  Schöpfungen  nicht  in  die  Hand  . 
gegeben  werden.  Jetzt  sind  die  Mädchen  18  resp.  19  Jahre  alt  nnd 
man  erzählte  mir  neulich,  dass  beide  Novellen  strampfen. 

In  Bezug  auf  Romane  kann  ich  jenen  Ansichten  nicht  beipflichten. 
Selbstverständlich  denke  ich  nur  an  echte  Dichterwerke.  Unter 
diesen  gibt's  ja  viele,  die  sich  nicht  zur  Juf^endlectüre  eiirnen;  aber 
einzelne  dürften  vorziiglicli  dazu  ])assen,  echte  Mensclicnkenntnis  und 
Selbstcikeiintuis  zu  tordern,  die  Seele  mit  guten  Gedanken  und  Ideen 
zu  bereichern  und  ihr  einen  idealen  Schwung  zu  geben.  Konuine  wie 
die  von  W.  Scott,  Dickens,  W.  Alexis,  einzelne  Dorfgeschichten  von 
Auerbach,  mehrere  ^^  erke  von  G.  Freytag,  Vater  und  Tochter''  von 
Friederike  Bremer  u.  a.  m.  darf  man  der  Jugend  ruhig  in  die  Hand 
geben.  Man  soige  nur  dafür,  dass  massvoll  gelesen  weide,  verhüte 
das  gedankenlose,  flüchtige  Durchjafren  und  halte  die  ^lädchen  an,  den 
Roman  Vater  oder  ^Mutter  v(nzulesen.  Hat  sie  einzelne  Stellen  allein 
irenossen,  so  werde  sie  genöthigt  den  Inhalt  des  Gelesenen  kurz  vor- 
zutragen. \\'interabende,  an  denen  die  Tochter  solche  Romane  oder 
erzählende  Gedichte  den  Poltern  vorliest,  können  für  die  Familie  zu 
wahren  Weihestunden  werden. 

Ich  will  schliessen.  Wenngleich  viele  meiner  Herren  Collegen 
mir  nicht  überall  beistimmen  werden,  so  bin  ich  doch  überzeugt,  dass 
sie  die  Schüdemng  der  walirlialt  trostlosen  Erziehung  der  Mädchen 
in  den  besser  situirten  gebildeten  Familien  für  richtig  erklären.  Da 
die  Erziehung  durch  die  höhei*en  Töchterschulen  fast  das  einzige 
Mittel  ist»  durch  das  eine  Verbesserung  jener  Zustände  angebahnt 
werden  kann:  so  wird  man  mir  wenigstens  darin  recht  geben,  dass 
wir  in  unseren  Schulen  die  Mädchen  besonders  sorgfiUtig  zu  ernster 


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sittliclier  Arbeit  zn  erziehen  und  namentlich  die  überall  hervor- 
tretende Neigung  zu  tändelnder  Beschäftigunjß:  als  den  geiähr^ 
üchsten  Feind  des  weiblichen  Geschlechts  zu  bekämpfen  haben.  Darum 
mOge  endlich  der  Grundsatz  Geltung  finden:  Bei  Behandlang  der 
Jagendlectüre  hat  die  höhere  Mftdehenschnle  Jede  Viel- 
leserei  überhaupt  nnd  •  namentlich  die  Gennss  bringende 
sorgfftltig  zn  bekämpfen  und  dagegen  aus  allen  Krftften  das 
Lesen  „mit  der  Feder  in  der  Hand,**  das  Lesen  als  ArMt  m 
^firdera. 


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Unsere  Bauernwelt  und  die  Stndien  über  Sprache  oud  Wesen 

des  Volks. 

Von  WUUbaid  Nagl-  Wien. 
I. 

Die  geistigen  und  sittlichen  Zustände  unserer  Bauernwelt. 

ist  unlängst  in  dieser  Zeitschrift  die  Frage  aufgeworfen  nnd 
behandelt  worden,  ob  alle  Menschen  gleich  bildungsfähig  seien. 
Wenn  man  diese  Frage  auf  jedes  einsetaie  Individnnm  bezieht,  so  be- 
darf es  zu  ihrer  Bejahung  gewichtigerer  Gründe,  als  bis  jetzt  vorge- 
bracht werden  konnten;  man  wird  sich  möglichst  lange  gegen  die  Au- 
nalime  sträuben,  dass  z.  B.  das  Kind  eines  chiuesischen  Parkträgers, 
welclieiii  schon  jii  stnuein  Baue  und  in  seiner  kürperliclien  Anlaj^e  die 
Folgen  vielliuudertjähriger  Verkonimnis  anhängen,  scliliesslich  ganz 
auf  dieselbe  Stufe  der  Intelligenz,  der  körperlichen  und  geistigen 
VoUkonnnenlieit  gebracht  werden  könne  wie  ein  gesundes  europäisches 
Kind,  das  von  der  Natur  selber  besser  ausgerüstet  ist  und  bei  welchem 
eine  gleich  grosse  erzieherische  Sorgfalt  und  Mühe  gewiss  ungleich 
grossere  Fortschritte  erzielen  wird! 

Bezielit  man  aber  die  Frage  nach  der  gleichen  Bildungsfähigkeit 
der  Mensclien  auf  das  Geschlecht  als  die  genetische  Aufeinander- 
folge einzelner  Individuen,  ---  dann,  L-laube  ich,  kann  die;  Bejahung 
nichts  Bedenkliches  haben,  wenn  man  überhaupt  an  die  ^lögliclikeit 
eines  stetigen  Fortschrittes  glaubt.  Jener  Grad  der  Bildung  —  Bil- 
dung in  allgemeiner,  echter  und  wahrer  Auffassung  — ,  den  der  Vater 
eiTungen,  der  ihn  durchdringt  und  leitet  durch  sein  ganzes  Leben, 
der  schliesslich  auch  auf  sein  körperliches  Gedeilien  den  grössten  Ein- 
fluss  übt  und  somit  sein  ganzes  Wesen  modificiit  und  bedingt:  dieser 
Bildungsgrad  wird  sich,  soweit  er  aucli  im  kr)rperlichen  Wesen  des 
Vaters  fix  geworden  ist,  nothwendig  auf  den  Erzengten,  den  Sohn, 


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vererb^^n.  Und  was  im  Vater  versäumt  wurde,  das  kann  im  Sohne 
und  im  Enkel  nachgeholt  werden,  —  und  selbst  wenn  dieses  Nach- 
holen bei  einer  Kasse  langsamer  ginge  als  bei  einer  andeni,  so  kann 
dieser  Unterschied  nur  in  äusserlichen  Bedingungen  (Klima,  Standes- 
verhältnissen  etc.)  liegen;  man  darf  ja  annehmen,  daas,  nachdem  die 
ealtarell  nachhinkende  Baase  jenen  Bildungsgrad  erstiegen,  auf  welchem 
die  Tiirgesclizittenere  in  nachweisbarer  Zeit  einmal  gestanden  hatte, 
die  erstere  nun  in  gleichem  Masse  weiter  gedeihen  müsste,  wie 
jener  höher  gebildete  Menschenschlag  Ten  dem  betreffenden  Zeit|>unkte  . 
an  gediehen  ist,  yoransgesetzt,  dass  die  sorftckgebliebene  Rasse  jetzt 
auch  in  die  nftnlichen  äusseren  VetWtnisBe  yersetet  wflrde,  in  velchmi 
die  Torgeschrittenere  damals  gestanden.  Freilich  ist  eben  der  Wechsel 
der  YerhAltnisse  nicht  so  leicht  mOglich,  nnd  gerade  diese  yemr- 
tlMÜen  <Hft  einen  Stand  oder  eine  Nation  thatsftchlich  za  eineni  ge- 
ringeren Mdnngsgrade,  ohne  dass  darob  anch  schon  die  gleiche  Bil- 
dongsf&higkeit  aller  mensdilldien  Geschlechter  in  Frage  gestellt 
werden  dfirfte. 

Biese  gleiche  Bildungsfähigkeit  aller  Henschai  dient  uns  nicht 
nur  zur  Anfinnntemng,  sondern  sie  legt  uns  sogar  die  Pflicht  au( 
fiberaU  dort»  wo  wir  unsere  Mitmenschen  unter  dem  Drucke  der  Un- 
wissenheit, des  Aberglaubens,  des  sittlichen  nnd  —  was  damit  meist 
verbunden  ist  —  des  physischen  Elendes  schmachten  sehen,  zu  helfen, 
so  viel  an  uns  liegt  Und  weit  brauchen  wir  da  gar  nicht  zu 
greifen. 

Man  hat  in  den  letzten  Monaten  viel  über  die  deutsch-österreichi- 
schen Bauern  ge-spidchen.  Ks  wurde  vom  politischen  Standpunkte 
aus  in  den  Blättern  erörtert,  woher  denn  eigentlich  die  jiiugste  Bauern- 
beweorunßr  ihren  Ursprunt^  nehme,  warum  es  s(i  wenig  bäurische  Ab- 
genrdnete  träbe,  warum  die  Bauern  in  ihren  Versamndun;»:en  eine  solche 
Antipathie  gegen  die  intelligenten  Stände  —  Advocaten.  Geistliche, 
Aristokraten  —  bekundet  hätten  u.  s.  w.  Wir  können  hier  auf  das 
politische  nicht  eingehen,  sondern  nehmen  nur  von  den  oöenkundigen 
Thatsachen  Aulass,  um  vom  volkspädagogischeu  Standpunkte 
aus  einen  tieferen  Blick  in  die  geistigen  und  sittlichen  Zu- 
stände unserer  Hauernwelt  zu  werfen  und  so  die  innersten  Be- 
weggründe ihres  Thuns  und  Treibens  zu  erkeniu-n  und  zugleich  die 
wunden  Stellen  zu  linden,  an  denen  dieselbe  zu  allernächst  der  hilie- 
bringenden  Hand  des  geistigen  Arztes  bedarf. 

Als  der  Verfasser  dieser  Zeilen  im  Juni  des  Jalires  1880  über 
die  beUagenswerte  Kluft  zwischen  der  Intelligenz  und  dem  Volk, 


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—   46  — 


Ix'souders  dem  Landvolk,  schrieb*),  waren  die  l'l)elstände,  auf  welelie 
er  aufmerksam  machte,  nocli  unter  dem  Niveau  des  (»rt'entliclien  Lebens 
verborfjen.  Ks  nalim  ilin  Wunder,  dass  noch  niemand  diesen  gefähr- 
lichen Spalt  in  der  (Gesellschaft  betont  hatte,  den  man  doch  täglicli 
wahrzunehmen  Gele^enlieit  hat.**)  Aber  man  hält  sich  eben  viel  zu 
fern  vom  Volke,  um  dessen  Zustände  wahrnehmen  zu  können,  oder  man 
hat  sich  schon  zu  sehr  daran  gewöhnt,  das  gemeine  Volk  in  diesem 
yernaclüässigten  Zustande  zu  sehen,  um  noch  emstlich  glauben  zu 
■  könneo,  es  gebühre  ihm  naturgemäss  etwas  Besseres»  und  um  zu  furch- 
ten, dass  anf  eine  solche  Vernachlässigung-  eine  gewaltsame  Gegen- 
wirkung von  unten  herauf  erfolgen  könne.  Mau  scheint  veroressen  zu 
haben,  dass  die  Menschennatur,  gleichgiltig  ob  sie  als  Fürst  oder  Bauer 
nach  aussen  sich  concretisirt,  ihre  gewissen  unveräusserlichen  Bechte 
besitzt,  welche  sie  schliesslich  sich  zu  erkämpfen  genfithigt  ist,  wenn 
sie  ihr  nicht  freiwillig  zugestanden  werden. 

•Werfen  wir  einen  ganz  kurzen  Rückblick  auf  die  geistige  und 
sittliche  Entwickdirog  derBanem^elt  —  Im  Natnizostande  dier  Völker 
gibt  es  keinen  eigentlichen  Unterschied  der  Stände,  und  auch  nicht  der 
Bildung.  Die  Naturmenschen  sind  gleich  empAnglich  fttr  neue  Ein- 
drücke, gleich  lernbegierig,  munter  und  ffihig,  —  gleidi  unwissend 
auch,  aber  deswegen  nicht  dumm.  Nun  werden  die  ersten  Elemente 
der  Cultur  in  das  Volk  gepflanzt:  anfangs  sind  es  nur  einzelne  Fertig- 
keiten und  Kenntnisse,  die  erlernt  werden,  und  nur  emzehie  Personal, 
die  sie  erlernen.  Diese  Junge  Cultur  ist  noch  ganz  Nutzen,  ganz 
Wolthat,  ein  Ausarten  derselben  nach  irgend  einer  schädlichen  Bich- 
tnng  hin  noch  nicht  abzusehen.  Man  denke  an  die  ersten,  vereinzel- 
ten christlichen  Glaubensboten,  wdche  die  ganze  Kraft  ihres  heroischen 


*)  Der  Anüntts  enehieii  im  IIL  Jahigaog  des  „Piedagogiiim**,  8.  n.  8.  Heft 
**)  Inde«  föUt  mir  soeben  eine  Stelle  auf  in  einem  Briefe,  welchen  Graf  Zin- 

zendorf,  Präsident  des  Reichsrechnungshofe»  unter  Josef  IL,  am  26.  April  1784, 
also  vor  faxt  Iiundcrt  Jahren,  an  Pestalfizzi  schnob:  ..Die  Lasten  nnd  Bedürfnisse 
der  niederen  Cla.ssen  der  Menschheit  den  lniheren  Classen  bekannt  zu  machen.  Ist 
ein  heilsamem  Verfahren  und  es  wird  ein  unleugbarer  Beweis  der  verbesserteu  allge- 
memen  Eniehong  seyif,  wenn  in  kflnftigen  Mensdien-Altem  die  TeiaehietaMD  hOherai 
und  ndtttott  Glaaien  der  Henaehen  mit  der  dasse  des  Landmannt  hi  dner  innigen 
Veriundung  stehen  werden.  Gegenwärtig  haben  die  ersteren  die  letzteren 
so  sehr  von  sich  entfernt  und  isolirt,  dass  man  darüber  beynahe  ganz 
vergessen,  welcher  ('lasse  der  Einwohner  alle  übriire  ihren  T^ntorhalt 
zu  danken  haben.'  (IVdaf?.  3.  Jahrg.  S.  47fi.'i  Und  doch  war  gerade  Zinzendorf 
dem  Kaiger  Josef  in  Bezng  auf  das  Landvolk  noch  zu  wenig  liberal! 


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—  47  — 

Geistes  srlbstthätig  dem  Volke  widmeten,  ohne  jeden  ej^oistisclien  Vor- 
l>ehalt;  nicht  Herrschsucht,  nielit  Ivuhmgier,  niclit  Streben  nacli  kirch- 
licher Auszeichnun«^  fand  Hauni  in  ihrer  Seele.  Man  denke  an  die 
ersten  Familien-  und  Stamraeshäupter,  welche,  gleich  unter  Gleichen, 
blos  durch  grössere  Weisheit  und  Umsicht  vor  ihrer  Umgebung  aus- 
geiseichnet,  nur  dann  und  nur  dort  als  Höhere,  als  Befelilgeber  er- 
schienen, wo  die  Ordnung  nach  Innen,  die  Sicherheit  nach  Aussen  es 
erforderte;  grösseren  Eeichthum,  ein  bequemeres,  schöneres  Leben  auf 
Kosten  der  ihnen  Anvertrauten  hatten  und  suchten  sie  nicht.  —  Die 
Cnltur  kann  aber  auf  diesem  patriarchalischen  Standpunkte  nicht  stehen 
bleiben.  Sie  wächst  und  nimmt  immer  auffälligere  Formen  an:  es  ent- 
wickeln sich  Unterschiede  der  Stände,  es  lösen  sich  bald  einzelne 
G]i8seD  TOD  der  Gesammtheit  ab  und  ^scheinen  als  die  eigentlichen 
und  —  oft  auch  einzigen  Träger  der  erhöhten  Cultur,  und  die 
kirdiliche  wie  die  politische  Gewalt  ruht  in  ihren  Händen.  Und  nun 
ist  es  TOB  entscheidender 'Wichtigkeit,  ob  diese  herrschenden  Stände 
das  Bewosstsdn  eoner  einheitlichen  Gesammtgesellschaft  der  Mensehen 
aufrecht  erhalten  und  die  ans  diesem  Bewnsstsein  resultirenden  Pflich- 
ten gegen  den  gemeinen  Arbeiter*  ond  NShrstand  erfttllen,  oder  ob 
sie  sich  als  Sdbstzweck,  die  Untergebenen  sIs  Mittel  zu  demselben 
betrachten,  die  Bildung  für  sieh  allein  behalten  und  so  das  gemeine 
Volk  degeneriren  und  ihm  nur  die  Schattenseiten  der  Cnltur  empfin- 
den laasen.  Leider  ist  die  Versuchung  zum  Bosen  nur  zu  stark,  und 
die  Geschichte  lehrt  uns,  dass  die  bevorzugten  Stände  durch  unzufrie- 
dene Begnügen  des  Volkes  an  ihre  Pflichten  gegen  dieses  immer  wie- 
der gemahnt  werden  mussten.  Freilich  war  die  Antwort  auf  solche 
Mahnungen  nicht  selten  eine  noch  grössere  Bedrückung. 

Sehen  wir  uns  emmal  den  Bauemstand  in  seiner  Vergewaltigung 
durch  die  SchlossheiTen,  wie  sie  eben  auch  die  deutsche  Geschidite 
aufweist,  näher  an.  Der  Bauer  ist  ohne  Geldmittel,  er  kann  sich  kehie 
Schule  baufiD,  kein  Buch  kaufen,  —  man  würde  ihm  auch  nidit  ein 
Jedes  unter  den  Händen  lassen.  Der  Schlossherr  verfügt  über  das 
nöthige  Geld,  denn  er  bezieht  den  Zehnten  von  der  ganzen  Gegend, 
gearbeitet  wird  ihm  auf  seinen  Grundstücken  von  den  Bauern  um- 
sonst, aber  er  denkt  nur  an  seine  ehrgeizigen  Pläne,  an  seinen  Ge- 
nuss  oder  an  Vergrössenmg  seines  Hasitzes.  In  den  Bauern  den  Sinn 
für  Kenntnisse,  für  (his  Schöne  und  Gute  zu  heben,  fällt  ihm  nicht  ein: 
nur  Angst  und  Respect  vor  ihm  sollen  sie  haben.  So  lebt  denn  eine 
arme  Menschenclasse  unter  dem  1  )rucke  kaum  zu  bezwin<,'ender  physi- 
scher Arbeit,  ohne  Gefühl  für  das  Kdle  und  Schöne,  olme  belebende 


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—  48  — 


reiue  Freude  ein  düsteres  Dasein  dahin.  Ihre  einzige  Stütze  ist  die 
Religion,  aber  aucli  sie  ist  zersetzt  von  wüstem  Aberglauben,  von  falsch- 
asketischer  Selbstpeinignngssiicht,  wie  sie  auch  im  heutigen  religiösen 
Geliilil  des  Baueni  noch  fortlebt,  —  und  kein  menschenfreundlicher 
Priester  versteht  es,  auf  alle  diese  tristen  Schwächen  einzugehen  und 
sie  durch  Worte  sonniger,  klärender  Wahrheit  zu  beheben.  Nur  mit 
Widerwillen  liest  man  geistliche  Reden  aus  den  Zeiten  der  clerical- 
feudalen  Weltherrscliaft,  wie  die  Predigtliterat iir  des  16.,  17.  und  noch" 
des  18.  Jahrhunderts  dergleichen  aufweist.  Ein  übertriebener  Wunder- 
und ein  grässlicher  Aberglaube,  ein  fortwährendes  Eintrichtern  des 
Oehoi*sams  gegen  geistliche  und  weltliche  Obere,  ein  beständiges  Lob 
der  Selbsti)einigung,  das  sind,  neben  einer  ganz  oberflächlichen,  das 
Denken  gar  nicht  anregenden  Moral,  die  Factoren.  aus  denen  sich 
solche  Predigten  zugamroensetzen;  von  der  Bohheit  der  Darstellung 
ganz  zu  geschweigen.  Und  das  war  die  geistige  Nahrung,  welche 
man  Jahrhunderte  hindurch  dem  Bauernstande  reichte!  — 
Die  rohe  Ausgelassenheit,  in  der  die  gedrückte  Landbevölkerung 
hei  Spielen,  T&ozen  etc.  ihrem  Freiheitstriebe  in  bischer  Weise  Luft 
machte,  spannte  mehr  ab,  als  sie  erquidite. 

Wo  der  Oeist  so  unTerontworilich  bevormundet  und  alle  seine 
freieren,  edleren  Regungen  erstickt  werden,  dort  geht  von  selber  der 
materielle  Wolstand  aufs  ftusserste  Minimum  zur&ck.  Ist  die  Rührig- 
keit des  Geistes,  die  Freude  am  Versuchen,  die  Unternehmungslust 
und  Umsicht  dem  Menschen  benommen,  so  ist  er  noch  viel  äimer,  als 
er  es  gemäss  seinem  Besitz  zu  sdn  brauchte.  Er  greift  zum  Mflhe- 
losesten,  also  zum  Schlechtesten.  Die  Spdsen  werden  ohne  alle  Kunst 
bereitet,  so  dass  sie  der  körperlichen  Entwickelung  unmöglich  zuträg- 
lich sein  können;  Unordnung  in  der  Wohnung,  Unreinlichkeit  und  ent- 
stellende Hässlichkdt  der  Eileidung,  Vernachlässigung  aller  äusserlichen 
Selbstcultnr  gehen  mit  der  Gteistesarmuth  Hand  in  Hand,  und  alle 
diese  materiellen  Übelstände  wirken  wieder  tOdtend  auf  das  ohnehin 
damiederliegende  Geistesleben  zurück.  So  weit  ist  es  gekommen,  dass 
jedes  Aufraffen  aus  dieser  eklen  Versnnkenheit  als  ein  unerlaubtes, 
vorwitziges  und  eitles  Hinaustrachten  über  das  dem  Bauemstande 
Gebührende  interpretirt  wiid,  und  dass  sich  der  Bauer  schliesslich  ge- 
wühnl.  Jedes  Verlangen  und  jede  Kegung  zum  Schöneren  und  Besseren 
als  frevelhalt  zu  unterdrücken  —  auch  einAusÜuss  der  unverstandenen 
asketischen  „Selbstbezähmung".  In  den  Kindern  und  jungen  Leuten 
überhau]»t  wird  die  Mensclifimatiir  noch  zuerst  gegen  eine  solche  Miss- 
handlung laut;  aber  in  ihnen  wird  sie  durch  die  Grausamkeit  der  iin 


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Elend  verkommenen  Alten  niedeiL'^elialten.  Für  <l«*n  Baiu'r  ist  die 
Gruiflanikeit  j^egen  die  freien  nnd  natürlichen  Kef^nniren  der  .lu^'-end 
charakteristisch;  daher  die  Verheimlichungssucht  und  Muckerei  bei  der 
letzteren.  —  Mit  Kecht  sagt  Donai:  „Wir  gehen  so  weit,  zu  bt^haupten, 
dass  die  Dummheit,  ^'•  Stumpfsinnigkeit  und  Geistesträgheit  küngt- 
lirh  durcli .  die  menschliche  Gesellscliaft  ei-zengt  sind.  Diese  Eigen- 
schaften kommen  unter  den.  Wilden  und  NatnnnenscIieTi  kaum  vor. 
Gfsnnder  Menschenverstand,  Lembegierde,  Aufmerksamkeit  und  Denk- 
trieb sind  bei  diesen  unverkfinstelten  Leuten  selbstverstfindlich  und 
allgemeiB.  Wir  haben  daf&r  schon  das  Zeugnis  George  Forster'St 
Seume's,  Humboldt's  und  anderer  Gewährsmänner.  TJnter  den  „von  der 
Cnltur  noch  unbelecktoi**  Völkern,  -wie  z.  B.  bei  den  Bussen,  Letten, 
Esthen,  Finnen,  gibt  es.  keine  eigentlichen  Dummköpfe,  wie  unter 
den  deutschen,  französischen  und  anderen  Bauern  hoch- 
cnltivirter  Rationen.  Die  Dummheit  bei  diesen  ist  durch  die  Be- 
vormondung  geschaffien,  welche  weltliches  und  geistliches  Beamtenthum 
aber  das  Landvolk  zu  yerhängen  pflegen,  ist  der  Grewöhnung  der 
Eltern  geschuldet,  oder  der  Ungunst  der  Lebenslage,  welche  eine 
erweckende  Beschäftigung  der  Eltern  mit  den  Kindern  unmöglich 
machen.***) 

Dieser  Zustand  dei'  Banemwelt  entwickelte  sich  ungestört  fort 
bis  in  die  Mitte  unsers  Jahrhunderts.   Zwar  hat  Kaiser  Josef  IL 

eine  Zeit  lang  Gegenanstrengungen  gemacht,  aber  auf  seine  Reformen 
folgte  eine  rücksichtslose  Reaction,  nnd  bei  der  Schilderung,  welche 
ich  von  dem  bäu<Tlichen  licben  oben  entwarf,  schwebten  mir  diu'ch- 
Wfirs  noch  lebende  oder  erst  jüngst  verstorbene  Pei-s<>nlichkeiten  aus 
meinem  Fleiniatsorte  vor,  also  Leute,  die  in  unsenu  .) ah i  hundert 
;/ebort'n  und  verzogen  worden  sind,  -  ein  Beweis,  dass  obige  Klagen 
auch  in  diesem  noch  ihre  berechtiirte  Anwendung  tinden. 

Da  kam  auf  einmal .  haui)tsächlich  durch  die  J^eniühinigen  des 
Biirgertliuuis,  das  Jahr  des  Heils  lH-48,  und  einige  .laluv  danach 
die  Constitution.  Die  Grundliei rschaften  hörten  auf,  der  Hauer 
^iirde  unmittelbarer  Unterthan  des  Kaisers,  erhielt  das  volle,  freie 
StaatsbürgeiTeclit.  Er  darf  sich  nun  wie  jeder  andere  Staatsbürger 
im  Reichsrathe  um  seinen  'i'heil  wehren.  Zahlreiche  Schulen  wurden 
allenthalben,  auch  auf  dem  Laude,  gebaut,  neue  Sclmlgesetze  wurden 
gegeben,  —  kurz  alles  wurde  gethan,  um  den  Bauer  mit  den  übrigen 
Ständen  auf  gleiche  8tnfe  zu  stellen.  Eine  mächtige,  freisinnige  Partei 


*)  m.  Jahigmig  des  ,^aediigoginni*S  4.  Heft  (S.  211). 

FlBJftR«;iDm.  4.  Mag.  tieft  I.  4 


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war  ans  Staatsnider  gelangt  und  sdiien  alle  Wunden  auf  einmal 
heilen  zu  wollen,  welche  die  „Intelligenz"  seit  lauger  langer  Zeit  dem 
Landvolke  gesclilagen. 

Aber  so  wolgemeint  diese  neuen  Kinriclitungen  für  die  Bauern 
auch  waren,  sie  wurden  von  letzteren  doch  blutwenig  verstanden,  und 
der  aus  der  neuen  Ordnung  erwachsende  Nutzen  ist  auf  dtMii  Lande 
kaum  wahrnehml)ar.  Durch  die  vielhundertjährige  Bevormundung  ist 
dem  Bauer  das  Verständnis  für  den  Staat  abhanden  gekommen;  ^er 
bleibt  in  seiner  Abgeschiedenheit  gleichgiltig  gegen  die  Interessen  der 
Gesammtheit,  und  es  fehlt  ihm  das  Gefühl  der  Zusammengt  lKirigkeit 
mit  der  übrigen  Menschengesellschaft/'*»  Wie  sollte  ihm  da  die  Con- 
stitution nützlich  werden?  Alle  Stände  treten  für  ihre  Sache  ein.  nur 
der  Bauer  bleibt  zurück  —  za  seinem  grössten  Schaden.  An  den 
Wahlen  betheiligt  er  sich  kaum;  und  wen  wählen  diejengen  Banem, 
welche  doch  an  die  Urne  herantreten?  Irgend  einen  Advocaten,  der 
ihnen  den  schönsten  Sermon  vorgesprochen  hat,  und  der  die  Banem- 
weit  sammt  ihren  Bedürfhissen  vidieicbt  gar  nicht  kennte  der  sich 
anch  ausser  aUer  Ck>ntrole  fthlt,  weil  die  Banem  seine  Haltung  im 
Ahgeordnetadianse  gar  nicht  erfhhren  oder  verstehen.  Woher  solloi 
sie  das  auch?  Die  Zeitungen  können  sie  nicht  lesen,  so  tief  hat 
das  Hochdeutsche  in  ihnen  nicht  Wurzel  gescfikgen:  zudem  wftren  sie 
nicht  im  Stande,  von  dem  Parteistandpnnkte  der  ihnen  gerade  in  die 
Hände  ildlenden  Zeitung  sich  unahhängig  zn  erhalten.  Öfters  wird 
nun  freilich  ein  wirklicher  nnd  leibhaftiger  Baner  in  den  Beichsrath 
gewählt:  aber  der  kann  allein  nicht  gegen  den  Strom  schwimmen;  es 
fehlt  ihm  die  Macht  der  Rede,  —  er  kann  ja  im  Parlamente  gar 
nicht  sprechen,  wenn  er  auch  wollte,  er  würde  sich  nur  lächer- 
lich machen,  überzeugen  würde  er  niemand.  Und  überdies  werden 
diese  bänerlichen  Abgeordneten  bei  ihrer  gntmüthigen  Schwäche  nnd 
Nachgiebigkeit,  bei  ihrer  geringen  Einsicht  in  die  politischen  Verhält- 
nisse des  Reiches  bald  von  guten  Kameraden,  meist  den  (Mericalen, 
iiniorestimmt,  werden  Schleppträger  ihrer  natürliclien  Gegner.  Und 
nun  werden  wir  es  auch  begreifen,  warum  gerade  im  Parlamente  vor 
Kurzem  eine  der  ersten  wissenschaftlichen  Grössen  unseres  Vaterlandes, 
Professor  Süss,  in  so  bitteren,  eindringlichen  Worten  die  Zurück- 
gebliehenheit  unsers  Alpenvolkes  l)ejammert  hat! 

Wenden  wii-  unsern  Blick  vom  Parlamente  hinaus  aufs  Land, 
und  sehen  wir  einmal,  welche  Ansichten  der  Bauer  in  Folge  seiner 


*)  Scblinkert,  UL  Jahigang  des  „Piedagogiam",  6.  Heft  (S.  3ä3). 


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Unwissenheit  und  Kurzsichtigkeit  über  die  Zeitverhältnisse  hat.  „Ja 
ja,"  heisst  es  überall,  „das  ist  unser  Unglück,  dass  die  Herren  drinn 
in  der  Stadt  den  Kaiser  nimmer  reo^ioren  lassen;  da  sitzt  eine  Menge 
Überflüssiger  beisaamien  und  zehrt  das  Land  auf."  Damit  wird  also 
dw  Absolutismus  zurückgewüBScht.  Freilich,  der  chnstliclie  Schloss* 
herr  hat  für  seine  l'nterUuuien  „gesorgt,"  er  hat  ihnen  nicht  das 
letzte  Hemd  Tom  Leibe  gezogen,  und  zu  denken  haben. die  Bauern 
damals  gar  nidit  gebraucht.  Ältere  Leute  erzählen  jetzt  wahre  Feen- 
mftreben,  wie  gut  es  dazumal  den  Leuten  ging,  als  sie  sich  „mit 
Banknoten  die  Tabakpfeife  anzünden  konnten.***)  Nur  die  Dienst- 
boten wollen  nidifB  bOren  Y<m  diesen  ngoten**  alten  Zeitoi,  denn  in 
ihren  Kreisen  erzShlt  man  sich,  dass  Knechte  und  Mftgde  damals  nichts 
als  „geratene  KnOdel^  und  „MUchmehlsuppe"  zu  essoi  bekamen,  dabei 
jedoch  noch  viel  härter  arbeiten  mussten  als  heutzutage.  Aber  die 
Missstimmung  gegen  die  leitenden  intelligenten  Stände  von 
heute  besteht,  deren  wohneinende  Absichten  werden  nicht  erkannt 
und  geachtet,  weil  dem  Bauer  nur  formelle  Hechte  zuerkannt,  ihm 
aber  die  materielle  Ausführung  und  Behauptung  derselben  reell  nicht 
möglich  gemacht  wurde.  Diese  intdligenten  Stände  regieren  nun  ohne 
den  Bauer,  &c  bekommt  nur  die  Lasten  zu  fühlen,  aber  eine  Aufklärung, 
eine  Einsicht  in  die  verschiedenen  Begierungsmassregeln  bekommt  er 
nicht.  Dass  hierbei  die  alte  Kluft  zwischen  Intelligenz  und  Volk 
noch  immer  gähnender,  das  Misstranen  des  letzteren  gegen  die  erstere 
noch  drohender  wird,  und  der  Bauer  schliesslich  mit  Bewusstsein 
jedem  Einfluss  der  von  der  Intelligenz  getragenen  hoch- 
deutschen  Bildung  widerstrebt,  wird  und  kann  wol  niemand 
Wunder  nehmen. 

Wie  wenig  die  Schule  unter  solchen  Verhältnissen  wirken  kann, 
um  die  bestehenden  Gegensätze  auf  dem  Wege  der  Aufklänmg  zu 
beheben,  leuchtet  ein;  erscheint  ja  dem  Bauer  die  heutige  Schule  selber 
schon  als  eine  Last,  welche  ilim  „die  Herren  drinn  in  Wien  '  aufge- 
bürdet haben.  Und  selb.st  wenn  die  Scluüe  an  un<l  für  sich  ein  em- 
pfänglicheres Tublicum  im  Bami  uvolke  fände,  so  ist  sie  den  eben 
entwickelten  Übelständen  gegenüber  lahm,  denn  sie  steht  im  Dienste 
der  heutigen  hochdeutschen  Bildung,  welche  unseriu  V(dke  nie  und 
niimner  behagt.  Der  Bauer  wii'd  lesen  lernen,  aber  was  ihm  die 
„hochdeutsche  Bildung"  zum  Lesen  geben  kann,  winl  er  entweder 


*)  Indem  dieselben  TiiiiiiHrh  durch  den  im  Jahre  1811  und  später  ia  den 
dieissiger  Jahren  nochmals  erfolgten  „GeldsCuni"  wertlos  geworden  waren! 

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—  52  — 


nicht  verstehen  oder  nicht  mögen.  Icli  habe  l^ereits  im  letzten  Decem- 
berhefte  flieser  Zeitschrift  (8.  165 — 171)  ausführlicher  hierüber  ge- 
handelt» und  glaube  daher,  hier  einlach  darauf  verweisen  zu  dürfen. 

Was  hat  man  von  Seiten  der  Intelligenz  gethan,  um  speciell  die- 
ser Noth  zu  begegnen?  Nichts.  Man  hat  sich  nicht  bemfiht,  zum 
Volke  herabzusteigen,  es  zuerst  in  desseb  eigener  Art  lebendig  und 
rührig  zu  machen,  um  es  allmftlig  zu  sich  emporzuheben,  —  man  hätte 
ja  dabei  auch  einigen  hergebrachten  Grülen  entsagen  müssen.  Wa& 
hat  der  Bauer  gethan,  um  eine  Besserung  herbeizuiuhren?  Natürlich 
ebenfalls  nichts.  Dass  er  jedes  edlen,  geistigen  Lebensgenusses» 
wie  sie  der  Städter  am  Theater,  an  Musikaufführungen,  an  der 
Lectflre  etc.  findet,  entbehren  muss,  darein  hat  er  sich  schon  lange 
gefügt;  denn  den  „Kirchtag"  mit  seinen  Baufhändeln,  das  „Gassein- 
gehn'*, die  langweilige  Dorfschenke  kann  man  ja  doch  nicht  recht  als 
gütigen  Ersatz  für  jene  reineren  und  geläuterten  Genüsse  des  Städters 
hinnehmen.  Woher  sollte  aber  plötzlich  der  Bauer  so  viel  Einsicht 
und  Energie  nehmen,  um  von  der  gebOdeten  Welt  jene  edleren,  reineren 
Labniigeu  des  Geistes  zu  fordern,  deren  realen  Wert  und  Wichtig- 
keit für  das  Gedeihen  eines  Volkes  doch  nur  ein  tiefer  blickender 
Verstand  zu  erlassen  vermag?  Und  gibt  es  denn  niclit  aiu  li  unter  den 
hocligebildeten  Herren,  welche  das  arosse  ^Vort  in  der  Gesellsc  liulL 
tiiliren,  nocli  ^z(*nu<r  solclie,  dii'  die  N<»tli\vendi«?keit  autfrisclicnder,  er- 
heiternder und  anre;4en(lt'r  Bililunjisniillt-l  üir  die  Uauei-nscliafr  nicht 
beirreifen,  —  nadi  deren  Meinung  der  ßauer  lediglich  beten  und  ar- 
beiten soll,  wenn  er  auch  nur  betet  wie  ein  Kalniük,  und  arbeitet 
wie  t'in  Zni:tliier.  Man  nniss  von  Un^^(Mlnld  verzelii't  werden,  wenn 
man  sieht,  wie  ein  braver,  wackt-ivi-  M^-nscliensclilaL'".  der  aiicli  in  der 
irriissten  (Tcistesarinulli  n<uh  ]\tMlliclikpit  und  Elirliclikeit .  Mässigung- 
und  Nüchtci  iilieit,  Achtung  tiii-  das  Iliiiiere  und  Öinn  fdi"  sittliche  Echt- 
heit bewahrt  liat,  hilflos  verküinniein  soll. 

Diese  geistige  Verödung  und  das  an  sie  geknüpfte  moralische 
Elend  hat  der  Bauer  Jahrhunderte  lang  zu  ertragen  vermocht;  sein 
Verständnis  für  das  Geistige  ist  eben  zu  wenig  entwickelt,  als  dass 
er  demselben  einen  reellen  Wert  zuschreiben  und  sich  ohne  dasselbe 
verkürzt  und  beeinträchtigt  tUhlen  könnte.  Er  sagt  sich,  dass  nur 
gewisse  bevorzn<rt(i  Personen  und  Stände  fUr  da^  Geistige  und  zwar 
ausschliesslich  berufen  seien.  Und  wenn  er  auch  manchmal  eine 
gewisse  Sehnsucht  danach  fühlt,  —  die  bäuerliche  Asketik,  von  der 
ich  schon  oben  gesprochen,  lässt  ihm  dieses  Gefühl  sofort  als  eitel, 
unberechtigt  und  frevelhaft**  erscheinen.  Doch  diese  asketische  Denk* 


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—   53  — 


art  ist  mir  eine  äusserliche,  der  Natur  aufj[;:ez\mnf^ene  und  wird  leider 
durch  fanatisch-unbesonnene  Prediger,  die  fortwährend  die  heatig<d 
•freiamiiige",  n^i^i^^^f  nttl>e™üthige"  Welt  verdammen  und  ihr  gegen- 
über die  „EinfisJt*',  ,,Demath^,  „Verachtmig:  der  Welt  mit  ihrer  Weis- 
heit" anpreisen,  fleissig  genährt  Der  natürliche  Sinn  fibr  das  Wahre 
imd  6nte  lässt  sich  aber  durch  solch  änsserlichen  DenkzWang  nicht 
so  weit  ^^eg^,  dass  der  Baner  nicht  wenigstens  mit  yerhohlenem 
Neid  auf  jene  Stände  hinblicken  sollte,  deren  ungehemmter  Geistes» 
schwang  ihm  von  seihst  imponirt,  da  derselbe  in  tausend  concreten 
Gestalte — Einrichtangen,  Erfindungen  etc.  —  der  bäuerlichen  Oeistes- 
sdave^  gegenttbertritt  und  sie  beschämt 

Aber  diese  Znr&ckgebliebenheit,  diese  Verkürzung  auf  geistigem 
Gebiete,  schliesslich  auch  der  unangenehm  kitzelnde  Vergleich  des 
eigenen  Niedergauges  mit  dem  Aufschwünge  anderer,  intelligenterer 
Menschendassmi  ist  es  nicht,  was  die  Bauernschaft  jüngst  veran- 
lasst hat,  sich  zur  Wahrung  ihrer  Interessen  aufenraifen.  Der  Bauer 
bt-^lurfte  noch  einer  concreteren  Anregung:  und  diese  wurde  ihm  nun 
durch  den  erhöhten  ^Steuerguhlen".  Schon  seit  länjrerer  Z<Mt  hatte 
das  tieferen,  nioralisclien  Gründen  »'ntstaniint;nde  Misstraueu  jregen 
die  gebildete  Welt  in  den  wachsenden  Steuern  —  die  ja  von  obenher 
dictirt  werden  —  einen  zähen  Anhalt sjjiuikt  gefunden.  Der  Bauer 
ni..-rsehät zt  das  (Teld,  weil  er  es  nicht  zu  erwerben  versteht;  wenn 
er  einen  Gulden  zahlt,  so  glaubt  er  (iott  weiss  was  «geleistet  zu  haben. 
Es  ist  vor;irek(nnnien.  da.ss  ein  Hauei-ssohn  ans  meiner  Heimat,  der  als 
Dragoner  in  Italien  krank  darnied.Mla<r  und  um  eine  Unterst ützuntj: 
l>ei  .«seinem  Vater,  einem  w(d])eL'"iitrjten  Uauer.  ansuchte,  von  diesem 
mit  eint  in  einziiren  Guldenzettel  hcdicnt  wurde.  Der  Arme  iiat  müssen 
buchstäblich  vtMschmacliten  und  verderben.  .Afan  wird  uut»'r  stdclien 
rraständen  bef^reifen,  dass  eine  Steuererhöhunir  von  2.")",,  auf  die  ■ 
Bauernschaft  eine  eranz  ausserordentliche  Wirkunp^  ausüben  musste. 
Erst  diese  melir  als  moralische  Ohrfei<re  hat  es  ihr  ins  Bewnsstsein 
genif«*n.  dass  sie  in  einem  freien  Staate  lebt,  und  rlass  sie  sich  mit 
gesetzlichen  Mitteln  selber  Recht  verschatfen  dürfe.  Nachdem  aber 
der  Bauer  durch  diesen  empfindlichen  Handstreich  einmal  zur  Action 
aufgeschreckt  worden,  so  treten  sofort  in  seinem  Gebahren 
alle  übrigen  Ursachen  zu  Tage,  welche  schon  seit  L.niirem 
nnd  ignorirt  von  der  Öffentlichkeit  die  Bauembewegung  vorbereitet 
hatten.  Die  Kluft  zwischen  Intelligenz  und  Landvolk,  das 
Misstraoen  des  letzteren  gegen  die  erstere,  spricht  sich  in  der  con- 
sequent  durch  alle  Bauemtage  sich  hindurchziehenden  Erscheinung  aus 


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—   54  — 


dass  Advocaten,  Geistliche,  Aristpkraten  prindpiell  von  der  Yersamm- 
lang  ansgescblossen  sind,  dass  nur  Banem  das  Wort  gegeben  werden 
soll  etc.  Es  steht  dabei  freilich  kaum  zn  erwarten,  dass  die  Bauern 
auf  diese  Art  erkleckliche  Besultate  eraielen  werden;  sie  selbei-  haben 
zu  wenig  Einaicht  in  unsere  öffentlichen  Verhältnisse  und  sind  daher 
ganz  den  wenigen  Journalisten  und  gebildeten  Parteigängern  in  die 
Hand  gegeben,  welche  den  Banem  die  Nothwendigkeit  ihi;ier  Mitwir- 
kung begreiflieh  zu  machen  verstanden  haben.  Wei-den  diese  Dema- 
gogen auf  das  Volk  jenen  heilsamen  Einfluas  ftben,  dessen  es  bedarf, 
oder  werden  sie  dasselbe^  nach  Art  der  Demagogen  des  Alterthnms, 
nur  als  Stimmenmaschine  yerwenden,  ohne  es  sonst  zu  heben  und  zn 
büden? 

Es  ist  Widerspruchs  genug  in  der  Art,  wie  sich  die  Baumi  da 
hejfm  sollen.  Erst  wird  em  „Bauern-"  tag  einberufen,  es  erscheinen 
thatsächlich  Tausende  von  Bauern,  und  nun  wird  ihnen  von  diesen 
etlichen  Demagogen  ein  Langes  und  Breites  in  weitschweifigen  parla- 
mentarischen Phrasen  voller  Fremdwörter  und  termini  technid  vor- 
dedamirt,  und  der  Bauer  geht  von  solchen  Reden  dflmmer-  hinw^, 
als  er  gekommen.  Die  wiederholten  Bnfe,  welche  z.  B.  auf  dem  am 
Ostermontage  dieses  Jahres  abgehaltenen  Parteitage  gehört  wurden» 
sind  ek  Beleg  fbr  unsere  Behauptung:  „Nur  kurz**,  riefen  da  die 
Bauern,  „nur  kurz  und  laut!''  „Mir  branchn  koan  lange  Wurscht  nitl" 
„Nur  grod  aussa  sogu!"  etc.  Die  von  den  Bauern  selbst  gehaltenen 
sehlichten  Ansprachen  treten  gegen  den  blühenden  Unsinn  ihrer  ge- 
lehrten Mitredner  zurttck,  bei  Abfassung  von  Resolutionen  gibt  lediglich 
letzterer  den  Ausschlag,  —  und  massgebenden  Ortes  weiss  man  dann 
auch,  was  man  solclien  Resolutionen  widerfahren  lassen  darf,  da  ja 
eigentlich  gar  keine  Bauern  mit  Überzeno-nnff  hinter  ilmen  stehen. 

Eraieleu  aber  di»'  Hiiucni  durch  ilir  lieiitig't's  Aultreten  keinen 
Erfolg  —  wie  sehr  zu  befürcliteu  stellt  — ,  dann  M'erden  sie  ihre 
Sache  ganz  aufgehen,  sie  werden  lieber  alles  ertragen,  selbst  wenii 
sie  einzeln  und  nacli  einander  ihi-e  Guter  veräussern  miissten,  bevor 
sie  wieder  eine  neue,  gemeinsame  Bewegung  insceniren.  Nur  der  Er- 
lolg kann  den  Trägen  und  Scheuen  eimuthi'jen:  wird  aber  der 
Bauer  in  einem  Kam]»l'e  geschlagen,  den  er  nach  geduldigem, 
Jahrhunderte  langem  Ertragen  einer  Beihe  von  Ungeiechtig- 
keiten  endlieh  geL^-n  ein  neu  auftauchendes,  ihn  am  empfind- 
lichsten treffendes  L'bel  unterni'inmen  hat,  —  dann  sinkt 
er  in  die  alte,  ihm  durdi  her^fbiaclit e  Bevormundung  aner- 
zogene Indolenz  zurück,  und  es  wird  sich  kein  Anlass  mehr 


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—  55  — 


f&r  ihii  ergeben,  sich  selber  aus  seiner  Verkommenheit,  sei- 
ner geistigen  Öde,  seiner  Armuth  aufzuraffen.  Welches  Bild 
geistiger,  sittlicher  und  materieller  Noth  böte  wol  ein  sol- 
cher Bauernstand? 


n. 

Günstiger  £influss  der  Dialect-  und  Volksstudieu  auf  die 

Bauernwelt. 

Im  obigen,  einleitenden  Capitel  haben  vir  die  geistige  und  mate- 
rielle Lage  des  Bauernyolkes  —  letztere  insoweit  sie  auf  die  erstere 
zurückwirkt  —  daiznstellen  versucht.  Wii*  haben  seine  jOngsten  An- 
strengungen, seine  schwachen  Aussichten  auf  Erfolg,  sowie  die  yer- 
derUichen  Folgen  sdner  yoraussichtlichen  neuerlichen  Niederlagen 
angedeutet,  —  und  fragen  nun: 

Von  welcher  Seite  steht  allein  eine  befriedigende  Beilegung  dieser 
Übelstände  zu  erwarten?  Und  ich  antworte:  Von  der  Wissen- 
schaft und  der  Bildung. 

Aber  diese  Wissenschaft  und  Bildung  mnss  eine  volksthümliche 
sein.  Ihre  Orcrane  müssen  entschlossen  handeln  und  ohne  Zaudern 
hinaustreten  untei"  das  Volk,  und  ihm  noch  zur  rechten  Zeit  den  lang- 
entbehrten Labetrank  darreichen,  den  Labetrank  der  Erkenntnis,  der 
geistigen  Freude  und  Erlie.bung',  der  Zärtlichkeit,  des  edlen,  feinen 
Witzes  —  imd  was  alles  neben  den  notlnvendiffen  \\'issensz\vei«fen 
und  Fertigkeiten  zum  Kej^riÖe  eines  wahren  ^lenschen  «gehört,  was  ihn 
l»-l>fn(lig,  riUiri^  und  tauglich  macht  fürs  Leben,  für  die  Familie  und 
den  Staat.  Was  fehlt  doch  dem  P.aiier  alles I  l'lx'rall,  wohin  der 
Kenner  unsei-s  heutigen  \'olkslebens  blickt,  findet  er  die  Gelegenheit, 
ja  die  Pflicht,  wenn  er  gewissenhaft  sein  will,  zu  ermahnen,  zn  be- 
lehren, zu  verbessern,  auf  Neuschöpfungen  zu  dringen.  Der  Verkehr 
der  etwas  erwachseneren  Kinder  und  der  Eltern  ohne  Zartgctühl. 
Mann  und  A\'eib  blos  der  W  irtschaft  halber  nebeneinander,  Dienst- 
boten unverantwortlich  schlecht  gehalten,  die  Ordnung  und  Jleinlich- 
keit  vergessen,  der  Zusammenhang  mit  der  übrigen  menschlichen  Ge- 
sellschaft abhanden  gekommen,  im  Auftreten  Scheu.  Stumpfheit,  oft 
Blödheit,  ein  fürchterlicher  herzbeklemmender  Aberglaube,  eine  noch 
nicht  mit  der  einfachsten  Idee  des  Christenthums  vertraute  Bigotterie, 
kurz  ein  Zustand  der  Zerrüttung  und  Verwahrlosung  aller  edleren 
menschlichen  AnUigen,  —  das  ist  das  Bild,  welches  einem  in  armen 
GehirgsdOrfem  oft  entgegenstarrt! 


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—   56  — 


Es  herrscht  lango  niclit  überall  diese  näniliche  Armseligkeit,  es 
jnbt  auch  bedeutende  Unterschiede  unter  dvn  liauern.  Doch  darf  nur 
ein  Theil  der  genannten  Dämonen  sich  irgendwo  eingenistet  haben, 
so  ist  das  Elend  schon  gross  genug. 

# 

Diese  Zustände  soll  der  patriotische  Gelehrte  zum  Gegenstande 
seiner  Studien  machen,  und  er  wird  dann  um  ein  Thema  für  eine 
schriftlidie  Arbeit  nicht  in  Verlegenheit  sein,  wie  so  oft  bisher.  Nicht 
der  Volksschule  allein,  die  mit  ihrem  yerhältnismässig  geringen 
geistigen  Capitale  solchen  Zuständen  rathlos  und  unvermögend  gegen- 
übersteht, soll  man  die  Bekämpfung  der  letzteren  fiberlassen. 

Es  niuss  uns,  iiiiiiitteii  dieser  traurigen  Thatsaclien,  zur  (4eiiug- 
tluiunir  irereiclieii.  dass  man  in  unserer  Zeit  selmn  Hand  angeh\irt  liat. 
das  Volk,  seine  Sitten,  Zustände  Sju-aclir  ftr.  gründlicher  zu  studiren. 
Es  wird  sich  aus  diesen  Studien  vnn  sellier  das  Bestreben  ergeben, 
den  erkannten  (  bt  Utändt-n  audi  abzuhelfen. 

Das  Leben  des  Landvolkes  kann  eben  von  den  verschiedensten 
Seiten  her  aufgefasst  werden;  es  bietet  nach  allen  Seiten  hin  des  In- 
teressanten genug.  Man  verlegt  sich  ja  nicht  auf  das  Gebiet  des 
Volksleb^  um  lediglich  das  Fehlende  wahrzunehmen,  man  fasst  ja 
zunädist  und  vor  allem  das  Positive  ins  Auge.  Ob  ich  nun  als 
Sprachforscher  den  Dialect,  als  Jurist  die  alten  Bechtsgewohnheiten 
und  Anschauungen,  als  Psycholog  die  geistige  und  sittliche  Artung, 
als  Beligionsforscher  den  Aberglauben,  die  Märchen  und  alten  „Fabeln^, 
als  Musikolog  die  Lieder  und  Jodler  der  Bauern  zum  (xegenstande 
meiner  Untersuchungen  und  Nachfragen  mache,  immer  kann  ich  dabei 
meinem  Forschungstriebe  und  dem  öffentlichen  Nutzen  zu  gleicher 
Zeit  Genfige  leisten.  Ein  Studium  des  Elendes  an  und  tfir  sich  hätte 
allerdings  nicht  Aussicht,  besonders  viel  Schäler  und  Theilnehmer  za 
finden. 

Die  Volks-  und  Dialectstudien  liaben  also  eine  dojjpelte  Seit*-, 
eine  ideale,  icin  w  isM'nx'liat'tliclie.  und  eine  i»raktisclie.  sociale.  Xarh 
einer  Seite  hin  ei  weitorn  sie  den  Jiereich  un^ei-er  Kenntnisse  in  emi- 
nenter Weise,  indem  sie  unmittelbar  aus  dem  Leljen  eine  MeiiL-'e  bis- 
li«'r  unbeaditeter.  obirleicli  naheliegender,  interessanter  Erschoiniin-on 
uiiserm  Ver.ständnisse  zuiuhren;  anderseits  befahijien  sie  die  uebildt  te 
riasse,  das  Volksleben  endlich  einmal  wahr  und  «rrinidlicli  aulzufassen, 
mit  dem  Volke  zu  verkehren,  und  betahijien  dieselbe  lur  die  grosse 
und  edle  Autgabe,  an  dem  Bauemvolke  die  vielseitifre  Correctur.  He- 
bung und  Veredlung  vorzunehmen,  deren  dieses  bedaif,  die  ihm  aber 


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—   57  — 


aus  seiner  eigenen  Mitte,  ohne  Einwirkung  der  Intelligenz,  nicht  zu 

Tlieil  werden  kann. 

•  Die  Art,  vne  eine  in  diesem  Sinne  gebildete  Intelligenz  auf  die 
Bauernschaft  einwirken  wird,  wird  eine  ganz  andere  sein,  als  die 
unserer  heutigen  „Volksroftnner".  .  Da  hat  honte  fiist  Jeder  ein  be- 
stimmtes politisches  Programm,  für  das  er  Stimmen  braucht,  ein  an- 
derer wiU  überhaupt  die  Aufinerksamkeit  auf  sich  lenken,  und  hierzu 
ist  ihm  Torderhand  die  Sache  der  Bauern  gut  genug»  —  ein  dritter 
macht  l&r  sein  Journal  Propaganda  etc.  Dem  Bauer  stehen  sie  an 
Geist  und  Herz  ebenso  fem,  wie  irgend  ein  anderer,  —  sie  wissen 
ihm  nichts  zu  intuniren,  können  ihm  nichts  erklären,  und  auf  die 
Dauer  wird  sich  der  Bauer  durchaus  nicht  an  sie  binden.  Aber  so 
lange  er  ihnen  noch  folgt»  wird  er  von  ihnen  in  politischer  Aufregung 
erhalten,  —  natürlich,  wenn  dadurch  auch  ftlr  den  Bauer  nichts  zu 
«zielen  ist,  so  macht  das  nichts. 

Ich  mnss  gestehen,  dass  ich  unangenehm  überrascht  war,  als  ich 
plötzlich  von  der  Bauernbewegung:  hörte,  obwol  ich  schon  längst  vor- 
.  her  die  (Quellen  derselben  erkannt  hatte.  Der  Katzen jaiiinier  nach 
derselben  kann,  wie  jresatrt,  für  <lie  Bauern  weit  nur  allzu  verhäng- 
nisvoll werden.  Nun  können  wir,  vom  wissensehall liehen  Standpunkte 
aus.  nielits  anderes  tliun,  als  uns  aufs  Höchste  beeilen,  uui  die 
Bauern  von  innen  heraus  «reistig  und  nutralisch  zu  stärken,  sie  auch 
tür  den  Fall,  dass  die  Bewegnnp:  .><cheitert.  noch  sittlich  aufrecht  zu 
»-rhalten.  ihre  heuti2:en  Fiilirer  wo  ni<i<:li(li  zu  bewegen,  eine  populä- 
rere HaltuUL^  anzunehmen  und  das  Volk  besser  zu  stiidiren.  endlich 
können  die  Kenner  des  Volkswesens  öitfentlich  solche  ^länner  den 
Bauern  zu  Führern  enipfelden.  von  denen  wii-klich  erwartet  werden 
darf,  dass  sie  frei  von  Selbstsucht  nur  das  Wol  des  Staates  und 
der  (Tes(  llschaft.  1iesondei*s  des  vernachlässigten  iiauerustaudes,  im 
Auge  haben  werden. 

Die  Volks-  und  Dialectwissensehaft  wird  und  kann  an 
sich  allerdings  nicht  in  das  Politische  eingreifen;  es  wäre 
ganz  falsch,  wenn  man  sie,  wie  heute  so  gern  alles  Volks- 
thümliche,  vom  aristokratischen  Standpunkte  aus  mit  schee- 
len Augen  ansehen  wollte,  in  der  Befürchtung,  dass  etwa 
hieraus  eine  neue  Gefahr  für  unsere  jetzige  Ordnung  er- 
wüchse. Und  doch  bringt  die  junge  Wissenschaft  auch  dem 
Staate  den  grössten  Nutzen:  wird  nämlich  die  Bauernschaft 
durch  populär  gebildete  Männer  —  und  die  Aufgabe  unserer 
jungen  Wissenschaft  ist  es  ja  yor  allem,  intelligente  Kräfte  tief 


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populär  zu  bilden  —  ji^elioben.  vennlelt  und  orescliult,  dann 
wird  der  Bauer  türlitij^^er,  seinen  Pflicbten  j^egen  den  Staat 
und  die  moderne  Gesellschaft  gewachsener;  er  wird,  bei 
besserem  Einblick  in  die  politischen  Verhältnisse,  einsehen, 
was  er  leisten  nuiss  und  was  er  auf  parlamentarischem 
Wege,  in  gesetzmässiger  ^^'eise  von  sich  weisen  darf,  er 
wird  ein  einsichtsvoller,  leistungsfähiger  und,  den  alten 
Traditionen  seines  Standes  gemäss,  ein  ruhiger  Weltbürger, 
aber  keineswegs  eiu  Spielball  in  der  Hand  von  Parteigängern  sein. 
Nur  die  Dummheit  kann  gefährlich  werden. 

(Sebliin  folgt) 


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Wieaer  tieschichteii. 

Van  Dr,  Friedrieh  Dittee, 
L 

Wien,  den  8.  October  1881. 

Im  zweiten  Jahrgange  dieser  Zeitsehrift  (S.  570  IT.)  habe  ich  die 
Entstehungsgeschichte  de«  Wiener  Lehrer^Pädagogiums  erzählt  und 
Kachrichten  Uber  die  Lebensgeschichte  desselben  in  Aussiebt  gestellt. 
Im  letzten  Augustlieft«  berichtete  ich  in  Kürze  über  die  Wendung, 
▼eiche  im  Bestände  dieser  Anstalt  eintretreten  ist  und  nuichtc  die 
Zusaire,  weitere  Mittheilungen  in  diesen  Blättern  folgen  zu  lassen. 

Es  wird  mir  schwer,  schon  heute  die  Feder  zn  ergreifen,  um  mit 
der  Erfüllung  meines  Versiuecheiis  zu  beginnen.  Als  ich  mich  den 
13.  Juli  dieses  .lahres  von  dem  l.elirkörper  und  der  Hörerschaft  des 
Pädagogiums  verabschiedete,  glaubte  ich,  mit  dem  Wiener  (lemeinde- 
rathe  im  Keinen  zu  sein  und  endlicli  einmal  die  dringend  not h wendi- 
gen Massregeln  zur  W'iederherstellnnjr  meiner  Gesuiulheit  ergreifen  zu 
können.  Aber  noch  gab  man  mir  keine  Kuhe;  die  Weiterungen  zogen 
äch  umiiiteibrochen  fort  bis  in  den  September  hinein.  Hierzu  kamen 
die  Mühen  eines  W'ohnungsweclisels,  doppelt  beschwerlich  in  ausser- 
gewöhnlicher  Zeit  und  im  heissen  Sonmier.  (Meine  Adresse  ist  nun: 
Wien,  1.  Bezirk,  Lothringer  Str.  ö.)  Dabei  nahmen  mich  unabweis- 
bare häusliche  und  Familien- Augelegenheiten  in  Anspruch;  Correspon- 
denzen  und  literarische  Arbeiten,  wenn  auch  auf  das  Dringendste  ein- 
geschränkt, Messen  sich  ebenfalls  nicht  abweisen.  Und  so  ist  der 
Sommer  vergangen,  ohne  dass  ich  etwas  Erhebliches  für  meine  Ge- 
snndheit  thun  and  zu  voller  häuslicher  Ordnung  gelangen  konnte. 
Noch  liegt  ein  grosser  Theil  meiner  B6cher  und  Sdirift^  bunt  durch* 
euuuider,  und  insbesondere  habe  ich  das  reiche  Material  zu  den  an- 
gdLllndigten  Mittheflung^  noch  nicht  vollständig  sammeto  und  ord- 
nen können. 

Doch,  meine  Freunde  mögen  sich  keine  Sorge  um  mich  machen. 
Ich  bin  guten  Muthes,  und  bald  vird  alles  im  Gange  sein.  Zagen 


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—   60  — 


und  Scliw aiikeu  soll  mir  lern  bleiben.  Ich  bitte  iiui\  den  kleinen  An- 
fanfj:,  welchen  icli  heute  mit  den  Wiener  Geschichten  mache,  nacli- 
sichti«i-  aufzunehmen  als  ein  Zeichen  des  <?uten  A\'illens.  meinem  Ver- 
sprechen nachzukommen,  wobei  icli  irelej?entlich  bemerke,  dass  ich 
auch  der  anderen  Schulden,  welche  icli  iu  diesen  Blättern  noch  abzu- 
tragen habe,  nicht  vergessen  werde. 

Doch  zur  Sache.  Womit  soll  ich  meine  Erzählung  beginnen?  — 
'Ich  darf  wol  annehmen,  dass  meine  geneigten  T.eser  vor  allem  über 
die  von '  mir  bereits  signalisirte  und  von  vielen  Blättern  bereit«  be- 
sprochene Wendung  in  der  (Teschichte  des  Wienei*  Pädagogiiuns  Näheres 
zu  erfahren  wünschen.  Und  diesem  Verlangen  will  ich  in  erster  Linie 
Kechnniig  tragen.  Dann  mag  Anderes  an  die  Reihe  kommen,  um  zu 
erg&nzon,  wo  es  noth  thut.  Aus  früherer  Zeit  muss  ich  aber  so  viel 
voranschicken,  als  zum  Verständnis  der  neuesten  Vorgänge  unent- 
behrlich ist' 

Vor  allem  bitte  ich  meine  Leser,  den  oben  erwähnten  Anfsatz 
über  die  Entstehung  des  Wiener  Pädagogiums  nochmals  zu  lesen.  Er 
orientirt  über  die  allgemeine  Sitnation,  in  welche  das  Institut  gesetzt 
war.  Dieselben  mächtigen  Factoren,  welche  die  Eirichtnng  desselben 
Jahre  lang  verhindert  hatten,  haben  auch  seinen  Bestand  fortwährend 
erschwert;  und  es  ist  keui  blos  zufälliges  Zusammentreffen,  dass  Graf 
Belcredi,  welcher  als  Minister  „die  Rechte  der  Kirche  und  des 
Staates"  gegen  die  gephmte  Anstalt  ins  Feld  geführt  hatte,  jetzt, 
da  die  geplante  Reorganisation*'  des  Pädagogiums  in  Scene  geht» 
seine  .politische  Auferstehung  geniesst,  wie  einst  das  Pädagogium, 
nachdem  Graf  Belcredi  gestürzt  war,  ins  Leben  treten  konnte. 

Die  consenrative  Partei,  an  ihrer  Spitze  die  Begierung  und  der 
Olerus,  hatte  in  ihrem  Kampfe  gegen  das  Pädagogium  das  formelle 
Becht  für  sich,  indem  nach  den  bestehenden  Gesetzen,  unter  welchen 
das  Concordat  von  1855  eine  Hauptrolle  spielte,  die  neue  Anstalt  mit 
der  vom  Gemeinderath  gewollten  Einrichtung  allerdings  unzulässig 
war.  Diese  Anschauung  theilte  auch  Burgermeister  Dr.  Zelinka,  wie 
er  mir  gleich  bei  dem  ersten  Besuche,  den  ich  ihm  machte,  ganz  offen 
auseinandersetzte,  worauf  er  ausrief:  „0,  dieses  Pädagogium  wird  uns 
noch  viel  Schmerzen  machen!'*  —  Nun  vei-stand.  ich  auch,  warum 
Zelinka  das  Statut  des  P;idaiii>giunis  nicht  unterzeichnet,  sondeni  dies 
dem  Vicebürgernieister  Dr.  Felder  übt'rlassen  liatte.  Als  Zdinka  merkte, 
dnss  icii  von  seinem  \\'illkonini  niclit  st-hr  t'rbaut  Avar.  fuhr  er  gut- 
niüiliig  und  in  W  iener  Mundart  tbrt:  ,.Aber  iiiaclim's  iiinei-  nix  diaus. 
s'ist  nun  einmal  geschelin;  ich  werde  loyal  durchliüiren,  was  der  Ge- 


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—   61  — 


■winderath  beschlossen  und  die  Begierong  genehmigt  liat  und  dem 
neuen  Institat  meine  ehrliche  Fürsorge  widmen.**  —  Ich  bin  fiber- 
zeogt,  dass  dies  sein  anfrichtiger  WiUe,  nnd  dass  er  flberhanpt  ein 
Ehrenmann  war.  Er  würde  dem  Pftdagogium  ein  besserer  Freund 
gewesen  sem,  als  viele  Andere,  die,  als  der  Liberalismus  Mode  war, 
an  der  Vaterschaft  des  Instituts  theilnahmen,  sich  aber,  als  ein  anderer 
Wind  zu  wehen  begann,  zu  unseren  Gegnern  schlugen,  wenn  auch 
nur  heimlich.  Zelinka  wurde  wenige  Monate  nach  Eröffiaung  des  Pft* 
dagoginms  vom  Tode  ereilt,  und  das  war  das  erste  Unglück  für  die  Anstalt. 

Ich  erwähnte  das  Concordat  von  1855.  Da  dasselbe  oft  genannt 
wird,  aber  trotzdem  seinem  Inhalte  nach  wenig  bekannt  ist,  so  will 
ich  doch  die  Hauptsätze  desselben  hier  anführen: 

„Der  ganze  Unterricht  der  katholischen  Jugend  wird  in  allen  sowol  öüent- 
Uehen  als  aiditUffeiitlichea  Sdudra  der  Lehre  der  katholischen  Religion  ange- 
meeeen  sein;  die  BischSfe  aber  werden  kraft  des  ihnen  eigenen  Hirtenamtee 

die  religiöse  Erziehung  der  Jugend  in  allen  Sffentlichen  and  nichtöffentliohen 

I.Hliraiixt^iltt'ii  leiten  und  soi^sam  darüber  waclit  ii.  dass  hei  keinem  Lehrgegen- 
stand^-  etwas  voikoniine.  was  dojii  katlutlisdit  ii  Glauben  nnd  der  sittlielien 
Reinheit  ziiwidtTläuft.  Nifinaiid  wird  die  Kelitrionslelire  in  was  iniincr  für 
einer  üffeutlichen  oder  nichtlitientlichen  Anstalt  vortrugen,  wenn  er  dazu  nicht 
▼om  Bischof  dee  betreffenden  Kirchensprengels  die  Sendung  und  Ermächtigung 
evlialten  hat,  welche  denelbe,  wenn  er  es  fBr  zweckmässig  hält»  zn  wider- 
rafen  berechtigt  ist.  Alle  Lehrer  der  für  Katholiken  bestimmten  Schalen 
werden  df^r  kirchlichen  Beanf^lehtigung  nnterstehen.  Der  Glaube  nnd  die 
Sittlichkeit  drs  zum  Srhullehrer  zn  Bestellenden  mnss  makellos  sein.  Wer  vom 
rechten  Ftadi'  abirrt,  wird  von  seiner  Stelle  entsetzt  werden." 

Da  haben  wir  denn  ein  Hauptstück  des  Conflictes,  in  welchen 
das  Pädaf.'-d'rinm  pleich  am  Anfange  gestellt  war,  und  zujrleich  ein 
Hanptstück  der  Aufgabe,  die  es  lösen  sollte.  Der  grosse  und  mächtige 
Anhang  des  Concordates  hat  es  dem  Pädagogium  nie  verziehen,  dass 
es  den  ersten  und  einen  sehr  starken  Biss  in  diesen  Vertrag  zwischen 
Kaiser  und  Papst  machte,  und  dass  es,  bevor  noch  das  Reichsschul- 
gesetz ezistirte  (dasselbe  kam  erst  im  Jahre  1869  zu  Stande),  und 
während  noch  das  Concordat  zu  Recht  bestand  (es  wurde  erst  1871 
ai%ehoben),  als  Vorposten  der  freien  Schule  auf  den  Phui  trat,'  um 
derselben  den  Boden  zu  bereiten.  Übrigens  hatte  anfiuigs  das  Pä- 
dagogium selbst  dem  Diiick  der  bestehenden  Verhältnisse  nicht  ganz 
entgehen  können,  sondern  in  sein  Statut  die  Bestimmung  auihehmen 
mfissen: 

Jta.  Bezug  auf  die  Religion  ist  jeder  Züglijig  verpflichtet,  sich  alljilhr- 
hch  nüt  ehiem  Zengnisse  über  den  Gennas  ehies  seinem  Glaubensbekenntnisse 
isd  dem  Zwedce  der  Anstalt  entsprechenden  Unterrichtes  aaszuweisen.** 


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—   62  — 


Aber  nicht  blos  die  natürliche  Gegnerschalt  der  katholischen 
Hierarchie  erscliwerte  dem  Pädagogium  das  Dasein;  aucli  im  Gemeinde- 
rathe  und  der  Beamtenschaft  Wiens  waren  von  Anfimg  an  nicht  Alle 
der  neuen  Anstalt  von  Herzen  zugethan.  Sclion  im  ersten  Lebens« 
jähre  derselben  erliielt  ich  hierüber  einen  deutlichen  Wink.  Es  er- 
schienen in  üilentUchen  Blättern  über  das  Pädag^ogium  allerlei  ge- 
hässige Notizen,  die  keineswejars  sämmtlicli  (dericalen  Charakters  waren. 
Als  ich  deshalb  einmal  in  das  Bureau  der  „Neuen  freien  Presse"  ging 
und  den  Heraosgebem  dieser  Zeitung,  den  Herren  Friedländer  und 
Etienne,  meine  Beeehwerden  vorbrachte,  entgegneten  sie:  ,^a,  wir 
haben  ohnehin  nicht  geglaubt,  was  in  diesem  Artikel  steht  und  haben 
deshalb  die  verietzendsten  Stellen  gestrichen  (dies  war  richtig,  wie 
sich  ans  der  Yergleichung  der  „N.  fr.  Fr."  mit  anderen  Blättern  er- 
gab); aber  was  sollen  wir  denn  thun?  Es  kommt  ja  vom  Rath- 
hause." —  Ich  habe  mich  nachher  überzeugt,  dass  von  dort  aus  unter 
dem  Titel  von  „Correspondenzen"  allerlei  Nachrichten  über  städtische 
Angelegenheiten  den  Zeitungen  übersendet  werden,  aber  niemals  mit 
Sicherheit  er&hren  können,  wer  eigentlich  das  Bessert  bezüglich  der 
Notizen  über  das  Pädagogium  hatte.  Ich  werde  noch  Öfter  auf  die 
verschiedenen  Stimmungen  und  Motive,  welche  im  Wiener  Rathhause 
dem  Pädagogium  gegenüber  gewaltet  haben,  zu  sprechen  kommen; 
hier  will  ich  nur  constatiren,  dass  dem  jungen  Institute  auch  ans  den 
Beziehungen  zu  dem  hnndertundzwanzigköpfigen  Gemeinderathe  nnd 
zur  städtischen  Beamtenschaft  bedeutende  Schwierigkeiten. erwuchsen. 

Zu  diesen  äusseren  Verhältnissen  kamen  nun  die  inneren,  welche 
für  sich  allein  hinreichend  gewesen  wären,  das  ganze  Pädagogium 
als  ein  h(Sch8t  dornenvolles  und  zweifelhaftes  üntemäunen  zu  cha- 
rakterisiren.  Als  eine  auf  allseitige  Fortbildung  der  Wiener  Lehrer- 
schaft angelegte  Anstalt  muthete  es  seinen  Hörem,  die  ihre  Haupt- 
kratt  iiuf  die  Füliniiifj;-  ötfentlicher  Schulämter  zu  verwenden  hatten, 
überdies  noch  meist  auf  Nt  beiiurwerb  aiiire wiesen  waren  und  bei  alle- 
dem nur  eine  kümmerliche  Existenz  hatten,  «^n'osse  physische  und 
geistig:e  Anstrengungen  und  ausserdem  pecuniäre  Opfer  zu.  Es  ist 
daher  nicht  zu  verwundern,  dass  in  den  Kreisen  der  Wiener  Lehrer 
eine  entschiedene  Abneigung  gegen  die  neue  Anstalt  herrschte,  in  der 
viele  nur  einen  Ort  der  Plage  erblickten,  wo  den  von  des  Tages  Last 
Ermüdeten  geistiire  iSpeis»'  in  Überflnss  L-'pJ'eicht  werden  solle,  wäh- 
rend sie  von  »Sorgen  um  das  leibliciie  Hrot  gebeuct  waren,  l'nd  doch 
war  der  Bestand  des  Pädagogiums  auf  das  freiwillige  Krscheinen 
der  Lehierschatt  basiill  —  Überdies  stand  noch  ein  erheblichei*  Theil 


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—   63  — 


der  Wiener  Lehrer  im  clericalen  Lager,  und  nicht  wenige  hielten  es 
mindestens  für  gerathen,  vorerst  abzuwarten ,  wie  die  Dinge  sich  ge- 
stalten würden;  denn  käme  ia  dem  schwebenden  Kampfe  schliesslich 
die  alte  Riclitung  wieder  zur  Macht,  so  würde  man  durch  den  Be- 
SDch  des  Pädagogiums  nicht  nnr  keinen  Vortheil  erlangen,  sondern 
sogar  compromittirt  sein.  —  Femer  fiel  der  weitaus  grösste  Theil 
der  Unterrichtszeit,  den  gegebenen  Umständen  entsprechend,  auf  die 
Abendstanden  von  5 — 8  Uhr;  und  was  die  räumlichen  Bedürfnisse 
betrifft,  so  war  das  Pädagogium  während  der  drei  ersten  Jahre  nur 
notfadttrftag  in  einigen,  drei  Stockwerke  von  einaader  entfernten  Zim- 
mern emer  städtischen  Volksschnle  nntergebracht»  Verhältnisse,  welche 
nicht  nnr  fBr  die  eigentlichen  Zwecke  des  Pädagogiums,  sondern  auch 
ia  sanitärer  Hinsicht  sehr  ungi&stig  waren,  namentlich  dem  Director 
der  Anstalt  sehr  beschwerlich  fielen.  —  Endlich  waren  im  Anfismg 
bei  der  Wahl  der  Lehrkräfte  grosse,  dem  Gedeihen  der  Anstalt  höchst 
nachtheOige  Missgriffe  geschehen. 

Alle  diese  Umstände,  deren  genauere  Darlegung  ich  mir  f&r  eine 
q^ätere  Zeit  vorbehalte,  in  Verbindung  mit  der  Ydlligen  Schntzlosig- 
ke&t  des  Pädagogiums  gegenüber  öffentlichen  Schmähungen  erschwer- 
ten der  Anstalt  in  ihren  ersten  Lebensjahren  das  Dasein  in  der  pein- 
lichsten und  gefiUirlichsten  Weise.  "Die  Frequenz  nahm  denn  auch 
stetiff  ab  bis  in  die  Mitte  des  vierten  Jahres.  Erst  Ton  da  an  trat 
ia  dieser  rückgängigen  Bewegung  ein  Stillstand  ein,  dem  vom  fünften 
Jahre  an  ein  kräftiger  Aufschwung  folgte.  Die  mit  dem  Pädagogium 
verbnadene  Übungsschule  theflte  das  Loos  desselben.  In  den  drei 
ersten  Jahren  fdstete  sie  ein  kümmerliches  und  sieches  Dasein.  Wäh- 
rend alle  anderen  Wiener  Schulen  überfüllt  waren,  konnte  sie  nnr 
mühsam  und  durch  ganz  seltsame  Mittel  eine  kleine  Schaar  von  Schü- 
lern zusammenbringen,  Es  fehlte  ihr  das  Vertrauen  des  Publicums, 
und  nicht  ohne  Grund.  Auch  Hessen  sich  die  bestehenden  Verhält- 
nisse nicht  soi^deich  ändern;  man  imisste  warten,  bis  sie  zur  Ihno-e- 
8taltun<jf  reif  waren.  Die  Wendung  zum  iksseren  kam  auch  für  die 
Übunfrsschule  im  vierten  Jahre.  In  Folge  dessen  wurden  ilir  bei 
B*'giun  des  fünften  .Talires  so  viele  Kinder  zugetuhrt,  dass  wegen 
Mangels  an  Kaum  circa  200  abgewiesen  werden  mussten. 

Meine  Gesundheit  hatte  unter  der  Arbeitslast,  den  Sorgen  und 
Quälereien  der  ersten  drei  Jahre  und  unter  den  sanitären  Übelstän- 
d»'U  in  der  Einriclituui^  der  Anstalt  scliwer  irelitten.  Ich  hielt  aus,  so 
lange  ich  mich  leidlich  Ibrtschleppen  konnte.  Endlich  ging  es  nicht 
weiter.    Im  November  1871  wurde  ich,  nachdem  ich  mich  schon 


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Wochen  Jauj^  krank  jretühlt  liatte,  im  Pädafrofrium  von  einem  heftigen 
Fieber  und  Scliiittelfrost  ergriffen.  Mit  Mühe  erreichte  ich  meine 
Wolinnng.  Der  Arzt  constatii'te  eine  Lnngenentzündun^»*,  die  sich  bald 
über  beide  Flügel  ausbreitete,  emen  äusserst  hohen  Grad  erreichte, 
mehrmals  einen  tödtlichen  Ausgan«?  erwarten  Hess  und  im  Ganzen 
Tier  Monate  dauerte.  Im  ^Färz  1872  konnte  ich,  obwol  noch  sehr 
schwach,  meine  Thätigkeit  wieder  aufnehmen,  was  um  so  nothwendiger 
war,  als  zn  dieser  Zelt  eine  Vacanz  im  Lehrkörper  des  Pädagogiums 
eintrat,  welche  momentan  nnr  durch  mich  seihst  ausgefällt  werden 
konnte.  Ich  finde  unter  meinen  Papieren  aus  Jener  Zeit  ein  Blatt  dei* 
Wiener  „Presse**  mit  folgendem  Berichte: 

,yDer  Director  des  Wifener  Fftdagogiams,  Hot  Dittos,  wnrde  gestern 

Abends  von  einer  gT08.sen  Zahl  seiner  Bernfegenossen  und  Schüler  des  Pild.i- 
fr'>iriinns  mit  der  feierlichen  ('lierreichung  seines  Porträts  überrascht.  Der 
T-cint  i'  Franz  Schindler  hob  in  einer  Ansprache  die  Freude  der  Lehrri-schaft 
hervor,  den  allverehrten  Pädagogen,  die  krilftigste  Stütze  des  itädag( irischen 
Fortschritts,  dessen  Leben  durch  eine  schwere  Krankheit  in  Ciei'ahr  gebracht 
wurde,  seinem  wichtigen  Berufe  wiedergegeben  zu  wissen.  Der  Moment  der 
Besorgnis  habe  den  Wunsch  angeregt,  das  Porträt  eineB  theuren  Freundes 
und  Kathgebei-s  zu  besitzen,  und  dasselbe  niö^e  denn  ein  Zeichen  der  allge- 
meinen Aclitiintr  und  \'erehrung  sein,  di»'  drm  Originale  gezollt  uerde.  Leb- 
liat'tfr  Jkit'all  und  Hochrufe  folirtcn  diest-n  Wollen.  IMrectoi-  Dittfs  dankte 
mit  bewegter  Stimme  für  diest  s  woitliuendc  Zeiciien  der  Anerkrnnung  seines 
redlichen  Strebens.  Anstrengungen,  Sorgen  und  schlaflose  Nächte  warfen  ihn 
auf  das  gefinhrrolle  Krankenlager.  Doch  die  Überzengang,  dass  die  Mehr> 
heit  Beiner  BemfegenoBsen  mit  ihm  Eines  Herzens  nnd  Sinnes  sei,  habe  flm 
aufgerichtet.  Er  habe  entbehren  gelernt,  Orden,  Titel  und  Schätze  gehören 
nicht  zu  seinem  Glücke;  allein  die  Anerkennung  und  Billiunii?  seines  Sti'ehens 
durch  die  Mchrludt  der  Berufsg('n<tssr'ii  krtun»^  or  nicht  entlu  hnii.  Fehh-  ilnii 
einmal  dii-se,  dann  werde  er  den  Wandt-rstab  zur  Hand  nehmen;  aber  um  die 
Ritter  der  Finsternis,  ihre  Gehilfen  und  alle  Intriganten,  deren  e«  nicht 
Wenige  gebe,  kümmere  er  sich  nicht,  weil  sie  nicht  berufen  seien,  ihn  zu 
richten;  ihr  Spruch  Bei  ungiltig.  So  lange  er  aber  unter  Beinen  Bernfsgenosgen 
feststehe,  so  lange  werde  er  sich  nbei-  illrs  Andere  beruhigen  und  treu  ZUT 
Sacht*  d«  s  K(»rrsrliiitts  stehen.  Unter  Ibtchrufen  wurde  .schliesslich  das  mit 
Guirlandeu  und  Blumen  beki'änzte  Bild  dem  Gefeierten  überreicht. 


VmotwortHoher  Redaeteor:  BL  Stelo.  Bacluliiickenii  Jnlins  Klinhh»rilt,  Lripsig. 

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Moderne  Liehtotrahlen. 

Von  Dr,  O,  J>re9i^er' Dresden, 

Sine  Sammlung  dei*  besten  Gedanken,  ein  geistiger  Auszug  aus 
einem  mnfltaglichen  Werke,  welches  bereits  in  zweiter  Auflage  er- 
schienen, wen  sollte  (lies  nicht  zum  Iiesen  veranlassen?  Schnell  giiffen 
wir  daher  zu  den  „Lichtstrahlen  aus  Fr.  v.  Hellwald's  Cultur- 
geschichte  in  ihrer  natürlichen  Entwickelun^",  und  unsere 
Erwartung  wurde  noch  gesteigert  durch  das  Vorwort,  in  welchem  der 
ungenannte  Herausgeber  versichert,  dass  niemand  das  Buch  aus  der 
Hand  legen  werde,  ohne  sich  befriedigt  und  dem  Ver£Busser  fUr  das 
Gebotene  dankbar  verpflichtet  zu  fühlen. 

Ihrem  Inhalt  nach  sind  die  „Lichtstrahlen"  in  5  Abthdlongen 
zusammengestellt;  von  diesen  behandelt  die  erste  „Natur  und  Natur- 
forschnng*S  die  zweite  „die  Menschen  und  die  menschliche  Gfesellschafb", 
die  dritte  „Wissenschaft  und  Ennst^  die  vierte  „Idealismus  und  Bell- 
gion**  und  die  fünfte  „die  Cnltnr".  Das  Ganze  bezweckt,  „an  der 
Hand  der  Darwin*schen  Entwickelungalehre  ein  Verständnis  für  die 
mannigfachen  Erscheinungen  des  geistigen  (!)  Culturlebens  im  Laufe 
der  tfenschheitsgeschichte  zu  gewinnen."  Und  zwar  ist  dies  nach  des 
Verfassers  Ansicht  lediglich  an  der  Hand  der  Entwickelungslehre  möglich. 
Alle  Insher  erschienenen  Cultorgeschiditen  lege  man  also  ruhig  bei  Seite. 

Wenn  die  Aufschlüsse,  welche  der  Verfasser  Aber  Kraft,  Stoff, 
Geist,  Seele  und  Seelenleben  gibt,  als  „Lichtstrahlen"  bezeichnet 
werden,  so  erinnert  dies  an  das  bekannte  Incus  a  non  lucendo,  denn 
wol  selten  ist  unter  einem  so  hochklingenden  Namen  ein  derartiges 
Gemengsei  dunkler,  unverständlicher  „Wahrheiten**  veröffentlicht  worden. 
Man  sieht  hier  wieder  einmal,  was  sich  das  Publicum  bieten  lässt, 
wenn  man  ihm  nur  mit  der  nöthigen  „Unverfrorenheit'*  entgegen  tritt 
Ans  den  zahlreichen  Beweisen  hierfür  greifen  wir  nur  die  schlagendsten 
heraus. 

Auf  S.  2  sagt  der  Verfasser:  „Die  sanze  unendliche  Welt  ist  aus 
denselben  nicht  geschaffenen  und  nicht  vertilgbaren  Stötten  zut^aninien- 

tmi»gopnm,  4,  Jahrg.  Heft  IL  5 


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gesetzt  und  wird  von  denselben  unvcitiliiliaitn  Kiättiii  jretrag'en. 
welche  von  den  einzelnen  Atomen  Ms  zu  der  uneiiiiessliclit^u  Menge 
von  ungeheuren  Weltkörpei-n  nach  denselben  Gesetzen  wirksam 
sind  etc.  etc.  Stott"  und  Kraft  sind  ewig.  Aus  Nichts  kann  keine 
Kraft  entstehen;  allein  (!)  sie  ist  an  den  JStolf  gebiiiidtn,  wenn  man 
will  eine  Ki^renschatt  des  Stoffes,  Eine  Kraft,  die  frei  über  dem 
Stoffe  scliwel)te,  wäi-e  eine  ganz  leere  VorsteUumr"  etc.  Vielleiclit 
wird  es  mandiem  Leser  so  vorkommen,  als  dl)  er  diese  Lichtstrahlen 
sclum  bei  Büchner  oder  anderswo  gesehen  liabe;  indess  kommt  es  dem 
Verfasser  hier  ja  nur  darauf  au,  seinen  Anschluss  an  den  materieHeii 
Monismus  zu  documentiren,  und  da  sind  wr»i  tliclie  Anfiihruuiren  gewiss 
das  Beste.  Man  glaube  übrigens  ja  nicht,  dass  sich  dei-  Verfasser  mit 
solchen  Autorität-sanssprüchen  begnügt;  er  modilicirt  vielmehr  die  An- 
sicht über  die  Kraft  in  seilest  ständiger  Weise  auf  S.  S8,  wo  er  sagt: 
^Die  Kraft  ist  jenes  Wort,  welches  der  Materialismus  dahin  setzen 
muss,  wo  die  Wissenschaft  vorläutig  noch  nichts  weiter  weiss."  Nun 
verstehen  mv  erst  die  Bemerkung  auf  S.  11:  „l)er  (Teist,  der  an- 
geblich (!)  den  Menschen  über  die  gesamnite  Natur  stellt,  ist  im  Gegen- 
sätze zur  ^faterie  gar  nicht  zu  denken;  Geist  und  Materie  sind  ebenso 
nnlöslicli  mit  einander  verbanden,  wie  Kraft  und  StoE" 

Mit  welcher  Schärfe  die  mechanischen  Vorgänge  in  den  Organis- 
men aufgefasst  werden,  zeigt  S.  ö.  Nachdem  nämlich  der  Veifasser 
einige  Sätze  des  Darwinismus  als  Kvangelien  der  „neuen"  Welt- 
ansdiaming  und  als  unerschütterliche  Grundlagen  einer  modernen 
Colturgeschichte  hingestellt,  sagt  er:  Die  Vorfahrenkette  des  Menschen 
wie  alier  anderen  Organismen  geht  wahrscheinlich  von  den  sogenannten 
Honeren,  albuminösen  Elttmpchen  ohne  Organe,  aus,  denen  die  Kraft 
des  Wachsthnms  und  gelogentlich  auch  des  Auseinanderbrechens  inne- 
wohnt** Also  die  Theilnng  der  Moneren  beruht  auf  ihrer  gelegent- 
lichen Kraft  des  Auseinanderbrechens.  Das  ist  doch  einmal 
ein  klares  Wort  in  einer  so  dunklen  Sache;  die  Grundursache,  der 
Uran&ng  aller  organischen  Entwickelung  ist  hiermit  endlich  und  f&r 
immer  geoffenbart! 

Rührend  ist  die  Bescheidenheit,  welche  zuweilen  den  Verfksser  im 
Gegensatze  zu  seinen  sonstigen  Aussprüchen  beföllt  Leute,  welche 
nicht  mit  ihm  und  seinen  Gesinnungsgenossen  übereinstimmen,  bilden 
zwar  „eine  Meute**  und  sind  „moderne  Phrasenhelden**,  madien  „läppische** 
Einwände,  sind  „wissenschaftlich  nicht  fortgeschritten",  ja  „gehören 
dem  MittcMter  an**,  während  die  „parteflose  Forschung  (natürlich  zu- 
nächst des  Ver&ssers)  sich  zu  condoi'gleichem  Fluge  erhebt**;  —  trotz- 


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—  67  — 


dtiii  iiilit  <^r  abir  im  Xamender  Entwickeluii'^slt^liiv  und  ..in  iM-lit  wiss«Mi- 
N'liattlicber  Bt^sclieidenlieit"  zu,  „dass  di<*  Suniiiie  nnsers  heiitif^en 
\\i>sfiis  niclit  ausreiche,  die  Rätli.*<el  der  g-esaninitcn  Welt  mit  ihren 
Urjrauisnieii,  dem  Menschen  und  seinem  Denken  in  allen  Punkten  zu 
löien  (8.  5).  Selbst  das  Unmöfifliche  macht  er  möglich;  seine  Wissen- 
schaft ..weist  mit  Erfol^^  Jene  zurück,  welche  dem  Naturerkennen  • 
bestimmte  unübei^schreitbare  Grenzen  zu  ziehen  wagen;  aber  sie 
dringt  Niemandem  die  Meinung  auf,  dass  es  solche  Grenzen 
nicht  gebe."  .Ta,  der  Verfas.^er  ^^ird  zuweilen  ydUig  elegisch,  wie 
auf  S.  6  und  7 :  „Wie  hoch  auch  in  unsn-en  eigenen  Augen  (!)  die 
erklommene  Geistes-  und  Wissensstufe,  wir  haben  lanj?e  noch  nicht 
die  Berechtigung  zu  dem  Stolze,  womit  wii*  mit  überhebendem  Bewusst- 
sein  unser  Herz  schwellen  (vergl.  den  condorgleiehen  Fingt).  Wir 
and  und  bleiben  jetzt  und  flirderhin  (doppelt  hält  besser!)  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  (nur  immer  genau!)  denn  einzelne  Organe  des* 
grossen  Naturorganismus,  einzelne  Theile  des  Natnrganzen,  dessen  All 
m  durchschauen  uns  schon  in  unserer  Eigenschaft  als  blosse  Theile 
versagt  ist**  Und  doch  „hofft  die  Wis8en8chaft^  wie  der  Verfasser 
froher  bemerkt,  n^on  der  Zukunft,  dass  die  Grenzen  des  Naturerkennens 
muner  weitere  werden**,  doch  „hat  die  Wissenschaft  den  Schleier  der 
Zukunft  zerrissen  und  das  Ende  der  Menschheit  erschaut**  (S.  12). 
Dieses  Dilemma  betrftbt  den  Verfosser  sichtlich;  denn  er  fährt  un- 
mittelbar weiter  fort:  ,Jm  Übrigen  (prächtig!)  aber  kreist  sie  unbe- 
kümmert  fort  und  foi-t  die  Erde,  in  unberechenbarem  Zeitlaufe  (das 
ist  neu!)  um  der  Sonne  Licht  und  Glanz,  die  gleichmütig  niederschant 
anf  der  Menschen  Glück  und  Wehe,  Mensch  und  Thier  (muss  heissen: 
auf  Mensch  und  Thier),  Strauch  und  Baum,  Strahlen  und  Wärme 
spendend,  nicht  weil  sie  ^nll,  soudeni  weil  sie  muss."  Dieser  ])oeti- 
sirende  Stoss>eufzer  wäre,  wie  gesagt,  giw  nicht  erklärlich,  wenn  der 
Verfasser  nicht  momentan  wissenschaftlichen  Katzeiijaiiuner  hätte;  denn 
derartig-e  hereingeschneite  Tiraden  findet  man  sunst  nur  in  den  Heften 
schwärmenrler  Jünglinge  und  selinsiirlitii,^er  'Pensionsjnnj^frauen,  die 
selbst  die  Sonne  anklagen,  dass  sie  nicht  ihnen  zu  Liebe  leuchtet. 

Doch  vielleicht  glaubt  der  Verfasser  selbst  nicht  an  die  ,f»-n*- 
miade  und  fügt  sie  nur  ein,  um  Abwe(disehuig  in  die  Lcctiii-c  zu 
bringen;  ob's  geradf  passt.  das  merkt  ja  bekanntlich  der  tausendste 
Leser  erst:  ja.  wenn  man  vielleicht  irgendwo  eine  solche  hübsche 
Stelle  gelesen  hat,  warum  soll  man  sie  nicht  gelegentlich  anbi  ingen? 
Und  gelesen  hat  der  Verfasser  sicherlich  viel,  das  sehen  wir  anf 

jeder  Seite.   So  belehrt  er  uns  auf  S.  6  über  die  bisherigen  philo- 

5» 


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sopliischcn  Systeme:  Soweit  wir  in  der  Geschichte  zurückblicken 
können,  liat  iiocli  jedes  itliilosopliische  System,  jede  auf  Grund  der 
jeweilif;-en  Keiintiiisst'  aiif^(;baute  AVeltaiiscluiuung-  zur  (!)  Erklärung 
der  Gesamintheit  der  P2rselieinuiig:en  einen  unauflösbaren,  irrationalen 
Rest  hinterlassen  (muss  lieissen:  g'e lassen!).  un<l  tür  die  vollendetste 
Weltanseliauung  wenlen  wir  vorliiutig  jene  lialtt'U  müssen,  welche  nur 
einen  einzigen  Rest,  das  nnserni  Verständnisse  unzu*;äntjliche  Absolute, 
zuriieklässt  (nuiss  heissen:  lässt).  Welche  Weltanschauung-  sollen  wii- 
nun  wählen?  Alle  lassen  einen,  die  beste  aber  nur  einen  einzif^en 
Rest!  In  solche  Kleiunu  n  kommt  man,  wenn  man  soweit  wie  möglich 
in  die  Geschichte  zuiiickltlickt! 

Wozu  —  so  dachten  wir  beim  Weiteih  sen  —  halten  sich  doch 
die  Philosophen  und  ähidiche,  irrationale  K'ott  hinterhissende  Leute 
abgeniiiht,  das  Wesen  der  Seele  zu  ergründen!  Schaum,  eitel  'l'rug 
'und  Kirngespinst;  leere  Worte,  hinter  welchen  der  irrationale  Rest 
steckt!  Wie  anders  doch  die  Erklärungen  des  Veifassers,  welcher 
endlich  das  „erlösende  Wort''  siu'icht.  Man  höre  (S.  7  und  8):  „Die 
Seele  des  Menschen  ist  das  Resultat  der  Integi*irung  aller  im  mensch- 
lichen Organismus  wirkenden  Kräfte  bis  hinauf  (!)  zum  menschlichen 
Gehirn,  in  welchem  sie  in  ihrer  h<"»chsten  Potenz  auftreten."  Das 
sind  goldene  Worte,  bei  denen  sich  doch  endlich  etwas  denken  lässt. 
„Diese  Definition  (!)  passt  auch  auf  die  Thierseele,  denn  diese  ist  ebea 
auch  nichts  weiter  (!)  als  das  Resultat  der  im  thierischen  Körper  zur 
Integrinmg  gelangenden  Kräfte."  Wem  hierbei  zutallig  ein&llen  sollte, 
dass  die  Kraft  ja  nur  Jenes  Wort  ist,  welches  dalün  gesetzt  wird, 
wo  die  Wissenschatt  \'oriäufig  noch  nichts  weiter  weiss",  non,  der 
kann  ja  euie  zweite  Erkläxnng  acceptiren.  Denn  „man  kann  auch 
sagen,  die  Seele  sei  der  innere  Ausdruck  einer  bestimmten  Anordnung 
der  Theile/*  Wir  gestehen,  dass  wir  diese  letztere  Erklärung  vor- 
ziehen; denn  was  sollen  wir  uns  mit  Integrirungen  und  Potenzirungen 
„Us  hinauf  zum  Gehirn"  martern,  wenn  wir  den  klaren  Begriff  ,4nnerer 
Ausdruck  der  Anordnuifg  der  Theile"  besitzen?  Simplex  veri  sigilluml 
—  Worin  besteht  nun  das  Denken?  Nichts  einfacher  als  das!  „Das 
Denken  ist  eine  verdichtete  Bewegung.*'  Wir  machen  namentlich  die 
Herren  Physiker  auf  diese  Verdichtung  der  Bewegung  aufinerksam; 
wie  fein  ist  hiermit  nicht  angedeutet,  dass  auch  sie  noch  etwas  von 
der  Seelenkunde  lernen  kOnnen!  Und  wie  glänzend  bewährt  sich  hier 
wieder  einmal  die  alte  Wahrheit,  dass  der  Yolksmund  stets  das  Bich- 
tige  trifft  oder  doch  ahnt:  sagen  wir  doch,  dass  wir  von  vielem  Denken 
einen  dicken  Kopf  bekommen.  Es  lässt  sich  „an  der  Hand  der  ezacten 


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Wisseiiseliaft'*  durcli  eine  „gründliche  und  vorurtheilslosc  riitcrsiK  liunf»  ' 
jedenfalls  „unwiderleclifh  und  für  alle  einzelnen  Fälle''  nachweisen, 
dass  dieses  Gefühl  von  der  Bewe^fungsverdichtuug  innerhalb  des  Kopfes 
henfihrt.  —  Was  ist  endlich  der  menschliche  Körper  (der  Verfasser 
sagt:  der  Mensch  selbst)?  ,,Eine  durch  i'apitalisation  und  8peciali- 
sation  der  Kr;i ft-'  ircstpi^erte  Stoffentwiekelung."  Man  sieht:  diese 
Seelen-  und  .Menschenkunde  ,.hinterlässt"  keinen  iiTationalen  Rest!  — 

Wie  der  Haunieister,  nachdem  ein  solider  Grund  für  seinen  beab- 
sichtigten  Prachtbau  gelegt,  mit  froher  Zuversicht  den  Aufbau  beginnt, 
so  kann  auch  der  Verfasser  nach  solcher  (irundlegung  getrost  weiter 
schreiten.  Begleiten  wir  ihn  noch  eine  Strecke! 

S.  13  lieisst  es:  JDas  ganze  Nervensystem  des  Mensehen  ist  ein 
ml  hoher  entwickeltes,  als  das  des  höchstentwickelten  Thieres,  und 
dieser  Unterschied  gerade  ist  das  Resultat  der  geschichtlichen  Ent* 
Wickelung  des  Menschen,  einer  Entwickelung,  in  deren  Yerhiufe  Reli- 
gion, Wissenschalt,  Kunst,  Sitte,  Sittlichkeit,  Recht,  Moral  di^enigen 
Kräfte  hervorriefen,  welche  das  Thier  aUmSlig  und  durch  schwere 
Kämpfe  nnd  Prüfungen  zum  Menschen  erhoben.^  Wir  wollen  nicht 
besonders  betonen,  dass  der  Verfasser  Sitte,  Sittlichkeit,  Moral  in  einer 
Weise  anführt,  als  seien  sie  verschiedene  Dinge;  an  solche  oft  geradezu 
sinnlose  Anhäufungen  sind  wir  bei  ihm  schon  gewGhnt  Nur  auf  die  so 
ausserordentlich  klare  Darstellung  der  Entwickelung  des  Thieres  zum 
Menschen  möchten  wir  aufmerksam  machen.  Der  Verfasser  föhrt 
nämlich  unmittelbar  fort:  „Die  höheren  intellectuellen  Anlagen  des 
Umsehen,  sein  im  Gewissen  begründetes  ethisches  Gefähl,  sein  höherer 
Kunstsinn,  sein  klares  Selbstbewusstsein,  sein  religiöser  Sinn,  alles 
das  sind  Krafifcverdichtungen  (uns  schon  bekannt!),  welche  der  Mensch 
der  socialen  Entwickelung  zu  verdanken  hat.  Dass  alle  diese  Anlagen, 
Gefühle  und  Sinne  (welch  treffliche  Eintheilung)  im  Keime  bereits 
im  Thiere  vorhanden  sind,  ist  durch  unzählige  Beobachtungen  bewiesen 
worden."  Also:  Alle  diese  im  'J'hiere  schon  keimenden  „Dinare**  haben 
aus  dem  Thiere  dadurch  einen  ^lenschen  g-eniacht,  dass  sie  ..diejenigen 
Kräfte  hervorriefen,  welche  das  Thier  allniälig  zum  ^lensclHMi  empor- 
hoben". Uniibei'trelilicli  gcdarlit.  nicht  waiir?  Doch  es  kommt  noch 
besser:  „-Ta,  man  kann  die  allmälige  Entwickelung  einer  je<len  dieser 
Anlagen  und  Sinne  auf  embi-yologiscln^ni  Wege,  vom  Kinde  bis 
zum  reilcii  Alter  in  einzelnen  Individuen  Sdiritt  lür  Scliritt  ver- 
folgen." Vom  Kimb*  l)is  zum  reifen  Alter  auf  emhryologischem  Wege! 
Hier  luirt  denn  doch  das  Denken  auf,  denn  <lie  THeweLrunusverdielitung 
der  Kralt  ^dius  h>i  ja  das  Denken;  erreicht  einen  bulcheu  Grad,  dass 


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die  Bt'Wcf^iiiiof  selbrr  still  stellt,  das  lieisst  in  «rewöliuliclu'r  Sj)iacliM: 
wer  hierbei  niclit  den  Verstand  verliert,  der  hat  kein<'n  zu  verlieren. 

AVeiterhin  werden  wir  belehrt  iS.  1,')):  ...leder  ^lenseh  stellt  die 
Abkürznnfr  der  «ranzen  Welt^'^eseliirhte  in  der  t'ol^^erielitip:en  Entwicke- 
luug  vom  Säiifjrlinge  und  vom  Kindt;  an  bis  zur  vollen  Reife  real  (!) 
dar,  und  man  braiiclit  nur  ein  Kind  zu  beobachten,  um  auf  die  Spur 
zu  kommen,  wie  der  l>mensch  gedacht,  gesprochen,  ofefnhlt  hat,  wie 
sein  Nervensystem  gebildet  war  und  wie  es  fungirt  hatte."  Hiergegen 
ist  zn  eonstatiren:  noch  Niemand  in-  und  ausserhalb  der  „Wissenschaft" 
hat  behauptet,  dass  die  menschliche  Kntwickelung  eine  Abkürzung 
der  ganzen  Weltgeschichte  sei,  und  noch  keinem  Menschen  ist  es 
möglich  gewesen,  ans  d^r  Beobachtnng  eines  Kindes  anf  die  Spur  zu 
kommen,  wie  das  Nervensystem  des  Urmenschen  gebildet  war.  Solche 
Anfschneidereien  und  Benommistereien  sind  nur  geeignet,  die  Besnl- 
täte,  Voraussetzungen  und  Annahmen  der  wirklichen  Wissenschaft 
beim  Publicum  in  Misscredit  zu  hringen. 

Auf  S.  18  und  19  erörtert  der  Verfasser  die  Entwicklung  der 
Sprache.  Zunächst  erwähnt  er,  dass  die  Sprache  nichts  Angeborenes 
ist;  „wir  sehen  den  Beweis  daf&r  tfiglich  in  (an)  unseren  Kindern,  in 
denen  die  Psyche  allmälig  erwacht**  Zwar  nach  S.  62  „gibt  es  eine 
Seele  nicht,  und  wer  eine  solche  annimmt,  ist  in  wissenschaftlichem 
Sinne  nicht  fortgeschritten**,  und  nach  S.  161  „hat  ein  Kind  noch  (ü) 
keine  Seele**  —  indess  das  sind  ja  Kleinigkeiten.  Historisch  „ent- 
wickelt sich  die  Sprache  im  Vereine  und  gleichzeitig  mit  der  grösseren 
Ausbildung  des  Gehirns  und  der  Sprachorgane";  zugleich  „hat  sie  sich 
aus  unscheinbaren  Anföngen  aus  der  Tiefe  des  Geistes  entwickelt"; 
endlich,  „wie  sie  körperliche  Anlagen  voraussetzte,  wirkte  die  Sprache 
auch  auf  den  Körper  zurück,  sie  veranlasste  im  (lehiin  das  Waclis- 
thuni  eines  neuen  Orf^anes.  welches  den  Alien  nnd  den  sitraclilosen 
Urmenschen  fehlte."  Also  die  Sjirache  entstand  1.  mit  der  g^rösseren 
Ansbildnnj!:  des  Gehiiiis  im  all^M*nieinen;  2,  mit  der  gfrösseren  Aus- 
bildnnj^  (ler  Si)rachoi-{rane  (also  wol  dei'  Zun^iv.  des  Kehlk(ti»fes  etc.); 
3.  aus  der  Tiefe  des  (leistes.  Als  sie  V»is  zn  einem  irewissen  Grade 
ausgebildet  wai\  wirkte  sie  auch  auf  den  Kr.iprr  zurück  und  ver- 
anlasste -1.  im  <  Jehii-n  das  Wachst lunn  eines  neuen  Oriianes.  Das  ist 
ja  ein^  verzwickte  Or^anisiiiiny^.  Die  einfache  Thatsache  lautet:  Das 
Gehirn  des  Menschen  besitzt  an  einer  gewissen  Stelle  der  Hirnrinde 
solche  Nervenzellen,  von  welchen  die  Sprachbewe«runtren  beeinflus.st 
werden;  Zerstfirung  dieser  Zellen  (z.  B.  durch  Bluterfifüsse  in's  Gehirn 
bei  Schlagfluss)  hebt  das  Sprachvermögen  aut  Die  Thiere  besitzen 


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solrlic  Zellen  nicht,  und  das  Sprachvenii(»<jen  des  .Mt  nsclu'n  kuuii  also 
nur  dadurch  entstanden  sein,  dass  sich  im  thieriüclieu  Gehkn  solche 
Zellen  allniäli<r  ent\vick(dt  haben. 

I  ber  die  menschliche  Gesellscbaft  und  ihr  Wesen  erhalten  wir 
tretlliehe  Aufschlüsse.  Was  ist  dieselbe  zunächst?  Antwort  (S.  21): 
..niehts  melir  (!)  als  eine  Fortsetzun^r  der  Natur  mu-  ein  hölieiei- 
Ausdruck  ili  derselben  Kräfte,  iVut  allen  Naturerscheinungen  zu  Grunde 
liej^en."  Kine  Naturfortsetzung:  —  wie  klai-  und  bündig'!  ^.In  der 
Tliat  (Ii  ist  eine  (irenze  zwischen  dem  Menschen  und  der  Zelle,  dem 
Elemente  der  organischen  ^^'elt,  nicht  vorhanden,  kann  aucli  schon 
deshalb  nicht  vorhanden  sein,  weil  Ailes  in  der  Natur  in  untrennbarem 
Zusammenhange  steht."  Wir  glaubten  bisher  deshalb  an  diesen  Zu- 
sammenhang, weil  der  Mensch  aus  Zellen  und  deren  Umwandlougs-* 
producten  besteht. 

Wer  sich  endlich  einmal  klar  werden  will  über  das  Verliältnis 
zwischen  den  geistigen  Thätigkeiten  und  den  Functionen  des  Nerven- 
systems, der  lese  den  Absclmitt  auf  8.  22.  Hier  heisst  es:  .,Xach  den 
Ergebnissen  der  antliropologischen  Physiologie  unterliegt  es  wol 
keinem  Zweifel,  dass  den  geistigen,  sittlichen  und  ästhetischen  Stre- 
bungen.  Bedürfiiissen,  Fähigkeiten  und  Neigungen  eines  jeden  einzelnen 
Menschen  und  ganzer  Familien,  Völkerstämme  und  Kassen  eine  be- 
stimmte Organisation,  Beschaffenheit,  Spannung,  bestunmte  rhythmische 
Vibrationen  und  Schwingungen  des  Nervensystems  entsprechen."  Man 
eiliilt  hier  einen  unmittelbaren,  durch  Tautologien  noch  wesentlich 
erleichterten  Einblick  in  das  geistig-körperliche  Getriebe,  man  sieht 
die  Bäder  ineinandergreifen,  ja  man  bekommt  gar  das  deutliche  Qe- 
ftihl  des  MOhhrades,  welches  sich  im  Kopfe  bewegt  Nach  S.  55  sind 
AUngens  „die  physiologischen  Vorgänge  des  Denkprocesses  noch  lange 
nicht  ermittelt^*. 

t^eder  Mensch  (S.  28)  stellt  nicht  nur  den  ganzen  physischen,  • 
sondern  auch  den  socialen  Kosmos  yor;  und  das  gilt  sowol  vom 
ganzen  Menschen,  als  auch  spedell  von  seinem  Nervensysteme/*  Wie 
wird  dir,  lieber  Leser?  Etwa  unheimlich?  Aber  erinnere  dich  nur 
gefölligst:  In  der  Entwickelung  hast  du  ja  schon  die  ganze  Welt- 
geschichte recapitulirt;  wie  kann  es  dich  da  wundem,  wenn  du  in 
deinem  Kopfe  das  Weltall  in  nuce  trägst?  Im  G^ntheil,  die  „That- 
sache"  ist  äusserst  erfreulich,  „denn  dies  fährt  zu  der  hochwichtigen  (!) 
EIrkenntnis:  in  dem  ehizelnen  TheUe  eines  Organismus  spiegeln  sich 
die  Vorgänge,  wdche  in  jedem  andern  Theile  desselben  Organismus 
stattfinden,  mehr  oder  weniger  wieder."  Gewiss,  gewiss!  In  den 


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ZeUen  der  Sehprovinz  z.  B.  spiegeln  sich  ja  die  Eindrücke  „mehr  oder 
weniger**  wieder,  welche  z.  B.  die  Milzzellen,  die  Darmzellen  nnd  die 
LeberzeUen  während  der  Verdanong  erfahren,  nnd  die  ZeUen  der  Hdi^ 
proyinz  sind  „mehr  oder  weniger**  der  Spiegel  f&r  die  ZeUeneindrttcke 
der  grossen  Zehe  etc.  Ton  dem  Gesetz  der  isolirten  Leitung  in  den 
Nen'enbahnen  sowie  davon,  dass  die  Leitung  von  Zellengebiet  zu 
Zellengebiet  nur  auf  ganz  bestimmten  Wegen  und  in  ganz  bestinnnten 
Richtungen  stattfindet,  weiss  der  Verfasser  offenbar  nichts.  Nach 
seiner  Idee  construirte  Mmschrn  wäri'U  verrückt.  ..Daraus  geht 
aber  mit  Xotliwendigkeit  nocli  die  zweitt-  W'alu'lieit  (!)  hervor:  da.ss 
eine  jede  Zelle  im  Kinzelorganismus,  sowie  ein  jedes  Zellenindividuuni 
in  der  menschlichen  Ge.sellschaft  den  Eiitwickelungsgang  des  ganzen 
Organismus  latent  durchläuft."  Also  jede  ^luskelzelle,  Knochenzelle, 
Fettzelle  durchläuft  den  Kutwickidmii^sganii-  unsers  ganzen  Oi  ganismus? 
Wunderbare  Kntdeckungl  Nur  schade,  dass  das  alles  latent  vor  sich 
geht!  Natürlich  gelit  es  den  Zellen  liieibei  wie  den  Menschen  selbst; 
ihren  HestrehnuL^eu  stellen  sich  vielfache  Ilindeinisse  entgegen.  ...Tede 
Zelle  in  einem  ( )rganismns  hat  das  mehr  oder  weniger  (natürlich, 
anders  geht's  nicht!)  ausgesi)rochene  liestreben,  sich  mit  allen  anderen 
Zellen  desselben  Organismus  gleichmässig  zu  entwickeln;  das  ist  das 
Princip  der  Oleichheit."  Kein  ^lensch  hat  zwar  bis  jetzt  von 
diesem  Streben  etwas  gewnsst  —  doch  tel  est  mon  plaisi]-,  denkt  der 
Verfasser.  „Aber  jede  (man  merke  wol:  jede)  Zelle  ist  zugleich 
durch  ihre  Lage,  Entstellung,  Umgebung  (wie  präcisli.  durdi  die 
gTössere  oder  geringere  (natürlich!)  ilir  angeborene  oder  durch  die 
Verhältnisse  erworbene  Specialisation  der  Kräfte  mehr  oder  weniger 
(immer  genau!)  auf  einen  besonderen,  den  einzelnen  Theilen  eines 
Organismus  eigenen  Entwickelnngsgang  angewiesen,  oder  gezwungen, 
sich  nur  bis  zu  einer  gewissen  Stufe  zu  entwickeln,  wogegen  andere 
(siehe  oben:  jede),  in  gfinstigere  Verh&ltnisse  gestellte  Zellen  sich 
auf  höhere  Entwickelnngsstufen  emporschwingen.  Dies  ist  das 
Princip  der  Hierarchie.  Diesem  Principe  verdankt  auch  das  Ge- 
hirn sein  Entstehen.*'  Woher  nur  der  Verfasser  das  alles  weiss? 
Welch'  imponirender  Gedanke  übrigens  für  jeden  gemeinen  Sterblichen: 
deni  Gehirn  entstand  durch  das  Princip  der  Hierarchie!  Und  was 
sind  denn  die  Principien  der  Gleichheit  nnd  Hierarchie?  Sind  sie 
Naturgesetze?  Der  Verfasser  beantwortet  das  sofort  auf  der  folgenden 
Seite:  „In  der  menschlichen  Gesellschaft  wie  in  der  Natur  sind  alle 
Erscheinungen  Resultate  nicht  irgend  welcher  absoluten  Principe, 
sondern  Ergebnisse  manuigfacher  Beziehungen,  Relationen  auf  einander 


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wirkender  Kraft*'."  Unrl  ^vas  ist  das  alles?  das  ist  Schreiberei  nach 
dem  Principe  der  ronscfiutMiz. 

„Zwischen  der  Gehiriitliätio-keit  und  den  Vöriranfren  in  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  lassen  sich  eine  Iii  ihc  von  Analofrien  entdecken. 
In  dem  Gehinu*  tritt  das  in  der  Natur  oliwaitcndc  Gesetz  der  Inte- 
grirung'  und  Ditferenzirunsr,  der  Capitalisation  und  Sppcialisation  der 
Kräfte  in  seiner  vollen  Bedeutung:  hervor.  A\'as  al)er  im  Inneren  des 
GeliÜTis  vor  sich  geht,  stellt  uns  auch  die  menschliche  Gesellscdiaft 
dar,  welche  nichts  Anderes  ist  als  ein  Komplex  von  Nervenzellen  (In- 
dividuen ».'•  Also  findet  in  der  menschlichen  Gesellschaft  auch  eine 
Capitalisation  und  Specialisation,  eine  Integrirang  und  Differenzirunf? 
der  Kräfte  statt  —  eine  Entdeckung*  von  immenser  Tragweite!  Und 
zwar  sind  es  „dlrecte  nder  indirecte  Reflexe  (Erregunj^en  wäre  zwar 
das  Riclititfe,  doch  das  klingt  nicht  gelehrt  genug-),  durch  welche  sich 
die  Individuen  gegenseitig  anregen  und  entwickeln,  ganz  nadi  den- 
selben Grundgesetzen,  wie  es  die  einzelnen  Zellen  thun  nnd  wie  das- 
jielhe  in  jedem  Zellencomplexe  der  Einzelorganismen  vor  sich  geht." 
Will  der  Verfasser  nicht  einmal  die  Grundgesetze,  nach  welchen  die  ein- 
zelnen Zellen  nnd  Zellencomplexe  des  menschlichen  Organismus  durch 
dhecte  oder  indirecte  „Befleze"  sich  gegenseitig  anregen  und  entwickeln, 
Ter5ffentlichen?  Der  Physiologie  fehlt  bisher  ein  deraitiges  Werk;  es 
mfiasen  aber,  wolgemerkt,  wissenschaftliche  Beobachtungen  sein.  Jeden- 
ialls  ist  das  Material  schon  vorhanden,  sonst  könnte  der  Verfasser  doch 
nicht  behaupten,  dass  es  in  der  menschlichen  Gesellschaft  eben  so  zu- 
ginge, wie  im  Zellenleben.  —  Man  hofft  nun,  der  Verfasser  werde  im  Fol- 
genden die  concreten  Beweise  semer  Behauptungen  bringen.  Statt 
dessen  fährt  er  fort:  „Verfolgen  wir  diese  Wechselwirkung  weiter,  so 
Stessen  wir  zum  Schlüsse  wiederum  (!)  nur  (!)  auf  die  das  ganze 
Weltall  umfassenden,  sich  gegenseitig  differenzirenden  und  auf  einander 
idrkenden  mechanischen  Kräfte.**  Parturiunt  montes»  nascetur  ridi- 
colus  mns!  Nach  dieser  Äusserung  des  Verf.  sind  es  also  „schliess- 
lich** mechanische  Kräfte,  welche  die  Wechselwirkung  zwischen  den 
Individnen  der  Oesellschaft  yermitteln.  Auf  S.  27  sagte  er  aber:  „Je 
mehr  die  socialen  (!)  Kräfte  den  Charakter  der  Wirkung  unorganischer 
Kräfte  aimehmen,  desto  niedriger  die  Stufe  der  Vervollkommnung  und 
desto  offenbarer  legt-  eine  Gesellschaft  die  Merkmale  dnei*  rttckschrei- 
tenden  Be^veguIlg  an  den  Tag/'  Hiernach  sind  also  die  „socialen 
Kräfte**  nicht  mechanische,  d.  h.  nicht  unorganische.  Bas  kommt 
alles  von  den  .Kräften",  denn  Kraft  ist  ja  jenes  Wort,  welches  etc. 

Auf  S.  30  kommt  der  Verfasser  auf  schon  Gesagtes  noch  einmal  zurück. 


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,,.Tt'f;liclu'  oriianisehe  und  sociale  Entwickelung-  berulit  auf  der  getreu- 
seitijyr»'n  Keflexwirkuii*;-  dei-  Zellen,  lui  niensciilielien  wie  im  tliierischeii 
X(M'vensystenie  und  ili  (Tehinie  besitzt  nämlich  jede  Zelle  die  Fähip:- 
kt'it  iiu'lir  (»dtn-  weni^^er,  in  geringerem  oder  höherem  (irade  (nur  nicht 
zu  kurz,  und  hei  dei"  Wiederholung  nur  ja  hübsch  umgedreht I),  von 
allen  aniitu  n  aiiL^eregt  und  folglich  weiter  entwickelt  zu  werden  und 
ihrerst'its  diiselbe  Wirkung  auf  alle  anderen,  direct  oder  indirect  Ium- 
vorzubringen/'  Das  ist  das  schon  auf  S.  '2H  berührte  Princi|»  der 
Verrücktheit.  „Dies  geschieht  auf  Grundlage  desselben  Gesetzes,  nach 
welchem  in  der  menschlichen  (Tesellschaft  ein  jedes  Individuum  alle 
anderen  durch  directen  EiaÜuss  anregen  und  entwickeln  kann  (ich 
„entwickele  dich!").  Ans  dem  Gesagten  folgt  noth wendig,  dass  die 
Gesetze  des  Denkens  und  Empfindens  mit  den  socialen  und  also  auch 
mit  den  Naturgesetzen  im  "Wesentlichen  zusammenfallen  müssen."  Das 
heisst  doch  wol:  die  Denkgesetze,  die  socialen  Gesetze  und  die  Natur- 
gesetze sind  identisch  oder  nahezu  identisch,  oder,  anders  ausgedrückt: 
die  geistigen  wie  die  socialen  Processe  verlaufen  gleicherweise  nach 
den  allgemein  gütigen  Xatorgesetzen.  Weit  gefehlt!  Denn  nach 
S.  126  „wissen  w  nnr  das  Eine,  dass  der  innere  Zwiespalt  zwi- 
schen dem  Walten  der  Naturgesetze  und  jenem  der  Menschheit  ein  ^ 
unaufhörlicher  sein  wird.** 

So  wären  wir  denn  glücklich  auf  S.  30  der  „Lichtstrahlen**, 
welche  mehr  als  200  Seiten  einnehmen,  angelangt  Wie  es  auf  den 
übrigen  Seiten  in  Bezug  auf  wissenschaftliche  Grundlegung  und  daran 
sich  anschliessende  Folgerungen  zugeht,  das  wird  der  freundliche  Leser 
wol  schon  aus  dem  bisher  Angeführten  vermuthen.  Nur  ein  Beispiel 
sei  noch  angeführt,  welches  die  diesbezügliche  Gewissenhaftigkeit  des 
Verfossers  deutlich  illustrirt  (S.  107):  „Keine  Philosoplüe  der  Welt 
vermag  für  die  Unsterblichkeit  auch  nur  den  leisesten  Schein  eines 
Beweises  vorzubringen,  und  wenn  auch  das  Gegentheil  sich  nicht 
streng  beweisen  lÄsst,  so  springt  dessen  Wahrscheinlichkeit,  die 
sich  überdies  mit  aDen  sonstigen  Erscheinungen  in  der  organischen 
Natur  allein  im  Einklänge  findet,  doch  sofort  ins  Auge.  Stehen 
wir  also  nicht  an,  die  l'nsterblic likeit  für  einen  offenbaren 
Irrt  Ii  um  zu  erkeuneu."  Das  ist  keine  wissenschaftliche  Beweis- 
führung! 

Wie  der  Mensch,  so  sein  Stil.  Dieser  bietet  so  zahlreiche  Perlen, 
dass  wir  nicht  schliessen  dürfen,  ohne  wenigstens  einige  aufgezeigt  zu 
haben.  ,,Sehr  leicht  mr>glieh  wiid  die  Erkenntnis  gewisser  Dinge 
dem  meusclüichen  ij'assuugsvermögeu  ewig  veischlossen  bleiben  (^S.  Ij.'* 


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—   75  — 


..Dt-r  Aiiirritf  des  Wassers  ffejren  den  festen  Enlkr>rper  fS.  12\"  ,.Der 
l'iiterscbied  zwisclien  dem  Meusclieii.  dann  dem  Tliieie  und  der  Pflanze 
(S.  21)."  „Der  J^iirg-er  schmäht  die  Pri^^legien  des  Adels  und  ist  da- 
bei bedächtig,  sicli  selbst  zu  privilegiren  (S.  371"  ..Der  Druck 
einer  Mehrheit  aber  ist  noch  unerträglicher  (S.  46)."  „Poesie  und 
Kunst  sind  dem  später  reifenden  Wissen,  was  die  Blüte  zur  Frucht, 
d.  h.  sie  schliessen  einander  streng  aus,  denn  was  Blüte,  kann  un- 
möglich zugleich  Frucht  sein  (S.  51)."  Hier  geht  das  „sie"  auf  Poesie 
undEnnst,  während  es  der  Verfasser  auf  Poesie  nnd  Kunst  einerseits  und 
Wissen  anderseits  bezogen  haben  will.  ,.Der  Kampf  wird  mit  desto 
grrisserer  HeftiL'-keit  entbrennen,  als  das  positive  Wissen  die  Axt  an 
den  Baum  des  Glaubens  legt  (8.  63)."  „Die  Götter  sind  im  Kben- 
bilde  der  Menschen  geschaffen  (S.  68)."  «Entwurzeln  der  Religion 
ist  eitles  Beginnen  (S.  73)."  „Diese  die  gesammte  KntTvickelungs- 
geschicbte  sich  hindurch  windende  Wandelbarkeit  der  Ideen  (8. 76)." 
„Niemand  glaubt,  was  er  positiv  unwahr  zu  sein  weiss  (S.  79)."  „Das 
Gef&ngms  ist  desto  unentrinnbarer  (S.  102).'*  „Dass  der  Mensch 
minatflrlich  erachtet,  was  sehr  natOrlich  (8.  159).**  „Steifer  als  je- 
mals hSlt  die  Kirche  der  Gegenwart  an  ihren  Lehren  fest  (S.  62)." 
^tets  grinsten  aus  dem  Wandel  und  Treiben  der  Priesterschalt  die 
eigenen  Laster  entgegen  (8.  llby  — 

Wenn  der  Verfesser  einmal  sagt  (8.  57),  es  sei  hoch  an  der  Zeit, 
dass  man  erkenne,  wie  die  Theorien  modemer  Phrasenhelden  bei  der 
modernen  Natnrforschnng  keine  Unterstfttzung  finden,  so  hegen  wir 
unsererseits  die  Hoffiiung,  dass  die  wirkliche  Wissenschaft  und  eine 
emste  Kritik  sich  endlich  einmal  aufraffen  werden,  um  den  Haupt- 
schreiem  im  Kampf  um's  literarische  Dasein  das  Handwerk  zu  legen. 


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Obersiedlung  der  pestalozzisclu  n  Anstalt  von  Bargdorf  nach 

Munekenbuchisee. 

Von  JET.  Marf-Winterthwr, 

(Schluss.) 

Pestalozzi  täuschte  sich,  wenn  er  annahm,  der  Oberamtmann 
werde  anf  seine  Gesichtspunkte  eingehen  und  das  Gesuch  der  Regie- 
rung zur  Berücksichtigung  empfehlen.  In  dem  Begleitschreiben,  d.  d. 
12.  Septbr.,  äussert  sich  derselbe,  es  sei  ^nicht  anzurathen,  das  Schloss 
auf  eine  bestimmte  Anzahl  Jahre,  viel  weniger  auf  Lebenszeit  hinzu- 
geben. Als  ich  hieher  kam,  glaubte  ich,  es  werde  ein  Leichtes  sein, 
in  oder  ausser  der  Stadt  eine  Wohnung  für  mich  und  meine  Haus- 
haltung zu  finden,  habe  aber  seither  in  Erfahrung  gebracht,  dass  es 
nicht  möglich  ist,  sich  auf  diese  Manier  einzurichten,  und  bin  daher 
gezwungen,  bei  M.  Hochgeachten  Herren  anzuhalten,  dass  sie  mir  auf 
künftiges  Frühjahr  das  Schloss  für  meine  Wohnung  einräumen 
möchten.** 

Die  zwei  einander  widersprechenden  Begehren  Pestalozzi's  und 

Stürler's  setzten  die  Regierung  in  nicht  geringe  Verlegenheit.  Dem 
Oberamtmann  war  man  eine  seiner  Stellung  angemessene  Wolinung 
schuldig  und  doch  ging  es  auch  iiidit  wol  an,  Pestalozzi  glcidisaui 
unter  den  Augen  von  ganz  Kuruita  ans  dem  Schlosse  wegzuweiseu. 

SchultliPiss  von  Watteuwyl,  der  das  pestalozzisrhe  Institut  aus 
eigener  Anschauung  kannte  (er  war  am  8.  Juli  1<S0;{  auf  liesuch  dort;, 
äussert  sich  in  seint^m  (Gutachten  muh  -2.  Oktober  1803  u.  a.  also: 

..i  btr  tlfii  zu  «'iwarteiKlon  Nutzen  »lirser  rA'liiaii.stalt  sollt»-  es  schwor 
sein,  etwas  liestiuiiiites  für  die  Zukunft  zu  t-nt.scliei«leii.  Indessen  ist  das  wirk- 
liclie  Resultat  dieses  Elementarunterrichtes  so  auffallend  für  Fremde  undKin- 
heimischet  die  die  pestalozzische  Anstalt  besuchen,  dass  die  Regierung  aller* 
dings  abwarten  soll,  ob  die  Folgen  der  Erwartung  entsprechen,  und  mittler- 
weile nicht  nur  derselben  nicht  Hindernisse  in  den  Weg  legen,  sondern  noch 
einige  Untfrstützung'  gehen. 

..Hetraehtet  man  fenn-r  das  jranz  ansserordentlielit'  Aufseh. ii.  so  diese 
Anstalt  in  gauz  Europa  gemacht  hat,  die  wahre  Schwilriuerei,  mit  welclier  die 


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—   77  — 


s-plfhrte  Anneo.  Deutsclilamls  dit^  N'oi-tlieile  dieses  P'leniciitai-untt'i  riditrs  in 
uiitu  üfleutliclien  Blättern  und  Schritten  ausposaunt,  und  die  (ii*liihr,  mit 
diesem  intoleranten  Heere  öffentlich  in  eine  Fehde  zn  treten;  er- 
wigt  man,  das  anch  aagar  die  fr&nkischen  Gelehrten  nnd  Halbg^elehr- 
ten,  Generiile,  Minister  etc.  sich  haben  einnehmen  lassen,  80  sdireibt 
auch  Staatskluirheit  vor,  der  Fortdauer  dieser  Anstalt  nicht  entgegen  ZU  sein." 

Er  räth,  den  Begeliren  Pestalozzis  theihveise  zu  entsprechen:  „Fort- 
daaer  der  nnentgeltlicben  Bewohnang  des  Schlosses  auf  unl)estimmte 
Zeit;  Übernahme  der  Unterhaitun?  der  Dachungen;  Überlassung  der 
Nutzniessung  der  Gärten  und  Pünten.^ 

Filr  den  Oberamtmann  könne  man  iSchnelTs  Sommerhaus  ankau- 
fen, welches  nebst  dem  dazu  gehörigen  Land  ein  Gegenstand  von  un- 
gefilhr  26000  Ü.  (Convenienzpreis)  sein  mag.  Auf  diese  Weise  wäre 
allem  entqprodien;  der  Stand  wflrde  Herrn  Pestalozzi  und  seiner  An- 
stalt eine  beträchtlicbe  Unterstützung  gewähren,  mittelst  welcher, 
wenn  sie  mit  Ordnung  eingerichtet  ist  und  wahren  Nutzen  bringt, 
selbige  sehr  wol  gedeihen  kann;  nnd  Herr  Oberamtmann  wäre  ange- 
nehm und  wolfefl  logirt  Sollten  dann  späterhin  die  Umstände  an- 
gemessen machen,  denselben  in  das  Schloss  zu  versetzen,  so  könnte 
diese  kleine  Besitzung  immer  ohne  grossen  Yerlnst  verkauft  werden. 

Kurze  Zeit  nachher,  am  11.  October  ging  auch  das  am  10.  Au- 
gust verlangte  Gutachten  des  Kirchen-  und  Schuldepartements  ein. 
Diese  Behörde  hatte  sich  angelegen  sein  lassen,  die  Sache  an  Ort  und 
Stelle  za  prOfen,  auch  sonst  Nachfrage  zu  halten  und  berichtete  also: 

„Infolge  des  erhaltenen  Auftrages  begab  sich  eine  Commission  aus  dem 
Ifittel  des  Departements  selbst  nach  Bugdorf,  nm  dort  von  der  Einrichtang 
md  Beschaffenheit  dieses  Instituts  die  nöthigen  Berichte  einzuziehen  nnd  von 

den  Zöglingen  selbst  sich  Proben  ihrer  Kenntnisse  abstatten  zu  lassen,  weli  h»- 
:ill»  r<li u g-s  znr  Zu  fi  i'  dtMiheit  der  Commission  nnsfielen.  Da  jedoch 
die  Kürze  derZ^'it  dit  scs  blo.^sen.  nocli  dazu  uneru  artrtru  Hesnclis  keine  p-ründ- 
liche  Prüfung  und  Untersuchung  gestattete,  so  bemühte  sich  das  Depaitenient 
sonst  anf  alle  Weise,  eeine  Kenntnis  dieser  Anstalt  zu  vervollständigen  nnd 
hat  nnn  die  Ehre,  Ihnen,  hochgeachte  Herren,  seine  Oedanken  dar&ber  vorzn- 
tngen. 

^i  berrtüssig  scheint  es  dem  Departement,  hier  in  eine  weitUlufige  Dar- 
stelluncr  und  Bfurtheiluiifr  der  jx^istalozzischen  iletliode  iiiid  dei-  etwanijjen 
Mäiii^t'l  dieser  Anstalt  einzutreten.  Zu  leu<,nien  ist  es  freilicli  nicht,  dass  der 
positive  Unterricht  allda  noch  sehr  vieler  Vervidlkomninung  und  Ausdcliuung 
fiüiig  wäre  nnd  in  sehiem  jetzigen  Znstande  voiziiglich  nur  als  erster  Elemen- 
tanmterrieht  för  Kinder  nen  ist  Als  solcher  aber  hat  er  unstreitig  wichtige 
und  sehrwesentlichi' \'orzüge  vor  allen  bisher  )m  kannten  Lehrmethoden.  Noth- 
wendi^  ninss  derselbe  durch  bt  <t'nidi«j:e  t'l)uni;-  dt  r  Fassuuf^skrilfte  und  des  An- 
s(  hauungsvenuöirens  den  \'er.staiui  der  Zögliiii^i'  liildcn.  ordnen  und  autliellen, 
und  besonders  ihre  Aufmerksamkeit  in  vurkonnueudeu  Füllen  erhöheu  und 


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^   78  — 

schärten,  hauptsäclUicü  iu  Mathematik  und  Becbuuugswisseaschal'teo.  Auch 
die  Anstalt  selbst  hat  schon  wirklich  in  anderer  Rtteksicht  wolthfttigeu 
Einflnss  auf  das  gesammte  Land  gehabt,  indem  sie  als  eine  Schale  für 
Schnllehrer,  auch  ab  dem  Lande,  angesehen  werden  kann  und  bereits  sehr  viele 
mit  Erfolg  allda  ilire  pädagogischen  Kenntnisse  zu  erweitem  und  auszubilden 
angefangen  halten,  wodurch  gewiss  den  Landschulen  und  mit  ihnen 
der  Cultur  unsers  Volkes  ein  nicht  gerinfrer  ^'oI•thoil  erwächst. 
Kurz,  weder  dem  Staat  noch  der  Religion  kann  diese  Anstalt  und 
diese  Methode  an  sich  je  die  mindeste  Gefahr  drohen  und  ist  in 
jeder  Hinsicht  also  eher  nfitzlich  als  schftdlich. 

^ Nicht  weniger  verdienen  aneh  die  Empfehlung  des  Herrn  Landammanns 
und  der  schweizerischen  Taprsatzung  in  Betrachtung  zu  kommen,  vorzüglich 
aber  das  Aufsehen  und  die  Achtung,  welche  diese  Methode,  dies  Institut  und 
sein  Voi-steher  Pestalozzi  last  in  g-anz  Europa  erworben  haben,  wobei  denn 
die  sicher  nicht  ganz  angegründete  Besorgnis  entsteht,  wenn  diese  Anstalt  aus 
Hangel  an  Unterstttteong  von  der  Begiemng  ans  in  Yer&il  gerathen  oder  gar 
zu  Grande  gehen  sollte,  so  mOehte  der  onangeneiune  Verdacht  and  Vorwarf 
auf  die  hiesige  Regierung  fMlen,  dieselbe  habe  aas  individuellem  Wider- 
willen gegen  die  Person  oder  die  Grundsätze  des  Unternehmers  den 
W'vrt  dieser  Anstalt  nicht  zu  schützen  pewusst  und  durch  Verwei^erong  VOn 
Unterst iit zu iiir  zur  Aullösung  oder  zum  \'erfall  derselhfii  bei«retra^en. 

„Aus  all  diesen  Betrachtangen  glaubt  das  Departement  einmüthig,  diese 
Anstalt  sei  als  eine  nützliche  Erziehungsanstalt  allerdings  zu  begünstigen  und 
zn  anterst&tzen.  Da  aber  weit  die  metirsten  Kinder  in  diesem  Institut  nicht 
ans  dem  Canton  Bern,  sondern  ans  anderen  Gegenden  der  Schweiz,  vorzflglich 
in  grosser  Anzahl  aus  dem  Canton  Leman,  thefls  aus  dem  Ausland  dahin  ge- 
st  nd*'t  werden,  so  sei  hiesiger  Regierung  nicht  zuzuniuthen.  dass  sie  die  Er- 
haltung- (lieser  Anstalt  j^auz  übernehme,  sondern  es  sei  hinreichend,  wenn  mau 
von  liier  aus  ein  Local  zu  deiwlben  anzeige  und  zwar,  wenn  es  möglich  wäre, 
ihr  das  Schloss  Bnrgdurf  ferner  überliesse.  Sollte  dies  nicht  thunlich 
sein,  so  könnte  man  ihm  sonst  ein  Öffentliches  Gebftnde  anweisen,  indem 
das  zahlreiche,  dermalen  anf  mehr  denn  130  Köpfe  sich  belanfmde  Penonal 
einen  Raum  erfordert,  der  in  einem  Privathause  schwerlich  möchte  angetroffen 
werden,  wobei  dann  auch  die  Hefrierunjr  die  beträchtlichen,  dem  Herrn  Pesta- 
lozzi zu  ^rr<i.sster  Beschwerde  irereichenden  'rraiisiim  tkosten  übernehmen  und 
endlich  guttindenden  Falls  noch  pro  rata  der  Beischüsse  von  den  übrigen  Cau- 
tonen  ihm  einen  Beitrag  bewilligen  könnte." 

Das  Deitarleiiu'iit  rätli,  falls  das  Scliluss  Hurgdorf  geräumt  wer- 
den müsse,  dem  Institut.  ..v<azüglicli  aus  pülitiöchen  Rücksichten,''  das 
Schlos.s  Küniz^  i  anzuweisen. 

Die  Ansicht,  man  solle  Pestalozzi  anruthen,  auf  dem  WVjre rler 
Silbscription  tlir  seine  Anstalt,  da  sie  Ja  ein  blosses  Privatunternelimeii 
sei,  zu  sorgen;  eine  öUeniiiche  Unterstützung  würde  eiu  Präjudiz 


*i  Die  Bewohner  von  Müncheubuchsee  galten  tVn  n  volutionfir  gesinnt,  der  horr- 
sdienden  poiitiflchen  Bicbtuug  abhold,  die  von  Köaiz  dagegen  für  lojaL 


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—   79  — 


isdialieii.  das  für  den  Staat  fatale  Fnl^^eii  haben  ktiimte.  wur>lr  zwar 
ausgesprocbeu  und  vertlieidigt,  uuterlag  aber  sümtsklügereu  Rück- 
sichten. 

In  \\'ürdi<run^  dieser  Gutaeliten  besrliloss  die  Reirienmir.  Abtliei- 
luiig  Finanzratli.  dem  die  Antrag^stellunir  in  Fi-at'en  des  Staatshans- 
lialtes  znkani,  den  Stadtiatli  von  Burgdorf  aufzufordern,  „einen  seliiek- 
lichen  Wolmsitz  tur  den  Oberamtmanu  ausfindig  zu  machen."  Die 
Vors«>hläge  dieser  Behörde  (vom  B.  November  lb03)  lauten: 

„1.  Wäre  das  hies.  Pfarrhans  so  greräuuliii  und  in  einer  so  angenehmen 
Lasre.  dass  man  es  mit  einiu:t  ii  Reparat  innen  zur  Wohnuno:  eines  Öber- 
anituiiinns  bequem  einrichtt  n  krinntf.  Tn  diesem  Falb-  würde  dann  die 
Stadt,  auch  nahe  bei  der  Kii-che,  dem  Henii  i'tarrherru  ein  Haus  au- 
m^sm,  daa  firdlieh  weniger  Zimmer  hfttte  ab  das  Pfarrhaus. 

2.  KSnnte  die  ehemalige  Schmiedengesellschaft  angekauft  werden,  ein 
Hans,  das  atif  einem  freien  Platze  steht  und  Jede  n^thige  Erwdtemng 
"der  Verhöhung  znlRsst,  um  die  Zahl  dei-  Zimmer  zu  vennehren. 

3.  Würde  eine  änsserst  anerenelmie  kleine  Campainie.  eine  halbe  ^'ierttd- 
.stundr  vor  der  Stadt  g^ekautt  weiilcii  können:  sie  irehört  Jetzt  dem  Alt- 
statthalter Schnell,  der  vor  einigen  Jahren  das  iiaun  im  Innern  fast 
ganz  neu  bauen  liess.  Es  enthUt  bereits  eine  hinlängliche  Anzahl  wol- 
eingerichteter  Zimmer  zur  Wohnung  eines  Oberamtmanns." 

Dieser  Vorschlag  stimmt  also  mit  dem  des  Amtsschultheissen  yoii 

Wattenwyl. 

Im  Weiteren  fügt  der  Stadtrath  hei: 

„Wir  erkennen  die  Aufmerksamkeit,  die  Sie  der  pestalozzischen  Erzie- 
himgsanstalt  gOnnen,  mit  grösstem  Dank.  Wirklich  wäre  es  für  die  Stadt 
Bu^orf  ein  grosser  Nachtheil,  wenn  dieser  verdienstvolle  Mann  sein  Institut 
anderswohin  v^^rleireii  niiisste.  J[ancher  arme  I^Urjrer  hatte  in  den  letztvertlosse- 
nen  luifrlücklirlieii  .Jaln-  n  ib-n  Unterhalt  seiner  Familie  fast  eiii/.i;jr  «lern  \'er- 
dienst  zu  verdanken,  der  ihm  von  daher  zutloss,  und  mancher  l'ubemittelte  hat 
dsdorch  sich  auf  einen  gewiBsen  Grad  von  Wolstand  bringen  k9nnen.  Aller- 
dings ist  es  schon  deswegen  unsere  Pflicht,  fttr  die  Beibehaltung  dieser  Binde- 
hongaanstalt  alles  Mögliche  beizutragen." 

Dem  Oheramtmaim  gefiel  keiner  dieser  Auswege.  Er  konnte  wahr- 
scheinlich mit  dem  Gedanken  sich  nicht  aussöhnen,  dass  er  unten  in 
der  Stadt  in  einem  bescheidenen  Landgate  wohnen  und .  Bttrger 
Pestalozzi  oben  im  stolzen  Schlosse  thronen  solle. 

„Keines  der  drei  vorgeschlagenen  Hänser,"  schreibt  er  unterm  5.  Novbr. 
an  die  Behörde,  „könnte  ich  der  Regierung  anrathen,  zu  diesem  Oebrauche 
einrichten  zu  lassen,  indem  es  sehr  betrilchtliche  Summen  brauchen  würde,  um 
rie  nur  verträirlich  zu  machen.  Das  Schloss  ist  und  Ideibt  «Ii«'  einzicre 
schickliche  Wolmunj^  für  den  Amtsmann,  weil  ilurten  die  (Tcfanir.n- 
schafteu,  die  Archive,  die  Scheune,  Stallunjj,  Gärten  etc.  sämmtlich  beieinjuider 
smd.    Hingegen  sollte  mau  ein  Haus  in  der  Stadt  bewohnen,  alles  entleg^en 


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—  öü  — 


und  ans  diesem  Oronde  sehr  vielen  ünannelunlichkeitea  ausgesetzt  sein,  der 
Kosten  nicht  eingedenk,  die  es  z.  B.  in  Criminalproeeesen  nach  sich  ziehet, 

indem  icli  jedesmal,  wenn  ein  Gefangener  von  Wichtigkeit  in  mein  Haas  zum 
Verhör  la^ebraclit  wird,  zwei  Mann  znr  Siclierlieit  niitg-eben  mass,  um  ihn  den 
Schlossrain  hinab  und  durch  die  iranze  .'^tadt  zu  t'ülirm  und  8o  wicdt-r  zurück. 
So  wäre  es  noch  wenij^er  möglich,  die  (ieliingeueu  gai"  iiw  ^Skshnell'schej  bomiuer- 
haus  liiuans  zu  trauspurtiren. 

„Endlich,  Hochgeachte  Heiren,  mnss  ich  Ihnen  bemerken,  dass  der  Heir 
Pestalozzi,  ohne  seinem  Institut  im  geringsten  NachUieil  zubringen,  in  einem 
der  noch  leer  stehenden  Schlösser,  wie  Buchsee.  Landshut  oder  Frienisberg 
sich  einriditen  kann,  der  Qberamtmann  von  Bargdorf  aber  nicht  wol  anders 
als  daselljst  wohnen  kann. 

„Schliesslich  möchte  ich  M.  Hg.  Herreu  noch  hr»flich  ersuchen,  die  Deci- 
sion  dieses  Gegenstandes  womöglich  zu  befördern,  damit  ich  einmal 
wissen  könne,  wo  ich  zu  Hanse  sei." 

IUI  Mdcher  Sachlage  konnte  der  Eutscheid  nicht  mehr  lauge  aul- 
gescholx'U  werden. 

Im  Schosse  des  FinanziaTho  wurde  die  An^ele«ienlH'it  am  7.  De- 
cenilier  18Ü3  wieder  ausführlich  besprucheu.  Uas  Keäultat  war  fol- 
gendes: 

„Das  Begehren  Pestalozzi's  um  Überlassung  des  Schlosses  ßurgdorf  kiuin 
iiui*  insofern  Berücksichtigung  finden,  als  der  Oberamtmann  sich  in  der  Stadt 
ein  Haus  zur  Wohnung  finden  kann  und  will.  Da  derselbe  sieh  aber  wirklich 
um  die  Wohnung  im  Schlosse  angemeldet  und  wünscht,  solches  kiinftiges  Früh- 
jahr beziehen  zu  können,  so  ist  in  das  Begehren  Pestalozzi*»  nicht  ehizu- 
rreten.  sondern  er  ist  ledii;lieli  damit  abzuweisen.  Sollte  aber  Herr  I^esta- 
lozzi  ein  anderes  Locale,  das  dem  Staat  {reliört  und  keine  andere  Bestimmung 
hiit,  aui'tinden  und  sich  um  Uberlassuug  desselben  bewerben,  so  kann  dann  ein 
solches  Nachweiben  auf  ein  Neues  untersucht  und  vielleicht  in  Mehrerem  oder 
Uinderem  eingetreten  werden.** 

Der  Kleine  Rath  leistete  einer  annehmbaren  Lösuuf^:  der  Frage 
insofern  besonderen  Vorschub,  als  er  das  Bauamt  einlud,  mit  Zuzicliun«,^ 
Pestalozzi'»  das  Scliloss  Münchenbuchsee  in  Augeusrhein  zu  neh- 
men. Diese  Inspcctiun  l'aiul  am  9.  Januar  1804  statt.  i)er  Bericht 
über  den  Zustand  desselben  lautet  niclit  <xi\v  tröstlich: 

„Man  kann  sich  leicht  vor.stellen,  duss  ein  beinisches  Sehloss,  welches 
zum  Spital  krfttziger  und  venerischer  Soldaten  frSnkisdier  und  helve- 
tischer Nation  preisg^eben  wurde  und  in  welchem  meistens  die  Wache,  welche 
für  Or  liiiing  dahingestellt  sein  sollte,  den  grOssten  Uuftig  anzurichten  sich  die 
Freude  jnaehte,  ganz  ärgerlich  mitgenommen  wfu  den  sein  mnss.  Wenn  man  dabei 
bedenkt,  dass.  nm  die  so  bewohnten  (u  bäude  tni-  Manschen  wieder  gesund  und 
nützlieh  zu  niaelicn,  eine  surgtliltige  Hi-inigung,  Abbrnhung.  AbseliabunL''  und 
Anstreichung  alles  Holz-  und  Mauerwerks  auf  alle  Falle  rilieht  und  unaus- 
weichbar  ist,  und  dass  alle  Scblosserarbeit  losgestohlen,  mehrere  Fenster  und 
Thüren  eingeschnüssen,  wie  auch  mehrere  Läden  und  Ziegelplatten  der  BOden 


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—   81  — 


Ifr^jcft-rissen  sind:  doi-  7Af}j:c\\ii"h-n  des  Estrichs  zum  Tlicil  ubiiedcckt  \vurd<'ii  ist 
uiid  die  Ziegel  als  Maieiiiilien  zu  täglichen  Keparatioueii  der  Gänge  luid  KUche 
dienen  mnasten,  so  wird  man  gewiss  auf  eine  ziemliche  Somme  sich  gefasst 
machen.  Die  Kosten  belaufen  sieh  anf  nngefllhr  Frcs.  4000.  Bei  EiTichtnng 
diepes  Übei-schlags  ist  nicht  der  j^eringste  Luxith,  nicht  Anstand,  nur 
nriijufe  Keinlichkeit  tÜr  die  darin  aufzunehmende  Jn^end  und  der  wolfeilsfe 
Weg  in  Anschlag  gekommen.  \V(dlte  man  dieses  Scliloss  zur  Wohnung 
eines  Amtmanns  oder  einer  andern  Anstalt  machen,  so  müssten  die 
Kosten  gewiss  stark  vermehret,  wo  nicht  verdoppelt  werden. 

,3«iT  Pestalozsi  ist  damit  zufrieden,  hatBanm  nnd  Icann  nach  Bedürf- 
nis denselben  noch  mit  vier  Zimmon  im  Bodengeschoss  des  nenm  Kornhanses 
vennehren.  Kr  omptielilt  sich  inständig  um  diese  Wohnung,  bittet,  dass  man 
ihn  nicht  auf  dii'  GaKse  stellen  und  nnglürklich  machen  wolle.  Die  Auflösung 
seint-s  jetzigen  Hauses  wäre  ein  unwiederbringlicher  Schaden,  es  würde  in  die- 
ser Gegend  Verdienst.  Arbeit  und  Geld  austheilen*'  etc. 

Am  14.  Jänner  1804  ..erkennt  nun  der  Kleine  Rath,  dass  das 
8chIoss  zu  Bnrgdorf.  seiner  eigentlichen  Bestimmung  gemäss,  sobald 
als  möglich  dem  dortigen  ( )lteramtmann  eingeräumt  werden  solle." 
Ein  bestimmter  Zeitpunkt  wurde  nicht  festgesetzt,  auch  einer  ander- 
weitigen I^nt Erbringung  der  pestahizzischen  Anstalt  nicht  gedacht. 
Man  wollte  einen  Anti-ag  des  Finanziatlies  abwarten. 

Dieser  Beschlu^s  erregte  bei  der  Bürgerschaft  Burgdorfs 
..Wehklagen",  bei  Pestalozzi  grosse  Besorgnis.  Der  Stadti-ath  von 
Burgdorf  beeilte  sich,  der  Regierung  die  Kolgen  voi-zustellen,  welche 
die  Entfernung  der  pestalozzischen  Anstalt  für  die  Stadt  nach  sich 
zöge. 

„In  der  That",  wiederholt  er  in  einer  Eingabe  vom  19.  Jänner,  ,,muss 
man  gestehen,  dass  diese  Anstalt  einen  vielseitigen  Nntasen  für  uiisern  kleinen 
Ort  haty  also  das  WebUagen  der  Bürgerschaft  Aber  deren  Abgang  begründet 
iat.  Dieselbe  fasset,  die  Menge  der  zu-  nnd  abgehenden  Fremden  abgereehnet» 
bovits  in  die  130  Personen  und  ist  einer  steten  Erweitemng  fllhig.  Beinahe 
jeder  Handwerker,  die  Handelsleute,  die  Wiite  und  wer  sich  mit  dem  Verkauf 
von  Landeserzt^ugnissen  abgibt,  weiss  sich  da  einen  mehreren  oder  minderen 
üewinn  zu  vei-sciiaffeu.  Die  Schule  bietet  überdies  sowol  iu  Hinsicht  der 
Mit  ftaslielieii  Lehrart  nnd  der  sehneUm  FortBchritte  der  Zöglinge  als  der 
massigen  Forderangen  (in  Sachen  des  Pendonsgddes)  des  Unternehmers  die 
betrtditliclisren  Vertheile  dar.  Anch  sind  die  Früchte  des  gesellschaftlichen 
Umganges  der  Lehrer,  ihres  Geschmackes  für  Musik  und  übrige  schöne  Eftnste, 
das  Beispiel  der  mit  freudiger  Freiheit  an  Zucht  uud  r)i  (lnung  gewöhnten  Kmx- 
hen  iuid  andere  gleichartige  Vorzüge  dieser  wiclitigen  Anstalt  nicht  zu  über- 
sehen," 

Die  Behörde  erinnert  daran,  dass  bei  einer  andern  Bestim- 
mung des  Schlosses  die  nandiaften  Summen,  welche  auf  den  inneren 
Umbau  zur  Unterbringung  der  Anstalt  verwendet  worden,  unnütz  aus- 
gelegt wären  und  walirscheinlicb  noch  verdoppelt  werden  müssten, 

PicdagogiuD.  4.  Jahrg.  lieft  Ii.  6 


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—   82  — 


wenn  die  getroffenen  Einrichtunpfen  wieder  deiiiolii  t  nnd  die  Räume 
zu  einer  Wohnung;  tür  den  Oberanitinann  eingerichtet  werden  müssten. 
Sollte  diesem  aber  ..j^ar  selir  daran  lief^Hi'',  ins  Schloss  zu  kommen, 
so  sei  Burj?dort"  nicht  ungeneigt,  Pestalozzi  eine  andere,  seinen  Be- 
dürfnissen entspre(;hende  Unterkunft  zu  verschaffen,  seihst  zu  einem 
Neubau  zu  sclireiten  in  der  Voraussetzung,  dass  ihm  unterdessen  der 
Aufenthalt  im  iSchlosse  gestattet  sei. 

,.Da  wir  diese  Anffelesreiilieii  uml  (ii«'  A1).si(  hten  dtT  holu-n  l't'üierungr 
nicht  von  allen  Seiten  kennen,  so  bertntlen  wiv  uns  aucli  niclit  im  Stande, 
diizu  diejenigen  Vorschübe  bestimmt  anzubieten,  welche  iu  luisern  Kiät'icu  sein 
dfirften.  Wir  nehmen  aber  die  Freilieit,  Sie  zu  verdchem»  daas  nns  Icein  mit 
dieten  Krttften  im  VertilltniB  itehendes  Opfer  zu  gross  wize,  am  der  nnserm 
Orte  so  wolthätigen  Anstalt  ihr  Dasein  zu  fHsten,  wenigstens  d^  liberalen 
FnteiTiehmer,  diesem  um  das  Unterric  hts-  nnd  Erziehunprswesen  so  verdienten 
Greisen,  seinen  Aufenthalt  unter  uns  auf  seine  Lebenstage  zu  sieheni." 

Diese  allzu  vorsichtige  Zuschiift  mit  ihren  ..  untassbaren  Vor- 
schlägen" machte  weder  bei  der  Regierung  besonderen  Eindruck,  noch 
wollte  sie  bei  ihrem  späteren  Bekanntwerden  Pestalozzi  und  den 
Bnrgdorfer  Bürgern  gefallen.   Sie  sei  weder  kalt  noch  warm. 

In  den  massgebenden  Kreisen  Berns  schien  sich  immer  mehr  die 
Ansicht  geltend  machen  zu  wollen,  die  pestalozzische  Anstalt  sei  eine 
reine  Privatsache  nnd  habe  als  solche  keinerlei  Ansprach  auf  Staats- 
hüfe.  Gegen  diese  Anffiissung  glaubte  sich  Pestalozzi  energisch 
wehren  zu  müssen. 

,,Da  der  Beschlnse/I  so  beginnt  sein  Memorial  an  den  Kleinen  Rath,  d.  d. 
30  Jänner  1804,  „das  Schloss  Burgdoif  zu  einem  Hegierunjun;sitz  einzurichten, 
von  M.  G.  Herren  ausser  aller  Verbindung  mit  irgend  einer  Massregel  zur  Eir- 
haltnng  des  auf  diesem  Schlosse  betindliehen  Krziehnngsinstitutii  genommen  wor- 
den nnd  daraus  zti  «ilielleii  sdieint.  da.s.s  Hotlidieselltcii  dieses  l'>tablis,seiuciif 
in  doi'  gleichen  Kategorie  mit  allen  übrigen  l'rivatanstalten  ins  Auge  zu  fassen 
gemheUf  so  finde  ich  mich  genSthigt,  Hochdenselben  ehrerbietig  vorzosftell«!: 

1.  dass  ich  dieses  Etablissement  auf  die  difentUefae  Aufforderung  der  Be» 
giernng  und  unter  dem  beständigen  ununterbrochenen  Foitgennss  ihres 
Schutzes  und  ihrer  Unterstützung  angefangen  und  betrieben; 

2.  dass  dasselbe  sich  auch  <ladnrch  als  eine  riflcntliclie  rnternehinung  qnaliti- 
cirt,  weil  es  wesentlich  eine  Experinit  ntal»chule  ist  und  nur  auf  eine 
diesem  Gesichtspunkt  untergeordnete  Art  als  eine  Pensionsanstalt  ins 
Auge  gefoast  werden  kann; 

3.  dass  ich  niemals  in  der  Qualität  efaies  Vorstehers  efaier  Pensionsanstalt, 
sondern  bestimmt  als  Unternehmer  von  Versuchen,  welche  die  Orgaai- 
sinmg  eines  neuen  Elenientamnterrichtes  bezwecken,  UnterstäUvng  nnd 
Handbietung  genoss; 

4.  dass  ich  in  der  ersten  (Qualität  so  wenig  jetzt  als  damals  euie  solche  an- 
spreche, sondern  im  Gegentheil  jede  öffentliche  Handbietong  nur  als 


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—   83  — 

rntornolimer  diesor  Vorsuche,  und  in  jedoni  Falle  nur  auf  die  wenigfAn 
Jahre,  die  zur  BtMMuliü^ung:  dieser  wesentlichen  Theile  dei'seiben  noch 
erforderlich  sein  mügeu,  suche  und  wUusclie; 
■5.  dm,  weim  et  ftnoh  die  abgetretene  Regierung  ven&nmte,  mir  diese 
dnrdi  einen  f5miliciien  Aooord  fftr  jeden  Fall  sicher  zn  stellen,  sie 
dennoch  dorch  ihre  Massregeln  die  \'erpfliehtung:  auf  sich  genommen 
nnd  als  auf  sich  habend  eikannt.  mir  den  Genuas  der  zu  meinem  Ver- 
such an  die  Hiuid  ^eg^ebenen  Mittel  und  die  Vortheile  bis  ZOT  Voll- 
enduuf^  dei-selbeii  in  Händen  zu  lassen: 

6.  dasä,  indem  diese  Regierung  mit  einer  Experimentalschule  noch  ein 
SchidmeiBterseminariiiin  Terlninden  und  alljährlich  die  Kotten  einer 
betiftchtlichen  Anzahl  in  diesem  Hanse  zu  bildender  Schnlmeister  anf 
sich  genommen,  sie  auch  dadurch  offenkundig  gezeigt,  dass  sie  ihre 
Verpflichtung  gegen  mich  nicht  blos  auf  die  Zeit,  welche  die  Beendigung 
der  zu  meinen  Zwecken  wesentlichen  imd  nothwendigen  Vei-auche  er- 
fordern möchte,  sondern  seibat  auf  die  Erfoi^demisse  der  Anwendung 
dieser  Versuche  und  auf  die  Zeit,  in  welcher  diese  eintreten  würden, 
aasgedehnt  wissen  wollte; 

7.  dass  selbst  die  Verwaltong  des  Ldbl.  Cantous  Bern  mehrere  tausend 
Gulden  für  meine  Anstalt  im  Schloss  Burgdorf  verbaut  und  dadurch 
au*  Ii  ihrerseits  durch  Massregeln  der  Hetrierung  zur  dauerhaften  Er- 
haltung meiner  Anstalt  auf  eine  ausgezeiclmet  wolthätige  Art  bei- 
getreten.'^ 

Dann  weist  Pestalozzi  nach,  dass  und  wie  er  auf  Grund  dieser 
Resrierun^sniassreireln  sich  eingerichtet,  unter  Mühsal.  Selbstverleug- 
nimer  sich  diirchjjfckämpft,  „nie  mit  sich  selbst  gerechnet,  nur  seinen 
Zweck  gesellen  und  für  denselben  gelebt  habe  mit  einmi  Wolw'ollen, 
niit  einer  Liberalität  und  Unbefanfrenheit.  die  ihn  jeden  Tai^-  und  jede 
Stunde  weiter  jjefiihrt,  als  er  nach  seinen  Privatkrätten  hätte  fehen 
sollen;  er  habe  arme  Kinder  ausser  dem  Verhältnis  der  genos- 
senen Unterstützung  in  sein  Haus  aufgenommen;  ja  dieses  habe 
dem  Armen,  der  seine  Zwecke  gesucht,  bald  in  jedem  i^'alle  otten  ge- 
standen, und  selber  dem  Halbai'men.  der  mit  ihm  gegessen,  liabe  er 
nur  schüchtern  und  nur  halb  gefordert,  was  er  schuldig  geworden  und 
wessen  er,  Pestalozzi,  wahrsclieinlicii  melir  und  dringender  bedurft 
habe,  als  jener  selber;  aber  er  habe  bei  allem  dem  Vaterlande  und 
der  Obrigkeit  in  dieser  Angelegenheit  unbedingt  vertraut,  habe  ge- 
glaubt, jenes  sei  als  Staat  für  sein  Unternehmen  unsterblich.** 
^  sei  es  geschehen,  dass  er  mit  dem  Selbstgefühl  des  Bechtthuns 
<la8  untemommen,  zu  dessen  Durchsetzung  seine  Ki'äfte  nicht  hin- 
reichten, dabei  habe  er  sich  selber  über  beides,  über  das  Gefähi'liche 
nnd  Beschämende  ökonomischer  Hemmungen  und  Verlegenheiten  er- 
haben gefühlt.  Er  habe  seinem  Ziele  entgegengestrebt,  „als  ob  es 
gewiss  für  ihn  wäre**. 

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—   84  — 

* 

l)ann  fälirt  er  mit  bercclitigtein  >Se]V»stgefühl  also  lort: 

..Es  war  es  freilich  iiiclit!  aber  es  pelang-.  —  es  ist  ein  Wunder,  dass 
es  gelungen  ist.  Gottes  Vorsehung  kam  jeder  meiner  Schwächen  zu  Hüte,  und 
tausend  Gefahren,  die  ich  nicht  ahnete,  venchwanden  ohne  mein  Znthnn,  al» 
ob  sie  nicht  dagewesen  wären.  Meine  Schule  ist  die  erste  Elementar- 
schnle  Europens,  ihre  Uoternehmnng  ist  jedes  Fürsten  würdig, 
ihre  Kesultate  stehen  nnerschütterlich  da-,  meine  gereiften  Zög' 
linp-e  leisten,  was  vor  meinen  VerRuehen  nirgends  geleistet  worden 
ist  und  was  olnie  sie  nirgends  geleistet  werden  kann.  Die  Zeit,  in 
der  ich  mit  Thräneu  säele,  wilre  nun  vorüber,  ich  könnte  jetzt  mit 
Fronden  ernten.  Die  Zalü  meiner  Schüler,  mein  Zutrauen  und  alles  ver- 
einigt sich,  mich  jetst  hoffen  zu  lassen,  ich  sei  am  Ziel  meiner  Aufopferungen 
und  meiner  Sorgen.  Aber  der  Beschluss,  das  Schloss  Bnrgdorf  zu  einem  Be- 
gienmgssitz  einznriditen,  wie  er  genommen  ward,  setzt  diese  Hoffiinng  fBr 
mich  wieder  in  eine  imgewis^e  und  unbestimmte  Feme.** 

..Indessen'',  so  endet  die  Eingabe.  ..tüusflie  ich  mich  über  meine  Lntre 
gar  nicht  und  will  ancli  durchaus  keinen  Schritt  tliun.  der  meiner  rechtlidien 
Stellung  nicht  angenu^ssen  ist.  Ich  weiss,  dass  ich  es  versäumt  habe,  von  der 
helvetischen  Regierung  einen  mein  hiesiges  Bleiben  versichernden  Accord  zu 
begehren  und  ftthle  mich  durch  diesen  Fehler  in  die  Lage  gesetzt,  durchaus 
nicht  die  Gerechtigkeit  M.  G.  HH.  ansprechen  zu  dürfen.  Aber  wenn  auch 
meine  rechtliche  Stellung  mir  es  gftnzlich  verbietet,  anch  nur  einen  Wunsch 
gegen  diesen  Beschluss  zw  wagen,  so  erlaubt  mir  liingegen  dieselbe  vollkommen, 
ja  sie  macht  es  mir  sogar  zur  i 'flicht,  niit  eben  dem  Vertrauen,  mit  dem  ich 
unter  der  helvetischen  Regierung  an  das  Menschenherz  meiner  Obrigkeit 
und  meines  Vaterlandes  glaubte,  zweifellos  zu  erwarten,  dass  meine  Hoch- 
geachten,  Hochgeehrtesten  Herren  geruhen  werden,  berührten  hohen  Beschluss 
mit  Massnahmen  zu  yerbinden,  welche  die  wolthätigen  Folgen  meines  Unter- 
nelimens  sowol  für  mein  Vaterland  als  auch  für  mich  selbst  auf  eine  Ihnen 
beliebige  Art  sicher  stellen  werden.*^ 

Das  Gutachten  des  Finanzrathes  vom  16.  Febrnar  an  den  Kleinen 
Bath  fiber  die  Doppelfrage:  „Ist  die  hiesige  Caatonsregiening  im  FaD« 
der  pestalozzischen  Lehranstalt  eine  Wohnnng  in  hiesigem  Ganton 
und  in  einem  öiTentlichen  Gebäude  anzuweisen  nnd  zn  verschaffen? 
In  bejahendem  Fall,  wo  kamn  dieselbe  hinverlegt  werden,  nnd  was 
eifordert  solches  für  Anstalten?"  zengt  weder  von  grosser  Wärme 
für  eine  allgemeine  Volksbildung,  noch  von  grosser  Sympathie  für 
Pestalozzi. 

In  (lieser  vorbei  atheiuleii  "Reliörde  standen  .sich  in  Bezug  auf  die 
erste  Frage  zwei  Ansicliteii  gegenüber.  Nach  der  einen  ,.tiiKlet  sich 
nicht  der  geringste  (rrund.  warum  das  pestaluzzische  Institut  dem 
hiesigen  (  anton  ansschliesslich  zur  Last  fallen  soll.  Der  Unternehmer 
ist  kein  Cantonsangehöriger.  so  wenig  als  der  grösste  Theil 
seiner  Zöglinge.  Nicht  nur  hat  derselbe  schon  seit  mehreren  Jahren 


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^   85  — 


<!ie  W'ohiiiinGf  im  Schloss  Bnrtr(l)rf,  welches  von  der  liit'sigHii  Ver- 
valtnnj^skammer  zu  seiner  Autiiahine  eingerichtet  werden  niusste, 
nebst  zugehörigen  Gärten  und  Ptlanzplätzen  ganz  unentgeltlich  benutzt, 
sondeiTi  es  musste  ihm  noch  eine  jährliche  beträchtliche  Holzsteuer 
aus  den  Cantonswaldungen  gertdcht  werden.  Und  jetzt,  da  das  Schloss 
Bargdorf  zom  Dienste  der  Kegiemng  zur&ckgenommen  wird,  sollte 
man  ihm  mit  einem  Aufwände  von  mehreren  tausend  Franken  eine 
andere  Wohnung  einrichten,  eine  Summe,  die  in  wenig  Jahren,  die 
Bestimmung  des  anzuweisenden  Gebäudes  mag  sein,  welche  sie  will, 
als  ganz  verloren  angesehen  werden  muss,  und  das  zu  einer  Zeit,  wo 
der  Finanzznstand  des  Oantons  die  grdsstmSgliche  Ökonomie  zur 
heiligen  Pflicht  macht,  zu  einer  Zeit,  wo  aus  diesem  Grunde  dringen- 
dere und  fOr  die  Begierung  und  deren  Beamten  nützlichere  und  an- 
geoehmere  Banausgaben  unterbleiben  mfissen.  Hat  selbst  die  Tag- 
satzung blos  mit  Wünschen  und  Empfehlungen  als  die  wolfeilste 
ÜBterstatzungsart  sich  begnfigt  und  von  aller  thfttigen  HUfe  abstrahirt, 
mit  wachem  Becht  kann  dann  von  dem  Canton  Bern  gefordert  werden, 
«eh  ausschliesslich  der  pestalozzischen  Lehranstalt  anzunehmen?  Wie 
geneigt  die  übrigen  eidgenössischen  Stände  sind,  etwas  zu 
dessen  Beförderung  oder  Erhaltung  beizutragen,  beweist  auch  noch 
das  letzthin  von  der  Liquidationscommission  in  Freibnrg  eingelangte 
Sehreiben  (s.  o.  S.  8),  laut  welchem  sich,  ausgenommen  Zürich,  dessen 
Csntonsbürger  der  Pestalozzi  ist,  keiner  der  19  Stände  sich  bis 
dahin  dazu  hat  verstehen  wollen,  einigen  Antheil  an  jenen  Frcs.  40(X) 
zu  ül)ernehraeu.  welche  die  helvetische  Regierung  dein  Pestalozzi 
vorgeschossen  und  um  deren  Wiedereinschnss  in  die  helvetische  Ver- 
raögensraassa  es  dermalen  zu  thun  ist.    Ohiu*  endlich  die  Frage,  in- 
wiefern  es   der   hiesigen  Regierung  con venire,    die  pestalozzisf-he 
Lehranstalt  zu  unterstützen,  in  politischer  Rücksicht  zu  unttM  - 
suchen.  wo  dann  nocli  Vieles  angeführt  werden  konnte,  das 
nicht  zu  deren  Vortheil  gereicht,  wird  in  volh-r  Ülterzeugung 
dahin  geschlossen,  den  Pestalozzi  in  seiiiein  Begehren  lediglich 
anzuweisen  und  ihm  zu  überlassen,  sich  eine  \\'(dinung  zu  verschalten, 
um  so  da  mehr,  als  der  hiesige  C'antou  die  Fol  [reu  der  helvetischen 
Begünstigungen  ohnedem  schon  schwer  genug  emptinden  wird.  •  • 

Die  andere  Ansicht  war  Pestalozzi  günstiger:  „Man  fühlt  zwar 
wol.  dass  die  Regierung  des  Cantons  Bern  keine  positive  Verptticb- 
tung  auf  sich  liabe,  für  das  fernere  Unterbringen  der  pestalozzischen 
Lehranstalt  zu  sorgen.  Wenn  man  aber  erwägt,  dass  diese  Anstalt 
non  dnmal  im  Canton  Bern  sich  befindet,  dass  sie  in  demselben  nicht 


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nnr  von  <ler  helvetisclu^n  Centralregfienrnpr,  suiult^in  selbst  auch  von 
der  VenvaltungrskaiiiiiH^r  des  ("antons  in  iiielir  oder  wenifrerem  be- 
pünstigrt  worden  ist,  dass  HeiT  Pestalozzi  selbst  Zusielieruniren  auf 
die  Zukunft  erhalten  hat  oder  docli  auf  eine  fortjjesetzte  Begunstig:ung 
zählen  konnte,  dass  er  jetzt  aber  auf  Hoclidero  Befehl  das  ingehabte 
Schloss  Bui'gdorf  in  kurzer  Frist  verlassen  und  von  daher,  wenn  nicht 
gar  die  ganze  Anstalt  darüber  zn  Gninde  gebt,  sehr  beträchtlichen 
Schaden  erleiden  muss,  so  findet  man,  dass  es  der  Billigkeit  allerdinga 
angemessen  sei,  in  etwas  wenigstens  für  dieses  Institut  zn  sorgen» 
Dazu  kommt  denn  billig  noch  in  Anschlag  der  grosse  Bof ,  den  diese 
Anstalt  erlangt  hat  and  den  sie,  wenn  nicht  im  Ganzen,  doch 
zum  Theil  verdienen  mag.  Sollte  nun  dieselbe  durch  deren  Auf- 
hebung in  Bnrgdorf  wirklich  ganz  eingehen,  was  ohne  fernere  Für- 
sorge wol  der  Fall  sein  dflifte,  so  steht  zu  besorgen,  dass  dies  ein 
sehr  widriges  Licht  auf  die  Begierung  verbreiten  und  zu  den  schie- 
festen  Urtheilen  Anlass  geben  würde,  dahingegen  eine  etwelche  Be- 
günstigung dieses  Modeinstitnts  dei*selben  zur  grössten  Ehre  wird 
angerechnet  werden.  Es  ist  auch  zu  erwarten,  dass  einige  andere 
Cantone,  die  eben  erst  aufgefordert  worden  sind,  jjrleirli  dem  von 
Zürich,  der  sich  zuerst  geäussert  hat,  etwas  zum  I^esteii  jener  Lehr- 
anstalt beitrairen,  wo  es  denn  wieder  selir  abstechen  würde,  wenn 
Bern  bei  seinen  nocli  immer  nicht  zu  verkennenden  Vorzü^ani  vor  so 
vielen  anderen  Cantonen  gar  nichts  leisten,  sondern  vielmehr  die  Fort- 
dauer der  Anstalt  behindern  würde.  Endlich  dann  kann  noch  die 
Betrachtung  gemacht  werden,  dass  die  Lehranstalt  des  Herm 
Pestalozzi  eine  beträchtliche  Menge  Fremder  ins  Land  zieht,  was 
doch  immer  als  vortheilhaft  angesehen  werden  muss. 

Für  den  Fall,  dass  der  Kleine  Rath  die  letztere  Ansicht  theilen 
nnd  zu  dem  Schlüsse  gelangen  sollte,  ein  uideres  dft'entliches  Gebäude 
im  Canton  Pestalozzi  zur  Unterbringung  seiner  Anstalt  anzuweisen, 
geht  der  einstimmige  Antrag  des  Füianzrathes  dahin,  „das  Schloss 
Mttnchenbuchsee  anzurathen,  mdem  dasselbe  ohnedem  in  seinem 
dermaligen  Zustande  nicht  bewohnt  nnd  schwerlich  verkauft 
oder  verliehen  werden  könnte,  ausschliesslich  aber  das  Schloss,. 
d.  K  Haus  und  Hof,  sammt  dem  Garten,  aber  ohne  Pflanzplfttze 
noch  Holz. 

Diese  Überlassung  soUte  auch  nur  auf  ein  Jahr  bestimmt  und 
dem  Pestalozzi  zugesichert  sein,  da  er  sich  dann  alljährlich  um 

Verlängerung  dieser  Gunst  anzumelden  haben  würde.  Zur 
iSüuberung   und  der  allernuihwendigsten   Herstellung  dieses- 


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—   87  — 


Schlosses  erlurdert  es  jedocli  eine  Summe  vou  Frcs.  3000  (das  Bau- 
amt  glaubt  Frcs.  4000  nöihig,  wenn  man  aueli  von  allem  ,. Luxus  und 
Anstand"  absehe,  welche  Summe  zu  verdrtijpehi  wäre,  wenn  das  Schloss 
zu  einer  Wolniunfr  füi-  einen  Amtmann  oder  l'ür  eine  andere  Anstalt 
eingerichtet  werden  nuisste  i  und  deren  Bewilligung  möchte  man  Meinen 
Hochgeacliten  Herren  anrathen  mit  dem  ausdrücklichen  Beding 
jedoch,  dass  ein  Mehreres  nicht  gebraucht  werde  und  man  unter 
keinem  Vor  wand  in  einigen  Excedent  einwilligen  werde.' 

Den  Antrag,  „einen  billigen  Miethzins'^  von  Pestalozzi  zu 
fordern,  Hess  man  wieder  fallen,  .,um  so  da  mehi*,  als  zu  verhoffen  ist, 
dass  das  dem  Staat  zugehürende  Wü-tshaus  zu  M.-Buchsee,  welches 
ehemals  sammt  zngehörendem  Land  jähi*lich  Frcs.  540,  jetzt  aber  nicht 
mehr  als  Frcs.  400  abträgt,  dui'ch  den  Aufenthalt  des  pestalozzischen 
InstitDtes  und  die  dasselbe  besuchenden  Fremden  wieder  in  An&ahme 
gebracht  werden  könnte  und  dem  Staat  dadurch  ein  VortheU  zu- 
wachsen wttrde." 

„Den  Temdn  des  Abzugs  der  pestalozzischen  Anstalt^  von  Bui  s- 
dorf räth  der  Finanzrath  an  „auf  den  1.  JuU  zu  besthnmen,  da  dann 

noch  Zeit  genug  übrig  bleibt,  das  Scjiloss  vor  dem  Winter  zur  Woh- 
nung des  Heirn  Oberamtmanns  in  Stand  zu  stellen.'* 

Ehe  der  Kleine  Rath  von  Bern  t  iuen  Entscheid  fasste.  gelangte 
an  Pestalozzi  eine  Einladung  von  der  Stadt  Iferten  im  Canton  Waadt, 
dd.  14.  Februar,  mit  seiner  Anstalt  dorthin  zu  konnnen  mit  der  Zu- 
sicherung, man  werde  alles  Ihun,  seinen  Aufenthalt  daselbst  angenehm 
zu  machen  und  sicherzustellen.  Wenn  auch  vor  der  Hand,  schon  um 
der  weiten  Entfernung  willen,  auf  einen  Umzug  in  die  genannte  Stadt 
verzichtet  werd^  musste»  so  mochte  doch  Pestalozzi  ans  so  freund- 
lichem Entgegenkommen  mit  Kecht  schliessen,  dass  seine  Ideen  im 
Vaterlande  Wurzel  gefasst,  sein  Thun  Anerkennung  und  Verständnis 
gefiinden  habe  und  sem  Werk  nicht  mehr  untergehen,  sondern  durch 
och  selber  forterhalten  werde.  Er  durfte  des  Glanbens  leben,  dass 
die  Sache,  der  er  mit  so  viel  Hingebung  und  Aufopferung  gedient, 
nicht  dauernd  Schaden  nehmen  werde,  mOge  nun  der  Beschluss  der 
Hemer  günstig  oder  ungflnstig  fttr  ihn  aus&llen. 

In  dieser  Zuversicht  sehrieb  er  am  21.  Februar  an  Torlitz: 

„Hier  geht  es  im  Weseniliciien  lernt:  es  ist  Alles  gesund.  Aber  d;is 
Schloss  Burgdorf  hat  keiueu  Gefallen  mehr  au  uuserm  Dasein.  Es  war  das 
Hans  des  Herren  und  soll  wieder  das  Hans  des  Herren  werden. 
Ob  man  uns  etaie  andere  Hütte  geben  werde,  das  wissen  wir  noch  nicht,  aber 
wir  glaahen  es.  Mir  liegt  im  Emst  nicht  viel  daran.  Ich  holEB,  mein  Ei  ed 


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I 


—   88  — 

bald  ausgebrütet.  Dann  achtet  es  auch  der  schlechteste  Vogel  nicht  mehr  so 
viel,  wenn  ihm  bOse  Buben  sein  Nest  am  Baum  hinabwerfen.  Ich  hoffe  im 
Ernst,  meine  Versuche  seien  anf  einem  Punkt,  wo  es  nidit  mehr  darauf  an- 
kommt)  ob  man  midi  an  einem  einzelnen  Orr.-  stiire  oder  ruhig  lasse.  In  weni^ 
Tagen  werde  ich  sehen,  was  mein  Sciiicksal  ist.  ^'iele  Berner  denken  mässig 
dai'über;  ich  hotte,  die,  so  leidenschaftlich  darüberdenken,  seien  die  wenigem." 

Am  22.  Februar  1804  fiisste  die  Hemer  Begierang  endiidi  fol- 
genden  Beschluss: 

1.  Pestalozzi  hat  mit  seiner  Anstalt  das  Schloss  Burgdorf  anf  1.  Juli  1804 
zu  rftnmen,  damit  dasselbe  zur  Amtswohnung  zngerfistet  werden  kann; 

2.  dagegen  wird  das  Schloss  Münchenhuchsee  sammt  Hof  und  Garten, 
jedoch  ohne  Pflanzplätze  und  ohne  Zuschuss  von  Bu  niiliolz.  Pesta- 
lozzi zur  Unterbrins^ung  seiner  Anstalt  unentgeltlich  ül)erla8>tMi: 

3.  diese  Begünstigung  wird  jeiloch  niu-  auf  1  Jahr  gewiilirt,  von  Jacobi 
1804  bis  Jacobi  1805.  Wünscht  Pestalozzi  Fortsetzung  derselben, 
80  hat  er  vor  Ablauf  dieses  Termins  darum  sich  immer  wieder  nen 
zu  bewerben; 

4.  zur  Bewf>linbarniaehung  des  Schlosses  Buchsee  wird  die  Summe  von 
Fres.  3000  hewilligt  und  das  Bauamt  zu  Veranstaltung  der  nSthigen 

Tieparationen  ])eauftraüt ; 

5.  der  Oltrianitniann  Fraubrunnen  ist  zu  irsuc^lien.  einen  Projeet 
dabei  igen  Accords  auszufertigen  und  selbigen  dem  Finanzrath  zur 
Genehmigung  einzusenden. 

Die  BestiinniunG:,  dass  dus  Srhloss  in  MiinchenbiK'lisce  nur  auf 
ein  Jahr  )»ewillin^t  sei,  dass  jedes  Jahr  um  diese  Begiinstiguu«:  wieder 
neu  geworben  wt-rden  müsse,  erregte  Pestal(»zzi's  T^nwillen  und 
weckte  in  ihm  die  Besorgnis,  tliese  prekäre  Stellung  ,,greile  auf  der 
einen  Seite  dem  Credit,  den  die  Anstalt  um  sicli  her  habe  benutzen 
müssen,  ans  Herz,  und  stehe  auf  der  andern  Seite  jedem  wirtbchait- 
lichen  Zutrauen,  das  angebahnt  werden  sollte,  entgegen". 

Nochmals,  wenn  auch  ungern,  griff  er  zur  Feder,  um  durch  kunse 
Darlegung  seiner  Verhältnisse  eine  Ändening  zu  bewirken  und  zu 
erreidien,  dass  die  Begiemng  ihm  „den  Sitz  in  Buchsee  fUr  einige 
Jahre  zuzusichern  geruhen  mOge". 

„Mitten  in  meiner  Laufbahn" ,  sagt  er  u.  a.  in  der  letzten  Eingabe  an 
die  Behörde  in  dieser  Sache,  w^^rli^i*^  i^'^^  jetzt  eine  Pension  von 
Frcs.  1600;  ich  verliere  eine  von  Eres.  800  für  meine  Lehrer.  Der 
mir  zugesichert \"ortheil  von  Seite  der  Regierung  zur  Organi- 
sation <lt'.s  schweizerischen  Schullelirerseniinariunis  geht  mir  ver- 
loren. Die  Hoffnuug,  durch  Regierungsmassregeln  eiuen  grossen 
Theil  meiner  Elementarbücher  verschleissen  zu  können,  ist  dahin 
und  selber  das  Privilegium  für  meine  Schulbtteher,  wenn  sie  nir- 
gends eingeführt  werden,  ist  nur  ein  scheinbarer  Vortheü,  und  ich  sehe 
mich  mitten  in  der  schönsten  Laufbahn,  die  vielleicht  je  ein  Mensch  fiir  seine 


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—  89  — 


Mitbiü-ger  betivt»^n,  von  meinen  A'orsr'liüs^en  und  Anfopft^run^en  nieilt-ruedrückt 
und  aller  Vortlieile  g-au/c  ])eianbt.  die  ich  von  meiner  Unterneiiniun^-  habe 
hüffeu  diii-teii.  Ich  weis«  ja  wol,  dass  ich  die  Fortsetzung-  von  Massregehi, 
w«ldie  die  helvetiBehe  Regierang  für  das  allgemeine  Vaterland  er- 
neuert hStte,  nieht  von  dem  Canton  Bern  erwarten  darf.  Aber  bei  dem 
ganz  allgemeinen  StUlstellen  aller  von  der  hetvellBcben  Begiernng  za  meiner 
BegSnatlgiuig  genommenen  Massi-eg^eln,  bei  dem  Verlort  so  vieler  und  so  grosser 
fikonomischer  Vortheile.  bei  der  benimenden  Verwirrung,  wodurch  nothwendig 
der  Credit,  den  mein  Haus  unt*>r  den  vorisfen  Umständen  jrehabt  hat  und  jetzt 
noch  mehr  haben  sollte,  srefjihrdet  wird,  glaube  ich  J[.  Hh.  Cr.  H.  werden  es 
nicht  liir  Unbescheidenlieit  lialteu,  wenn  ich  Hochdieselben  eluerbietig  bitte, 
die  OeCuhren,  denen  ich  ausgesetzt  bin,  dadurch  zu  müdem,  dann  Sie  mir  das 
Schloss  Bnchsee  fftr  einige  Jahre  flberlassen,  damit  meine  Unternehmung 
wenigstens  von  dieser  Seite  nicht  als  ganz  unznverlfisslg  das  ndthige  Zntranen 
Yerlierc.*' 

Dieses  Gesuch  blieb  jedoch  nnberflcksichtigt,  "wie  auch  die  nach- 
trSgliche  Bitte  mn  Zntheüiiiig  einiger  Fflanz^tze  fttr  Gtemüse.  Als 
der  Regiemngsbeschliiss  Yom  22.  Februar,  allerdings  erst  nach  Mitte 
Ittrz  und  mehr  gerftchtweise,  unter  den  Einwohnern  Burgdorfs  be- 
kannt wurde,  erzeugte  er  Niedergeschlagenheit  und  Missstunmung 
g^gen  den  Stadtrath,  der  aus  Furcht,  der  Greis  Pestalozzi  (er  zählte 
damals  58  Jahre)  könnte  bald  sterben,  dann  wären  die  flir  seine  An- 
stalt gebrachten  Opfer  verloren,  eine  sehr  reservirte  Haltiin^j  biü  dahin 
eingenommen  hatte. 

Eine  Znschrift  vom  21.  März,  du^  \on  50  der  angeselieiisten 
Büij^er,  darunter  Altstatthalter  Schnell  nnd  Dr.  Grimm,  unter- 
zeichnet war.  forderte  den  Stadtrath  zu  eueririschereiu  Vorgfehen  auf. 
„Man  habe  zwar  gehört,  dass  derselbe  vor  verschiedenen  AN'ochen  be- 
schlossen habe,  einen  Versuch  zu  machen,  ob  ni(*ht  dem  Herrn  Pesta- 
lozzi die  Bewolmung  des  Schlosses  noch  für  so  lange  gestattet  werden 
möchte,  bis  in  der  Stadt  ein  für  dieses  Institut  schickliches  Gebäude 
eingerichtet  sein  werde.  Seither  seien  Wochen  verstrichen,  aber  man 
habe  keine  Anstalten  vermerkt,  die  anf  diesen  Zweck  abzielen  könnten. 
Man  glaube  im  Gegentheil  Ursache  zu  haben  zu  yermuthen,  dafs  seit- 
her keine  dahin  zielenden  Schritte  gethan  worden  seien,  und  doch 
rücke  die  Zeit  Immer  näher  heran,  die  dem  Herrn  Pestalozzi  zur 
Räumung  des  Schlosses  anberaumt  sein  soll" 

Dann  madien  die  Petenten  auf  die  Folgen  aufmerksam,  die  ein- 
träten, „wenn  anf  einmal  von  einem  kleinen  Örtlein  wie  Burgdorf  bei 
150  Personen  ausziehen  und  der  daherige  Verdienst  und  Nahrungs- 
erwerb verloren  ginge^  Sie  sind  überzeugt,  „dass  es  möglich  wäre, 
äne  passende  Wohnung  für  den  Oberamtmann  zu  finden.  Miyor  Dfirig 


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—   90   — . 

oder  Ratbsherr  Faukhauser,  der  eine  oder  der  andere,  düifte  leicht 
zii  bestimmeu  sein,  sein  Haus  fiir  diesen  Zweck  zu  überlassen.  Die 
Stadt  würde  einen  genuji^sanieu  Hauszins  bezahlen  nnd  unterdessen 
für  die  pestalozzisclie  Anstalt  eine  ^^eräumige  bequem  gelegene  Woli- 
nung  zurecht  machen  und  so  einrichten,  dass,  wemi  im  Verfolg  diese 
Anstalt  eingehen  sollte,  solche  nichtsdestoweniger  zu  einem  andern 
gemeinnützigen  Endzweck  ohne  Veräudening  verwendet  werden  könnte. 

„Die  Bürg-erschatY",  so  schliefst  die  Petition,  „ist  Einen,  wolgeehrte 
Herren,  sehr  (lankbnr  fiir  die  Autmcrksainkeit.  die  Sio  auf  Verbefsscru  ii  <r 
der  Strasse  von  hier  über  Lang-eiir  lial  verwenden,  wodurch  Si»-  .-iiicji 
stiirkeren  Fuss  nach  liiesigem  Ort  und  also  aucli  mehrei*en  Verdienst  tür  die 
Bürger  zu  erzielen  hoffen,  wozu  Sie  denn  aiteh  keinen  Kostenaufwand 
sn  Bcheaen  scheinen.  Allein  diese  Absicht  mSchte  auch  so  gat  ansfoUen, 
wie  sie  immer  erwartet  werden  könnte,  so  wflrde  es  bei  weitem  nicht  den 
Verlost  ersetzen,  den  Bnrgdorf  durch  die  Verlegung  der  pestalozzischen  An- 
stalt an  einen  andern  Ort  erlitte. 

„Es  p-ehet  also,  wolgeehrte  Herren,  der  alle-enieine  Wnnf^ch  und  Bitte 
Ihrer  Mitbürger  dahin,  dass  Sie  Tlireni  im  Eingantr  anjr('Z<>i,M  iH  n  Heschluss  ^n»- 
mUfis  sowol  hei  der  Regierung  als  bei  dem  ilerru  Obeninitmann  durch  dringende 
Vorstellungen  der  Lage  nnd  Armnth,  in  welche  die  Bürgerschaft  sonst  noth- 
wendig  gerathen  mfissfee,  trachten,  es  dahin  zu  bringcB,  dass  dem  HeiTn 
Pestalozzi  die  Bewohnnng  des  Schlosses  noch  für  Ifingere  Zeit  gestattet» 
indessen  aber  dem  Herin  Amtmann  eine  gerftumige  und  bequeme  Wohnung 
verschaffet  und  dem  Herrn  Pestalozzi  ungesäumt  ein  bequemes  und  an- 
ständiges (iebiln  für  sein  In>^titnt  eingerichtet  werde  und  die  Bürgerschaft  noch 
länger  den  von  daher  tliessenden  Verdienst  ireniesseu  kimne." 

Dureh  Schnell  Hess  der  Stadtrath  Pestalozzi  fragen,  ub 
er  in  Burgdort  zu  bleiben  geneigt  sei,  wenn  die  vini  der  Bürgei*schaft 
verlangten  Schritte  zum  Ziele  führten  und  ihm  in  nicht  gar  langer 
Frist  ein  zweckmässiges  Unterkommen  angeboten  werden  konnte. 

Die  Antwoit  Pestalozzi's  lautet: 

„Insonders  hochgeehrter  Herr! 
Theuerster  Freund! 
Es  ist  mit  Wehmutli,  dass  ich  —  nein  —  und  unbedingt  nein  sagen 
muss.  Ich  weiss  es,  die  Stadt  Burgfdoj  f  ))edart'  Erziehun^r  nnd  \'ridit  nst.  Es 
sind  nur  die  \'urznfre  der  besseren  Einriclituniicen  tlir  Cultui-  und  was  für  sie 
Wert  hat,  was  die  Stadtbewohner  über  die  Landbewohner  wirklich  erheben 
kann.  Aber  mdstens  sind  die  Einflnss  habenden  Stadtbewohner  uDBers  Vater- 
landes iiber  diese  wesentUehen  Fundamente  des  städtischen  Wohrtandee  ganz 
gleichgültig  nnd  bekiimmem  sich  nicht  dämm,  den  Bürgerstaad  in  Rficksicht 
auf  I'iMiin^-  uud  Selbstständigkeit,  noch  im  Allgemeinen,  unter  den  Land- 
bewolinei  Iiinabsinken  zu  lassen.  "Was  wollen  wir  sagen,  der  Geist  eines  ere- 
sunden  und  redlichen  Emporstrebens  tnid  eines  vaterlilndischen  gegenseitigen 
Handbietens  in  diesem  gesunden  und  redli(hen  Emporstreben  ist  in  unserer 
Mitte  verschw  luiden.   Jeder  will  in  seiner  Selbstsucht  lülein  sein  und  täglich 


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b<^küumieni  sich  weiiiprer  Menschcii  um  das  Ganze.  —  Es  war  mir  wo]  in 
Burgdorf.  und  ich  freute  mich  oft.  zu  hoffen,  dass  mein  Dasein  der 
Stadt  nicht  uur  eineu  vorübergehendeu  Xutzeu  gewälireu,  soüderu 
auch  für  die  Zakanft  wesentlich  Tortli eilhaft  sein  kSnnte.  Aber 
diese  Traume  sind  verschvmnden.  Man  mnss  das  Eisen  schmieden,  weil 
es  warm  ist.  Man  hätte  sicli  beeifem  sollen^  der  oberkeiüiehen  Anfforderang, 
dem  Herrn  Obtramtmann  eine  AVohnung  in  Burg^dorf  zti  verschaffimy  eilends 
einGenütre  zii  leist.n:  ii  h  hätte  dann  sicher  hier  bleiben  können.  Aber 
jetzt,  da  <ler  .Sitz  des  Obcranitnianns  bestimmt  und  in  Buclisee  das  Nöthi^rc. 
mich  daselbst  aufzunehmen,  veranstaltet  worden,  und  Hebendem  unbedingt  un- 
möglich ist,  das  meinem  Hans  nothweudige  Lucul  uustiudig  zn  machen,  so  Ist 
es  beinahe  nnbegreillieh,  dass  man  jetzt  noch  an  mich  gelangen  lasse,  dennoch 
hier  ta  bleiben.  Ich  kann  nicht!  Es  ist  mir  nicht  mdglich  zn  machen, 
dass  ich  kann  —  und  man  hatte  so  lange,  als  man  es  hätte  möglich 
machen  können,  es  nicht  einmal  wollen.  Was  die  Stadt  thun  kann  und 
wa«  sie,  wenn  sie  für  ihre  Xachkonimen  Krziehungs-  und  Erwerbslialber  \or- 
^rhn]\<s  thnn  will,  nocli  thun  kann,  ist.  dieses  nnabhaiigmd  von  meinem  Wes:- 
zielun,  ein  Haus,  das  für  eine  gro-sse  Pension  brauchbar  ist,  zn  erbauen,  und 
.wann  dieses  geachehen,  dann  einem  jungen  Mann,  der  diesem  Geschäft  gewachsen, 
Antrttge  znr  Errichtung  einer  von  der  Stadt  begfinstigten  Pension  zu  machen, 
leh  versichere  Urnen  smn  Voraus,  dass  ich  dieses  Project  mit  allem,  was  in 
meiner  Hand  ist,  onterstiitzen  werde. 

„Bezeigen  Sie  indessen  jedem  Ihier  Mitbüiercr  meinen  warmen  T)ank  für 
den  ^iten  Willen,  den  sie  für  die  Erhaltung  meines  Instituts  in  ihrer  Mitte 
zeigen.*' 

Damit  war  nun  die  Frago  flher  den  kiinftigen  Sitz  der  pe.sta- 
lozzisclien  An.stalt  deriuitiv  erledigt.  Die  drei  folgenden  .Monate  bis 
zum  Umzug  zählten  nicht  zu  den  augenelnneren  des  Burgdorfer  Aufent- 
halts. Das  Bewusstsein.  dass  Burgdorf  niclit  melir  die  Heimat  .sei, 
der  künftige  Wohnsitz,  weil  nur  auf  ein  Jahr  zugesichert,  kaum  eine 
solche  in  beruhigendem  Sinne  werde,  unter  allen  Umständen  aber  bei 
veränderten  ftiÜJBeren  Verhältnissen  sich  gar  Vieles  anders  gestalten 
d&rfte,  als  man  es  da,  wo  die  Anstalt  geboren  und  herangewachsen 
war  and  sich  ihre  Grewandung,  ihren  inneren  und  äusseren  Haushalt 
selbst  geschaffen,  gewohnt  gewesen  war  und  sich  gleichsam  angelebt 
hatte,  machte  sich  überall  geltend,  erzeugte  Unmhe  and  Besorgnis, 
erweckte  das  Gef&hl  des  Fremdseins  nnd  lockerte  die  bisher  so  in- 
timen Beadehnngen  zn  den  Bewohnern  Burgdorfs.  Bei  dieser  Stimmung 
ist  es  begreiflich,  daTs  man  die  Tage  der  Übersiedelung  gerne  rasch 
herannahoi  sah,  da  diese  wieder  wenigstens  fftr  die  nächste  Zeit  das 
GefUd  einer  gesicherten  Existenz  znrttckgeben  konnte. 

Da  Pestalozzi  die  definitive  Zusichming  des  Schlosses  Bnchsee 
auf  eine  Beihe  von  Jahren  nicht  hatte  erlangen  kOnnen,  so  hielt  er 
die  Ten  Iferten  mit  ihm  angeknüpfte  Verbindung  aufrecht,  reiste  am 


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2l\  Mai  hin  und  erliit^lt  das  Versprechen,  die  Stadr  wi>lle  das  dem 
r.-iiiton  zustehende  Schlnss  zu  Tt'erten  zu  Kiirentliuni  erwerlMMi.  um  es 
iliin  unentg^eltlit  li  zur  Benutzung  zu  übedassen,  soteni  er  eine  Er- 
/ieliungsanstalt  darin  zu  etabliren  sieh  entschliesse.  Aut  die  Aussicht 
hin,  di«'  er  dem  Stadtrath  in  dieser  Sache  eröÖ'nete,  erwarb  die  Stadt- 
gemeinde  am  o.  Juni  1804  das  Schloss  mit  nächster  Umgebung  um 
44,870  frcs.  und  Hess  am  22.  Juni  Pestalozzi  einladen,  das  angekaufte 
Gebäude  in  Augenschein  zu  nehmen  und  ailfallige  Wünsche  &ber  die 
innere  Einrichtung  desselben  kund  zu  geben. 

In  eben  dieser  Zeit  begann  der  Umzug  nach  Miinchenbuchsee, 
der  begreiflich  mehrere  Tage  dauerte.  Am  22.  Juni  fnhr  der  letzte 
Hdbelwagen  dahin  ab;  ihm  folgten  die  Zöglinge  nnter  derFtthmng  von 
Tobler  nnd  Erttsi.  Pestalozzi  war  schon  in  Bnchsee,  kehrte  aber 
an  diesem  Tage  zum  letzten  Mal  nach  Burgdorf  zurQck.  Von  Türk 
aus  Mecklenburg,  der  an  eben  diesem  Tage  in  Burgdorf  eintraf,  sah 
die  Anstalt  abziehen  und  folgte  in  Begleitung  Niedereres  gleich  nach. 
Unterwegs  traf  er  mit  dem  zurflckkehrenden  Pestalozzi  zusammen. 
Über  diese  Begegnung  berichtet  er  also: 

„Knrz  vor  Hüidelbauk  sahen  wir  einen  \\'ageii  koiuiueii.  Weun  das 
Pestalozzi  wäre!  säurte  ich  zu  meiuem  Begleiter.  Er  ist's,  erwiderte  er. 
Der  Wagen  war  bei  ans;  er  hielt  an,  Pestalozzi  sprang  heraus;  er  nmarmte 
mich  —  es  war,  als  hatten  wir  uns  schon  Jahre  lang  gekannt.  Ich  inusste 
mit  ihm  in  den  Wagen  steigen,  sowie  mein  Reisegeftlhrte .  nm  nach  Bnrgdorf 
zurückzukehren.  Er  w;ii-  heiter  und  sehr  verirnügt  darüber,  dass  er  mit  den 
Seinen  von  Burgdorf  nach  Ihu  hsee  wandeni  konnte,  ohne  Jemandem  etwa.s 
.*:cliuldig-  zu  sein.  Freund,  es  (^eht,  es  y-eiitl  —  sayte  er  zu  mir.  mit  einem 
Ausdruck  —  nun,  man  muss  dieses  lebhafte  Auge,  diese  Züge  einer  unei'schütter- 
lieh^  Gntmüthigkeit,  welche  allen  Stfirmen  des  Schicksals  widerstand,  gesehen 
haben,  nm  diesen  Ausdruck  sich  vorstellen  zu  können.  Noch  sah  ich  In  keinem 
menschlichen  Gesidit  etwas  Ähnfiches." 

Alle  drei  blieben  in  Burgdoif  über  Nacht;  KrUsi  kam  auch  noch 
von  Bnchsee  her.  Am  23.  Juni  machten  sie  am  Vormittag  einen 
grösseren  Spaziergang  nach  Kirchberg,  Nachmittags  „besuchten  sie 
das  Schloss  noch  einmal,  um  von  ihm  Abschied  zu  nehmen.** 

„Heute  Mhe,  d.  h.  den  24.  Jnni'^,  so  erzfthlt  v.  Tflrk  weiter,  „brach 
die  letzte  Caravane  von  hier  nach  Bnchsee  anf.  Da  ich  mich  nnn 
schon  als  ein  Glied  des  freundschaftlichen  Zirkels  betrachten  durfte,  den 
Pestalozzi  nnd  die.  so  mit  ihm  arbeiten,  bilden,  fso  schloss  ich  mich  an.  Meine 
Bag-age  war  hingst  voraus.  T'estalozzi.  Krüsi  und  Niederer,  die  jetzt 
Burgdorf,  das  ihre  .sLhönsren  Hortnung-ou  hatte  entstehen,  wachsen  und  heran- 
reifen sehen,  auf  immer  verlassen  sollten,  hatten  nicht  ihre  gewöhnliche  Heiter- 
keit —  der  Abschied  war  ihrem  Henen  schwer.  Gegen  fOnf  Uhr  zogen  wir 
ans.  Es  war  ein  schSner  Sommermorgen  und  unter  traulichen  Oesprftchen 


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—  93  — 


wTirdon  uns  die  8  Stiimleii,  welclie  wir  zu  machen  hatien.  m  kurz,  dass  wir 
iiocli  weit  v<»n  Buchsee  zu  sein  wähnten,  als  es  sich  unsenn  Au^re  sclion  dar- 
stellte. Der  Empfang  war  herzlich,  und  die  Knaben  hingen  an  Pestalozzi 
mit  einer  Zärtlichkeit,  mit  einem  Zutrauen,  wie  SQlme  an  einem  guten  Vater. 
Von  den  Lehrern  fanden  wir  keinen  als  Tobler.  Bnss  nnd  Barrand  waren 
mit  einem  Theil  der  Zöglinge,  grQsstenthefls  ans  dem  Canton  Leman  (Waadt), 
in  die  Gegenden  am  Genfw-  nnd  Nenenbnrgei-see  gereist,  von  Knralt  mit 

einigen  anderen  nach  Lausanne.    Pestalozzi  selbst  wollte  ins  Aargau  

Ich  hatte  srewünscht.  im  Institut  zu  woliuen,  und  die  wuckere  Hausfrau. 
Pe!«talozzi's  S<hwiegertocliter  (sf-ln  Sülm  starl»  in  der  Blüte  (1<t  .lahre  .  ver- 
siaitete  es  mir  gerne.  Ohne  den  Beistand  dieser  seltenen  Frau  würde  l'esta- 
lozzi  das  Institat  in  Bnrgdorf  nicht  haben  erhalten  können.  Sie  war  allen 
ZBglingen  zftrtUehellntter,  lie  pflegte  die  Kranken  nnd  sorgte  für  die  Gesunden. 
Dabei  besorgte  sie  die  ganse  grosse  Wirtschaft  mit  POnktlichkeit,  mit  strenger 
Sparsamkeit  und  doch  dabei  mit  einer  so  liebevollen  GntmUthigkeit,  dass 
L<^hrer  und  Ziiirling-e  sie  iiinic:  liebten  und  achteten  und  ihre  Anordnungen 
penie  lief(djrten.  Auch  in  den  trüben  Stunden,  wenn  Pestalozzi  nicht  wus.ste. 
woher  Brot  nehmen  für  seine  zahlreiche  Familie  auf  den  kommenden  Tag.  die 
kommende  Woche,  auch  dann  verlor  sie  den  Muth  nicht;  sie  bot  vielmehr 
sSes  aaf,  es  zn  Yerhindem,  dass  jene  Verlegenheit  nicht  sichtbar  oder  eigent- 
M  fühlbar  werde." 

Am  Nachmittag  dieses  24.  Juni  1804  ging  Pestalozzi,  erhaltener 
Rililaitiing  gemäss,  nach  Franbrannen,  dem  Hanptorte  des  Amts- 
bezirks, wo  er  anf  der  Amtsstube  des  Oberamtmanns  folgenden  V er- 
trag imitrzeichnete: 

jjPacht-Accord  um  das  Schloss  München-Buchsee. 
„Zn  wissen  sei  hiemit,  dass  M.  Hg. Herren  des Finansrathes  gütigst  ge- 
ruht haben,  dem  Herrn  Pestalozzi,  Lehrer  an  dem  bisher  im  Schloss  Bnrg- 
dorf etablirt  gewesenen  Institut,  zur  Verlegung  desselben,  das  Schloss  München- 
bnchsee.  sammt  dem  zur  Wohnung  eingerichteten  neuen  Komhaiise  und  dem 
Schlosshof  unentgeltlich  anzuweisen.  Die  Zeit  dieser  Benutzung  haben  Hoeh- 
dieselben  bestimmt  tür  ein  Jahr,  von  Jacobi  1804  bis  j^leiche  Zeit  1805. 
<i.i  denn  es  dem  Herrn  Pestalozzi  überlassen  sein  soll,  vor  Auslauf  dieses 
Jalires  um  Fortsetzung  dieser  Vergünstigung  sich  wieder  zu  bewerben. 

•Zn  der  Bewohnnng  dieser  Oebftnden  werden  ihm,  Herrn  Pestalozzi, 
asBoeh  ebenfalls  zn  nnengeltlicher  Benntznng  ftberlassen  die  Schlossgttrten, 
Büt  Aosnahme  des  zur  Pfnind  (d.  h.  zum  Pfarrgarten)  geschlagenen  Capuziner- 
gartens,  nnd  ohne  fernere  Pflanzplätze,  auch  ohne  Znschuss  von  Brennholz.  — 
Hinjregpn  verpflichtet  sich  Herr  PestaU.'/zi.  zu  diesen  ihm  anvertrauten  Ge- 
l'äaden  nnd  Zu^ehörden  KUte  Sorce  zu  trairen  und  s(dche  in  reinlichem  und 
gutem  Zustand  zu  unterhalten.  Bim  liegt  litsuiiders  die  FuterlialtunL--  der 
Dadiongeu  wählend  dei'  Dauer  der  vergünstigten  Aceord-Zeit  ob  und  nach 
Ablanf  derselben  hat  er  sowol  die  Dachnngen  als  die  übrigen  verpachteten 
Qebünde,  Gärten  nnd  Effecten  in  gleich  gutem  Znstand  wie  empfangen  zn 
fibergeben.  Die  zn  den  verlehnten  Gebäuden  gegebenen  Effecten  sind  folgende: 

ein  tannener  doppelter  Schaft  (Kasten,  Schrein)  mit  Schubladen; 

eine  Glocke,  wiegt  37  Pfd.; 


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ein  frrosser  kul»f^*rnol•  Hauclikessel  (d.  h.  Waschkessol ): 
eine  Kaclielbank  ( Kadiel-Küchenia^e.schiiT,  Scliüssel)  sammt  Scliäfti  ^^Kästclieu); 
ein  Schaft  im  Erdgeschoss,  in  No.  1. 
Za  ürknnd  ist  dieser  Acoord  von  Mm.  H.  Herren  Oberamtmaon  Kirch- 
berger  anf  Franbnumen  Namens  Mr.  Hg.  Herren  des  Finanzrathes  Tom  Canton 
Bern  —  nnd  dem  Herrn  Pestalozzi  eigenhändig  nnterschrieben  und  mit 
beidseitigen  Siegeln  vei"selien  worden. 

So  beschehen  im  Scliloss  Fraubronnen  am  24.  Juni  18()4. 

Der  Oberauitmann: 
Kirchberger  v.  Mont. 
Pestalozzi." 

Nach  3  \\'ochen  kelirten  die  obengenannten  Lelirer  von  iliivn 
Ausflügen  zurück  und  der  Uiitemcht  nahm  wieder  seiueu  georduelea 
Jj'ortgang. 

Auf  die  nun  abgeschlossene  Bui'gdorfer  Periode  dwfte  Pestalozzi 
mit  Befriedigung  zurückblicken. 

^.Tahre  lang",  so  sclirieb  er  einem  Freunde,  „h<3ite  das  peinigende  Ge- 
(Irilng  irdischer  Sorge,  durch  das  wir  unser  Lehen  fristeten,  nicht  auf.  Ahor 
ich  überwand  da.s  peiiiisfondi' (iedräng,  und  die  Liehe  unserer  ^'erei^i^^u  ng 
blieb  rein  und  unser  Werk  blüiite.  Bnufren  Sie  sich  die  Stufen  dt\s 
Holms  und  der  Verachtung,  die  ich  diese  Jahre  durchwandern  niusste,  ins 
Gedächtnis  znrttck,  denken  Sie  sfcdi  die  Wetten,  die  von  Vierteljahr  zu  Viertel- 
jahr gemacht  wurden,  dass  es  also  nnmSglich  gehen  kOnne,  dass.  ich,  wenn  ich 
auch  noch  einmal  mehr  Ressourcen  hätte,  bei  der  Art,  wie  icli  lebe,  dennoch 
zu  Grunde  gehen  mfisse.  Aber  dennoch  ging  es,  dennoch  ging  ich  nicht 
zu  Grunde.  Indessen  musste  ich  jetzt  von  Bur^rdorf  weg,  AVas  das  ist.  aus 
einem  noch  neuen  Etablissement  ausgestossen,  alle  Liaison.s  und  Localressourcen, 
die  angebahnt  waren,  zu  verlieren,  gleichsam  wie  eine  plötzlich  autliürende 
Handlung  unvorbereitet  auf  einmal  mit  Jedermann  saldii'en  und  Jedermann 
zahlen  zu  mfissen  —  wer  weiss,  was  das  ist,  wird  dieHoifiinng  meiner  Feinde, 
dass  ich  bei  diesem  Ehrenanlass  glflcklich  noch  zu  Grunde  gehen  müsse,  selir 
natiirlich  finden.  Doch  ist  nichts  von  allem  dem  geschehen:  ich  hin  nicht  zu 
Grunde  gegangen:  ich  habe  meinen  Geschilfteu  allgemeine  Ehre  an- 
gethan  und  habe  mich  in  der  Lage  gefunden,  Fonds  in£  Etablissement  in 
Budisee  zu  bringen." 


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Unsere  Baaernwelt  und  die  Studien  über  Sprache  and  Wesen 

des  Volks. 

FoN  WmiMd  Xagl'Wiin. 

in. 

Ein  Proi^ramiii  für  die  tliat sächliche  ] nan<rriffnalime  und 
praktische  Verwertung  der  Dialect-  und  Volksstudien  in 

näclister  Zukunft. 
Unter  specieller  Bücksiclituahme  auf  unsere  Lehrerschaft 

nun  der  Bauernstand  in  seinen  lieuti^^cn  Kämpfen  um  eine 
vollere  öft'entliclie  (Geltung:,  um  ein  mensclienwürdiges  Dasein  unter- 
liegt oder  sich  behauptet,  in  jedem  Falle  bedaif  er  der  s^eistigen  und 
sittlichen  Ausl)ildunir.  der  Verv(dlk()mmnung  und  Ent Wickelung  seiner 
immanenten  Anlagen,  der  Hebung  und  Kräftigung  des  echt  bäuer- 
lichen Elementes.  Denn  unterliegt  er  in  seinem  Kampfe  nach  aussen 
hin,  so  kann  er  nur  durch  inneie  Kräftigung,  durch  Läuterung 
seines  ethischen  und  intellectuellen  Zustandes  vor  jener  zum  Verderben 
prädesünirenden  Stumptheit  und  Abspannung  gei-ettet  werden,  welche 
einer  vereitelten,  letzten  und  verzweifelten  Anstrengung  zu  folgen 
pflegt.  Er  würde  dann  ohne  diese  innere  Stütze  die  Freude  am  Da- 
sein, den  Mut  zur  Arbeit,  die  Neigung  zum  Landleben,  die  aus  geistigi*r 
Rührigkeit  und  Frische  resnltirende  Umsicht  in  Führung  der  Wirt- 
schaftBangelegenheiten  ganz  und  gar  veriieren,  was  mit  Verftnsserung 
da*  Landgfkter  an  einzelne  Capitalisten,  mit  der  Depossedimng  des 
heutigen  Banernstammes  enden  mflsste.  —  Erringt  sich  aber  der 
Bauer  eme  bessere  öffentliche  Stellung,  dann  bedarf  er  nicht  mindei* 
der  Schulung  und  Ausbildung  seiner  KrSfte,  um  richtig  und  niach- 
drOckUch  vorgehen  zu  kOnnen,  um  seine  neue  Lage  zum  Besten  des 
Gflsammtstaates  auszunfitzen  und  nicht  verführerischen  Einflüssen  zum 
Opfer  zu  fallen. 


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—    90  — 

Schnelle  Hilfe  ist  daln  r  »  in  tlri n «^endes  Bedürfnis.  Wie 
Süll  sie  in  nächster  Zukunft  schon  dem  i^auernstande  weiden? 

Schon  oben  habe  ich  benieikt,  dass  die  Dialect-  und  Volksstudien 
neben  der  thenreiisclien  auch  eine  eminent  praktische  Bedeutung  haben. 
Hier  wollen  wir  sehen,  wie  diese  praktische  Bedeutung  auf  die  geeig- 
netste Weise  lealisii-t  werden  kann. 

Ks  ist  bereits  eine  ganz  beträchtliche  Literatur  vorhanden,  welche 
die  über  das  Volksleben  bisher  gemachten  Beobachtungen  in  populärer, 
den  Bauern  nützlicher  Weise  verwertet.  Vor  allem  vervreise  ich  auf 
die  Schriften  Koseggei*s,  welcher  durchaus  den  Zweck  verfolgt,  die 
sittlichen  und  geistigen  Zustände  seiner  bäuerlichen  Landsleute  auf- 
zudecken und  zu  bessern,  respective  die  gebildete  Welt  zur  Abhilfe 
aufEufordem.  Sein  „Heimgarten"  darf  in  dieser  Hinsicht  als  ein 
wahrer  Schatz  bezeichnet  werden. 

Aber  diese  Literatur  ist  dem  Bauer  nicht  erschlossen.  In  d^ 
Schule  wird  Sun  an  Literatur  nur  „Olassisches^  in  der  Kirche  nur 
Frommes  ttbeiinittelt,  und  was  erst  eine  eigentiich  und  wirklich  be- 
lebende Wirkung  auf  seinen  Geist  ausQben  wOrde,  das  Heimische, 
Nationale,  —  das  wird  von  ihm  fem  gehalten. 

Übrigens  ist  der  Bauer  kein  Freund  vom  Lesen;  ich  ärgere 
mich  immer,  so  oft  ich  von  Broschüren  h5re,  welche  zur  Aufklärung 
des  Bauemrolkes  diesem  in  die  Hand  gegeben  werden  sollen.  Glaubt 
man  denn,  der  Bauer  soll  sechs  Tage  arbeiten  und  sich  am  siebenten 
mit  einem  Büchel  in  einen  Winkel  setzen  und  sich  dort  mit  dem  ihm 
ungeläufigen  Lesen  maltraitiren? 

Ich  glaube  eine  andere,  bessere  Art.  als  das  Zuschicken  gut- 
gemeinter Druckschriften  ist,  anrathen  zu  sollen,  um  die  immer  mäcli- 
tiger  heranwachsende  Volkslitei-atur  in  ihren  besten  .Kepräsentiuiteu 
dem  Volke  vertraut  zu  machen. 

Der  Bauer  hat  Sonntags  keine  öft'entliche  Unterhaltung.  Der 
Wiltshaustisch  ist  alles,  was  ihm  diesbezüglich  geboten  wird. 

Man  sollte  in  jedem  ;jrösseren  Dorfe  wenigstens  einmal 
des  Monats  —  im  Winter  öfter  —  für  die  Bauern  eine  Unter- 
haltung veranstalten. 

Diese  Unterhaltung  mttsste  im  Vorsingen  und  Vorlesen  volks- 
thümlicher  Piecen  bestehen.  Ich  «lenke  mir  die  Sache  so:  eine  Er- 
zählung mit  entsprechender  Tendenz  oder  ein  populärer  Vortrag 
mtisste  den  Kern  der  ganzen  Unterhaltung  bilden.  Zur  Einleitung 
und  als  Schluss  wäi'en  diabetische  Gedichte,  Schwänke,  auch  Liedei* 
vorzutragen,  um  den  amüsanten  Charakter  einer  solchen  Zusammen- 


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—   97  — 


kauft  ^'egtuübt^r  dem  —  aUei'diugü  wichtigeren  —  belehrenden 
mehr  zu  betonen. 

Ich  werde  unten  begründen,  warum  ich  mir  gerade  die  Lehrer 
als  Veranstalter  solcher  Unterhaltungen  denke.  Hier  weise  ich  nur 
dannf  hin,  dass  die  Lehrer  meist  rnnsikaUscli  sind,  sicli  daher  leicht 
ner  oder  fünf  stimmt&chtige  Knaben  CNler  Mädclien  ans  ihrer  Schüler- 
schaft abrichten  könncDt  mn  mit  ilmen  die  nationalen  Ö8terreichis(*hen 
Volkslieder  —  vom  Jäger,  vom  Wildschfltzen,  von  dem  einrückenden 
Soldaten,  von  dem  Bettelmann,  der  gerne  auf  den  Kirchtag  ginge  etc 
—  mdmtimmig  an&oliihren,  selbst  anf  die  Gefohr  hin,  dass  das  alte 
mSmdt»  Lied  eist  zu  einem  Tensette  oder  Quartette  überarbeitet 
weiden  mfisste.  Soldie  Lieder  finden  sich  theilweise  sogar  mit  Noten* 
adnift  in  verschiedenen  Liedersammlungen,  so  bei  Tsehischka  und 
Schottkj  (1819),  bei  Schosser,  bei  Pogatschnlgg  und  Herr- 
nann  etc,  und  ein  fleissiger  Sammler  wird  im  Volksmunde  noch 
innwr  neue  und  bisher  unbekannte  Stfieke  entdecken  kiSonen. 

Ich  weiss  ans  Erfahrung,  welch'  riesiger  BeifaU  solchen  Auf- 
führungen und  Vorträgen  in  der  Bauerastube  entgegenschallt.  Es  ist 
ein  ungemein  erliebendes  Gefüld,  sich  dort  plötzlich  inmitten  froher, 
Iai:hender  Gesichter  zu  sehen,  wo  sonst  nui*  Sorge  und  siuniple  Ein- 
tönigkeit zu  Hause  ist. 

Diese  Lieder,  welche  gesungen,  die  Schwanke  und  Gcdiclite, 
welche  vorgetragen  werden,  und  welclie  insgesammt  den  amüsanten 
Charakter  der  hier  besprochenen  ZnsammenkUnite  zu  bethätigen  haben, 
können  und  sollen  sogar  dialeetisch  sein.  Der  Bauer  ist  ja  geneigt, 
alles  Diaiectische  als  „Dummheiten",  d.  L  Spässe  aofzufiissen,  —  und 
Spfisse  amasiren  ja. 

Aber  jener  Vortrag,  der  den  Kern  der  ganzen  Unterliaitang 
bildet  —  eine  Erzäldung  mit  lehrreicher  Tendenz,  eine  anziehend 
dorchgeiohrte  Abhandlung  über  irgend  ein  moralisches  oder  wirt- 
schaftliches  Capitel  soll  im  Allgemeinen  nicht  in  der  Mundart  ge- 
halten sein.  Einerseits  ist  es  der  Bauer  gewohnt,  ttberaU  dort,  wo  es 
„mm  Emst  gibf,  d.  i  wo  etwas  Höheres  gebieterisch  und  ernst 
SB  ihn  herantritt,  hochdeutsch  reden  zu  IAt&i;  so  in  der  Schule, 
ii  der  Kirche,  bei  Gericht  etc.  Das  Hochdeutsche  ist  also  an  sich 
schon  eine  pädagogische  Macht-  Andererseits  mOssen  wir  stets  den 
Endzweck  im  Auge  behalten,  den  Bauer  zur  hochdeutschen  Bildung, 
soweit  sich  diese  dafür  eignet,  herbehsul&hren,  ihn  für  das  Gemein- 
deutsche und  durch  dieses  für  die  Nation  zn  erziehen. 

Es  fragt  sich  aber,  ob  das  Hochdeutsche  schon  eine  eutsprechen(!e 

rmiwffiginnu  4.  Jahrf.  Hill  IL  7 


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—    98  — 


Stilart  ausgebildet  hat,  welche  den  Bauer  derart  anspricht,  dass  sie 
auf  ilm  ganz  oder  fast  so  unmittelbar  wirkt,  wit'  sein  Dialect,  — 
eine  Stilart,  die  sich  nicht  mit  ungewohnten  Wendungen  oft  durch 
mehrere  Sätze  liindurcli  seinem  Verständnisse  entzieht,  die  nlclit  die 
mundartlichen  Feinheiten  des  Ausdnicks  ignorirt  und  aussrhliesst, 
sondern  gerade  in  der  Vereinigung  populärer  (redankeuentwickelung 
mit  hochdeutschem  W'ortklange  ihre  Stärke  suclit. 

Das  sich  abschliessende  (Telehrtentlium  hat  eine  Sprache  für  sich 
ausgebildet,  die  den  Gelehrten  vollkonimen  genügt  und  mehr  als 
genügt;  die  deutschen  Dichter  habt^n  die  Sprache  gelenkig  und  ge- 
schmeidig gemacht,  eine  Fülle  hoher  Ideen  vei*standen  sie  in  schöne 
Formen  zu  giessen,  —  und  wer  sich  nur  in  der  Sphäre  dieser  Ge- 
lehrten- nnd  Dichterwelt  bewegt,  wird  gar  nicht  begreifen,  wie  man 
denn  an  der  allseitigen  Vollkommenheit  und  Ausbildung  der  hoch- 
deutschen Sprache  noch  zweifeln  könne. 

Aber  schon  der  aofinerksame  Prediger  auf  dem  Lande,  der  seine 
•  Zohdrer  begeistern,  rOhren  oder  strafen  wiU,  ftthlt  die  Nothwendigkeit, 
auf  Kosten  seines  scfanlgerechten  Hochdeutsch  dne  gute  Anzahl  bfta- 
rischer  Bedeweisen  in  seüie  Fredigt  mit  unterlaufen  zu  lassen.  Der 
junge  Student,  der  semen  bäuerlichen  Eltern  etwas  aus  seinen  Studien 
erzählen  will,  sieht  sich  gendthigt,  alle  die  Dinge  in  einer  ganz  andere 
fV>rm  zu  geben,  als  er  es  seinem  städtischen  StndiencoUegen  gegen- 
über thvn  würde,  ünd  wer  es  etwa  gar  yersudit  hätte,  mit  Papier 
und  Feder  in  der  Hand  ein  hochdeutsches  Lesestflck,  sei  es  auch  nur 
aus  der  so  einfach  geschriebenen  Bibel,  in  den  Dialect  zu  übersetzen, 
und  zwar  in  einen  echten,  kernigen,  stilgerechten  Dialect  —  dem 
.  wird  sich  auf  einmal  der  Gedanke  aufdrängen: 

,,.Ia,  ist  denn  der  Dialect,  in  welchem  ich  mit  Bauern  sonst  so 
gewandt  und  tliessend  nh^v  die  verschiedensten  Dinge  sprechen,  in 
welchem  ich  sonst  witzig,  reich  an  Kintanen,  derl),  herzlich  sein  kann, 
ist  dieser  Dialect  mir  phitzlich  abhanden  gekommen,  oder  ist  dieses 
einfache  Lesestück  unübersetzbai-? 

Nun,  der  gelehrte  ('bersetzer  lässt,  wenn  er  dieDifterenz  zwisclien 
hochdeutscher  und  bäuiiseher  Ausdrncksweise  nicht  überwinden  und 
Überbrücken  kann,  ganz  einfach  die  l'bersetzung  stehen,  —  er  braucht 
sie  ja  nicht;  auch  der  Bauer  thut  desgleichen:  wenn  das  Hoch- 
deutsche sich  von  seiner  Stilart  zu  viel  entfernt,  so  übersetzt  er  sicVs 
nicht,  es  wirkt  nicht  auf  ihn,  ja,  er  versteht  es  vielfach  nicht. 
Während  aber  dem  gelehrten  Übersetzer  aus  diesem  Mangel  kein 
Schaden  erwächst,  da  für  ihn  der  Dialect  zunächst  doch  nur  Luxus 


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—  99  — 


ist  und  er  sich  in  dem  eigentliclieu  Medium  der  Intelligenz,  im  Hoch- 
deutschen,  bewegt,  —  so  leidet  das  Geistesleben  des  Bauern  schon 
Mit  vielen  Jahrzehenten  unter  dieser  Differenz  zwischen  Culturapr»ch6 
ind  Volkssprache.  Überall  starrt  ihm  die  Bildung  in  fremder,  unza- 
ginglicher  Einkieidong  entgegen,  denn  es  ist  hente  eine  Ansnahme, 
weaa  ein  besonders  hierzu  talentirter  OeistUcber,  Lehrer  oder  Be- 
jmter  im  Verkehre  mit  dem  Volke  im  Ganzen  den  richtigen  Ton  trifft 
Und  doch  ist  es  gerade  ffir  jene  Stnfe  der  Entwickeinng,  anf 
welcher  der  Bauer  hente  steht,  dringend  nothwendig,  dass  nicht 
nur  dem  Geiste  durchwegs  Verständliches  zugeführt  wird,  sondern 
dass  diese  Geistesnahrung  zugleich  das  Gemftth  berfihre  und  die 
Saiten  des  Herzens  anstimme,  —  mit  anderen  Worten:  jeder 
Gegenstand  des  Wissens  soll  in  ansprechender  Yolksthümlicher  Form 
geboten  werden. 

Aber  jetzt  drängt  sich  uns  die  Frage  auf:  Wie  ist  denn  diese 
Tolksthümliche  Stilart  beschaffen?  Wo  findet  man  dieselbe,  um  sie 
sich  anzuei^en? 

Die  ersto  Frage  ist  liente,  wo  die  Stilart  erst  ihrer  KinführuiiG: 
in  die  Schriftsprache  harrt  und  daher  eben  beginnt,  (^ef^enstand 
ernster  Beobachtung  zu  werden,  scliwerlicli  vollständig  und  allseitig 
richtig  zu  beantworten.  Beachtenswerte  Versuche  sind  jedoch  in  dieser 
Hinsicht  schon  gemacht  worden,  —  ich  verweise  z.  B.  auf  die  inter- 
essanten Abhandlungen,  welche  mein  Freund  Schlinkert  in  diesen 
Bl&ttem  wiederholt  yerüffentlicht,  und  ich  wüsste  aus  Eigenem  kaum 
etwas  hinzuzufftgen. 

Die  andere  Frage  ist  mit  dem  Hinwds  auf  den  Dialect  beant- 
wortet Ich  schlage  daher  vor:  Volksschriftsteller  sollen  die  zur  Vor- 
lesung in  den  Banemstuben  bestimmten  Aufs&tze  zuerst  ganz  im 
Dialect  schreiben,  hierauf  mit  grosser  Genauigkeit,  fast  Wort  für 
Wort,  ins  Hochdeutsche  übersetzen;  für  den  Anfang  ist  es  gewiss 
besser,  zu  ängstlich  und  wörtlich,  als  zu  frei  zu  übersetzen.  Dieses, 
ich  mochte  sagen,  dialectgedachte  Hochdeutsch  wird  anftnglich 
Uttserm  schulmässig  gebildeten  Sinne  für  Sprache  und  Stil  ziemlich 
herbe  ei-scheinen.  Hat  aber  ein  Schriftsteller  viele  solche  tn)ersetzungen 
durchgeführt,  dann  entwickelt  sich  in  ilim  ein  gewisses,  der  Stütze 
dialektischer  Spracliformcu  nicht  mehr  bedürfemles  (Tpfiilil  für  die 
Anffassnngs-  und  Ausdrucksweise  des  Volkes.  ^  denn  diese  iniiss  ja 
in  sidi  ebenso  psychologiscli  rielitig  anirelegt  sein  wie  die  hoclideutsehe. 
Dieses  (Teluiil  wird  uni  so  kräftigei'.  ItestimnUer  und  richtiger  werden, 

je  mehr  Schriftsteller  in  gleichem  Sinne  zusanmienwirken,  sich  gegen* 

7* 


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—   100  — 


seitig  corrij^ireiid ,  ratheiid  und  ermimteriul.  Mit  einem  solclien  Ge- 
fiihle  ausgestattet,  wird  ein  Autor  dann  im  Stande  sein,  zu  unter- 
scheiden, was  allenfalls  aus  der  ganz  volksmässigen  Stilart  als  unschön 
oder  zu  Gunsten  einer  giösaeren  Gleichheit  mit  den  bisherigen 
hochdentsehen  Stilarten  ausgeschieden  werden  kann,  was  er 
vielleicht  aus  den  letzteren  ohne  Beirning  und  Störung  des  volka- 
thümlichen  Stües  in  seineArbeiten  einfliessen  lassen  darf,  anderer» 
seits,  inwieweit  er  anf  der  dem  Dialect  abgelaaschten  Stilisinmgsweise 
nothwendig  —  selbst  wo  dieselbe  ganz  Neues»  dem  bisherigen  Schrift» 
geschmacke  Zuwiderlaufendes  fordert  —  beharren  und  sie  in  ihrer 
unverfftlschten  Originalität  mit  aller  Ausdauer  aufrecht 
erhalten  mnss,  bis  die  Uterarische  Welt  selber  die  Schönheit,  Rich- 
tigkeit und  Zwedontaigkdt  der  fraglichen  Wendungen,  Ausdrucks- 
weisen  etc.  zu  begreifen  beginnt.  Derjenige  übrigens,  für  welchen  die 
einzuführende  Stilart  berechnet  ist,  —  der  Mann  aus  dem  Volke,  der 
Bauer  auf  dem  Lande,  —  der  wird  sich  sofort  von  derselben  in  hohem 
Grade  angemnthet  fühlen  und  schon  von  Antaug  an  nichts  gegen  sie 
einzuwenden  haben. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  diese  Stilart  zniiädist  nur  in  den 
Volksschriften  angewendet  werden  soll.  Ob  eine  diesem  Stile  an- 
gehörende, umitogreidiere  Volksliteratur  in  späterer  Zeit  auch  anf 
andere  Gebiete  des  Hochdeutschen,  etwa  auf  die  BeUetristik  überhaupt» 
auf  die  dramatische  Sprache  etc.  eine  Bückwirkung  ausübt,  lassen  wir, 
als  vorderhand  ganz  nebensächlich,  unerörtert 

Hier  gedenke  ich  in  Kürze  eines  Einwandos,  an  dessen  Möglich- 
keit ich  iiiclit  geglaubt  hätte,  wäre  er  mir  niclit  in  That  von 
einer  gmiiaiiistisclien  Autorität  gemaclit  worden.  „Sogar  die  deutsche 
Gemeinsi»rache  soll  Vortheil  von  diesen  dialectologischen  .Studieu 
ziehen?  Das  ist  schwer  zu  vei*stehen  und  wii-d  dem  Leser  um  so 
weniger  einleuchten,  als  Ihr  eigenes  Deutsch  durchaus  nicht  empfehlens- 
wert ist.''  Ich  habe  in  meinen  bisherigen  Aufsätzen  zwar  eine  Stilart 
für  die  Volksschriften  vorgeschlagen,  kann  aber  unmöglich,  —  da 
ich  nur  für  ein  wissenschaftliches  Publicum  berechnete,  also  für 
den  Volkston  ganz  nnzugSngliche  Themen  behandelte,  —  dabei  auch 
schon  diese  Stüart  versucht,  geschweige  denn  ein  Muster  der- 
selben angestellt  haben  wollen! 

Nicht  jeder,  der  sicli  mit  Dialectstudien  abgibt,  wird  eo  ipso 
auch  schon  volksthiinilich  schreiben  können:  im  Gegentheil: 
mancher  wii*d  sich  gerade  durch  die  Darstellung  und  Besprechung 


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subtiler  trrainmatischer  Erscheinongeu  in  ein  j?anz  ungemiitUriclies 
Gelehrt eudeiiUcli  hineinarbeiten.  Aber  die  Dialectstudien  werden 
einen  kräftigen  Impuls  al>^!:eben  zu  ansgiebigerem  Verkehr  der 
Intelligenz  mit  dem  Volke;  gebildete  und  zugleich  edle  Geister  werden 
nicht  nur  auf  das  Volk  hören,  wie  es  spricht,  sondern  auch  zu  ihm 
reden,  es  aufklären,  wo  es  der  Aufklärung  bedarf;  sie  werden,  um 
dies  mit  Erfolg  zu  thun,  auf  seine  Eigenart  eingehen  und  werden, 
indem  sie  so  lehren,  selber  sich  in  eine  Aufßissnngsweise,  in  eine 
Denkmethode  hinemlernen,  welche  der  des  Bauern  homogen  ist  und 
Als  deren  literarische  Bethätigung  man  den  von  mir  oben  vorgescMage- 
nen  volksthfimliclien  Stil  aufisofassen  hat  Es  hängt  jedoch  ganz  von 
dem  Belieben  und  der  Eigenart  des  Dialectologen  ab,  ob  er  sich  blos 
unter  das  Volk  mischen  will,  um  dessen  Sprache  zu  studiren.  und  so 
Theoretiker  bleibt,  oder  ob  er  die  Sprache  und  Aii  d{^>  Volkes 
bfi.hachtet,  um  mit  diesem  zu  verkehren  und  es  der  IJiMunu:  zuzu- 
luinen,  also  auf  das  Praktische  sich  verleg-t.  licide  IxiclituuLreu  er- 
^nnzfu.  corrig^iren  und  liedinfren  sicli,  und  wenn  die  ])raktiscli  wirken- 
dt'ii  \''»lksschritlsrcllci-  je  eine  riclitige  volksmassiue  Stilart  zu  Stande 
bringen,  :50  hat  sicher  auch  der  stilungewandte  Theoretiker  hieran 
erhebliche  Verdienste,  —  So  viel  über  die  erwälnite  Kinwendimg. 

Von  den  ziemlich  zahlreichen  Volksschritien,  welche  bis  heute 
erschienen  sind,  hat  zwar  die  Melusahl  inhaltlich  das  Kichtige  ofe- 
troffen;  aber  die  Durchführung  ist  meist  eine  so  uiivolksthtimliche 
oder  eigentlich  in  ihrer  beabsichtigten  Volksthümlichkeit  se  uii;i:lück- 
liebe,  dass  sie  dem  Geschmacke  und  der  Auffassung  des  Volkes,  — 
besonders  des  Landvolke»,  —  widerstrebt  und  daher  jene  Schriften 
ihr  Ziel  verfehlen.  Besonders  Kalender  und  Flugschriften  fallen  unter 
diese  Rubrik.  Am  besten  hat  den  volksthtlmlichen  Stil  bisher 
Sosegger  getroffen;  er  hat  ihn  zuerst  in  der  reinen  Mundart  gefibt 
(,.Tannenliarz  und  Fichtennadehi^)  und  sich  denselben  so  auch  fttr 
seine  hochdeutschen  Arbeiten  zu  eigen  gemacht  Aber  auch  Bosegger 
beaBdehnet  erst  den  Anfang  und  noch  nicht  die  Blttte  dei*  be- 
sprochenen Stilart.  Er  schreibt  ja  vor  allem  fttr  die  gebildete  Welt, 
der  er  sich  mit  einem  neuen  Genre  der  Literatur  präsentirt,  und 
vendet  damit  einem  secundären  Zweck  sein  Hauptaugenmerk  zu. 
Er  tritt  vor  sein  hochdeutsches  Lesepublicum  mit  neuen,  von  ihm 
Jselbst  g-escliatienen  Worten  und  Wendungen  hin.  welche  jenes  für 
munflartliches  Sprachgut  hinnehmen  muss,  —  während  der  Bauer  die- 
5*lben  als  fremd  zurückweisen  würde.  So  konnte  Rosegger  tlieil weise 
einer  gewissen,  unwahren  Manie rirtheit  verfallen,  vor  welcher  ich 


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—  'obwbr  selbst  ein  eifriger  Verehrer  des  steirischen  Dichters  —  doch 
gewarnt  haben  will. 

Wir  haben  nun  über  den  Stil,  die  Form  jener  Vortragsstücke, 
welche  in  den  oben  vorofesclilagenen  Bauerncirkeln  den  Kem  der 
ganzen  Unterhaltung  zu  bilden  hätten,  unsere  Meinung  gesagt.  Über 
den  Inhalt  dieser  Vorlesungen  dürfte  unter  jenen,  die  nur  einigen 
Einblick  in  die  bäuerlichen  Verhaltnisse  haben,  wol  kaum  ein  Zweifel 
sein.  Es  mflssen  Erzählungen  und  Abhandlungen  vorgebracht  werden, 
welche  geeignet  sind,  die  falsche  Bigotterie  zu  bekämpfen  und  eine 
gesunde  Religiosität  zu  nähren,  die  Herzlosigkeit  oder  Kälte  zwischen 
Eltern  und  Kindern,  zwischen  Mann  und  Weib  in  Liebe  zu  ändern^ 
den  Schlendrian  in  der  Wirtschaft,  in  der  Dienstbotenpflege,  in  Nah- 
rung und  Kleidung  zu  brandmarken,  die  elende  Quacksalberei,  welche 
yon  unqualiflcirbaren  Bauersleuten  mit  Wurzeln  und  Kräutern  und 
anderem  Humbug  getriebai  wird,  zu  entlarven,  den  TerderbUchen 
Hexenglauhen  und  sonstigen  Aberwahn  kräftig  zu  bekämpfen,  den 
Sinn  der  Zusammengehörigkeit  mit  der  übrigen  menschlichen  Gesell- 
schaft zu  belel)en,  die  Manierensncht  der  Bauern  im  Verkehr  mit  einem 
Höhergestellten,  ihre  Unge-schicklichkeit.  ihre  Stumpfheit  zu  beseitieren 
u.  s.  \y.  Auch  die  Organisation  des  Staates,  in  welchem  der  Bauer 
auf  parlamentarischem  Wege  sein  Recht  zu  wahren  berufen  ist.  soll 
erörtert  werden;  aber  Politik  zu  treiben  vor  den  Bauern  wurde 
ich  mit  Rücksicht  auf  die  sehr  erregbare  Leidenscliaftlichkeit  der- 
selben und  auf  die  Leiclitigkeit,  sie  in  eine  unriclitige  Parteistellung 
zu  drängen,  durchaus  noch  nicht  empfehlen  können. 

Man  darf  aber  nicht  glauben,  dass  dnr<  h  ein  allzu  apodiktisches 
Vorgehen  gegen  bestehende  Irrthümer  und  Missbräuche  dem  Bauer  za 
imponiren  ist  Iin  Gegentheil.  £s  vfinl  nothwendig  sein,  dieselben 
eher  genau  zu  durchforschen  und  das,  was  an  ihnen  doch 
Gutes  oder  Wahres  ist,  vorerst  zu  constatiren,  um  das  Yer* 
trauen  der  Zuhörer  zu  gewüinen,  —  und  erst  dann  die  Schattenseiteik 
solcher  Übelstände  kräftig  zu  betonen.  Man  wird  also,  wenn  man 
z.  B.  gegen  die  falsche  Bigotterie  auftritt,  zuerst  der  berechtigten 
Heligiosität  das  Wort  reden,  und  dann  erst  die  Verwüstung,  welche 
Bigotterie  und  Fanatismus  im  Herzen  und  (Mste  des  Einzelnen,  in 
der  Familie  und  Hanswirtschaft,  endlich  in  der  Gesellschaft  anrichtet^ 
darstellen.  Wenn  man  gegen  den  Hexenglauben  sich  auslassen  will,, 
wird  man  fruht^r  die  Concession  machen  müssen,  dass  es  allerdings 
neidische  Menschen  gibt,  welche  anderen  au  Hab  und  Gut  .schaden 
möchten,  auch  so  verblendete  Leute,  welche  vielleicht  selber  glauben, 


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—   103  — 


sie  könnten  wirjkUch  durch  geheiumisvolle  Mittel  Schaden  stiften, 
und  so  fort. 

Öbwol  es  schon  im  allgemeinen  bei  solchen  Vorträgen  gerathen 
ist.  flu-  alle  wichtigeren  Behauptungen  kurze  Beispiele  (pointirte  Ge- 
schichten, lustig  oder  traurig"!  einzuschalten,  so  miiss  doch  die  Er- 
a&hlungsform  noch  besonders  empfohlen  werden  zur  Einkleidung 
Jener  Wahrheiten,  welche,  unverhüllt  ausgesprochen,  dem  Bauer 
als  eine  direete  und  empfindliche  Rfige  erscheinen  mflssten.  Der 
Bauer  Ifisst  sich  nicht  gerne  meistern  und  hat  nicht  so  unrecht  dabei. 
Wenn  aber  in  der  Erzählung  ein  ganz  bestimmter  Baner  X  aus  irgend 
efaier  unbekannten  Qegend  mit  den  betreffenden  Fehlem  behaftet  auf- 
tritt, dann  hat  keiner  der  Anwesenden  Grund,  sich  gegen  die  Wahr- 
heit des  Gesagten  aufzulehnen,  und  doch  wird  jeder  auf  indirectem 
Wege  wieder  so  nahe  berOhrt,  dass  er  sich  „eme  Nase  voll"  nehmen 
kann.  Ich  weise  hier  beispielshalber  auf  die  Tortrefflich  gelungenen 
Piecen  Boseggers  „Da  Gleichgüldi (Zither  und  Hackbrett,  2.  Aufl.) 
und  „Da  Bauem-Orz"  (Tannenharz  und  Fichtennadeln,  3,  AufL)  hin, 
welche  ZAvar  zu  kurz  sind,  um  allein  einen  ganzen  Leseabend  aus- 
znftUlen,  deren  sich  aber  jedt  s  als  tonanschlagendes  Präludium  für 
eine  längere  ähnlich  durchgelührte  (populäi*- hochdeutsche)  Erzälüuug 
vortretflich  eignet. 

Nach  den  bisherigen  Andeutiniiren  wären  nun  die  Grenzen  ziem- 
lich genau  angegeben,  innerhalb  deren  sich  der  Volksschriftsteller  zu 
bewegen  hätte,  anderersc  its  auch  dem  Vorleser  in  der  Bauernstube 
ein  Massstab  an  die  Hand  gegeben,  nach  welchem  er  sich  in  der  Aus- 
waiil  der  Lesestücke  —  von  denen  in  Roseggers  Heimgarten  bereits 
ein  bedeutender  Vorrath  aufgespeichert  ist  —  zu  richten  hätte. 

Wir  haben  jetzt  nur  noch  eine  letzte  Frage  zu  beantworten, 
nämlich  die  Frage,  wen  wir  uns  denn  als  die  vorlesenden  Organe 
denken,  welche  überall  in  den  zahlreichen  Ortschaften  jene  Untere 
haltungen  und  Zusammenkünfte  der  Bauern  veranstalten  sollen? 

Volksschriftsteller  und  Dialectdichter,  auch  einzelne  Stu- 
dirende  vom  Lande,  welche  an  mundartlichen  Dichtungen  und 
volksthflmlichen  Werken  Interesse  fanden,  haben  bisher  schon  zu 
Öfteren  Malen  und  an  verschiedenen  Orten  die  Bauern  mit  solchen 
YoileBongen  amüsirt.  Allein  die  Zahl  dieser  Krfifte  ist  doch  für  ein 
anlassendes,  einen  ernsteren  Zweck  verfolgendes  Unternehmen  nicht 
zureichend.  Es  muss  vielmehr  ein  ganzer  Stand  herbeigezogen 
werden,  dessen  Glieder  ttber  das  ganze  Land  verbreitet 
sind,  und  dessen  Aufgabe  es  schon  an  sich  ist,  mit  dem 


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—   104  — 


Volke  in  iiälierem  Verkehr  zu  stehen  und  auf  dasselbe  bil- 
dend einzuwirken. 

Diesen  Anforderungen  entsprechen  nur  der  geistliclie  und  der 
Lehr  er  st  and.  Der  Geistliche  ist  aber  durch  die  Principien  seüies 
8t;indps  ^^ebanden,  eine  gewisse  heilige  Ehrfui'cht  gegen  seine  Person 
im  Volke  zu  wahren,  —  er  kann  sich  nicht  so  ohne  Rückhalt  mit 
dem  Volke  identifieiren,  wie  es  ein  Civilist  bei  dergleichen  Anlässen 
thon  darf.  Man  würde  Im  Hände  des  Pfarrers  so  manches  tibel  be- 
nrtheilen,  was  an  sich  und  fOr  einen  Ciyilisten  gar  nichts  Anstössiges 
hat,  —  nnd  was  schliesslich  vorgebracht  werden  mnss^  soll  die  Unter- 
haltung nicht  m  eine  fade  Anstandsncherei  aasarten.  Allerdings  wAre 
es  andererseits  wieder  schünmi,  wenn  man  sich  verleiten  liesse»  Zoten 
und  Unanständigkeiten,  zn  welchen  nncnltivirtere  Gemttther  ohne- 
hin nur  allznviel  hinneigen,  zu  pflegen:  die  Unterhaltung  soll  vielmehr 
80  geartet  sein,  dass  ein  gemtithlicher  Ortspfarrer  immerhin,  ohne  sei- 
nem Respert  Abbruch  zu  tluiii,  zubiegen  sein  und  fröhlich  mit  lachen 
kann,  wenn  iliin  audi  weitergehende  IxUcksicliteu  eine  iu  iive  P>etlieili- 
gung  nicht  erlauheu.  Ist  der  Pfarrer  in  (U'r  Gemeinde  beliebt,  so  ge- 
winnt die  l'nterhaltuüg  durch  seine  Anwesenheit  um  einen  Anziehungs- 
punkt mehr. 

Die  eigentlich  berufenen  Arrangeure  der  "Bauernabende 
sind  die  Lehrer,  selbstverständlich  die  Lehrer  auf  dem  Ti!iude.  Sie 
haben  die  Kinder  zu  bilden  und  zu  erziehen:  und  so  gewiss,  als  zwi- 
schen dem  Geistesleben  der  Kinder  und  dem  elterlichen  Hause,  zwi- 
schen der  £ntwickelung  der  .Tuireud  und  dem  moralischen  Zustande 
der  Erwachsenen  eine  innige  Wechselbeziehung  best^^ht,  ebenso  gewiss 
darf'  der  Lehrer  seine  Aufmerksamkeit  nicht  lediglich  auf  das  ihm 
anvertraute  Kind  beschränk^  sondern  mnss  bestrebt  sein,  das  Sinnen 
nnd  Treiben  des  ganzen  ihn  umgebenden  Volkes  zu  erfassen  nnd  zu 
verstehen.  Diese  letztere  «Pflicht  ist  an  den  Lehrer  herangetreten, 
seitdem  man  aufgehört  hat,  blos  in  Beibringung  jener  mechanischen 
Fertigkeiten,  welche  sämmtUch  auf  dem  Abc  und  auf  dem  Einmaleins 
beruhen,  den  Zweck  der  Schule  zn  ^blicken.  Diese  Pflicht  ist  aber 
für  den  Lehrer,  als  den  Vertreter  unserer  edleren  Bildung  und 
sittung  in  den  von  grösseren  Bildungsstätten  fernab  liegenden  Land- 
gemeinden, nur  die  (Quelle  einer  weiteren,  noch  erhabeneren  Pflicht: 
es  wird  in  ihm,  bei  Krtorschung  der  Zustände  der  Bauemwelt,  auch 
der  Gedanke,  ja  der  Wunsch  auftauchen,  diese  Zustände,  soweit  sie 
schadhaft  sind,  nach  Ki'äften  zu  verhessern.  Die  alte  Schule  hat  viele 
Lücken  gelassen,  welche  uubtreitig  auch  aul  die  Neuschule  zum  Theil 


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—   105  — 


abergegangen  sind;  aber  die  letztere  ist  wenigstens  im  Princip  con-ec- 
ter  und  vom  Bewusstsein  des  ganzen  Urafanges  ihrer  volksveredeln- 
den  Aufgabe  sretragen.  Um  das  Princip  der  X«'uscliule  ]>rakti8ch 
aii8ziif&]iren,  soll  die  Lelirerschaft  die  Bedürfnisse  des  Volkes  genau 
studiren;  um  die  Lftckeu  der  alten  Schule  anszufttllen,  soll 
dieselbe  Lehrerschaft  auch  auf  die  Erwachsenen  ihren  Ein- 
fluss  fortznbethätigen  suchen.  Ein  ebenso  leichtes,  wie  angeneh- 
mes Mittel  hierzu  sind  eben  die  Bauemabende,  und  die  Bauern- 
abende werden,  ohne  Je  nutzlos  sein  zu  können,  so  lange  eine 
unbestreitbare  Noth wendigkeit  bleiben,  bis  die  Schule  ganz 
den  Volksbedfirfnissen  entspricht  und  keine  merklichen 
Lficken  in  der  Volksbildung  mehr  lassen  wird,  —  wie  es 
scheint,  noch  eine  sehr  lange  Zeit,  denn  wann  werden  Themen,  wie 
die  oben  empfohlenen,  in  der  Schule  behandelt  werden?! 

Und  die  Lehrerschaft  ist  diesem  weiteren  Wirkuno-skreise  auch 
vollends  grewachsen.  Die  meisten  Lehrer  <?eliören  schon  von  Geburt 
Jeiiein  Kronlande  an,  in  welcliem  sie  wirken,  llire  StudiiMi  sind  nicht 
darnach  angelegt,  sie  dem  Volke  zu  entfremden,  wie  etwa  die  Gym- 
nasialstndien.  Der  Lehrer  wird  also  am  ehesten  unter  allen  Gebilde- 
ten ein  wahres  Verständnis  tur  das  Volksh^ben  besitzm.  er  wird  letz- 
teres lieber  studiren  und  leichter  beeindusseu.  als  andere.  Er  wird 
in  seineu  rnterhaltungsarrauoements  den  \'olkston  crlib  klicher  tr«'tfen 
und  wahren,  und  am  ehesten  das  nothwendige  Vertrauen  der  Tjand- 
bevölkerung  sich  erringen.  Es  wäre  daher  höchst  unrichtig  und 
ein  Schlag,  welchen  die  Lehrerschaft  gegen  sich  selber  füh- 
ren würde,  wollte  sie  sich  nach  Art  der  übrigen  „intelligen- 
ten" Stände  hochnäsig  über  das  Volk  erheben,  und,  einem 
dünkelhaften  Kastengeiste  huldigend,  das  Volk  von  sich  in  - 
einer  gewissen,  ihren  Respect  angeblich  erhöhenden  Ferne 
halten.  Vemünftige  Professoren  sollten  in  den  Seminarien  die 
Zöglinge  eindringlich  vor  solchen  Verirrungen  warnen  und  sie  auf- 
merksam machen,  dass  nur  der  Respect  des  Freundes,  welcher 
mich  auch  hinter  meinem  Bücken  lobt,  wahren  Wert  ' für  mich  hat, 
nicht  aber  der  Bespect  eines  tou  mir  tyrannisirten  oder  yer^ 
achteten  Sklaven,  welcher  Über  mich  spottet,  wenn  er  aus  meinen 
Augen  ist. 

Dem  Lehrer  wird  mit  dieser  Erweiterung  seines  Wirkungskreises 
ein  anziehendes,  zu  fortwfthrender  geistiger  Thätigkeit  aufmunterndes 

Gebiet  eröffnet,  anf  welchem  er  Gelegenheit  findet,  über  die  beschei- 
denen Grenzen  seines  Standes  hinaus  sich  ein  entsprechen- 


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des  Anseilen  und  (Ttwiilit  iiucb  in  der  liölieren  literarischen 
Welt  zu  erring:en.  ■  ohne  andererseits  befürcliten  zu  müssen,  dass 
er  dabei  für  seinen  eigentlichen  Beruf  keine  P^ortschritte  maclie.  Der 
Lelirer,  welcher  volksthünilich  wirken  will,  wird  überall  das  Leben,  die 
Sitten,  die  Anschauungen,  die  Einriclitungen,  besonders  aber  die  Sprache 
der  Landleute  l)e()bachten,  er  wird  den  Fleck  Erde,  wo  er  seine  TM- 
tigkeit  zu  entlalten  berufen  wurde,  lieb  gewinnen  und  der  Vergangen- 
heit des  Völkchens,  in  welches  er  hineingestellt  worden,  nachibrschen: 
er  wird  Chroniken  von  Ortschaften  und  Gegenden  zusammenstellen  etc., 
—  kurz,  er  wird  nach  allen  Bichtnngen  hin  fortwährend  sein  Wissen 
bereichem  und  für  seine  geistige  Thätigkeit  stets  nene  Zielpankte 
finden  können.  Schröer  betont  es  in  semen  „Untemchtsfragen'* 
S.  75,  dass  während  des  Bestandes  der  nl^iuularten  Deutschlands** 
von  Frommann  „nicht  nur  Oymnasiallehrer  und  Professoren, 
sondern  auch  SehullehTer  mit  höchst  wertvollen  mundart- 
lichen Beiträgen  zur  Zeitschrift  sich  einfanden,  so  z.B.  Schnl- 
lehrer  Friedrich  Wilhelm  Pfeiffer  in  Stadeln  bei  Nttrnberg, 
Schullehrer  Josef  Bichter  in  Deutsch-Praban  in  Ungarn  und 
vor  allen  nennenswert  Schullehrer  Josef  Wurth  In  Minken- 
dorf bei  Laxenburg.  —  Diese  Männer  haben  gezeigt,  dass  man, 
ohne  Anspruch  auf  Gelehrsamkeit,  es  daliin  bringen  kann,  die  Mund- 
art gegenständlich  zu  uiaclieii  und  richtig  darzustellen.  Dies 
ist  nicht  leiclit."  ('brigens  hat  Wurtli  das  allerwenigste  von  seinen 
Arbeiten  zum  Diucke  betr»rdert,  eine  grosse  Anzalil  wei-tvollei-  Manu- 
scripte  ist  in  liie  Hände  gelelirter  Männer  übergegangen,  wo  selbe 
noch  heute  ihrer  Verwertung  harren.  Professor  Land  st  einer  hat 
dem  wackeren  österreichischen  Sciiuluieistei'  in  einer  Programmarbeit 
vom  Jahre  1872  ein  wolverdientes  Denkmal  gesetzt. 

Dui'ch  die  Eröilnung  eines  soldien  W  issensgebietes,  einer  solchen 
auch  für  den  eigentlichen  Schulberuf  höchst  erspriesslichen  Thätigkeits- 
q;»häre  wird  ganz  gewiss  einem  Herzensbedüröiisse  aller  ernsten,  den- 
kenden, strebsamen  Lehrer  begegnet.  Schröer  sagt  hierübei*  S.  lOÜ 
des  obigen  Werkes:  „Glaubt  irgend  Jemand,  dass  jenes  Wissensqnan- 
tum,  das  vom  Lehrer  verlangt  wird  (so  unendlich,  erdrückend  gross 
es  vielleicht  für  den  Akt  der  Lehramtsprüfung  ist),  das  Leben  eines 
Menschen  ausfülle,  dass  es  ihn  beMedlgen  k&nne?  Das  kann  es 
gewiss  nicht,  und  nicht  zu  wundem  ist,  wenn  der  Lehrer,  der 
was  er  für  die  Schule  braucht,"*'  inne  zu  haben  glaubt,  wie  der  Leh- 
rer, der  ndt  18—20  Jahren  sich  für  einen  „,/ertigen*"*  Lehrer  hält, 
sich  im  Verlaufe  des  Lebens  auf  alle  möglichen  Privatpassionen 


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und  Industrien  wirft,  denn  sein  Unterriclit  ist  ja  schlecliterdint^s 
keiner  Steigerung,  seia  Wissen  keiner  Zunahme  fällig,  er  ist  heute  so 
wie  morgen  und  wie  er  nach  Jahren  sein  wird.  Wozu  brauclit  er 
mehr,  besonders  wenn  er  in  einem  „ngnten  vSeminar""  gelernt  hat! 
—  Der  Bauer  sammelt  täglich  Erfahrungen  und  Iei*nt  nie  aus  in  sei- 
nem Berufe;  nnd  der  Lehrer  wäre  mit  20  Jahren  „fertig'''*?!  Jeder 
aadere  Beruf  soll  einer  Entwickelung  der  Einsicht  und  Übung  fihig 
and  beddifUg  sein;  ist  es  denn  der  Lehrerberuf  nicht  auch?*' 

Wie  ganz  anders  steht  es  mit  einem  Lehrer,  welcher,  ttber  die 
paar  Bttcher,  die  er  zur  LehramtsprüAmg  hatte  lernen  mttssen,  hinaus- 
schauend,  im  Leben  die  eigentlichste  Schulung  für  seinen  Stand  er- 
kennt; der  mit  allen  Leuten  verkehrt,  der  pupulär  und  als  heiterer, 
„unterhaltlicher",  aber  auch  tüchtiger  und  verständiger  Keusch  be- 
kannt Ist;  von  welchem  die  Eltern  nicht  mehr,  wie  bisher  so  oft,  den 
Kindern  Angst  einjagen  werden:  „wartet  nnr,  his  ilir  in  die  Schule 
kommt,  der  Lehrer  wii-d  euch  schon  carniittVln,"  —  es  winl  ja  tien 
Bauersleuten  ganz  gewiss  widerstreben,  einen  ..s(»  raren  Herrn '•  ab? 
Popanz  hinzustellen:  wie  erfolgreich  wird  ein  solclier  Lchivr  in  der 
S<  !uiif  wirken,  welchem  die  Kinder  mit  Freuden  entj^e^'-eiikoinnien, 
Welcher  sie  genau  kennt  wie  Kinder  des  eigenen  Hauses,  ihren  L-'ei- 
stigen  Zustand  aus  den  Anfangen  ihrer  Kntwickelung  zu  beurtheilen 
und  zu  beeinflussen  veretelit,  mit  ihnen  verkehren  kann  wie  ein  Ange- 
hüiiger  der  Familie!  Welch'  ungleich  höhere  Stellung  nimmt  der 
Lehrer  im  Vergleich  zu  heute  ein,  wenn  er,  die  Volksliteratur  be- 
nfitzend, auch  die  Erwachsenen  geistig  zu  laben,  zu  wecken, 
zu  bessern  und  zu  leiten  im  Stande  ist!  Wie  anregend,  erhebend 
nnd  veredelnd  muss  es  nicht  auf  die  Lehrerschaft  selber  wirken,  wenn 
sie  —  mehr  wie  jeder  andere  Stand  —  in  all'  den  verschiedenen 
Bichtungen  des  Volksstudiums  mitwirken  kann!  Und  welcher 
Sporn  zu  immer  eifHgerer  Arbeit  wird  es  erst  sein,  wenn  einmal  ein* 
seine  Lehrer,  durch  andauernde  Beschäftigung  mit  der  Volks-  und 
Dialectliteratur  hinlänglich  geschult,  selber  im  Stande  sein  wer- 
den, fftr  das  Volk  zu  schreiben,  wenn  einzehie  andere  wieder 
sdtotstfindig  forschen  und  selbstst&ndig  auch  ihre  Forschungen 
▼eröffentlichen  werden! 

Man  hat  meine  Hoffnungen,  welche  ich  in  dieser  Hinsicht  hege, 
durch  den  Einwand  luederzuschlasen  «jesuclit:  „Ja,  unsere  Lehrer 
können  das  Hochdeutsche  noch  zu  wenig,  —  wozu  sie  überdies 
mit  der  Mundart  behelli(ren  und  l»eirren?"  Ich  kr>iinte  diesen  Ein- 
wand gauz  kurz  in  folgender  Art  abfertigen:  „Gut,  kann  der  Lelirer 


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nicht  riclititr  li(>L*li(leut.s('li.  so  wird  er  Nicli  \nA  wissenscliaft liehen, 
gramiiiatikaliselien  etc.  Arbeiten  wenifrsteus  keinen  Stil  vcr«lerl>en, 
und  schreibt  er  für  das  Volk,  so  kann  er,  hei  Anwendung  des 
volksthümliclien  Stils,  die  hochdeutsche  Classicität  entbehren."  Aber, 
win  de  icli  so  reden,  so  sähe  es  aus,  als  ob  mir  an  der  hochdeatschen 
Stilfertigkeit  der  Lehrer  niclits  läge. 

Nehmen  wir  an,  die  Lehrer  seien  im  hochdeatschen  Ausdruck 
's\irklich  zu  wenig  geschult,  —  eine  Behauptung,  welche  namentlich 
mit  Hinsicht  auf  die  nachwachsende  Lehrerschaft  gewiss  eine  sehr 
gewagte  ist,  —  woher  Iftsst  sich  denn  dieser  Übelstand  erklären? 
Ganz  gewiss  daraus,  dass  ihre  Studienzeit  einerseits  hingereicht  hat, 
um  das  im  Bialect  bereits  erworbene  Sprachgefühl«  die  schon  erlangte 
Sprachfertigkeit  durch  Eindrillen  des  heterogenen  hochdeutschen  Stües 
zu  zerstören,  andererseits  aber  zu  kurz  war,  um  zugleich  die  gewisse 
Classicität,  welche  die  Schriftsprache  bei  ihren  Sängammen,  der 
lateinischen,  griechischen,  englischen  und  firanzOsischen  Literatur  ein- 
gesogen, den  jungen  Lehramtscandidaten  beizubringen.  Hat  aber 
der  Lehrer  auf  diese  Art  seine  Sprachgewandtheit  einge- 
büsst  —  ein  Mangel,  der  sich  dann  nicht  blos  in  seinem  hoch- 
deutschen Schulstile  kundgibt,  wo  man  strenger  darauf  achtet, 
sondern  auch  im  gewöhnlichen  Verkehre,  wo  man  es  allerdings  minder 
genau  nimmt  —  dann  mag  er  noch  so  ängstli<'h  von  der  Mundart 
abgeschlossen  werden,  er  wird  darum  docii  um  kein  Haar  besser  hoch- 
deutsch schreiben  odei"  sprechen.  Gerade  der  Lehrer,  welcliem 
getnäss  seines  Bildungsganges  der  reine  Classicismns  weniirer 
zugänglich  ist.  wird  die  ihm  etwa  abhanden  geknnmiene 
Sjirachfert igkeit  nur  durch  Beachtung,  ich  mTiclite  beinahe 
sauen  din-cli  die  Pflegt'  der  Mundart  zurückirewinnen.  Kr  soll  die 
Mundart  ptiegen,  nidit  ihrem  Phonetismus  nach.  s(mdern  ihrem  (i eiste 
nach,  er  soll  ihre  kräftigen  und  doch  wieder  nüchtern  ausgeme.ssenen 
Tropen,  ihre  Wrgleiche,  ihre  Kürze,  ihre  Einfachheit  nachahmen,  — 
und  man  wird  das  schwülstige,  unnat in  liehe  Hochdeutsch  aus  den 
Jahresberichten  der  Schulen  sicher  bald  verschwinden  sehen.  Ich 
brauche  mich  hier  nicht  weiter  darauf  einzulassen,  den  Wert  der 
Mundart  auch  für  das  Erlemen  des  Hochdeutschen  zu  erOrtem;  dies 
ist  bereits  von  einer  gewandteren  Feder  geschehen,  als  die  meine  ist 
(SchrOer,  Unterrichtsfragen.) 

Man  hat  femer  an  mich  die  Frage  gerichtet,  wie  ich  den 
Lehrem  auch  exdnsiv  wissenschaftliche  Arbeiten  zumuthen  kOnne,  da 
sie  doch  durchaus  „Praktiker**  sden?  Die  Erfahrang  hat  diese 


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Frage  "bereits  beantw(;rtet  durch  Nameu  wie  W  iii  lh.  Richter,  Kraiiiz, 
Vernaleken.  Es  ist  walu .  dass  die  Betheiligung  dw  Lt  lirer  an  der 
wissenschaftlichen  Arbeit  abhängt  von  dem  Ausmasse  der  theoretischen 
Kenntnisse,  welche  sie  besitzen.  Aber  gibt  nicht  gerade  die  prak- 
tische Beschäftigung  des  Lehrers  die  meiste  AniTpfung,.  seine 
Beobachtnngen,  seine  theoretischen  Kenntnisse  ttber  Mundart  und 
Volksthnm  za  erweitem  nnd  zu  vervollständigen?  Und  mit  noch 
grosserem  Bechte  wird  dieses  behauptet  werden  dürfen ,  wenn  die 
^yPraktiker"  noch  praktischer  werden,  wenn  sie  nach  den  in  dieser 
Abhandlung  dargelegten  Ideen  auch  die  Erwachsenen  in  ihre 
praktische  Wirknngssphäre  mit  einbeziehen. 

Damit  ist  natürlich  nicht  gesagt,  dass  das  ganze  Gebiet  der 
„Volksrtudien"  ansschliesslich  den  Lehrern  Aberlassen  bleiben  soll  Es 
■Efisaen-  und  werden  sich  auch  Gelehrte  und  Schriftsteller  von  Beruf 
der  Lehrerschaft  beigesellen,  um  die  schwierigeren,  höheren  Themen 
auiizuführen,  um  Einheit  und  Klarlieit  in  das  ^i^esainmte  ünternehmen 
zu  bringen  etc.    Hiervon  vielleicht  ein  anderes  Mal. 

Wenn  unsere  Lehrerschaft  diese  ihre  Aufgabe  begreift,  dann  haben 
wir  einen  grossen  Schritt  nacli  vorwärts  gethan.  Ein  neues,  fruclit- 
bares  Wissensfrebiet  zu  erötfnen,  die  tlieoretischen  Früchte  desselben 
in  ausgiebigster  W  eise  praktisch  zu  verwerten  und  hinwiederum  aus 
und  mittelst  dieser  praktischen  Verwertun«.»-  den  Kreis  der  theoretischen 
Kenntnisse  zu  erweitern,  —  kurz  ein  durch  die  Adern  des  Volkes 
nnd  der  Intelligenz  als  eines  einheitlichen  Körpers  circu- 
lirendes  Wissenselement  auf  deutschem  Boden  zu  gewinnen,  das 
ist  sicherlich  eine  Aufgabe,  welche  diejenigen  ehrt,  denen  man  sie  zu- 
mnthen  dar!  Mögen  daher  unsere  Lelu*er  bei  Zeiten  sich  zu  derselben 
Torbereit^,  sich  mit  den  Volksschrift^n  nnd  dem  Volke  selbst  mög- 
lichst Tertrant  machen,  anf  Ausilfigen  oder  Besuchen  die  Anlagen  und 
Annchannngen  der  Lente  beobachten  etc^  —  damit  sie  vorbereitet 
sind,  sobald  der  erste  thatsächUche  Anstoss  zur  Verwirklichung  der 
hier  ansgeqiroehen^  Ideen  erfolgt.  Lange  wird  derselbe  nicht  mehr 
auf  mck  warten  lassen. 


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Das  geistige  Element  des  Satztones. 

ie  articulirte  Sprache  ^vir^l  allgemein  als  da^enige  Merkmal 
der  Menschenspecies  bezeichnet,  welches  diese  von  den  ihr  duich  die 
Abstainnumj^stheorie  so  sehr  genäherten  Thierspecies  wesentlich  unter- 
scheidet. Nicht  in  einzelnen,  gleichförmig  wiederholten  Schreien,  nicht 
in  periodisch  wiederkehrenden,  wenngleich  tonreichen  und  knnstvoU 
erscheinenden  Cadenzen,  sondern  in  gegliedert«!  Lantverbindangen 
spricht  der  Mensch  zom  Menschen. 

Soll  aber  men8chli<^e  Spradie  ihren  Zweck  erreichen:  eines 
Menschen  Gedanken  und  GkDIlile  in  der  Seele  des  andern  zn  erregen, 
80  mnss  sie  in  der  Mdiraahl  ihrer  nnztthligra  Arten  namentlich  fol- 
gende Eigenschaften  besitzen: 

1.  die  gesprochenen  Lantrerbfaidangenmfissen  so  gewählt  sein,  daas 
sie  wirklich  der  adftqvate  Ansdmek  der  eigenen  Gedanken  sind; 

2.  müssen  dieselben  vereint  und  wiederum  getrennt  als  Wörter  und 
Sätze,  und  ausserdem  diese  in  geregelter  Reihenfolge  erscheinen ; 

8.  müssen  pfewisse  Silben  (und  zwar  die  richtigen)  in  den  einzelnen 
Wöit*  III  und  ebenso  gewisse  Wörter  im  Satze  mit  verstärkter 
StimiTip  ofesproclien  werden.*) 
Die  let/.tt^i  wähnte  Eigentliüniliclikeit,  ohne  welclie  die  mensch- 
liche Rede  entweder  sdiwer  oder  gar  nicht  verständlich  wird,  nennen 
wir  die  Betouuiio-  oder  den  Accent. 

Die  Betonung  steht  aber  nicht  nur  in  inniirer  Korrelation  mit  der 
Verständliclikeit,  sondern  auch  mit  dem  Verständnisse  des  (re- 
sprochenen;  iiir  richtiger  (rebraucli  ist  das  siclierste  Kriteriiun  dafür, 
dass  der  Sprecliende  sowol  den  Inhalt  der  Worte  versteht,  als  auch, 
dass  er  den  letzteien  denkt,  oder  psychologisch  gesprochen,  dass  in 

*)  Die  3Iuilulatiou  der  Stimme  srheint  mit  Ausualime  jeuer  &>tUcke,  welche  mit 
Kum  Aufldnifike  der  Oemfttfasbewegungen  gehOrai  (Verstäiknog  oder  Abschwicbaiig 
denelben,  Klangfiurbe  v.  s.  w.),  vom  Prhieipe  der  Yerstilndliehkeit  wenigstens  nicht 
dueot  abhingig  zn  sein. 


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—  III  — 


der  SHf^le  des  Sprechenden  gleichzeitig  die  Reprodiictioii  jener  Vor- 
steliimgen  stattfindet,  deren  Ausdruck  eben  die  gesprochenen  Worte 
sind;  ihre  umichtige  Anwendung  oder  ihr  gänzliches  Fehlen  verräth 
eben  so  sicher,  dass  dem  Sprechenden  oder  Lesenden  der  Inhalt  der 
Wörter  entweder  fem  oder  fremd  ist. 

Die  Intensität  der  Betonung  in  den  einzelnen  Redeabschnitten  ist 
eine  sehr  yerschiedene,  nnd  zwar  sowoi  die  absolute  (inbezng  auf 
den  ganzen  Satz),  als  auch  die  relative  (der  einzelnen  WOrter  des- 
sdben  im  Verbilltnis  zn  einander). 

Die  absolute  Intensität  wird  immer  dann  alterirt,  und  zwar  in 
g^diem  Sinne,  wenn  die  Xntensitftt  der  Stimme  sich  verändeit,  so, 
wenn  Affecte  die  mensehliche  Bede  beeinflussen.  (Wie  sanft  betont 
klingen  die  Wechselgesprftche  kosender  Liebe,  wie  grimmig  scharf  und 
i^Mrk  die  Accente  der  Wuth  oder  des  Hasses!)  Aber  auch  ohne  Affect 
oder  bei  nur  geringem  AflFecte  wird  die  Intensität  der  Betonung  in 
solchen  Fällen  bedeutend  verstärkt,  wo  es  dem  Sprecher  darum  zu 
thun  ist,  besonders  deutlich  zu  sein.  (Sprechen  in  decidirteni  Tone.)*) 

Bei  der  Beiirthcilun?  der  relativen  Intensität  der  Betonung  unter- 
scheiden wir  bekanntlicli  Wortt^n  (SilbentDUi  und  Satzton. 

Den  ersteren  betretfend  lehrt  die  deutsche  Rhythmik  drei  Stufen 
der  Inten>ität  auseinander  halten,  den  Hoch-,  Mittel-  und  Tietton; 
was  aber  den  Satzton  betriftt,  der  uns  hier  ferner  ausschliesslich  be- 
schäftigen soll,  so  unterscheiden  wir  zwar  zunächst  betonte  und  nicht 
b*  tonte  Wörter;  es  lassen  sich  aber  innerhalb  der  ersteren  bei  feinerer 
Auffassung  durchs  Gehör  mindestens  noch  zwei  Stufen  der  Intensität 
auseinander  halten. 

In  Bezug  auf  relative  Intensität  sind  auch  die  Sätze  untereinander 
oft  sehr  verschieden;  in  manchen  Sprachstficken  ragt  namentlich  einer, 
der  etwa  den  Hauptgedanken,  die  Auflösung  oder  ein  Resultat  enthält, 
doreh  besonders  kräftige  Betonung  hervor. 

Den  Satzton  richtig  und  in  gehöriger  Stärke  zu  setzen,  ist  nament- 
lieh  bei  der  Bedtation  poetischer  Stücke  fftr  Jedermann,  der  nicht 
Meister  der  Sprache  ist,  mitunter  recht  schwierig. 

Seinen  richtigen  Gebrauch  zu  lehren,  sind  von  gewiegten  Kennern 
der  deutschen  Sprache  viele  Regeln  angestellt  worden,  wobei  zumeist 

*)  So  hört  maa  gelegoitlieh  emen  Hmtor,  der  wegen  geiitiger  Beschränktheit 

oder  UDaufmerkf»mkeit  »eines  Zöglings  za  einer  Wiederhoinng  seinee  Vortrages  ge> 

zwimtjen  ist.  bei  massiger  Erhebung  des  Sprechtones,  die  einigen  verhalteneu  Ärger 
vtrrätb,  mit  tn'snnderen!  Nai:hflru«jk  die  ht  tunten  Silben  hervorheben  und  sieht  ihn 
wol  auch  jeden  Accent  mit  ckarakteristiäcliem  Kopfnicken  begleiten. 


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—    112  — 


die  Kücksicht  auf  den  ^laiuinatiselieii  Wert  dei-  Worte  im  Satze  und 
ebenso  der  Sätze  selbst  als  iiiH.^sfreliend  an},^esehen  wurde.  Sollten 
diese  Reqfeln  aber  tür  alle  erdeiikliclien  Kombinationen  und  Falle  aus- 
reiclitn.  und  sollten  sie  ferner  genau  sein,  d.  Ii.  auch  die  iuuerlialb 
dei'  lu'louleu  Worte  nierklicli  verschiedene  relative  Tonstärke  angeben, 
so  würde  ihre  Anzahl  Le^^ion.  während  ihr  praktischer  Wert  tür  den 
Anfänger  im  Vorlesen  und  Kecitiren  auf  Null  herabsänke.  —  Manche 
der  Autoren  dieser  Regeln  widersprechen  einander  obendi-ein  in  ein- 
zelnen nicht  unwichtigf>n  Fällen,  besonders  da»  wo  eine  Verwechselung 
zwischen  dem  Accent  und  der  Erhebung  der  modulirenden  Stünme» 
wel«^'  letztere  in  der  .Regel  auch  mit  einer  Verstärkung  des  StimnH 
tones  verbunden  ist,  möglich  ist,  oder  wo  ein  Accent  wegen  seines 
Zusammen&llens  mit  der  Stimmerhebimg  leiclit  Überhört  werden  kann. 
Alle  aber  constatiren  nur,  dass,  nnd  ob  schwer  oder  minder  schwer 
der  Accent  auf  dieses  oder  jenes  Wort  fiülen  mfisse,  erldSren  aber 
nicht  das  Warum. 

Woher  diese  Schwierigkeiten  beun  Satztone,  da  doch  bei  der 
Setzung  des  Wort-  oder  Silbentones  Niemand  im  ZweüM  ist? 

Der  Sflbenaccent  hängt  lediglich  Ton  der  Stellung  der  Sübe  im 
Worte,  von  ihrer  logischen  nnd  etymologischen  Bedeutung  ab;  durch 
wenige,  aber  erschöpfende  grammatisGhe  Regeln  ist  seine  jeweilige 
Stärke  geregelt,  sein  Platz  ihm  angewiesen.  Der  Satzton  hingegen 
hängt  nicht  ausschliesslich  von  dem  gi  ammatischen  und  logischen 
Werte  des  Wortes  ab,  er  ist  vielmehr  in  gewissem  Sinne  der  Willkür 
des  Sprechenden,  nämlich  seiner  Absicht  anheim  gestellt. 

Dass  es  aber  die  Absicht  des  Sprechenden  allein  ist,  die  den 
Wortton  uiibedinuT  l)elierrscht,  ist  uns  ein  Fingerzeig,  seinem  Ursprung 
auf  psyciiologisclieiii  Boden  nachzuspüren. 

Um  dies  mit  einiger  Aussicht  auf  ein  positives  Resultat  zu  be- 
giun^n.  erscheint  es  mir  am  geeignetsten,  an  das  Verhältnis  zwischen 
Denken  und  Sprechen,  zwischen  Vorstellung  und  Wort  anzuknüpten 
und  an  einem  Beispiele  einfachster  Art  zu  erörtern,  wie  der  psycho- 
logische Process  beiläufig  beschaffen  ist,  der  dem  Vortrage  einer  ge- 
ordneten >lehrheit  von  Sätzen  vorhergeht  und  denselben  begleitet. 

Nelunen  wir  an,  es  wolle  Jemand  eine  selbsterlebte  Begebenheit 
erzählen. 

Er  besinnt  sich;  und  dnrch  die  Kraft  des  Gedächtnisses  ihrer 
Hemmung  befreit,  steigen  nun  aus  der  dunkeln  Tiefe  des  Unbewussten 
Vorstellnngen  auf,  bald  einzehi,  bald  miteinander  und  wol  auch  mit 
fremdartigen,  nicht  zur  Sache  gehörigen  assocürt,  um  in  raschem 


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—   113  — 


darin  wieder  in  stockendem  Klussf.  mit  einer  Intensität  oder  Klarli»  it, 
^^e  sie  der  jeweilige  Grad  nn willkürlicher  Aufmerksamkeit  bei  der 
ersten  Wahrnehmung  schuf,  und  in  einer  Keilienfolge,  die  keineswegs 
dem  Verlaufe  des  erlebten  Ereignisses  entspricht. 

Würde  nun  den  Vorstellungen  so,  wie  sie  durch  die  Erinnerung 
in  der  Seele  des  Individuums  auftauchen,  von  diesem  sofort  durch  die 
Sprache  Ausdruck  gegeben,  so  wfirde  eine  derartige  Erzählung,  auch 
wenn  die  Vorstellungen  hierbei  in  einer  derBegebenlieit  entsprechenden 
Reihenfolge  r^rodadrt  irorden  wftren,  nur  nnvollkommen,  oder  gar 
nicht  vmtandoi  "Verden.  Denn  erstens  würden  Ton  dem  Hörer  viele 
yontellnngen  vermisst,  deren  B^rodnction  znm  YerstiUidniisse  unnm- 
gingüdi  nothwendig  sind,  dagegen  wftren  zweitens  andere  dnrch  zu- 
fiffiige  Association  da,  die  in  keiner  nftheren  Beziehmig  za  dem  ge- 
dachten Ereignisse  stehen,  die  also  znm  Verständnisse  nicht  nothw^dig 
ihid,  nnd  drittens  würden  von  den  yorhandenen  VorsteUnngen  viele 
sabjectiv  gdäürbt  nnd  daher  in  ihrem  Ausdrucke  ungenau  und  nicht 
allgemein  verständlich  erscheinen. 

In  dieser  primitiven  und  subjectiven  Weise  geben  in  der  That 
beispielsweise  Kinder  dem  Selbsterlebten  Ausdruck,  nnd  unzählige 
Prägen  miissen  alsdann  ihren  Redefluss  unterbrechen,  um  sie  zur  Re- 
production  und  zum  Ausdrucke  solcher  Vorstellungen  zu  bewegen,  die 
zwar  nicht  ihuni,  aber  dem  Uubetheiligten  zum  Verständnisse  unerlässlich 
sind;  in  s(»lclier  Weise  werden  noch,  wie  jeder  schon  eifahren  hat, 
der  sich  in  ninem  fremden  Orte  befand  und  der  Orientirung  l)edurtie, 
Von  ungebildftpii  Leuten  unverständliche  Auskünfte  crtlieilt,  da  diese 
Wegen  ilires  bescliränkten  (resichtskreises  aus  der  iSubjectivität  sowol 
im  Denken  als  im  Si»rechen  nicht  herauszutreten  vermögen. 

Der  Gebildete  wird  daher,  um  in  der  iSeele  des  Hörers  in  der 
That  die  eigenen  Gedanken  zu  erregen,  zunächst  viele  andere  Vor- 
stellungen, die  zum  Yerstlndnisse  unerlässlich  sind,  zu  den  vorhandenen 
absichtlich  reproduciren;  wenige,  wenn  er  zu  jemand  spricht,  der  ihm 
hinsichtlich  des  geistigen  Horizonts  und  der  speciellen  Lebenserfalirungen 
nSher  steht,  mehrere  und  andere  jenem  gegenüber,  dessen  empirisches 
Ich  von  dem  seinigen  bedeutend  verschieden  ist,  und  die  meisten, 
wean  er  zur  Allgemeinheit  spricht,  wie  der  Erzähler  vor  der  grossen 
Kenge,  wie  der  Autor  einer  Erzählung  im  Buche. 

Dagegen  wird  er  zweitens  gewisse  Vorstellungen  aus  dem  ur^ 
sprBnglichen  Vorrathe  ausscheiden  müssen,  die  sich  bei  dem  ersten 
Au&teigen  derselben  nur  in  zufälliger  Association  aufgedrängt  hatten, 
die  aber  für  das  Verständnis  wenig  oder  gar  nicht  von  Belang  sind, 

Padagogivn.  i.  Mttg.  H«ft  IL  8 


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—    lU  — 


und  drittens  vielleicht  an  Stelle  mancher  snbjectiv  gefjb'bter  objectivere, 
an  Stelle  ungenauer  g^enauere  einfügen  müssen.  (So  mttsste  z.  B.  allzu 
subjectiv  gefärbt  in  der  einer  Ei-zählun^^  entsprochenden  Gedanken- 
rt'ihe  eines  einHiltigen  Döiflers;  dw  Zeitbegritt"  ei-sclieinen,  ausgedrückt 
durch  die  Phrase:  „im  Jahre  nach  dem  grossen  Brande";  —  auch 
noch  subjectiv,  aber  schon  einem  grösseren  Iirirerkreis  verständlich 
sind  Zeitangaben  ^vie:  „zur  Zeit  des  dreissigjährigen  Krieges";  nocli 
mehr  objectiv  erscheint  der  allgemein  gebrauchte  Ausdruck  des  Zeit- 
begriftes  durch  die  Jahreszahl;  die  objectivste  wäre  etwa  eine  astro- 
nomische Bestimmung  auf  Gnmd  allgemein  wahrnehmbarer  Ei-schei- 
nungen.)  Sonach  wird  das  Inventar  der  zu  einer  klaren,  allgemein 
verständlichen  Erzählung  zu  verwendenden  Vorstellungen  aus  zwei  in 
Bezug  auf  die  Reproductionsart  verschiedenen  Theilen  bestehen:  1.  aas 
primären  Vorstellungen,  d.  i.  solchen,  die  nach  der  Sichtung  der  ur- 
sprünglich anfgetaachten  Vorstellungen  von  diesen  Übrig  blieben,  und 
2.  ans  secnndAien,  nämlich  solchen,  die  am  der  Verständlichkeit  willen 
erst  mit  Absicht  zu  jenen  reprodncirt  vorden. 

Nun  geht  es  an  ein  Schlichten  and  Ordnen  des  Vorstellangs- 
materials  in  der  Weise,  dass  zunächst  in  Ansehung  der  Beihenfolge 
und  Gmppirang  der  Yorstellnngsreihen  ein  gewisser  ParaUelismos 
zwischen  diesen  und  den  Elementen  ihres  lautlichen  Ausdruckes,  den 
Wdrtem  und  Sätzen  hergestellt  wird. 

Dass  dieser  Parallelismus  kein  süieter  sein  kann,  yielmehr  mit- 
unter recht  lose  erscheint,  ist  evident.  Denn  einerseits  enthält,  um 
nur  einige  Fälle  zu  beriibreu,  der  Gedankenausdruck  manche  Wörter, 
die  in  ihrer  gegenwärtigen  Fassung  niclit  vorstellbar  und  lediglich 
grammatisches  Beiwerk  sind,  anderseits  sind  manche  Vorstellungen, 
namentlich  die  ansclianlichen,  in  Bezug  auf  iiiren  Inlialt  so  reichhaltig, 
dass  zu  ihrem  adä(iuaten  Ausdi-uck  melirere  Wfirter  gebraucht  werden 
müssen.  Auch  hinsichtlicli  des  Verhältnisses  zwischen  Satz  und  Ge- 
danken (resp.  Urtheil)  wissen  wir,  dass  es  uns  die  Vielseitigkeit  des 
Ausdruckes  ermöglicht,  nach  grammatischen  und  stilistischen  Regeln 
den  Inhalt  eines  Gedankens  sowol  durch  einen,  als  auch  durch  zwei 
oder  gar  mehrere  Sätze  ohne  Störung  des  Sinnes  auszudrücken.  Was 
aber  am  meisten  das  Übereinanderfallen  von  Gedanken  und  Satz 
alterirt,  ist  eine  Thatsache,  die  schon  bei  einem  geringen  Mass  von 
Selbstbeobachtung  erkannt  wird,  dass  wir  nämlich  mehrere  Glieder 
einer  Yorstellungsreihe,  sofern  dieselben  anschaulicher  Natur  sind, 
selbst  dann  zu  einem  emzigen  Bilde  vereinigt  gleichzeitig  vorstellen, 
wenn  dies  der  Natur  der  Sache  nach  eigentlich  nicht  möglich  ist. 


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—   115  — 


wenn  z.  B.  der  Inlialt  des  Vorgestellten  nicht  ein  Gleidizeitij^es  und 
Ruhendes,  sondern  ein  in  der  Zeit  Aufeinanderfolgendes  und  Wer- 
dendes ist.  So  fassen  wir  nicht  nur  bei  Anhörung  des  Satzes:  „Ihm 
glänzte  die  Locke  silberweiss"  die  in  denselben  ausgedrückten  Vor- 
stellnngen  im  Geiste  in  einem  Bilde  zusammen,  sondern  wir  stellen 
ans  auch  den  Gedankeninhalt  der  Verszeile:  „Der  Kaiser  ergreift  den 
gold'nen  Pokal**  wie  ein  Glemälde  mit  schablonenhaft  aosgeffthrten 
Details  yor»  allerdings  mit  dem  kleinen  Fehler  der  Anpassung,  dass 
wir  nns  das  „ergreift^  welches  sich  in  der  Zeit  vollzieht,  symbolisch 
dorch  den  aosgestreckten  Arm  des  Kaisers  darstellen. 

Solche  Vereinigung  von  Vorstellungen  zu  Bildern  oder  Omppen 
höherer  Kategorie  ist  aber  nur  in  dem  FaUe  möglich,  wenn  erstere 
beim  Zusammentreten  im  Bewusstsein  sich  in  Bezug  auf  Intensität 
oder  Helligkeit  ausgleichen  kOnnen.  Erfahren  eine  oder  mehrere  der- 
fielben  ans  irgend  einem  Grunde  eine  wesentlich  bedeutendere  Fm- 
derung  vor  den  anderen,  so  kann  eine  soldie  \'ereini^-unfr  nicht  leicht 
stattrtnden.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall  bei  der  Auttassnnu:  des  Satzes: 
-Von  un<^efälii'  mu.ss  einen  Blinden  ein  Lahmer  auf  der  Strasse  findeu." 
Hier  siossen  die  coutrastirenden  Merkmale  der  \'orstellune:en  des 
Blinden  und  des  Lahmen  mit  allzuorrosser  Hellitrkeit  aut-inaiulei-.  wes- 
weijen  wir  nicht  so  ;^n*neiirt  sind,  den  Inhalt  dieser  Verszeüen  zu 
einem  Gemälde  zusammenzufassen,  wie  in  obigem  Falle. 

Das  Mass  der  Helligkeit  aber,  das  irgend  einer  Vorstellung  zu- 
kommt, steht  in  geradem  Verhältnisse  zu  dem  Grade  der  Aufmerk- 
samkeit und  des  Interesses,  die  man  selbst  darauf  wendet,  weil  man 
wünscht,  dass  es  in  der  Seele  des  Hörers  ebenso  ei-scheine.  Nun  ist 
leicht  einzusehen,  dass  das  Mass  der  Aufmerksamkeit^  welches  auf  die 
einzelnen  Theile  eines  solchen  Vorstellungsbüdes  (resp.  auf  die  ein- 
zelnen Vorstellungen)  entfiUlt,  ehi  um  so  geringeres  sein  kann,  je  mehr 
solcher  Vorstellungen  in  jenem  vereinigt  erscheinen,  und  dass  somit 
auch  die  Helligkeit  der  einzelnen  Vorstellungen  in  indirectem  Ver- 
hältnis zu  der  Anzahl  derselben  stehen  muss.  Je  mehr  Vorstellungen 
also  zu  einem  Bilde  vereinigt  erscheinen,  desto  geringer  ist  die  (ab- 
solute) Intensität  der  einzelnen.  Es  kann  aber  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dass  bei  der  Regulirung  des  für  eine  besondere  Reihe  gesam- 
melten Vorstellungsmaterials  gleich  der  ursprünsrlichen  Summe  und 
Reihenfolge  der  Vorstellungen  auch  der  urspriinirl ielie  Klarheits- 
LTad  dei*selben  Veränderimgen  erfahren  wird.  Durch  die  Kinwiikuug 
fler  willkürlichen  und  objectiven  Aufmerksamkeit  des  geliildeten  Kr- 
zählen»  erhält  jede  der  vorhandeueu  Voi*steiiuugen  ein  endgiltiges 

8* 


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—    IIÜ  — 


coiistuutes  ^[ass  von  Hellicrkeit,  das  von  der  „Wicliti;j:keit''  derselben 
abliän}rt,  niiinlich  von  ihrer  Bedeutung-  in  der  Ökonomie  des  Vorstel- 
lun^'-s})ro('esses,  und  mit  welchem  sie  jedesmal  erscheint,  so  oft  sie  in 
derselben  Vorstellungsreibe  rei)roducirt  wird. 

Durch  diese  Thätigkeit  der  objectiven  und  willkürlichen  Aufmerk- 
samkeit erhalten  insbesondere  die  secundären  Vorstellnngen  die  ihnen 
gebührende  Intensität  und  ebenso  die  durch  Auswechselung  an  Stelle 
unbrauchbarer  ursprünglicher  gelangten  den  Helligkeitfigrad  der  letz- 
teren, sofern  er  der  objectiv  richtige  ist 

Wie  gross  und  bedeutend  die  Unterschiede  sind,  die  sich  bei  der 
Begulirung  des  Ehtilieitsgntdes  zwischen  den  ursprünglichen  und  den 
endgiltigen  Intensitätsvethältnissen  ergeben,  das  hängt  yomehmlich 
von  der  Intelligenz  des  Erzählers  ab,  deren  Ausfluss  eben  die  Objec- 
üvitÄt  ist. 

Wir  wissen  nun  also  im  voraus,  dass  von  den  beim  Sprechen  zu 
reproducirenden  Vorstellungen  einige  mit  grösserer,  andere  mit  gerin- 
gerer Stärke  oder  Klarheit  ins  Bewusstsein  treten,  anderseits  aber 
auch,  dass  von  den  ^^^■■trtern.  welche  jene  ausdrücken  werden,  gleicher- 
weise einige  mit  griisserer,  andere  mit  geringerer  Starke  dei-  Stimme 
werden  gesprochen  werden.  Sollte  hier  nicht  eine  coustantc Beziehung, 
ein  ursächliches  Verhältnis  obwalten? 

So  will  es  in  der  That  scheinen. 

Intensität  der  Vorstellungen  gehört  zur  Form  des  Vorstellnngs- 
lebens.  Dass  aber  nicht  nur  die  Materie  des  letzteren  (die  Vorstel- 
lungen selbst),  sondern  auch  das  Formale  desselben  durch  die  Sprach- 
organe Ausdruck  finden  kann,  sehen  daran,  dass  die  G^Ühle  sowol 
durch  quantitative,  als  auch  durch  qualitative  Modification  der  Er- 
regung derselben  in  der  That  mit  gi'osser  Genauigkeit  zum  Ausdruck 
gebracht  werden. 

Halten  wir  uns  nun  gegenwärtig,  dass  der  Hauptzweck  der 
Sprache  doch  Verständigung,  ihre  wichtigste  Eigenscliatt  also  Ver- 
ständlichkeit ist,  so  wird  wol  die  Frage  gestattet  sein:  Wenn  das 
Bewusstwerden  der  Hemmung  und  Förderung  des  Vorstellungsablautes 
in  der  Sprache  seinen  Ausdruck  findet,  sollte  diese  über  kein  Mittel 
verfügen,  das  Verhältnis  der  Intensität  der  Vorstellungen  auszudrücken, 
das  doch  in  Plinsicht  auf  die  Absicht,  die  eigenen  Vorstellungen  in 
der  fremden  Seele  zu  err^^en,  ofifenbar  in  der  Ökonomie  des  Vor^ 
stellungsprocesses  eine  weit  vichtigere  Bolle  spielt? 

Wenn  aber  die  relative  Intensität  der  Vorstellungen  in  der  That  i 


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—   117  — 


l&Dtlichen  Aufidruck  ünden  sollte,  wo  und  in  welcher  Form  dui'feu 
wir  denselben  erwarten? 

Vorhandene  Gretulile  erzeugen,  gegen  den  Zustand  des  Gefühls- 
mangels  gehalten,  eine  bisweilen  bis  zum  Aussersten  g-esteigerte  £r^ 
regnng  des  gesanunten  Gehirns.  Dieser  entspricht  eine  bis  znm 
Aussersten  sich  steigernde  Erregung  nicht  nur  der  Sprachorgane,  son- 
deni  auch  jener  Glieder  Überhaupt,  welche  an  dem  Ausdruck  der 
muthsbewegungen  sich  betheiligen.  Wir  können  also  wol  in  schwacher 
Analogie  annehmen,  dass  intensivere  Vorstellungen,  welche  in  einer 
intensiyeren  momentanen  (bisweilen  auch  andauernden)  Erregung  der 
VorsteDung  bildenden  Elemente  des  Gehirns  bestehen,  oder  an  eine 
aMie  geknüpft  sind,  auch  eine  intensivere  Erregung  jenes  Organes 
bewirken  werden,  welches  dem  Ausdrucke  der  Vorstellungen  dient; 
letzteres  aber  ist  die  Definition  des  Satztones  oder  Acoentes.  Wir  können 
nun  wol  mit  einiger  Berechtigung  <len  Satz  aulstelhii: 

Der  Satzton  (lledeton,  logisclier  Accent)  ist  der  laut- 
liche Ausdruck  der  relativen  Intensität  oder  Klarheit  der 
beim  Sprechen  reproducirteu  Vorstellungen;  die  Intensität 
der  Betonung  eines  Wortes  steht  in  directem  Verhältnis  zu 
der  Intensität  der  jeweiligen  Vorstellung. 

Wenden  wir  diesen  Satz  aut  den  oben  erwähnten  Fall  einer 
VorsteUungsreihe  mit  theilweise  anschaulichen  Elementen  (Ei-zählung) 
an,  so  erhalten  wir  folgende  Zus;itzt-  Je  geringer  die  Anzahl  der 
Worte  ist,  welche  eine  einzeln  im  Bewusstsein  stehende  Vor- 
stellung oder  ein  Vorstellungsbild  ausdrücken,  um  so  stärker 
wird  der  Accent  sein,  den  jedes  derselben  gleichmässig  er- 
hSlt;  je  grösser  die  Anzahl  der  Worte,  um  so  schwächer  ist 
derselbe.  Am  stärksten  betont  wird  also  eui  Wort  sein,  welches 
emer  Vorstellung  entspricht,  die  einzeln  mit  grosser  Helligkeit  im 
Bewusstsein  steht  Ein  solcheis  Wort  ist  z.  B.  der  Ausdruck  der  Ich- 
Verstellung,  welche  entweder  dnrch  den  wichtigen  Impuls  des  Egoismus 
oder  durch  andere  Kräfte  bisweilen  mit  grosser  Intensität  ins  Bewusst- 
sem  tritt  Man  denke  nur  daran,  mit  welch'  kräftigem  Accent  Kinder, 
an  die  etwas  vertheilt  werden  soll,  das:  ,,Mir,  mir!"  ausrufen,  oder 
auch  in  Möros'  Ausruf,  da,  wo  er,  in  der  Absicht,  in  der  Seele  des 
Henkers  die  VorstcUiiUi,'-  st  incs  h  rtniudes,  als  des  von  ihm  zu  hängen- 
den, völlig  zu  verdunkeln,  die  Vorstellung  seiner  selbst  möglichst 
intensiv  erngen  will:  „Mich.  Henker,  erwiirgetl"  —  oder  an  den 
miichtiu'en  Accent  in  dem  dnrcli  die  französische  Geschichte  berühmt 
gewordenen  Köuigswortel  „letal  c'est  moi!" 


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—    118  — 


Sehr  srliwacli  betont  liingejjreii  wird  eines  von  mehreren  Wörtern 
sein,  weh'lie  zn^imnien  der  Ansdnick  einer  Voisrellung  sind,  die  als 
Tlieil  ein('s  Bildes  oder  aus  anderen  Gründen  nur  ein  geringes  Mass 
von  Helligkeit  besitzt. 

Nach  diesen  Regeln  erhalten,  um  die  oben  angeführten  Beispiele 
nochmals  zu  berühren,  die  drei  nicht  eingeklammerten  Worte  der 
Verszeile:  „(Ihm)  glänzte  (die)  Lovkc  silbt  rweiss",  weil  sie  einwertige 
Ausdrücke  massig  heller  (weil  zu  einem  Bilde  vereinigter)  Vorstellungen 
sind,  jedes  einen  gleichen  mässig  starken  Accent;  dagegen  werden  in 
dem  Satze:  »(Der)  Kaiser  ergreift  (den)  goldenen  Pokal"  zwar  „Kaiser" 
und  „ergreift"  ans  denselben  GrQnden  jedes  einen  gleichen,  eben&Us 
mässig  starken,  „gold'nen"  und  „Pokal"  aber,  als  zweiwertiger  Aas- 
druck eines  Bildelementes,  jedes  nur  einen  halb  so  starken  Accent 
erhalten;  denn,  gleichwie  das  Mass  der  Helligkeit  sich  gleichförmig 
auf  alle  Theile  des  Bildes  ausbreitet,  so  muss  sich  auch  das  Mass  der 
Betonung  gleichförmig  auf  alle  Wörter  vertheilen,  die  der  Anadrack 
einer  Vorstellung  sind. 

Als  weitere  Folgernng  aus  Obigem  ergeben  sieh  die  nachfolgenden 
Siitze,  deren  erster  einen  principiellen  Widerspruch  mit  den  bisher 
aufgestellten  Systemen  von  Betonungsregeln  enthält: 

1.  Der  Satzton  fällt  niclit  auf  die  einzelnen  Wörter  als 
solche,  sondern  auf  Wörter  oder  Wortgruppen,  gleichmässig 
vertheilt,  insofern  sie  der  Ausdruck  mehr  oder  minder  heiler 
Vorstellungen  oder  Vorstellungsgruppen  sind. 

2.  Der  Satzton  wird  instinctiv  gebraucht;  und  man  kann 
daher  eigentlich  nicht  sagen,  dass  er  in  der  Absicht  des  Bedenden 
liege.  Was  in  der  Absicht  des  Kedenden  liegt  und  allerdings  von  ihm 
regulirt  werden  kann  und  muss,  ist  hier  das  relative  Verhältnis 
der  Intensität  der  Vorstellungen. 

Doch  genug  der  Theorie.  £s  sei  nnnmehr  noch  gestattet,  einige 
hierher  gehörige,  zwanglos  aneinander  gereihte  Thatsachen  der  Er- 
fahrung ans  den  aufgestellten  Sätzen  zu  erkliiren. 

Die  erste  Sprache  der  Kinder  besteht  ausschliesslich  aus  gleich- 
förmig kräftig  betonten  Wörtern;  diese  Erscheinung  hat  zwei  Ursachen: 
1.  sind  diese  Wörter  in  der  B^el  der  einwortige  Ausdruck  einzetaier 
Voratellungen,  die  meist  unmittelbar  auf  äussere  oder  innere  Beize 
mit  grosser  Intensität  ins  Bewnsstseln  treten;  2.  entbehrt  die  kind- 
liche Sprache  der  Ausdrücke  für  jene  im  allgemeinen  mit  schwächerer 
ursprünglicher  Intensität  reprochicirbaren  Vorstellungen,  deren  Er- 
regung zur  Verständlichkeit  erfurderlich  ist.  —  Je  grösser  aber  die 


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—   119  — 


Intelligenz  sowol  bei  dem  Individuum,  als  bei  der  Gesammtlieit  einer 
Gesellschaftsstnfe  oder  eines  Volkes  ist,  mn  so  grösser  ist  auch  die 
Einsicht)  dass  und  welche  Yorstellnngen  zu  den  spontan  aufgestiegenen 
jedesmal  reprodocirt  werden  mttssen,  am  yoUes  Verstfindnis  der  Rede 
za  erzielen,  nm  so  grösser  ist  also  anch  die  Anzahl  minder  betonter 
WOrttf .  Von  diesem  Standpunkte  aus  stellt  sich  ans  insbesondere 
der  Glegensatz  zwischen  der  Sprache  des  Volkes  and  der  Sprache 
Höhergebfldeter  recht  dentlich  dar.  Erstere  ist  weit  accentreicher, 
d.  i  entiiSlt  eine  vergleichsweise  weit  grössere  Zahl  betonter  Wörter 
als  die  letztere;  denn  der  gemeine  Mann  hat  mit  Seinesgleichen  einen 
und  denselben  beschränkten  G^ichtskreis,  nahezu  dieselbe  Summe  und 
Färbung  der  Vorstellungen,  daher  er  jedesmal  nur  seine  spontan  re- 
produciiteu  Vorstellungen  auszudrücken  braucht,  um  verstanden  zu 
werden.  —  So  ist  auch  bei  einem  und  demselben  IndiNiduum  die 
Spmehe  des  Verstandes  von  der  des  Gefühles  erlieblich  verschieden. 
Letzttiv  erscheint  als  die  bei  weitem  accentreicliere;  denn  im  Atiecte 
ist  es  dem  ^lensclien  nicht  darum  zu  thun,  sein  Inneres  Anderen  niit- 
zutlieilen.  sondern  demselben  zur  Entlastung  der  bedi-ängten  Sinde 
überhaupt  Ausdruck  zu  leihen.  Bei  gesteigertem  Affecte  wird  die 
Sprache  immer  ärmer  an  schwach  betonten  Worten,  und  auf  der 
höchsten  Stufe  der  Gefühlserregnng  bleiben  nur  die  betonten  allein^ 
übrig,  als  der  Ausdruck  einzelner  ausschliesslich  dominirender,  überaas 
intensiver  Vorstellungen,  die  alle. anderen  völlig  verdunkeln  (so  im 
Zustande  der  Wuth  die  Scheltworte  nnd  Ausrufe  in  Befehlsform). 

Den  grössten  Gegensatz  in  Bezug  auf  relative  Anzahl  der  Satz- 
accente  stellen  ans  die  Sprache  des  Kindes  nnd  die  Sprache  der  ge- 
lehrten Prosa  dar;  dort  nur  stark  betonte  Wörter,  hier  die  grösste 
Anzahl  mindest  betonter,  da  der  Gelehrte  der  höchsten  Objectivität 
und  Deutlichkeit  bedarf,  seine  subtilen  Gedanken  Anderen  verständlich 
zu  machen  and  zu  diesem  Behofe  genöthigt  ist,  eine  Unmasse  von 
Vorstellungen  absichtlich  zu  reproduciren,  um  durch  den  (schwach 
betonten)  sprachlichen  Ausdruck  derselben  jene  in  der  Seele  des  zu 
Belehrenden  iji  derselben  Intensitätsabstufung  zu  erregen. 

Eine  eigenthümliche  Beobachtung  kann  man  an  Personen  machen, 
die  einem  Gedanken,  den  sie  mitzutheilen  wünschen,  in  nachlässiger 
Weise  Ausdruck  geben:  sie  sprechen  das  wichtigste,  meist  betonte 
W'ovi  zuci'st  aus,  als  Ausdinick  der  einzig  intensiven,  weil  unmiltelbar 
durch  kräftigen  Reiz  ins  Bewusstsein  getretenen  Vorstellung  und 
lügen  dann  andere  schwächer  betonte  Wörter  (behufs  dei*  Verständ- 
lichkeit) in  grammatisch  ungeordneter  Eeihent'ulge  dazu,  in  jener 


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—  120,— 


näiiilich,  in  der  die  entspreclieudeii,  absichtlicli,  aber  ohne  sonderliche 
Überlegung  reproducirten  Vorstellungen  etwa  in  ihr  Bewusstsein  treten. 

Eine  in  dieser  Hinsicht  recht  interessante  Erschemong  ist  der 
Monolojn^  im  Drama.  Hier  ist  es  dem  Sprechenden  mehr  nm  den 
Ausdruck  seiner  Qedanken  und  Gefühle  zu  thon,  weniger  um  ver- 
ständliche Mittheilung,  wie  beim  Dialoge.  Den  grammatischen  Aus- 
dmck  daf&r  bilden  die  sehr  hAufigen  EUipsen  und  abgerissenen  Worte 
und  die  h&ufigen  Pausen,  wie  denn  anch  die  vielen  Ruf-  und  Frage-  • 
zeichen  dafür  zeugen,  dass  vorwiegend  intensive  Vorstellungen  erregt 
werden.  — 

Sollten  die  ausgesprochenen  Sätze  in  der  That  ein  Körnchen 
Wahrheit  enthalten,  und  sollte  es  wirklich  zum  Verständnis  der  Bede 
unumgänglich  nothwendig  sein,  dass  nicht  nur  die  Vorstellungen  aber- 
haupt  und  insbesondere  das  Bewnsstwerden  der  Hemmung  und  Förderun^^ 
ihres  Ablaufes  ausgedrückt  werden,  sondern  auch  die  relative  Starke 
oder  Helli<rkeit,  mit  der  sie  bei  der  Keproduction  einer  fixirten  \'or- 
stellung-sweise  ins  Bewusstsein  treten,  durch  die  Spracliorirane  Aus- 
dnick  rinden  inUsste,  dann  drängt  sich  uns  soofleich  wieder  die  ent- 
tenitere  Fragfe  auf:  „Warum  müssen  die  Glieder  einer  durch  die 
^ijruche  auszudrückenden  Vorstellunjrsrcilie  in  Bezu«r  auf  ihre  Inten- 
sität in  einejn  bestinnnten  Verliältnisse  der  Abstufuii<r  stellen,  wenn 
sich  durch  das  Mittel  der  Sprache  unser  Denken  in  der  Seele  des 
Andern  getreu  wicilerspiegeln  soUV"  -  Eine  Frage,  die  ein  bisher 
ungelöstes,  aber  hotientlich  lösbares  ßäthsel  wichtigen  Inhalts  in  sich 
birgt,  eine  Frage,  die  uns  anregt,  nach  der  geheimnisvollen  Tiefe  zu 
schärfen,  \yo  die  feinsten  Wurzebi  des  menschlichen  Denkens  und  der 
menschlichen  Sprache  sich  wunderbar  ineinander  verschlingen. 


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Wiener  (iescMchteiL 

Von  Dr.  Friedrieh  Bitte», 

n. 

Wie  ich  in  der  vorigen  Nnmmer  dieser  Blätter  angedeutet  habe, 
trat  fSat  das  Wiener  Pftdagogiom  in  der  Mitte  seines  vierten  Lebens- 
jahres (im  Frühling  1872)  eine  Wendung  znm  Besseren  ein.  Fftr  das 
vacant  grewordene  Lehrfach  der  deutschen  Sprache  und  Literatur 
wanneu  wir  iu  Prof.  Dr.  Andreas  Tliurnwald  einen  ausnft-zeiclineten 
iM-enteu.  Als  derselbe  nacli  drei  .lalir<'n  sieh  vollständi<i:  in  das  Pä- 
'lairDsrinm  eine^elebt  und  sicli  besonders  aucli  mit  dem  Volkssehnhvesen 
Vertraut  iremaeht  hatte,  trat  er  {jfanz  in  unsere  Anstalt  über,  indem 
er  noch  die  Direetion  der  Knal)en-t'hnngssehule  sowi»»  das  Lehrtaeh 
der  Methodik  und  Schulpraxis  übernahm.  —  Ich  selbst  hatte  im  ]\Iärz 
1872,  naeh  der  früher  erwähnten  Krankheit,  nicht  nur  die  Directions- 
«reschäfte  und  die  Lehrthätigkeit  in  Psychologie,  Logik,  Pädagogik 
und  deren  Geschichte  wieder  angetreten,  sondern  auch  provisorisch 
die  ilethodik  und  Schulpraxis  übemomraen.  Tn  den  Sommoiferien  des- 
selben Jahres  vollendete  ich  mein  Lehrbnch  der  Psychohi-ie.  wodurch 
ich  eine  neue  Unterstützung  meiner  mUndlichen  Lehrthätigkeit  gewann. 

Noch  vor  Ablauf  des  vierten  Stndieigahres  unserer  Anstalt  (der 
Jahressdilnas  fiel  in  den  Monat  Juli)  kam  femer  eine  erspriessliche 
Bevision  des  Statuts  derselben  zu  Stande,  bei  welcher  namentlich  Dr. 
Adolf  Ficker,  der  sich  überhaupt  grosse  Verdienste  um  das  öster- 
leiciiische  Schulwesen  erworben  hat,  in  der  förderlichsten  Weise  mit- 
vhkte  (ein  kurzer  Nekrolog  über  ihn  findet  sich  im  zweiten  Jahr- 
gange  dieser  Zeitschrift  S.  466).  Diese  Bevision  hatte  den  Zweck,  die 
Nonnen  des  Pftdagogiums  mit  den  durch  die  neue  österreichische 
Schulgesetzgebung  geschaffenen  Verhältnissen  in  Einklang  zu  bringen 
ond  zugleich  die  im  Pädagocnum  gemachten  l-hlahninj^cn  /u  verwer- 
ten. Der  erwähnten  Gesetzixebuinr  jjemäss  war  bereits  ein  Theil  der 
Lehrstellen  an  den  Wiener  Volksschulen  mit  weiblichen  Kräften  besetzt, 
und  nachdem  die  Lehrerinnen  den  Lehrern  gleicligestellt  waren,  wui-de 


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—   122  — 


jenen  aueli  der  Eintritt  in  das  rä(lag:ogiuin  eröli'net  und  zwar  unter 
(lenselVten  Bedinfruiiffen  wie  den  Lelirern,  mit  denen  sit-  au<-h  dureli- 
aus  •remeinsamen  Unterricht  erhielten.  Von  den  sonstigt n  Anderuufren 
uusers  Statuts  sei  hier  nur  nocli  die  Aufhebung  der  iriilier  erwähn- 
ten Bestimmung  in  Betretf  des  Ii e Ii gions Unterrichtes  angeführt. 
Diese  Bestimmung  hatte  niemals  eine  praktisclie  Wirkung  gehabt,  da 
die  Zöglinge  des  Pädagogiums  sich  vergeblich  bemüht  hatten,  dt-n 
präsumirten  Privatunterricht  in  der  Religion  zn  erhalten,  weshalb  anch 
keiner  das  geforderte  Zeugnis  beibringen  konnte.  Weil  nun  überdies 
bei  den  inzwischen  angeordneten  staatlichen  Lehramtsprüfungen  auch 
die  Religion  berQcksichtigt  war,  so  fiel  fiir  das  Pftdagogiom  mit  der 
Möglichkeit  zugleich  die  Nothwendigkeit  einer  Controle  in  dieser  Hin- 
sicht weg.  Bezüglich  dieser  Verhältnisse  bemerkte  ich  in  der  im  Jahre 
1873  über  das  Pädagogium  herausgegebenen  Schrift  Folgendes:  „Das 
Pädagogium  hat  mit  der  Beligion  nichts  zn  thun,  was  auch  ein  Glück 
ist;  denn  es  ist  hiermit  eine  grosse  Gefohr  für  den  Frieden  und  das 
Gedeihen  der  Anstalt  ferngehalten.  Und  so  wei'den  im  Pädagogium 
die  Wissenschaften  rein  objectiv,  ohne  confessionelle  Färbung,  sondern 
lediglich  nach  Massgabe  ihrer  eigenen  Grundlagen  und  Gesetze  be- 
handelt. Ob  das  irgend  einer  kirchlichen  Partei  gefällt  oder  misstallt. 
künnnert  uns  nicht.  Für  uns  gelten  blos  die  Normen  der  Wissenschaft; 
unser  Ziel  ist  Erkenntnis  und  N'erbreitung  der  Wahrheit.  Glauben 
kann  iil)rii^ens  Jeder,  was  ei*  will." 

Die  iin  Vorstehenden  angeführten  Umstände  wan  n  es,  welche  im 
vierten  Jahre  dem  Niederganire  des  PädagoLnums  ein  Ende  machten 
und  vom  fünften  Jahre  an  einen  kraftvollen  Autsch wun^^  desstjheii 
herbeiführten.  Ein  freudi^rei-  Eifer  belebte  Eelu-er  und  Hörer  und 
steigerte  die  Erfolire  der  Arbeit.  Die  Ere(juenz  nahm  bedeutend  zu; 
unter  der  Hörerschaft  erschienen  auch  eine  Anzahl  Lehrer  und  Leh- 
rerinnto  von  auswärts,  aus  vei'schiedenen  I^rovinzen Österreichs,  aus 
mehreren  Ländern  des  deutschen  Reiches,  aus  Kusslaud  und  anderen 
europäischen  Staaten,  abgesehen  von  solclien  JSchulmännern  und  Schul- 
freunden, welche  nur  kürzere  Zeit  im  Pädagogium  hospitirten,  um  die 
gesammten  Einrichtungen  oder  einzelne  Lehrgänge  desselben  kennen 
zn  lernen.  Auch  beide  Übungsschulen  (eine  achtclassige  Knaben-  und 
eine  achtclassige  Mädchenschule)  gelangten  mit  der  Mutteranstalt  zu 
voller  Entwickelung  und  Bifite. 

l^atflrlich  kam  dieser  gedeihliche  Zustand  des  Instituts  den  Geg- 
nern desselben  nnerwartet  und  unerwünscht  Seit  Errichtung  desselr 
ben  hatten  sie  in  öffentlichen  Blättern,  namentlich  in  clericalen,  fort- 


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—   123  — 

wäluend  auf  das  l)estimmt€ste  propliezeit,  das  rädagogiuin  werde  „nicht 
drei  Jabre''  besteben,  und  es  gab  wichtige  Momente,  aui'  welclie  sie 
diese  Prophezeiung  stützten.  Aucb  war  der  Verlauf  jener  ominösea 
«drei  Jahre"  eher  dm  Widersachern  als  den  Freunden  des  Pädago- 
giiims  erfreulich.  Um  so  schmerzlicher  sahen  sich  die  ersteren  her- 
nach getftascht  Nun  mosste  natürlich  wieder  etwas  geschehen,  um 
die  gesonkenen  Hoffimngen  auf  den  Fall  der  Anstalt  neu  zu  beleben. 

Der  Wiener  „Volksfretind**,  das  damalige  Hanptorgan  der  deri- 
calen  Partei,  mit  einem  Motto  von  Papst  Pins  IX.  an  der  Spitze,  das 
Leibblatt  des  TTawiiiMiift  Ranscher,  redigirt  von  Consistorlalrath  Albert 
Wiesinger,  brachte  am  23.  Januar  1873  unter  dem  Titel:  „Bemer- 
bmgen  Aber  ein  Lehrbuch  der  Psychologie  von  Dr.  Friedrich  Dittes" 
eine  Strafrede,  deren  erster  Theil  also  lautet: 

„FQnf  Jahre  Bind  verflossen,  seitdem  der  Qemeinderath  Wiens  die  Stime 
hatte,  vor  den  Stufen  des  Thrones  die  sftnimtlichen  Bischöfe  Cisldtbaniens  der 
Vt  ilenmdnng  zu  beschuldigen,  weil  sie  in  ihrer  au  S(\  ^rnjestilt  ^berichteten 
IJesthwerdesehnft  erklilrt  liattt;n,  es  sei  mit  der  KvnN  litunj,--  des  beabsichtig't'en 
Piulai^ojriuHis  auf  ZcrstiirunL''  der  Relifdositiit  un«l  Sittlichkeit  in  den  Herzen 
der  heranwaclist  iKlt  ii  i  n-nfiatinn  ab|i?ej>;eheu.  Wir  wei'den  uäclisteus  ein  wiili- 
rend  dieser  lunf  Jalue  gesammeltes  reiches  Material  von  l'hatsacheu  verüiient- 
lichen,  nm  die  Verlemndimgsfrage  znr  endgiltigen  Entscheidung  zn  bringen, 
mid  wollen  hiermit  zugleich  das  frenndliche  Ansuchen  an  unsere  Leser  gestellt 
baben,  derlei  pro  ond  contra  sprechende,  jedenfalls  aber  nur  wol  verbürgte 
Thatsachen  ans  demSchoUeben  in  Stadt  nndLand  an  dieBedaction  des Volks- 
freniid"  f^elanj^-en  zu  lassen. 

Es  war  eine  lusti^a-  Zeit,  als  die  abtresandten  diei  Weisen  des  Wiener 
Geraeimleratbes  sieb  mit  guten  l>iäten  auf  die  Keise  maebten,  um  den  Stern 
zu  suchen,  der  Österreich  erleuchten  sollte.  Ein  durch  alle  deutscheu  liliitter 
gehendes  zwerch-  nnd  banehf^Uersdifittemdes  Hohngelilchter  begleitete  die  zur 
Demüthigong  des  Österreichischen  Namens  in  Scene  gesetzte  KrähwinkUade. 
Bald  war  er  gefhnden,  der  grosse  Liebt!  riiiirer,  denn  er  Hess  sich  nicht  lange 
bitten.  Er  kam  nnd  schrieb  sein  erstes  Manifest,  und  die  durch  ihn  zu  bilden- 
den Lehrer  Wiens  hinw  iedei-um  manifestirten  ibre  UiMunfrsunflUiigkeit  dadurch, 
dass  sie  in  den  wriiiirt-n  von  ilfin  t;rnss»-n  ^lann  erlas>tnen  Zeilen  ein  Dutzend 
grammatischer  Fehler  entdeckt  lialjcn  wollten  und  sogar  sich  erfrechten.  dieseHu  n 
in  der  „Schnlzdtnng'*  der  öffentlichen  Bennrnderong  preiszugeben;  ja  einige 
der  KalitiSeesten  sollen  sogar  das  Docmnent  den  Schi4jnngen  mit  bestem  Er- 
folg zun  Corrigiren  vorgelegt  haben." 

Ob  gesammelte  reiche  Material  von  Thatsachen"  nachtrSg- 
Uch  das  Licht  der  Welt  erblickt  hat,  weiss  ich  nicht,  da  ich  nicht 
Zeit  hatte,  den  „Volksfirennd"  regelmässig  zu  lesen;  gehört  habe  ich 
niehts  davon,  und  vielleicht  hat  die  erbetene  Mitwirkung  nicht  die 
erwünschte  Ansbente  geliefert  Dass  ich  mich  mit  dem  Urheber  obiger 
Stilprobe  nicht  in  einen  Streit  etnliess,  am  allerwenigsten  über  an- 


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—    124  — 

gebliclip  „ 'iTuniniatische  Fehler",  wird  der  p:eneio;te  Leser  begreiflich 
finden:  ^velHt(er  vielleicht  die  Thatsache,  dass  ein  .X'oujsistorlHlrath" 
solche  Publicationen  leisten  und  an  den  von  ihm  erzahlten  oder  er- 
dichteten Heldenthateu  seine  Freude  haben  konnte.  Auch  mir  war  bLs 
dahin  eine  so  elegante  und  noble  Diction  bei  einem  ( 'onsistorialrathe 
noch  nicht  begegnet.  Indes  überzeugte  ich  mich  bald,  dass  Pater  W'ie- 
singer  selbst  auf  der  Kanzel  eine  gleiche  Sprache  führte.  Ich  hörte 
ihn  nämlich  eine  halbe  Stunde  lang  predigen  „von  einem  amerika- 
nischen Schtthwichsfabrikanten  und  seiner  Schuhwichs", 
indem  er  den  amerikauischen  Schuhwichsfabrikanten  und  seine  Schuh- 
wichs mit  der  liberalen  Partei  nnd  ihren  Leistungen  verglich  und 
sein  Auditorium  mit  allerlei  politischen  Anspielungen  nnd  possirlichen 
Schnurren  amttsirte.  Und  dies  geschah  mitten  in  Wien,  in  der  Kirche 
zu  St  Peter.  Yermuthlicb  wollte  der  ehrwürdige  Pater  Wiesinger  den 
Abraham  a  Sancta  Clara  imitiren.  Jedenfalls  zeigen  die  angef&hrten 
Proben  seines  Genies,  von  was  fttr  Gegnern  und  mit  was  für  Mittehi 
das  Pädagogium  und  was  zu  ihm  gehörte  bearbeitet  wurde. 

Was  nun  meine  Psychologie  betrifft,  so  verdriesst  den  Hem 
Consistorialrath  insbesondere  die  dort  entwickelte  Lehre  von  der 
Willensfreiheit,  wobei  er  sich  auf  keinen  Gerinpferen  als  Kant  beruft, 
um  mich  zu  widerlegen,  indem  er  wörtlich  schreibt: 

..Wie  sich  doch  ilicse  rationalistipcht'n  Plattköpf»'  verwund^ni  mid  alh^lei 
un$rlüuV)i':»'  ( JriiiKi.s^cn  zu  sclincidcn  lirjrinnrii.  wmn  man  ihni'H  bei  diesem  An- 
lafiS  auseinaiuKTsetzt,  dass  Kant  damit  nidits  (Ti  i  iiiL'"t'ros  als  die  Erbsünde  im 
Auge  gehabt  liabe.  j;i  von  derselben  ^anz  enistlic  Ii  iiV)ei-zeugt  gewesen  sei." 

Armer  Kant,  dir  geht  es  noch  übler,  als  dem  guten  Abraham  a 
Sancta  Clara!  —  Sehr  begreiflich  ist  es,  dass  sich  Leute  wie  Heir 
Wiesinger  über  das  Pädagogium  ärgern,  denn  allerdings  vertreibt  es 
den  „Glauben**,  nämlich  den  Glanben  an  die  sonderbaren  Offenbarungen 
des  Herrn  Wiesinger  und  seines  Gleichen.  —  Schliesslich  kommt  der 
Herr  Consistorialrath  zu  dem  Hauptanliegen  seines  Herzens,  dessen  er 
sich  durch  folgenden  Ergnss  entledigt: 

.^Keiner  weiteren  Erörtei-ung  bedarf  es  auch  für  den  Unbefangenen ,  dass 
hiermit  das  Fundament  aller  Sittlichkeit  in  Trammer  geht  Einem  Staat, 
der  solche  Grundsätze  seinen  Jngendbildnern  nnd  durch  diese  der 
heranwachsenden  Jugend  seihst  einimpfen  lässt,  ist  bestens  zn 
gratnliren! 

"Mö^-e  uns  iraiiierhin  eine  Presse,  die  in  Denunciationen  2:e2:on  die  ..cleri- 
cale  l'artei"  das  deiikbai  Miiirlieliste  zu  leisten  nicht  müde  wird,  der  Denun- 
ciation  beschuldig^en;  das  darf  uns  nicht  abhalten,  bei  diesem  Anlas.s  ein  lautos, 
aus  tiefistem  Herzeusgrunde  kommendes  Videaut  consules  zu  rufen,  und  wir 


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fordern  nicht  nur  alle  katholisciifn.  sondern  die  ehrlichen  Journale  und  Vei'- 
eine  jeder  Partei  and  Färbung  auf,  iu  diesen  Ruf  mit  einzu&timmeiL" 

So  ganz  vergeblicli  hatte  Pater  Wiesinger  sein  Videant  consiües 
nicht  genifen,  und  die  an  „jede  Partei  und  Färbung"  pferichtete  Bitte, 
in  seinen  Ruf  „mit  einzustimmen*',  bat  jedenfalls  eine  Anzahl  williger 
Ohren  gefunden.  Die  consules  waren  keineswegs  alle  Qnzagftnglich 
ftr  gebfliche  Zospracbe.  Manche  gingen  in  sich,  wurden  bedenklich, 
ob  sie  nicbt  mit  der  Gründung  des  Pädagogiums  „za  weit  gegangen'* 
seien ,  oder  f&rcbteten  missliebig  zu  werden,  wenn  sie  für  den  als 
staatsgefiUirlicb  dennndrten  Director  desselben  Partei  nfibmen,  oder 
spähten  nmber,  wohin  sieb  die  Majorität  neigen  werde,  oder  suchten 
um  jeden  Preis  Bundesgenossen  zur  Errdcbang  persönlicher  Zwecke. 

Jn  diese  dubiöse  Situation  fiel  ein  ikelgnls,  welches  wider  Er- 
warten auf  meine  SteUnng  bedeutenden  Einfiuss  ansttbte.  Im  Herbste 
1873  sollten  nämlich  die  Wahlen  fftr  den  österreichischen  Reichsrath 
stattfinden.  Zu  meiner  lebhaften  Überraschung  erschien  nun  im  Sommer 
vorher  unter  der  Führung  des  Genieinderath  Dr.  Schrank  eine  De- 
putation angesehener  liiirger  des  dritten  Wiener  Wahlbezirkes  bei 
mir  mit  der  Mittheilung,  eine  grosse  Anzahl  von  Wählern  des  Bezirkes 
habe  beschlossen,  mich  als  Caiididaten  aufzustellen,  und  sie,  die  De- 
putation, sei  beauftni<jrt ,  mich  um  Annahme  der  ('andidatnr  zu  er- 
.suehen.  Der  Antrair  traf  micli  völliir  unvorbereitet:  ich  si)ra('h  die 
Bedenken  ans.  Avelche  mir  genub'  Iteitielen.  Nach  län*rerer  Discussion 
gab  ich,  in  Vohjui^  der  lebhaften  Zuspräche  Sclirank's  und  der  Deputation, 
die  gewünschte  Zustimmung-.  Nun  begann  der  Wahlkamj)f.  Ausser  mir 
wurden  im  Bezirke  noch  drei  Candidaten  aufgestellt:  erstens  Dr.  Eduard 
Kopp  (zum  Unterschiede  von  Dr.  Josef  Kopp  der  „Schfitzenkopp"  ge- 
nannt), der  (  andidat  jener  zahlreichen  Partei,  welche  sich  vor  dem 
n Volke**  die  „Uberale",  vor  den  oberen  Schichten  die  „conservative", 
vor  den  mittleren  die  „Bflrgerpartei"  nannte,  sonst  auch  als  die 
„pseudo-liberale'*  bezeichnet  worden  ist  (für  Kopp  wami  alle  grossen 
Wiener  Zeitungen  und  die  Mehrheit  der  Mitglieder  des  Gfememde- 
rathes);  zweitens  Dr.  Krttckl,  ünivendtätsprofessor,  Candidat  der 
dericalen;  drittens  Dr.  Mandl,  Candidat  einer  Wählelgruppe,  in 
welcher  neben  Mandl  der  jetzige  Gemdnderath  Dr.  Lueger  die 
Hauptrolle  spielte,  und  die  sidi  damals  „demokratisch"  nannte,  deren 
Programm  jedoch,  abgesehen  von  Personalangelegenheiten ,  bis  heute 
noch  nicht  klar  geworden  ist  —  Wie  es  bei  Wahlkämpfen  üblich  ist, 
wurde  ich  von  den  Gegenparteien  heftig  angegriffen;  ich  genoss  das 


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besondere  Yerguiigcii.  xon  drei  Seiten  bonibardirt  zu  Averden,  die  zwar 
unter  sich  nicht  gfhdclien  Sinnes,  gegen  mich  aber  einig  waren.  Die 
wesentlichsten  \'orwrirfe,  weh-he  gegen  inicli  in  Versannnlungen  und 
Zeitungen  erh(»ben  wurden,  waren:  icli  sei  doch  eifientlich  ..nur  ein 
Schulmeister",  der  übrigens  niclit  viel  tauge,  da  er  das  Pädairc^iuiu 
von  Jahr  zu  .Tahr  mehr  hi'iabbringe,  aucli  als  Mitglied  des  Landes- 
schulrathes  sich  missliebig  gemacht  habe;  überdies  wurde  mir  die  An- 
erkennung, weiche  ich  dem  im  Jahre  1853  verstorbenen  Ensbischof 
Milde  erwiesen  hatte,  von  den  Einen  als  clericale  Anwandlung,  von 
den  Anderen  als  Verherrlichung  eines  „Josefiners"  gleich  sehr  ver- 
übelt. Die  Vertheidigungsmittel  meiner  Partei  waren  sehr  beschränkt, 
da  die  Journalistik  grösstentheils  gegen  mich  war,  die  Wählerver- 
samminngen aber  meistens  durch  ungeheuren  Tumult  absichtlich  ge- 
sprengt wurden.  Um  so  mehr  mnss  ich  hier  die  Freimttthigkeit,  mit 
weldier  damals  Dr.  Kail  Hoffer  fftr  mich  eintrat,  dankbar  hervor- 
heben. Indem  dieser  als  Mitglied  des  Gemeinderathes,  des  Landes- 
schulrathes  und  der  AuMchtscommission  des  Pftdagogioms  die  im 
Wahlkampfe  berflhrten  Verhftltnisse  genau  darzustellen  vermochte, 
war  sein  Expose,  welches  er  am  19.  October  den  Wfthtem  gedruckt 
in  die  Hänser  senden  liess,  jedenfiüls  von  erheblicher  Wirkung.  Da 
dasselbe  ebenso  zur  Beleuchtung  der  damaligen  Situation  wie  der 
späteren  Vorgänge  selir  geeignet  ist,  so  möge  es  in  seinen  Haupt- 
stellen hier  Platz  tinden. 

Ditte.s  wurde  nach  der  sorf^fjUtif^ston  Auswahl  unter  den  liedeutendsten 
pUdagog'ischeii  Fachniilniu'rn  Deutschlands,  (»line  selbst  darum  conipetirt  zu 
haben,  vom  Gemeinderathe  von  Wien  als  Leiter  des  neugegrüiideten  Päda- 
gogiums berofen  (G«iiieinderathsbfi8cbliUB  vom  10.  Uflix  1868)  und  redit- 
fertigte  in  dieser  Stellong  das  wolbegrttndete  Vertraaen,  indem  er  das  am 
12.  October  1868  eröffnete  Wiener  Pädagogium  trotz  zahlreicher  änsserer  und 
innerer  Hemmnisse  zu  einer  Anstalt  entwickelte,  welclie  festbegründet  und  an- 
erkannt dasteht,  von  Jahr  zn  Jahr  an  Frequenz  zunimmt  und  binnen  der  kurzen 
Zeit  ihres  Bestandes  bereits  wesentlich  ffirdernd  auf  die  faeiiliche  Ausbildung" 
und  den  Geist  dei'  Lehrerschaft  Wiens  eing-ewirkt  hat.  Im  vorif,'-en  Schuljahr«» 
nuhmeu  KiO,  im  eben  begonueuen  nehmen  232  Lehrer  und  Lelu'erinnen  an  den 
Vorlesungen  des  Fttdagogiums  Theil  und  mossten  bereits  viele  wegen  Banm- 
maogels  abgewiesen  werden. 

Zum  ^fitglied  des  niederösterreichischen  Landesschulrathes  wurde  er  im 
Jalire  1870  vom  Wiener  Gremeinderathe  als  der  einzige  Nicht-Gemeinderath 
gewählt,  nachdem  die  T?e£rierun£r  es  abgelehnt  hatte,  ihn  als  Fachmann  in  diese 
Körperschaft  zu  wiihlni.  und  ei-  «rdiört  (h-iselltm  bis  heutr  als  cint-s  der  dun-h 
seine  Fachkenntnisse  bedeutendsten,  durch  seine  unbeugsame  Charakterfestig- 
keit geachtetsten  Mitglieder  an. 

Wenn  Dittes  die  Verdienste  des  Eftbischoft  Hflde  von  Wien  als  pttda- 


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(logischen  Scliriftstellers  und  eines  der  hodeutondsten  Püda<fop  ii  nstmt  ichs 
üi  Fa<  hki-ei8eu  liervoihub  und  in  der  neuesten  (dritten)  Auflage  seiner  liescliichte 
der  Erziehung  and  des  Unterrichts  dem  Wirken  desselben  ein  ehrendes  Denk- 
mal setzte,  80  beweist  dies  nur,  wie  eifHg  Dittee  bemllht  ist,  einem  bisher 
nicht  genügend  giewflrdigten  Ssterreichisehen  Schriftsteller  zn  seiner  Geltung 
in  da  Geiehiehte  der  Pildagog^ik  zn  verhelfen  und  ^vie  das  Verdienst  des 
Fachmannes  von  Dittes  in  dmi  hohen  Wiirdentrttger  der  katholischen  Kirche 
ebenso  jirewürdigrt  wird  wie  in  jedem  andfrn. 

Zum  Schlüsse  j^ci  hit-r  noch  «-ine  Stelle  ans  dem  anitlichen  Bericht  der 
Pädagügium-Aufsichts-Comniission  1870  aus  der  Feder  des  Obmannes  demlbeu, 
Begienmgsrath  Dr.  Weiser,  w9rtlich  angeführt: 

„Die  YortrSge  des  Herrn  Dr.  Dittes  über  Pädagogik,  ihre  Hilfewissen- 
sebften  nnd  Geschkhte  der  ersteren  möchten  wir  aber  geradt  /u  mustergiltig 
Be&nen.  So  wird  nnr  gelehrt,  wenn  lang-f ortgesetzte,  tiefeimrelit  nde  F'achstudien 
mit  reichhaltiiron  sen)stp:ewonnenen  Krtahruniren  frttn'ulieh  iland  in  Hand 
gehen  und  frlühendf  Liebe  zum  Fache  j,^epaart  i.st  mit  der  vollständitrsten 
Klarheit  in  und  mit  sich  selbst  und  init  einem  fest  ausgeprUgten  Charakter  im 
be«tea  Sinne  des  Wortes," 

Was  nnn  die  Wahl  selbst  betrifft,  so  entnehme  ich  fiber  sie  ans 
aufbewahrten  Zeitungsblättem  folgende  Data:  Am  20.0ctober  erhielten 
Dr.  Dittes  745,  Dr.  Kopp  o05,  Dr.  Mandl  237,  Dr.  Krückl  87  Stimmen. 
Es  musste  demnach  eine  engere  Wahl  auf  den  folgenden  Tag  angesetzt 
M'erden,  in  welcher  auf  mich  H46,  auf  Dr.  Kopp  400  Stimmen  Helen, 

So  ^iel  hier  über  diese  Atfaire;  ich  gedenke  dersel)>i'n  und  nament- 
Heh  mtiiner  Stellung  und  ThntiL'keit  im  IiVichsratlie  und  den  dort 
gemachten  Erfahrungen  spater  ein  besonderes  und  ausfiihrliches  Capitel 
zu  widmen.  Hier  habe  ich  nur  noch  vorzulühren,  was  auf  die  Wahl- 
geschiclite  zunächst  folirte. 

Im  Herbst  lö7()  war  icli  vom  niederösteiTeiehisrhen  Landes- 
ausschuss  dem  Untemchtsminister  Dr.  v.  Stremajn-  zur  Wahl  in  den 
Landesschiürath  vorgeschlagen  worden  nnd  zwar  primo  loco.  Der 
Minister  lehnte  es  ab,  mich  zu  ernennen.  Da  wurde  ich  vom  Wiener 
Gemeinderath  mit  grosser  Majorität  in  die  genannte  Corporation  ge- 
wählt. Im  Herbste  1873,  kurz  nach  der  Beichsrathswahl,  war  auch 
für  den  Landesschuli'ath  wieder  zu  wählen.  Diesmal  erhielt  ich  im 
Crememderath  nur  42  Stimmen,  während  auf  den  Candidaten  der  Con- 
serratiyen  46  Men.  (Auch  Dr.  Holfer  war  bei  dieser  Gelegenheit 
uihe  daran  durehzuüeülen,  er  erhielt  47  Stimmen  gegen  41.)  Dass  nun 
der  n.  0.  Landesausschnss  mich  abermals  primo  loco  vorschlug,  war 
wie  frfther  erfolglos.  Auch  ttber  diese  Angelegenheit  möge  ein  mit 
derselben  genau  vertrauter  Mann  gehört  werden.  Der  oben  bereits 
genannte  Dr.  Schrank,  Mitglied  des  Wiener  Gemeinderathes  und  des 


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n.  ö.  Landesausschiisses,  braclite  am  VI  December  1873  in  seiner 
„Demokrutij;c-lu'U  Zeitung-'  folgenden  Artikel: 

Dittps  1111(1  der  Wiener  Geiiieinderatli. 

Mit  schwerer  Mülie  wurde  die  Idee,  in  AVien  ein  Pildag-og-ium  zur  höheren 
wissenschaftlichen  Ausbildung  unserer  Volks-  und  Hiirg^erschullehrer  zu  errichten, 
durchgeführt.  Die  tinanziellen  iiedenkeu  über  die  grossen  Kosten,  die  Angst 
vor  einem  nenerlichen  Präjudiz,  daas  die  Gemeinde  Anstalten  erridite,  welche 
eigentlich  dem  Staate  softllen,  das  Widerstreben  vieler  bereits  lange  Jahre 
im  Schaldienste  stehender  Lehrer,  sieh  selbst  noch  einmal  anf  die  Schulbank 
711  setzen  und  manche  Ähnliche  Hindemisse  wurden  endlich  überwunden.  Allein 
die  beabsichtig-te  Confessionslosisrkeit  einer  Lelirerfortbildungs-AnstAlt  war  für 
Viele  ein  Greuel.  Die  Rejjfierung  selbst  wollte  laii^'-e  davon  nichts  wis.sen. 
Dem  rastlosen  Heiuiiheii  der  Majoritüt  des  dainali/,^en  Gemeinderathes  £relaiig: 
es,  auch  dieses  Hindernis  zu  bewältigen.  Da  kam  eine  neue  Verlegenheit, 
nSmlich  die  BesteUnng  des  Directors. 

In  Österreich  war  das  Wiener  Pftdagoginm  die  erste  Schöpfting  dieser 
Art.  Ein  Seminardirector  konnte  also  kanm  za  Hanse  gefunden  wttden.  So 
kam  der  Gemeinderath  in  die  Lage,  einen  Director  aus  dem  Reiche  am  berofen. 
Die  Gemeinderütlie.  welche  mit  dei-  schwierijren  Mission  betraut  waren,  einen 
geeifi-neten  Director  aufzusuchen,  schlugen  dem  Gemeinderathe  den  Director 
und  Landesschul-Inspector  in  Gotha  Dr.  Dittes  vor.  Man  bezeii  hnete  damals 
mit  Kücksicht  auf  den  ausserordentlichen  Ruf,  den  Dittes  unter  den  deutschen 
Pädagogen  geniesst,  diese  Wahl,  obwol  Dittes  Aaslftnder  nnd  noch  daen  Pro- 
testant war,  im  allgemeinen  als  eine  sehr  glflcklicfae.  Dittes  wurde  mit  allen 
gegen  zwei  Stimmen  (Pater  (Matscher  und  Severinns  Katholicns  Fnchs)  znm 
Director  erimnnt. 

Jetzt  begann  der  kleine  Kriesr  ire^rcn  die  Anstalt  und  ihren  Director.  In 
diesem  zähen  Kampfe  erjtrobte  sich  die  Tiichtiirkeit  des  Dr.  Dittes  im  vollsten 
Masse.  Vielfach  angeir rillen,  wenig  unterstützt  Inachte  Dittes  das  PAdagogituu 
auf  eine  Höhe,  dass  es  heute  achtunggebietend  dasteht. 

Noch  vor  drei  Jahren  war  der  Wiener  Gemeinderath  in  seinem  günstigen 
Urtheile  ilber  Dittes  vollkommen  einig  nnd  wählte  ihn  in  den  n.  9.  Landes* 
schnlrath. 

Die  Zeiten  lindem  sich  und  mit  iliiien  auch  —  der  Wiener  Gemeinderath. 
Dittes  ifinfr  nicht  zmück,  Dittes  blieb  nicht  stehen,  Dittes  eilte  vorwärts  mit 
der  Schaar  der  ihm  anvertrauten  Jünger  auf  der  Bahn  für  Wahrheit.  Reclit 
und  Freiheit.  Zu  einem  verstand  sich  Dittes  nicht  —  zum  Mamelukendienst«' 
für  die  communaleu  Pascha.  Dass  Dittes  im  Kreise  der  Demokraten  eischieu, 
dass  Dittes  einen  Liebling  der  conservativen  Partei  im  Wahlkampfe  besiegte, 
dass  er  endlich  seine  Gegner  geistig  weit  fiberragt,  das  alles  sollte  som  Ostra* 
cismos  gegen  üm  fähren.  Nicht  offen,  sondern  heimlich  zog  ihn  die  Majorität 
des  Gemeiderathes  von  einem  Gebiete  pädagogischer  Tbätigkeit  znrfick,  anf 
welchem  er  durch  drei  Jahre  ernst  und  würdig  die  Tnteressen  der  Schule  und 
d»'r  Lehrer  vertreten.  Wir  wollen  dem  V(»iii  ( remeinderathe  iL'ewälilten  Director 
Walser  nicht  ent}<egentreten.  wir  haben  ihn  in  seinem  Wirkungskreise  kennen 
und  achteu  gelernt,  wenn  aber  Walser  und  Dittes  in  Frage  stehen,  stimmt  auch 
Walser  für  Dittes  and  mit  ihm  alle,  denen  die  finde  Schule  am  Herzen  liegt. 


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rVr  n.  ö.  r>an«lesaiissrlniss,  der  schon  vor  drei  .laliren  den  IMrector  Dittes 
primu  loco  zum  Milirliede  des  Landesscliulr.athet»  vorstlilu^,  blieb  nach  viel- 
ftündigein  Kumple  auch  diesmal  bei  demselben  Voi-^cliluge.  Was  i8t  aber  die 
Folge  dieses  Voischlages?  Keine  andere  als  dass  die  commanalen  „Henig^tter*' 
ihre  Donnerkeiüe  gegen  die  liberalen  Mitglieder  des  Landesansschnsses  schwingen, 
dass  sie  es  gewiss  nicht  unterlassen,  die  Ernennung  des  von  ihnen  undankbar 
jrariick^ewiesenen  Schulmannes  durch  die  Re«!rierung  soviel  als  möglich  zu 
hintertreiben.  Thatsache  ist,  dass  bis  heute  der  n.  <"».  Tiande.ssciiulratli  iincli 
nicht  neu  iniistituirt  ist,  Thatsache  ist  es,  dass  dei-  Statthalter  die  an  ihn  ge- 
richtet** Intel  idllation  über  die  übermilssig  liMf^a  Sistirung  der  Landesschül- 
behörde  bis  heute  nicht  beantwortet  hat. 

Ein  Beitriig  zu  dieser  Intrigne  gegen  Dittes  scheint  die  Anfrage  des 
6.  B.  Schnfirer  in  der  Sitzong  des  Gemdnderathes  am  10.  December  gewesen 
zn  sein.  Er  frug,  ob  man  dem  Dittes  nicht  seinen  Gehalt  sperren  sollte,  da  er 
jetzt  Reiclisrath  ist  Soll  damit  nicht  der  Regierung  ein  Wink  gegeben  werden, 
dass  Dittes  keine  Zeit  für  den  Landehschulnith  hat?  Penn  an  dem  (^elde 
k;mn  ja  Herni  Schnürer  nicht  so  viel  gelegen  sein,  da  er  gesch\viei:en  hat.  als 
die  Post  mit  17,(K.H)  (iniden  tni-  den  Hürgerniejstcr  (r)r.  Felder),  der  ja  auch 
Keichsrath  und  noch  manches  andere  dazu  ist,  vorkam. 

Übrigens  mfisseu  wir  twr  Ehrenrettung  des  Dr.  Dittes  nodi  beifügen, 
dass  derselbe  weder  als  Landesscfanlrath,  noch  als  Abgeordneter  auch  nur  eine 
Stuide  in  seinem  Iteliramte  versftnmte,  Im  Gegentheile  cum  Nutzen  der  Com> 
innne  fortwährend  snpplirte,  dass  er  wie  hlshet  die  Kanideigeschftfte,  die 
Bibliotheksarl>eiten  n.  dgl,  persönlich  austührt. 

Wir  hoffen  nocli  immer,  dass  die  l?e«riernn^-  auf  den  kleinlichen  Tratsch 
einer  (^emeinderathsjKirfei  nicht  mehr  Ciewicht  legen  wird,  als  auf  das  L'rtheil 
der  deutschen  Lehrerwt  lt. 

Das  Ende  der  Gej^chicdite  war,  da.ss  die  Ucfjiening  aucli  diesmal 
mich  nicht  ernannte.  Es  wurde  mir  von  einem  glaubwürdigen  Manne 
erzählt,  Minister  v.  Stremayr  liabe  geäussert,  es  sei  nicht  recht  thon-* 
lieh,  dass  die  Regierung  den  Genieinderath  desavouire.  —  Aus  allem 
bisher  Erzählten  wird  ersichtlich  sein,  wie  bereits  vor  langen  Jahren 
der  Knoten  entstand,  dessen  Losung  erst  unlängst  erfolgte.  Und  nun 
werden  wir  mit  schnellen  Schritten  zum  Stadium  dieser  Lösung  kommen 


PMlaXDKiuui.    4.  Jahrg.  Heft  U. 


9 


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Zur  Bekeragung, 


Tn  dem  fVtthen  Auseinandergehen  der  Jngendbildani;  des  Volkes,  in  jener 

scharfen  SclM'idun fr.  wvIcIh'  -^rliliesslich  doch  nnr  zn  Hildiingrs'jregfensUtzen  fiihren 
muss.  die  social  ^^ich  luisziulriicken  suchen  werden,  zu  (rcj^ensiltzen  zwischen 
dem  Volk  mit  nctthdürt'tis;eni  Eleinentarunleiricjit,  und  der  lnihcr  f^ehildeten 
Classe  und  in  letzterer  wieder  zwisclien  den  „classiscb"  Gebildeten  und  den 
„real'*  Gebfldetra,  da  liegt  der  Angelpunkt,  den  jeder  politisdie  Maim  kenoeii 
sollte,  nnd  welchen  ein  Reformator  nnsers  gesanmiten  Unterrichts  heaefaten 
mnss,  wenn  er  nieht  anslgliehes  Unheil  anrichten  wiU.  So  lange  nicht  mit  der 
allgemeinen  Volksschule  für  alle  Sttade  Ernst  gemacht  wird,  nnd  so  lang-e 
unsere  höheren  Lehranstalten,  anstatt  auf  die  alJgeineine  \'olksschnle  sieh  auf- 
zubauen, immer  tiefer  mit  Unter-  nnd  Vniclas.seu  in  die  £lementarschale  sich 
eiiiscbiebeu,  it>t  an  keine  Beiiserung  zu  denken. 

Moritz  Müller. 


Wer  in  der  Volk.sschule  ^ich  Alles  um  die  Keliü-ion  drehen  lassen  will, 
wie  sieh  im  (iymnasium  Alles  um  Latein  nml  (Triechiscli  drehen  soll,  dei-  wird 
in  beiden  FitlU  ii  i<-leiehe  Fnlifeu  eintreten  sehen:  der  (.Tyninasiast  nimmt  spiittM" 
keinen  alten  Ciaäsikei-  mehr  zur  Hand,  und  für  den  Volksüchüler  sind  später 
Bibel,  Katechismus  nnd  Gesaogbnch  nicht  mehr  vorhanden.  Hit  dem  Obennasa 
hat  man  die  Sache  selbst  verdorben.  Mit  einer  kurzen  Schnlandacht  nnd  mass- 
voll beschränktem  historischen  ReligionsunteiTicht  in  der  Schule  würde  man 
für  wahrhafY  religiöse  Bildung  des  \'<dkes  nacli  meiner  Übenseugnng  mehr 
ertlichen  als  heut  zu  Tage  durch  das  Zuviel. 

J.  B.  Meyer. 


Wer  seine  Mitmenschen  in  dieser  Zeit  wahrhaft  nnd  dau^haft  glücklieh 
zu  machen  sucht,  der  versichert  sich  weit  grösseres  Recht  auf  ihre  Dankbar* 
keit,  als  wer  ihnen  von  den  unbekannten  Gefilden  jenseits  des  Grabes  viel 
vormalt. 

Karl  Graf  v.  Zinzeudorf. 


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Dannii  iimss  ein  .Staatsinaiiu ,  weklu'Ui  Maclit  und  Mchruiif;-  dos  Ivcit  lips 
frelimtfen  ist,  darauf  sinnen,  dass  die  folgende  lieneiatinn  die  (Trr>s8e  nidit  nur 
zu  erhalten  und  zu  befestigen  weiss,  sondern  sie  in  ilaeui  walu'en  Weite  zu 
begreifen,  ja  sie  sn  demselbefi  «i  erkeben;  sonst  hat  er  iudbe  Arbeit  geUum. 
In  einem  Henschen  und  In  allem  UenecUiehen  moss  mit  des  Leibes  Eralt  aach 
die  Macht  des  Geistes  wachsen,  sonst  ist  es  kein  gesunder  Organismus,  oder 
ein  niedrig  stehender.  Das  nachfolgende  Geschlecht  aber  würde  unföhig  sein, 
die  Frücht^  der  Staatsweisheit  und  der  opfermuthio^en  Kilnipfe  seiner  \'oi'- 
faliren  zu  ernten,  es  würde  die  (rrösse  und  ilen  Ghinz  d.s  Vaterlandes  nicht 
zu  erhalten  vermögen,  wenn  es  nicht  ganz  von  der  lelu  niügen  l'berzengnng 
dorchdruugen  wird:  Es  sei  denn,  dass  ein  Volk  reich  ist  au  Uedanken,  sonst 
ilt  es  kein  reiches  Volk;  es  sei  denn,  dass  es  gross  ist  an  Gesinnung,  sonst  ist 
es  kein  grosses  Volk;  es  sei  denn,  dass  es  herrsche  in  nnd  mit  dem  (leiste, 
sonst  wird  es  im  Bathe  nnd  Reiche  der  VSlker  nicht  herrschen,  sondern  dienen. 

Lazarus. 


Die  HeHenen,  auf  welche  die  Vertreter  des  Alterthums  mit  Recht  so  gern 
sich  berufen,  die  Hellenen  pflegten  zunftchst  das  Nationale....  DasCentrnin, 

das  Herz  unserer  geistigen  Bildung  muss  in  den  liidieren  und  niederen,  in 

den  Knaben-  nnd  in  den  Mäddienschulen  —  der  deutsche  Unterricht  sein  

Im  deutschen  Unterriclite  liaben  wir  den  richtigen,  (hu  alisohiten  Massstab  tTir 
die  Beortheiluiig  der  geistigen  Keife  eines  Schülers,  nameutlich  am  deutschen 
Ailtots.  . . .  Zum  IDttelpunkt  des  deutsehen  ünterrichts  ist  unsere  National- 
hterstur  zu  nehmen.   Eine  gründliche  Kenntnis  der  Literatur,  welche  sich 
wenigstens  in  den  Blttteperioden  auf  die  Quellen  selbst,  nicht  nur  auf  die 
Compendien  der  Literaturgeschichte  zn  stutzen  hat,  mnss  der  Brennpunkt,  die 
Centraisonne  der  gesammten  Unterricditsfilcher  sein.    Sie  ist  es  hauptsUchlich. 
welche  uns  in  das  geistige  T.eben  unsei-s  \'olkes  eintTihrt,  welche  das  Natioiial- 
bewusstaein  belebt  nnd  stärkt  und  jenen  idealen  Zug  der  Seele  verleiht,  welcher 
den  Menschen  vom  Gewöhnlichen  luid  Gemeinen  fortzieht,  und  weichen  unsere 
Schulen  den  Zöglingen  als  köstlichstes  Gut  einzupflanzen  haben.  Die  Literatur 
Idrt  den  Pulssehlag  eines  Volkes  nachempfinden;  ihre  Geschichte  ist  die  ideale 
Geschichte  der  Menschheit.  .  .  .   Wir  Deutschen  haben  nachgerade  alle  Ur- 
sache, das  Nationale  in  allen  Sphären  in  den  Vordergrund  zu  stellen,  wir,  die 
wir  bisher  auf  Kosten  des  Einheimischen  allzuselii-  in  dei-  Nachahmung  des 
Fremden  befangen  waren.  Die  neuei  e  deutsche  Literatur  aber  ist  vornehmlich 
dazu  angethan,  das  Nationale  unsers  \'olkes  zn  lurdern.  .  .  .    Das  Erlernen 
der  alten  Sprachen  in  dem  jetzigen  pliiiologischeu  Sinne  erreicht  nicht  das  Ziel, 
die  Schfiler  in  die  Antike  einzuführen;  es  hat  bei  denselben  nicht  selten  das 
Gegentheil  einer  Zuneigung  zu  den  alten  Schriflstellem  zur  Folge  gehabt  Ja 
wir  dfirfen  sogar  behaupten,  dass  in  der  Behandlung  der  fiemden  Spraclien, 
wie  sie  auf  unseren  höheren  Lehranstalten  gehandhabt  wird,  in  der  Ausdeh- 
nung der  gi-annnatisclien  Übungen  der  wunde  Punkt  unsers  gesammten  T.ehr- 
planes,  da:^  fleinmnis  für  eine  gedeihliche  Entwickelung  liegt  und  das  (iynina- 
MQui  insbesoudere  zu  einer  Verbalschule  stempelt.  .  .  .   Auf  allen  Gebieten 


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—    132  — 

nnsers  geistigen  Lebens  gewiihrcii  wir  fin»  ii  stctiK'en  Foitscliiiit :  es  wilre 
thöncht,  weim  unsere  liöiieieji  Lelüani>taJten,  sulcin  sie  Anspruch  auf  eine 
Pflanzstätte  und  Trttgerin  unserer  Cnltnr  erheben,  dem  in  immer  weitere  Femen 
und  expansivere  Bahnen  einlenkoiden  menschlichen  Genins  sich  verschlSesen. 
.  .  .  Das  Eingen  des  modemen  Cnltnrelementes  nacli  gerechter  Anerlcenunng 
hat  einen  tiefernsten  Grnnd  in  der  gan;{en  Entwiclcelang  nnsers  geistigen 
Lebens:  liier  waltet  eine  Xotliwentlifj-koit  voi\  tlie  mit  dem  ^eistigren  Process 
der  Mt  nschlu'it  in  X'erbindini^i:  steht.  Es  hiesse  die  Axt  an  uiLsere  jreistii^'e 
Entwickelun^^  leg:en,  wollte  man  gewaltsam  die  Entfaltung  des  modernen  Cultnr- 
elementes  zurückdräni^en. 

(Die  nationale  Kelurm  uiisei-er  höheren  Lehraustalteiuj 


N'eruiilwurtliciiir  Heduitcui:  M.  Stein.  llui LdruckcrLi  Juliuü  Kiiiikliarilt,  l^iyi'tff. 


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I 


Pädagiigigehe  Thitigkeit  in  FraBkreieh. 

Mit  geiegeutliclieu  Blicken  aal'  Deatschland.*) 

Die  Ansicht  ist  iiocli  ziemlich  allgemein  verbi'eitet  in  Deiitsch- 
liiiul,  das8  wir  aul  dem  Gebiete  des  Unterrichts-  und  Krziehuugswesens 
von  anderen  Völkeni  nichts  lernen  können,  dass  die  allgemeine  Volks- 
bildung nirgends  giösser  sei  als  bei  uns,  den  glücklichen  Besitzern 
des  allgemeinen  Schulzwanges,  dass  wir  daher  kaum  ans  anderem  als 
lustorischem  Interesse  ans  um  das  zu  künunem  brauchen,  was  bei 
anderen  Völkern  auf  diesem  Gebiete  vorgeht.  Am  wenigsten  aber  um 
Frankreich.  Hält  doch  der  Procmtsatz  der  Lese-  und  Schreibkondigen 
in  diesem  Lande  auch  nicht  annähernd  einen  Vergleich  aus  mit  dem 
QDsrigen!  Und  soll  nicht  b^anntlich  der  dentsche  Schulmeister  die 
Schlachten  des  letzten  Krieges  gewonnen  haben?! 

Manchem  Tieferblick^den  mögen  freilich  schon  bisweilen  schwere 
Bedoiken  ob  dieser  Selbstgenfigsamkeit  gekommen  sein,  und  mit  sorgen- 
vollem Ange  mag  er  der  besonders  seit  dem  letzten  Kriege  mehr  und 
nehr  wachsenden,  dnrch  Nationalstolz  genftbrten  Oberhebnng  seiner 
Landsleate  gefolgt  sein.  Vielleicht  hat  er  sich  erinnert»  dass  es  doch 
dasselbe  „ungebUdete"  Frankreich  mit  seinem  niedi  igen  Procentsatz 
war,  welches  in  der  französischen  Bevolution  die  grösste  Colturthat 
der  Neuzeit  vollbrachte,  dasselbe  „ungebildete"  Frankreich,  welches 
zn  den  bedeutenden  Männern,  die  die  Welt  vorwärts  gebracht  haben, 
nicht  das  geringste  und  nicht  das  schlechteste  Contingent  gestellt  hat, 
«Iasspll)e  .umgebildete"  Frankreicli,  welches  auf  fast  allen  Gebieten  des 
geistigen  wie  des  materiellen  Lebens  vielfach  das  Vorbild  füi*  die 

*)  Verftaaer  dieser  yortrefllich»!  Abhandlmig  ist  ein  horvoms^eiider  devtwher 
Schalmaim,  welcher  hob  echreibt:  „In  einer  Zeit,  wie  der  jetsigen,  kann  es  nur  Trost 
und  ßcruhigong  gewähren,  das  gute  6ei.spiel,  welches  nns  andere  Natinneii  ^ben, 
zu  verfolL'^pti.  auch  wenn  es  von  unserem  iiolitisclien  „Erbfeind"  ausgeht.  Auf  dem 
Gebiete  dt-r  i'ultur  haben  wir  nur  einen  Fein<l,  das  ist  der  Kilckscliritt.  —  Dass  ich 
als  Verfa-sser  nicht  genannt  zu  werden  wUnsclie,  wird  lliuen  bei  meiner  amtlicben 
Stellnng  begreiflich  eracheineu."  —  Auch  ein  Zeichen  der  Zeit!  —  D.  H. 

Pndago^uflt.  i.  3üms,  Heft  IIL  10 


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—   134  — 


auderen  Nationen  gewesen  ist  und  noch  ist.  Und  er  fragt  sich  dann 
vielleicht:  Ist  der  Piocentsatz  der  Lese-  und  Schreibkundigen  in  Wirk- 
lichkeit ein  so  zuverlässigtT  (Tradmesser  der  Intelligenz  und  tles  Bil- 
dungsstandes eines  Volkes?  Ist  nicht  die  Schule  des  Lebens  und  zwar 
des  wirklichen  Lebens  in  einem  gi'ossen,  kräftigen  (.xcnieinwesen. 
dessen  packendes  Interesse  den  Eiuzehien  zur  Mitthätigkeit  lieranzieht, 
nicht  des  politisch  unmündigen  \V£;etirens,  ist  diese  Scliule  nicht  auch 
etwas  wert?  und  ist  der  Proceutsatz  der  diese  Schule  Besuchenden  in 
Frankieich  so  gering?  verleiht  sie  niclit  auch  Intelligenz  und  Bildung 
und  vielleicht  noch  etwas  mehr  als  das  blosse  Lesen  und  Sclireibeii, 
als  das  blosse  verständnislose  Herplappein  religiösen  Memonrstoffes? 
Diesen  Gesichtspunkt  weiterm  verfolgen,  wäre  gewiss  nicht  uninteressant 
and  wfirde  vielleicht  zu  ganz  üben-aschenden  Ergebnissen  führen.  Doch 
soll  es  uns  fUr  heute  genügen,  ihn  angedeutet  und  dadurch  zum  Nach- 
denken über  das  Dogma  von  unserer  Superiorit&t  und  der  französischen 
Inferiorität,  ich  sage  nicht  im  Unterrichtsweeen,  sondern  in  der  Bil- 
dung überhaupt,  angeregt  zu  haben.  Vielleicht  wird  dann  die  Auf- 
forderung, sich  doch  einmal  etwas  genauer  auf  dem  pädagogischen 
Gebiete  unsers  Nachbarlandes  umzusehen,  nicht  mehr  so  paradox  er- 
seheinen und  als  nutdose  Zeitverschwendung  angesehen  werden. 

Zwei  Momente  sind  es,  die  in  der  Gegenwart  noch  ganz  besonders 
dazu  auffordern:  einmal  die  Rührigkeit,  ja  fast  fieberhafte  Thätigkeit> 
mit  der  man  in  Frankreich  augenblicklich  daran  ist.  das  gesammtt» 
Schulwesen  vom  höhereu  Unterrichtsrath  an  bis  herab  zur  einlachen 
Volksschule  einer  vollständigen  Umgestaltung  zu  unterwerfen,  einer 
Umgestaltung,  die  in  einzelnen  Punkten,  wie  z.  B.  in  der  Loslösune: 
der  Schule  von  der  Kirche,  bis  zur  directen  Umkehrung  des  früheren 
Verhältnisses  geht.  Zweitens  die  wenig  erfreuliche  Lag»-  dei  Dinge 
bei  uns  daheim:  immer  droliender  zieht  sicli  an  allen  Ecken  und  Enden 
unsers  deutschen  \'aterlandes  das  schwarze  Gewölk  der  Reactiou 
zusammen,  und  ihre  finsteren  Vorboten,  die  von  dem  Herausgeber  dieser 
Zeitschrift  bei  früherer  Gelegenheit  so  w  ahr  geschüdeiiien  krankhaften 
Erscheinungen,  treten  immer  rücksichtsloser  und  in  immer  grösserer 
Zahl  vor  die  Öffentlichkeit.  Man  braucht  kein  Schwarzseher  zu  sein 
und  muss  doch  sorgenvoll  in  die  Zukunft  blicken;  man  braucht  noch 
die  Hoffiiung  auf  ein  Besserwerden  nicht  an&ugeben,  noch  nicht  aa 
dem  Glanben  zu  verzweifeln,  dass  das  Bad  der  Culturgeschicfate  sich 
dauernd  nicht  zurückdrehen  läset,  und  muss  doch  tiefen  Schmerz  em- 
pfinden, wenn  man  sieht,  wie  die  geistigen  Errungenschaften  der  letzten 
Jahre,  eme  nach  der  andern,  wieder  geopfert  werden.  Ein  Gefühl 


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des  Neides  fast  möchte  uns  beschleichen  beim  Anblick  der  freier  denn 
je  \m  unseren  Nachbarn  sich  eatMtenden  Thätigkeit  auf  dem  Gebiete 
der  y Olkserziehung,  der  Summe  von  jngendfrischer  Kraft,  von  hoher 
Begeisterung,  die  diesem  einen  Ziele  in  immer  neuen  Formen  und  Ge- 
stalten entgegengetragen  wird,  m&g  sie  auch  bisweilen  von  jugend- 
lichem Ungestflm  und  Übermuth  nicht  ganz  frei  sein.  Ein  O^Uü  des 
Neides,  sage  ich,  könnte  uns  beschleieben,  wenn  es  nicht  zugleich 
ineh  ein  G^tthl  des  Trostes  wäre,  dass  der  Kampf  für  die  Wahrheit 
und  gegen  die  Lfige,  in  dem  wir  zu  so  mächtigen  und  bedeutenden 
fltreiteni  berufen  zu  sein  schienen,  in  dem  Augenblick,  da  wir  die 
Waifen  ans  der  Hand  legen,  yon  einem  andern  Volke  wieder  auf- 
genommen und,  wie  wir  holfon,  nachhaltiger  und  andauernder  weiter 
gefilhrt  wird.  Eommen  doch  die  Resultate  schliesslich  andi  uns  zu  gut 

Diese  Gründe  und  Erwägungen  sind  es,  die  mich  ftlr  die  nach- 
stehenden Betrachtungen  auf  Interesse  und  wolwoUende  Aufnahme  von 
Seiten  der  Leser  hoifen  lassen.  Icli  möclite  ilmen  ein  anschauliches 
nnd  lebensvolles  BiUl  entrollen  von  der  Emsii^keit,  dem  Eifer  und  der 
Riibrigkeit  unserer  Naclibarn  aut  pädagogischem  (iebiet,  von  ihren 
Zielen  und  Absichten,  von  den  erreichten  Resultaten  wie  von  den  noch 
unerfüllten  H'»ti'niin2:en.  Es  liegt  mir  weniger  daran,  eine  Summe  von 
Thatsaciien  in  cliroiiologischer  Reihenfolge  aufzuzählen,  wie  sie  z.  B. 
die  Neuurgaiiisation  der  verscliiedenen  Unterrichtsbehörden  und  Schulen 
darbieten  idas  ist  bereits  in  früheren  Aufsätzen  dieser  Zeitschrift  von 
berufenerer  Feder  geschehen),  als  vielmehr  daran,  in  allgemeinen  Zügen 
unter  Berücksichtigung  der  in  den  Versammlungeu  und  Reden  der 
betreffenden  Kreise  geäusserten  Ansichten,  wie  der  in  der  Tagespresse 
zam  Ausdinick  kommenden  öffentlichen  Meinung  den  Charakter,  den 
43eist  und  die  Richtung  jener  Thätigkeit  zu  kennzeichnen. 

Unter  allen  Staatsformen,  die  in  Frankreich  auf  einander  gefolgt 
flod,  hat  keine  —  man  kann  das  mit  vollem  Becht  behaupten  —  das 
eigentliche  Wesen  und  die  wahre  Bedeutung  der  Schule  als  wichtigste 
BQdnngsanstalt,  als  wichtigsten  Gultur&ctor  in  dem  Masse  erkannt, 
anerkannt  nnd  gefördert,  als  die  Bepublik:  Eönigthum  wie  Kaiser- 
thnm  in  ihren  verschiedenen  Schattirungen  haben  sich  entweder  um 
sie  so  gut  wie  gar  nicht  gekfimmert  und  sie  der  Kirche  an  Händen 
und  Fflssen  gebunden  ausgellefei-t,  oder  aber,  wo  sie  ihren  Wert  besser 
«■kannten,  sie  zur  Ehreichung  herrschsttchtiger  und  ehrgeiziger  Pläne 
benutzt  In  beiden  Fällen  ist  sie  ein  willenloses  Werkzeug  gewesen 
und  ihrem  eigentlichen  Ziel,  der  Verbreitung  wahrer  Bildung,  fremd 
und  fem  geblieben:  denn  diese  ist  zugleich  die  Feindin  des  Despoten, 

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—   136i  — 


wie  des  hensc'lisuchtigt'ii  i*iii'slers.  Erst  die  Republik  hat  sich  der 
Schule  um  ihrer  selbst  wiHen  aii<renoiiimeii,  die  erste  v<iii  1 789,  wie  die 
zweite  in  unserer  Zeit,  mid  wenn  jene  in  ihren  mannigfaltigen,  oft 
freilich  excentrischen  und  unreifen  Reformen  nicht  über  die  gute  Ab- 
sicht, über  den  Versuch  hinausgekommen  ist  und  hauptsächlich  der 
inneren  wie  äusseren  Wirren  wegen  nicht  wol  darüber  hinauskommen 
konnte,  so  scheint  die  zweite  berufen  zu  sein,  in  ungestörterer  Buhe 
das  damals  unterbrochene  Werk  mit  neuen  Krilften  fortanzsetzen.  Viele» 
ist  bereits  erreicht:  die  Trennung  der  Schule  von  der  Kirche,  wie  sie 
ih  den  Gesetzen  flbw  den  höheren  Unterrichtsrath  und  über  die  Fror 
hdt  des  höheren  Unterrichts  für  diesen  letzteren  bereits  zur  That 
geworden  ist  und  für  das  Elementarschnlwesen  durch  die  in  diesem 
Jahre  freilich  noch  unerledigt  gebliebene  Vorlage  über  den  niederen 
Unterricht  im  nächsten  Jahre  bestimmt  ebenfiüls  zur  That  werden  wird* 
Biese  Errungenschaft  ist  das  Fundament  des  ganzen  Gebftudes,  die 
conditio  sme  qua  non,  an  die  sich  dann  der  8kdiulzwang  und  die  Un- 
entgeltlichkeit des  Unterrichts  als  weitere,  von  der  letzten  Kammer 
bereits  angenommene  Gesetze  anschliessen,  L'enseignement  laique,, 
gi-atuit  et  obligat oire,  wie  die  Franzosen  kurz  sagen,  ist  unzweifelhaft 
der  giüsste  Schritt,  den  Frankreich  auf  der  Bahn  der  Cultur  in  jüngster 
Zeit  tinin  konnte.  Ks  hat  sit  li  dadnrrh  aul  dvin  (iel)iete  des  Schul- 
wesens in  (»inigen  Punkten  bereits  luii  ein  gutes  Stück  über  die  anderen 
Cuiturstaaten  emporgelioben. 

Mit  diesen,  aus  der  Initiative  der  Kegierung  hervorgegangene» 
grundlegenden  Reformen  ist  der  Bann  gebi  itchen.  der  bisher  auf  der 
Schule  lag,  und  zugleicli  der  Boden  geebnet  tür  Veränderungen  und 
Verbesserungen,  die  mehr  die  inneren  Fragen  des  Unterrichts  betretfeu. 
Diese  wachsen  denn  auch  in  der  Form  von  Vorschlägen,  von  Vereins- 
beschlüssen und  Resolutionen  fiisch  aus  dem  bish^  80  stei'ilen  Boden 
hervor.  Die  Schulfrage  steht  mit  auf  der  'i'agesordnung  in  Frank- 
reich, und  wie  sich  die  Bedeutung,  die  derselben  von  oben  beigelegt 
wird,  schon  durch  die  angesehene  Stellung  des  Unterrichtsministers- 
kund  gibt,  so  zeigt  sie  sich  auch  sonst  in  dem  regen  Interesse,  welche» 
die  an  der  Spitze  stehenden  Männer  den  Schuleinrichtnngen  und  den 
Vorgängen  in  anderen  L&ndem,  besonders  in  Deutschland,  zuwenden. 
Wie  Frankreich  auf  dem  internationalen  Unterrichtscongress  in  Brüssel 
vertreten  war,  so  fehlte  es  auch  nicht  auf  der  diesjährigen  allgemeinen 
deutschen  Lehrerversammlung  in  Kai'lsmhe.  Noch  kürzlich  las  man 
femer.  von  emer  Commission,  die  im  Auftrage  der  Regienmg  Deutsch- 
land bereist,  um  die  physikalischen  und  anatomischen  Sammlungen  in 


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Augeascheiii  zu  nehmen.  Dass  auch  Lehrern,  die  das  Deiitstlie  erlernen 
wollen,  durch  regierungsseitige  FTirderung  es  ermöglicht  wird,  einen 
Theü  ihrer  Studien  in  Deutschland  zu  absolviren,  ist  ebenfalls  hier 
n  erwähnen.  Überall  tritt  deutlich  und  unverkennbar  das  Bestreben 
henror,  früher  Versäumtes  dmch  doppelten  Eifer  nachzuholen.  So  ist 
denn  die  Schnlfrage .  dne  der  Hauptfrag^en  der  inneren  Politik  des 
heutigen  Fraiikreieh  geworden,  und  damit  ist  das  Literesse  an  ihr  bei 
iDen  Parteien  und  durch  diese  bei  der  grossen  Masse  des  Volks  rege 
gemacht  Sie  alle  stimmen  darin  fiberein,  die  kleine,  clericalen  Ein- 
flössen am  meisten  zugängliche  monarchische  Partei  freilich  nur  ungeiii, 
«dem  Zwang  gehorchend,  nicht  dem  eignen  Trieb",  dass  die  Volks- 
Hldang  auf  eine  höhere  Stufe  gehoben  werden  mnss.  Oft  allerdings 
feittndet  sieh  mit  diesem  aneigennützigen  und  humanen  Streben  eine 
nehr  eigennützige  und  von  beschränktem  Geiste  zeui^:ende  AV)sicht, 
die  die  Bildunfr  nur  als  ein  Mittel  ansieht,  die  iialriotisehen  Kevanclie- 
gelöste,  die  bei  (b-n  Franzosen  bekanntlicli  stark  gfrassiren,  um  so 
eher  befriedit^eii  zu  können.   Tn  beiden  Fällen  Jedoch  ist  das  erstiv1)te 
Ziel  und  <las  schliessliehe  Resultat  dasst^lbe:  mehr  Schulen  und  bessi-re 
Schulen.   Wie  allgemein  dieser  Ruf  erhoben  wird  und  weleht'n  W  idi-i  - 
hall  er  aller  Orten  tindet.  zei2:t  schon  ein  Blick  in  dir  französi.sclieu 
Zeitungen  und  periodischen  Schriften.    Fast  wöchentlicli  tindet  man 
darin  lange  Reden,  die  bald  von  einem  Deputirten,  bald  von  einem 
Senator,  bald  von  einem  Minister,  bald  von  dem  Kammerpiäsidenten 
selbst  in  dieser  oder  jener  Versammlung  gehalten  sind,  und  die,  wenn 
sie  nicht,  was  ebenfalls  sehr  häufig,  geradezu  die  Schule  zum  Gegen- 
stande haben,  doch  häufig  von  ihrem  eigentlichen  Thema  abschweifend 
sich  grtaere  oder  kleinere  Ezcnrse  auf  ihr  Gebiet  gestatten.  Allein 
die  Beden  Gambetta's,  Jules  Fen^s  oder  Paul  Bert's  darauf  hin  zu 
betrachten,  wäre  interessant  Nach  ihren  Worten  gibt  es  nichts  zweites, 
das  von  solcher  Wichtigkeit  ist  für  den  Staat,  wie  die  Schule.  Da 
bdsst  es  z.  B.  „Der  allgemeine  Unterricht  ist  der  wahrhafte  Hilter  der 
sodalen  Ordnung  und  des  socialen  Friedens,  die  fruchtbare  und  nie 
fersiegende  Quelle  aller  Fortschritte  auf  dem  Wege  zur  Wol&hrt  und 
not  Freiheit.''    kvf  einer  aus  Laien  bestehenden  grösseren  Versamro- 
Jmg  in  Lille  wies  der  Deputirte  Floquet  unter  ungeheuerem  Beifall 
der  Versammlung  auf  Luther  hin  und  seine  Worte:  „Die  l'uwi.ssenheit 
ist  gefahrlicher  fiir  ein  Volk  als  die  Waffen  des  Feindes",  und  Jules 
Kerry  satrt  bei  einer  andern  (Gelegenheit:  ,.Untei'  allen  Zeugnissen 
thatkriiftigen,  lebensvollen  Handelns,  die  seit  zehn  .laliivn  von  der 
irauzö^hen  Nation  gegeben  sind,  ist  keines,  das  glänzender  und 


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entsclieidender  wäre  als,  man  kann  wol  sfigen,  die  wirkliche  Leiden- 
schaft, mit  welcher  die  Vertreter  des  Volkes  die  geisti|2:e  und  sittliclie 
Erneuerung:  Frankreichs  sich  zur  Ant^^aln^  «reinacht  haben;  die  einzig 
möglidie  Basis  einei'  ]^et>r*:auisati<jn  ih-v  wirtschaftlichen  und  mate- 
riellen Kräfte,  von  der  die  «riosse  Masse  des  Volkes  Vortheil  zu  ziehen 
berufen  ist,  ))esteht  in  ihrer  endlichen  und  voUständig-en  intellectuellen 
und  moralischen  Beireiuiig  vermittelst  der  Schule  und  der  Wissen- 
schaft/' 

Solche  Beden  aus  solchem  Munde  wecken  ein  allseitiges  Echo: 
alte  Vereine,  deren  Hotlhnngen  und  Pläne  die  Schwere  der  Zeiten  zu 
Grabe  getrag^  hatte,  gewinnen  'wiedei*  neues  Leben  nnd  neuen  Muth; 
die  Fachmänner  thnn  sich  zusammen  und  behandeln  mit  frischem  Eifer 
die  verschiedensten  Fragen  des  Unterrichts  von  der  wissenschaftlichen 
wie  Ton  der  pädagogischen  Seite;  da«  Geftthl  der  ZnsammengehOrig- 
keit,  das  Standesbewnsstsem,  das  bisher  so  gut  wie  gar  nicht  vor^ 
handtti  war,  beginnt  ancfa  unter  den  Lehrern  aUmälig  sich  zn  regen 
und  findet  in  diesen  Vereinen  nnd  Znsammenktlniten  nene  Nahrung. 
Sehr  viel  hat  dazu  besonders  der  in  diesem  Sommer  nach  Paris  ein» 
bemfene  congrös  pedagogique  beigetragen  (anch  eme  Nenemng),  zu 
dem  die  Lehrerschaft  ganz  Frankreichs  ihre  Depntirten  gesandt  hatte 
und  anf  dem  wichtige  Kesolntionen  gefosst  wurden,  die  die  Begiemng 
jedoch  nicht,  wie  so  oft  bei  uns,  einfach  ad  acta  legt  Aber  anch  die 
Laien  sind  nicht  müssifr,  sondern  suchen  auf  dem  Wege  der  Privat- 
wolthätigkeit,  der  öffentlichen  Sanindungen  etc.  für  die  Hebung  des  Volks- 
scliuluntenichts  zu  wirken.  Namentlich  zeichnen  sich  in  dieser  He- 
ziehunjr  die  schon  in  früherer  Zeit  nach  bel<j:ischem  Muster  gegi  ündeteii 
Vereine  „deuier  des  «H^oles'*  und  ..sou  des  ecoles'^,  deren  Zweck  schon 
ihr  Name  bezeichnet,  durch  rastlose  Tliätigkeit  und  Opferwilligkeit 
aus.  Im  Vei'ein  mit  dem  jjesprochenen  Wort  wirkt  das  geschriebene. 
Zeitschriften,  allfiemein  pädagoirisclier  wie  facliwissenschaftliclier  Art, 
treten  ans  Tageslicht  und  unter  ilmen  solche,  die  sich  bewährter  Mit- 
arbeiterschaft erireuen;  so  z.  B.  die  Revue  de  l'enseignement  secondaire 
special  für  das  Realschulwesen,  die  erst  im  Januar  1881  entstandene 
Revue  internationale  de  Fenseignement,  die  die  interessantesten  Fragen 
behandelt,  auch  vielfach  auf  deutsche  Verhältnisse  Bezug  nimmt,  wie 
denn  auch  Aufsätze  von  deutschen  Mitarbeitern  darin  nicht  selten 
sind.  Da  begegnen  wir  z.  B.  einem  Artikel  über  die  Reform  des 
Secundärunterrichts  in  Frankreich,  fiber  die  höheren  Töchterschnlen 
in  ]>eutschland,  fiber  die  TheQung  der  philosophischen  Facultät,  Aber 
Lehrerprilfiingen  n.  dergl.  Anch  grfindlieh  geschriebene  Broschfiren 


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über  fliesen  oder  jenen  (Gegenstand  bekunden  das  allgemeiner  werdende 
Interesse  an  dem  Schulwesen  und  die  Überzeugung,  dass  Versäumtes 
schleunigst  naclizuholen  sei.  Manche  der  Vorschläge  erscheinen  uns 
trivial,  wie  wenn  in  dem  Bericht  eines  Senators  die  Aufnahme  des 
Zeichnens  in  den  Lehrplan  der  Volksschule  gefordert  und  die  Noth- 
wendigkeit  desselben  für  das  Leben  eingehend  begründet  wird,  oder 
weim  ein  anderer  mit  nicht  minder  beredten  Worten  dasselbe  für  daa 
Süigen  mtrebt  Andere  wieder  können  uns  nur  zur  Nachahmnng 
anspornen.  So  wird  in  einem  Bericht  über  die  Organisation  von 
Scholwerkstätten  (ateliers  dans  les  tolee)  auf  die  Wichtigkeit  nnd 
Nothwendigkeit  der  kCrperUchen  Ausbildung  hingewiesen,  auf  einen 
Punkt  also,  der  auch  bei  uns  noch  nicht  im  entferntesten  die  ge- 
tehrende  Berücksichtigung  erfilhrt,  und  der  Vorschlag  gemacht,  In- 
stitate  zu  schaffen,  in  welche  die  Kinder  mit  dem  13.  Jahre  nach 
Abeolvining  des  Primftmnterrichts  eintreten  und  unterwiesen  werden 
m  »ezercices  mannelsc,  „jenen  Tollstftndig  elementaren  Arbeiten, 
die  jeder  Mensch  verstehen  mnss,  welches  andi  seine  gesellschaftliche 
SteBung  seL**  ÄhnHehes  scjhdnt  ja  in  Preussen  angestrebt  zu  werden 
durch  die  beabsichtigte  Einführung  des  sogenannten  Handfertigkeits- 
unterrichts. 

Es  sind  übc^rhaupt  die  pädagogischen  Fragen  vieliacli  dieselben, 
die  auch  bei  uns  die  allgemeine  Aufmerksamkeit  in  Ansprucli  nehmen; 
vor  allem  lassen  die  Überbürdungsfrage  und  die  sogenannte  Rt^lschul- 
h'age  die  Gemütlier  dort  wie  liier  zu  lieftigem  Streit  entbrennen.  Nur 
der  Unterscliied  ist  sclion  jetzt  nicht  zu  verkennen,  dass  die  Wahr- 
scheinlichkeit, auf  legislatorischeiii  oder  administrativem  Wege  in  nicht 
zu  ferner  Zeit  zu  bestimmten  Resultaten  zu  kommen,  in  Frankreich 
grösser  ist  als  bei  uns,  wo  über  diese  Dinge  nun  schon  jahrelang  in 
\nel  intensiverer  Weise  hin  und  her  verhandelt  wird,  ohne  dass  sich 
bis  jetzt  erkennen  liesse,  wie  sich  denn  eigentlich  die  Regierungen 
dazu  stellen,  auf  die  es  doch  schliesslich  ankommt. 

Was  die  Uberbürdung  anbetrifft,  die  merkwürdiger  Weise  in 
Deutschland  noch  immer  von  der  Mehrzahl  der  Lelirer  bestritten  wird, 
^0  ist  dieselbe  in  Frankreich  auf  den  höheren  Schulen  ebenfalls  Tor- 
haoden,  wenn  sie  sich  auch  in  anderer  Weise  und  nicht  in  dem  Grade 
äussert  Dies  konnte  flbenraschend  erscheinen,  wenn  man  bedenkt, 
dass  die  franzdsischen  Gymnasien  und  Realschulen  ihren  Zöglinge 
bei  weiton  nicht  J^ien  Grad  von  Kenntnissen  und  allgemeiner  Durch- 
büdnng  des  Geistes  vermittehi,  wie  die  deutschen  entsprechende  An* 
stalten.  Aber  man  darf  nicht  vergessen,  dass  in  Frankreich  ganz 


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entsetzlich  viel  auswendig  «,^elernt,  dass  das  Gedäclitnis  über  die  Gre- 
bühr  angestrenpft  wird,  dass  also  auf  diese  Weise  die  Scliule  ganz 
bedtMitciidt'  Anforthnimgen.  ja  Ubeifonb^rungen  an  die  Schiiler  stellt. 
Auf  das  glänzende  Können  Irgt  man  namentlich  in  den  Spiuchen  und 
^anz  l)es()nders  in  der  lateinis(•ll^^n.  die  dort  nocli  fast  in  inittelalterlieh- 
sciiolastischer  W'rise  getiielien  wird,  allzuviel  (iewicht  und  vernacli- 
lässigt  dadurch  «lic  Anshildung  des  Verstandes.  Die  franz«isischen 
Nationaluntugenden,  die  Kilrlkcit  und  der  falsche,  weil  übertriebene 
Ehrgeiz  spielen  dabei  eine  bedeutende  Rolle:  durch  das  unglückselige, 
iju  franz(tsischen  Schulwesen  aufs  vollkommenste  ausgebildete  System 
der  StimulatioDsmittel,  jener  Belobigungen,  öffentlichen  Aoszeichnungen, 
Preisvertheilnngen  etc.  werden  die  Lehrer  geradezu  gez\\Tingen,  ihre 
Zöglinge  zu  dressiren  und  abzurichten,  um  bei  den  jährlichen  Con- 
currenzprüfungen  mit  ihnen  zu  glänzen.  Doch  beginnt  in  massgebenden 
Kreisen  der  Satz:  non  scholae,  sed  vitae  discimns  immer  mehr  An- 
erkennung zu  finden,  und  gewichtige  Stimmen  werden  laut,  die  energisch 
die  Beseitigong  jener  concours  nnd  ihren  Ersatz  dorch  regeh«chte 
£xamina  fordern,  indem  sie  mit  Recht  darauf  hinweisen,  dass  bei  jenen 
sehr  oft  nicht  der  ausdauernde,  ernste  Fleiss  und  die  allmälige  Durch- 
bildung des  Geistes  belobt,  sondern  viel  häufiger  der  glückliche  Ein- 
faU,  der  esprit,  die  Gewandtheit  und  Schlagfertigkeit,  das  auf  ge- 
dächtnismässige  Welse  eingepaukte,  glänzende  Können  die  Palme 
erringt.  Wie  man  nun  einerseits  also  durch  Verbesserung  der  Unter- 
richtsmethode dem  in  Rede  stehenden  llbelstande  abzuhelfen  sucht, 
so  andererseits  durch  \'ereinfachung  des  Lehri)lans.  Denn  wenn  man 
die  lateinische  Verseinacherei,  die  ,.vei's  latins",  wie  sie  in  den  Lehi-- 
plänen  aller  franzKsisdien  lycecs  uml  Colleges  tiguriren,  sowie  das 
Lateinsj)rechen  abzuschatten  im  Hegritf  steht,  wenn  man  sogar  den 
Weg  l)etreten  hat,  den  lateinischen  Unterricht  später  anzufangen  und 
ihm  eine  lebende  Sprache  vorangeljen  zu  lassen,  so  hat  man,  abgesehen 
von  sonstigen  Vortheilen,  damit  die  der  Jugend  auleriegte  Last  schon 
um  ein  WesentlichjBS  erleichtert. 

Die  andere  vorhin  erwähnte  Frage,  die  unter  dem  Namen  Gym- 
nasial- oder  Realschulfrage  bei  uns  immer  aufs  neue  Berufene  wie- 
Unberufene  beschäftigt,  trägt  in  Frankreich  ein  wesentlich  anderes 
Gepräge  schon  darum,  weil  das  gesammte  Berei^tigungswesen  dort 
ganz  anders  geregelt  ist,  nnd  Gymnasium  und  Bealschule  nicht  wie 
zwei  Bivalen  einander  gegenüberstehen.  Finden  doch  Abgangsexamina, 
die  zu  diesem  oder  jenem  Studium  berechtigen,  dort  auf  den  höheren 
Schulen  flberall  nicht  statt.  Aus  diesem  Grunde  nimmt  die  Frage  dort 


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auch  nicht  jenen  acuten  Charakter  an,  der  bei  -  uns  nicht  nur  die 
Schulmänner  geilen  einander  erregt,  sondern  fast  alle  (Gebildeten  in 
zwei  feindliche  Lager  zu  trennen  di'oht.  Dass  sie  aber  trotzdem  in 
der  einen  oder  in  der  andern  Form  vorhanden  ist  und  nicht  nur  jetzt 
wieder  lebhaft  discntilrt  wird,  sondern  schon  Jahi^e  lang  in  den  be- 
treifenden Ereisen  als  Problem  behandelt  ist,  beweisen  die  vielen  Ver- 
Sache,  die  man  angestellt  hat  nnd  die  theils,  wie  die  mittelst  Bifur- 
eadon  von  Tertia  aufwärts  eingerichtete  Einheitsschule  des  Ministers 
Fourtonl  (1852)  wieder  au%^ben,  theils  noch  in  anders  organisirten 
Formen  an  dieser  oder  jener  Anstalt  bei  Bestand  geblieben  sind.  Die 
Frage  tritt  dort  noch  mehr  in  ihrei*  eigentlichen  und  reinen,  von  per- 
sdnlichen  Motiven  wie  von  der  Parteien  Hass  und  Gunst  noch  niclit 
Terzerrten  und  verdnnkdten  Gestalt  auf;  und  in  dieser  Gestalt  ist  sie 
eben  keine  andere  als  die  Frage:  Soll  die  moderne  Welt  die  Quellen 
öirer  Bildung  noch  immeH'ort  vorwiegend  in  den  Sprachen,  Sitten, 
Kinriclitungen  und  Anschaiiuns^en  der  beiden  alten  Völker  suchen, 
oder  tühlt  sie  sich  stark  frenug.  auf  eigenen  Füssen  zu  stehen  und  in 
den  modernen  Wissensdiatten  nebst  den  literarischen  Krzeugnissen  der 
neueren  (*ultur\  (dker  einen  laehr  als  genüjrendeu  Krsatz  tTir  die  alten 
Hildunirsniittel  zu  erblicken?  Kurz:  soll  die  «grosse  Masse  der  (re- 
l'ildeten  der  Xation  nicht  V(»rwieir<^nd  aus  der  K»'alsrliule  liervnruelien 
imd  das  (Gymnasium  reservirt  bleiben  nur  und  ausschliesslich  für  di^- 
jeui/j^en,  die  specitisch  gelehrte  Studien  treii»en  wollen?  da.  man  kann 
noch  weiter  gehen  und  geradezu  frairen:  ist  es  die  liberale  oder  die 
conservative  W'eltanscliauuuir.  in  der  die  Jugend  erzogen  werden  soll? 
Denn  darauf  kommt  im  letzten  (Trunde  die  ^rnnze  Sache  hinaus,  und 
wenn  man  in  Deutschland  l)ei  dem  zwischen  Gymnasium  und  Real- 
schule entbrannten  Kampfe  die  streitigen  Fragen  noch  ni«  lit  auf  diese 
Alternative  znruckgefttlirt  hat,  so  mag  man  das  vermieden  haben  aus 
Furcht,  dadurch  die  ganze  Sache,  die  bereits  bedeutende  Fortschritte 
gemacht  hat,  zu  geföhrden  oder  ganz  in  Frage  zu  stellen,  eine  Besorgnis, 
die  bei  dem  aogenblicUichen  Charakter  unserer  inneren  Politik  nicht 
ubegrilndet  ist  In  Franlureich  nun  denkt  man  freilich  nicht  im  ent- 
ferntesten und  ebenso  wenig  wie  in  DeutscUand  daran,  schon  jetzt 
die  Brücke,  die  von  der  antiken  zur  modernen  Cultur  Itihrt,  abzu- 
Inechen,  d.  h.  das  Gymnasium  in  der  oben  angegebenen  Sinne  zu 
raformiren  und  zur  blossen  Gelehrtem>chule  zu  machen.  Man  trügt 
den  Forderungen,  die  die  moderne  Bildung  immer  gebieterischer  stellt, 
vor  der  Hand  durch  Compromisse  Reclmung,  indem  man  den  lateimschen 
Unterricht  beschränkt,  den  in  den  exacten  Wissenschaften  ausdehnt. 


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Auf  welcher  Seite  aber  im  (gründe  die  Re^ierun«?  wie  das  Gros  der 
Bevtilkerimg  steht,  lässt  sich  iiiisclivvt^r  aus  der  Aiitnierksanikeit  und 
dem  W'ülwollen  erkennen,  mit  welclieni  beide  das  (iedeihen  der  }\eal- 
schulen  nnd  das  immer  weitere  l'nisicligreil'en  des  durcli  dieselben 
vertretenen  Pi'incipes  verfolgen.  So  schreibt  z.  B.  der  Hei  ausgeVier 
der  Revue  internationale  de  renseignement,  dass  die  Idolatrie,  die  mit 
dem  Latein  und  Griechisch  in  Frankreich  getrit'ben  wird,  seiner  An- 
sicht nach  ihrem  Ende  nahe  sei,  und  auf  dem  internationalen  l'uter- 
richtscongress  in  Brüssel  konnte  unter  dem  Beifall  der  Vei-sammhing 
gesagt  werden,  da.s.s  der  Aberglaube  an  die  Zauber-  und  Wnnderkraft 
des  Gymnasiums  im  Schwinden  sei.  Recht  interessant  und  lelnreich 
in  dieser  Beziehung  ist  auch  das  Beispiel,  das  in  Frankreich  von 
höchster  Stelle,  von  dem  Unterrichtsminister  selbst,  gegeben  wurde 
und  das  fttr  so  wichtig  gehalten  wurde,  dass  man  Überallhin  tele- 
graphisch das  Factum  berichtete,  dass  bei  der  die^sjahrigen  grossen 
Ck>ncurrenzpriifnng  in  Paris  znm  ersten  Mal  Jules  Ferry  die  Festrede 
in  französischer  Sprache  hielt  nnd  nicht,  wie  bisher  üblich,  in  lateinischer. 
So  kann  man  denn  wol  bei  dem  Geist,  der  augenblicklich  das  fran- 
zösische ünterrichtswesen  besedt,  der  Zukunft  der  Bealschulen  das 
beste  Prognostikon  stellen.  Überall  bricht  sich  die  Ericenntms  Bahn, 
dass  die  Bealschnle  die  Schule  der  Zukunft  ist,  weil  sie,  aus  den  Be- 
dürfiiissen  der  Nation  hervorgegangen,  in  denselben  wurzelnd  und 
ihnen  Rechnung  tragend,  in  Wahrheit  die  nationale  Schule  ist 

Um  das  Bild,  das  wir  in  Vorstehendem  an  der  Hand  der  Iwrich- 
teten  Thatsachen  unsern  Leseni  von  dem  i)ädagogischeii  Kraiikreicli 
von  heute  in  allgemeinen  Züpren  zu  geben  vei*sucht  haben,  zu  ver- 
vollständigen, kann  nichts  geeigneter  erscheinen  als  die  Leetüre  einiger 
einschlägiger  Reden,  wie  sie  im  Veidauf  dieses  .1  aInes  von  Franzosen 
in  grosser  Anzahl  gehalten  worden  sind.  Tutei'  ihnen  scheinen  mir 
besonders  zwei  mehr  als  die  übrigen  dazu  angetliau,  eine  Voixtellung 
zu  geben  von  dem  vollständig  veränderten  (jJeist,  in  dem  pädagogische 
Fragen  jetzt  dort  behandelt  werden,  wie  von  den  Zielen,  denen  man 
zusti'ebt.  Sie  dürften  hierzu  um  so  mehr  geeignet  sein,  als  die  Redner 
massgebende  und  auf  die  Entwickclunir  drs  französischen  Schulwesens 
den  bestimmendsten  Einfluss  ausübende  Persönlichkeiten  sind,  der  eine 
der  französische  Unterrichtsminister  Jules  Ferry  selbst,  der  andere 
der  in  Cultussachen  oftgenannte,  äusserst  rührige  Abgeordnete  Paul  Bert, 
der  Anhänger  und  Freond  Gambetta's  nnd  muthmassliche  Nachfolger 
Feny's.*)  Während  die  Bede  Jenes»  gerichtet  an  die  VolksschuUehrer 

*)  Das  ist  er  in  der  Thftt  am  lo.  November  geworden.     D.  H. 


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und  -lehrerinnen,  mehr  allgemeine  Grundsätze  aufsteUt,  geht  die  von 
P.  Bert,  die  sich  mit  dem  höheren  Schulwesen  beschäftigt,  mehr  auf 
ioneFe  Schulfragen  ein,  wie  z.  B.  auf  den  Lehr  plan,  die  Biscipliu  etc., 
ohne  dämm  allgemeine  Gesichtspunkte  ausser  Acht  zn  lassen. 

Der  erste  pädagogische  Congress  (wir  haben  vorhin  yon  demselben 
gesprochen)  hielt  seine  Schlnsssitznng  am  Montag  den  25.  April  1881 
in  der  Sorbonne,  and  der  Ministerpräsident  Ferry  yerabechiedete  die 
Mitglieder  mit  fblgenden  Worten: 

^Der  gegenwärtige  Gongrau  hat  alle  unsere  Erwartungen  ttbertrofliui;  er 
■t  frei  gewählt  and  die  Freiheit  ist  in  demselben  oabeschrankt  gewesen.  Die 

Resolationen,  die  Sie  gefasst  hahen,  gehen  theile  die  Gesetzgebung,  thefls  die 

Verwaltung  an.  Sie  fordern  den  Schnlzwang:  er  wird,  wie  ich  zuverdehtUch 
hoff»»,  beschlossen  werden.  Sie  fordern  die  Unentgeltlichkeit;  sie  ist.  was  man 
auch  da^e^en  wiederholt  beluiuptet  hat.  das  wesentlichste  und  iinfehlbai-ste 
Mittel,  einen  bestUndigeu  Schulbesuch  zu  sichern.  Was  die  Seluilcassen  an- 
bettüR,  so  werden  sie  durch  einen  Aitikel  des  Gesetzes  über  den  .Scliukwatig 
im  Lctoi  gemflsn.  Sie  wünschen  die  absoluta  UaeotgelUiehlLeit  der  Schnl- 
stosOicD:  damit  haben  Sie  eine  ernste  finaudelle  Frage  an%eworflai,  die  zu 
ÜMB  noch  nicht  möglich  ist,  denn  4,700,000  Kinder  besuchen  unsere  Schulen. 
Unser  besonderes  Streben  wird  ferner  darauf  gerichtet  seiUi  die  Zahl  der  Schüler 
jeder  Classe  auf  40 — 50  zu  beschränken.  • 

Sie  haben  die  Mittel  studirt,  die  Schule  angenehm  und  die  Arbeit  au- 
ziehend  zn  machen.  Wir  streben  demselben  Ziele  zu:  der  Einführnng  der 
Erziehung  in  der  Schule.  Schon  auf  dem  letzten  Congress  der  Volksschul- 
'  iiupedoren  safl^te  ich:  Der  Lehrer  muss  Erzieher  werden.  •  So  wird  man  dem 
VtrutheO  ein  £nde  madieut  zu  glauben,  dass,  um  Lelirer  zn  sein,  es  genüge, 
dne  besondere  Tracht  zn  tragen,  einem  bestimmten  Stand  anzugehören,  eine 
bMtimmte  Religion  zu  haben.  Die  Gesellschaft,  der  wir  angehören,  kann  nidit 
da$.s  sie  nnHlhig  sei.  Erzieher  zu  bilden.  Dies  hiesse  alles  verleugnen, 
was  seit  der  französischen  Eevolution  geschehen  ist. 

Sie  haben  die  Forderungen  gestellt,  dass  der  Unterricht  in  der  Moral 
lebarf  abgesondert  und  getrennt  sei  von  jedem  andeiii  Fachunterricht.  Der 
von  mir  den  Eammeni  unterbreitete  Gesetzentwurf  will  verhindern,  dass  man 
9m  zu  Kateehlsmusdeelamataren  macht  Man  wird  Sie  also  keineswegs  ab- 
halten, Unterricht  in  der  Moral  zu  ertheilen.  Der  Grund,  dass  dieser  Unter- 
richt nicht  das  Erbtheil,  das  ausschliessliche  Piivilegium  dieses  oder  jenes 
Standes  oder  dieser  oder  jener  Religion  ist.  lley^t  darin,  dass  di»-  Moral  eine 
alleremeinp  und  »  ine  ist,  in  welcher  Gesellsehatt  man  sie  auch  schöydV'.  auf 
welches  Dogma  man  sie  auch  basire.  Deshalb  muss  der  Unterricht  in  der 
Xoral  Laien,  nicht  den  Priestern  anvertraut  werden. 

Die  Umwälzung,  die  wir  auf  dem  Gebiete  des  Unterrichts  hervorzurufen 
daran  sind,  wird  das  fernere  wichtige  Resultat  zeitigen,  dass  die  Stellung  der 
Ldver  gegenüber  den  Behörden  und  ganz  besonders  gegenüber  der  Geistlich- 
k«»it  modificirt  wird.  Wir  wollen  nicht  langer,  dass  der  katholische  oder 
pnitrstantische  Geistliche  als  Inspector  die  Schule  betrete,  sondern  ledis'lich  <lie 
weltlichen  Behörden.    So  wird  der  modus  vivendi  zwischen  deu  Lehrern  und 


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der  Geistliclikeit  fesler  sein  iiiul  beiden  Theileii  aiineliiiibaicr  erschtiucu.  Das 
beste  Ifittdf  den  Frieden  zwisclien  zwei  Nachbarn  lierzastellen,  ist,  Ümtti 
scharf  gesogene  Grenzen  zu  geben.  Überdies  ist  man  ehrerbietiger^  wenn  mAn 
anabh&ngig  ist.  Man  glaube  nur  ja  nicht,  dass  Unabhängigkeit  Widerstand 

bedeutet.  Es  gibt  einen  relig-ifisen  Fanatismus!  niul  es  fjfibt  einen  in-elif^iösen 
Kanatisuius.  Der  zweito  ist  eh.Mi  so  schlimm  wie  dn-  erste.  Der  Glaube 
anderer  ist  a(  litun;^swert  aiifli  für  diejeni^ren.  dio  Ilm  nicht  theilen.  Ks  hiesse 
dfii  Ki(o]<^  der  Ivt'tonin'U,  die  wii'  im  .Sinnf  liabcn,  in  Fraffe  stellen,  wollten 
wir  nur  dem  erlauben  Xahruui^  geben  oder  ihn  gar  wecken,  dass  dieselben  eine 
Drohung  sein  Icönnten  fttr  das  Gewissen  der  Etaizelnen. 

Das  Gebiet,  auf  dem  Sie  nnerschfttterlich  sein  mässen,  aof  dem  Sie  sich 
▼erbarrilcadiren  mfissen,  ist  das  Gebiet  der  Politik.  Man  darf  Sie  nicht  zn 
politischen  Ajrenten  machen.  Frülier  empfahl  man  ihnen,  keine  Politik  zu 
treibt  n;  aber  keine  Politik  treiben  sollte  bedeuten:  heimlich  gegen  die  Kepublik 
agitiren. 

Ich  will  diesen  Riith  jetzt  nicht  zum  Vtirtheil  d»'r  K''publik  umkehren: 
ich  siige  llmen,  Sie  müssen  die  Politik  leluvn,  weil  das  Gesetz  Sie  anweist, 
über  die  bttrgerlichen  Pflichten  Unterricht  zu  ertheflen  und  auch,  weil  Sie  sieii 
erinnern  mfissen,  dass  Sie  die  Söhne  von  1789  sind.  Jenes  Jahres,  welches  Ihre 
Vftter  frei  gemacht  hat,  und  dass  Sie  unter  der  Republik  von  1870  leben, 
welche  Sie  selbst  frei  gemacht  hat.  Sie  haben  also  die  Pflicht,  di.  T'epublik 
und  die  erste  Revolution  lieben  zu  lehren.  Wjis  ich  nicht  will.  ist.  dass  Sie 
die  Schule  zui-  Schule  einer  I'arfei  oil,-r  •  iiier  C'oterie  machen,  wo  Sie  dieLehi*er 
des  \'aterlaiides  und  t'raiikrrielis  s»'iii  snilen. 

Bidd  werden  wir  die  allgemeinen  Wahlen  haben.  Die  Fragen  des  ünttr- 
richts  haben  den  Hinister  des  öffentlichen  Unteirichts  zum  Präsidenten  des 
Conseils  gemacht  Ich  sage  Ihnen  also  als  Präsident  des  Conseils:  Wenn  die 
Regiemng  die  Schule  benutzte,  um  der  Politik  der  Republik  zu  dienen,  so  wfirde 
sie  die  Schule  und  die  Republik  compromittiren.  Wir  wollen  nicht,  dass  man 
sage,  die  Republik  mache  die  Wahlen  mittelst  der  Lehrer,  wie  die  frühere 
Reijierung  sie  maclite  mittelst  der  Pfarrer.  Wiim  sich  zu  eifrige  Bewerber 
zeigen  sollten,  so  antw(»rti'n  Sie  ihnen  mit  l'^ntschieil.  iili.  it :  Unser  Ministerium 
will  es  nicht.  Uleiben  Sie  in  den  hohen  uud  hehren  Regionen,  in  welche  das 
Gesetz  Sie  gewiesen  hat:  eine  würdige,  verständige  Gemeinschaft,  welche  über 
den  doppelten  Schatz  wacht,  der  ihr  anvertraut  ist:  fiber  die  WoliÜEihrt  der 
Nation  und  die  Seele  des  Kindes.** 

Fordern  diese  Worte,  fordert  das  ganze  Auftreten  des  französischen 
Unterrichtsministers  nnd  die  Art  nnd  Weise,  wie  derselbe  zu  seinen 
Untergebenen  spricht,  nicht  unwülkOrlich  zu  emer  Vergleichnng  heraus 
mit  dem  —  milde  ausgedrückt  —  kleinlichen  Vorgehen  des  preussischen 
Cultusministers  bei  Gelegenheit  der  Karlsruher  Lehrerversammlung? 
Ein  grösserer  Contrast  ist  kaum  denkbar. 

Die  nun  folgende  Rede  Paul  Bert's  wurde  gelialten  aus  Anlass 
der  Einweihung  der  neuen  Schulgebäude  der  „elsflssischen  Schule**  in 
Paris  am  9.  Juni  1881  in  Gegenwart  einer  zahlreichen  nnd  auserlesenen 


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Zulirirerj^elial't.  Xai  lidtMn  di  r  Kediier  von  der  Veranlassung^  ß«'sj)i  oclnm, 
die  die  Ver:?animliing  liier  zusunimengetVihrt  habe,  wirft  er  einen  km  zen 
Rückblick  auf  die  frülieren  Jahre  und  schüdei't  in  wannen  ^^'()rten, 
wie  die  nach  dem  letzten  Kriege  entstandene  „elsässische  Schule" 
aus  kleinen  Anföngen  schnell  zn  einer  so  bedeutenden  und  angesehenen 
Anstalt  emporgewachsen  sei,  dass  selbst  die  Univei-sität  von  Frank- 
reich ihre  Reformen  und  Nenenmgen  vielfach  zum  Master  genommen 
habe.  Näher  anf  diese  letzteren  eingehend,  föhrt  er  folgender- 
massen  fort: 

„Üie  wichtigste  Ihrer  lAdagogischeii  Beformen  ist  Bicherlich  die  Hlnans- 
Mhiebong  des  Anfiugstenmiis  für  das  Stadium  der  alten  Sprachen.  Bei  Ihnen 
sehen  die  neni^&hrigen  Kinder  nicht  ^leirli  höhn  ersten  Eintritt  in  die  Schule 

das  Gespenst  von  rosa,  rosao  und  die  abschrockenden  Conjnpratiouen  vor  sich. 
Ehe  Sie  an  Ihre  Schüler  die  Antordfrunj^  sttdlcii.  eint'  Spi-arlic  zu  erlernen,  die 
nicht  mehr  existirt,  ein  Act  der  Wiedererweckung:,  der  von  ihrer  Seite  ent- 
weder die  autiserordeutlichstea  Austiengungeu  oder  das  tügsaiuste  Opfer  des 
Geistes  fordert,  ehe  Sie  dies  verlangen,  wollen  Sie  den  Geist  gesdückt  nnd 
reif  werden  lassen  durch  das  Alter,  dnrch  vorausgehende  Stadien  nnd  hesonders 
dnreh  den  Unterricht  in  einer  gesprochenen  Sprache.  Denn  die  Sprachen  sind 
daca  da.  um  g-e»prochen  zn  werden;  und  ein  Kind  gleich  von  Anfang  an  in^ 
tere«8iren  zu  wollen  für  den  Untenicht  in  einer  Sprache,  die  es  niemals  sprechen 
vvinl.  die  es  niemals  sprechen  hören  wird,  von  der  es  nirnials  andei*'  Zeugen 
kennen  lenien  wird  als  <lie  vergrilbten  liüciier  auf  den  Regalen  der  Bibliotheken, 
wäre  dasselbe,  wie  wemi  man  in  der  Natui'wissenschaft  es  interessireu  wollte 
fir  die  Skelette  nnd  die  Yersteinomgen,  die  die  Glasschrftnke  der  Hnseen 
fülka,  bevor  man  es  fiber  die  lebenden  Wesen  nnterrichtet  hat  Fängt  man 
dagegen,  wie  Sie  es  thun,  damit  an,  iluu n  die  Eigenschaften  der  lebenden 
Tliiere  zu  beschreiben,  gibt  num  ihnen  eine  Idee  von  ihrer  Lebensweise,  80 
werden  alle  jene  fonulosen  (  berreste  vor  ihren  Augeu  mit  Leichtigkeit  gleich- 
sam eine  neue  Gestalt  annehmen. 

Sie  haben  also  wol  hieran  gethau,  und  die  UniversitUt')  hat  woi  getlian, 
Omen  anf  diesen  Wege  zu  folgen.  Eins  aber  gef^t  mir  besonders  bei  dieser 
Beform.  Es  zeigt  sich  hier,  dass,  indem  Sie  als  Pädagogen  gehandelt  haben, 
Sie  zogleich  als  Patrioten,  das  will  sagen  als  Freunde  des  Volkes  gehandelt 
haben.  Ja,  Sie  haben  ein  demokratisches  AVerk  gethau.  Denn,  wissen  Sie, 
was  ini  Olieruntenichtsrath**)  das  entscheidende  und  den  Ausschhig  gebende 
Argmiieni  irewesen  ist  hei  der  rms'estaltung  des  öftentlichen  Unterrichte  vom 
?KK;ialen  und  gou vernementalen  Gesichtspunkt  aus?  Es  ist  diese  Erwägung: 
die  Einführang  des  Latein  üi  die  unterste  Classe  des  Gymnasiums  schaftt  eine 


*)  Unter  nünlTenitfi  de  Frauoe",  bekanntlich  von  Nspol^n  I.  eingerichtet  und 

organisirt.  vorsteht  man  die  ganze  «j^ossc  Ocsammtheit  der  staatlichen  l^nterrii  hts- 
osstalten  nebst  ihren  Behürdeuj  die^e  staatliche  Uuterrichtscorporatiou  umtasst  also 
dte  gesammte  Offentliehe  Schulwesen  vm  der  efaifachsten  Volksschnle  an  bis  hinauf 
zu  den  Akademien. 

•*)  Der  ("ouseil  sui)t:'rieur  de  riustruction  publique  ist  die  oberste  Unterrichts- 
and  Schnlbehördc  deä  ganzen  Landes. 


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tiefe  Klutt  zwischen  dem  Secundär-  und  dem  Priiiiiiiunteiricht  *  j,  zwischen  den 
Kindern  des  N'olkes  luid  denen  des  Bürgertiuuus.  Wie  soll  der  begabte  Schüler 
anflerer  Volksschiile,  wenn  er  dieselbe  aMvirt  hat,  eintretea  kOnnen  in  das 
Gymnarinm  und  sich  so  einer  höheren  g^eseHschaftlichen  SteUnngr  emporsehwiDgen? 
Er  ist  12  oder  13  Jahre  alt.  Sein  Alter  weist  ihn  nach  VI.  nnd  dort  trifft  er 
Kameraden,  die  seit  zwei  Jahren  Latein  treiben  und  selbst  Griechisch.  Kaan 
er  sie  wieder  einholen  und  dann  g-leichen  Schritt  mit  ilrnen  halten?  Nein: 
muss  wieder  hinabsteigen,  der  bereits  ein  grosser  Unrsche  ist,  zu  den  Kindern 
von  neun  Jaliren  und  mit  Recht  .schreckt  er  davor  zurück.**) 

So  muss  in  unserer  demokratischen  Gesellschaft  die  Kekrutiruug  der 
mittleten  irad  hVherea  CSassen  aal  jenes  Contingent  verzichten,  welches  die 
ongehenere  Uehiheit  der  Nation  stellt:  ein  Gontingentt  das  gewaltig  ist  an 
Zahl  wie  an  Kraft  nnd  dessen  Starke  man  fiber  ein  Kleines  Gelegenheit  haben 
wird,  schätzen  zu  lenien.  Denn  dank  der  Reform,  deren  Vorläufer  Sie  sind, 
wird  der  tüchtige  Elfinciitarunterrieht  es  die.^en  besseren  Schillern  möglich 
machen,  sofort  in  eine  Reihe  zu  treten  mit  Schülern  ihres  Altei^s.  und  zusammen 
können  sie  dann  den  Unterriclit  in  den  todten  Sjiraclien  beginnen.  Sie  werden 
die  Kluft  überbrückt  und  die  wahi'en  Bedingungen  der  gesellschaftlichen  Gleich<* 
heit  wiederhergestellt  hahen,  die  nicht  darin  besteht,  dass  man  jedem  Bürger 
den  ihm  nach  sdnen  Ftthigkelten  snkommenden  Rang  in  der  Oesellschaft  bloss 
verspricht,  sondern  darin,  dass  man  ihm  anch  die  Mittel,  denselben  einan- 
nehmen,  in  wirksamer  Weise  an  die  Hand  gibt 

In  Ueznsr  auf  eine  andere  Reform  stimniP  ich  ebenfalls  mit  Ihnen  über- 
ein, wie  denn  auch  die  Universität  diesellic  von  Ihnen  entlehnt  hat:  niimlicli 
in  dem  grossen  Räume,  der  dem  naturwissenschaftlichen  Unterricht  sdion  von 
den  unteraten  Classen  an  zugewiesen  ist.  Sie  haben  vorhin,  Herr  Director***), 
nnd  das  mit  vollem  Becht,  die  ntitsliehe  ond  praktische  Seite  des  Untenicbts 
in  den  ezacten  Wissenschaften  hervorgehoben.  Wenn  jedoch  der  üntenidit 
in  diesen  Wissenschaften  keinen  andern  Nutzen  hätte  als  den,  dem  jnngen 
Abiturienten  die  Möglichkeit  zu  ^ewMhren,  früher  den  Forderungen  des  prak- 
tischen Lebens  zn  genügen  nnd  sich  nicht  von  vom  herein  auf  dem  Gebiet  des 
Handels,  der  Iiidustiic  und  des  grossen  Verkehres  von  seinem  nicht  classisch 
gebildeten  Concurrenten  aus  dem  Felde  schlagen  zu  lassen,  so  würde  das  freilich 
schon  etwas  Bedeuteudes  sein,  aber  der  \'ortheil  wäi'e  doch  nur  ein  milssiger; 
auf  jeden  Fall  ist  es  nicht  dieser  Gedchtspmikt  gewesen,  der  den  Vertheidigeni 
des  exactwissenschaftlichen  Unterrichts  Kraft  nnd  Ansdaner  veriiehen  hat,  ftlr 
ihre  gute  Sache  zu  kämpfen.  Indem  wir  die  Natur-  nnd  Experimentalwissen- 
schaften  in  den  Anfang  des  Secundäiuntenichts  hinabrückten,  indem  wir  for- 
derten, dass  der  jngendliclie  Vei-stand  schon  bei  seinem  ersten  Erwachen  das 
herrliche  Sclianspiel  der  wissenschaftlichen  ii^tdeckuugen  vor  Augen  hätte,  haben 

*)  Die  ITranzoseu  unterscheiden  ren.«»eignement  priniaire,  secondaire  und  »uperieur 
entspreehend  nnsenn  deutschen:  Volks^ohule.  iiittelschnle  (im  sfiddeutsehen  Sinne) 
nnd  hohe  Schule. 

**t  Pas  französische  Gymnaxiura  besteht  aus  H  Cla.'»sen.  von  denen  die  beiden 
letzten  \'in  und  Y II  die  divisivui  eleiuentaire  bilden,  jedodi  nicht  uusern  Vorschulen 
entsprechen.    In  ViU  beginnt  das  Latein,  in  VI  da«<  (iriechi.Hche. 

***)  »lirecteur,  weil  Leiter  einer  Privatanstalt.  Der  Name  fUr  die  Directoren 
der  ätaats-schiUen  ist  proviseur,  für  die  städtischen  principal. 


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wir  als  Hauptziel  nicht  erstrebt,  ihnen  den  s( liwierijj-en  AN  cg  d«s  praktischen 
Lebens  zn  ebnen.  Nein,  wii'  haben  ihren  tiinn  ausbilden,  ihren  Ueist  in  Zucht 
oetunen,  ihren  Ventond  üben  wollen,  wir  linlien  sie  lehren  wollen,  gut  und 
Mtigm  beobachten,  nur  das  zn  sehen,  was  ist;  nnd  alles  zn  sehen,  was  ist, 
ist  kein  leichtes  IHng.  Gerade  dies  aber  lehren  im  höchsten  Masse  die  ex- 
perimentellen Wissenschaften.  Seine  Gedanken  zn  ordnen,  jedes  Ding^  seinem 
Werte  nach  an  seine  richtige  Stelle  zn  setzen,  ist  ebenfalls  kein  leichtes  Ding, 
(rerade  hieran  aber  wird  das  Kind  durch  die  Methode  der  Naturwissenschaften 
gewiilint.  Den  Anderen  beweisen,  was  man  selber  behauptet,  selber  wissen, 
was  ein  Beweis  ist,  ist  noch  schwerer.  Erwarten  Sie  alles  von  einem  tüchtigen 
Uatenicht  in  der  Physik  nnd  Chemie  nnd  fürchten  Sie  nichts  von  ihm:  demi 
darin  besteht  seine  GrOsse  nnd  seine  Kraft,  dass  er  das  Nichterlanben  lehrt, 
ohne  doch  den  Zweifel  zu  lehren,  durch  den  die  Vemnnft  sich  selbst  mordet. 
Dies  .<ind  die  Gründe,  weshalb  wir  gewollt  haben,  dass  der  Unterricht  in  den 
exa/teii  Wissenschaften  nnsern  Mittelseliulunterrieht  in  allen  seinen  .Stufen 
tlun  hdring-e.  Es  handelt  sich  nicht  danini.  schiudler  oder  früher  (iewerb- 
tieibeude  oder  Ackerbauer  zu  bilden,  es  liandelt  sich  auch  nicht  einmal  darum, 
Bttore  Kinder  zu  Zählmaachinen  von  Staubfäden,  von  Insectenfüssen,  von  Fühl« 
hSrnera,  von  chemischen  Reactionen  zn  machen;  es  handelt  sich  dämm,  ihnen 
einen  besonderen  geistigen  Instinct  zn  Terleihen,  von  dem  sie  in  allen  Lebens- 
lagen Gebrauch  machen  kihwien  nnd  der  Widerstand  leisten  kann  der  bethörenden 
T.tirhtgliinbigkeit  wie  den  plötzlichen  Anfwallnngen  des  Geftthls  nnd  der 
Leidenschaft. 

Und  dies  alles,  (dme  das  Gefühl  und  die  Leidenschaft  anf'znheben.  ja 
selbst  (dine  sie  auch  nur  zu  schwiichen.  Welch  traurig-e  Bildung  müsste  das 
feeio,  ilie  einen  Menschen  hervorbringt,  dessen  Herz  nicht  mehr  schlilgt.  Des- 
halb wflrde  das  Stndinm  der  exacten  WissMuchaften  allein  ungenügend  und 
gdhhrtnringend  sein.  Hier  setzt  das  Stndinm  der  Sprachen,  der  Literaturen 
nnd  der  Geschichte  ein  und  macht  seinen  gewaltigen  Einfluss  in  erster  Linie 
geltend.  Die  exacten  Wissenschaften  sind  nnr  die  Former  nnd  Bildner  des 
Geistes,  die  Humaniora  veredeln  nnd  vertiefen  ihn  ~  jene  lehren  das  Wahre, 
diese  das  (tute  and  Schöne.  Beide  haben  sich  einander  nöthig  und  ergänzen 
sich  ji^egen>eitii?-. 

Als  Pliysiologe  sa^e  ich:  Die  Naturwissenschaften  sind  irleichsam  das 
Skelett,  dessen  solides  Gebäude  Festigkeit  und  Geschmeidigkeit  zugleich  ver- 
leiht Die  Sprachen  und  Literaturen  sind  die  Muskeln  und  die  Haut,  welche 
die  Kraft,  die  Gestalt,  die  Schönheit  und  die  EmpAngUehkeit  hinzubringen. 
Ohne  die  Muskeln  nnd  die  Haut  ist  das  Skelett  nnr  ein  trockener  und  trflger 
Bau;  ohne  das  Skelett  haben  die  Muskeln  keine  Kraft  und  die  Formen  werden 
jichlaff.  Knofdien.  Muskeln  und  Haut  bilden  das  höchste  Lebewesen,  das  da 
kräftig  ist,  geschmeiditr  und  zart.  Die  exacten  Wisseuschat'reii  nnd  die  hnnia- 
iiistischen  FHcher  discii»liniren  den  (n'ist,  ertlillen  die  Phantasie  mit  Kühnlieit 
und  trewalt,  das  Herz  mit  f'delmuth  und  Vei"stand. 

Aber  es  fehlt  mir  an  Zeil,  um  vou  Ihren  anderen  Reformen  auf  dem  Ge- 
biete des  XJnterrichtswesens  zu  sprechen.  Die  LOeuug  eines  Problems  jedoch 
ist  Ihnen  zn  gut  gelungen,  als  dass  ich  Dmen  nicht  von  ganzem  Herzen  dazu 
Glttck  wünschen  sollte.   Ich  meine  Ihr  YerhUtnis  zn  Ihren  SohtUem,  Ihre 


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Discipliu,  Ihre  Beluhiiungeii  und  llue  Strafen.  Hier  sind  .Sie  der  Uuivei'bität 
weit  voraus. 

Und  doch,  was  haben  Sie  denn  anders  gethan  als  die  wissenschaftliche 
Methode  angewandt  anf  die  Disciplin.  An  SteUe  des  dogmatischtti  Empirisams, 

an  Stelle  des  Absointeii,  welches  dem  »Schftler  an^peawungen  wird  dnrch  die 
AiitoritUr,  vor  welcher  tr  sich  oft  nur  mit  «'''heimcni  Widei-streben  henq-t, 
haben  Sie  das  Kclativc  urgctzT,  welches  daduirii.  dass  es  eine  Eiklärun]^  zu- 
lässt.  leichter  von  der  W-rnunft  angenommen  wird.  Ihi-e  Disciplin  g:ründet 
sich  niclit  auf  die  Furcht  vur  dem  Lehrer  oder  auf  deu  passiven  Gehorsam 
gegen  die  Schnlregel,  sondern  aof  den  Coltos  der  Pflieht»  anf  die  Achtung  vor 
sich  selbst,  anf  das  GefOhl  der  Verantwortlichkeit  nnd  Solidaritftt;  and  Sie 
haben  Recht  daran  gethan:  denn  der  Lehrer  kouinit  und  geht,  die  eine  Vor- 
schrift wird  durch  eine  andere  ersetzt,  aber  die  Soi^  am  die  persönliche 
Wurde  verschwindet  nie. 

Sie  haben  ferner  keine  barbarisi  hen  und  lilcherlichen  Strat«  ii  mehr,  kein 
Nachsitzen,  keine  Strafai'beiteu,  kein  Thürstelien.  Das  Unterdi  ücken  der  guteji 
Noten,  der  Tadel  des  Birectors,  die  zeitweise  Ausschliessung,  zuletzt  die  Rele- 
gation für  die  Unverbesserlichen,  das  sind  Ihre  Strafen.  Und  die  Erfahrung 
hat  bewiesen,  wie  wirksam  sie  sind,  denn  Sie  haben  nur  selten  nöthig  gehabt, 
zu  der  letzten  Eventualität  Ihre  Zuflucht  zu  nehine?!.  Was  ich  aber  bei  allem 
dit  sein  am  meisten  bewundere,  das  sind  Thiv  Beloimungen.  Sie  haben  keine 
Concurrenzprüfunisfen.  keine  Preisvertheilungen  mehr!  In  diesem  Frankreidi. 
in  dem  die  üftentliche  Erziehung  ein  \'ergnii{ien  daran  zu  Huden  sclu-iiit.  unsere 
Erbfchiei  zu  entwickelu  uud  zu  cuitiviren.  liaben  Sie  zuei-st  deu  Muth  gehabt, 
diesen  ganzen  Iflcherlldieii  und  nichtigen  Apparat  abznschata.  Sie  geben  sich 
nicht  mehr  dazu  her,  Jene  kleinen  Schnlnngehener  zn  dressiren,  die  es  verstehen, 
-  den  Preis  in  den  lateinischen  Versen  und  in  der  griechischen  Übersetzung  za 
gewinnen,  in  jedem  andern  Gegenstande  aber  unbrauchbar  sind.  Bei  Ihnen 
ist  der  lield  an»  Tajre  der  Preisvei-tlieilung  nicht  dei-jenige,  den  glänzende 
Fähigkeiten  oder  ein  glücklicher  Zufall  begünstigt  haben:  die  freiwilligen  (laben 
der  Natur  genügen  nicht,  es  bedarf  noch  der  Au.sdauer  und  des  nie  ermüdenden 
Fleisses  in  den  tilglicheu  Arbeiten.  Und  so  erreichen  Sie  ein  doppeltes  Resul- 
tat: erstens  verleiten  Sie  das  Kind  nicht  zn  dem  Glanben,  dass  ein  glfiddichea 
Zusammentreffen,  eine  vorfibergehende  Anstrengung,  ein  einmaliger  Erfolg  ge- 
nügt, um  vor  allen  anderen  ausgezeichnet  zu  werden,  sondern  Sie  zeigen  ihm, 
dass  es  der  nnaufliörlichen.  ausdauernden  Thiltigkeit  und  des  guten  Willens  in 
jedem  .\ugenblirk  bed:irf.  \Vi''  interessant  würde  es  sein,  nachzuweisen ,  wie 
und  weshalb  Ihre  Methode  diejenige  der  pi-ote.stantischon  Liinder  ist,  während 
die  Concurrenzprufungen  uud  die  i'reisvertheilungen  wie  auch  die  blinde  Unter- 
werfung unter  die  Schulzacht  wesentlich  dem  Eatholidsmus  angehören.  Bei 
Ihnen  weiss  das  fieissige  Kind,  dass  es  beurtheilt  wird  nach  der  Mühe,  die  es 
sich  gibt  £s  fühlt,  dass  es  gerecht  behandelt  wird;  es  kommt  sich  nidkt  mehr 
verlassen  vor;  es  strengt  sich  an,  es  emdcht  sein  Ziel.  Daraus  —  wie  anch 
ohne  Zweifel  aus  Ihrer  auf  die  Vernunft  sich  gründenden  Disciplin  —  daraus 
entsprinjrt.  glaube  ich.  jenes  frohe  AVesen.  jene  Miene  der  Heitel  keif  nnd  <Je- 
sundheit  der  Seele,  die  ich  oft  bei  Ihien  kleineu  Schülern  bemerkt  und  be- 
wundert habe.  Ach,  ich  habe  soviele  Schulen  gesehen,  in  denen  man  sich 
langweilt!    Die  Ihrige  aber  ist  da,  um  zu  zeigen,  dass  das  Glflck  seinen 


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ri>jiniug  liat  in  dem  UetiUil  dei"  Würde,  welches  sidi  entwickelt  iimiitteu  der 
Freiheit  und  uuier  dem  Schatze  der  Gerechtigkeit 

Wie  viele  Dinge  h&tte  ich  Ihnen  noch  zn  sagen!  Besonders  hfttte  ich 
gno  verweilt  het  jenein  grossen  Faetom,  dass  Sie,  nnter  denen  es,  wie  ich 
weitt,  so  viele  tief  religiöse,  ja  fromme  Gemnther  gibt,  dass  Sie  die  erston 
gtnvesen  sind,  die  mit  Entschlossenheit  dfn  Relio"ionsuuten"icht  ans  Ihrer  S(  hule 
futfenit  haben.  Sic  liabeu  jedem  seine  Kollo  nnd  seine  Verantw(»!  tli(  likeit  ge- 
lassen: dem  weltlichen  Lehrer  die  wiHsenschaftlichen  und  beweisbaren  Wahr- 
heiten; dem  Priester  diejenigen,  zu  denen  der  Glaube  noth wendig  wird.  Und 
in  dieier  YerweltUchung,  nm  mich  so  anszndrttcken,  die  wir  fOr  die  Staats- 
schnlen  beanspruchen,  haben  Sie,  wie  wir,  nnr  einen  Beweis  der  Achtung  vor 
der  Grewissensfireiheit  nnd  vor  der  Anfrichtigkeit  des  Glanbens  gesehen.  Ich 
iBSdlte,  dass  di**  wackeren  lOhiner.  die  einig-e  Schi-itte  von  hier  entfernt  in  dem 
goldenen  Saale  des  Luxemburp  angstvoll  zög-ern,  das  l)ereits  von  der  Kammer 
iiiiirt'iioiiiiiient' (lesetz  zu  bcschlicssen,  llire  Schule  besuclitcii.  iln  e  Srliiilci-  fVatrten 
uiitl  WsoiuU'i  s  deren  Eltern.  Ich  niöciite,  dass  meine  Stiniuit!  stark  getiut;  wäre, 
am  zu  ihnen  zu  dringen  nnd  sie  zu  beschwören;  nicht  auf  lännende  JJetheue- 
rnngen  an  hSren,  bei  denen  die  religiUsen  Überzeugnngen  gar  keine  Bolle 
ipiden,  nnd  die  von  der  „Elslssischen  Schule"  gemachte  Erfiüinmg  nach  ihrem 
vollen  Werte  zu  schfttzen.^  — 

So  denkt,  so  handelt,  so  spricht  man  in  Frankreleh!  Wenn  man 
nun  aach  sagen  mnas,  dass  die  Franzosen,  "wie  das  ttberhaupt  ja  ihre 
schwaGhe  Seite  ist,  hie  nnd  da  den  Mmid  etwas  zn  voU  nehmen,  nnd 

ach  nicht  verhehlen  darf,  dass  vieles  von  dem,  was  sie  schon  als  halb- 
erreicht  hinstellen,  einstweilen  noch  in  das  grosse  Gebiet  dei  Iromnien 
Wünsche  gehört,  wenn  es  namentlich  noch  viel  Zeit  und  viel  Kampf 
kosten  wird,  mit  der  alten  überlieferten  Lehrmethode  vollständi«r  und 
alliremein  zu  brechen  und  an  die  Stelle  des  professorarti«^  vortragenden 
den  unteiTiclit enden  Lelirer  zu  setzen,  wenn  fenier  auch  die  matenelle 
Lage  der  Tiehrer  und  ihre  sociale  Stellung  noch  zu  \ielen  gegründet<^n 
Klagen  Anlass  gibt,  so  können  wir  doch  eingedenk  des  Satzes:  „Gut 
Diug  will  Weile  haben ^  das  Beste  hoffen  und  dürfen  nnseni  Beifall 
den  hochherzigen  und  edlen  Bestrebungen  nicht  vorenthalten,  mit 
denen  man  in  Fi  ankreich  die  Schule  zu  lordern  trachtet  Pflege  der 
Schale  in  ü*eiheitlichem  Sinne  ist  der  Gmndzug,  von  dem  die  ganze 
neuere  Pädagogilc  Frankreichs  durchdrungen  ist  Unter  diesei*  Devise 
vereinigen  sich  alle  jene  Bestrebungen,  von  denen  wir  in  Vorstehendem 
ein  Bild  zn  geben  versucht  haben.  Was  bei  uns,  wo  der  freisinnige, 
nacli  Wahrheit  und  Offenheit  strebende  Theil  des  Lehrerstandes  gemäss- 
regelt  wird,  hent  zn  Tage  leider  nur  schfichtem  nnd  verstohlen  gesagt, 
gewflnsGht  nnd  gehofft  werden  darf,  das  verkünden  in  Frankreich  die 
Begierong  seihst  nnd  der  Begienmg  nahestehende  Männer  als  erstrehens- 
und  nachahmenswert  Seltsames  Schauspiel,  dass  die  beiden  Länder 


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iimerhalb  weniger  Jahre  so  die  Rollen  getauscht  haben!  Betrül)enil 
freilich,  dass  wii*  die  l^iiluuuff  ab<2:egeben  haben,  erfreulich  jedoch, 
dass  Frankreich  sie  Ubernommeü,  jenes  Frankreich,  das  sicli  seligst  und 
seine  grosse  Revolution  verleugnet  hätte,  wenn  es  nicht  endlich  sich 
frei  machte  von  der  Herrschaft  der  Ignoranz,  der  Indifferenz  und  der 
Lüge;  erfreulich  femer,  dass  es  in  seinem  edlen  Streben  Unterstützung 
findet  in  anderen  freieren  Ländern,  deren  Regiemngen  erleuchtet  genug 
sind,  das  vahre  Interesse  der  Schale  nicht  als  ihrem  eigenen  entgegen- 
gesetzt zu  erkennen,  in  Belgien,  in  der  Schweiz  nnd  nenerdings  auch 
in  Amerika,  das  durch  seines  wackem  Präsidenten  leider  jetzt  für 
immer  geschlossenen  Mund  so  schOne  und  yerheissungsvoUe  Worte 
zum  Lobe  dei*  Bildung  und  des  Unterrichts  sprach.  Freudigen  und 
hoffirangsvoUen  Herzens  können  wir  daher  dem  Worte  beistimmen,  das 
der  Herausgeber  dieser  Blätter  bei  einer  Mheren  Gelegenheit  uns 
aus  der  Seele  schrieb:  Es  ist  doch  gut,  dass,  wenn  es  in  einem  Lande 
Nacht  wird,  in  anderen  der  Tag  anbricht  Mag  daher  in  unserm  engeren 
Vaterlande  die  Fahne  des  Fortschritts  nach  kurzem,  fröhlichem  Flattern 
augenblicklich  wieder  verhüllt  sein,  mag  die  Reaction  mit  ihrem 
tinstern  Gefolge,  dem  Streberthuni,  der  Heuchelei,  der  Corruption  und 
dem  charakterlosen  Servilisnius  ihr  trauriges  Werk  verrichten,  wir 
verzagen  nicht  :  auf  dem  grossen  Felde  der  Cultur  sind  viele  Arbeiter, 
und  das  Ziel,  das  ihnen  winkt  und  dem  die  Arbeit  gilt,  ist  nicht  allen 
verborgen.  Iiinner  gibt  es  Bahnbrecher,  die  den  Weg.  den  die  Anderen 
verloren  haben,  wiederfinden  und  diese  zurückrufen  zu  erneuter  Thätig- 
keit.  Auch  uns  wird,  des  sind  wir  überzeugt,  ein  neuer  Morgen  tagen! 


« 


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Me  Prufang  and  Ansbildnng  der  Lehrerinnen  in  Ostpreussen. 

Von  Director  A,  Ooerth-Iitsterburg. 

Durch  den  lÜmsteiiAlerlafls  vom  S4.  April  1B74  sind  in  Prenssen 
Gommisdonen  gebfldet  worden,  welohe  nnter  dem  Vorsitze  des  Pro- 
vinzial-Schnhaths  JShrlieh  zweimal  die  Prflfimg  von  Lehrerinnen  nnd 
Sefanlvorsteherinnen  abzuhalten  haben.  Die  Examinatoren  sind  Begie- 

rungsräthe,  Seminar-Directoren  und  Lehrer  an  Seminarien  oder  höheren 
Lehranstalten.  Da  hier  in  Ostpreussen  eine  vollständige,  zur  Ab- 
haltung- von  Entlassungsprüfungen  berechtigte  Lelirerinnen-Bildungs- 
anstalt  noch  nicht  existirt,  so  sind  bisher  säuimtliclie  Bewerberinnen 
genöthigt  gewesen,  sicli  von  p]xaminatoren  prüfen  zu  lassen,  die  ihnen 
in  jeder  Hinsicht  fremd  waren.  Jetzt  ist  das  Recht  der  Entlassungs- 
prüfung dem  Hilfsseminar  in  Tilsit  verliehen  worden,  so  dass  dort  die 
Prüfung  von  nun  an  unter  dem  Vorsitze  des  Provinzial-vSchulrathes 
von  dem  Lehrercolleginm  abgehalten  wird;  aber  die  Zöglinge  aller 
anderen  Seminarien  sind  nach  wie  vor  genöthigt,  sich  in  Königsberg^ 
von  den  ^fitgliedeni  der  oben  erwähnten  Commission  prüfen  zu  lassen. 
Da  in  Königsberg  allein  schon  vier  grössere  Hilfsseminare  existiren 
und  fast  jede  Vorsteherin  der  vielen  Privat-Töchterschulen  sich  bemüht, 
ihre  „Selectanerinnen'*  znm  Examen  vorzubereiten:  so  ist  zu  den  beiden 
Terminen  der  Andrang  so  stark,  dass  bereits  seit  einer  Reihe  von 
Jabren  zn  Ostern  nnd  zu  Michaelis  60—70,  ja  80  Bewerberinnen 
geprttft  werden  mussten.  Diese  Arbeit  haben  5  Männer  aoszn- 
f&hrenl  In  der  schriftlichen  PrüAing  am  ersten  Tage  haben  die 
mdehen  nnter  Olansnr  ein^  deutschen  Anftatz  anzufertigen,  einige 
Bechenanj^hen  zn  lösen,  ein  französisches  nnd  ein  englisches  Exer* 
dllnm  zn  machen.  Dann  werden  die  Lehrproben  abgehalten,  nnd 
sdüiessUch  beginnt  in  Gegenwart  der  gesammten  Commission  die 
iBfindliche  Prflftmg.  Die  Mädchen  erhalten  Zettel  mit  verschiedenen 
Fragen,  über  die  sie  sich  auszusprechen  haben.  Wenn  die  Frage  ein 
Gebiet  betrifft,  mit  dem  die  Bewerberin  nicht  recht  vertraut  ist,  sucht 
der  Ezaminatinr  sie  durch  dnige  Fragen  zurechtzufOhren,  resp.  zu  er> 


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forsclieii,  ob  sit  aul'  aiideitui  Gebieten  der  betreftendeii  Wisseiiscliaft 
besser  bewandert  ist.  Jeducli  kfinnen  zu  diesen  Fragren  bei  der  grossen 
Menge  der  Bewerberinnen  für  jede  Einzelne  nur  wenige  Minuten 
verwendet  werden.  Eine  einfache  Berechnung  wird  dies  zeigen.  £a 
wird  geprüft  in  Pädagogik,  Religion,  deutscher  Grammatik,  deutscher 
Literatur,  in  Französisch,  Englisch,  Geographie,  Gescliichte,  Rechnen 
mit  Raumlehre,  Naturgeselüchte,  Physik,  also  in  11,  mindestens  in 
10  FAchem.  Bechnen  wir  für  jede  Bewerberin  k  Fach  10  Minuten, 
80  beansprucht  sie  1  Stunde  40  Minuten,  70  Bewerberinnen  t)raa<^en 
also  bei  der  oben  angenommenen  sehr  geringen  Zeit  schon  drca 
130  Stunden.  Nehmen  wir  an,  die  Heiren  hielten  tSglich  10  Stunden 
solcher  Arbeit  ans,  so  wflrden  immertiin  zur  mündlichen  Pr&fung  allein 
schon  13  Tage  oforderiich  sein.  In  Wirklichkeit  dauert  aber  da» 
ganze  Examen  nur  7  Tage,  von  denen  3  auf  die  mfindlidie  Prüfung 
Terwendet  werden.  Damadi  wird  Jeder  ermessen  kihuien,  in  welcher 
Weise  die  Prtifung  gehan^abt  wird.  Nach  den  Erzählungen  der  Be- 
werberinnen liat  man  in  der  letzten  Zelt  in  3  Zimmern  zu  gleicher 
Zeit  geprüft;  trotzdem  ist  jede  in  di'U  meisten  Fächern  nui-  ö  bis 
ß  Minuten  und  nur  dann,  wenn  sie  bedenklich  stockte,  etwa  10  Minuten 
lang  gefragt  worden.  Je  nach  dem  Ausfall  dieses  kurzen  Examens 
werden  Zeugnisse  ausgestellt,  durch  die  man  den  Mädchen  amtlich 
bescheinigt,  dass  sie  für  ein  Lehramt  an  höheren  Töcliteischulen  oder 
Volksschulen  in  den  einzelnen  Wissenschaften  sehr  gute,  gute, 
genügende  oder  nicht  genügende  Kenntnisse  besitzen.  Da  eine 
zweite  Prüfung  nicht  gefordeit  wird,  eine  Nachprüfung  iiir  diejenigen^ 
wekhe  für  reif  erkläit  werden,  nicht  zulässig  ist:  so  muss  das  einmal 
erworbene  Zeugnis  tür  die  ganze  Lebenszeit  genügen.  Während  des 
Examens  wird  eine  Nachprüfung  nicht  veranstaltet.  Zu  Ostern  d.  J. 
hatten  einige  unter  den  jungen  Mädchen,  die  ich  nach  Königsbergs 
schickte,  in  Religion  wenig  Glftck  gehabt  Die  später  an  Andere  ge- 
richteten Fragen  konnte  sie  mit  Leichtigkeit  beantworten  und  mel- 
deten sich  wie  gebräuchlich  durch  Aufheben  der  Hände.  Der  Examinator 
sagte:  „Sie  entwickeln  Jetzt  Kenntnisse,  die  ich  bei  Ihnen  nicht  er^ 
wartet  hätte^;  trotzdem  wurden  sie  nach  den  zuerst  gegebenen  Ant* 
Worten  censirt  Eine  Andere  wurde  während  der  Prüfhng  ohnmächtig; 
trotzdem  erhielt  sie  ein  Zeugnis  auf  Grund  der  wenigen  Antworten, 
die  sie  vorher  zu  geben  im  Stande  gewesen  war.  Eine  Dritte  war 
zuletzt  so  angegriften,  dass  sie  dem  Examinator  in  Pliysik  erklärte, 
sie  sei  nicht  im  Stande,  eine  Antwort  zu  geben.  Trotzdem  wurde  ihr 
Wissen  in  Physik  ohne  eine  Nachprüfung  mit  „nicht  genügend** 


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eeiudrt.  Zum  Beweise,  welch  kurze  Zeit  auf  die  Prüfung  in  den  ein- 
zelnen Fächern  verwendet  wird,  teile  icli  liier  die  Pr&fangsfragen  mit, 
welche  zu  Ostern  d.  .T.  an  einige  meiner  SchlÜeriniuMi  iri^stcUt  worden 
sind.  Sie  mnssten  nur  dieselben  unmittelbar  nach  dem  Examen  auf- 
sdireiben,  so  dass  man  annehmen  darf,  sie  werden  nicht  geirrt, 
höchstens  hie  nnd  da  ehie  ansgehissen  haben. 

Li  Religion:  (Fragen  an  A.)  Eme  heilige  allgemeine  chilstllehe 
Kirehe;  Leb>  nnd  Lernmittel  fftr  die  Katechismnslehre.  (an  B.)  Einige 
Bosspsalmen;  ZergUedemng  des  23.  Psahns  vor  Kindern;  Adyents- 
nad  Weihnachtsiieder.  (an  0.)  St^en  ans  Jesauis,  Johannis  Botschaft; 
Wdhnachtslieder  aufsagen  nnd  den  Verfiisser  nennen;  Ort  der  Hanpt- 
wurksamkeit  Thilo's;  Stellen  aus  den  B9merbriefen  nebst  Angaben,  wo 
sie  stehra. 

In  Pädagogik:  (A.)  Arnos  Comenius,  das  .Erklären;  die  Sinne, 
die  Tliore  der  Seele;  Pflege  der  Sinne.  (B.)  Sokrates;  die  häuslichen 
Arbeiten;  I  rteile  nach  den  vier  Kant'scheu  Kategorien.  (C.)  Eberh. 
V.  Rochow;  Schulzucht;  der  ('harakter. 

In  Deutsch:  (A.)  Die  Kraniche  des  Ibikus;  der  Meinorirstotl"  wie 
ii^t  derselbe  zu  behandeln;  Res^eln  tür  die  Interpunctiou.  iB.j  Die 
Meistersänt^er.  Hans  Saclis:  Inlialt  einiger  Sdiwänke;  eine  Ballade  von 
St'Mller;  eine  Legende;  die  starke  und  schwache  ( 'onjuf^ation.  ((\) 
Henler's  Bioo-rapiiie,  seine  Werke;  Inhalt  von:  Der  «gerettete  Jimglinf?; 
Lessing's  Fabeln,  Volkslieder,  Balladen  von  Goethe  und  Schiller;  ein 
Satzgefüge  zergliedeni. 

In  Französisch:  (A.)  C'onjunctionen,  die  den  subjonctif  regieren; 
die  Plejade,  Entstehung  des  französischen  Theaters.  (B.)  Unterschied 
Ton  c'est  und  il  est;  einige  unregelmässige  Verben;  Pascal,  Boileau, 
Lafontaine.  (C.)  Montesquieu  und  seine  Werke;  was  heisst:  mitten  in, 
de  plos  am  An&nge  eines  Satzes;  Unterschied  zwischen  dans  la  Tille, 
€11  TÜle,  ä  la  ville. 

Ja  Englisch:  (A.)  Wie  wird  das  deutsche  „man^  ftbersetzt? 
BQdung  eines  Satzes  mit  ehern  Gerundium;  Philosophen  nndG^eschichts- 
«ehreiber  des  17.  Jahrhunderts.  (B.)  to  carry,  to  bear,  to  wear; 
Ohatterton,  Percy.  (C.)  Thomas  Moore;  Inhalt  aus  Lalla  Bhook 
Paradies  und  Peri;  ehien  Satz  übersetzen;  wie  wird  das  Eigensehafts* 
wort  English  geschrieben? 

In  Geschichte:  (A.)  Hehrere  Fragen  CUodewig's  Taufe  betref- 
fend; die  Thätigkeit  Friedrich  Wilhelms,  des  grossen  Kurfürsten. 
(B.)  Friedrich  Wilhelm  I.;  die  griechischen  Spiele;  die  sächsischen 
Kaiser.   (C.)  Muhamed  und  seine  Religion;  wann  wurde  Brandenburg 


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mit  Preussen  vereinigt?  Die  Kua-fürsten  bis  zum  Jalne  1701.  Das 
wichtigste  Ereignis  aus  der  Kegierungszeit  des  Hochmeisters  Albrecht 
von  Brandenburg,    ^'el•trage  zu  W'eldau,  Labiau,  Friede  zu  Oliva. 

In  (ieograpliie:  [A.)  Städte  und  Handelsverbindungen  in  .Sch\vedeii; 
Städte  auf  Seekmd,  Jütland;  FUisse  in  Süd-Amerika;  die  Städte  in 
Ostpreussen.  ilirer  Grös.se  nach.  (B.)  Die  pyrenäische  Halbinsel;  Neben- 
flüsse der  Weichsel,  der  Alle;  Eisenbalinen  der  Provinz  Preussen; 
Städte  an  der  Insterburg-Thorner  Bahn.  (C.)  Italien;  Regierung»- 
bezirke  in  OstpreuBsen;  Kreise  im  Regierungsbezirke  Gumbumen; 
welche  Kreise  haben  nur  zwei  Städte?  der  unfruchtbarste  Kreis;  die 
Stationen  an  der  Tilsiter  Bahn;  die  Hauptstationen  an  der  Bahn  von 
Fischhausen  naeh  Prostken. 

In  Naturkunde:  (A.)  Verkannte  Thiere  unter  den  Säugern,  Am* 
pMbien,  VÖgehi.  Warum  erscheint  uns  der  Regenbogen  in  einem  Bogen? 
(B.)  Thiere  und  Pflanzen  der  Polarzone;  Mikroskop  und  Teleskop. 
(C.)  Die  Biene,  die  Ameise,  der  Fuchs;  communicirende  Röhren; 
Nivellir-Instrument;  artesische  Brunnen,  Springbrunnen.  — 

Ich  frage  jeden  echten  Lehrer,  ob  er  es  vor  seinem  Gewissen  ver- 
antworten könnte,  einer  ihm  ganz  fremden  jungen  Dame,  die  diese 
Fragen  sicher  und  gewandt  beantwortet,  das  Zeugnis  auszustellen,  sie 
sei  für  ein  Lehramt  an  einer  höheren  Töchterschule  sehr  gwt  befthigt; 
oder  einei-  andern,  selbst  wenn  sie  die  meisten  Fragen  verfehlt,  das 
Prädicat  uugeniig-end  zu  ertheilen?  Ich  will  damit  den  Examinatoren 
nicht  zu  nahe  treten.  Sie  erhalten  den  Befehl,  die  Prüfuntf  zu  voll- 
ziehen: und  da  ihnen  nur  eine  so  kurze  Zeit  t^ejreben  wird:  so  bleibt 
nichts  Anderes  iibri^^,  als  in  der  oben  p:eschilderten  Weise  zu  handeln, 
h  h  will  nur  die  Einrichtung  selbst  angreifen.  Da  die  Herrea 
Examinatoren  bisher  ihre  Stimme  nicht  erhoben  haben,  so  ist  es  die 
Pflicht  jedes  Lehrers  und  namentlich  jedes  Dii*igenten  einer  höheren 
Töchterschule,  jene  Übelstände  nebst  ihren  Folgen  zu  beleuchten  und 
auf  Abhilfe  zu  dringen.  Die  Kürze  der  ftir  die  Prüfung  bewilligten 
Zeit  ist  nicht  der  einzige  Cbelstand«  Unter  den  anderen  ist  ein  sehr 
emster  die  gerade  mit  diesem  Examen  verbundene  seelische 
Aufregung.  Sie  bemächtigt  sich  der  Mädchen  oft  in  einer 
solchen  Stärke,  dass  sie  die  Gesundheit  auf  lange  Zeit  ge- 
fährdet, ja  zuweilen  ganz  untergräbt.  Ich  spreche  aus  viel- 
jähriger Erfahrung,  denn  ich  habe  bereits  11  Jahre  hindurch  Mädchen 
zum  Examen  vorbereitet. 

Die  Aufregung  beginnt  schon  5 — 6  Monate  vor  der  Prüfung, 
sobald  der  Termin  dmch  die  Zeitungen  und  das  Amtsblatt  bekannt 


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L'einarht  wird.  Nun  wird  der  Lerueiter  tieberhaft.  Die  Mädchen 
<,Wtuiien  sicli  mu*  wenige  Stunden  Schlaf  und  berauben  sicli  jeder  f^e- 
smitlen  Bewegung.  Der  Appetit  zum  Essen  schwindet  dermassen,  dass 
einzelne  nur  von  Kattee,  Chocolade  und  Süssigkeiten  leben.  Das  Wort 
des  Lehrers  erweist  ,sich  als  machtlos.  Man  kann  bitten,  ermahnen, 
zornig  werden  —  sie  weichen  nur  der  Gewalt.  Der  strenge  und  ver- 
nünftige Vatei*  mnss  die  Lampe  wegnehmen  und  die  Tochter  trotz 
ihrer  Bitten  und  Thränen  zn  Bette  schicken.  Leider  gescliieht  dies 
nar  sehr  selten,  dagegen  kommt  es  mu:  zn  oft  vor,  dass  die  Ange- 
hörigen dieses  Leben  und  Arbeiten  als  unbedingt  nothwendig  betrachten. 
Die  flbeltt  Folgen  zeigra  sich  gar  bald.  Die  Mädchen  erscheinen  hohl- 
iogig,  mit  bWcher,  ja  gelblicher  Gesichtsfarbe  in  der  Schule.  Sie 
schrecken  beim  geringsten  Geräusch  zusammen,  sind  ttbermässig  reizbar, 
beginnen  bei  ganz  geringAgiger  Veranlassung  zu  weinen,  bekommen 
Wefaikrftmpfe  und  zeigen  sich  in  ihren  Antworten  unklar  und  zerfiihren. 
Das  Xenrens^stem  ist  so  ttberreizt,  dass  man  sich  hflten  mnss^  irgend 
eitte  YorsteiUung  zu  erwecken,  mit  der  etwas  Grausiges  verbunden  ist 
Wie  ich  in  dieser  Zeit  vor  dem  Examen  Aber  den  Ausdruck  „in 
>panisclie  Stiefel  schnüren**  sprechen  niusste  und  damit  begann,  das 
bekannte  Folterinstnmient  zu  beschreiben,  wurden  drei  Mädchen  ffist 
"liniiKichtig,  so  dass  sie  die  Classe  verlassen  mussten.  In  diesem 
krankliat'ten  Zustande  arbeiten  die  Miidclieii  5  (3  Monate  lang  bis 
zum  Examen.  Zuweilen  werden  sie  wirklicli  krank,  so  dass  sie  nicht 
mehr  arbeiten  können;  zuweilen  muss  der  Lehrer  sie  durch  einen 
Muchtspi'uch  nach  Hause  schicken,  weil  sii'  durch  das  beständige 
Weinen,  Hinausgehen,  üereinkoinnien  und  wieder  Weinen  div.  Stunden 
zu  sehr  stören.  Aber  kaum  haben  sie  sich  ein  wenig  erholt,  so  wird 
das  frühere  Arbeiten  in  noch  stärkerem  Masse  fortgesetzt.  Krank 
und  fieberhaft  erregt  reisen  sie  zur  Prüfung  und  müssen  in  der  tVeraden 
Stadt  sich  bei  fremden  Leuten  einquartiren,  den  fremden  hochmdgenden 
Herren  ihre  Visite  machen  und  sich  von  Fremden  prüfen  lassen.  Ist 
es  unter  solchen  Umständen  zu  verwundem,  dass  sie  verwirrte  Ant- 
worten geben,  dass  sie  sich  oft  unbegreiflich  unwissend  zeigen?  Ist 
es  zn  verwundem,  dass  sie  in  diesem  Zustande  muthloe  werden,  dass 
sie  bei  dem  Gedanken,  ihr  Schicksal  hänge  von  6 — 6  Ant- 
worten ab,  selbst  in  ihren  Lieblingsfächern  den  Kopf  ver* 
Heren?  Wie  kann  der  Staat  es  verantworten,  dass  auf  Grund  einer 
solchen  Prttfting  ein  amtUches  Zeugnis  ausgestellt  wird! 

In  jedem  Jahre  wird  beim  Examen  eine  Anzahl  Uädchen  ohn- 
mächtig;  Thränen  kOnnen  nur  wenige  zurückhalten.  In  Königsberg  iPr. 


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isind  nach  dem  Kxanien.  xtviel  ich  genau  weiss,  im  Laute  der  letzten 
Jahre  zwei  Mädclien,  welche  nicht  bestanden,  wahn sinnig'  geworden. 

Der  erste  Kall  ereignete  sich  vor  circa  (i  Jahren,  als  man  den 
Bewerberinnen  das  Resultat  der  Prüfung  unmittelbar  nach  Beendigung 
derselben  mitteilte.  Sie  hatten  fast  8  Stunden,  bis  iregen  9  Uhr 
Abends,  warten  mUsseu.  Alle  hatten  wie  gewöhnlich  den  Tag  über 
nichts  gegessen.  Als  man  der  Unglücklichen  sagte,  sie  habe  nicht 
bestanden,  tiel  sie  in  Oht^macht.  Wie  sie  in  einer  Droschke  nach 
Hanse  geschafft  ¥rurde,  begann  sie  zu  rasen,  zerschlug  die  Scheiben 
im  Wagen  —  der  Wahnsinn  war  aasgebrochen.  Jetzt  erbalten  die 
Mfidchen  das  Resultat  am  nächsten  Tage  durch  die  Post  Es  wird 
ihnen  ein  Zettel  geschickt,  auf  dem  Je  nach  dem  Ausfall  der  Prttfting^ 
mitgetheilt  wird,  dass  sie  das  Examen  fUr  höhere  Töchterschulen,  f&r 
Volksschulen  oder  gar  nicht  bestanden  haben.  Diese  Emrichtang  ist 
besser  als  die  frühere;  aber  sie  kann  die  unseligen  Folgen  der  ent- 
setzlichen Aufregung  nicht  beseitigen.  Man  kann  d^  Mädchen  Ta»: 
ans  Tag  ein  sagen,  dass  ein  nicht  l)efriedigender  Ausfall  der  Prüfung- 
nui*  den  Trägen,  aber  nie  den  Fleissigen  entehrt;  dass  die  Lücken, 
welche  sich  beim  eisten  Examen  gezeigt  haben,  beim  naciisten  ei-giinzt 
werden  können.  Die  Aufregung  ist  zu  gross,  als  dass  die  Stimme  der 
Vernunft  Gehöi*  finden  könnte.  Mir  hat  bis  jetzt  jede  Schülerin  bei 
solchen  Trostworten  ki  )>fschiittelnd  erklärt,  dass  sie  den  (Tedankeii, 
,,durchzutallen",  gar  nicht  ertragen  ktinne.  Viele  erklärten  geradezu, 
dass  sie  solch  ein  Schicksal  nicht  überleben  werden.  Nun,  sie  über- 
leben es;  aber  nur  wenige  bleiben  von  den  unheilvollen  Folgen  der 
Autregung  und  der  krankhaften  Anstrengungen  verschont.  Nur 
wenige  sehr  kräftige  Mädchen  erhalten  später  die  frühere 
blühende  Gesundheit  wieder;  gar  viele  verfallen  bald  nach  bestan- 
denem Examen  in  Nervenfieber:  andere  bleiben  Jahre  lang  bleich, 
siech  und  elend.  Wer  mir  nicht  gUiuben  will,  der  frage  die  Ante, 
welche  die  Mädchen  in  ihrer  Stndiensseit  behandelt  haben. 

Aber,  dibrfte  man  fragen,  warum  gebt  Ihr  Lehrer  den  Mfidchen 
so  uttvemfinftig  schwere  Angaben;  warum  zwingt  Ihr  sie,  so  viel  zu 
lernen?  Ich  kann  mich,  Gottlob,  diesem  Vorwurf  gegenflber  freisprechen. 
Ich  habe  Jalir  aus  Jahr  ein  memen  Schfilerinnen  erkUrt,  dass  sie  bei 
mir  nur  für  das  Lehramt  und  nicht  für  die  Prüfhng  vorbereitet 
werden  und  diesem  Plane  gemäss  meine  Aufgaben  gei*egelt.  Da  meine 
Collegt  u  mit  mir  Hand  in  Hand  gehen,  so  darf  ich  sagen,  dass  wir 
die  Mädchen  nie  überbürdet  haben.  Die  Schuld  liegt  nicht  an  uns 
Lehrern,  sondern  fällt  der  oben  geschilderten  Kiurichtung 


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zur  Last.  Infolge  der  vagen  Bestimmungen  des  Priifungs-Rff^leaients 
weiss  Niemand  genau,  welches  Pensum  dun-lizuarbeiten  ist.  und  die 
Examinatoren  wissen  ebensowenig  genau,  was  sie  zu  foidern  haben, 
£8  ist  ferner  nui'  zu  erklärlich,  dass  ein  Examinator,  der  70  Mädchen 
a  prüfen  hat,  zuweilen  auch  zu  schwere  Fragen  stellen  wd.  Wenn 
er  äch  nicht  wiederholen  will,  niiiss  ihm  der  Stoff  zu  den  leichteren 
Fragen  bald  ausgehen.  Ist's  zu  verwundem,  dass  Männer,  die  sich 
Jahizehnte  lang  mit  einer  Wissenschaft  beschäftigt  haben,  sich 
tcUiesslidi  vergessen  and  zn  eingehend  prüfen?  Das  wäre  immerhin 
kän  Unglück,  wenn's  nur  nidit  bekannt  wttrde.  Aber  gerade  diese 
Fhigen  and  Anfordernngen  werden  am  eifrigsten  verbreitet,  and  es 
ist  leieht  erklftriich,  dass  darch  solche  Mittheilangen  and  Besprechungen 
die  Angst  vor  dem  Examen  bedenklich  gesteigert  werden  mnss.  In- 
folge dieser  Angst  prägen  sich  die  Hftdchen  neben  den  Auf- 
gaben, die  ihnen  von  den  Lehrern  gestellt  werden,  eine 
Menge  von  Kenntnissen  in  den  Kopf,  die  kein  vernünftiger 
Mensch  von  ihnen  fordern  wird.  Ich  habe  vergebens  Alles  aul- 
geboten, dieser  getliiirlichen  Thorheit  zu  steuern.  Ich  habe  vergebens 
darauf  liijige wiesen,  dass  dies  unvernünftige  Lernen  (Pauken)  den  Kopf 
Terwirrt  und  ihnen  bei  der  Prüfung  keinen  Nutzen  bringt;  dass  sie 
Hell  darauf  beschranken  sollen,  das  von  uns  Lehrern  Vorgetragene 
and  sornfsam  Erklärte  gut  einzuprägen.  Das  thöiiclite  Geschwätz  von 
Bekannten  und  Verwandten  war  stets  mächtiger,  als  meine  ernsten 
Worte.  In  der  letzten  Zeit  ists  ganz  arg  geworden.  Seitdem  der 
Minister  Herr  v.  Puttkamer  befohlen  hat,  die  Priifung  strenger  zu 
liandhaben,  scheint  die  Angst  vor  dem  Examen  die  Köpfe  ganz  ver- 
wirrt zu  haben.  Meine  Mädchen  hatten  eH'ahren,  dass  man  in  einem 
fon  einer  Dame  geleiteten  Hil£Bseminar  in  K.  seit  einer  Beihe  von 
Mren  die  Prfifiingsfragen  der  Examinatoren  gesaauielt  und  den 
Lehistoff  diesen  Fragen  gemäss  eingerichtet  habe.  Da  in  dieser 
Anstalt  genau  so  wie  auf  der  Universität  docirt  wird,  so  war  es 
OuMn  gehmgen,  sich  einige  „GoUegienhefte*'  zu  verschaffen.  Die 
Ifiiddiea  haben  diese  Hefte  fiist  wörtlich  auswendig  gelernt!  Da  die 
Torsteherin  jener  Anstalt  Jedes  Jahr  durch  die  Zeitungen  ausposaunen 
ttsBt,  welch  glänzende  Resultate  durch  ihr  Seminar  erzielt  werden, 
n  meinten  die  Mädchen,  sie  seien  gegen  alles  Ungliu'k  gesichert,  sobald 
aie  uui-  den  Inhalt  jener  Hefte  auswendig  wüssteu.  j 

*)  Ib  jener  Anstalt  mfisgen  diese  Hefte  in  der  That  auswendig  gelernt  worileu. 
SabiUl  ein  Ittdchen  eintritt ,  die  bereits  längere  Zeit  ein  anderes  Seminar  bestioht 
lit,  wue  sie  jene         abschreiben  and  Alles  nachlemen. 


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Ich  komme  nun  zu  den  freföhrlichsten  Folgen  jener  Eimichtung. 
Der  berühmte  Professor  Max  Miiller  sagt  in  einem  seinei*  geistreichen 
Aufsätze  (ilber  individuelle  Freilieit):  „Die  Piiifungeii  ganz  in  die 
Hände  von  F'reinden  geben,  heisst  dieselben  in  T>otterieu  ver- 
wandeln und  erzieht  eine  Art  von  S«_']ilauheit,  Gewitztlieit  bei  Lehrern 
und  Schillern,  wel<'li<'  der  Unredlichkeit  nahe  verwandt  ist.  VAii  Exa- 
minator kann  ausfindig  nmchen,  was  ein  Schüler  nicht  weiss;  aber  es 
wird  ilim  schwer  fallen,  Alles  herauszutinden,  was  er  wirklich  weiss. 
Und  sollte  es  ihm  auch  gelingen,  zu  ergründen,  wieviel  der  Schüler 
weiss,  so  wird  er  doch  niemals  erfahren,  wie  er  es  weiss.  Über 
diesen  letzten  Punkt  ist  die  Ansicht  des  Lehrers,  welcher  den 
Schüler  Jahre  lang  beobachtet  hat,  anumgänglich  nothwendig 
im  Interesse  des  Examinators,  im  Interesse  der  Schäler  und  im  In- 
teresse ihrer  Ldirer.^  „Durch  allaaihänfige  Examina,"  föhrt  er  fort, 
„wird  eine  Art  von  anredlichem  Wissen  genährt  und  grossgezogen. 
Es  gibt  zwei  Arten  von  Wissen:  Das  eine,  welches  wirklich  in  Fleisch 
and  Blnt  fibergeht,  and  das  andere,  das  wir  in  nnseren  Taschen  hemm- 
tragen. Die  ffir  die  Examinatoren  arbeiten,  haben  gewöhnlich  aOe 
Taschen  vollgepfropft;  die  rnhig  and  still  und  mit  ganzem  Herzen 
fortarbeiten,  fittilen  sich  oft  entmathigt  dnrch  den  kleinen  Bestand 
ilires  Wissens;  durch  das  wenige  Lebensblut,  das  sie  aufgenommen 
haben.  Aber  Alles,  was  sie  gelenit  haben,  ist  wahrhaft  ilir  Eigen- 
tlnuii  geworden,  liat  ihren  geistigen  Wuchs  gekräftigt,  und  schliesslicli 
liaben  sie  sich  im  Kampfe  des  Lebens  stets  als  die  Stärksten  und 
Tupfers t en  erwiesen. *' 

Dass  die  grossen  Prüfungen  in  Königsberg  eine  Art  von  Lotterie 
geworden  sind  ireben  die  Examinatoren  selbst  zu.  P's  ist  dämm  die 
humane  Einriclituiiir  getroüen  worden.  <Iass  ^rädchen,  welche  in  Haupt- 
föcheni  -  Religion,  Kecimen,  Deutsch  und  fremden  Sprachen  —  Un- 
glück hatten,  nach  einem  halben  Jahre  die  Prüfung  nui*  in  den  Fächeni 
naclizumachen  brauchen,  in  denen  ihnen  kein  genügendes  Prädicat 
ertheilt  werden  konnte.  Alles  Übrige  wird  als  vollgiltig  angenommen. 
Zweien  von  meinen  Schfilerinnen  wurde  sogar  mit  Erlaubnis  des  Herrn 
Ministers  gestattet,  diese  Nachprüfung  5  Wochen  ^ter  in  Tilsit 
abzulegen.  Sie  bestanden  dort  beide  zur  vollen  Zufriedenheit.  Die 
eine  hatte  in  Königsberg  in  einer  fremden  Sprache,  in  Französisch, 
Unglftck  gehabt  Li  Tilsit  bestand  sie  die  Prfifiing.  Diese  Hnmaait  ftt 
ist  anzuerkennen;  aber  sie  kann  immerhin  nicht  die  fibeln  Folgen  der 
ganzen  ^nriditung  aufheben.  Im  G^egentheil  ist  die  allgemein  ver- 
breitete Überzeugung,  dass  das  Examen  eine  Art  Hasardspiel  sei,  da- 


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(lui'ch  nur  noch  melir  betestigt  worden.  Diese  Überzeufrunf,'-  ist  aber 
leider  für  dsm  ganze.  .Schulwesen  verhängrnisvoll ;  sie  hat  sich  l)ereits 
als  hödist  nachtheilig  erwiesen:  denn  sie  hat  bei  den  in  den 
Seminarien  studirenden  Mädchen  die  Freude  an  der  Vor- 
bereitung fär  ihren  späteren  Beruf  ganz  erstickt.  Sie  arbeiten 
alle  nur  im  Hinblick  auf  die  Prüfung;  eine  würdigere  Vorbe- 
reitung für  den  späteren  Beruf  wird  ganz  bei  Seite  geschoben. 
Ich  bin  Lehrei*  mit  Leib  und  Seele.  Und  wenn  man  mich  plötzlich 
mit  Beichthnm  flberhänfte,  so  wtlrde  ich  mich  keinen  Augenblick  be- 
denken, sondern  auch  als  reicher  Mann  Lehrer  bleiben;  denn  ich 
fShle  zu  meiner  Ai-beit  inneren  Beruf.  Darum  ist  mir's  aUmälig  zu 
schwer  geworden,  diese  von  Jahr  zu  Jahr  wachsende  Gleichgiltigkeit 
gegen  das,  was  mir  als  heilig  gilt,  länger  zu  ertragen.  Ich  habe  die 
Ldtmig  des  Lehrerinnen-Seminars  seit  Ostern  d.  J.  niedergd^  und 
▼erde  sie  nur  dann  wieder  ttbemehmen,  wenn  mir  das  Becht  ertheilt 
wird,  die  Entlassungsprüfung  unter  Vorsitz  eüies  Egl.  Ck)mmissarius 
mit  meinen  CoU^fen  selbst  abzuhalten.  Andere  Directoren  wollen, 
obgleich  Sie  mir  in  allen  Punkten  Recht  geben,  noch  geduldig  aus- 
han-en,  bis  ihnen  jenes  Recht  «rewährt  wird.  Ich  kann's  nicht  mehr; 
mir  ist  die  Arbeit  im  Seminar  durch  jene  oben  ^'■escliildeiti  n  Zustände 
zu  sehr  verleidet.  Mit  welcher  Freude  haben  die  Madchen  früher 
meinen  Probelectioncn  «relauscht!  Wie  ß:espannt  war  Alles  zu  erfahren, 
ob  die  Praxis  der  Theorie  eut sprechen  werde.  Und  wenn  sich's  dann 
zeiprte.  rlass  ich  die  seelischen  Kegungen  der  Kinder  richtig  voraus- 
gesagt, dass  der  vorher  erkUlile  und  genau  psychologisch  berechnete 
Erfolg  wirklich  zu  Tage  trat,  wie  froh  wurde  dann  die  Stunde  ge- 
schlossen, wie  eifrig  war  man  bemüht,  die  erhaltenen  Lehren  nun 
durch  eigenes  Probii'en  zu  befestigen!  Ich  weiss  wol,  dass  diese 
Freude  bei  vielen  nicht  tief  ging.  Es  war  etwas  ganz  Neues,  es 
machte  Vergnügen,  „war  ganz  reizend,  entzückend,  hinunlisch!''  Aber 
bei  mehreren  ernsten  Naturen  hat's  gezündet,  hat  bis  zur  Stunde  einen 
80  hingebenden  Eifer  gewirkt,  dass  ich  nur  mit  Rührung  und  innerem 
Glftck  daran  denke.  Da  mir  dies  Glüclc  seit  den  letzten  Jahren  ge- 
nubt  ist,  mnss  ich  znrftcktreten:  ein  blosgeschäftsmässiges  Unterrichten 
ist  mir  als  Dirigent  nicht  mdglich.*) 

Es  ist  leicht  zu  ermessen,  dass  man  in  Priyat-Seminarien,  welche 
von  Damen  geleitet  werden,  unter  solchen  Verhältnissen  halb  und 

•)  Mich  haben  zu  diesem  Schritte  inwh  aiulen'  l'iu-t;iiulc  Lrctriclieii.    L'a  obif^er 
Gruüd  aber  der  baii])tääcblichBte  ist  und  mit  der  Einrichmug  der  Prüluug  in  Küoig»- 
ivMiiimeiihängt :  ao  habe  ich  hier  «ffientUch  tther  mehiea  Entechluss  gesprodieu. 


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halb  gezwungen  im.  die  V('il)ercitiiugeii  zu  der  Prüfunjo:  iii>>  <lii>  Wich- 
tigste, die  fiir  das  .si)ätere  Lehramt  als  Nebeiisäcldiches  anziiM-heii. 
Dabei  maclit  sich  zug-leich  wieder  das  Haiii»tgebreclieii  <les  Lehrer- 
standes geltend.  Die  Herreu  Doctoren,  welche  dort  docireu,  weisen 
auf  sich  selbst  hin  und  sagen:  Wir  hal)en  auf  der  Univeisität  zum 
Lehramte  auch  keine  Vorbereitung  erhalten  und  sind  jetzt  dennoch, 
wolbeätalite  Grymnasiallehrer.  Zu  solcher  Vorbereitung  habt  Ihr  später 
Zeit,  wenn  Ihr  in  eine  Stelle  tretet.  Jetzt  lernt  nur  tüchtig.  So 
werden  dann,  wie  Max  Müller  sagt,  alle  Taschen  mit  Wissen  voll- 
gepfropft, nm  nur  für  den  Examinator  zu  arbeiten.  Dadurch  wird 
der  Segen,  den  die  Seminarien  leisten  kennen  und  leisten  sollten,  ge- 
radezu in  Unsegen  verkehrt  Statt  Fachschulen  zu  sein,  statt  An- 
leitung zu  einem  sachgemissen  correcten  Unterricht  zu  geben,  ver- 
leihen sie  nur  dn  höheres  Mass  von  Wissen  und  befestigen  den  fftr 
das  ganze  Schulwesen  nnd  die  Erziehung  der  Kinder  so  nnheflvoUeii 
Irrthum,  dass  das  Unterrichten  keine  Kunst  sei,  sondern  in 
das  Belieben  eines  Jeden  gestellt  werden  dürfe,  sobald  er 
nur  die  nöthigen  Kenntnisse  besitzt,  welche  er  beibringen 
soll.  So  werden  die  theuern  Errungenschatten  eines  Kousseau.  eines 
Basedow,  eines  Pestalozzi  und  Diesterweg  als  ilbertiüssig  gjinz  ver- 
gessen. Sie  werden  zwar  beim  Examen  in  gewumlter  Rede  hergeplappert, 
aber  in  Wirkliclikeit  bleiben  sie  «^anz  unbeaclitet,  ja  nur  zu  oft  werden 
sie  jreradt'zu  verächtlich  behandelt  nnd  eiü:ensinnigem  dilettantischen 
Behagen  nachgestellt.  Daher  die  nur  zu  natürliche  Eolge,  dass  sich 
Hunderte  von  jungen  Mädchen  in  diese  Anstalten  drängen,  nur  um 
darin  höhere  Studien  zu  machen  und  sich  durch  das  Zeugnis 
die  Bescheinigung  darUber  zu  erwerben.  So  wird  die  Aus- 
bildung und  Pflege  der  so  ndthigen  Liebe  und  Hingabe  an  den  Beruf 
dem  Zufaä  überlassen,  und  um  uns  das  Lelion  vollends  schwer  zu 
machen,  wird  eine  Menge  von  Schwätzerinnen  erzogen,  die 
später,  falls  sie  nicht  Lehrerinnen  werden,  auf  ihr  Zeugnis 
pochend  in  den  ernstesten  Fragen  des  Schnllebens  mit- 
sprechen wollen.  Ich  bin  Überzeugt,  dass  alle  meine  Collegen, 
namentlich  die  in  den  kleineren  und  mittleren  Städten,  in  diesem 
Punkte  bereits  sehr  unangenehme,  vielleicht,  wie  ich,  bereits  traurige 
Erfiihrungen  gemacht  haben  werden.*) 

*)  Man  nehme  an.  die  Frau  des  Blirgermeisters  oder  eines  viel  anß:eselienen 
RathHljemi  habe  einst  das  Lehrerinnenexamen  (gemacht  nnd  «^ebe  den  Aihs<  hlau  bei 
Be^etzuu^^  von  SehulstoUen.  bei  Einrichtungen,  welciie  durch  die  ächuideputaiioa  (fe- 
truffen  werden,  und  ^chliesde  dami  weiter. 


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Aber  nicht  nur  die  Einriclitunpr  dieser  Masseni)rüfung,  auch  die 
Prüfungsordnung  selbst  bringt  grosse  Übelstände  mit  sich. 

Das  Zeugnis  gibt  den  Mädchen  die  Bereclitigung,  ein  Lehramt 
an  höheren  Tdchterschnlen  za  verralten.  Bei  der  Frflfting  müssen 
sie  Pn>helectionen  vor  Hftdchen  ans  den  obersten,  den  mittleren  nnd 
den  nnteren  dassen  einer  solchen  Anstalt  abhalten.  Es  ist  kein 
Wander,  wenn  sich  die  Gq»rllften  später  einbilden,  sie  seien  reif  nnd 
berechtig^  anch  in  der  obersten  Chisse  zn  onterricht^.  Bis  jetzt  ist 
trotz  der  dringenden  Forderungen,  die  bei  so  vielen  Lehrerversamm- 
hmgen  ausgesprochen  worden  sind,  die  Einrichtung  eüier  zweiten 
höheren  PrQftmg  fllr  Lehrerinnen  noch  nicht  ins  Werk  gesetzt  worden. 
So  mnss  es  fort  und  fort  dem  Ermessen  des  Dirigenten  anheimgestellt 
werden,  die  Lehrerinnen  auf  den  oberen  Classen  zn  beschäftigen  oder 
auf  die  untere  zu  verweisen.  Bei  solchen,  die  er  durch  Jahre  lange 
Beobachtung  genau  kennt,  liat  die  Sache  keine  Scliwierigkeit.  Aber 
die  Verlegenheit  Avird  sehr  gross,  wenn  es  sich  darum  liandelt,  eine 
Stelle  für  eine  Ijelirerin  an  Oberclassen  zu  besetzen.  Der 
Magistmt  ist  gewöhnlich  rasch  bei  der  Hand,  eine  Dame  zu  wählen, 
die  nach  dem  hier  absolvirten  Lehrerinnenexamen  sich  längere  Zeit 
im  Auslande  autgelialten  hat.  P'ür  uns  Lelirer  Avill  das  wenig  sagen. 
Wer  im  Auslande  nur  die  Umgangsspi-ache  gelernt  und  allenfalls  viel 
Romane  in  der  betretfenden  »Sprache  gelesen  hat,  ist  dadui'ch  noch 
kein  besserer  Lehrer  geworden.  Wir  \\issen  wol,  dass  die  meisten 
Damen  sich  im  Auslände  in  Pensionaten  und  Privatschnlen  mit  Kindern 
fremder  Nationen  herumquälen  nnd  unzählige  Hefte  comgiren  müssen 
mid  zn  wirklichen  Studien  keine  Zeit  übrig  behalten.  Einige  mögen 
ja  anch  wirklich  dort  studiren;  aber  wer  gibt  uns  dafür  die  nöthige 
Garantie?  Wer  gibt  uns  Sicherheit  dafür,  dass  die  Dame  sich  während 
der  Zeit  geftbt  hat,  Classe nun ter rieht  zn  ertheüen,  eine  Classe 
zu  beherrschen,  correct  zu  unterrichten  und  alle  anderen  An- 
fordenmgen  zu  erüUlen,  die  man  an  einen  kunstgerechten  Schul- 
unterricht zu  stellen  hat? 

Man  sieht,  es  fehlt  die  Einrichtung  einer  zweiten  höheren 

Prüfung,  durch  welche  Lehrerinnen  die  Berechtigung  zum  Unter- 
riciiteii  in  den  Oberclassen  liöherer  Töchterschulen  erhalten  können. 
Die  gegenwärtige  Prüfungsordnung  sollte  mindestens  statt  der  Berech- 
tigung zu  einem  Lehramt  an  liöheren  und  mittleren  Tiichterscliulen 
nur  die  für  Mittelschulen  und  die  mittleren  Classen  höherer 
Töchterschulen  gewähren.   Andere  Übelstände  lassen  sich  durch 


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die  Einsicht  der  f^xaminatoren  leicht  beseitigen,  sobald  nui*  diese 
Haiiptforderimj?  erfüllt  wird. 

Zum  Sclilusse  will  icli  meine  Forderungen  hier  kurz  präcisiren: 

1.  Die  bisherigen  Massenprüfun^en.  in  denen  dir  auf  verscliiedenen 
Senünarien  vorbereiteten  Mädchen  durch  fremde  Examinatoren  f^eprül't 
werden,  sind  bis  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkte  abzuschaffen. 

2.  Die  Prüfungen  sind  an  einzelnen  Anstalten  in  die  Hände  des 
Directors  und  der  am  Seminar  arbeitenden  Lehrer  zu  legen.  Den 
Vorsitz  führt  dabei  ein  yom  Staate  ei*nannter  Conunissarius. 

3.  Die  Berechtigong  za  solchen  EntlassongsprOfangen  wird  vor- 
Iflnflg  in  Ennangelang  von  Staatsseminarien  i^en  Anstalten  erthettt, 
die  in  Yerbindmig  mit  einer  mindestens  Sclassigen  höheren  TOditer- 
schnle  ein  vollstSndig  eingerichtetes  mindestens  2clas8iges  Hüfsseminar 
haben.*) 

4  Hauptgewicht  ist  anf  die  theoretische  und  praktische 
Ausbildung  fftr  den  Lehrerberuf  zu  legen.  Die  Prüfungsordnung 

ist  demgemass  abzuftndem,  resp.  zu  erweitem. 

5.  Städte,  die  mit  einer  gut  organisirten  höheren  Töchterschule 

(von  mindestens  8  Classen)  ein  Lclirerinnenseminar  verbinden  wollen, 
erhalten  das  Recht  der  Entlassungsprüfung,  sobald  die  oben  näher 
bezeichnete,  für  eine  gute  Ausbildung  erforderliche  Einrichtung  eines 
2classigen  Seminars  ins  Leben  gerufen  ist  und  das  erste  Abiturienten- 
Examen  bevorsteht. 

6.  Jede  Bewerberin  muss  vor  Ablegiing  der  Lehrerinuenprüiung 
mindestens  ihr  19.  Lebensjahr  vollendet  haben. 

7.  Sobald  eine  genügende  Anzahl  von  Lehrerinnensem inarien  durch 
den  Staat  ins  Leben  gerufen  sind,  gehen  die  Hilfsseminare  ein.  Der 
Staat  verpflichtet  sich  jedoch,  bei  Gründung  seiner  Anstalten  die  be- 
stehenden und  bewährten  Hilisseminare  zu  benutzen. 

8.  Diejenigen  Lelirerinnen,  welche  ein  gutes  Examen  abgelegt  haben, 
werden  4  Jahre  später  zu  einem  höheren  Examen  zugelassen.  In  dem- 
selben haben  sie  nachzuweisen,  dass  sie  a)  in  bestimmten  F&chem  ihre 

*)  Ala  MuHter  dtelle  ich,  ohne  audereu  Aiidtalt«u  zu  uahe  treten  zu  wollen,  das 
mit  der  itldtMan  hOlierai  TSehUcsehale  verlniiideiie  SentBar  in  Duung  .auf,  das 
«ich  unter  Leitung  des  Herrn  Dixeetor  Dr.  Neunuinn  befindet.  2  dasBen  wh  je 
84  Untezrichtaetiinden;  22  Stunden  werden  durch  dnen  eigene  Ar  daa  Sendnar 

angestellten  akademiach  g^ebildeten  pro  facultate  docendi  geprüften  Lehrer  ertheüt. 
Ein  Elt  nientarlehrer  gibt  .3  Stunden  Rechnen  und  1  Stunde  Gcfang.  Die  Übrigen 
Stunden  sind  in  den  Händen  des  Directors  und  anderer  akademisch  gebildeter  Lehrer 
der  höliereii  Tiichtersehule  und  anderer  Anstalten.  Die  Stadt  gibt  jährlich  einen  Zu- 
echuds  von  ca.  4150  Mark. 


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Kenntnisse  wissenschaftlich  vertieft,  b)  sich  eine  genügende  Umsicht 
und  Sicherheit  im  Unterrichten  an  Scholen  erworl)en  haben. 

Ich  wünsclic  von  Herzen,  dass  meine  Worte  an  massgebender 
Stelle  Gehör  finden  möchten.  80  ^^  ic  es  jetzt  geht,  darf  es  nicht 
länger  gehen;  denn  die  Zahl  deijenigen,  die  sich  ganz  unberufener 
Weise  in  die  Seminarien  drftngen,  um  ein  PrUfiingszengnis  za  erhalten, 
ist  nahezu  Legion  geworden.  Es  ist  endlich  an  der  Zeit,  dass  eine 
Eänricbtong  getroffen  werde,  durch  die  es  ernsten,  ihren  Beruf  walir- 
haft  lid)6nden  Mlnnem  mO^ch  wird,  die  Spreu  von  dem  Weizen  zu 
sondern,  tflchtige  Ifftdchen  tttchtig  auszubilden  und  die  unfiOugen, 
flatterhaften,  nur  der  Mode  huldigenden  Wesen  aus  dem  Lehrerstande 
ganz  auszuscheiden. 


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tiymiutöittiii  imd  Nationalität 

Von  Fnf,  Dr,      Sehatamutß^r  -  Trktt 

Mottoi  Tbe  pioper  itady  of  the  ma  b  Bftn! 

lljs  dürfte,  besonders  in  unserem  so  bunten  Nationalitälenstaate 
Österreich,  wol  niu*  wenige  Gymnasien  und  Schulen  überhaupt  giben, 
in  welchen  alle  Schüler  und  Lehrei-  einer  und  derselben  Nationalität 
an«r»*liören,  und  wo  die  ..Nationalitätenfrage",  das  ..Nationalitätsprin- 
dp"  und  „Nationalitatsideen'^  nicht  iu  irgend  einer  mehi*  oder  minder 
brennenden  Form  existii*en. 

In  den  meisten  öffentlichen  und  privaten  (besonders  in  den  so- 
genannten „inteiTiationalen")  Unterrichts-  und  Erziehungsanstalten 
finden  w  zwei,  drei  und  mehrere  Nationalitäten  bei  Schülern  und 
Lehrern  vertreten. 

Was  ist  Nationalitat?  Wie  entstehen  Nationalitäten,  und  welche 
Bedentang  haben  dieselben  Ar  GymnaBlen  und  Sdinlen  ftberhaupt  und 
ftlr  die  Gymnasien  Östetieichs  insbesondere? 

Nationalität  finden  wir  definirt  als  die  „Zugehörigkeit  zu  einer 
Nation",  und  Nation  (vom  lat  natio,  nascere,  natns,  natura  etc.)  als 
„ein  nach  Abstammung  und  Geburt  sich  unterscheidender  TheO  der 
Menschheit^ 

Bei  dieser  Definition  jedoch  vermissen  wir  sofort  ein  paar  f&r  die 
Begriffe  Nation  und  NationaÜtftt  wesentliche  und  unentbelirliche  Merk- 
male, nämlich  die  Sprache  und  Ciiltur. 

Eine  (^ruppe  von  ^^'il(len,  ein  blosses  Conglonierat  von  Einzelnt-ii 
und  Familien  ohne  iiiciiscliliclie  Sprache  und  Cultur,  olme  ein  gesell- 
schaftlicli  und  staatlicli  geordnetes  und  orgunisirtes  ZusaiimienlelM-ii, 
ist  keine  Nation  und  keine  Nationalität,  sondern  eine  Horde,  eine 
Schaar,  ein  Haufe,  liöchstens  ein    Stamm (tribus). 

Nacii  I).  Sanders  ist  Nation  „ein  Volk  als  staatliches  Indivi- 
duum in  seiner  alle  Glieder  desselben  zu  einer  grossen  (4esammtheit 
veibiudendeu  und  zugleich  von  audeieu  sulchen  (iesammUieiten  schei- 


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deiiden  Eigeiititiiinlit  likeir-  —  imd  Nationalität  „die  chanürteristische 
Eigentbümlichkeit  einer  Nation**. 

Im  gewöhnlichen  Sprachgebrauclie  sind  „Nation",  „Nationalität" 
und  „Volk"'  niclit  selten  gleichbedeutend. 

Nation,  Nationalität,  Volk  u.  s.  w.  sind  in  erster  Linie  ethno- 
graphisch e,  in  zweiter  Linie  politische  Begriffe. 

Nationalitäten  sind  grössere  Yolkschaften  (Völkerschaften)  und 
Volksstämme,  d.  i.  natürliche  Gruppen  von  E^inzelnen,  Familien  nnd 
Familienverbänden  (Geschlechtem,  Sippen),  deren  Zusammengehörig- 
keit und  Znaammenhalt  vorzugsweise  auf  der  Gemeinsamkeit  gewisser 
pbjsischer  mid  psychischer  Bigenschafteii  (Basseneigenschaften)  beruht, 
wdche  durch  eine  Tidhundertjährige  Gmeinschaft  des  Lebens  und 
Stirebens  entstanden  sind.  Nationalität  ist  vorzugsweise  ein  ethno- 
graphischer Begriir. 

Nation  und  Volk  hingegen  sind  mehr  politische  Begriffe.  Unter 
J^ationen**  und  Völkern  verstehen  wir  staatlich  geordnete  Gemein-  ' 
Wesen,  wdche  ans  emer  oder  aus  mehreren  Nationalitäten  bestehen, 
die  durch  Ehie  Staatsform  miteinander  verbunden  shid. 

Nach  Bluntschli,  dem  deutschen  Staatsrechtslehrer,  bezeichnet  das 
Wort  „Nationalität**  einen  Cultuibegriff,  das  Wort  „Volk  '  einen  Staats- 
begritf. 

So  spricht  man  von  Regiernng  und  Volk  eines  Landes,  von  den 
verscliiedenen  Volksclassen,  von  Volksthnm  nnd  Volkstliiimlichkeit 
(Po|iularität),  von  Yolksbanken.  Volksküclien.  von  niederem  und  hölie- 
reiu  .,Volk-'  u.  s.  w.  Ks  o^bt  einen  Volksgeist  und  einen  National- 
geist, aber  nni-  eine  .A'olksseele". 

Nationalitäten  mit  vernachlässigter  Mnttersiir.iclie.  mit  einer  auf- 
genöthi^ten  Spraclie  oder  Mundart  sind  unirliickliclie  Zwitter  nnd 
Krüppel,  welche  in  Unfreiheit  hinsiechend  sich  nicht  voll  entwickeln 
können. 

Die  Seele  und  das  Wesen  jeder  jresnnden  Nationalität  ist  deren 
Muttei-sprache  (Mundart)  und  Literatur  (Nationalliteratur).  Spraclie 
und  Literatur  sind  das  innere  <ieistige  Band,  welches  die  Angehörigen 
einer  Nationalität  oder  eines  Volksstammes  am  stärksten  miteinander 
verbindet 

Die  unterscheidenden  am  Körper  sichtbaren  Kennzeichen  der  National 
htäten  sind  hauptsächlich:  Kopf  und  Schädelform,  das  Gesicht  oder  die 
Physiognomie,  die  Farbe  der  Haut,  Farbe  und  Form  der  Augen,  Farbe, 
Gestalt  und  Pflege  des  Haupthaares  (Haartracht),  Form  der  Hände 
und  Fasse,  die  Kopfbedeckung,  lüeidung  und  Kleidertracht,  der 

PBdHaglui.  «.Jikrg.  H«ft  IIL  12 


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—  m  — 


Schmuck  der  einzeliieii  Körpertheile,  die  gesammte  Grestalt,  Haltung 
und  Erscheinungr  in  Bnhe  und  Bewegimg. 

Die  bedeutendsten  Ethnographen  und  Ethnologen,  Anthropologen, 
Völkerphysiologen  und  Völkei-psychologen  wie  die  Engländer  J.  C.  Pri- 
chard,  Lyell,  Darwin.  Huxley.  (t.  Morton  ii.  A.  —  die  Deutschen  J. 
F.  Blumenbach,  C.  Vogt,  A'irchow,  E.  Häckel,  Waitz.  0.  Pescbel, 
Fr.  Müller,  C.  G.  Carus,  ('.  v.  Czoernig,  W.  Wachsmuth,  Eduaid 
Reich  u.  A.  —  der  Schwede  A.  Pftzius  —  der  Italiener  \\  Mantecrjizza 

—  di('  Franzosen  Tuvier.  Quatertap:es.  Topinard.  Gobineau  ii.  A.  — 
die  Vülkerpsycliolugen  und  Sprachforscher  A.  u.  W.  v.  Humboldt,  die 
Brüder  Grimm,  Diez,  Lazarus  und  Steinthal.  \V.  H.  Riehl,  Bopp, 
Pott,  Benfey,  Max  Müller,  Aug.  Schleicher,  L.  (4eiger  u.  A.  —  die 
Statistiker  Qu^telet,  Kolb,  Engel»  Ficker,  Haushofer  u.  s.  w.  stimmen 
mehr  oder  weniger  darin  ttberein,  dass  unter  ..Nationalität"  zunächst 
nur  die  natär liehe  Seite  des  Begriffes,  nämlich  die  Abstammung^ 
eines  oder  mehrerer  Menschen,  sodann  aber  auch  eine  grössere  Men- 
sch^igruppe  zu  verstehen  sei,  deren  Individuen  alle  gewisse  gemein- 
same durch  allmälige  Anpassung  und  Vererbung  im  Laufe  yon  Jahr- 
hunderten und  Jahrtausenden  entstandene  körperliche  und  geistige 
Eigenschaften  besitzen. 

Im  politischen  Sinne  bedeutet  „Nation'*  und  „Volk**  die  unter 
einer  gemeinsamen  Regierung  yeremt  lebenden  und  durch  gemeinsame 
Cultur,  gemeinsame  Sprache,  Genrohnheiten  und  Sitten,  gemeinsame 
Gesetze,  Bechte  und  Pflichten,  gemeinsames  Unterrichts-,  Wehr-  und 
Finanzwesen  u.  s.  w.  verbundenen  Angehörigen  eines  Staates. 

„Nationalität"  bedeutet  die  Zugehörigkeit  eines  oder  mehrerer 
Menschen  zu  einer  Nation,  zu  einem  Staate  oder  auch  nur  zu  einem 
Volksstamme,  das  persiin liehe  Verhältnis  zu  Vaterland  und  Heimat, 

—  das  Staatsbürger-  und  Uutertliauenthum,  den  Staats-  und  Gemeinde- 
verband, die  Zuständigkeit  und  Heiniatsberecliriguuir. 

Ich  möchte  die  Nationalität  im  ethnographischen  Sinne  definiren 
als  das  einer  grösseren  Menschengruppe  eigene  körperlich -geistige  Ge- 
präge (National-Typus)  in  Constitution,  Complexion,  Habitus  und  Phy- 
siognomie; in  Denkart  und  Sprache,  in  mehr  oder  minder  nnwillkürlichen 
und  unbewnssten  Gebärden  und  Ausrufungen  (Tut  erjectionen),  in  gewissen 
Au^iK'ken  des  täglichen  Lebens,  in  Wunsch  und  Verwünschungs- 
formeln, Betheuerungen,  Flüchen,  Ansprachen  und  Fragen  nach  dem  Be- 
finden (Wie  geht*s?  ital  Come  sta?  franz.  Oomment  yous  portez- 
Tous?  engl  How  do  you?  oder  How  are  yon?  tschechisch:  Jak  se 
mate?  pohlisch:  Jak  siQ  masz,  pan?  sftcbilayisch:  Eako  ste?  oder 


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—    167  — 


Kako  je?  u.  s.  w.X  in  Tenipfianu^nt  und  Charakter,  in  (Tewnlinheiten, 
bitten  und  Uebräuchen  bei  Arbeit  und  Spiel,  bei  (»rtentliclien  Verg^iQ- 
gungen  und  Volksfesten,  bei  Geburten,  Verlobungen,  Heiraten  und, 
Begrälmiflsen,  bei  allen  gewohnheitsmässipf  sich  wiederholenden  Ver- 
richtungen; in  Freude  und  Trauer,  £mst  und  Scherz,  in  Religion, 
Bedit  Wissenschaft  und  Kunst  (besonders  in  Poesie,  Musik  und  Ge- 
sang); in  Kleidung,  Kleider-  nnd  Haartracht;  in  Essen,  Trinken,  Woh- 
nung und  Bauart;  in  Beschaffenheit  und  Gebrauch  von  Gefitesen,  Ge- 
iftthen,  Waffen  und  Werkzeugen;  in  der  Behandlung  der  Familien- 
l^eder,  Gflste  und  Fremden,  der  Freunde  und  Feinde,  der  Dienstboten 
und  Hansthiere;  im  gesammten  inneren  und  äusseren  Seelenleben  — 
kon:  als  die  Summe  deijenigen  physischen  und  psychischen  Anlagen, 
Thätigkeiten  und  Eigenschaften,  welche  allen  Individuen  einer  Men- 
schenart  oder  Menschenabart  (Spielart,  Varietät)  mehr  oder  minder 
gemeinsam  sind. 

Was  die  Entstehung  der  Arten  und  Ab-  oder  Spielarten  fVarie- 
täten  bei  Ptianzen.  'I'hieren  und  Menschen  betriti't,  so  sagt  hierüber 
schon  der  bekannte  Naturforscher  und  Naturphilosoph  Lamark  fgeb. 
1744,  gest.  1824):  ..Die  systematischen  Eintlieilungen,  die  ('lassen. 
Ordnungen.  Familien,  (rattungen  und  Arten,  sowie  deren  Bent*nnung 
sind  \villkiirliche  Kunsterzeugnisse  dt  s  .Mrnsclien.  Die  Arten  oder 
Species  der  Organismen  sind  von  ungleichem  Alter,  nach  einander 
entwickelt  und  zeigen  nur  eine  relative,  zeitweilige  Beständigkeit; 
aus  Varietäten  gehen  Arten  hervor.  Die  Verschiedenheit  in 
den  Lebensbedingungen  wirkt  verändernd  auf  die  Organisation,  die 
allgemeine  Form  und  die  Theiie  der  Tbiere  ein,  ebenso  der  (rebrauch 
oder  Nichtgebranch  der  Organe.  Im  ersten  Anfange  sind  nur  die 
aUereinfachsten  und  niedrigsten  Pflanzen  und  Thiere  entstanden,  zu- 
letzt diejenige  Ton  der  höchst  zusammengesetzten  Organisation. 

Der  Entwickelungsgang  der  Erde  und  ihrer  organischen  BevOl- 
Icornng  war  continuirlich  und  nicht  durch  gewaltsame  Bevolutionen 
unterbrochen.  Die  dn&chsten  Pflanzen  und  Thiere,  welche  auf  der 
tieften  Stufe  der  Wesenleiter  stehen,  sind  entstanden  und  entstehen 
noch  heute  durch  Urzeugung.  Alle  lebenden  Körper  oder  Organismen 
sfaid  denselben  Naturgesetzen  unterworfen  wie  die  leblosen  oder  an- 
organischen Körper.  Das  Zellgewebe  ist  die  allgemeine  Mutter 
alles  Organischen." 

Und  einer  der  eifrigsten  Anhänger  und  Bekenner  Durwin's,  des 
Xopemikus  unter  den  modernen  Naturtorschern  und  Philosophen, 
Karl  August  Specht  sagt  in  seiner  „Entwickelungsireschichte  des 

12* 


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—   16B  — 


Weltalls"*  und  in  „Alte  und  neue  Weltanscliauung''  Uber  die  Kut.steliuiig 
der  Arien  uiul  die  Vererbung  der  Ki<i:enseliatten  und  Artenuierkniale: 
,,Die  bdden  (Trundei^enschafteu  der  ()r<,'-anisuien.  die  individuelle  Va- 
natiou  ( Veräiulerlichkeit  der  Kinzelwe.seu )  und  die  Vererbung  oder 
Erbliclikeit  derselben  dui-ch  die  Fortpflanzung  auf  die  Nacbkonimen- 
schat't,  sind  die  bauptsächlicbsten  Factoren,  welche  die  Bildung  von 
Varietäten  odei*  Spielarten  bewiikeu.  Diese  Bildung  ist  der  eigent- 
liche Ausgangspunkt  liir  die  Entstehung  neuer  Arten  in  der  Natur* 
Denn  Varietäten  sind,  wie  Darwin  auf  das  schlagendste  und  über* 
zeugendste  dargethan  hat,  nichtig  anderes  als  beginnende  oder  neuent- 
stehende Allen.  Durch  die  erbliche  Übertragung  einer  indivi» 
duellen  Variation  und  durch  stete  Häufung  oder  Steigerung 
derselben  im  Laufe  vieler  Generationen  und  sehr  langer 
Zeiträume  kann  eine  neue  Art  entstehen  und  sind  neue  Ar- 
ten entstanden.  Arten  sind  nichts  anderes  als  streng  ausgeprägte, 
constant  gewordene  Spielarten.  Eine  strengere  Definition  des  Begriffes 
der  Species  ist  nicht  möglich.** 

Bassen  afaid  Arten,  Nationalitäten  sind  Spiel-  oder  Abarten  des 
Ifensehen,  welche  auf  die  eben  beschriebene  natttrüche  Weise  entstan- 
den sind. 

Nationalitäten,  Nationaltypen,  Nationaleharakter  u.  s.  w.  entstehen, 
abei-  nicht  blos  auf  dem  Wege  der  einfachen  Fortpflanzung  (durch 
Selection  oder  Auswahl),  sondern  auoh  in  Folge  höchst  mannigfaltiger 
und  zusammeng-esetzter  geschichtlicher  und  allgemein  cultureller  Ein- 
flüsse. Durcli  einen  Jahrhunderte  und  Jahrtausende  andauei'udeii 
niedlichen  und  freundschaftlichen  Verkehr,  durch  ..freie"  Wahl,  durch 
VerschM'ägerunoei)  und  Yerschwisterungen,  durch  die  Ähnlichkeit  der 
Natur  und  der  Daseinsbediniinn^en,  durch  die  t'bereinstimmung  der 
meisten  Lebensverhältnisse  erzen  «reu  sich  bei  Be  Völkeningen,  welche 
auf  Yerhältuismässig  kleinem  Räume  beisammenwohnen,  allmälig 
gewisse  Ähnlichkeiten  und  Gleichheiten  der  körperlichen  und  geisti- 
gen Organisation,  die  wir  mit  Einem  Worte  Nationalität  nennen. 

Die  Entstehung  von  Nationalitäten  ist  aber  auch  auf  gewalt- 
samem Wege,  durch  Krieg  und  Zwang,  durch  Raub,  Eroberung  und 
Unteijochung,  sowie  durch  siegreiche  Befreiungskämpfe,  nam^tHch  im 
Alterthnme  und  Hittelalter,  vor  sich  gegangen.  So  haben  m  der  Zeit 
d«r  Völkerwanderungen  und  Völkermischungen  und  später  neue  Staa- 
ten, Nationen  und  Nationalitäten  sich  gebildet,  z.  R  die  der  Eng- 
länder, Franzosen,  Italiener,  Schweizer  u.  s.  w. 

Das  NationalgefUhl  lebenskräftiger  Nationen,  wie  der  Schweizer, 


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—   169  — 

Franzosen,  Gogländer,  Italifiiei*  und  anderer  beruht  mehr  auf  der  iiornm- 
len  Gestaltung  und  G^esundheit  üires  staatlichen  Lehens,  mehr  auf  der 
Oemeinsamkeit  der  Geschichte  und  der  politischen  Wünsche,  Bestrebungen 
nnd  Errungenschaften,  auf  gemeinsamem  Thun  und  Leiden,  mehr  anf 
der  Gemeinsamkeit  der  materiellen  and  moralischen  Interessen  und 
mehr  auf  dem  allgemeinen  GeflUile  der  Zufriedenheit  und  des  Be- 
hagens (dessen  BlfithenKationalehre,Nationalbewnsstsein,  Nationalstolz), 
ab  auf  Gleichheit  der  Abstammung  nnd  der  .Sprache,  die  bekanntlich 
bei  diesen  nnd  bei  vielen  anderen  staatlich  geeinten  Nationen  nnd 
„Nati^^ichen**  durchaus  nicht  vorhanden  ist 

Nationalit&t  ist  Landsmannschaft,  Blnts^  nnd  Sinnesrerwandt- 
schait»  Brüder-  nnd  Schwesterschaft  in  weiterem  Smne  (nicht  im  wei- 
testen, denn  in  diesem  sind  alle  Menschen  „Gfeschwister^).  Nationa- 
litftt  ist  Familienleben  und  Familiengeist  zugleich,  ein  esprit  du 
Corps,  nicht  unähnlich  dem  studentiscli-militärischen  Corps-  und  Kasten- 
geiste. Gesteigertes  Xationalitäts-  und  Natioiialgefiihl  ist  Vaterlands- 
liebe oder  Patriotismus,  gesteigerter  (oder  vielmehr  übersteigerter, 
übergeschnappter)  Patriotismus  ist  —  „Cliauviuismus'S  ein  Ding,  fUr 
welches  unsere  edle  deutsche  Sprache  kein  Wort  liat. 

Nationalität  ist  Religion,  die  einzige  Religion  vieler  (Tchildeten 
nnd  Ungebildeten,  während  die  Religion  weniger  Höchstgebüdeten  der 
wissenschaftliche  Kosmopolitismus.  die  Humanität  ist. 

Statt  der  Religionskriege  werden  lieute  Xationalitätskriege  gefuhi't. 
Nach  dem  goldenen  Kalbe,  nach  den  „rein"  materiellen  Interessen 
des  Einzelnen,  der  Familie  und  der  Vetter-  Gevatter-  nnd  Genossen- 
schaften (clubs,  cli([ues,  consorterie)  ist  für  die  meisten  unserer  Zeit- 
genossen National itüt  dasjenige  Wort  und  Ding,  welches  alle  höheren, 
idealen  Gedanken,  Gefühle  und  Bestrebungen  in  sich  begreift. 

Das  Nationalgef&hl  und  die  Nationalitätsideen  sind  in  nnserm 
Jabrtmnderte  Factoren,  Lehensmächte  geworden,  welche  noch  viel  za 
wenig  erforscht  nnd  gewürdigt,  in  Staat  nnd  Gesellschaft,  in  Schule 
und  Erziehung,  in  die  moralische  nnd  intdlectneüe  Entwickelnng 
emee  jeden  Menschen,  in  unser  gesammtes  Sein  nnd  Werden  von  Gto- 
bort  an  mehr  oder  weniger  hestmunend  nnd  ^tscheidend  ehigreifen. 

Physisches  nnd  moralisches  Klima,  Nahrung  und  Lebensart,  an- 
haltend hdtere  .oder  anhaltend  trübe  Gemfttiisstimmnng  etc.  ändern 
nicht  blos  Charakter,  Haltmig  und  Gang,  sondern  auch  die  Farbe  der 
Haut  und  der  Haare,  die  Physiognomie  und  sogar  die  Schädelform. 

Es  gibt  National-,  Stammes-  und  Familiencharaktere,  wie  es  Ras- 
^ncUarnktere  gibt,  welche  sicli  Jahrhunderte  und  Jahrtausende  lang 


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—   170  — 


in  allen  Ländern  und  Zonen  des  Erdballes  gleich  bleiben.  Beispiele: 
die  Juden,  die  Zigeuner. 

Der  österreichische  Ethnograph  Dr.  Friedrich  MüUer  sagt  in 
seinem  Werke  „Allgemeine  Ethnographie^  (2.  Auflage,  Wien  1879), 
Seite  50  nnd  60:  „In  Betreff  des  Rassencharaktm  hat  man  durch 
wiederholte  Beobaditnng^  die  Erfahrung  gemacht,  dass  er  keineswegs 
so  schwankend  ist,  als  man  nach  den  zwischen  den  einzelnen  Bassen 
eodstirenden  Übergängen  glanhen  könnte.  Im  Gegentheüe  ist  der 
Bassencharakter  so  fest  und  beständig,  dass  weder  der  Einflnss  der 
Zeit,  noch  auch  eine  Veränderung  des  Aufenthaltes  denselben  bedeutend 
zu  modifldren  veimag.  Ein  eclatantes  Beispiel  fUr  die  Zähigkeit  des 
Rassencharakters  bieten  die  Juden.  Auf  den  Gemälden  der  italienischen 
und  niederländischen  Meister  finden  wir  denselben  Tyims,  dem  wir  bei 
diesem  Volke  heutzutage  bej.'-rguen.  ja  selbst  auf  den  alten  egyptisclieii, 
assyrisoh-babvlonischen  und  -altpersischen  Denkmälern,  die  nun  min- 
dest t-ns  4(KKJ  .lalnv  alt  sind,  lässt  sich  der  Rasseneharakter,  der  den 
Juden  ganz  besonders  auszeichnet,  keinen  Augenblick  verkennen." 
Vergl.  C.  G.  Carus  über  ..die  ungleiche  Hofähigung  der  verschiedenen 
Menschenstämme  für  die  höhere  geistige  Kiitwickeiung*^. 

In  Betreff  der  leiblichen  Abstammung  bieten,  nach  Dr.  Fr.  Müller,, 
die  gegenwärtigen  Deutschen  „keinen  einheitlichen  Typus,  da  in  den 
meisten  Gegenden  starke  Mischungen  vor  sich  gegangen  sind  und 
manche  Stämme,  welche  frfiher  slawisch  waren,  erst  im  Laufe  der 
historischen  Zeit  germanisirt  worden  sind.  Dies  ist  besonders  im  Osten 
der  Fall,  wo  auch  der  Typus  sich  stark  dem  slavischen  nähert.  Im 
Westen  und  Sttden  ist  Mischung  mit  Kelten  und  Bomanen  vor* 
herrschend.** 

Der  Charakter  gewisser  Hcvölkerungen,  Nationalitäten  und  Nationen 
ist  leichter  zu  erkennen  und  zu  beschreiben,  als  dei-  anderer  Vrdker- 
schaften.  So  zeichnen  z.  B.  viele  Flachlandsbewohner,  Preusseii.  Küssen, 
Nieder-  oder  ..Plattfhniisclie*'  ii.  A.,  durch  eine  gewisse  moralische 
und  intellectuelle  ..Platt-  und  Glattheit",  die  in  ihrem  Bereiche  nichts 
Unebenes,  nichts  Ungewöhnliches  und  Ausserordentliches  duldet,  durch 
eine  gewisse  äussere  und  innere  Uniformirtheit,  ähnlich  der  ihre» 
Landes,  sich  aus. 

Dagegen  sind  die  meisten  Oberländer,  Sftddeutsche,  Schweiler, 
Österreicher,  Franzosen,  Italiener  u.  s.  w.  ungleich  schwerer  zu  er- 
forschen und  zu  schildern,  und  zwar  hauptsächlich  wegen  des  grosseren 
Reichthumes  an  Formen,  TOnen  und  Farben,  wegen  der  grosseren 


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—   171  — 


)[aiini^faltigkeit  and  Beweglichkeit   der   Typen  in  Natur-  und 

Mensi'henwelt. 

Im  Süden  mehr  Individualismus  und  Particularismus,  iiielir  Origi- 
nalität und  Genialität,  aber  znm  Theile  auch  mehr  Zersplitterung, 
mehr  Lässigkeit,  Nachlässigkeit  und  Unzuverlässigkeit  (Schlendrian, 
«.Bummelei*'  und  „Schlappheit'')  —  im  Norden  mehr  Gemeinsamkeit 
imd  Gemeinsiiui,  melir  cnltiirelles  Ebenmass  und  schnlmässiges  Mittel- 
masa,  aber  auch  mehr  Zusammenhalt  (Totalität,  Centralisation,  Oompact- 
heitX  Beständigkeit,  Festigkeit,  Straffheit  („Strammheit**),  kurz  mehr 
Thatkraft  (Eneigie).  Im  Norden  stofliurmer  Formalismus,  im  Süden 
fonnloser  Snbstanzialwmns  u.  s.  w. 

Wie  verschieden  sind  die  einzelnen  Theile,  Provinzen,  Gegenden 
und  Landschaften  Deutschlands  —  wie  verschieden  in  Mundart,  Gha- 
nkter  und  Sitten  die  einzehoen  deutschen  Volksstftmme,  die  elnzehien 
Volk-,  Gau-  und  Dorfschaften  besonders  im  Süden!  Wie  verschieden 
ist  der  Alemanne,  der  Schwabe,  der  Altbaier,  der  Franke,  der  Thüringer, 
der  Hesse  vom  Schlesier,  Pommer,  l^randenburger,  West-  und  Ost- 
preussen,  Meckleubmger,  Ober-  und  Niedersachsen!  Wie  verscliiedeu 
der  Ober-  und  Unterrlieinländer  vom  Westfalen,  Oldenburger,  Hol- 
>teiner.  Friesen!  Wie  verschieden  der  Künigsberifcer,  Breslauer  etc. 
vom  Kolner,  Frankfurter,  Strassburger.  Nümberger  und  Augsbnrger  — 
der  Berliner  vom  Dresdener,  Münchener,  Stuttgarter,  und  diese  wieder 
Tom  Hannoveraner,  Hamburgei-  und  Bremer!*) 

Wie  verschieden  sind  Venezianer,  Lombarden,  Piemontesen,  1^'loreii- 
tiner  n.  s.  w.  unter  einander  und  gegenüber  dem  Bdmer,  Neapolitaner, 
Sicilianer  und  Sarden! 

Wie  verschieden  ist  der  Südfranzose  vom  Nordfranzosen  —  der 
Engländer  vom  Schotten  und  Iren!  Von  den  VOlkermosaiken  Öster- 
leiehs  und  Ungarns  ganz  zu  schweigen! 

Die  grossen  Nationen  Europas  haben  Jede  ihr  eigenes  National- 
gepiSge,  das  man  in  grossen  Hafen-  und  Ändelsstädten,  wie  Triest, 
Görna,  MarsdUe,  Hamburg  u.  a.  hftnfig  Gelegenheit  hat  zu  heobachteu. 

Audi  alle  dvilisirten  EuropAer  haben  etwas  Oememsames  und 
Cberemstimmendes  in  ihrem  Wesen  gegenftber  dem  nndviUsirten  Bauer 
imd  HalbwOden. 

Es  gibt  Rassenphysiognomienl,  Nationalphysignomien  und  C'ultnr- 
physiognomien,  wie  es  Rassentypen,  Nationaltypen  und  Culturtypen, 


*;  Aosfalirlicheres  hierüber  in  meiner  Schrill:  nDeutscUanda  Norden  und  Süden", 
i*  AuiL,  Braunächweig  1870. 


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—    172  — 


fiassenverwandtschaften,  NationalTerwaiiidtschafteii  und  Culturver- 
vandtschaften  gibt 

In  cultiireller,  socialer  und  moralisch-sanitärer  Hinsicht  gibt  es 
folgende  Menschencla.s.sen  (Kategorien):  Civilisirte,  theils  Civilisiile 
(,.Halbcivilisirte")  und  Uncivilisirte  (Barbaren);  Gebildete,  theilweis 
Gebildete  („Halbsrebildeto"),  Ungel)ildete  und  Verbildete;  Geschulte, 
Ungeschulte  und  \'t  i  .scluilte;  Gereifte  und  Ungereifte;  Selbständige 
und  Unselbständige;  Freie  undUnfreie:  Envaclisene  und  Unerwachsene; 
Arme  und  Reiche;  Arbeitende  und  (ieiiiessciid«  •.  Schlechte  und  Gute; 
ganze  und  Theil-Menschen,  wahre  und  Öcheiu-Menscheu  (^ehrliche  und 
falsche  Menschen )  u.  s.  w. 

Muhainmedaner,  ^chiistliche"  Mucker  und  Ähnliche  kennen  nni* 
„Gläubige"  und  „Ungläubige",  Katholiken  und  „Akatholiken",  ..Christen" 
und  „Nicbtcbristen",  ,,Semiteii"  und  „Antisemiten"  —  die  ..Semiten" 
hingegen  kennen  nur  Gl&ubiger  und  Schuldner,  Gescheite  (Kluge  )  und 
Dumme  —  Andere  unterscheiden  nur  „Beichsfreunde''  und  „Beichs- 
feinde"  u.  s.  w. 

Geographen,  Ethnographen  und  Statistiker  unterscheiden  neben 
Kenschenrassen I  Volks-  und  Sprachstämmen,  Nationalitäten  etc.  auch 
noch:  Nord-  und  Sfidländer,  Hochland-  und  Tiefland-,  Binnenland-, 
Kttsten-  und  Inselr,  Gehirgs-,  Thal-  und  Ebenenbewohner,  Stadt-  und 
Dorf-,  Land-  und  Seeleute  („-Ratten^)  u.  s.  w. 

Die  Natur  scheint  nui-  diejenigen  NationalitSten,  welche  Eine 
Sprache  sprechen,  oder  wenigstens  verstehen,  Einen  Charakter  haben 
und  durch  Meere,  Siuni)fe,  A\'üsten  oder  hohe  Gebirg.sketten  von  ein- 
ander getrennt  sind  —  d.i.  nur  Nationalitäten  in  Ländern  mit  natür- 
lichen Grenzen  dazu  bestimmt  zu  haben,  Nationen  zu  werden. 

Wie  die  Familie  das  vermelirfadite  menschliche  Einzelwesen,  die 
potenzirte  Persönlichkeit,  so  die  Nation  die  vermehrtachte,  potenzirte 
Familie.  Oder:  die  Einzelperson  in  ihrer  Potenziiung  (Liebe)  wird 
zur  Familie,  die  Familie  in  höherer  Potenz  zur  Nation.  Der  Staat 
ist  nui'  die  äussere  Form,  das  Gewand  einer  Nation.  Echte  und  rechte, 
auf  Grund  physischer  und  ps5xhischer  Zusammengehörigkeit  und  durch 
die  Stimmen  der  Natur  nnd  der  Vernunft  gestiftete  Familien  und 
Nationalstaaten  sind  Individualitäten  höherer  Art. 

Solche  Familien  nnd  Nationalstaaten  sind  etwas  natorgesetalicli 
und  nothwendig  Gewordenes,  sind  Organismen,  NaturschOpfimgen, 
Gotteswerk,  —  während  dü»  meisten,  ja  alle  bisherigen  Staaten  mehr 
oder  minder  nur  etwa«  wiUkfirlich  oder  zufiUlig  Gemachtes  und  Er- 
künsteltes, nur  Mechanismen,  Maschinen,  nur  Menschenmache,  d.i  Stück- 


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werk  und  Flickw<^rk  sind.  Nationalstaaten  (Freistaaten)  sind  Natur-, 
Zwangstaateu  (Militär-  und  Polizeistaateii)  sind  Kimstproducte. 

Nationalstaaten  und  Nationalstaatenbünde  sind  langlebig,  sind 
oDsterblich  wie  die  Natur,  die  siegeschaifen;  nations-  und  nationalitäten- 
widrige  Zwangstaaten  hingegen  sind,  wie  alle  von  ]\rensrhen  zusammen- 
gekänstelten  Mechanismen  nnd  Bauwerke ,  gebrechlich,  hin&llig,  von 
kurzer  Dauer. 

Was  Seele  nnd  Geist  der  Nationen  nnd  Nationalitäten,  das  so- 
genannte Nationalgefühl  nnd  Nationalbewusstsein,  betrifft,  so 
sind  es  neben  den  physiologischen  nnd  ethnologischen  Gmndeiementen 
nnd  neben  den  angedeuteten  geographischen  nnd  politisch-historischen 
Einllfissen  auch  die  Formen  nnd  Zustünde  (namentlich  die  wirtschaft- 
Hdien,  die  intdlectndlen  und  moralischen)  der  GeseUschalt  und  des 
Moalen  Lebens,  welche  fi^rdemd  oder  hemmend,  stärkend  oder 
schwächend,  erhebend  oder  niederdrückend  nnd  zerstörend  auf  jeue 
emwirken. 

Beispiele  einerseits:  Frankreich,  die  Schweiz,  Belgien,  Holland, 
Norwegen,  Schweden,  Dänemark,  Italien,  die  Vereinigten  Staaten  Noi  d- 
anierikaü  —  anderei-seits:  Knssland,  die  Türkei.  Ungarn  n.  s,  w.  Ein 
durch  allg-emeinen  Wolstand,  dureli  Sicherheit  der  Person  und  des 
Eigentlinnies,  durch  gute  Schulen,  durch  Bildung  und  Freiheit,  durch 
Gerechtigkeit  und  unparteiische,  energische  Reditspilege.  sowie  durch 
stetigen  materiellen  und  geistigen  Fortschritt  die  Mehrheit  seiner  An- 
geliürigen  befriedigendes  und  beglückendes  gesunde^s  Staatswesen  kann 
und  wird  die  verschiedenartigsten  V/Uker  und  Nationalitäten,  deren 
natürliche  Gienzen  mit  denen  des  betretienden  Staates  durcliaus  niclit 
imiiiei-  zusammenfallen  müssen,  unschwer  und  in  verhaltnissmässig 
kurzer  Zeit  zu  Kiner  starken  Nation  verschmelzen. 

Andemtheils  muss  in  Ländern,  deren  innere  Zustände  und  äusseren 
Verhältnisse  unter  ihren  Bewohnern  nur  allgemeines  Missbehagen  und 
laute  UnzoMedenheit,  nur  Unwillen  nnd  Entrüstung,  Hass  und  Ver- 
achtung erregen,  die  Erkrankung  nnd  ZerrQttung  des  Staatskörpei-s 
hnmer  mehr  zunehmen  und  bis  znr  Gefährdung  seiner  Unabhängigkeit 
und  bis  zu  seiner  Auflösung  nnd  Zerstörung  sich  steigern,  namentlich 
in  den  Zeiten  and  Fällen,  wo  Jahrhunderte  lang  unterdrückte  Natio- 
nalitäten ihre  Fesseln  zu  sprengen  oder  gewaltsam  getrennte  Glieder 
Einer  Nation  skh  wieder  zu  vereinigen  streben.  „Es  ist  ein  Fort- 
schritt der  Nation**,  sagt  der  berOhmte  Staatsrechtlehrer  Bluntschli, 
«daflB.  wir  anikngen  von  nationalen  Bediten  zu  sprechen  und  Achtung 
ftr  dieselben  zu  fordern.  Da  die  Nationen  Theüe  der  Menschheit  und 


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—   174  — 


(las  Prodiict  eines  ^nis.sen  weltlii:?tonsclieu  Knt^vit■kelun^spl•()ce^ses  siiul, 
so  sollen  sie  auch  in  ihrem  Bestände  p^eachtei  und  geschützt  werden." 

Das  friedliche  und  norninle  Verhältnis  zwischen  Nachbarnationen 
kann  oft  erst  nach  langwierigen  und  furchtbaren  Kriegen  hergestellt 
werden.  Mit  dem  steigenden  Verkehre  und  dem  wachsenden  VVol- 
stande,  durch  Verbreitung  derColtnr  und  besserer  Schulbildung,  nament- 
licli  besserer  geographischer  und  ethnogra])hiscliei'  Kenntnisse,  sowie 
durch  Verbreitung  der  CTesittung  und  der  Grundsätze  der  Hnmanit&t^ 
verlieren  sich  allmälig  die  nationalen  Vorurtheüe,  die  gegenseitigeiL 
GehfisaigkeLteu,  Beibangen  und  Feindseligkdteii,  und  es  tagt,  erst  im 
[BÜnzelnen,  dann. mehr  und  mehr  auch  in  den  Massen  die  Einsicht,  dass 
gewisse  natflrlich  und  geschichtlich  berechtigte  nationale  Eigenthttmlich- 
keiten,  ja  selbst  thatsftchüche  Mängel  und  Gebrechen,  Emseitig^eit«[i 
und  Beschränktheiten  fiamerhin  kein  Hindernis  sein  sollen  f&r  eine 
gegenseitige  wolwoUende  Anerkennung  des  wahren  Wertes  und  der 
wirklich  vorhandenen  gnten  Seiten  und  der  Yorzfige  einer  jeden  Nation 
und  Nationalität 

Das  Endziel  aller  nationalen  Kämpfe  und  Kriege  aber  ist  der 
friedliche  Wetteifer  in  Gütererzeugung  und  Güteraustausch,  in  Ge^ 
werben,  Künsten  und  Wissenschaften  zur  Förderung  des  eigenen  und 
tillgeiiu'incu  Woles! 

\\'ährend  des  Mittelalters  im  „civilisirten"  P^uropa  und  heute  noch 
in  der  Türkei  und  den  angrenzenden  Ländern  waltet  der  Gegensatz 
der  Religion  an  Stelle  der  Nationalitäten,  im  „civilisirten"*  Europa 
wirkt  heutzutao:e  hauptsächlich  der  Unterschied  der  Sprache,  an  den 
sich  der  Unterschied  der  Literatur  und  gesammten  Cultiu"  anschliesst, 
Nationalitäten  bildend  und  ti  ennend.  Ausserdem  wirkt  der  Unterschied 
der  Länder  und  Kliraate  und  —  the  last  not  the  least  —  mit  be- 
sonderer Stärke  der  Gegensatz  der  mateheUeu  Interessen  und  des 
politischen  Lebens. 

So  hat  sich  die  ursprünglich  Eine  Nation  der  Kngländei',  vor- 
nehmlich aus  matei-iellen  und  politischen  Gründen,  ini  vorigen  Jahr- 
hunderte in  zwei  Nationen  gespalten,  welche  mehr  und  mehr  auch  in 
zwei  verschiedene  Nationalitäten  sich  auswnchsen,  nämlich  die  englisctie 
(01d-£ngland)  und  die  nordamerikanische.  In  ähnlicher  Weise  ge- 
hörte und  gehören  die  deutschen  Schweizer  durch  Sprache  und  Coltiir 
der  deutsdien,  die  französischen  Schweizer  der  französischen  und  die 
wälschen  Schweizer  zum  Theile  der  italienischen  NationaJität  (nicht 
aber  der  deutschen,  französischeD,  italienischen  Nation!)  an.  In  ethno- 
graphischer Hinsicht  zerfallen  die  Schweizer  in  drei,  ja  vier  Natio- 


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»•Ii 

—   175  — 

n&litäten;  in  politischer  Hinsicht  bflden  sämmtliche  Schweizer  Eine  Nation 
und  haben  sich  als  solche  yon  allen  stammverwaiidten  Nachbarnationen 
streng  geschieden«  Ähnlich  die  Belgier,  welche,  obwol  sie  zur  Hälfte 
der  wallonisch-romanischen  (französischen),  zur  HUfte  der  yUbnisch- 
gennaaischen  (niederiflndischen)  Nationalität  gehören,  gegenfiber  ihren 
Nachbarn,  den  Franzosen,  Holländern  nnd  Deutschen,  entschieden  als 
wfß  eigene  Nation  sich  Ahlen. 

So  föhlen  sich  anch  die  Basken,  Bretonen  etc.  in  Frankreich  nur 
als  Franzosen  —  n.  s.  w. 

In  unserer  Zeit  wirkt  das  Gefühl  nnd  das  Bewnsstsein  nationaler 
Gemeinschaft  nnd  nationaler  Verschiedenheit  stärker  als  in  allen  früheren 
Epochen  der  Weltgreschichte.  Unserm  Zeitalter  eigen  ist  die  nationale 
Staatenbildimg ,  d.  h.  eine  solche  Ntaatsforni,  welche  die  Natiun  als 
selbstbewusste  politische  Person  zur  (4iinidla^-e  und  zur  Voraussetzung 
hat.  Die  Gründung  des  Köuigreiclies  Italien  und  des  Deutschen  Reiches 
sind  ans  dieseui  uiächtigen  national-persiinlichen  Bewsstsein,  dem  so- 
genannten ..Nationalitätsprincip''.  zu  erklären,  t^bertrieben  wird  das 
Nationalitätsprincip  dnrcli  die  t'oiderung,  dass  jede  Nationalität,  nnd 
sei  sie  noch  so  klein  und  schwach,  «iine  Nation  werde,  d.  h.  für  sich 
einen  besonderen  Staat  bilde. 

Die  Verbindung  einer  grossen  Nationalität  nüt  kleineren  oder 
Bruchstücken  firemdstaatlicher  Nationalitäten  zn  Einem  Staate  wirkt 
meiBt  fordernd  und  heilsam  anf  jede  der  so  Y^reinigten  Nationalitäten, 
indem  jene  Verbindung  die  Einseitigkeiten  und  Mängel  derselben  aus- 
gleicht und  ergänzt  Beispiele:  Das  russische  Reich  mit  den  deutschen 
Ostseeprovinzen;  Ungarn  mit  seinen  magyarisirten  deutschen  nnd  sla- 
wischen Adelsfiunilien,  mit  den  Millionen  von  tüchtigen  deutschen  und 
shvischen  Bauern  und  Handwerkern;  Böhmen  mit  seiner  fortgeschritte- 
neren deutschen  Greuzbevölkerung  und  mit  seiner  an  deutschen 
Kittel-  und  Hochschulen  herangebildeten  tschechischoi  InteUig w  und 
Oelehrsamkeit  (SsiSaiik,  Bieger  n.  A.)  u.  s.  w. 

Für  jeden  Staat  ist  es  eine  Hauptaulgabe  und  Lebensfirage,  dass 
er  auf  Einer  mächtigen  und  gebildeten  Nationalität  beruhe.  Das  Pro- 
blem, mdrere.  gi  osse  Nationalitäten  friedlich  durch  Gesetz  und  Frei- 
heit zu  einigen,  ist  in  Europa  durch  die  Schweiz,  in  Amerika  durch 
die  Vereinigten  Staaten  glücklich  gelöst  worden. 

Hinsichtlich  des  in-  und  ausserhalb  Österreichs  neuestens  so  viel 
ventilirten  und  lu-girten  Nationalitätsprincipes  meinen  wir  mit  ('.  v. 
Ozoemig:  Das  Princip  der  Nationalität,  innerhalb  der  .Sdiranken  seiner 
natürlichen  Berechtigung  eine  Grundlage  der  Coltur,  eine  Triebfeder 


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—   176  — 


üeistijrer  Kntwickeliini;,  eine  <j>iu-lle  Lreisti^^eii  und  niateriellen  Fort- 
schrittes, iiat  sich  in  und  ausser  Österreich  aller  Bande  entlediL'"!  und 
eine  (Tährung  hervorg:eriilen,  welche  das  liistorisclie  Kecht  zu  unter- 
drücken und  den  Bestand  des  Staates  zu  veiiiicliten  drolit.  Gleichwie 
in  den  Religionskriegen  der  Glanbe,  wird  nun  die  Nationalität  zum 
Panier  des  Haders,  des  Streites  und  Aufrulu-s  erhoben,  welcher  die 
Anarchie  zur  Folge  haben  musste,  wenn  nicht  der  übei-fiuthende  Strom 
bald  in  feste  Ufer  gebannt  wd.  Während  in  anderen  Staaten,  wo 
Eine  Nationalität  vorherrscht,  die  Bewegung  eine  rein  politische  oder 
sodal-politische  war  und  ist,  wurde  und  wird  in  Österreich  von  oben 
nnd  unten  ein  Bassenkampf  entflanunt,  welcher  nicht  nur  gegen  die 
einheitliche  Staatsform  und  die  Begienmg,  sondern  auch  auf  Unter- 
drückung der  fibrigen  Volksstände  desselben  Landes  gerichtet  ist.  Wie 
oft  hat  nicht  schon  die  Geschichte  mit  blutigen  Zttgen  yerzeichnet, 
wohin  die  Ifissleitong  der  an  und  fOr  sieh  durehans  berechtigten,  wefl 
natflrlichen  und  vernünftigen  NationalitÄtsgefühle,  der  Missbrauch  des 
so  oinseitis:  und  masslos  gein-edigten  „Nationalitätsprincipes"  fiihren 
kann!  Sollen  die  Lehren  der  Gescliichte,  wie  z.  B.  die  der  Jahre 
1H48  und  184i)  und  der  naclitolirenden  tur  OsteiTeich  verloren  sein? 
Hätten  wir  wirklich  „niclits  jieh'i-nt'-  und  .,Alles  verfressen?" 

Gewisse  ( )ifranisnien  sind  schon  so  oft  und  viel  or^anisirt  und 
„reorganisirt*\  coustruirt  und  ,,reconstruirt-.  centralisirt  und  decentrali- 
sirt.,  degenerirt  und  ..rejrenerirt",  decapitalisirt,  discreditirt  und  demo- 
ralisirt  und  wieder  „eurirf  und  „reconstmirt"  worden,  dass  sie  —  schon 
lange  todt  sind  und  nur  noch  ein  reui  äusserliches  Scheinleben  führen 
wie  galvanisirte  Leichname.  Ich  kenne  —  in  Hinterasien  natürlich!  — 
einen  „Staatsküi-per",  der,  ohne  Gemeinsinn  und  öemeingefühl  (natio- 
nale Ehre),  ohne  Geist  und  Seele,  ohne  anderen  Zusammenhalt  als  den 
blossen  Zwang  der  Verhältnisse  und  der  rohen  Gewalt,  schon  lange 
innerlichst  verfault  und  abgestorben  immer  noch  Jebt",  „lebt**  wie  ein 
Cadaver  von  den  Maden,  die  unter  ihm  wimmeln  und  wfthlen  und  an 
ihm  sich  mästen. 

Ja,  es  gibt  irgendwo  ein  Aas,  auf  dem  die  Geier  sitzen  nnd  sich 
um  die  Fleischfetzen  streiten,  die  sie  ans  ihm  hacken .... 

Es  ist  wahrlich  die  höchste  Zeit,  dass  unsere  Unterrichts-  und 
Erziehungsanstalten,  insbesondere  unsere  Mittel-  ond  Hochschulen, 
neben  ihren  meist  einseitig  theoretischen  und  mehr  oder  minder  ver- 
alteten Lehrweisen  (Methoden),  neben  ihren  nicht  selten  geistlosen, 
nur  gewohnheits-  und  handwerksmässigen  Lehri)raktiken.  hei  den  ein- 
seitig be-  und  übertriebenen  „blos  fachlichen*"  Studien  und  bei  dem 


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—   177  — 


nach  uöidlicheii  N'urbildeni  imniermelir  übt^iliuinliu  liinendfn  altklugen 
,,Positivisnius",  Materialisniiis  und  tlieils  bequemen,  tbeils  turchtsaraeu 
Inditfereiitiismus,  endlich  daran  denken,  auch  der  Erfüllung  gewisser 
erziehlicher  (pädagogischer)  Pflichten  sich  zu  widmen.  Unter  diesen 
steht  üi  ei*ster  Reilie  die  Lösung  ilirer  national-  und  staatspädagogisclien 
Aufgaben,  besonders  eine  Lebens-  und  Existenzfrage  unsers  Reiches, 
nämlich:  Die  Verständigung  und  Versöhnung  der  Nationali- 
täten, wenigstens  in  der  nächstfolgenden  Generation,  da  die  gegen- 
wärtige für  diese  praktische  Idee  schon  verdorben  nnd  verloren  zn  sein 
sebeiiit! 

Es  mnss  der  systematisch  mitemiinirenden  nnd  zersetzenden  centri- 
ftigakn  Tbäti^eit  unserer  Jugend-  nnd  Reichsfeinde  rechtzeitig  vor- 
gebeugt werden! 

Neben  ihrer  fiichwissenschaftlichen  und  allgemein  pädagogischen 
Thätigkeit  sollten  xamre  Lehrer  nnd  Professoren  fernerhin  nicht  ver- 
säomen,  bei  jeder  geeigneten  Gelegmiheit,  so  namentlich  im  geographisch- 
ethnographischen,  im  historischen  und  statistischen,  sowie  im  sprach- 
lichen Unt^mchte  und  in  den  Gesangstunden  und  Turnfesten,  bei 
Schulfeierlichkeiten,  bei  Beginn  und  Schluss  des  Schuljahres  oder  des 
Semesters,  bei  öffentlichen  Prüfungen,  vaterländischen  (Tpdenktageii  u.s.  w. 
—  ähnlicli  wie  in  Preussen  und  in  der  Schweiz  —  dahin  zu  wirken, 
dass  statt  der  bisherigen,  im  Geheimen  und  offen  betriebenen  Natio- 
nalitätshetzereien untei*  unserer  Schul-  nnd  Universitätsjii*reiid.  statt 
jener  desti-uctiven  Ideen  und  'IViidenzcn  die  constrncti\  eii.  ;iiin)auenden 
Bestrebungen,  statt  der  bisher  ausschliesslich  ueiiHegten  Analysis  mehr 
und  mehr  auch  die  Synthesis,  die  Gefühle  der  Zusammengehörigkeit, 
4as  Bewusstsein  der  Gemeinsamkeit  der  materiellen  und  moralischen 
Interessen,  der  Natumothwendigkeit  des  Zusammenlebens  und  Zusamm^- 
wiikens,  über  dem  Egoismus  der  einzelnen  Nationalitäten,  Parteien, 
Cliquen,  Landsmannschaften  u. s.w.  der  Gesammtpatriotismns  gepflegt 
und  belebt,  der  einheitliche  Staats-  und  Reichsgedanke  geweckt  und 
gestai'kt  werde! 

Schon  in  der  Schule  und  in  der  Familie  muss  unsere  Jugend  an- 
geleitet und  gewöhnt  werden,  den  einseitig  beschränkten  Egoismus 
des  !bidividunms  tmd  der  Familie  oder  der  Vetter^  und  Gevatterschaft, 
die  kleinlichen  Interessen  und  VortheOe  der  Sippe  und  Clique  einer 
höheren  Idee,  dem'  Wole  einer  grosseren  Gemeinschaft,  der  nationalen 
Gesammtheit  und  den  Interessen  des  Staates  und  Vaterlandes  unter- 
zuordnen. 

Es  muss  bei  uns  in  Österreich  endlich  aufgehört  werden,  den 


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—    17Ö  — 


Staat  blos  für  ein  corims  vile,  d.  i.  für  ein  Object  anzusehen  und  zu 
beliuiidelii,  nur  dazu  da  und  ..gut  genug'*,  von  den  eigenen  Landes- 
kindem  (Beamten  etc.)  wie  von  Ausländern  „venvaltet",  d.  h.  zu  rein 
egoistisclien  Zwecken  ausgebeutet  und  vei-scblungen  zu  werden. 

In  anderen  bik'listcivilisirten  ..Reclits-"  und  ..( "iiltur'-Staaten  wird 
der  Kleine  und  Schwache  vom  Grossen  und  Starken,  werden  die  ein- 
zelnen Länder  und  Provinzen  vom  Reiche,  die  Theile  vom  Ganzen  auf- 
gezehrt —  bei  uns  hingegen  wird  das  Ganze  von  seinen  Theilen,  das 
Reich  von  den  vielen  Nationalitäten,  Provinzen,  Parteien  und  von  Ein- 
zelnen zerrissen  und  verschlungen. 

Bei  uns  wird  Alles  auf  Kosten,  nichts  zum  Besten  des  Staates  ge- 
ihan  —  oder  vielmehr:  es  wird  Alles  gethan,  um  den  Staat  aoszn- 
benten,  zu  spalten,  zu  schädigen,  zu  schwächen  und  zn  Omnde  zu 
richten.  Denn:  der  Österreicher  hat  kein  Vaterland  —  nur  der 
Tscheche,  der  Pole,  der  Slovene  u.  s.  w.  hat  eins  . . .  Zur  Heilung 
so  üeSet  Schäden  bedarf  es  vor  Allem  der  Verständigung  und  Ver- 
söhnung unserer  Nationalitätoi  auf  Grundlage  einer  besseren  Er- 
kenntnis des  Wesens  und  der  natürlichen  körperlichen  und 
geistigen  Befähigung  jeder  einzehien  Nationalität  Nach  dem  auf 
ethnograpluschem,  statistischem  und  historischem  Wege  constatirten 
Masse  dieser  Beföhignng  werden  die  aus  dieser  sich  ergebenden  Rechte 
und  Pflichten  jeder  einzelnen  Nationalität  sodann  zu  bemessen  sein. 

Die  soviel  besprochene  und  versprochene  ,,Gleichberechtiguug  der 
Nationalitäten"'  muss  auch  wirklich  ins  Werk  »rcsetzt  werden. 

„Die  (rleicldjerechtigung  der  Nationalitäten"  — sagte  treö'end  ein  Mit- 
glied des  (österreichischen  Keicli>rathes,  Graf  Mannsfeld,  in  der  Sitznnnr 
<les  Ab^-eordnetenhauses  vom  2H.  April  d.  J.  —  ..bedeutet  die  Gleich- 
berecliligung  der  Staatsbürger,  nicht  die  Bevorzugung  des  einen 
oder  anderen.  Wohin  soll  es  führen,  wenn  alle  lieneficien  des  ^)taat^s, 
alle  Unterricht4s-,  alle  Bildungsmittel  u.  s.  w.  nach  Nationalitüten  ver- 
theüt  werden?"  (Unsere  Antwort:  zur  Auflösung  Österreichs  in  seine 
Nationalitäten  und  Nationalitätchen!)  .  .  „Ich  kenne  nur  Eine  Pflicht 
der  Nationalitäten,  und  diese  ist,  sich  freudig  dem  österreictuschen 
Staatsgefähle  hinzugeben.  In  der  Bekräftigung  dieses  Gefühles  stan- 
den die  Deutschen  immer  in  Erster  Linie;  das  vef langt  aber  auch 
die  Grossmachtstellung  Österreichs.  Ich  betrachte  den  österreichi» 
sehen  Staatsgedanken  als  die  Coalition  unserer  Nationalitäten.  Coar 
liren  heisst  Zusammenfassen"  —  vemOnitiges  Zusammenhalten  zum 
Zwecke  der  Befriedigung  unserer  nationalen  (idealen  und  materiellen) 
Bedttrfiiisse  und  Wftnsche,  fögen  wir  hinzu.  „Regierung  und  Parteien 


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—   179  — 


sollen  l•^^llt'ukHn,  d;iss  der  Staat  einen  li<»lu'n'ii  Zweck  hat  als  den. 
nur  da>  (  ompensaticubobject  zui*  Betriedigim^  uationaler  Leidenschaften 
zu  bilden." 

L'nd  t'in  anderes  Reielisratlisuiitfi^licd.  Dr.  v.  Plener,  in  derselben 
Sitziin?  dt's  österreichischen  Abgeordnetenhauses:  „Was  die  „(Tieich- 
berechtigung der  Nationalitäten"  betrifft,  so  befinden  sich  die  nicht- 
deutschen  Nationalitäten  Österreichs  in  einer  unvergleichlich  besseren 
Lage,  als  z.  B.  die  Polen  in  Kussland  und  Prenssen.  die  Deutschen 
in  Ungarn  n.  s.  w.  In  keinem  Lande  geniessen  jene  Nationalitäten 
«ne  soldie  SteUnng  und  einen  solchen  freien  Spielranm  ^e  in  Öster- 
reieh.  Die  M&bsolnte  Gleichberechtignng'*  aber  zn  yerlangen  bemht 
lof  Sdbstt&uschnng,  denn  es  gibt  im  menscblichen  Leben  and  im 
Leben  der  Völker  ttberhaupt  keine  absolute  Gleichheit,  und  die  öster- 
raebischen  nicbtdeatschen  Nationalitäten  müssen,  im  Interesse  ihrer 
eigenen  Erhaltmig,  ein  gewisses  Mass  von  Anerkeminng  der  histo- 
rischen Thatsachen  und  damit  ein  gewisses  Mass  der  Unterordnung 
hl  sieb  aafbehmen.  Es  geht  dn&eh  in  Österreieh  nicht,  die  Gleich- 
berechtigung der  Nationalitäten  auf  die  äusserste  logische  Spitze  zu 
treiben,  denn  dann  würden  wir  zu  einem  polyglott  regierten,  in  gi-ös- 
sere  und  kleinere  Nationalitäts^rriipjicn  aufgelösten  Staate  gelangen, 
womit  notliwendiger  Weise  die  sprarhliclif  \"erwirruug  und  Aufhebung 
iUer  praktischen  Verwaltungstli;iligkeit  verbunden  wäre.  Eben>o- 
weniL^  wie  man  die  Armee  Österreichs  zerschlagen  kann  in  nationale 
Regimenter,  ebensowenig  kann  man  einen  Staat  polygluttisch  regie- 
ren" .  .  „Solche  Anschauimgen  und  Forderungen  können  nur  l^nzu- 
Medenheit  und  Erbitterung  in  der  Bevölkerung  hervorrulen,  ohne 
(hirchfuhrbar  zu  sein.'' 

Der  Minister  furCultus  und  Unterricht,  Freiherr  v.  C'onrad-Ey- 
besield  äusserte  sich  in  dei*  146.  Sitzung  des  österreichischen  Abge- 
ordnetenhauses vom  4.  Mai  d.  J.  wie  folgt:  „Es  handelt  sich  um  die 
aufrichtige  und  ehrlich  gemeinte  Verständigung  auf  dem  Gebiete 
der  Ver&ssung,  da*  Gesetzgebung  und  der  Nationalität,  zn  aller- 
erst auf  dem  Gebiete  der  Schule,  denn  die  Schule  ist  das- 
jenige Gebiet,  auf  welchem  die  aufrichtige  Verständigung 
aller  im  Staate  nebeneinander  lebenden  Nationalitäten  er- 
reicht werden  kann.** 

(Fortaetsnng  folgt.) 


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Ans  der  Sehnlstnlie. 

Von  einem  alten.  Sihttlnuinne* 

JVLachte  gestern  eineB  Schidbesach;  trafs  nicht  gut;  habe  mich 
gefiigert;  nicht  über  den  Lehrer,  ei*  machte  seine  Sache  brav;  nicht 
flher  die  Schfiler,  sie  waren  aufinerksam,  dauerten  mich  aber,  da  sie 
Windeier  als  Nahrung  erhielten.  Ich  ärgerte  mich  Aber  die  Lesehncfa- 
üftbrikanten,  welche  der  Jugend,  deren  kostbare,  unwiederbringliche 
Bildungszeit  mit  grösster  Gewiasenhaftigkeit  auszunutzen  ist,  oft  so 
unpassende  Nahrung  vorsetzen. 

^  kamen  zwei  Gedichte  zur  Verhandlung,  das  eine  wurde  Tor^ 
getragen,  das  andere  besprochen  und  zum  Memoriren  aufgegeben. 
Beide  koninien  in  den  meisten  unserer  Lesebücher  vor,  keines  aber 
tordert,  mit  einem  neuesten  pädagojrisclieii  Schriftsteller  zu  reden,  die 
Etliisinmg  weder  des  Schülers  noch  des  rnterrichts.  Ich  bin  avoI 
nicht  der  erste  Schulmann,  der  schon  Anstoss  an  ihnen  genommen  liat* 

Das  erste  Gedicht  führt  die  Übersclu'il't:  „Lied  eines  Arm  eil"* 
und  ist  von  U bland.   Ks  beginnt: 

,,Ich  bin  SU  gar  eiu  aruier  Mauu 
Und  g^ehe  ganz  allein.'' 

Was  fehlt  nur  diesem  amen  Manne?  Ist  er  krank,  elend,  blind, 
lahm,  einarmi<r,  arbeitsunfähig?  (Tanz  imd  jrar  nicht.  Er  spaziert 
durch  Feld  und  (-rarten,  weilt  gei'u  in  frolier  Menschen  Schwärm, 
besucht  auch  die  Kirchen.  Ist  er  etwa  mit  einer  schw'ereu  Haus- 
haltung belastet,  deivn  (xlieder  dnrcli  Kranklieit  heiuigesucht  sind? 
Er  steht  ganz  allein,  er  hat  nur  für  sicli  zu  sorgen.  Was  klagt  er 
denn?  Warum  sollen  wir  Mitleid  mit  ihm  liaben?  Er  deutet  au,  er 
sei  eine  Waise.  Der  Schreiber  dieser  Zeilen  ist  auch  eine  Waise, 
freilich  eine  sechszigjälirige.  Oli  dieser  arme  Mann  M)  oder  4(».Iahre 
zählt,  ist  dem  Gedicht  nicht  mit  Sicherheit  zu  entnehmen.  Für  eine 
Waise  hat  er  jedentalls  ein  anständiges  Alter.  \\'as  leistet  er  der 
Menschheit?  In  welcher  Weise  hilft  er  an  der  Arb^t,  die  der  Menscli- 
lieit  obliegt,  seinen  Theil  mittragen  und  so  seine  eigene  befriedigende 
Existenz  gewinnen?  Er  aibeitet  nichts,  lässt  andere  für  sich  ein- 


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tieieii.  er  läuft  miissic:  iiniliei'.  Ei-  ist  ein  l'aiileiizendei-  ,.Bi'ii(ler  im 
Hemi".  Er  hätte  sclioii  in  dieser  WWi  j^em,  was  er  in  jener  er- 
wartet: „Einen  Freudensaal,  in  dem  er  sich  im  Feierkleid  ans  Mahl 
setzen  kann." 

Soll  nun  soldi  ein  Müssig^änger  der  Jngend  zur  Tlieilnalime  oder 
gar  als  Vorbild  hingestellt  werden?  Soll  das  in  der  Sdinle  geschehen, 
welche  vom  Schüler  anstrengenden  Fleiss  verlangt  nnd  die  Arbeitr 
samkeit  als  eine  der  ersten  Tugenden  des  Menschen  preist? 

Da  leistet  des  gottlosen  Heine  Gedicht  ganz  andere  Dienste: 

Gabeu  mir  Bath  uud  gute  Lehreu, 
Obenehtttteten  mich  mit  Ehren, 
Sagtai,  dass  ich  nnriwarteii  sollt, 
Haben  mieh  pivtegiren  gewollt. 

Aber  bei  all  ihrem  Fkotegiren 
*         Hitte  ich  kfinnen  vor  Hanger  krepiren, 
Wär  nicht  gekommen  em  braver  Xaim: 
Wacker  nahm  er  sich  meinor  an. 

Braver  Mann!  Er  achallt  mir  zn  easenl 

Will  es  ihm  nie  \m\  nimmer  vergessen! 
Schade.  <la.ss  ich  ihn  nicht  küssen  kann! 
Deuu  ich  bin  selbst  dieser  brave  Mann. 

Das  zweite  Gedicht:  „Fran  Hitt**  ist  von  E.  E.  Ebert 
Am  Bande  emes  Bergweges  in  Tirol  sitzt  eine  BetÜerin.  Bin 
nacktes  Kindkdn  schlnnnnert  in  ihrem  Arme.  Bald  kommt,  von  einem 
ziUreielien  Gefolge  begleitet,  die  reichste  Frau  im  Lande,  Fran  Hitt, 
ZQ  Pferde  heran.  Von  der  Bettlerin  um  ein  Almosen  angegangen, 
h$hnt  sie  diese  in  grausamer,  herzloser  Weise.  Die  Bettlerin  schreit, 
i1hs.<  die  Felswand  «Iröhnt:  „0  ^vü^dest  dn  selber  zu  hartem  Erz,  die 
den  .lainnier  des  Annen  höhnt."  Da  wird  Krau  Hitt  allsogieich  in  ein 
Bild  von  Stein  verwandelt  und  sitzt  nun  für  ewige  Zeiten  hoch  oben 
im  Donnergero  11  als  todtei-  Fels. 

Uud  jetzt?  Frau  Hitt  ist  sicher  eine  herzlose,  boshafte  Frau. 
.Strafe  hat  sie  verdient.  Aber  ist  die  Verwandlung  in  Stein  eine  ver- 
ständliche, für  Herzlose  zu  erwartende,  oder  auch  nur  eine  wirkliche 
iStnife?  Nach  weiii?  Sncunden  spürt  ja  das  Steinbild  von  allem  nichts 
mehi*.  —  Eine  verständliche,  ernst  mahnende  Strafe  wäre  allein  die, 
dass  Frau  Hitt,  sei's  in  Folge  eigener  Verarmung  oder  auf  andere 
Weise,  znr  Einsicht  in  die  Verwerflichkeit  ihres  Betragens,  so  zn 
schmerzlicher  Bene  und  dadurch  zur  Umänderung  ihrer  Geshomung 
kAme. 

PMda««^«.  4.  Jahr;.  Haft  I1L  '  13 


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182  — 


Die  Art,  wie  Frau  Hitt  die  Bettlerin  abgewiesen,  die  Gesinnung, 
die  sie  dabei  kund  gibt,  ist  allein  strafl)ar.  Dass  sie  kein  Almosen 
gereicht,  kann  ihr  niclit  als  Fehler  nngerechnet  werden. 

Das  führt  uns  auf  die  Pei'sou  der  Bettlerin.  Ist  diese  alt,  lahm, 
gebrechlich,  krank,  arbeit^^unfaliig?  Durchaus  nicht.  Sie  ist  jung, 
frisch,  munter,  hat  auch  ein  sehr  gutes  Mundstück.  Sie  sei  eine 
„zärtliche  Mutter",  sagt  das  Lied.  Womit  beweist  sie  ihre  mütterliche 
Zärtlichkeit  und  Triebe? 

„Wenn  Jemand  lalso  nicht  die  Mutter)  dem  Kindlein  ein  Apfelein 
Iwt,  so  war  es  sein  bester  Tag."  ,.Seine  Speise  ist  hartes  verscliinimeltes 
Brot,  das  andere  wegwerfen."  Und  die  „zärtliche  Mutter"?  Die  ist 
zu  faul,  nur  so  viel  zu  arbeiten,  nm  dem  Kinde  ein  Äpfelein  oder  ein 
Stftck  Brot  verschaffen  zu  können,  oder  gar,  nach  ihrer  Pflicht,  dem- 
selben das  Nöthige  angedeihen  zn  lassen.  Die  Inngert  lieber  mfissig 
an  den  Strassen  hemm.  Solche  Oesinnnng  mnas  man  mit  aller  Macht 
Terfhlgen  und  anszntOgen  streben.  Es  ist  die  dnreh  die  KlOster  einst 
ao^genährte  und  grosQgeeogene  Faulenzerei  und  Betteid.  Diesem 
Unwesen  gegenüber  ist  Almosengeben  geradezn  dne  Sünde!  Es  erhielte 
Mutter  nnd  Kind  anf  dem  Wege,  der  zu*  gänzlichen  Verkommenheit 
nnd  Entmenschung  f&hrt 

Hitt  würde  richtig  gehandelt  haben,  wenn  sie  der  armen 
Fran  Arbeit  angewiesen  oder  dafür  gesorgt  hätte,  dass  das  Kind  bei 
braven  Leuten  und  die  Mutter  in  einer  Zwangsarbeitsanstalt  fiir  so 
lange  untergebracht  worden  wäre,  bis  sie  zu  einer  bessern  Einsicht 
in  ihre  Mutterpflichten  gekommen.  —  Bei  dieser  faulen  Bettleiiu  hört, 
weiss  Gott,  alle  Poesie  auf. 

Welche  ethische  Wiikung  soll  nun  das  Bild  enier  solchen  „zärt- 
lichen Mutter"  auf  unsere. hif^end,  auf  unsere  heranwachsenden  Mädchen 
thun?  Da  lese  man  doch  lieber  mit  ihnen  „Die  alte  Wasclil'rau'' 
von  Chamisso: 

Sie  hat  den  kranktMi  Hann  ijepflegt, 
Sie  hat  drei  Kimlt  r  ihm  geboren; 
8fe  hat  ihn  in  (la.s  Urab  gelegt 
ünd  Olanb  und  HoAning  MA  Tecicnen. 
Dft  galf  8  die  Ehider  m  enilinD. 
Sie  griff  es  aü  mit  heitern  Hutb; 
Sie  zog  sie  auf  in  Zucht  nnd  Ehren; 
Der  Fleiss,  die  Ordnung  flind  ihr  Gut. 


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Wiener  Oesehiekteii. 

Von  Dr,  Friedrieh  Dittee. 

III. 

Die  Jahre  1874 — 1879  verliefen  ziemlich  ruhig.  Das  Pädagogium 
hatte  die  eroten  Stflrme  glücklich  ftberstaiidmi,  es  hatte  sich  im  Inne- 
na  eonsoUdirt  und  nach  ansäen  hin  Achtung  erworben;  der  Lehiv 
kfirper  dessdben  war  im  Ganzen  glttcklich  zusammengesetzt  und  bil* 
dete  ein  fest'  gefügtes,  einträchtiges  OoUegLum,  das  dem  lanemden 
Fdnde  Iceine  Bresche  darbot. 

Hätten  diese  günstigen  Verhältnisse  nicht  bestanden,  so  würde 
ich  aadi  das  Mandat  für  den  Reichsrath  nicht  angenommen  haben, 
trotzdem  ich  die  Hoffiinng  hegte,  in  dieser  Körperschaft  der  Schule 
nfltzen  zu  können.  Dem  Pädagogium  erwuchs  aus  meiner  Theilnahme 
an  den  Verhandlungen  des  Reichsrathes  keinerlei  Nachtheil,  da  die- 
selben mich  nicht  hinderten,  meine  Amtspflicliten  in  vollem  Masse  zu 
erfüllen.  Dagegen  trug  raeine  Stellung  im  Parlamente  ohne  Zweifel 
dazu  bei,  die  Oegner  des  Pädagogiums  für  etliche  Jahre  von  offenen 
Angritfen  zurückzuhalten.  Denn  Muth  war  niemals  ihre  starke  Seite, 
and  so  mochten  sie  Bedenken  tragen,  eine  Feste  zu  berennen,  die 
nicht  nur  von  innen  in  gutem  Stand  gehalten  wurde,  sondern  nöthi- 
genfalls  auch  von  aussen  durch  parlamentarische  Waffen  und  Verbin- 
dungen vertheidigt  werden  konnte. 

Um  so  eifriger  scheinen  unsere  Gegner  im  Geheimen  ihr  Ziel  ver- 
folgt zu  haben.  Wo  sich  nur  allenfalls  eine  Gelegenheit  bot,  suchten 
sie  uns  durch  hämische  Zeitungsnotizen  zu  ärgern  und  vor  der  Öffent- 
iiehkeit  herabzusetzen.  Gegen  diese  unter  dem  Deckmantel  <ler 
Anonymität  einherschleichende  Bosheit  stand  uns  kein  anderes  Ver- 
theidigungsmittel  zu  Gebote,  als  die  ruhige  und  standhafte  ErfiUlung 
unserer  Pflicht,  und  dieses  Mittel  bewährte  sich  insofern  vollständig, 
als  die  ^ener  Lehrerschaft^  trotz  aller  Verletzung,  don  Pädagogium 
fortwährend  die  lebhafteste  Sympathie  und  standhafteste  Treue  be- 
wahrte, weü  sie  sich  durch  den  Besuch  desselben  täglich  Überzeugen 

IS* 


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—   184  — 

könnt«,  dass  es  redlich  und  erfolgreich  an  der  L(^ng  seiner  Aufgabe 

arbeitete.  Und  so  konnten  wir,  gestiltzt  anf  unser  srutes  Ge\iissen, 
.die  Ulis  beschiedenen  Srhniähnngeii  mit  Gleichmutli  ertrairpii. 

Weit  bedenklicher  waren  andere  Vorgänge.    >>dmi  um  die  Mitte 
der  siebziL^er  .lalire  wurde  im  Geheimen  an  der  formlidien  Aiitliebung 
des  Pädagogiums  geai'beitet.    Der  Plan  dazu  wai-  klu^  an<rele£rt  und 
wurde  mit  grosser  Ansdauer  verfolgt.    Da  jedocli  ein  wichtiirer  Fac- 
tor, dem  die  initiative  und  damit  ein  gut  Tlieil  Verantwnrtliclikeit 
zugeschoben  werden  sollte,  mit  aller  Mühe  nicht  zur  Cbernalime  der 
ihm  zugedachten  Kolle  bewog^en  werden  konnte,  so  uuisste  die  Aus- 
tülirung  des  Planes  vertagt  werden.    Es  ist  daher  auch  nicht  nöthig, 
hier  auf  denselben  näher  einzugehen,  wogegen  ohnehin  sehr  delikate 
Eücksichten  sprechen.  — -  Verschweigen  kann  ich  aber  nicht,  dass 
Pädagogium  niemals  die  Gunst  eines  .^tadtoberhauptes  zu  Theil  ge- 
worden  ist   Zwar  wurden  wii*  öfters  damit  vertrcistet,  dass  ein  Bftr- 
germeisterwechsel  eine  Wendung  zum  Besseren  bringen  werde,  die  sich 
durch  eine  sichtbare  Kundgebung,  einen  persönlichen  Besuch  der  An- 
stalt yon  Seiten  des  höchsten  Oommunalbeamten,  manifestiren  solle. 
Aber  yergebens.  Seit  Eröffiinng  des  Pädagogiums  (12.  October  1868) 
hat  nie  ein  Wiener  Bflrgermeister  die  Bäume  de88ett>en  betreten;  und 
doch  wäre  es  sehr  erwünscht  gewesen,  wenn  die  jeweiligen  Ghefe  der 
Verwaltung  sich  das  Tiel  angefochtene  Institut  ein  wenig  mit  eigenen 
Augen  besehen  hätten,  wie  sie  ja  auch  Wasserleitungen,  Versorgnngs- 
anstalten  und  andere  städtische  Etablissements  zu  besichtigen  pflegen. 

Femer  änderte  in  den  siebgdger  Jahren  der  Wiener  Gemeinderath 
selbst  seine  Stellung  zum  Pädagoginm  bezüglich  eines  wichtigen  Punk- 
tes. T^m  diesen  Vorganjr  deutlich  zu  maclien,  nniss  ich  ein  Stiick 
zui'ückp:rt'iteii.    Am  Irl.  März  erliielt  ich  in  (iotha  aus  Wien 

vom  Kürgermeister  Dr.  Zelinka  <lie  Mittheilung,  dass  mich  der  Wiener 
(•remeinderath  zum  Direct(tr  des  Pädagogiums  L^ewälilt  habe;  beigetTigt 
waren  die  Hauptbedingungen,  unter  welclicii  die  Herutun«r  beschlossen 
wai".  ferner  die  Anfrage,  ob  i<'h  geneigt  sei,  diese  Berufung  anzu- 
nehmen, und  wie  ich  ..das  ganze  Vertragsverhältnis  vollständig  ge- 
ordnet zu  seilen  M'ünschte."  Dieses  Schreiben  beantwortete  ich  am 
16.  Mäi'z  mit  dei*  Erklärung,  dass  ich  zur  Annahme  der  Berufung 
principiell  beieit  .sei,  und  mit  der  Angabe  meiner  Bedingungen.  Es 
waren  deren  neun;  acht  von  ihnen  wurden  ohne  Weiteres  acceptirt; 
eine,  es  war  die  erste,  wurde  zwar  mateiiell  als  zntreüend,  formell 
aber  als  unannehmbar  bezeichnet.  8ie  lautete:  „Jede  Beeinflussung 
des  Pädagogiums  durch  Geistliche,  gleichviel,  welcher  Confession  oder 


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—   185  — 

welchen  Ranges  dieselben  sein  mögen,  ist  vollständig  und  unbedingt 
«iszQSchliessen.  Die  verschiedenen  Aufsichtsbehörden  werden  also  nie- 
mats  und  unter  keinerlei  Form  irgend  eine  Inspection  oder  sonst  einen 
amtlichen  Act  duixih  eine  Persönlichkeit  geistlichen  Standes  in  der 
Anstalt  vornehmen  lassen.**  —  Zur  Motivimn^  hatte  ich  beigefügt: 
„GemSss  den  Bestimmungen  des  Statuts  in  Betreff  des  Beligionsunter- 
richtes  ist  jede  geistliche  Concurrenz  bei  der  Anstalt  überflüssig;  be- 
züglich der  Gleichberechtigung  der  Confessionen,  sowie  des  Friedens 
und  Oedeifaens  der  Anstalt  aber  kann  die  Einwirkung  kirchlicher  Oi*gane 
nur  störend  sein."  —  Am  18.  M<^rz  erhielt  ich  nun  von  Dr.  Kolat- 
schek,  dem  damaligeu  Obmann  der  Pädagogiunis-Commission,  folgen- 
des Telegramm: 

..Punkt  eins  Ilirer  Voraussetzung:  wird  tuctiscli  zutrotten,  aber  in  dieser 
Form  nicht  aut'nehnibar,  weil  er  das  Recht  der  Genieinderäthe,  in  ( •ommissionen 
gewählt  zu  werden,  beschränken  würde.  Bitte  sofort  an  Büi-genneister  tele- 
gnphiren,  dasa  Sie  diesen  Punkt  znrnck  ziehen,  damit  nicht  VerOffentUchnng 
zan  Schaden  der  Sache  eintritt'* 

Im  Vertrauen  auf  diese  Kuiidjrebuni»"  va^^^  ich  den  uiitjfeführten 
Punkt  zurück.  Hätte  ich  noch  Hedenkeii  ♦jcliabt,  so  würden  sie  durch 
die  Briete,  welche  ich  in  dieser  Sache  erhielt.  Ix'hoben  worden  sein. 
Unter  dem  Datum  18.,8.  1868  schrieb  mir  (iemeinderath  Dr.  Ficker: 

..Sehr  verehrter  Herr  Schulrath!  Obwol  Dr.  Kolatachek  bereits  schrieb 
(er  hatte  teleq^raphirt).  kann  ich  mich  nicht  enthalten,  den  ersten  freien  Augen- 
blick zu  einigfu  Zeih'u  zu  benutzen,  um  bezüp:licli  des  wichtigsten  Punktes  in 
Ihrer  Erklärung  ein  paar  Worte  zu  sagen.  Dass  Sie  irgendwie  unter  die 
Aofsicht  einer  geistlichen  Behörde  gerathen  sollten,  ist  absolut  undenkbar. 
Schoa  gegenwärtig  Ist  nur  die  eigentliche  Volkflscbnle  unter  derartiger  Aaf- 
sicht  mid  das  neue  Sehalgeseta,  welches  ja  ans  den  Zeitoagen  hinUoglich  be- 
kannt ist  and  lUngstens  bis  Ostern  das  Herrenhaus  passirt  haben  nndinsLehoi 
getreten  sein  wird  (es  dauerte  weit  Ulnger),  hebt  auch  diese  Unterordnung  g^lll»- 
Mch  auf.  Gar  keine  Schule  kann  dann  irgendwie  uiittn-  (M'ner  g-eistlichen  Be- 
hörde .stehen.  Bezüglich  des  Pildagog-iuins  bietet  übrigens  sehon  jetzt  auch 
da.s  Statut  die  vollkommenste  Sicherheit  gegen  eine  derartige  Einmischung. 
Bessenongeachtet  kann  der  Gemeinderatk  die  gewitaisohte  Büigsehaft  nicht 
flbenehmen;  denn  er  kann  sehie  zwei  gelstUchen  Mitglieder  durch  einen  Ver- 
trag nicht  vfm  der  möglichen  Wahl  In  die  AnMchts-Commisalon  aosschlieasen 
-  von  einer  wirklichen  Wahl  ist  ja  ohnehin  keine  Rede,  nicht 
der  leiseste  Gedanke  daran  — ,  weil  da.<^  Gemeindestatut  ausdrück- 
lich jedem  Gemeinderathe  gleiche  Rechte  zuerkennt.  Eben  so  wenig-  kann  er 
sich  iliinh  einen  Vertrag  verpflichten,  dass  die  Regierung  nicht  in  irgend 
einer  Zukunft  einmal  einen  geistlichen  Referenten  bei  der  Statthalterei  bestellt, 
welcher  dann  noch  das  Becht  hättCi  hi  die  Anstalt  an  kommen  —  von  der 
Wüldichkeit  Ist  wieder  nicht  eine  Spur.  —  In  der  Zaversicht,  dass  die  Sache 


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—   186  — 


sich  noch  ordnen  lässt,  ehe  die  VorleRunjEr  Ihres  ^^chrei^tenn  in  «iffentlicher  Sitzung- 
unseren  Gegneni  einen  gewiss  nicht  gewollten  Triumpli  bereitet,  zeichne  ich  u.  s.  w. 

Am  19.  März  ferner  schrieb  mir  Dr.  Kolatschek: 

nlhr  gestriges  Telegramm  an  den  BiigemeiBter,  für  da«  iidi  ▼ielmaJs 

danke .  hat  iin^  von  einem  grossen  Schreck  befreit.  Sie  kannten  ohne  Zweifel 
nicht  die  Tragweite  Ihrer  Forderung,  die.  da  sie  unerflUllMr  war,  den  Verdacht 

hervorriet.  da8P  es  ein  Vorwand  zum  Rücktritt  sei." 

Und  ein  Brief  Dr.  Hoff  er 's  vom  21.  März  lautet' folgendermassen: 

^Hochgeehrter  Herr  Schnlrath!  Ihre  frenndlichen  Zeilen  vom  !&  d.  M. 
haben  mir  grosse  Frende  bereitet.  Dieselben  sind,  sowie  jedes  Wort,  das  iih 

roch  von  Ihnen  gelesen,  so  ganz  der  Ausdruck  eines  tüchtigen,  ernst  strebenden 
und  jifliclittreiieii  (  liaiakters.  eines  echten  deutschen  Mannes,  dass  ich  nicht 
müde  werde  sie  wieder  und  wieder  zu  lesen.  Es  ist  ein  bedeutsamer  Moment, 
in  dem  Sie  unsere  Wahl  annehmen,  uusenn  Rufe  folgen.  Wie  dröhnende  Axt- 
hiebe am  Thor....  hallen  die  wuchtigen  Beden  im  Hetrenhaose  gegen  das 
Goneordat  nnd  was  mit  ihm  sosammenhlngt»  nnd  sehen-  Qffliet  sich  die  Bresche 
Ar  Ehe-  nnd  Schulgesetz.  Da  gilt  es,  rasch  den  eroberten  Boden  zu  besetzen 
nnd  zu  behaupten,  und  eines  der  wichtigsten  unserer  Vorwerke  in  dem  Kampfe 
für  religiöse  Freiheit.  Selbstständigkeit  und  Unabhängigkeit  der  geistigen  Ent- 
wickelung  von  jeder  cnnli  >.sionelleu  Beeinflussung  ist  eben  unser  Pädagogium. 
Wie  man  in  Kiiegszeiten  einen  festen  Platz  von  entscheidender  Wichtigkeit 
uui'  einem  erprobten  Kämpfer  anvertraut,  so  gilt  uns,  dem  Gemeinderathe 
"Wiens,  der  in  dem  Kampf  gegen  Concordat  nnd  Jesoiten  nnd  für  seine  flnele 
Lehrerbildongsanstalt  die  immense  Minorität  der  BeySlkerang  Wiens  hinter 
sich  hat  nnd  allen  Communen  der  dentechen  Theile  Österreichs  hif  Hn  als  Vor- 
bild dient,  das  Commando  unserer  ersten  Angriffslinie  als  ein  Ehrenposten, 
auf  dem  der  charakterfesteste  Streiter  commandiren  muss.  So  lange  es  .  inen 
freigewählten  Gemeinderath  Wiens  gibt  —  und  solchen  könnte  nur  eine  euro- 
päische Reaction  beseitigen  —  wird  derselbe  anticoncordatlich,  auiiptatrisch, 
antjyesnitisch  sein  nnd  sein  P&dagoginm  zn  schätzen  wissen,  wenn  eine  klerikale 
BeeinUnssnng  desselben  versncht  werden  sollte.  Die  Stimmen  der  zwei  Priester, 
welche  Hitglieder  des  Oemeinderathes  sind,  Terhallem  wie  der  Rnf  in  der 
Wüste,  oder  wecken  erst  recht  den  vollen,  kräftigen  Widerspruch  der  ^lajoritftk, 
nnd  Sie  können  daher  ganz  unbesorgt  darüber  sein,  dass  Ihre  un- 
mittelbare .Aufsichtsbehörde,  die  Pädagogiuniscomniission,  nicht  confessionel] 
gefärbt  sein  werde.  Was  den  Staat  betrifft ,  so  können  wir  denselben  den  be- 
stehenden Gesetzen  nach  allerdings  nicht  hindeni,  in  der  Statthalterei  einen 
katholischen  Priester  als  Beamten  aazostellen  nnd  als  solchen  mit  der  AnsBbuug 
des  staailicfaen  Anfidehtsrechtes  xn  betrauen;  es  ist  dies  aber  im  hfelisten  Grade 
anwahrscheinlich  und  kann  keinesfalls  soweit  au^edehnt  werden,  dass  anf 
Grand  dieses  Anfsichtsrechtes  eine  directe  Ingerenz  in  die  Tbätigkeitssphäre 
des  Pädagf»giums-Directors  geübt  werde,  widrigenfalls  sich  die  ganze  Gemeinde- 
vertretung ge^en  solch  eine  Vergewaltigung  erheben  würde.  Sie  haben  tele- 
graphisch den  Punkt  eins  Ilirer  Voraussetzungen  auch  bereits  zurückgezogen, 
and  es  ist  meine  innige  Überzeugung,  dass  Sie  hiermit  nichts 
geopfert  oder  preisgegeben  haben.** 


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—   187  — 


Nach  aU'  diesen  Monnatioiien  gUmlite  ich  ohne  jedes  Bedenken 
eonfessknieiler  Art  in  das  proponirte  Vortraggyerh&ltnis  eintreten  zn 
l^Ameo,  and  am  8.  April  1868  wnrde  daasetbe  definitiv  ahgeschloBsen. 

Was  geschah  nun  in  Betreff  des  fraglichen  Punktes?  —  Besfifl^ich 
der  Staataregiening  haben  sich  die  mir  gemachten  Yersicherongen 
ToDstibidig  hewShrt:  dieselbe  hat  niemals  einen  Geistlichen  ins  Pida- 
goghm  delegirt,  obwal  sie  farmell  dazu  berechtigt  g&wmea  wSre,  wie 
sie  denn  überhaupt  unserer  Anstalt,  nachdem  dieselbe  gegründet  war, 
niemals  eine  Schwierigkeit  bereitet  hat.  Anders  hat  sich  der  Wiener 
Geineinderath  verhalten.  Nur  in  den  ersten  Jahren  des  Pädagogiums 
wählte  er  in  die  Coramission  desselben  ausschliesslich  weltliche 
Mitglieder,  dann  aber  auch  die  beiden  in  der  Gemeindevertretung  be- 
findlichen Priester.  Mehr  konute  er  in  dieser  Hinsicht  nicht  thun, 
da  unter  den  120  Mitgliedern  des  Oremeinderathes  überhaupt  nur  zwei 
Geistliche  waren  und  noch  heute  sind.  Wenn  etwa  bemerkt  werden 
>ollte,  jene  geistlichen  Herren  hätten  die  fraglichen  Posten  deswegen 
erhalten,  weil  sie  zugleich  Schalmänner  seien  (sie  wirken  an  den 
Scholen  ihrer  Orden),  so  ist  zu  entgegnen,  dass  dem  Gemeinderathe 
genug  Schulmänner  weltlichen  Standes  zn  Gebote  standen,  und  dass 
überdies  die  Commissiou  des  Pädagogiums  mit  der  ausdrücklichen 
Motivimng  errichtet  worden  ist:  „deren  Thätigkeit  rein  admini« 
strativ  sein  wird  und  dahin  wiricen  soll,  dass  sich  die  Anstalt  dem 
Prindp  gemäss  entwickele."  (S.  Ftedag.  II.  Jahrg.,  S.  573.)  Daza 
bnnchte  man  doch  nicht  gerade  die  beiden  geistlichen  Herren!  Und 
wo  Uieben  denn  die  oben  angeftthrten  znyersichtUchen  Yersicherangai? — 
Da  es  im  Wiener  Gemeinderathe,  wie  in  allen  parlamentarischeii 
Körperschaften,  Usns  ist,  vor  Conunisslonswahlen  die  Anschannngen 
der  Gandidaten  klarznsteDen,  nnd  da  Aber  die  Grundsätze  der  frag- 
lichen geistlichen  Herren  gar  kein  Zweifel  bestehen  konnte:  so  Hess 
die  Wahl  derselben  nur  die  eine  Deutung  zu,  dass  mit  dersellien  der 
<Teuieinderath  dem  Pädagogium  eine  principielle  Gegnerschaft  bereiten 
wollte.  Der  weitere  Verlauf  unserer  Geschichte  wü*d  diese  Deutung 
bestätigen. 

iJie  clencale  Partei  konnte  sich  duich  die  Haltung  des  Wiener 
(Teraeinderathes  nur  ermuthigt  fühlen.  Die  zahlreichen  Angi'itte  ihrei* 
Organe  hatten  keinen  durchschlagenden  Erfolg  gehabt:  nun  war  datur 
ein  Trost  geboten. 

Femer  muss  ich  hier  über  eine  Kundgebung  belichten,  die  von 
Rom  selbst  ausging.  Am  26.  Februar  1879  bi  achte  der  „Osservatore 
Romano",  das  officielle  Organ  des  Vaticans,  die  amtliche  Nachricht, 


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1 


—   188  — 

daas  die  vom  Papst  Leo  XIH.  für  den  Index  eingesetzte  Cardinals- 

Gongregation  mein  Lehrbuch  der  Psychologie  verdammt  und  proscrilnrt, 

und  dass  Sanctitas  Sua  dieses  Urtel  best&laget  habe.  (8.  das  Nähere 

Psdag.  I,  S.  412  und  483.)  Die  erste  Mittheflung  von  diesem  Ereignis 

erhielt  ich  am  2.  ICftrz  durch  folgendes  Briefchen  (Posistempel  Wien): 

„18^8  79.  Im  Vertrauen.  Ich  biu  der  stabile  Gorrespondeut  des  0.  B. 
nnd  habe  ODUieiioneii  in  Born.  Wenn  Ihnen  sehr  daran  gelegen  ist,  die  Gründe 
zn  erfehren,  welche  die  Setzung  auf  den  Index  besonders  veranlassten,  so 

dürfte  es  meinen  Bemühungen  vielleicht  gelingen,  dieselben  aus  authentischer 
Quelle  zu  erhalten,  um  sie  Ihnen  mittheilen  zu  krmnen.  ^^'ie  aus  dem  Decrete 

zu  orsf-hen.  heisst  es  hei  drin  Werke  des  Prof.  l'U-co  Modesto:  Auetor  lauda- 
biliter  sc  snbiecit  et  H|ius(  iijiiiu  reprobavit.  Vüv  den  Fall,  dass  Sie  es  als  eine 
Gewisscnspdiclit  erachten  sollten,  diesem  Ueispiele  zu  folpni,  würde  ich  mit 
Verg:nüß:en  bereit  sein,  das  hierzu  Xiithigc  zu  vermitteln.    F.  A.  K.  • 

Bald  daniuf  stellte  sich  mir  der  Verfasser  dieser  ZuscliriM  i>er- 
ßönlicb  vor,  indem  er  mir  ein  Kxemplar  der  betreftenden  Nummer  des 
O,  R.  überreichte.  Es  war  ein  alter  eleganter  Herr,  dem  eine  ge- 
wandte Sprache  und  feine  Manieren  zu  Gebote  standen.  Ich  sag^ 
ihm  höflich,  aber  ohne  Umschweife,  dass  ich  keineswegs  wünsche,  das 
Laudabiliter  86  subjecit  zu  verdienen,  dass  es  mir  überhaupt  gleich- 
giltig  sei,  was  der  Papst  und  seine  Gardinäle  von  mir  und  meiner 
Psychologie  denken,  und  dass  ich  demnach  das  mir  gemachte  freund- 
liche Anerbieten  dankend  ablehnen  müsse.  Damit  war  die  Erörterung" 
zu  Ende.  —  Ich  traf  nachher  auf  deutliche  Sparen  einer  yon  Wien 
aus  nach  Rom  ergangenen  Ani-egung,  als  deren  Folge  das  angeführt« 
yerdammungsurtheil  zu  betrachten  sein  dürfte.  —  Yon  den  freisinnigen 
Phrasen,  welche  vormals  in  so  breiten  Strömen  geflossen  waren,  hat 
bei  dieser  Gelegenheit  weder  ein  W  iener  Gemeiiiderath,  noch  die 
W  iener  Journalistik  ein  Würtlein  hören  lassen. 

Ob  das  mit  den  üblichen  Strafandroliunii-en  versehene  päpstliche 
Verlxit  auf  die  Hörerschaft  des  Wiener  l*äda.ij;(jgiums  einen  Eindruck 
gemacht  habe,  ist  mir  nicht  bekannt  geworden.  Doch  mehrten  sich 
die  Klagen,  dass  der  Besuch  des  Pädagogiums  immer  schwieriger 
werde  und  mancherlei  Nacbtheile  zur  Folge  habe.  Nicht  selten  musste 
ich  hören,  dass  manche  Schulleiter,  Schulinspectoren  und  sonstige 
ofiäcielle  Pei-sönlichkeiten  es  sehr  ungern  sähen,  wenn  ihi*e  Unter- 
gebenen ins  P&dagogium  gehen;  ebenso,  dass  in  der  staatlichen  Prft- 
füngscommission  gegen  Besucher  des  Pädagogiums  eine  aufBülende 
Strenge  an  den  Tag  träte,  was  selbst  yon  einem  IGtgliede  dieser  Com- 
mission  behauptet  wurde;  endlich,  dass  der  Wiener  Oemeinderath  bei 
Besetzung  Ton  Lehrstellen  die  Besucher  des  Pädagogiums  ungünst  ig 


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—   189  — 

behandle  mid  die  von  geistliclieii  Herren  Empi'olüenen  bevorzuge. 
Hierüber  worden  mir  selbst  brietli(^li,  und  zwar  von  gut  iiifonnirten 
und  achtbaren  Personen,  mehrere  Fälle  ausführlich  nütgetheilt  Ich 
habe  nicht  ausreichende  G^egenheit  gehabt^  mich  vcm  der  Triftigkeit 
aller  dieser  Klagen  zu  überzeugen,  weiss  aber  mit  Sicherheit,  dass  sie 
oft  von  persSnlich  ganz  Unbetiieiligten  ausgesprochen  worden  sind. 

£|n  sehr  deutlidies  Anzeichen  der  im  Wiener  (^emeinderath  herr- 
schenden Strömung  erhielt  ich  im  FrOl^jahr  1879,  nicht  lange  nach 
dem  erwähnten  Acte  der  römischen  Curie.  Aus  der  Commission  des 
Pädagogiums  trat  mitten  im  Schuljahre  ein  Mitglied,  Dr,  Gunesch.  aus, 
ohne,  soweit  mir  bekannt,  einen  Gmnd  anzuführen;  allem  Anscheine 
nach  erfolgte  dieser  Austritt  nur,  um  dem  Nachfolger  Platz  zu  machen. 
Dieser  Naclifolger  war  ein  Heir  Dr.  Kiiliii.  Derselbe  stellte  sich  mii* 
im  Pädagogium  mit  der  Krklärung  vor:  er  sei  zu  dem  Zwecke  gewählt 
wonlen  und  habe  die  Wahl  zu  dem  Zwecke  angenommen,  die  Auf- 
lösung des  Pädagogiums  zu  betreiben.  Das  war  doch  endlich 
ein  offenes  Wort,  und  es  gefiel  mir,  weil  ich  einen  directen  Angriff 
fiir  weit  anständiger  hielt  und  viel  weniger  fürchtete,  als  geheime 
Umtriebe.  Ich  sagte  dem  Herrn  Dr.  Ktthn:  „Wenn  Sie  überzeugt 
smd,  dass  das  Pädagogium  eine  nutzlose  oder  gar  schädliche  Anstalt 
sei,  80  sind  Sie  vollkommen  berechtigt,  ja  verpflichtet,  die  Aufhebung 
dessdben  zu  beantragen.**  Er  meinte,  er  wolle  sidi  nur  erst  um- 
sduiuen  und  informiren.  Uber  die  weitere  Haltung  des  genannten 
Herrn  später. 

Uanz  unzweifelhaft  war  jedenfalls  bereits  im  Jahre  1879  die 

iSitiiation  des  Pädagogiums  so,  dass  es  viele,  sehr  viele,  zudem  äusserst 

zähe  und  liüchst  einllussreiche  Gegner  hatte.    Am  bedenkliclisten  war 

es.  dass  gerade  von  der  für  die  Anstalt  entscheidenden  Stelle,  vom 

f^enieinderath,  kein  Schutz  zu  erwarten  stand.    Schon  zehn  Jahre 

iruher  hatte  eines  der  besten  österreichischen  Schulblätter  geäussert: 

 Nun  ward  das  Pildagogium  errichtet,  den  Einen  zur  Lust,  den 

Andern  zum  Leid.  Damit  iluderte  sich  Vieles.  Jfanclier  ward  kalt,  der  kurz 
vorher  im  Schweisse  seines  Ani^esiclites  gesti'itteu.  T»ii  und  dort  rostete  die 
alte  Liebe.  Ja  Einer,  der  im  Kampfe  für  die  junge  Anstalt  Bedeutendes  ge- 
leistet, spraeh  es  cifen  ans,  dass  er  auf  dasPftdagogimu  eigentlich  „pfiBife''. . . . 
die  Zukonft  der  Anstalt  sei  glelehgfltig.  Stand  der  Hann,  der  sich  so  ver* 
nehmen  Hess,  allein?  Nach  Ereignissen,  die  seitdem  eingetreten  sind,  scheint 
der  Eine  Vielen  ans  der  Seele  gesprochen  zu  haben.    Und  diesmal  wird  der 

Sriiein  nicht  trügen.    Wer  hätte  ein  solches  Spiel  früher  geahnt!   Stijbt 

das  Pädagogium,  wie  vorauszusehen,  so  triftt  der  \'orwurf,  diese  mit  so  pi-rossen 
Hotfnnng-en  begrüsste  Anstalt  eingesargt  zu  haben,  nicht  Dittes,  sondern  den 
Oemeiuderath.    Der  hat  dem  Kinde,  so  er  gemacht,  den  Rücken  gewendet/ 


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—    190  — 


Doch  so  schnell  und  leicht  ging  die  Einsaigung  des  Pädagogiums 
nicht  von  statten.  Es  war  freilich  die  äusserste  Ausdauer  nöthig, 
imd  es  mnsste  Alles  gewagt  werden,  was  der  Mensch  auf  Erden  über- 
haupt zn  wagen  hat,  nm  die  erste  Krisis  zu  überwinden  und  das 
walkende  Haas  zn  halten.  Aber  es  gelang  fOx  eine  Beihe  von  Jahren. 

Allein  anch  das  festeste  Oebände  kann  endlich  zn  Falle  gebracht 
werden,  wenn  es  nnabUsag  nnteigraben  und  erschflttert  wird.  Wie 
die  Dinge  im  Jahre  1879  standen,  konnte  man  nur  mit  Besorgnis  in 
die  Znknnft  bücken.  Jeder  UniSidl  mnsste  unseren  Gegnern  dienen  nnd 
die  Quelle  einer  neuen  Krisis  werden.  Und  nur  zu  bald,  noch  ehe 
das  Jahr  zu  Ende  ging,  wurde  das  Pädagogium  von  einem  schweren 
Schlage  getroffen. 


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Das  Lafayetto-CoOe^e  ii  Eastra. 


Von  Prof.      A,  St'hmirf  -Wien. 

Das  Laftiyette- College  wurde  im  Jahre  18B2  in  Easton,  einer  Stadt 
Pennsylvaniens ,  gegründet;  bescheiden  und  klein  in  seinem  Anfange,  war  e« 
«pilter  durch  reiche  Dotationen  in  den  Stand  ffesetzt.  nicht  nur  seine  Baulich- 
keiten nnszudehuen,  sondern  aucli  den  Lehrkörper  wie  den  Umfang:  der  tradir- 
tfii  Lt'lii  jrct^cnsiiinde  zu  erweitern  und  so  einem  grösseren  Zuzug  von  Studenten 
Aafuahme  zu  gewähren.  Den  grüssten  Aufschwang  aber  nahm  es  im  Anfange 
des  leisten  DeoenninmB  trotz  der  Ifissgunst  des  Schicksals.  Das  GebSnde  war 
iliiiUch  im  Jahre  1873  anf  Kosten  eines  reichen  Bilrgers  von  Hadeton,  Arco 
Pardee,  aa^efilhrt  worden;  noch  in  diesem  Jahre  wurden  die  Schlüssel  der 
„Pardee  Hall",  so  wurde  das  Gebäude  nach  seinem  Stifter  genannt,  dem  Leiter 
der  Anstalt,  Prof.  William  Cattell.  übergeben.  Dnch  nicht  lange  sollte  der 
Wissenschaft  eine  ruhi^^e  Stätte  in  diesem  GebHude  gegi'innt  sein,  es  wurde  am 
4.  Juni  1S79  ein  Raub  der  Flammen,  und  Mr.  Pardee  hatte  (Telegcnheit.  .seine 
republicanisehe  Bürgertugend,  den  Sinn  tVu-  das  Gemeinwol,  ein  zweite«  Mal 
§;läDzend  zu  bethätigen;  Pardee  liesfi  das  Gebäude  nach  demselben  Plane  auf 
doem  fk«islehenden  HQgel  in  der  Nfthe  von  Easton  wieder  anffllhren  nnd  ver- 
fehlte nicht,  jetet  Mh  genug  ^r  seine  Versicherong  Sorge  za  tragen. 

Die  Wiedereröflüinng  der  Halle  war  nun  nicht  allein  ein  Fest  für  die  An- 
stalt und  die  Stadt  Easton,  sondern  aUe  näher  liegenden  Anstalten  und  Städte 
entsandten  zu  derselben  ihre  ^'ertreter.  An  ihrer  Spitze  erscheint  der  Pril^i- 
dent  der  Vereinigten  Staaten,  Hayes,  aus  Washinsrton,  welclipi".  von  Prof. 
Catre]]  begrüsst,  eine  Ansprache  hält,  der  wir  nur  Folgendes  entnehmen:  T)ie 
Regierung  sorgt  zwar  für  die  elementare  Bildung  und  Erziehung,  nicht  aber 
tat  die  höhere  Bildung  und  Endehnng,  die  dnreh  die  Colleges  und  Universi- 
titen  Tennittelt  wird;  diese  BUdnng  ist  bis  anf  wenige  Ansnahmen  (West 
Point  nnd  NavalAcademy)  aof  die  ünterst&traing  nnd  Mwillige  Beiträge  der 
reichen  Bürger  angewiesen,  die  anf  diese  Weise  sich  den  schönsten  Denkstein 
fBr  zokfinftige  Generationen  setzen.  Am  Schlüsse  seiner  Bede  dankt  Hayes 
hn  Namm  des  Vaterlandes  dem  hochherzigen  Bürger. 

Die  weiter  folgenden  Reden  dienen  zur  näheren  Charakteristik  der  An- 
stalt; es  ist  im  Ganzen  ein  heiteres  Bild,  das  sich  dem  Leser  entrollt,  ein  Bild, 
in  dem  besonders  eine  Gestalt,  die  des  würdigen,  schlichten  Pardee,  uns  an- 
muthet;  von  Allen  gefeiert,  zieht  er  sich  stets  in  den  Hintergrund  zurttck,  er 
hat  haisdeln  nnd  wolthnn,  nicht  aber  reden  gelernt,  nnd  es  bedarf  eines 
langen,  hstraiufordeniden  BeifUls,  bis  er,  von  Cattell  vorgestellt,  einige  knnse 
Worte  d^  Dankes  stammelt. 

In  der  eigentlichen  Festrede  des  Professor  March  ist  besonders  ein  Punkt 
hervorgehoben:  der  Redner  führt  seine  Zuhörer  durch  das  ganze  Gebäude  und 
erklärt  ihnen  die  Hedeutunti:.  Pjpstimmung  und  Wichtigkeit  von  all f>m  nnd  jedem. 
Auf  diesem  Gange  müsse  es  dem  Beschauer  besonders  auffallen,  wie  reich  die 


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—    192  — 

i,'auze  Hallt',  (lic  einzelnen  Zwci^^e  dei-  Wi.-sensfliat'tcn  mit  Hilfsmitifln  aller 
Art  ausgestattet  seien.  Was  jiins"Kt  in  dieser  Zeitscliriti  ^flehentlich  der  Be- 
sprechung der  Arbeiterscliule  von  einem  andern  Amerikaner  gefordert  wurde, 
nftralieb  weniger  Theorie  und  mehr  piaktiflche  Aasbfldnng,  das  wird  auch  hier 
mit  beredten  und  flberzengnngBTollen  Worten  als  wichtigstes  Erfordernis  hin- 
gestellt —  Etwas  Neues  bringt  also  dar  Redner  damit  nicht  vor,  er  stimmt 
nur  in  den  gnossen  Chor  mit  ein;  dass  die  Klarheit  der  Ideen  und  die  Stärkung 
des  Ged.'lehtnis.ses  durch  praktische  Übungen  gefordert  wird,  dass  vennöge  der- 
selben der 'Mann  schon  aus  dei-  Seluüe  verwendbar  heraus  tritt  ins  praktische 
Leben,  das  alles  ist  iiielit  nur  dem  praktischen  Amerikaner,  sundern  auch  dem 
mehr  theoretischen  eiir('i»;iisclien  l'iidafj-o-^rn  klar  geworden.  Auch  die  IJeluiup- 
tung,  aus  dem  Manipulator  werde  eher  ein  Ertiiider  mid  Entdecker  werden 
ans  dem  Themretiker,  mMte  wol  wenig  angefochten  werden. 

Wichtiger  und  interessanter  seheint  uns  die  Besprechung  der  gewöhnlich 
angefahrten  Ge&hren,  die  in  einer  solchen  Art  nnd  Welse  der  Bildung  liegen 
sollen.  Man  behaupte,  sagt  der  Redner,  dass  dieses  Arbeiten  in  Labo- 
ratorien, das  Studium  einzelner  Facten  nnd  secundärer  zerstreu- 
ter rrsachen  den  Geist  beschränke,  die  Menschen  vielleicht  tüch- 
tig mache  für  ihren  engeren  Lebensberuf,  aber  unfiihig  für  inu- 
fassendere  Pläne  und  weiterreichende  (resichtspunkte  der  \Vir%st>n- 
schaft.  Ferner  würden  liier  die  Worte  Bacon's  ins  Feld  gefühlt:  „Ein 
bisschen  Philosophie  führt  des  Menschen  Geist  zum  Atheismus.^ 

Der  Bedner  gibt  die  Existenz  dieser  Oefohren  za,  die  Beseitigiing  de^ 
selben  sei  schwer  nnd  mit  vielen  Opfern  von  Zeit  und  Geld  rerbuiden»  beson- 
ders mit  Rücksicht  anf  die  technischen  Fächer.  Hier  sucht  die  Anstalt  einen 
vermittelnden  Weg  dadurch  zu  finden,  dass  sie  einen  gemischten  Stundenplan 
bietet;  die  technischen  Studien  werden  von  Anfang  an  betrieben  und  erleiden 
keine  Unterbrechung,  es  wird  aber  damit  auch  das  Studium  anderer  Fächer 
(Religion,  Bibel,  wie  wir  weiter  unten  noch  hören  werden  i  verbunden.  —  Die 
Gefahr  bezüglich  des  Atheismus  fertigt  Hedner  zusammenfassend  so  ab:  „Ein 
bisechen  Philosophie  fOhrt  des  Uensehen  Geist  znm  Atheismus,  aber  Tiefe  in 
derselben  bringt  ihn  wieder  zn  Gott  zurttcfc;  denn  solange  als  des  Mannes 
Geist  auf  zerstreute,  secundare  Ursachen  schaut,  mag  er  wol  UsweQen  bei  den- 
selben beharren  nnd  nicht  weiter  gehen;  aber  wenn  er  die  sie  vereinigende 
Kette  betrachtet,  so  muss  er  (der  Geist)  sich  nothwendigerweise  zur  Vorsehung 
und  Gottheit  aufschwingen.'^  — 

Der  uns  voi  lieireiide  Catalogue  of  Lafayette  College  1880  81  macht  uns 
weiter  mit  der  inneren  Organisation  der  Anstalt  vertraut.  Wie  schon  aus  den 
Worten  des  Präsidenten  Hayes  zu  entnehmen  war,  überlässt  der  Staat  den 
höheren  Unterricht  privaten  Unternehmungen,  dem  Wolthfttigkeitssinne  der 
BQrger,  den  Gemeinden  und  theilweise  auch  den  Beligionsgenossenschaflen. 
Aus  allem  erhdlt,  wenn  es  auch  nicht  offtciell  ausgesprochen  wird,  dass  das 
letztere  Element  gerade  bei  dieser  Anstalt  den  bedeutendsten  Eintluss  aosfibt. 
Um  nicht  vorzugreifen  sei  nur  bemerkt,  da.ss  bei  der  ganzen  En'irtnnnir  ein 
streng  religiöses  Ceremoniell  vorherrscht:  so  wird  beispielsweise  nicht  unter- 
lassen vor  und  nach  dem  Festessen  das  Segen-  und  Dankgebel  zu  sprechen,  es 
wird  das  nicht  vei^chwiegen,  sondern  im  Gegentheil  möchte  man  sagen,  osten- 
tativ hervorgehoben. 


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—   193  — 


Die  Anstalt  steht  unter  einem  Cnratorinni  von  24  Mitgliedern  :  die  Facultät 
bestellt  ans  16  (ordentl.)  Professoren,  6  Adjnii<  t-I'rofessoren.  je  ciiK  in  Assisten- 
ten, Bibliothekar  nnd  Seelsorger.  Pas  College  kommt  im  Hangt'  einer  Hoch- 
sclinle  gleich.  Die  Hörer,  welche,  soviel  ans  dem  (ianzen  /n  ei-sehen  ist, 
bammiiicii  inierue  sind  und  demnach  Wohnung,  Kost  etc.  an  der  Anstalt  haben, 
UmOoi  dch  in  zwei  Groppen:  1.  Postgradnates  oder  solche,  welclie  auf  der 
Schule  noeh  ▼erblelbeai,  nachdem  sie  ihre  ordentiichen  Stadien  abeolvirt  haben,  nnd 
sich  nnn  aneh  noch  dem  Stadinm  anderer  FScher  zu  widmen  oder  Grade  zn 
erlangen  ^\imschen  (gegenwärtig  drei);  2.  Undergrarlnates  od»  ordentliche 
Hörer  (gegenwärtig  287);  diese  zerfallen  wieder  in  4  JahrgUnge:  a  i  Soniors 
(57)  oder  vierter  (letzttT)  Jahrgang;  h)  Junioi's  =  dritter  Jahrgaiij^  Mi]): 
c)  .'^ophomores  =  zw»'iter  .lahrgang  (67):  d)  Freshnien  (Neulinge)  =  t-rster 
Jahrgang  (102).  Jeder  Jalirgang  oder  Cnr.s  zerfällt  nicht  wie  hei  uns  in  zwei 
Semester,  sondern  in  drei  Ahschuitte  (Terms)  und  zwar  für  das  Schuljahr 
1880/81  Tom  2.  September  bis  22.  December,  vom  6.  Jftnner  bis  23.  Mftrz 
ud  vom  7.  April  bis  30.  Juni;  die  übrige  Zeit  des  Jahres  sind  Ferien. 

Was  nun  die  tradirten  Fächer  nnd  ihre  EintheUun«:  in  Gruppen  betrifft, 
60  unterscheidet  man  an  dieser  Anstalt  gegenwärtig  drei  Hauptgruppen:  l.Die 
elassische  Ahtheilnng,  am  meisten  an  unsere  philosophisch-hnmanist Ische 
Gruppe  sich  anlehnend,  es  wird  aher  aneli  der  T'nterrieht  in  realistisehen  Fächern 
damit  verbunden,  wie  z.  B.  Mathematik.  Astrononiie,  Natiirphilosojihic.  Chemie, 
Bülanik,  Zoologie,  Mineralogie  und  Geologie;  2.  seit  1867  durch  die  Schenkungen 
Pardee's  auch  eine  wissenschaftliche  Ahtheilnng,  sich  anlehnend  an 
onsere  phfloaophisch-WMUistiscJie  Gmppe,  es  wird  hier  das  SchweiigewiGhtanf  die 
NatorwisMnschaften  nnd  Mathematik  gelegt;  es  werden  aber  femer  anch  noeh 
■odeme  Sprachen  (dafUr  auch  nach  Wahl  Latein),  Geschichte,  Rhetorik,  Logik 
nnd  Philoso|diie  tradirt;  3.  eine  technische  Ahtheilnng.  welche  sich  aber 
nach  dem  zweiten  Jahre  in  einen  Civilingenieiuv  nnd  Beiigbaningenienreors 
scheidet. 

Weiter  auf  die  Vei-theilung  dieser  i-eichen  Stoffe,  auf  die  einzelnen  Jahr- 
gänge und  Absclinitte  (terms)  einzugehen,  w  lude  uns  zu  weit  führen,  wii*  ver- 
weisen hier  nnr  noch  anf  die  Bemerkung  des  Prof.  March,  dass  diese  Anstalt 
einen  gonischten  Stndienplan  bietet  nnd  demgemftss  einen  Gegenstand  dnrch 
all«  oder  mehrere  Jahrgflbige  neben  mehreren  anderen  Gegenständen  lehrt  So 
werden  in  der  philosophisch-hnmanlstischen  Gmppe,  eroter  Jahrgang,  im  ersten 
Abschnitte  10  Fächer,  im  zweiten  8  Fächer,  im  dritten  9  Fächer  gelehrt 
Ähnlich  verhillt  es  sich  bei  allen  andern  Gruppen  nnd  Jahrgängen. 

Um  in  das  College  aufgenommen  zu  werden,  hat  sich  dt  i- (  aiulidat  an  der 
Anstalt  selbst  einer  Prüfung  zu  unterziehen,  die  ungefähr  den  T-chi-stoft"  der 
ersten  sechs  Classeu  unserer  Mittelschule  umfa4isen  wird.  Das  College  ver- 
leiht auch  Grad«,  und  zwar  den  Grad  eines  Baccalaorens  der  Künste  denen, 
welche  alle  Jahrgänge  der  dassischen  Gmppe,  eines  Baecalanrens  der  Wissen- 
sehaft denen,  welche  alle  Jahigänge  der  wiBsenschalQichenGmppe  absolvirt  haben. 

Hat  ein«HOrer  der  letzteren  Abtheilnng  anch  Latein  gehört,  so  wird  er 
znm  Baecalanrens  der  Philosophie  ernannt. 

Ebenso  ertheilt  es  auch  den  Grad  eines  Civilingenieurs.  t^ber  andere 
treqnenrii  te  iTcgcnsriinde  werden  Zeugnisse  ausgestellt.  •-  Hat  ein  liaccalauivus 
of  art«  t>eiiie  Studien  weitere  drei  Jaiire  Reissig  an  der  Anstalt  alt»  Postgraduale 


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—   194  — 

betrieben  und  kann  er  weiter  ein  gates  Sitteozeugiiiä  (!)  aufweisen,  dann  kann 
er  Magister  werden;  daesellie  ist  der  Fall  bei  der  wieeeaeeliaftUelieii  Gruppe. 
Solche  noch  drei  Jahre  nach  «Vollendiinir  der  ordenflidieii  Studien  an  der 
Anstalt  verbliebene  HSrer  können  mit  Zostimmnngr  der  FacoltSt  zor  Gandi- 

datur  eines  Doctora  der  Philo8oi)hi('  zugelassen  werden. 

Im  Lelir})lan  ist  bisher  von  Religion  noch  keine  Rede  gewesen,  und  doch 
ist  nach  liom  früher  Gesagten  von  vornhei-ein  zu  v*M-niuthen ,  dass  sie  eine 
grosse  Rolle  sjiielen  werde.  Und  in  der  That  giVjt  e.s  keinen  Ciirs,  in  welchem 
nicht  Kt'li'^ion  und  was  damit  in  \'erbindung  steht,  gelehrt  würde.  Ausser  den 
Declamationen,  .Themen  und  Debatten  in  den  verschiedenen  Cai-sen  wiid  Bibel* 
lectüre,  Katechismus,  Geographie  der  Bibel  Beligionspliilosophie  etc.  etc.  be- 
trieben; es  genüge  hier  den  Schlusssatz,  den  ünterricht  in  der  Bibel  betreffend, 
anzuführen:  „'S»  wird  beabsichtigt,  die  Bibel,  zum  Centraigegenstand  des 
Studiums  im  gesammten  Unterrichte  zu  machen."  Das  Beste  an  der  Sache 
mag  das  sein,  dass  diese  Bibelstudien  zum  gewesen  Theil  in  fremden  Sprachen 
betrieben  werden.  Sowie  unsei-e  Kleinen  von  6 — 14  Jahrt  ii  zur  Kirche  ge- 
führt werden,  so  haben  hier  die  grossen  Studenten  tiiglich  den  (rebeteu  in  der 
Kapelle  des  CoUegiums  und  jeden  Sonntag  der  Predigt  anzuwohnen. 

Wenn  wir  unsere  Ansicht  frei  aussprechen  sollen,  wie  uns  ein  solcher  Unter- 
richt und  besonders  eine  solche  Endeliung  zusage,  so  kann  sie  nun  und  nimmer 
gftnstig  sein.  Das  Opfer,  das  man  da  bringt,  den  f  nngen  Hann  vor  dem  Atheismus 
zu  bewahren,  scheint  uns  ein  hSchst  bedenkliches.  Man  denke  sich,  dass  der 
Student  durchschnittlich  nenn  Gegenstände  als  Fachstudium  nebeneinander  zu 
betreiben  hat!  Wie  kann  da  die  Tiefe  erreicht  werden,  mit  welcher  Prof.  March 
die  gefürchtete  Klippe  vermeiden  will?    Wemi  auch  die  Freiheiten  imsei-er 
Hochschulen  für  manchen  jnnR:en  Mann  M'rderblicli  sein  können,  .so  können  wir 
uns  doch  nicht  mit  dieser  strengen,  knabenhaften  Erzieliungsmethode  befreunden, 
und  es  bleibt  geradezu  unerklärlich,  wie  Professoren,  die  selbst  so  energisch 
die  praktische  Ausbildung  fttr  das  Leben  verlangen,  einer  solchen  engherzigen 
Erziehungsweise,  die  jede  selbständige,  eigenartige  Entwicfcelung  hindert  and 
den  Jfingling  zum  kurzsichtigen  Mucker  erzieht,  ihren  Dienst  leihen  können. 
Man  mag  sich  nach  Coquettenut  auch  noch  so  fleissig  mit  den  schönste 
Urund-sätzen  unserer  grössten  neueren  Pildagogen  aufputzen,  den  hartnäckigen 
Puritanertrotz  kann  man  docli  nicht  verbergen.   Uni  Jene  Klippe  zu  vermeiden, 
wird  Tatr  für  Tag,  ja  fast  Stunde  für  Stunde  von  allen  Seiten  mit  der  Bibel 
auf  den  jungen  Mami  eingewirkt.    Aber  fieilich  nur  auf  solche  Art  wird  es 
erklftilich,  wie  in  nnserm  Jahrhundert  Muckerthiun-Sectirerei  in  dem  gelobten 
Lande  der  politischen  Freiheit  noch  eine  so  grosse,  den  allgemeinen  Fortschritt 
gewiss  schädigende  Bolle  spielen  können.  Interessant  wäre  es  noch  zu  erfthren, 
wie  sich  diese  Herren  Professoren  ihren  Herren  Hörem  gegenüber  mit  den 
neueren  Forschungen  und  Entdeckungen  in  den  Naturwissenschaften  abfinden, 
die  doch  mit  der  Bibel,  so  viel  man  hört,  ein  wenig  collidiren  sollen.  Eine 
Uberzeugung  hat  sich  bei  Betrachtung  des  Lafayette-College  neuerdings  in 
uns  befestigt,  nilmlich  die.  daas,  um  solchen  Auswüchsen  vorzubepgen.  es  nicht 
weniger  Sache  des  Staates  .sei  für  die  Hochschulen  zu  sorgen,  als  tür  den 
unteren  Untenicht. 


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Politische  Erziehung. 

lo  der  „Wiener  päda^g^iBchen  Gesellschaft"  hat  letzthin  ein  Mitg^lied 
deraelben.  Herr  A.  Bruhns,  einen  Vortrag  über  das  Thema  gehalten:  ^Wie 
hl  dip  .Tn?end  für  das  politische  Leben  vorzuhpreitenV**  DerRedn»'r 
entwickelt»^  und  befi^ründete  folg:ende  Hauptg-edanken :  Durch  di»'  Eintuhniii}^ 
des  ronstitutionalismns  tritt  das  politisch*^  T.cbeu  mit  einer  Fülle  von  Forde- 
nmgeii  an  den  Einzelnen  heran,  zu  deren  Ertullung  die  .]uy:end  bis  jetzt  wenig 
«der  gar  nicht  vorbereitet  wird;  diese  Vemachlässigung  schädigt  die  Ent- 
«ickeliiog  des  Stoafcss.  Das  politisehe  Leben  fordert  vom  Staatsbürger  im 
Allgemeinen  werkthfttige  Liebe  mm  Vaterlande^  im  Besonderen:  Theilnahme 
u  der  zur  Erhaltan|[r  desselben  nöthigen  Steuerlei»tung  und  militärischen  Ver- 
tiwidigang.  feraer  an  der  Gesetzgebung  und  \'erwaltung  (Wahlen  für  politische 
Körperschaft f'n .  eventuell  Übernahme  von  ^fandaten),  endlich  an  der  Rechts- 
pflege. Zur  Erreichung  dieser  Ziele  ist  für  jt-nen  ^■r().sst'n  Theil  der  Bevfilkerung, 
welch»  r  in  der  Volksschule  und  in  den  gewerbliclicn.  coniniei-ziellen  (Ml«'r  land- 
wirtschaftlichen Fortbildungsschulen  seine  Ausbildung  erhalt,  im  Ganzen  nur 
iimerst  d&rftig,  in  mancher  Beziehung  gar  nicht  gesorgt.  Die  Volksschale 
kaaa  den  betreifenden  Anibrderongen  nicht  vollständig  genügen,  weil  es  ihr 
tt  Zeit  maogelt,  und  wefl  die  Intelligenz  ihrer  Schüler  za  wenig  entwickelt 
ht  Deshalb  ist  ein  strenger  Anschlnss  d«r  Foitbildungsscbnle  an  die  Volks- 
Kfanle  and  die  gesetzliche  Verpflichtang  znm  Besache  der  ersteren  nothig,  üi 
welcher  der  grösste  Theil  jener  Vorbeivituns:  für  das  jK)litische  Leben  statt- 
finden niuss.  Es  ist  zu  bedaueni,  dass  bei  Errichtung  von  Fortbildnng^scliulen 
ffpgt'iiwärtiGr  nur  industrielle,  merkantile  und  landwirtschaftliche  Interessen 
m  Auge  gefasdt,  diejenigen  Disciplinen  aber,  welche  den  jungen  Mann  für 
dm  öffentliche  Leben  befthigen  künnen,  veniachlässigt  werden.  Die  Schule 
■ms  jedoch  anch  veisnehen,  das  Gemfith  der  Kinder  .für  das  Vaterland  zn 
cnrlrmen;  dies  kann  geschehen  einerseits  durch  den  Unterricht^  andererseits 
durch  Veranstaltung  patriotischer  Feste,  an  welchen  die  Kinder  dnreh  Gesang, 
Declamation.  Turuspiele  a.  s.  w.  activ  theilnehmen  sollen. 

Ohne  Zweifel  ist  in  dem  Vorstehenden  eine  wicht i,!<t'  Erziehungsanfgabe 
hervorgehoben  und  zu  frachtbaren  Erürterun^en  in  Lehrerkreisen  eine  be- 
acLtt-nswert^  Anre^unji:  gegeben.  Wir  bemerken  hierzu,  dass  in  Belgien  auf 
Gnmd  eines  köDiglicheu  Decretes  die  Lehrerbildungsanstalten  auch  das  \  er- 
bttongs-  and  Verwaltongsrecht  nebst  den  Gnindbegriffen  der  Volkswirtschafts- 
Übe,  sowie  des  Handels-  und  des  bürgerlichen  Rechtes  fai  den  Lehrplan  auf- 
(Mommen  haben.  Den  bezüglichen  Unterricht  soll  ein  Bechtsgelehrter  ertheilen, 
HU  m  hSheren  Scholen  jedenfalls  räthlich  sein  düi-fte ,  w  älirend  in  Volks-  und 
FatUldmigsBehiilen  die  Lehrer  selbsti  eine  genügende  Vorbildung  vorausgesetzt, 


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1 


—   196  — 

den  pupuläreii  politischen  riiteriiclit  g-ebeii  köniieii.  Auch  in  Deiitichiaud  ist 
die  hier  berührte  Uutemchtsaufgabe  schon  melirfach  erörtert  und  bearbeitet 
worden.  Wir  verweisen  z,  B.  auf  den  „Katechismus  des  deutschen  Reiches** 
von  Dr.  Wilhelm  Zeller  (Leipzig  bei  J.  J.  Weber).  Die  praktische  USsang 
der  Ao^be  ist  schwierig,  aber  sie  mnss  versncht  werden.  Denn  die  modernen 
Staaten  können  unmöglich  g-edeihen ,  wenn  niclit  in  weitere  Kreise  jenes  Mass 
politischer  und  volkswirtschaftlicher  Einsicht  dringt,  welches  den  Einzelnen 
über  seine  Existenzl>edin»-ung-en.  ülter  seine  Stellung:  im  gesellschaftlichen  (ie- 
ti'iebe,  über  seine  Rechte  und  l^ilichteu  im  Staate  aufklärt. 


Fröbel-Jubiläam. 

Am  21.  April  1882  werden  100  Jahre  verflossen  sdn,  seitdem  Friedrieh 
Fröbel  das  Licht  der  Welt  erblickt  hat.  Der  „Allgemeine  Erziehnngsverein'^ 
in  Dresden,  welcher  sich  vor  10  Jahrra  gebildet  hat,  um  im  Geiste  Fröbel's 
zn  wirken,  und  welcher  zn  seinen  hervorragendsten  Mitj^-liedern  die  bedeutendste 
Vertreterin  der  Fröbel'schen  PJldagogik.  die  Freifi  aii  von  Maren  holt  z-Bülow 
zählt,  hat  den  Beschluss  g-efasst,  seine  nächste  Hauptversammlung  am  Ceutral- 
sitze  abzuhalten  und  mit  der  Feier  des  Fröbel-Jubiläums  zu  verbinden.  Er 
ladet  nicht  nur  seine  Mitglieder  und  Zweigvereine,  sondern  alle  Gesinnungs- 
genossen nnd  Verehrer  FrOhels  m  der  beabsichtigten  Festfeier  in  Dresden  ein. 
Man  kann  derselben  mit  den  besten  Erwartungen  entgegensehen,  um  so  mehr, 
als  einer  der  vorzSglichsten  Kenner  nnd  Anhänger  FröbeFs,  überhaupt  ein  ans- 
gezeichneter  PUdagog  nnd  zugleich  ein  Meister  des  Wortes,  Dr.  Wichard 
Lange  in  Hamburg,  die  Festrede  übernommen  hat.  Also  ein  Gläclcanf  zum 
21.  April  in  Dresden! 


Venmtwortiicher  Bedaetear:  M.  8t«in.  Baobdrnckerei  Jaliui  KUiikh*rilt,  Leipn^. 

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• 


Gedanken  über  den  Idealismns  der  Arbeit 

Von  Ogkar  Waldeck, 
L 

Als  icli  jüngst  den  Satz  — :  „Soweit  der  Mensch  zu  einer  Hand- 
lung dadurch  bestimmt  \\ird,  dass  er  unzureichende  Vorstelluno^en  hat, 
kann  man  nicht  unbedinc^t  sMoreii,  dass  er  aus  Tugend  liandlf,  soudeni 
nur,  soweit  er  durch  etwas  bestimmt  wird,  Avas  er  erkennt'*  —  in 
Spinoza's  Etliik  (IV.  Th.  C.  2B)  las,  merkte  ich  sofort,  dass  w  hier 
eine  ergiebige  Quelle  wichtiger  pädagogischer  Gedanken  haben. 

Wenn  wir  nicht  jede  gute  Fertigkeit  im  allgemeinen  Tugend 
nennen,  sondern  nnr  jene  edle  Fertigkeit,  die  durch  natnrgemfisse 
Ausbildung  einer  bestimmten  Anlage  entwickelt  wird,  dann  werden 
wir  den  Bestimmnngsgrand  zu  einer  Handlung  von  der  Handlung 
selbst  trennen  mttssen,  nm  uns  den  Inhalt  des  Begriffes  „Tugend**  zn 
venehaffen.  Der  Besttmmnngsgmnd  einer  Handlung  ist  bdm  Menschen 
der  Oedanke.  Dieser  ist  gleichzeitig  das  gesetzgebende  Moment  des 
Lebens,  das  im  Sinne  des  Gedankens  wirkt  und  schafft. 

Denken  und  Handeln  sind  Lebenserscheinnngen  und  f&llen  ein- 
hdtlieh  eine  Existenz  ans.  Inwiefern  wir  diesen  beiden  Arten  von 
Erscheinungen  eine  Ursache  beilegen,  erhalten  wir  die  latente  Lebens- 
kraft als  gemeinsame  Quelle,  als  die  gemeinsame  Ursache  beider 
Gattungen  von  Erscheinungen.  Denk-  und  Arbeitskraft  sind  dem- 
g:emäss  die  beiden  Componenten  der  Lebenskraft  und  begleiten  sich 
regelmässig  in  «'iner  solchen  V\  eise,  dass  sii'  wie  Ui  sache  und  W  irkung 
auf  einander  f(»lfjen.  Greifen  diese  beiden  verschiedenartigen  Er- 
scheinungen harmonisch  in  einander,  dann  haben  wir  an  ihnen  die 
Kennzeichen  eines  bestinmiten  Charaktei's.  In  der  Ülx^reinstimmung 
'It'r  ])eiden  spedüsch  vei*schiedenen  Erscheinungen,  der  Gedanken  und 
der  Handinngen,  liegt  das  Wesen  eines  natürlichen  Charakters.  Wol 
kann  auch  künstlich  durch  rücksichtslose  Erziehung  eine  Überein- 
stiimnnng  erzwungen  werden:  dann  ist  das  Wesen  des  Charakters  er- 

PMdafogfa».  4.  Jahig;  Haft  IV.  U 


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künstelt  uud  niclit  frei.  Frei  ist  ein  Wesen,  dessen  Ged;uiken  Lebens- 
erscheinunj^en,  dessen  Handlun<^en  die  Foltren  jener  (Tt'danken  sind. 
Wie  können  wii'  uns  überhaupt  freie  Erselieinung:en  denken,  wenn  wir 
niclit  an  ihnen  das  Cliarakteristische  des  Wesens  voi*finden?  Das 
Natürliche  ist,  das  Unnatürliche  ist  nicht.  Sein  ist  Einheit,  Nichtsein 
ist  Vielheit  in  unsem  Falle.  Wir  Terstehen  unter  Charakter  eine 
gewisse  Übereinstinimang,  ein  gewisses  Gemeinsames  specifisch  ver- 
schiedener  Erscheinungen;  viele  Eigenschaften,  von  denen  Jede  einen 
nothwendigen  Bestandtheil  der  Einheit,  des  Wesens  bildet,  so  dass  jeder 
einzelne  Fall  einen  Schlnss  auf  das  Ganze  gestattet  Wir  sind  auch 
gewohnt  zu  sagen:  „Wir  haben  von  diesem  Manne  es  nicht  anders  er- 
wartet." Dass  dieses  Charakteristische  eines  Wesens  mit  dem  Triebe 
zugleich  gegeben  ist  und  durch  diesen  zum  Ausdrucke  kommt,  lässt  sich 
nicht  leugnen,  da  der  Trieb  der  Selbsterhaltung  bei  jedeni  einzelneu 
Menschen  mittelbar  durch  die  Lebenskratt  in  einer  andern  \\'eise  die 
Existenzfrage  zu  bisen  trachtet.  Gerade  dieses  Eigenthüniliche  ist  es. 
wodurch  die  Natur  dem  Individuum  die  schwierige  Aufgrabe:  die 
Existenz  zu  behaupten,  zu  erleichtern  beabsichtigt.  Dieses  Eipentliüni- 
liche  macht  das  Individuum  zu  einem  nothwendigen  Bestandt heile  der 
Gesellschaft,  innerhalb  deren  es  oliue  bedeutende  Concurrenz  durch 
seine  individuelle  Befähigung  in  seiner  Weise  seine  Existenzfrage 
beantworten  soll,  ohne  dass  andere  Existenzen  dadurch  geschädigt 
werden.  Wird  diese  individuelle  Persönlichkeit  richtig  auQgebildet,  so 
veri&gt  das  Individuum  über  einen  Kraftbestand,  der  an  der  Seite 
vieler  ebenbürtiger  Anlagen  anderer  Existenzen  das  Individuum  der 
Naturabsicht  gemäss  zum  Ziele  föhrt  und  zum  Nutzen  und  Heile  der 
Gesellsdialt  sich  ent&lten  lässt. 

In  dieser  Weise  will  auch  der  spinozistische  Satz  autgefasst  sein: 
„Unbedingt  ans  Tugend  handehi  ist  dasselbe,  wie  nach  Gesetzen  der 
eigenen  Natur  handeln.  Aber  wir  handeln  nur  soweit  wir  erkennen, 
deshalb  ist  aus  Tugend  handeln  nichts  anderes  in  uns,  als  nach 
Leitun<>  der  Vernunlt  handeln,  leben  und  sein  Sein  bewalii'en  und 
zwar  auf  (Grundlage  des  Strebens  nacli  seinem  eigenen  Nutzen."  f(\  24.) 
Im  Begeliren  überhaupt  zeigt  sidi  der  Trieb,  und  der  individuelle 
Trieb  im  bestimmten  Begehren.  Selbst  das  Kind  hat  seine  Eigen- 
heiten, die  Eltern  und  Erzieher  oft  falsch  beurtheilen.  Sie  verstopfen 
gewaltsam  die  kleinsten  Quellen  der  Natur  uud  verdrängen  das  Eigen* 
thümliche,  indem  sie  das  Allerem  eine  an  die  Stelle  setzen. 

Der  Trieb  fordeii;,  und  der  Gedanke  zeigt  an,  was  der  Trieb 
fordert  So  erscheint  in  der  Seele,  was  im  Wesen  latent  gelegen,  und 


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—   199  — 


aus  Gedanken  baut  sich  auf  das  ideale  Abbild  der  gelieimnisvoUen 
Innenwelt  und  sammelt  sich  zum  reinen,  geistigen  Ich.  In  diesem  Ich 
Terdichtet  sich  das  Charakteristische  des  Wesens.  Der  Trieb  theilt 
alsdann  die  Lebenskraft  und  sendet  einen  Zweig  in  die  geistige 
%iliSr8,  4er  in  den  Gedanken  leibt  und  liebt,  und  diese  ideale  1^ 
sekeinimgswelt  organisirt»  nm  im  Bewegangsgnmd  die  Willenstftrke  sich 
n  TerechaiTen,  das  autonome  Gesetz,  das  die  Arbeitskraft  richtig 
verwertet  Diese  Ansicht  dürfte  so  Manchem  nicht  zusagen,  weü 
der  Gedanke  als  ein&che  Naturerscheinung  am  wenigsten  zu  wÜIktbv 
liehen  Denkoperationen  sich  eignet  und  als  einleitendes  Moment  des 
Denkprocesses  predacht  allen  überirdischen  Schmuck  und  Aufputz  von 
sich  weist  mid  als  einfaches  seelisches  Element  Kraft  des  ihni  immanenten 
Verwandtschaftsgefühles  wirkt  und  schaift. 

Aus  dem  bisher  Ges;ie:ten  ergibt  sich  von  selbst,  dass  Erkennt- 
nisse nm-  dann  für  das  geistige  Leben  Wert  und  Bedeutung  liaben, 
wenn  ihi*  Schwerpunkt  in  jenem  Theile  der  (it^d<inkensi)häre  liegt,  in 
welchem  die  Kraft  des  Naturtriebes  sich  conceiitrirt.  8onst  träg:t  das 
Seelenleben  ein  Gedankenconglomerat,  das  immer  wieder  zerfällt  und 
neuen,  anderen  Gedankenmassen  den  Platz  räumt  Gerade  innerhalb 
jenes  Schwerpunktes  liegen  die  präponderirenden  Gedankenorgane  zu 
einem  GedankenkOrper.  Wie  jede  organische  Zelle  ihre  Nahrung  ana- 
lynrt,  die  nöthigen  Elemente  sich  herausholt,  die  andern  wieder  ab- 
gibt, in  dersdben  Weise  wirken  die  G^edankenorgane  vertheilend  auf 
die  ihnen  dargebotenen  Gedanken  und  gliedern  dieselben  nach  dem 
Grade  der  Verwandtschaft  im  Verhältnis  zum  Gedankenkdrper  selbst  ' 
In  einem  derartigen  Gedankenbau  wechseln  die  seelischen  Elemente 
fortwähi-end,  um  dm  ch  andere,  die  dem  Lebenszwecke  besser  entsprechen, 
ersetzt  zu  werden.  Nennen  wir  das  individuelle  Verwandtschaft s- 
geföhl,  das  durch  die  Gedankenkreise  zieht,  Bande  löst  und  andere 
knüpft,  Phantasie,  Verstand,  Vernunft,  <lasselbe  ist  den  Gedanken 
immanent  und  gehört  als  Bestandtheil  zur  Lebensstimmung. 

Eine  ideale  Entfaltung  der  Triebkraft  kann  demgemäss  nur  durch 
die  Befreiung  der  Innenwelt  eines  Individuums  durch  den  Gedanken 
möglich  sein.  Indem  wir  das  Gefühlssystem  des  Kindes  mit  den 
Nstorerscheinungen  in  Verbindung  setzen,  werden  die  Elemente  der 
inneren  Spannung  nach  nnd  nach  frei,  jede  Reizemplindung  wird  ein 
entwickdungsf&higer  Gedankenkeim  in  der  Seele,  der  gut  gepflegt 
gedeiht  und  bald  im  Schosse  des  Lebens  als  Bewegungsgrund  sich  ent- 
puppt, den  Lebenszweck  näher  zu  bestimmen»  der  Lebenskraft  die 
Bkhtung  anzuweisen. 

14* 


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—   200  — 


Von  diesem  Gesiclitsininkte  müssen  wii-  den  Gedanken  Spinoza'» 
\vürdig:en,  wenn  wir  seiner  idealen  Aiiifassung  der  menschlichen  Frei- 
lieit  nicht  den  Stempel  des  rohen  Egoismus  —  wie  dies  von  Seite  der 
Gegner  Spinoza's  so  gerne  gescliieht  —  aufdrücken  wollen.  Der  Mann, 
der  die  Aussprüche  gethan:  „Nichts  Einzelnes  gibt  es  in  der  Nator^ 
was  dem  Menschen  nfttzlicher  wftre  als  der  Mensch,  der  nach  der 
Vernunft  lebt;  Je  mehr  eui  Mensch  nnr  seinen  Nutzen  sucht,  desto- 
mehr  sind  die  Menschen  einander  gegenseitig  nützlich;  Der  Mensch 
ist  dem  Menschen  ein  Gott**  u.  s.  w^  kann  wahrlich  am  wenigsten 
des  Egoismus  beschuldigt  werden.  Können  wir  das  Ideal  der  vollendeten 
Ihdividualit&t  das  des  Egoismus  nennen?  Ist  der  vollendete  Trieb  ein 
Gespenst,  das  wir  fürchten  müssen,  dann  muss  alles  Natüi'liche  den 
Keim  zum  Gespenst  in  sich  tragen;  aber: 

,,Aii  aich  gibt  es  weder  Gutea  noch  Büses, 
Bas  Denken  maebt  es  erst  dazn/'  (Hamlet.) 

Glauben  die  (legner  dieser  Idee  durcli  ihr  Moralgesetz  —  das  am 
Ende  niclits  Anderes  als  ein  abstracter  (ledanke  ist  —  ohne  die  Natur 
nm  ihre  Freiheit  zu  verkürzen,  oline  den  Trieb  gerade  durch  diesen 
ihren  Gedanken  zu  beeinträchtigen,  die  Lebensmaxime  zum  objectiven 
Princip  erheben  zu  können?  Niemals!  Sie  unterwerfen  gewalt^sam  das 
„subjective  Princip"  dem  ^objectiven",  das  Individuum  dem  Glauben,  die 
Natur  dem  fremden  Gedanken,  und  verdunkeln  die  Naturabsicht,  das. 


m 

I 

nTm 

Kinde  ezperimentiren,  alle  möglichen  Gedanken  herbeiholen,  die  irgend 
einem  Zwecke  dienen  könnten.  Solche  nlmperative  der  Geschicklich- 
keit" enn&den  die  natOrliche  Anlage  und  zerstören  die  besten  Ffthig* 
keiten.  „Weil  man  in  der  frühen  Jugend  nicht  weiss,  welche  Zwecke 
uns  im  Leben  anfstossen  dürften,  so  suchen  Eltern  vornehmlich  ihre 
Kinder  recht  vielerlei  lernen  zn  lassen,  und  sorgen  für  die  Geschick- 
lichkeit im  Gebrauch  der  Nüttel  zu  aHerlei  beliebigen  Zwecken,  von 
deren  keinem  sie  bestimmen  können,  ob  er  nicht  etwa  wirklicli  kiuittiir 
eine  Absiebt  ihres  Zlmhuij;^  werden  kcinne,  wovon  es  indessen  docli  niüg- 
licli  ist;  dass  er  sie  eiiiiiial  liaben  möchte,  und  diese  Sorgfalt  ist  so  gross, 
dass  sie  darübei-  gemeiniglich  verabsäumen,  ihnen  das  Urtbeil  über  den 
Wert  der  Dinge,  die  sie  sich  etwa  zu  Zwecken  machen  möchten, 
zu  bilden  und  zu  berichtigen."  (Kant,  Met.  d.  Sitten  IV^  Aufl.  IL  Ab- 
schnitt S.  41.)  Moralsätze  wie  jene  Imperative  der  Geschicklichkeit 
verschwenden  die  Naturkraft,  indem  sie  der  Individualität  den  Weg^ 
zum  rechten  Ziele  verrammeln.  Ohne  ein  Entgegenkommen  von  Gedanken 
aus  dem  Innern  ist  überhaupt  kein  Unterricht  möglich.  Wozu  hätte 


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die  ^iator  auch  jedem  einzelnen  Menschen  einen  bestimmten  Trieb 
gegeben,  wozu  hätte  sie  jeden  mit  andern  Fähigkeiten  versehen,  wenn 
der  Mensch  mit  Hilfe  seiner  Imperative  der  Geschicklichkeit  ein  be- 
liebiges Ziel  dem  angehenden  Menschen  zur  Lebensaufgabe  setzen 
Uimte?  Wo  gfthe  es  eine  persönliche  Freiheit  flheihaapt,  wenn  vrir 
dnreh  jeden  Gedanken  das  Leben  näher  bestimmen,  den  Charakter 
liditig  entwickehi  konnten? 

Jn  der  harmonischen  Übereinstimmnng  der  Denk-  nnd  Arbeits- 
kraft Hegt  das  Ifaximmn  der  LeistongsfiUugkeit  des  Individnoms,  in 
der  Erkenntnis  der  Naturabsicht  das  ideale  Ziel  der  Erziehung.  Vom 
spinozistischen  Standpunkte  aus  inuss  der  Pädagoge  den  Menschen  als 
Gegenstand  der  Erziehung  behandeln,  wenn  er  natur<?eniäss  erziehen 
«ill.  Die  so  lan^^e  verkannte  Individualität  niuss  in  den  vollen  Besitz 
ihrer  Rechte  gesetzt  werden,  wenn  die  individuellen  Anlaj^en  mit  der 
gesammten  Triebkraft  frei  im  Sinne  der  Naturabsicht  dem  Ziele  der 
SelbstbestimmuDg  zustreben  sollen. 

n. 

„Der  Begriff  der  Selbstbestimmung  entzweit  das  Sichselbstbestim- 
nende  mit  sich  selbst,  eben  in  dem  Acte  der  Selbstbestimmung  durch  den 
Oegensatz  der  Activit&t  und  Passivität  (des  Bestimmens  und  Bestimmt- 
wodeüs).**  (JBerbart,  EinL  in  die  Philos.  4  AufL  S.  17a)  Ist  der 
Hensch  ein  Zvitterding,  dass  an  eineo  G^egensatz  zwischen  Activität 
ud  Passhritftt  gedacht  werden  darf?  Der  Mensch  selbst  hat  diesen 
Gegensatz  der  Natur  auibctroyirt,  indem  er  das  beste  erziehende  Moment, 
den  freien  Gedanken  zu  einem  höheren,  übernatürlichen  Grebilde  erhoben. 
S-)  ist  zum  T>Tanuen  geworden,  was  zum  idealen  Fluge  bestimmt 
gewesen.  Der  g-esetzmässige  Gang  der  Natur  protestirt  gegen  eine 
derartige  ungerechtfertigte  Behauptung,  gegen  die  Anmassuni;  des 
%oismus  Kiuzelner,  die  in  einer  unnahbaren  Welt  verklärt  zu  thronen 
gruben.  Der  Mensch  ist  eine  harmonische,  freie  Welt,  in  der  jede 
Begnng  des  leidenden  Zustandes  ein  Element  der  Existenz  bildet. 
Diese  Elemente  gedacht  werden  Bestimmungsgrund  des  Selbstzweckes, 
der  mit  dem  Triebe  gegeben  ist  und  durch  die  Triebki-aft  befreit  wird. 
Frei  ist  der  Mensch,  wenn  ihn  sein  Gedanke  zur  WMiHlnng  bestimmt. 
Und  sein  eigen  ist  degenige  Gedanke,  der  als  Element  seiner  inneren 
Spannung  frei  geworden. 

Ein  Gegensatz,  der  Activität  und  Passivität  sondert,  trennt  ür- 
iMhe  nnd  'Wirkung  von  einander  und  hebt  den  Selbstzweck  auf.  Er 
setzt  an  die  Stelle  des  Selbstzweckes  einen  beliebigen  Zwe<±,  an  die 


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—   202  — 

Stelle  der  Selbstbestimmung  einen  beliebigen  Bestimmungsgrund  und 

ist  unnatürlich. 

Diesen  Gegensatz  zwischen  Activität  und  Passivität  hat  die  ver- 
fehlte Erziehung  in  das  Herz  der  Menschheit  getragen  und  durch 
die  CTedankencoltur  soweit  ausgebildet^  dass  ms  das  Unnatürliche  zur 
Gewohnheit  geworden.  Wir  tragen  ein  schweres  Joch,  wir  sind  an 
eherne  Bande  geschmiedet,  ohne  dass  wir  es  wissen;  wir  opfern  einem 
Götzen,  weil  unsere  Yorfiediren  in  knechtischer  Ergehong  zn  ihm  sich 
bekannt  haben;  wir  lieben  den  schlhmnsten  Tyrannen  unserer  persön- 
lichen Freiheit,  drücken  selbst  ihm  das  Schwert  in  die  Hand,  ver- 
teidigen sem  Gesetz,  das  nns  zn  Knediten  macht,  zn  gemeinen 
Sklaven. 

Nicht  die  transcendcntale  Freiheit  —  wie  Herbart  raeint  — 
verwickelt  bei  einer  freien  Wahl  zwischen  dem  Guten  und  Bösen  den 
Willen  in  Widei-sprüche,  sondern  das  falsche,  unnatürliche  Beharren: 
der  alten  Tradition  treu  zu  bleiben,  die  mit  Gewalt  unsere  persönliche 
Freiheit  niederhält  und  als  objectives  Gesetz  die  Natur  aus  ihrer 
autonomen  Stellung  drängt.  So  versiegt  der  Trieb,  so  verküiiimeni 
unsere  Anlagen  und  Fähigkeiten,  so  wird  die  Lebenskraft  decimirt 
und  die  Arbeitski-aft  durch  den  fremden  Bestimmung-sgrund ,  durch 
den  despotischen  Gedanken  gegängelt.  In  dieser  Weise  hat  Herbart 
recht,  wenn  er  die  Selbstbestimmung  eine  Veränderung  nennt  Der 
Wechsel  der  Gedankenreihen  ist  freilich  eine  Verfindemng,  aber  eine 
Verftnderong,  inwiefern  sich  Glieder  emer  onanfliOrlichen  Kette  fort- 
während ablösen,  nm  dem  sicheren  Ziele,  anf  das  das  gesammte  Streben 
des  Indiyidamns  gerichtet  ist,  sich  immer  mehr  zu  nähern.  Da  gibt 
es  aber  nnr  eine  Fortsetzung,  und  keinen  Gegensatz;  da  gibt  es  nnr 
ein  Ineinandergreifen  der  Ursachen  und  Wirkungen.  Da  ist  alles 
Existenz  und  kein  Fremdartiges,  alles  Ich  und  kein  Nicht-Ich,  Ein- 
heit und  keine  Vielheit,  da  ist  alles,  was  es  ist  und  nicht,  was  es 
mögliclierweise  sein  könnte. 

Bei  einer  oberflächliclien  Betraditung  des  Xatiirganges  scheint  es, 
als  ob  die  Natur  ilire  Triebe  der  Hand  des  Zufalls  überlassen  winde, 
allein  ein  Blick  in  das  innere  Getriebe  dieser  Werkstätte  zeigt  uns, 
dass,  wohin  die  Natur  selbst  einen  Keim  gelegt,  dort  gedeilit  er,  dort 
entwickelt  und  veredelt  er  sich  immer  mehr  in  der  Kette  von  Gene* 
rationen,  ohne  im  wesentlichen  seine  Existenzfrage  zn  verändern. 
Von  seiner  Existenzfrage  ist  das  Wesen  abhängig.  Eine  derartige 
Abhängigkeit  zieht  zwar  dem  Triebe  eine  Grenze,  schränkt  die  Frei- 
heit jedoch  in  keinerlei  Weise  ein.   Das  Wesen  strebt  innerhalb 


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—  208  — 

sdner  Existenzfrage  zu  verharren  und  begehrt  nichts  Fremdartiges. 
Die  Existenzfrage  will  beantwortet  sein  und  der  Trieb  analysirt  die 
Natur  und  eignet  sich  an,  was  er  bedarf.  Wenn  ein  Keim  seinen  Be- 
daif  nicht  decken  kann  nnd  abstirbt,  dann  war  er  dem  Zn&li  preis- 
gegeben. Die  Natur  selbst  hat  ihren  Wesen  den  Himmelsstrich  ange* 
wiesen,  wo  alles  fllr  ihre  Ent&ltnng  vorbereitet  liegt  Kann,  wenn 
uiter  solchen  Umständen  die  Wesen  gedeihen,  dies  das  Werk  des 
ZnfiiDs  genannt  werden?  Da,  wo  alles,  was  ineinander  anfgrehen  soll, 
neben  einander  besteht,  da  gibt  es  keinen  ZniUL  Znüill  ma^  es  sein, 
ob  diese  oder  jene  Existenz  unterlien:t,  ob  dieser  oder  jener  Trieb 
analysirt  wird.  Die  Natur  ist  l)oiiiiiht,  die  Gattung  zu  erhalten,  und 
kann  das  Individuum  niclit  berücksichtigen.  Um  die  kosmopolitische 
Idee  consequent  durchzuführen,  muss  sie  noth wendigerweise  den  luiliei  eu 
Trieben  die  niederen  Triebe  unterordnen.  Nahrung  und  Sichernähren- 
des nuiss  es  geben.  Dies  ist  aber  nicht  anders  möglich,  als  wenn 
Existenz  in  Existenz  aufgeht,  höhere  Triebe  auf  Kosten  der  niederen 
sich  behaupten.  Nur  so  ist  es  möglich,  dass  das  latente  WelUdeal 
frei  wird.  Das  Emporstreben  der  Triebe,  das  Zusammentreten  zu 
höheren  Gebilden,  dieses  Anssichheranstreten  der  latenten  Welt 
mani&stirt  sich  klar  in  d^  gesammten  organischen  Natur  im  Triebe 
des  ICmamlnAn^  wie  im  Dichten  nnd  Trachten  des  grossen  Ganzen. 
Alles  will  werden,  weil  es  nnr  scheinbar  ist,  noch  nicht  ist,  was  es 
sein  will,  was  es  sehi  solL  Der  Mensch  pflanzt  am  Grabe  noch  seine 
Hoflhnng  au£  Das  nie  zn  befriedigende  Gef&hl,  dass  er  noch  nicht 
aDes  ans  sich  herausgetragen,  dass  er  noch  einen  besseren,  edleren 
Theil  unter  dem  Herzen  trage,  den  er  nicht  aus  sicli  herausschaffen 
kann,  verleidet  ihm  oft  das  Dasein.  Er  ist  nie  mit  sicli  zufrieden. 
Wie  anders  wollen  wir  uns  diesen  Gemüthszustand  erklären,  als  eben 
(UuUirch,  dass  der  Trieb  nach  einem  Ziele  strebt,  wozu  ihm  die  Natur 
die  Anlagen  gegeben,  das  er  jedoch  trotzdem  niclit  erreichen  kann, 
weil  die  Triebkraft  eine  imafrinäre  Grösse,  die  die  Erziehuno:  nicht 
zur  idealen  Vollen<lung  zu  bringen  im  Stande  ist.  Ein  Kraftquantum 
bleibt  latent  und  wird  nicht  frei.  Dieses  Gefühl  der  Ohnmacht  be- 
unruhigt den  gebildeten  Menschen  am  meisten,  wenn  ihn  niclit  der 
GrOssenwahn  ansterblich  macht  Der  individuelle  Trieb  ist  dei*  Boden, 
uf  welchem  die  geistigen  Elemente  der  Selbstbestünmung  aufgehen 
nnd  anter  dem  Rinflnss  der  Erziehung  bis  zn  ehiem  gewissen  Grade 
der  VoHendnng  verwachsea  Was  kann  ein  Gedanke,  der  mit  dem 
Triebe  innig  verwachsen  ist,  yon  der  Lebenskraft  fordern,  was  diese 
schädigt,  gewaltsam  unterdrückt?  Was  der  Naturtrieb  fordert,  das 


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fördert  die  Lebenskraft.  Keine  Pflanze  geht  vor  Überfluss  an  Nali- 
r\mg  zu  Grunde,  kein  Thier  Msst  sich  übersatt.  Zügellos  ist  nur  der 
Mensch,  masslos  ist  er  im  Begehren,  aber  nicht,  weil  ihn  seine  trans- 
cendentale  Freiheit  in  Widersprüche  verwickelt,  sondern  weil  das 
Onitorleben  durch  Flitterglanz  den  Trieb  zu  begehren  flbennSssig 
reizt,  die  Sinnesorgane  entwickelt  tind  das  innere  Wesen  kalt  ISsst; 
weil  dann  die  kaleidoskoi^ische  Thfttigkeit  des  Geistes  die  Beizempifai- 
dnngen  vendelfiUtigt,  die  der  Lust  schmeicheln.  Solche  Beize  gleichen 
Schmarotzergewfichsen,  die  das  Leben  zerstören. 

IIL 

Die  dem  individuellen  Triebe  immanente  moralische  Kraft,  das 
Leben  natui-gemäss  und  richtig  dem  idealen  Ziele  zuzuführen,  hat 
Sokrates  geahnt,  ohne  dass  er  die  gelieimnisvollen  tief  verboi-o^enen 
Gründe  sicli  [)sycliologisch  erklären  konnte.  (Tefragt,  warum  er  nicht 
ütfentlich  auftrete,  antwortete  er:  on  fioi  ^h6v  tl  xal  dcu^oviov  yi/vf- 
rat.  (Plat.  Apol.  p.  81  d.)  Nach  Xenophon  (Memor,  IV.  8,  5)  warnte 
ihn  dieses  Daimonion,  füi*  seine  Vertheidigungsrede  sich  voraubereiten, 
gebot  ihm  vielmehr,  sich  vom  Ernst  des  Momentes  allein  leiten  zu 
lassen,  da  sonst  die  rhetorische  Kraft  viel  einbüssen  würde.  Das 
Daimonion  nannte  er  eine  innere  Stimme,  die  von  der  Macht  Gottes 
aasgehe  (Mem.  IV.  8,  6)  und  ihm  anzeige,  was  er  Üam  könne  und 
was  er  lassen  müsse  (Mem.  L  4,  15:  a  te  rrote^  miü  a/i^;  es 
sei  dieselbe  Stimme  der  Götter,  welche  durch  Orakel  zu  den  Menschen 
rede.  Klarer  noch  suchte  er  diese  seine  Idee  in  seinen  theologischen 
Betrachtungen  durehzuftthren,  die  in  dem  Gedanken  gipfiBln: 
TtQinet  nk»  if^  a(f  t).ti\i  yiyvoneva  yvw.aijg  €Qya  slvtu*  (Mem.  I.  4,  4.1 
Er  beruft  sich  auf  den  Bau  der  Organismen,  deren  Organe  den  Be- 
dürfnissen entsprechend  eingerichtet  sind,  und  nimmt  eine  den  welt- 
ordnenden Ursachen  innewohnende  Vernunft  an.  ^^'ie  dunkel  und 
einseitig  diese  seine  tehndogische  Ansicht  sein  mag,  sie  zeigt  uns.  wif^ 
richtig  der  grosse  Philosoph  das  geahnt,  was  einer  Zukunft  auflje- 
walirt  bleibt,  klar  zu  legen.  Nennen  wii'  den  A\'eltentrieb,  der  im 
geistigen  Leben  nach  dem  Ideale  strebt,  Demiui'gos,  den  Trieb  der 
organischen  Xatur  Daimonion,  dann  sehen  wir  im  Stufengange  die 
niederen  Triebe  zu  höheren  aufsteigen,  diese  in  seelische  Gebilde  sich 
verwandeln  nnd  im  Demiurgos  gleichsam  sich  verdichten,  der  mit 
seinem  riesigen  Ersltaufwande  das  Biesengefolge  der  organischen 
Natur  im  Gang  erhält,  so  dass  jenes  GefQhl,  das  Daimonion,  wie  es 
Sokrates  nennt,  —  das  Jedem  Triebe  innewohnt,  jedes  einzebie  Wesen 


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ia  seinem  Scliwerpunkte  festhält  und  innerhalb  der  sicheren  Bahn 
semem  Ziele  zuführt. 

Die  seelischen  Gebilde  sind  in  der  That  die  edelsten  Erschei- 
nungen, dnich  die  einlndiyidnnm  als  oberstes  Natnrorgan  sichlegitimirt. 
Ein  solches  oberstes  Natnrorgaa  hat  die  höchste  Stufe  in  der  orga- 
nischen Natur  erreicht,  und  der  Trieb  nach  physischer  Vollendung, 
nach  einer  höheren  Bangstnfe,  findet  keine  Rdze  mehr  und  concentrirt 
sich  deshalb  mehr  im  Denkakt,  um  im  geistigen  Leben  das  Ideal 
seiner  inneren  Vollendung  zu  suchen.   Dieses  Ideal  baut  sich  aus 
Gedanken  auf,  aus  Gedanken,  welche  als  Erscheinungen  das  Wesen 
charakterisireii.    Solche  seelische  Elemente  sind  selbst  freigewordene 
Bestaudtlieile  des  latenten  Zustandes,  die  das  gemeinsame  Gefühl  mit 
dämonisclier  Kraft  in  ähnlicher  Weise  verleiben,  wie  die  Zellen  einer 
organischen  Einheit  zu  einem  Ganzen  sicli  sammehi.    Und  haben  die 
seelischen  (Gebilde  nicht  eine  ähnliclie  Function  wie  die  Organe  selbst? 
Freilich  haben  wir  hier  nicht  mit  greifbaren  Atoragebilden  zu  thun. 
Die  geistigen  Erscheuiungen  sind  mit  der  Individualität  eng  yerwach&en, 
hangen  mit  unserm  gesammten  inneren  Zustande  zusammen  und  warten 
des  erziehenden  Einflusses,  um  nach  innen  das  Wesen  zu  befreien, 
nach  aussen  den  Wirkungskreis  zu  erweitem  und  die  Organe  werk- 
tiiätig  zu  beschäftigen.  Durch  dieses  wunderbare  Getriebe  zieht  ein 
i&Üiselhaftes,  geheimnisvolles  OemeingefOhl,  ein  Daimonion.  Wir  sehen, 
wie  dies  alles  sich  zusammenfügt,  wie  es  leibt  und  lebt,  und  wissen 
trotzdem  nicht,  was  es  sei. 

Instinctiv,  sagen  wir,  gebrancht  das  Thier  seine  Organe.  Und 
handelt  es  nicht  so,  als  ob  ihm  die  Natur  Vorschriften  mit  ins  Leben 
gegeben  hätte?  Mit  den  Hörnern  verteidigt  sich  der  Stier,  weil  in 
diesem  Punktre  seine  Lebenskraft  sich  sammelt,  und  mit  Bewusstsein 
It'iestigt  au  diesem  Punkte  der  Mensch  ihm  das  Joch.  Die  Katze 
gebraucht  ihre  Krallen,  weil  diese  wie  zur  Verteidigung  geschatlen. 
Wer  sah  noch  niclit,  wie  kunstvoll  eine  Schwalbe  ihr  Nest  sich  baut? 
Und  wie  planmässig  genau  den  Bedüifnisseu  entsprechend  richten  die 
Bienen  ihr  Wohnhaus  sich  ein?  Ein  Bad  schlägt  die  Spinne,  nachdem 
sie  den  entsprechenden  Punkt  sich  ansersehen.  Sie  lauert  schlau  im 
Vearsteck,  bis  ein  armes  Insect  im  feuien  Gewebe  sich  verstrickt 

Oberall  stossen  wir  in  der  Natur  auf  den  Bestimmungsgrund,  der 
in  dem  entwickeltsten  Organe  liegt  Die  Spinne  mflsste,  wenn  ihre 
Beine  nicht  zu  einem  Spinnapparat  gestaltet  wilren,  für  den  Saft 
ihrer  Warzen  eine  andere  Verwendung  suchen.  Liegt  nicht  in  diesem 
von  der  Natur  ftof  em  Organ  vererbten  Bestimmungsgrunde  der 


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Causalnexus  der  mannigfiushsteii  Veränderungen  und  Bewegungren.  die. 
wie  versclüedenartig-  sie  aucli  sein  mögen,  dem  Lebenszwecke  dienen 
und  unter  Leitung  desselben  Triebes  stehen?  Wo  anders  als  im 
Naturtriebe  können  wir  jenes  dämonische  Gefühl,  das  uns  immer  am 
richtigsten  h'itet,  tindenV  „Die  Ketlexion  -  sagt  Sokrates  —  geht 
auf  das  Allgemeine  und  bedarf  eines  gewissen  praktischen  Grittes. 
eines  gewissen  Taktes,  um  in  einzelnen  Fällen  dasBichtige  zu  trettea'* 
Dieser  richtige  Griff  in  einzelnen  Fällen  kann  nur  vom  individuellen 
Bestimmtmgsgmnde  gethan  werden;  dieser  allein  wird  vom  Naturtriebe 
vnterstttt^  und  trifft  am  besten  das,  was  stimmt,  nnd  was  nicht 
stimmt 

Sollte  der  Pfidagoge,  weil  die  Natur  den  Meosclien  so  herrlieh 
aasgestattet,  somannigfiich  ihn  begabt  hat,  dass  Jeder  Einzelne  seinen 
Trieb,  sein  Ziel,  seinen  Bestimmungsgrund  innerhalb  der  Prftponderanz 
seines  organischen  Systemes  besitzt,  sollte  der  Pädagoge  das  Beeht 
sich  herausnehmen  dürfen,  den  Menschen  nach  ehiem  beliebigen  Muster 
zu  bilden,  ein  Chaos  zu  schaffen,  in  welcliem  die  persönlichen  Frei- 
heiten bunt  durcli  einander  gemengt  werden,  bis  die  Individualität 
entartet,  das  Genie  verloren  geht?  Alle  organischen  Wesen  stehen  uii 
Dienste  ilires  eigenen  Bestimmungsgrundes,  und  nur  der  Mensdi.  der 
zum  Bewusstsein  seines  Bestinimungsgrundes  kommen  srdlte,  irrt  bahn- 
los im  Wendelgange  fremdartiger  Gedankenkreise  umher  und  behauptet 
am  Ende,  „eine  freie  Wahl  verwickle  den  Willen  in  Widersprüche.'' 

Wie  ist  es  möglich,  fragen  yiele^  unserer  Pädagogen,  dass  ein 
einziges  Vorbild,  ein  einziges  Muster  so  viele  Charaktere,  so  viele  ganz 
versdüedene  Naturen  heranbilde,  richtig  erziehe?  Wie?  Haben  wir 
ans  bereits  so  weit  von  der  Natur  entfernt,  dass  sie  uns  zun  Kerker 
geworden?  Hat  diese  unabsehbar  weite  Werkstätte  dieser  Erscheinnngs- 
welt  nichts  i&r  die  kindliche  Seele,  nichts  für  das  Gtemttth,  um  es  zu 
beleben?  Ist  das  thatenreiche  Leben  dieser  Weltenbfihne  so  ungestaltet, 
dass  es  an  bildenden  Momenten  fehlt? 

Seid  ft-ei  von  allen  Fesseln  der  Wort-  und  Gredankenciiltur,  gebt 
dem  Kinde  Gedankentreiheit,  gebt  ihm  die  Natur  zurück,  und  es  wird 
sein  Inneres  selbst  befreien.  Crescit  liceutia  spiritus,  Servitute  com- 
miuuitui'.   (Seueca  de  ii-a  IL  c.  21.)  (iScliluss  folgt.) 


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Oyanad»  und  NationaMi 

Vm  Frof,  Dr,  JK,  Schatzmayer  -  Triest, 
(Fortsetmng  und  Sdüius.) 

Das  Studium  der  Xationalitcäten  ist  im  eig-entlichen  und  streneen 
Sinne  des  AVortesi  ein  Studium  an  Erwachsenen  für  Erwachsene. 
Nicht  für  Knaben  und  Jünfrlinge,  denn  diese  sind  nocli  zu  sehr  in 
Subjectivität  befangen  und  von  der  eigenen  Nationalität,  von  nationalen 
Wahnideen,  Voinirtheilen  und  Leidenschaften  beheri*scht  nnd  mehr 
oder  minder  geblendet,  als  dass  sie  im  Stande  wären,  sicli  und  andere 
Personen  oder  gar  Oesammtheiten  von  Personen  (Nationalitäten)  ruhig 
ttnd  objectiT  zu  beobachten,  za  beortheilen. 

Über  den  Dialect  nnd  andere  provinzieUe  nnd  Stammes-Eigen- 
thfimliehkeiten  im  Knaben-  nnd  JQnglingsalter  sagt  ein  Meister  in  der 
Beobachtong  des  Menschen,  kein  geringerer  als  Wolfgang  Qoethe, 
in  »Ans  meinem  Leben.  Wahrheit  nnd  Dichtung"  (Cotta'sche  Ausgabe 
in  40  Bänden,  Stuttgart  nnd  Tübingen  1855,  21.  Band,  Seite  42  ff.) 
über  sich  selbst,  wie  folgt:  „Nach  dieser  überstandenen  Prüfung  sollte 
'in  Leipzig I  abermals  eine  neue  auftreten,  welche  mir  weit  unangeneh- 
mer aufliel.  weil  sie  eine  Sache  betraf  die  man  nicht  so  leicht  ablegt 
und  umtausclit.  Icli  war  nämlich  in  dem  oberdeutschen  Dialect  pfeboren 
nnd  erzogen,  und  ob«rleich  mein  \'ater  sich  stets  einer  gewissen  Keiiilieit 
der  Sprache  befiiss  und  uns  Kinder  auf  das,  was  man  wirklich  Mängel 
jenes  Idioms  nennen  kann,  von  Jugend  an  aufmerksam  gemacht  und 
za  einem  besseren  Sprechen  vorbereitet  hatte,  so  blieben  mir  doch 
gar  manche  tiefer  liegende  Eigenheiten,  die  ich,  weil  sie  mir  ihrer 
Naivetät  wegen  gefielen,  mit  Behagen  hervorhob,  und  mir  dadurch 
von  meinen  neuen  Mitbürgern  jedesmal  einen  strengen  Verweis  zuzog. 
Der  Oberdeutsche  nämlich  drttckt  sich  viel  in  Gleichnissen 
nnd  Anspielungen  aus,  und  bei  einer  inneren,  menschenverstän- 
digen  Tüchtigkeit  bedient  er  sich  sprichwörtlicher  Redensarten.  In 


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beiden  l^'iilleii  ist  er  öfters  derb,  doch,  wenn  man  auf  den  Zweck 
des  Ausdruckes  sieht,  immer  g-ehörig;  nur  ma^  freilicli  manchmal 
etwas  mit  unteilaufen,  was  gegen  ein  zarteres  Ohr  sicli  anstössig 
erweist.  Jede  Provinz  liebt  ihren  Dialeet:  denn  er  ist  doch 
eigentlich  das  Klement,  in  welchem  die  Seele  ihren  Athem 
schöpft.  Mit  welchem  Eigensinn  aber  die  Meissnische  Mundart  die 
übrigen  zu  beherrschen,  ja  eine  Zeit  lang  aoszuschliessen  gewnsst  hat, 
ist  jedermann  bekannt.  Wir  haben  viele  Jahre  unter  diesem 
pedantischen  Regimente  gelitten,  und  nur  durch  vielfachen 
Widerstreit  haben  sich  die  sämmtlichen  Provinzen  in  ihre  alten  Bechte 
wieder  eingesetzt  Was  ein  junger,  lebhafter  Mensch  nnter 
diesem  beständigen  Hofmeistern  ausgestanden  habe,  wird 
derjenige  leicht  ermessen,  welcher  bedenkt;  dass  mit  der 
Aussprache,  in  deren  Verftndemng  man  sich  endlich  wol  ergäbe, 
zugleich  Denkweise,  Einbildungskraft,  Gefflhl,  vaterlftn- 
discher  Charakter  geopfert  werden.  Und  diese  unerträgliche 
Forderung  wurde  von  gebildeten  Männern  und  Frauen  gemacht"  u.  s.  w. 

Vor  allem  haben  Schüler  und  Lehrer  davor  sich  zu  hüten,  ihre 
ausländischen  ^fitschüler  und  CoUegen  oder  Angehörige  eines  andercD 
Volksstammes  einer  und  derselben  Nationalität  (z.  B.  Ober-  und  Nieder-, 
oder  Süd-  und  Norddeutsche.  Preussen,  Sachsen,  Baieru,  Schwaben,  ( )ster- 
reicher,  Rhein-  und  Mainfranken,  Alemannen,  Schweizer  u.  s.  w.) 
oder  Mitglieder  einer  anderen  Beligionsgenossenschaft  (Confession) 
wegen  einzelner  nicht  immer  unberechtigter  Eigenthümlichkeiten  in 
Sprache,  Glauben,  Denk-  und  Lebensweise  sofort  und  bei  jeder  Ge- 
legenheit mit  verletzendem  Spott-  und  Hohn  zu  misshandeln,  zu  ve^ 
folgen,  öffentlich  zu  beschämen  und  niederzudrücken,  zu  necken,  zu 
ärgern  und  zu  reizen,  zu  „hänsehi*',  „aufEumutzen",  „auikuziehen'' 
(in  Preossen  auch  „vexiren**,  Mkohnigehi*',  „triezen^,  „uzen**  u.  &  w. 
in  Österreich  „herunterreissen'',  „foppen**,  „tratzen**,  „sekiren"  u.  s.  w. 
genannt)  —  ein  Reiehthum  an  Synonymen,  der  den  betreffenden  Be- 
sitzern wahrlich  nicht  zum  Ruhme  gereicht! 

Wie  nun  bei  jedem  Schüler  dessen  Kiiizel- Individualität,  d.  i.  die 
Summe  der  ihm  eingeborenen  und  anerzctgenen,  ihm  eigentümlichen 
und  ihn  von  allen  übri^^en  menschliclien  Wesen  untei'scheidenden 
physischen  und  psychischen  Eigenschaften  und  Naturanlagen  nicht 
missachtet,  nicht  ertödtet  und  ausgerottet  werden  darf,  sondern  viel- 
mehr sorgfältig  studirt  und  zum  Theil  methodisch  gepflegt  werden 
muss,  wenn  der  junge  Mensch  geistig  und  köi'perlich  nicht  verkümmern 
und  verkrUppeUi,  sondern  normal  sich  entwickek  und  gedeihen  soll — : 


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80  auch  dessen  Familien-,  Stammes-  nad  Staats-Individualität»  kurz 
seine  Nationalität! 

Das  Nationalit&tsgeföhi  und  Nationalitätsbewnsstsein  erwacht  bei 
vielen  Personen  weibliclien  und  mfinnlichen  Geschlechtes  niemals, 
namoitlich  in  den  unteren  dienenden  Yolksklassen,  denen  infblge  ihrer 
Armnt  und  Unfreiheit,  ihrer  geistigen  Unentwickeltheit,  Yerkfimme* 
rang  und  VerkrAppelong,  der  ftnsseren  nnd  inneren  Yerknechtung  und 
lebenslang  za  erduldenden  Slissachtung  durch  die  hsheren  Stande 
ond  durch  Ihresgleiehenf  meist  auch  das  klare  Bewusstsein  der  eigenen 
Menschenwiii'de  und  damit  das  nöthige  Selbstgefühl,  die  natürliche  Grund- 
lage und  Vorbe(liu;^^ung  des  Nationalitüts-  und  Natiunalgefiihles,  fehlt. 

Bei  Gymnasialschülern  erwacht,  je  nach  Abstammung,  individu- 
eller Anlage,  zeitlichen  und  örtlichen  Verhältnissen  und  Ereignissen, 
das  Nationalgefülil  im  allgemeinen  um  das  14.  Lehensjahr  und  früher. 
Wer  von  meinen  Lesern  des  „Volkerfrühlings''  der  Jahre  1848  und 
1849  sich  eriimert,  wird  auch  noch  mit  einiger  Rührung  der  bunt- 
farbigen „nationalen"  Mützen  und  Brustbänder  gedenken,  welche 
damals  nicht  blos  von  bärtigen  Universitätsstudenten  und  Akademi- 
keni,  sondern  auch  von  Ober-  und  üntergymnasiasten  mit  Begeiste- 
rung in-  und  ausserhalb  der  Schulräume,  wenigstens  bei  uns  in  Öster^ 
reich,  getragen  wurden.  An  dem  Gymnasium,  das  der  Ver&sser  dieser 
Zeilen  damals  frequentirte,  standen  sich  hauptsächlich  zwei  nationale 
Parteien  fehdelustig  gegenüber,  nämlich  „Deutsche**  und  nSlaven**. 
Erstere  prunkten  mit  schwarzrothgoldenen,  letztere  mit  bhiuweissrothen 
Nationalfarben,  welche  sie  bei  jeder  geeigneten  und  ungeeigneten  Ge- 
legenheit als  Wahrzeichen  und  Symbole  ihrer  innersten  nationalen 
Gefühle,  ,. Gesinnungen''  und  Bestrebungen  hervorkehrten  und  dem 
Philistervolke  der  ^.Spatzen'*  und  „Finken*',  d.  i.  dem  Volke  der 
farl)-,  nationalitäts-  und  ,,gesinnungslosea"  Mitschüler,  Lehrlinge  u.s.  w. 
gegenüber  mit  Stolz  zur  Schau  trugen. 

Hinsichtlich  der  eigenthümlicheii  Begabung  der  Jugend  der  ein- 
zelnen europäischen  Nationalitäten  iür  gewisse  Fächer  des  Gymnasial- 
Btadiums  kann  ich  aus  eigener  Eifahrung  hier  bestätigen,  dass  z.  B. 
mdne  slavischen  Mitschüler  und  Zöglinge,  namentlich  den  Romanen 
gegenftber,  meist  durch  auffallend  richtige  Aussprache  und  schnelle 
Aneignung  des  Deutschen  sich  auszeichneten.  Die  Deutschen  hin- 
gegen interessirte  das  Studium  aller  anderen  Sprachen,  selbst  das  der 
lateinischen  und  griechischen  Sprache,  regehnässig  mehr  als  das  Stu- 
dium des  im  betreffenden  Orte  herrschenden  oder  irgend  emes  anderen 
slavischen  Idiomes. 


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1 


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Was  mm  die  sogeaannte  „Nationalbildung"  und  „Nationalerziehung**, 
namentlicli  an  den  preussischen  Gymnasien,  betrifft,  so  sagt  der  ehe- 
malige Director  des  „Pädagoginms"  der  Francke'schen  Stiftungen  nnd 
Professor  der  Pädagogik  an  der  königL  prenss.  üniTersitat  Halle  a/S., 
etc.  Dr.  Krämer,  hierüber  sehr  charakteristisch:  „Die  beiden  Wurzeln,  ans 
denen  alles,  was  im  Gymnasium  geschieht,  hervorwachsen  muss,  wenn 
es  sein  Ziel  erreichen  soll,  sind:  lebendiger  Glanbe  und  lebendiges 
Nationalgefühl  oder  Patriotismus.**  —  In  unmittelbarer  Beziehung 
zu  diesem  obersten  Ziele  und  Endzwecke  prensslscher  Gymnasialbildung 
steht  der  Unterricht  in  der  Relijrion,  dem  Deutschen  nnd  der  vater- 
ländisclien  (preussischen)  Geschichte,  welclie  Lehrgegenstände  nebst 
anderen  bekanntlich  fast  nur  als  „Mittel  zum  Zweck'*  betrachtet  und 
behandelt  wurden. 

Oder,  wie  Kram  er  an  einem  andern  Orte  sagt:  ,,Die  Wurzeln 
aller  Bil(liui<i-  ruhen  in  der  Keliij:ion  und  der  Nationalität,  so  dass  die 
wahre,  tiefe  und  energische  Bildung  vor  allem  von  der  Pflege  des 
religiösen  und  nationalen  Lebens  und  Bewusstseins  in  dem  Zöglinge 
abhängt."  — 

£s  ist  aber  ein  verhängnisvoller  Irrthum,  wenn  man  glaubt, 
dieses  Ziel  durch  den  blossen  Unterricht  in  den  genannten  Lehrgegen- 
stAnden  erreichen  zu  kdnnen.  Ist  der  im  Lande,  in  der  Schule  und 
in  der  Familie  des  Schillers  herrschende  6^t  kein  religiöser  nnd  na- 
tionaler, so  wird  der  auf  die  Erweckung  religiösen  und  patriotischen 
Sinnes  gerichtete  Unterricht  entweder  ohne  Wirkung  bleiben  oder  das 
gerade  Gegentheil  des  Beabsichtigten  henrorrufen. 

Was  die  Verwendung  der  einzelnen  Gymnasialfächer  zur  Jugend- 
bildnng  Uberhaupt  und  besonders  zur  Weckuno:  des  Nationalsinnes  und 
Patriotismus  im  engeren  und  weiteren  Sinne  anbelangt,  so  haben  wir 
hier  zunächst  zu  bemerken,  dass  das  classische  Alterthum  als  eine 
Vorhalle  zu  betrachten  ist,  durch  welche  die  Gymnasialjugend  in 
das  Vei-ständnis  der  Gegenwart  und  Zukunft  eingeführt  werden  soll. 

In  Bezug  auf  deu  Unterricht  in  der  Deutschen  National- 
Literatur  sagte  schon  Herder  in  einer  im  Jahre  1796  im  Gymna- 
sium zu  AVeimar  gehaltenen  Bede  sehr  nchtig  und  für  heute  noch 
mnstergiltig:  „Das  laute  Lesen  der  besten  Schriften  in  jeder  Art 
des  Vortrages,  Erzählung,  Fabeln,  Geschichte,  Gespräche,  Selbstge- 
spräche, Lehrgedichte,  EpopOen,  Oden,  Hymnen,  Lust-  und  Trauer- 
spiele in  Gegenwart  Anderer  oder  mit  Anderen,  ohne  Zwang,  in  der 
natttrlichsten  Art,  gibt  der  Bede  sowol  als  der  Seele  selbst  eine 
grosse  Vielförmigkeit  und  Gewandtheit.  Von  der  Fabel,  vom  Härchen 


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—  211  — 


an,  durch  alle  Gattnngen  deä  Vortrages  sollte  das  Beste,  was  vir  in 
unserer  Sprache  sowol  in  eigenen  Producten  als  in  Übersetzungen 
haben,  in  jeder  woleingerichteten  Schule  durch  alle  Classen  laut  ge- 
lesen und  erklftrt  werden.  Kein  classiseher  Dichter  nnd  Prosaist 
sollte  sein,  an  dessm  besten  Stellen  sieh  nicht  das  Ohr,  die  Znnge, 
das  Gedächtnis,  die  Einbildongakraft,  der  Verstand  nnd  Witz  lemr 
begier^fer  Schüler  gefiht  hätte:  denn  nnr  anf  diesem  Wege  sind  Grie- 
ehen,  BOmer,  ItaM^ier,  Franzosen  nnd  Briten  ihrem  edelsten  Theü 
nach  zn  gebildeten  Nationen  geworden.  Alkibiades  gab  einem  Sehnl« 
meister  zn  Athen  eine  Maulschelle,  da  dieser  den  ersten  classischen 
Dichter  seiner  .Sprache,  den  Homer,  nicht  in  der  Schule  hatte;  und  vne 
fleissig  die  Griechen  ihre  besten  Schriftsteller  lasen,  klingt  für  unsere 
barbarische  Zeit  beinahe  wie  ein  altes  Män  lu^n.  In  Italien  weiss  der 
gebildete  Theil  der  Nation  ilii  e  classischen  Dichter  fast  auswendig.  Wir 
Deutliche  hingegen  sind  hierin  sehr  nachgeblieben.  In  den  Schulen 
sollte  das  Edelste  und  Beste  laut  gelesen,  auswendig  gelernt  und 
in  Herz  und  Seele  befestigt  werden.  Wer  unter  euch,  ihr  Jünglinge, 
kennt  Uz  nnd  Haller,  Kleist  und  Klopstock,  Lessing  und  WinkeUnann 
(und,  fügen  wir  im  Jahi*e  1881  hinzu,  Herder,  Goethe,  Schiller  nnd 
die  Dichter  des  19.  Jahrhunderts!),  wie  die  Italiener  ihren  Ariost  und 
Tasso,  die  Briten  ihren  Milton  und  Shakespeare,  die  Franzosen  so 
viele  ihrer  Schriftsteller  kennen  und  ehren?** 

Das  immer  selbstständiger  werdende  häusliche  Studium  und  die 
FiiyaÜectttre  der  deutschen  dassiker,  welches  den  Schfilem  der  ober- 
sten Classen  der  Gymnasien  und  Bealschulen  das  angemessenste  sprach- 
liche Studium  ist,  fühi-t  den  Jüngling  auf  freundliche  Weise  tief  und 
tiefer  in  den  Schatz  vaterländischer  Dichtung  und  Wissenschalt  ein, 
wie  er  in  den  Meisterwerken  unserer  Literatur  aufbewahrt  liegt  und 
als  ein  lieiliges  Krbe  der  Nation  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  über- 
liefert M'erden  soll.  ,.Es  war*',  sagt  Stockmayer,  „einer  der  gluck- 
lichsten Gedanken  von  Philipp  Wackernagel,  in  dem  8.  Theile  seines 
Lesebuches  hauptsächlich  die  Epoche  der  Freiheitskriege  in  Poesie 
and  Prosa  zur  Jugend  reden  zu  lassen.  Auf  diesen  geweihten  Boden 
unserer  grossartigsten  nationalen  Erinnerungen  unsere  Jugend  zu 
f&hren,  ist  schon  die  mittlere  Stufe  der  höheren  Schulen  der  geeignete 
Ort  Es  ist  in  der  That  eine  Schande,  wenn  die  classischen  Dar- 
stelimigen  jener  Nationalepoche  in  der  Bildung  der  Vaterländischen 
Jugend  nicht  euien  ebenbfirtigen  Platz  neben  den  Mustern  altdassi- 
seher  G^eschichtschreibung  einnehmen.*'  Dabei  dürfen  aber  unsere  mittel- 
hochdentsdien  und  modernen  dassiker  (das  Nibelungen-  nnd  Eudmn- 


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—   212  — 


lied,  Walther  von  der  Vogehveide.  Freidank,  Grillparzer  u.  s.  w.)  und 
au(di  die  l'lassiker  anderer  üs;terreii-liischer  Nationalitäten  nicht  vei*- 
nachlässigt  oder  gar  geflissentlich  todt geschwiegen  werden! 

Was  die  Verwendung  der  Geschichte  zum  Zwecke  vaterländisch- 
nationaler Bildung  der  Gymnasialjugend  und  zur  Weckung  vatei'län- 
dischen  Sinnes  anbelangt,  so  äussert  sich  hiei*über  das  öfter  citirte 
Gesetzbuch  der  Gymnasien  nnd  Realschulen  in  Österreich  vom  Jahre 
1849  in  fast  allzu  bescheidener  Weise  so:  „Die  neuere  Geschichte  im 
TJntergymnasinm  wesentlich  als  Geschichte  des  österreidiischen  Staates 
zu  behandehi  und  die  bedeutendsten  Ereignisse  anderer  Staatm  nur 
einzureihen,  wo  sie  mit  Österreich  in  Beziehung  treten,  oder  sie  als 
Episoden  der  Geschichte  einzuflechten,  wird  zur  Nothwendigkeit  durch 
die  Bildungsstufe  der  Schttler,  welchen  diese  Geschichte  vorgetragen 
werden  soll.  VV'ol  lässt  sich  die  neue  Geschichte  eines  Hauptstaates 
in  ihren  Grundzügen  auch  schon  diesem  Alter  zugänglich  machen 
und  dadurch  für  eine  spätere  Behandlung  der  allgemeinen  neueren 
Geschichte  weniirstens  ein  Faden  des  chronologischen  Zusammenhanges 
gewinnen."  —  Dass  dieser  ..eine  Hauptstaat"  für  österreichi- 
sche Gymnasien  kein  anderer  als  der  österreichische  sein 
kann,  versteht  sich  wol  von  selbst,  ist  aber  gewissen  in  Öster- 
reich selbst  unter  Schülern  herrschenden  antiösterreichischen  Tendenzen 
gegenüber  durchaus  nicht  überflüssig,  besonders  zu  betonen  nnd  hen  or- 
zuheben.  „Das  letzte  Semester .  der  vierten  Olasse  (Tertia)  hat  die 
Ergebnisse  des  historisch-geographischen  Unterrichtes  zu  einer  Über- 
sicht des  gegenwärtigen  Zustandes  zu  vereinigen.  Dies  geschieht 
am  ausführlichsten  für  das  Vaterland  (sit  venia  verbot)  durch  die 
p  opuläre  Vaterlandskunde,  welche  nicht  eine  Menge  von  statisti- 
schen Zahlen  häufen,  sondern  die  Schüler  im  Vaterlande  nach 
seinem  gegenwärtigen  Zustande  in  allen  diesem  Alter  rer- 
ständlicheu  Beziehungen  orientiren  soll." 

Die  Geschichte  der  neueren  Zeit  ist  an  den  österreichischen  Ober- 
gvmnasien  „nicht  als  vaterländische,  sondern  als  allgemeine  Ge- 
scliichte  zu  behandeln"  u.  s.  w.  Vergl.  hierzu  „Protokolle  der  im  Oc- 
tober  187B  im  Kr»niglich  Preussischen  Unterrichts-^Iinistrrium  über 
verschiedene  Fragen  des  höheren  Schulwesens  abgehaltenen  Conferenz" 
(Berlin  1874)  fcieite  122  u.  ff.:  „Man  hat  den  ööeutlicheu  (preussischen i 
Schulen  neuerdings  den  Vorwurf  gemacht,  dass  sie  sich  die  Pflege  des 
Bewusstseins  deutscher  Nationälität  zu  wenig  angelegen  sein  lassen." 

Oymnasialdirector  Dr.  Jäger  von  Köln  glaubte  nun  in  seinem 
Beferate  über  diese  Frage  Nr.  7  der  Vorlage  sich  dahin  ausbrechen 


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zu  müssen,  dass  durch  die  Ereignisse  der  Jahre  1866  und  1870  der 
deitsche  Nationalstaat  geschaffen  worden,  und  dass  nun  „der  Dualis- 
mits  zwischen  preosaischem  Staatsgeffthl  und  dentschem  National- 
tewnsBtsdn  beseitigte*  sei  Bei  der  Nothwradigkeit  einer  energischen 
uid  ngewissennassen  egoistischen^  prenssischen  Politik,  webhe  in 
imfiBrtigen  Znstftnden  Deotsddands  ihre  Veranlassung  gehabt  habe, 
sei  vor  den  Jahren  1866  und  1870  auch  in  der  Schnle  von  Schnl- 
rSthen,  Directoren  und  Lehrern  die  Betonung  deutschen  National- 
bewusstseins  mit  einem  gewissen  Misstrauen  betrachtet  worden. 
Jetzt  dagegen  sei  man  in  der  glücklichen  Lage,  preussisches 
Staatsgefühl  und  deutsches  Nationalbewusstsein  zusammen 
in  der  Jugend  zu  pflegen,  und  zwar  so,  dass  man  in  den  alten 
Provinzen  von  dem  preussischen  Staatsgefühl  ausgehend  das  deutsche 
Xationalgefühl  stärken  könne  und  in  den  neuen  Landestheilen  sich  an 
das  deutsche  Nationalbewusstsein  wenden  müsse,  um  dadurch  das 
preussische  Staatsgefühl  zu  wecken. 

Zu  diesem  Zwecke  sei  nun  neben  der  Ausschmückung  der 
Classenzimmer  und  der  Aula  mit  Bildern  aus  der  vaterländischen  Ge- 
sddchie,  Au&tellung^  von  Gedenktafeln  mit  den  Namen  der  im  Kampfe 
ftr  das  Vaterland  gefieülenen  Schaler  der  Anstalt  n.  dgl.  mehr,  neben 
den  Schulfeeten  (Geburtstag  des  Königs,  die  feierliche  Ignthwsnng  der 
Abitarienten,  die  Feier  des  Sedaatages  u.  s.  w.),  neben  Einübung  und 
Abshigong  patriotisdier  Lieder  auf  Spaziergängen,  bei  Tum-  und  an- 
deren Seelen,  neb^  dem  Unterricht  im  Gesang,  im  Dentschooi  und  in 
anderen  Lehrgegenständen  vorzüglich  der  Unterricht  in  der 
Geschichte  geeignet. 

Hinsichtlich  der  Prima  (in  Östen-eich  die  VIII.  Classe)  hielt  es 
der  Referent  für  „unmöglich,  an  der  seitherigen  Ausschliessung  der 
Geschichte  von  1815  bis  1870  festzulialteu."  Wenn  man  früher  l)eim 
.lahie  1810  als  an  der  Schwelle  eines  „unbefriedigenden  Geschichts- 
abschnittes^  Halt  gemacht  habe,  so  sei  jetzt  der  Grund  füi'  das  bis- 
herige Verfahren  beseitigt 

Diese  Auseinandersetzung  und  Befürwortung  fand  mit  Ausnahme 
der  Ultramontanen  (Beichensperger  u.  Genossen)  die  allgemeine  Zu- 
stimmimg der  versammelten  Oonferenzmitglieder.  Und  auch  Dr.  W. 
Schräder,  Geh.  Begiemngs-  und  Provinzialschulrath  eto,  und  viele 
Andere  empfehlen  auf»  wftrmste  znr  Hebung  der  „so  rasch  gesunkenen 
Idealität**  der  deutschen  GymnasiaQngend,  die  sich  auf  den  Schlacht- 
feldem  von  1866  und  1870  so  herrlich  bewährt  habe,  „die  positive 
An%abe,  die  Liebe  zu  König  und  Vaterland  in  den  Herzen  der 

PtodufogiinB.  4.  Jakcf.  Haft  IV.  15 


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—   214  - 


Schüler  zu  nähren",  sie  zur  ,.bes(  lifci{lenen  und  warmen  Anhänf^lichkeit" 
an  ilire  Heimat  zu  leiten,  und,  wo  es  das  Alter  der  Zöglinge  ge- 
stattet und  die  Natur  des  Unterriclitsg^enstandes  mit  sich  bringt, 
„mit  entschiedener  Klarheit  der  Auffassung  und  mit  Festigkeit  der  Über* 
zengnng  gegen  die  unruhige  und  vergängliche  Tagesthorheit  zu  warnen.'^ 

Der  weise  Lehrer  wird  bei  aller  Bewondenmg  und  Verehning 
der  grieebischen  dassiker  „nicht  vergessen,  den  Primanern  fllblbar  za 
machen,  dass  die  ungebundene  Yolkskraft  in  raschem  Anilodem  anch 
sieb  rasch  Terzehrte",  dass  die  Hellenen  „im  Glänze  der  Kunst 
und  in  der  BlUte  der  Freiheit  unglücklicher  waren,  als  die  meisten 
glauben^  dass  sie  „den  Keim  des  Unterganges  in  sidi  selbst  trugen'S 
und  dass  „d^  Baum  umgehauen  werden  mnsste,  als  er  faul  geworden.*' 
Dagegen  sei  die  Vaterlandsliebe,  die  Hingabe  an  das  Allgemeine,  die 
„strafte  Rechtsordnung"  in  dem  römischen  Leben  so  grossartig  ausge- 
bildet und  in  so  zahlreichen  Mustern  vorhanden,  dass  sie  auf  das 
jugendliche  (4eniUth  mit  fesselnder  und  zugleich  erhebender  Gewalt 
einwii'ken  und  zur  „idealen  Gesittung"  der  Jugend  eigenthümliche, 
diU'cb  nichts  zu  ersetzende  Hilfe  leisten. 

Kehren  wir  nun  zu  den  Bestimmungen  und  Vorschi  ilten  des  öster- 
reichischen „Organisationsentwurfes''  für  Gymnasien  und  Kealschalen 
zurück.  Demgemäss  darf  im  Geschichtsunterrichte  am  Obergymnasium 
der  Blick  „nicht  einseitig  beschränkt^,  „das  Verhältnis  von  Ui^sache 
und  Wirkung  nicht  verschoben^  werden;  es  mnss  „die  Freiheit 
bewahrt  werden,  den  Schwerpunkt  der  Darstellung  wechselnd  auf 
den  Staat  zu  legen,  von  weldiem  eine  neue,  weltgreifende  Bewegung 
ausging.**  Gibt  es  wol  eine  selbstlosere  Auffassung  der  Behandbmg 
des  Oesdiichtsunterricbtes  an  Gymnasien  und  Beslsdiulen,  als  diese 
österreichiscbe?  — 

„Nur  in  dieser  Weise  kann  jede  Entwickelung  üirem  eigen- 
thümlichen  Wesen  nach  verstanden"  werden;  „eine  Behandlung  der 
gesamniten  neueren  Geschichte  am  Faden  der  Geschichte 
Eines  iStaates*',  also  speciell  des  österreichischen,  würde  auf 
viele  der  wichtigsten  Ereignisse  nur  ein  halbes,  unsicheres 
Licht  fallen  lassen.'' 

„üa  für  die  Geschichte  Österreichs,  welche  in  der  obereten 
Gymnasialchisse  zu  behandeln  ist,  bereits  die  Kenntnis  der  allge- 
meinen  Geschichte  der  mittleren  und  neueren  Zeit  vorausgesetzt 
werden  muss,  so  ist  als  der  eigentlich  neue  Gegenstand  des  Unter* 
richtes  die  zusammenhängende  innere  Entwickelung  des  Österreichischen 
Staates  zu  betraditen,  während  seine  Beziehungen  zu  den  ttbrigen,  in 


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freosdliche  und  feindliche  Berührung  mit  ihm  tretenden  Staaten  nur 
eimn  Anlass  za  "wiederholender  Erinnemng  an  das  bereits  Grelemte 
bilden."    Wenn  an  österreichiachen  Gymnasien  auch  Vaterlands- 
knnde  ond  die  Statistik  des  Osterreichischen  Staates  gelehrt 
wird,  80  ist  hierbei  so  wenig  wie  beim  gesammten  historisehoi  nnd 
geographischen  Unterrichte  die  Absicht»  vages  politisches  Baisonnement 
in  die  Schnle  etnznffihren»  vielmehr  soll  „ttber  die  wesentlichsten 
factischen  Verhältnisse  der  Gegenwart  Belehrung  gegeben 
werden.**    Über  die  einzelnen  Theile  nnd  die  Angehörigen  seines 
Staates  und  Vaterlandes  geographisch  und  ethnographisch,  nach  Abstam- 
mnng,  Sprache  und  Religion,  über  die  Landesproduction,  über  Gewerbe 
und  Handel  nach  ihren  Hauptbezielmnoren  zu  den  einzelnen  Theilen 
df^  Staates  und  zu  auswärtigen  Ländern,  über  die  Verfassung  des 
e^^-animten  Reiches,  über  die  Organisation  der  Verwaltung  und  der 
Rechtspflege,  über  diese  und  damit  zusammenhängende  Punkte  genaue 
Kenntnis  zu  besitzen,  ist  doch  wol  gegenwärtig  ein  unleugbares  Be- 
dürfnis jedes  Gebildeten  und  also  auch  eines  Schülers  der  obersten 
Classe  eines  Gymnasiums  nnd  des  angehenden  Gelehrten  und  Staats- 
beamten. 

10t  Becht  sagt  Thilo:  „Die  Schulen  sind  die  Organe,  durch 
welehe  die  staatlich  geordnete  Nation  das  Interesse  ihrer  Bildung 
aach  allen  'Stufen  und  Seiten  hin  wahrgenommen  sehen  wüL  Es  darf 
keinen  Unterschied  machen,  ob  die  Schule  eine  Privatschule  oder  ob 
se  gegründet  und  erhalten  'werä»  von  einer  besonderen  kirchlichen 
Gememschaft  oder  von  der  bürgerlichen  Commune:  sie  dürfen  alle- 
sammt  zu  keiner  Bildunp:  Veranlassung  geben,  welche  anti- 
national  ist,  sondern  sie  haben  für  ihr  Bestehen  nur  Siun  und  Recht, 
wenn  sie  zur  Förderung  des  in  der  Nation  pulsirenden  eigenthümiichen 
Lebens  wolgeeignete  Organe  sind.  Eine  jede  (Gattung  von  Schulen, 
eine  jede  Schulclasse,  wie  sie  selbst  in  ihren  Einriditungen  das  Ge- 
präge ihrer  Nation  aufweisen  niuss,  hat  von  ihrer  Stelle  aus  die 
Forterhidtung  des  nationalen  Lebens  zum  wesentlichen  Gegenstande 
ihrer  so  wichtigen  Thätigkeit.  Gymnasium  und  Bealschule  haben 
■icht  weniger  die  Angabe,  Anstalten  zur  Bildnng  der  nationalen 
Sitten  im  Leben  ihrer  Zöglinge  zu  sein,  als  die  Volksschulen.  Die 
Zwecke  der  Gelehrsamkeit  und  der  allgemeinen  Bildung  dttrfen  den 
Angaben  der  Nationalerziehung  keinen  Eintrag  thun.**  Ein»  latini- 
atreode,  ftberhanpt  entnationalisirende  Jesnitenschule  ist,  wie  eine 
frsnaOsbvnde  Anstalt  ftr  die  sogenannte  Noblesse  unter  uns,  „em  die 
Kation  so  sehr  sdiindendes  und  ihr  widersprechendes  Institut,  wie 

15* 


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wenn  man  in  einer  edle  Kosse  erzeugenden  Landschaft  Gestüte  zur 
Züchtung  krüppelhafter  Bassen  anlegen  wollte.'^ 

Das  erste  und  vollkommenste  Bildongsmittel  zur  Wecknng  vater- 
ländischen Sinnes  In  der  SchnJijuj^end  ist  die  Muttersprache.  Nach 
der  Art  und  dem  Grade,  wie  jemand  seiner  Stammes-  und  Volksge- 
nossen Kede  und  Schriftwerke  verstehen,  lieben  und  üben  gelenit  liat, 
werden  wir  ilin  für  nationalgebildet  oder  natioualungebildet  ansehen. 
Zur  Muttersprarhe  gfelnirt  das  Lied,  das  geistliclie  und  das  weltliche, 
und  vaterländische  Musik  überliaupt.  Wer  musikalisches  Gehör  imd 
.  musikalischen  Sinn  besitzt,  der  weiss,  welche  Kräfte  aus  dem  wunder- 
baren Quell  der  Musik  sprudeln.  Und  wenn  es  wahr  ist,  dass,  wie 
der  Vater  der  wissenschaftlichen  Erdkunde,  C.  Ritter,  bemerkt  hat» 
zwischen  der  Bodenbeschaffenheit  und  gesammten  Physiognomie  einer 
Landschaft  und  der  Natur  und  Sinnesart  ihrer  Bewohner  eun  tief- 
innerer cansaler  Znsammenhang  besteht,  so  wäre  damit  die  Thatsache 
hinlänglieh  erklärt,  dass  gelungene  Zeichnungen  und  Gemälde  von 
einzelnen  Personal  und  OegenstSnden  sowol,  wie  von  ganzen  Land- 
schaften unserer  Heimat  emen  tief^,  nicht  selten  unauslöschlichen 
Eindruck  auf  uns  machen. 

Die  heimische  Mundart  und  die  vaterländische  Musik  sind  die 
rührendste  und  mächtigste  Vaterlandskunde  in  Wort  und  Ton;  daran 
fügen  sich  landschaftliche  und  geschichtliche  Darstellungen  in  Malerei, 
Bau-  und  Bildhauerkunst.  Wie  könnte  eine  gebildete  Jugend  nicht 
vernehmen  wollen,  was  die  Väter  gethan  und  gedacht,  wie  sie  lebten» 
wie  sie  wohnten,  sich  kleideten  in  Freude  und  Trauer,  wie  sie 
arbeiteten  und  sich  ergOtzten  in  Spiel  und  Sdierz.  Vor  allem 
kommt  es  darauf  an,  die  wahrhaft  grossen  Männer  des  Volkes,  seine 
Helden,  der  Jugend  in  anschaulidien  Bildem  Yorzuffihrea.  Der  Ge- 
schichtsunterricht am  Gymnasium  hat  es  weniger  mit  den  Yolks- 
massen  zu  thun,  als  vielmehr  mit  den  Fflhrem  derselben,  mit  den 
hervorragenden  Persönlichkeiten,  in  welchen  sowol  einzelne  Eichtungen 
wie  diis  gesammte  geistige  Leben  eines  Volkes  zum  Aus<lrucke 
gelangt. 

Man  kann  die  Verfiassung  und  Institutionen  seines  Vaterlandes 
aufs  genaueste  kennen  und  doch  dabei  ein  herzlich  schlechter  Patriot 
sein,  und  umgekehrt!  Das  Herz  und  Gemftth  der  Jugend  vateriändisch 
zu  stimmen  und  zu  begeistern  vettnag  nicht  der  blos  tlieoretisdi  ge- 
bildete und  gelehrte,  sondern  vor  allem  der  vaterlandsliebende 
Lehrer,  üm  das  Taterland  handelt  es  sich  in  allen  Perioden  unserer 


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Geschichte,  dem  Vaterlande  dienten  und  opferten  sich  unsere  Helden, 
die  Vorbilder  unserer  Gymnasial-  und  Universitätsjugendl 

Aach  der  Unterridit  in  der  Geographie  kann  der  nationalen 
Bfldnng  za  gate  kommen.  Schon  die  Betrachtnng  der  Grenzen  des 
Vaterlandes,  me  viele  Gedanken  über  des  Vaterlandes  wechsehide 
Grosse  mnss  sie  anregenl  Die  Besdireibang  unserer  Berge,  Ebenen, 
FMsse,  Stftdte,  Seen,  Meere,  —  der  Burgen  unserer  Herrscher- 
geschlechter, der  Natur-  und  Knnstsehfttze  unserer.Bergwerke,  unserer 
Residenzen  und  Universitätsstftdte:  wie  viele  nationale  Erinnerungen 
bergen  sie  in  ilireni  Schosse!  Noch  ist  der  geographische  Unterriclit 
("besonders  iii  den  (i}inna8ien  Deutschlands)  nicht  in  die  Rechte  ein- 
gesetzt, die  ihm  auch  von  Seiten  der  nationalen  Bildung  gebühren. 

Der  Weg  zur  wahren  Freiheit  fiihrt  durch  das  Gesetz.  Die  mit 
Ausnahme  der  Sklaven-Majoritäten  freien  Staaten  des  Alterthums  hatten 
die  strengste  Jugenderziehung,  und  das  stolze  Bewusstsein  (  civis  roma- 
nu.s  sum!  etc.),  welches  sie  schon  ihren  Jünglingen  anbildeten  und 
welches  sie  nährten  und  stärkten  in  ihren  Ringschulen  (Gymnasien) 
durch  Übung  in  körperlicher  Tüchtigkeit  und  Gewandtheit,  war  in 
ihren  besten  Zelten  unzertrennlich  von  Scheu  vor  den  Göttern  und 
Ehrfurcht  yor  der  Obrigkeit  Der  Gehorsam  gegen  die  Gesetze  des 
Staates  galt,  besonders  bei  den  Spartanern,  so  hoch,  dass  ein  Tadel 
dieser  Gesetze  in  Gegenwart  jüngerer  Leute  nicht  eriaubt  war,  weil 
man  die  Wol&hrt  der  Staaten  nicht  sowol  in  der  Vortrefflichkeit  der 
Gesetze  suchte,  als  in  der  sittlichen  Scheu  vor  ihrem  elirwürdigeu 
Ursprünge  und  in  ihrer  gewissenhaften  Befolgung. 

Die  Schule  ist  nicht  das  einzige  Institut,  das  in  nationaler  Hin- 
*iicht  erziehend  und  bildend  zu  wii'ken  vermag.  Auch  hier  hat  vor 
allem  die  Familie  des  Schülers  mit  der  Schule  zusammenzu\\  irken. 
Hau.<  und  Schule  müssen  stets  eins  au  dem  andern  Fühlung  bclialteu. 
Jeder  bedeutende  Staat  hat  überdies  in  seinen  Anstalten  tui*  die 
Pflege  des  Gemeinwesens,  fUr  die  öffentliche  Bechtsverwaltung,  in 
seiner  Heeresverfassung,  wie  z.  B.  Preussen,  in  seiner  Presse,  wie 
z.  B.  England,  Belgien,  Frankreich,  die  Schweiz,  Österreich  etc.,  in 
aDea  Zwägen  der  bürgerlichen  Thfttigkeit  und  des  Vereinswesens,  in 
Gewerbfleiss»  Kunst  und  Wissenschaft,  in  seinen  Theatern,  Volksfesten, 
Denkoiftleni,  Museen  und  Bauwerken,  in  den  Höfen,  den  bäuerlichen 
so  gut  wie  den  ffirstächen,  ebenso  yiele  Mittel,  massgebend  und 
Ordernd  auf  die  Entwickelung  nationalen  Lebens  einzuwirken. 

VorBchriften  allein  ohne  Beispiel  und  Vorbüd  helfen  wenig,  wenn 
in  eiuem  Staate  kein  Sinn  für  staatliches  und  nationales  Leben,  vor- 


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züglicli  in  den  oberen,  tonangebenden  Scbicliten,  vorhanden  ist.  Eine 
durcli  die  Schule  zu  schattende  Nationalbildung  rauss  eine  Nation  zur 
Grundlage  haben,  die  sich  selbst  als  ein  lebendiges  und  eigenartiges 
Ganzes,  als  Organismus  fühlt,  und  die  der  Schule  etwas  diesen  Gef  ühlen 
fintsprechendes  mittheilt  Von  aussen  anstfirmende  Feinde  und  IteToli> 
üonen  finden  an  einem  so  festgef&gten  National-  oder  aneh  Nationalit&te&- 
Staate  den  sichersten  Widerstand. 

„Das  letzte  Ziel  nationaler  Bfldung  und  Erziehung*^,  sagt  Hei* 
land  treffend,  „kann  f&r  die  Schule  nur  darin  hestehen,  den  Buhn 
unsers  Volkes  und  die]  Tugenden  der  Vftter  auf  die  Söhne  zu  bringen 
als  ein  heiliges  Erbe,  welches  zu  wahren  und  zu  mehren  sie  bentfen 
sind."  Schulen,  die  dazu  die  Jugend  heranbilden,  wirken  wahrhaft 
national.  Je  mehr  das  öfientliche  Leben  getragen  wird  von  nationaler 
Gesinnung,  je  mehr  die  Sitten  und  Tugenden  der  Väter  iu  den 
Familien  gewahrt  und  gepflegt  werden,  desto  kräftiger  und  reicher 
werden  sie  auch  in  den  iSclmlen  aufsprossen,  und  die  Schulen  werden, 
wie  sie  in  dieser  Hinsicht  Anregung  von  aussen  empfingen,  so  auch 
ihrei-seits  Anregung  nach  aussen  geben  köimen.  Dann  wird  die  Feier 
vatei'ländischer  Festtage  in  unseren  Schalen  keine  blosse  Bedeübung 
mehr  sein.  Mit  den  Herzen  unserer  Jugend  werden  dann  auch  die 
Feuer  auf  unseren  Bergen  wieder  aufSamnien  und  Lehrer  und  Schfiler 
werden  ihrer  staatlichen,  d.  i  ihrer  wahrhaft  nationalen  Aufgaben 
sich  wieder  erinnern.  Die  Schule  wird  keine  Zwangsanstalt  mehr 
sein  und  unsere  Gymnasial-  und  üniversitätsjugend  wird  lieber  die 
Turnplätze  als  die  Lustorte  der  Verweichlichung  und  Entartung  auf- 
suchen. Unsere  Knaben  und  Jfinglinge  werden  eine  Ehre  darein 
setzen,  frisch,  froh  und  frei  zu  werden  und  zu  bleiben,  um  neben 
einem  gebildeten  Geist  einen  starken,  gewandten  und  wehrhaften 
Körper  zur  Selbstvertheidigung  und  zum  Schutze  des  Vaterlandes 
zu  haben.'' 


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Wiener  Geschichten. 

Fo»  Ih-,  Friedrich  Dittea. 
IV. 

Schuljahr  1878 — 1879  war  unter  schweren  Sorgten,  aber  ohne 
Unfall  zii  Ende  gegangen,  und  die  Ferien  hatten  begonnen.  Während 
•lersiflhen.  es  war  <iin  5.  September  1879,  erhielt  ich  ans  Innichen  in 
Tirol  einen  i^rief  von  Frau  Dr.  Tliurnwald.  des  Inhaltes,  dass  ihr 
Gatte  schwer  erkrankt  sei.  Der  in  der  Blüte  der  Jahre  stehende, 
mit  einer  äusserst  günstigen  C!onstitution  ausgestattete  und  in  den 
glacküchsten  Familienverhältnissen  lebende  Mann  war  plötzlich  von 
emem  Schlaganfalle  betroffen  worden;  dieser  geföhrlirlie  Vorgang 
ktte  deh  in  kurzen  Intervallen  viennal  wiederholt»  und  die  Ärzte 
Itttten  eine  sehwere  Zerrttttnng  des  Nervensystems  constatirt 

Ohne  Zweifel  waren  die  Schicksale  des  Pädagogiums  eine  Haupt- 
nsache  der  Krankheit  Thnmwald's.  Ohwol  mit  einem  heiteren,  jeder 
machnldigen  Lebensfreude  offenen  Temperamente  begabt,  wurde  er 
doch,  vermöge  seiner  streng  sittlichen  Gesinnung  und  seiner  Begeiste- 
rung für  Wahrheit  und  Becht,  durch  alles  unlautere  Wesen  in  hohem 
Grade  empört,  nnd  die  Umtriebe  gegen  das  Pädagoeiuni ,  in  die  er 
genau  eingeweiht  war,  hatten  ihn,  obgleich  sie  nidit  ilirect  und  über- 
wiegend iiin  selbst  trafen,  seit  Jahren  tief  verletzt  und  aufger»'frt- 
Kr  war  nicht  der  Erste,  dem  dies  widerfahren  war  ....  Der  Dienst 
au  dieser  Anstalt  setzte  eben  eine  aussei-gewöhnliche  Widerstands- 
fähigkeit voraus.  Wer  dem  l'ädagogium  nicht  blos  einige  Plücht- 
standen,  sondern  seine  ganze  persönliche  Hingebung  widmen  wollte, 
der  hatte  sich  von  Anfang  an  sagen  mögen:  „Lasst  die  Hoffnung 
draossen!"  Nicht  Jeder  kann  die  Wunden  ertragen,  welche  der  Con- 
lliet  zwischen  Ideal  und  Wirklichkeit  edleren  G^müthem  sdü&gt 
Auch  ich  habe  in  dreisehn  langen  Jahren  die  Tragödie  des  Kampfes 
m  die  höchsten  Güter  der  Menschheit  zur  Genttge  empfunden  und 
ndek  gar  oft  aus  den  engen  Mauern  der  Berufestätte  hinauagewfinscht 
iD  eine  offene  Feldsehlacht  Auch  ich  habe  bisweilen  die  Grenzen 


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—   220  — 


meiner  Widerstau dskraft  gefühlt  ....  Aber  nicht  Jeder  hat  das  Recht 
zu  sterben  ....  Ich  sagte  mir:  dn  hast  die  Pliicht  zu  leben,  auch 
wenn  dein  Tod  Manchem  erwünscht  wäre  ....  Die  Nächstenliebe 
braucht  ja  nicht  gerade  so  w^eit  zu  gehen,  dass  man  Jedemanu  jede 
beliebige  Gefölligkeit  erweist  .... 

Man  verzeihe  diese  Abschweifung.  Ich  konnte  die  Bewegung 
nicht  ganz  unterdrücken,  welche  das  Andenken  an  den  wackem 
Thnmwald  stets  in  mir  hervorruft  Ich  hatt'  einen  Kameraden,  einen 
bessern  find'st  du  nit  .  .  .  .  Er  starb  am  22.  October  1879.  Im 
zweiten  Jahrgänge  dieser  Zeitschrift  S.  136  habe  ich  ihm  ein  kleines 
Denkmal  gesetzt 

Die  Nachricht  von  seiner  Krankheit  konnte  nnr  die  schwersten 
Besorgnisse  in  mir  hervormfen.  Zuerst  die,  dass  Genesung  nicht  zu 
hoften,  baldiger  Tod  zu  fürchten  seL  ünd  dann?  .  .  .  Thumwald's 
Hinsdieiden  musste  die  Katastrophe  in  der  Geschichte  des  Pftdagogiams 
einleiten.  Denn  es  stand  mit  Sicherheit  zu  erwarten,  dass  die  Gegner 
desselben  den  druhi^nden  Todestall  nicht  unbenutzt  lassen  würden  .  .  .  . 
Thurnwald  war  neben  mir  die  einzige  ständige  und  interne  Lehrkraft 
der  Anstalt,  ihr  ausschliesslich  angehörend.  Ein  sehr  bedeutender 
Theil  unserer  Arbeit  lag  in  seiner  Hand,  und  gegebenen  Falles  war 
er  mein  präsumtiver  Stellvertreter  oder  Nachfolger.  Daher  musste 
durcli  seinen  Tod  im  Organismus  imserer  Anstalt  eine  äusserst  itilii- 
bare  Lücke  entstehen,  die  nicht  nur  bei  der  Sorge  für  das  momentane 
Bedürfnis,  sondern  anch  im  Hinblick  auf  die  Zukunft  zu  grossen 
Schwierigkeiten  führen  konnte.  Stand  nun  bei  der  bestehenden  Sitoa* 
tion  eine  ungesftomte  und  zweckmässige  Wiederbesetzung  der  vorans- 
sichtJichen  Vacanz  zu  hoffen?  War  nidit  vielmehr  zu  besorgen,  dass 
eine  Verzögerung,  eine  Sistirung  dieser  nothwendigen  Massregel  und 
in  Folge  dessen  ein  sehr  bedenklicher-  Zustand  eintreten  wOrde?  — 
Und  so  geschah  es.  Thumwald  starb,  die  interne  Lehrstelle  wurde 
nicht  wieder  besetzt,  und  die  Krisis  kam  zum  Ausbruch. 

Gleich  bei  Beginn  des  Schuljahres  1879 — 1880  übernahm  ich 
auf  Wunsch  der  Aufsichtsconimission  de>s  Pädagogiums  zu  meiner 
regelmässigen  Lehrtliätigkeit  noch  die  ^lethodik  und  Schulpraxis, 
das  Fach  der  deutschen  Sprache  und  Titeratur  wurde  interimistisch 
Herrn  Dr.  Pommer,  Professor  am  städtischen  Realgj^mnasium  im 
VI.  Bezirke,  übeiiragen  und  die  interimistische  Leitung  der  Knaben- 
Übungsschule  erliielt  ein  Lehrer  dcraelben,  Herr  Adalbert  Mayer. 

Dieses  dreitheilige  Provisorium  entsprach  einstweilen  den  Ver- 
hältnissen und  konnte,  so  lange  Thnmwiüd  lebte,  als  eme  genügende, 


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—   221  — 


jedenfalls  diu-cli  ilie  Unistände  gebotene  Stellvertretung'  betrachtet 
werden.  Der  Todesfall  vom  22.  October  nöthigte  aber  zu  Verhand- 
lungen über  ein  neues  Definitivnm,  und  die  Aufisichtscommission  trat 
a  einer  Beratbung  zusammen.  In  derselben  wurde  sofort  der  Gedanke 
angeregt^  ob  nicht  die  interne  Lehrstelle  (dieselbe  war  gleich  bei  der 
Grftndnng  des  Fidagoginms  errichtet  und  mit  Becht  als  eine  höchst 
inchtige,  ja  fimdamentale  Institation  betrachtet  worden)  ganz  auf- 
gehoben und  das  bestehende  Proyisorium,  etwa  mit  einigen  Modifica- 
tionen,  in  ein  Definitivurn  yerwandelt  werden  kdnne.  Ich  bemerkte 
liiagegen,  dass  es  sehr  bedenklich  sei,  die  Organisation  der  Anstalt 
in  80  eingreifender  Weise  zu  alteriren.  Das  Pädago^um  mtisse  neben 
dem  Dii'ector  wenij^stens  eine  interne  Lehrkraft  haben,  auf  welche 
es  sicher  rechnen  könne,  eine  Lehrkraft,  die  ein  festes  Glied  im  Ge- 
fuge  des  Lehrköii)ers  und  der  Tjehrthätigkeit  sei,  die  auf  die  Hörer- 
schaft eint  n  mogflichst  intensiven  und  zusammenhaltenden  Einfluss 
ausübe;  wegen  der  grossen  Wichtigkeit  der  Schulpraxis  sei  es  auch 
höchst  wünschenswert,  dass  dieser  internen  Lehrki'aft  die  Tjeitung 
einer  Ubungsschule  und  einiger  üntenicht  in  derselben  übertragen 
werde;  ich  füi*  meine  Person  sei  z^'ar,  wie  jederzeit,  gern  bereit,  die 
übernommene  Thätigkeit  bis  zur  Schaffung  eines  neuen  Definitivurns 
fortzufahren,  mfisse  aber  zu  bedenken  geben,  was  denn  werden  solle, 
Venn  meine  angegriffene  Gesundheit  noch  weiteren  Schaden  leiden 
vQrde;  auch  im  gOnstigen  Falle  könne  ich  neben  Psychologie,  Logik, 
Etzl^ungs-  und  ünterrichtslehre  und  Geschichte  der  Pädagogik  die 
Hethodik  und  Schulpraxis  in  dem  erforderlichen  Umflinge  auf  die 
Dsner  nur  dann  Tertreten,  wenn  in  der  gesammten  Anlage  des  Pflda- 
gogioms  eine  Vereinikchung  getroffen  werde,  so  dass  sich  einerseits 
die  Gesammtzahl  der  Lehrstunden,  andererseits  die  Directionsgeschäfte 
vt^ininderten,  was  meines  Erachtens  ausgeführt  werden  könne,  ohne  den 
Geist  und  den  Zwt'ck  der  Anstalt  zu  schädigen,  überdies  wünschens- 
wert sei,  um  den  Gegnern  dersell)en  einen  Vorwand  zum  Angritt"  zu 
entziehen,  da  durch  die  angedeutete  ^^^rei^fachung  einige  Ersparnisse 
zu  erzielen  seien;  die  interne  Lehrstelle  aber  liaV)e  nodi  den  wichtigen 
Zweck,  dass  sie  für  den  Fall  einer  Erki-ankimg  des  Directors  eine 
Stellvertretung  desselben  ermögliche.  Aus  all  diesen  Gründen  sei 
nach  meiner  Ansiclit  die  Aufrechterhaltung  der  internen  und  definiti- 
Ten  Lehi*stelle  am  Pädagogium  zum  gedeihlichen  Bestände  desselben 
Qnerltalich,  die  Zersplitterung  derseU)en  aber  eine  sehr  gefUirliche 
MassregeL  leh  miksse  demnach  beantragen,  dass  der  bewfthrte  Status 
Qio  eriialten,  und  dass  zur  Wiederbesetzung  der  erledigten  Lehrstelie 


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>  • 

—   222  — 

ein  Concurs  mit  den  bis  dahin  giltig  gewesenen  Modalitäten  ausge- 
schrieben werde.  —  Meine  Ani-egungen  bezüglich  einer  Vereinfachung 
der  Organisation  des  Pädagogiums  fanden  von  keiner  Seite  Anklang; 
die  Freunde  der  Anstalt  fürchteten,  die  Aufwerfung  der  Reorganisa- 
tionsfrage  könne  üble  Folgen  haben,  die  Gegner  färcliteten  jedenfalls 
das  Gtogentheil.  Meinen  übrigen  Auseinandersetziingen  stimmte  der 
Obmann  und  noch  ein  Mitglied  der  Commission  aiisdrficklich  und  ohne 
Zweifel  bona  fide  zn;  die  Anderen  schwiegen  und  —  mein  Antrag 
wnrde  Afagrimmig  angenonunen.  Ein  Mitglied  der  Gonuniasion  ricbtete 
noch  die  Frage  an  mich,  ob  mir  ein  Mann  bekannt  ad,  dem  die 
yacante  Stelle  mit  vollem  Vertranen  ttbertragen  werden  könne.  Ich 
bejahte  diese  fVage  und  nannte  den  Mann,  der  anch  allerseits  als 
vertranenswtbrdig  anerkannt  wurde.  SehUesslieh  sprach  Ich  noch  die 
Bitte  aus,  die  Commission  möge  diese  wichtige  Angelegenheit  mit 
Nachdruck  betreiben  und  Sorge  tragen,  dass  die  nach  dem  Statut 
erforderliche  Concursausschreibung  möglichst  bald  gescliehe,  da  sonst 
zu  befürchten  stelie,  dass  wir  am  Anfjinge  des  nächsten  JSclmljalires 
an  derselben  Stelle  ständen,  wie  damals.  Die  Herren  machten  die 
besten  Zusicherungen,  und  Dr.  Hoffer  wurde  beauftragt,  im  Namen 
der  Commission  vor  dem  Plenum  des  Gemeiuderathes  zu  referiren  und 
obigen  Antrag  zu  stellen. 

Aus  guten  Gründen  hatte  ich  die  angeführte  Bitte  an^gesprocheiL 
Leider  hat  dieselbe  nicht  vermocht,  den  Lauf  der  Dinge  zu  wenden: 
die  von  mir  geftnsserte  Bef&rchtong  erfüllte  sich  bnchstäblich.  Nach  der 
soeben  besprochenen  Commisaionssitasang  war  von  der  Besetzung  der 
vacanten  Lehrstelle  lange  Zeit  nichts  mehr  zu  hören;  was  in  der 
Stille  vorgegangen,  und  was  die  Schuld  an  der  Verzögerung  gewesen 
sei,  bleibe  hier  unerörtert  Eist  hn  Februar  4880  brachte  Hoffer  die 
Sache  vor  das  Plenum  des  G^einderathes.  Nun  würde  der  Veilnst 
eines  Vierteljahres  noch  immer  zu  verschmerzen  gewesen  sein,  wenn 
man  wenigstens  jetzt  gethan  hätte,  was  noth  that,  was  als  das  Beste 
klar  vor  Augen  lag  und,  den  guten  Willen  vorausgesetzt,  leicht  aus- 
führbar war. 

Es  kam  anders.  Als  Hoffer  sicli  seines  Geschäftes  entledigt  hatte, 
stellte  ein  nicht  zur  Commission  des  Pädagoginms  gehörendes  Mitglied 
des  Gemeinderathes,  Herr  Gugler,  den  Gegenantrag:  Die  durch 
Thurnwald's  Tod  erledigte  Stelle  sei  zu  theilen,  indem  das  Fach  der 
deutschen  Sprache  und  Literatur  abgetrennt  werde,  und  es  sei  zunächst 
ein  Concurs  für  Methodik  und  Schulpraxis  in  Verbindung  mit  der 
IMrection  der  Knabenttbungsschule  auszuschreiben.  Das  war  nun  an 


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—   228  — 


sieh  kerne  ftble,  tibrigeiis  anch  keine  nene  Idee.  Aber  der  Sohalk 
stand  binter  ibr,  nflmlicb  die  geringe  Besoldung,  weldie  anf  die  nnn 
redadrte  SteUe  entfiel,  nnd  welche,  wie  yomnsznsdien  war,  das  Ge- 
lingen des  Projectes  verhindern  mnsste.  Doch,  der  Antrag  des  Herrn 
Gngler  wurde  ohne  weiteres  angenommen,  nnd  der  Concors  mit  der 
flbliehen  Bewerbongsfrist  aosgeschrieben.  Etliche  Candidaten  reichten 
ihre  Gesuche  ein  und  machten  ihre  Visiten.  Schliesslich  tod  der 
Gemeinderath,  dass  keiner  von  ihnen  für  die  ausgeschriebene  Stelle 
geeignet  sei.  Die  ganze  Procednr  hatte  nur  den  einen,  natürlichen 
Erfolg,  dass  Zeit  verloren,  oder  nacli  anderer  Auffassung  gewonnen 
war.  —  Nun  eine  neue  Pause,  dann  eine  neue  Combinatidu  und  ein 
neuer  Concurs.  Man  sagte:  Unser  allverelirter  Herr  Director  kann  ja 
die  Metliodik  und  Schulpraxis,  die  ohnehin  in  keine  besseren  Hände 
gelegt  werden  können,  definitiv  übernehmen;  für  die  theoretischen 
Fächer:  Psychologie,  Logik  und  allgemeine  Pädagogik  in  Verbindung 
mit  der  deutschen  Sprache  und  Literatur  werden  wir,  namentlich 
unter  unseren  Gymnasialprofessoren,  leicht  eine  tQchtige  Kraft  finden, 
und  die  Directorstelle  an  der  Übungsscfaule  können  wir  separat  be- 
setsen  (natftrlich  wiedei*  unter  Bepartirung  der  Besoldung).  Ich  sagte, 
es  sei  mir  auch  recht,  wenn  wir  nur  endlich  zur  Ordnung  kämen. 
Nun  wurde  also  ein  neuer  Concurs  fOr  die  bezeichnete  Gruppe  von 
Lehrftchem  ansgescbrieben,  aber  das  Schuljahr  1879 — 1880  ging  zu 
Ende,  als  er  noch  schwebte,  nnd  auch  die  Ferien  verliefen,  ohne  dass 
die  Walil  einer  Lelirkraft  für  das  Pädagogiuni  zu  Stande  kam,  ja 
ohne  dass  die  Comniission  auch  nui*  eine  Berathiuig  über  diese  drin- 
gende Angelegenheit  liielt.  Doeli  von  dem  weiteren  Verlaufe  dei*selbeu 
später.    Jetzt  noch  Einiges  aus  dem  Schuljalir  1H79— 1880. 

Herr  Dr.  Kühn,  welcher  früher  die  Autliebung  des  Pädagogiums 
intendirt  hatte,  war  inzwischen,  wenigstens  provisoiiscli,  von  seinem 
Vorhaben  abgekommen.  Nachdem  er  längere  Zeit  im  Pädagogium 
hospitirt  und  besonders  meinem  eigenen  Unten-ichte,  auch  den  Lehr- 
proben in  der  Obungsschule,  fleissig  beigewohnt  hatte,  erklärte  er  mir 
eines  Tages  ansdrttcidich:  er  habe  sich  fiberzeugt,  dass  das  Pftdago- 
gium  ehi  sehr  gutes  und  ntttzliches  Institut  sei,  und  habe  daher  den 
Plan,  die  Aufhebung  desselben  zu  beantragen,  aufgegeben.  Da  ich 
schon  frfiher  eine  gute  Meinung  von  seiner  AuMchtigkeit  gewonnen 
hatte,  so  traute  ich  auch  diesmal  seinen  Worten.  Später  bin  ich  aber 
zweifelhaft  geworden.  Denn  Herr  Kühn  hat  nie  etwas  gethan,  um 
die  durcli  'i'hurnwaUrs  Tod  entstandenen  Scliwierigkeiten  und  Wirren 
schlichtt'u  zu  helfen,  auch  dann  nicht,  als  gerade  sein  Name  als.  Träger 


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1 


—   224  — 

einer  durcliaus  imgdeelitfertigten  und  sehr  büsarti;^en  Agitation  ööeut- 
lich  genannt  wurde.  Ja,  Herr  Külin  war  es,  welcher  si)äter.  unter 
Hinweis  auf  diese  Wirren,  im  (remeindcrathe  den  Antrag  stellte,  es 
sei  zu  untersuchen,  ob  das  Pädagügiuni  aufgelöst  oder  reorganisirt 
werden  solle,  ~  obwol  sich  am  Wesen  der  Anstalt  gar  nichts  geän- 
dert hatte,  und  die  eingetretenen  StGrongen  nicht  inneren,  sondera 
äusseren  Ursprunges  waren. 

Thumvald's  Tod  und  was  ihm  folgte,  gab  übrigens  den  Gegnern 
des  Pädsi^ginnis  hinlilngliche  Hoffiiung,  dass  dasselbe  anch  ohne  emen 
directen  Angriff  der  Anflösmig  yerfiUlen  kOnne.  Nicht  nur  nadi 
meiner  eigenen  Mnthmassnng,  sondern  auch  nach  der  bestunmten  Ab- 
sicht eines  mit  den  Verhältnissen  vollkommen  yertrauten  Mannes  ging^ 
der  Plan  unserer  Qegner,  seitdem  sie  den  directen  Weg  m  ihrem 
Ziele  hatten  aufgeben  müssen,  dahin:  durch  alle  erdenklichen  Mittel 
der  Wiener  Lehrerschaft  den  Besuch  des  Pädagogiums  zu  verleiden 
und  hierdurch  die  Frequenz  der  Anstalt  möglichst  herabzudrücken, 
damit  diese  schliesslich  wegen  Mangels  an  Theilnahme  gespeiTt  wer- 
den könne,  natürlich  mit  dem  lebhaften  Bedauern,  dass-  ein  so  gut 
gemeintes  Institut  so  wenig  Anklang  finde.  Jetzt  hatten  wii'  nun 
eine  Situation,  welche  sich  für  solche  Aussichten  recht  günstig  anliess. 

Überdies  konnte  der  dii'ecte  Auflösungsantrag  nötliigenfalls  noch 
immer  gestellt  werden«  Und  in  der  That  war  hierauf  I^edacht  ge* 
nonimen.  Der  Obmann  der  Aufeichtscommission  des  Pädagogiums, 
Dr.  Weiser,  hat  mit  Bestimmtheit  und  wiederholt  den  Namen  des 
Gemeinderathes  genannt^  welcher,  nachdem  Br.  Sühn  von  seinem  Vor- 
haben abgegangen  war,  es  übernommen  hatte,  die  Aufhebung  der  An- 
stalt zu  beantragen.  Dieser  neue  Träger  der  AuflOsungsidee  gehörte 
unserer  Gommission  nicht  an  und  hatte  das  Pädagogium  meines  Wis^ 
sens  niemals  ges^en.  ünd  so  mnsste  es  sein.  Denn  wer  dasselbe 
wirklieh  kannte,  konnte  coram  populo  oder  coram  senata  es  nicht 
herabsetzen,  ohne  sich  selbst  ins  Angesicht  zu  schlagen,  was  denn 
doch  Anstands  halber  niclit  gut  anging,  während  der  Ihikiindige  alles 
Mögliche  V(trbringen  und  sich  nötliigenfalls  damit  entschuhligen  konnte, 
er  habe  nur  bericlitet.  was  iiim  mitgetlnalt  worden  sei,  er  selbst  wolle 
niclits  gesagt  haben,  es  seien  „Missverständnisse  '  u.  s.  w, 

Dass  übrigens  seit  Thurnwalds  Tod  die  Auflösung  des  Päda- 
gogiums weit  und  breit  discutiit  wurde,  war  aus  vielen  Anzeichen 
ei*sichtlich.  So  enthielt  ein  imter  dem  21.  December  1879  an  mich 
gerichteter  Brief  von  A.  W.  Grube  in  Bregenz  die  Anfrage:  „Ist  es 
denn  wahr,  dass  Ihr  Wiener  Magistrat  (wol  eine  Verwechselung  mit 


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dem  GTememderath)  damit  umgeht,  das  Pftdagogium  wieder  an&a- 
beten?"  —  Und  äliiiliche  Anfragen  kamen  von  anderen  Seiten.  — 
Feraer  ftnsserte  zur  Pfingstzeit  1880  ein  hochgestellter  Prälat  in  einer 
öelerreichischen  Provinz  (derselbe  hat  nnlSngst  auch  die  Sffenthche 
politische  Arena  betreten)  ganz  nnumwunden,  die  Auftiebung  des  Pä- 
dagosriiims  sei  eine  be;^chlosseiie  Sache  und  stelie  binnen  Kurzem  mit 
•Sicherlieit  zu  erwarten;  er  wisse  das  aus  seineu  Verltindnn^en  mit 
dem  Wiener  Gemeinderathe.  —  Auch  in  öffentliclien  Hlättern  kauK'u 
Andeiitnno^en  desselben  Jnlialtes  vor.  Insbesondere  muss  icli  liier 
einen  Zeituuf^sartikel  anführen,  der  auf  den  Gang  der  Ereignisse 
einen  starken  Kinfluss  ausgeübt  hat  und  daher  wörtlich  reproducirt 
zn  werden  verdient.  Die  Wiener  „Neue  freie  Presse"  nämlich  brachte 
am  1.  Juli  1880  folgenden  Aufsatz: 

Auflassung  des  städtischen  PUdagogiums  in  Wien. 

Die  Frage  der  Nothweudigkeit  und  Existenz-Berechtigung  dieser  in  der 
5thul-I>ran^r-  und  Sturmi)oj  i(»(lo  f^ntstandenen  Scliöpfnng  ist  seit  längerer  Zeit  in 
Disou^sion:  in  Scliulkreison  war  man  8chon  lange  darüber  eini^.  dass  das  Be- 
dürfnis nicht  mehr  vorhanden  und  das  Pädagogium  seine  Mission  längst  ertüUt 
haL  Eine  gewisse  Scheu  oder,  besser  gesagt,  Furcht  vor  den  Feinden  der 
Xeiuciiiile  war  ea,  dass  die  Frage  nicht  zur  endgiltigen  Berathnng  gelangte ; 
wuM  getraate  sieh  nicht,  die  Wahrheit  einsiigestehen,  and  so  liess  man  das 
loatltat  ans  einer  gewissen  Zagliaftigkeit  und  quasi  Ehrftircht  für  die  Ver- 
gangenheit fortbestehen.  Das  ist  nun  andeis  geworden!  Wie  wir  aus  zuver» 
lässigen  Q uellen  entnehmen,  besteht  in  massgebenden  gemeinderäthlichen  Kreisen 
die  ernste  Absicht,  das  städtische  Pädagogium  aufzulassen.  Das  I'rincip  des 
.Sparens-  ist  also  die  Triebfedei ,  \v<'lrlie  den  lauere  im  Stillen  freliej,'ten  Plan 
vor  die  Öffentlichkeit  bringt.  Ein  diesbezüglicher  Antrag  dürfte  bereits  in 
nächster  Zeit  im  Gemeinderatlie  eingebracht  werden,  und  bei  der  Stimmung, 
Sit  welcher  die  genannte,  seit  dem  Jahre  1868  bestehende  Anstalt  seit 
längerer  Zeit  aoch  von  der  Uehrheit  des  Gemeinderathes  betrachtet  wird, 
feheint  es  lus  wahrscheinlichi  dass  ein  solcher  Antrag  zum  Beschlüsse  erhoben 
werden  wird.  Es  ist  ausser  allem  Zweifel,  dass  das  städtische  Pädagogium 
die  hochfliegenden  Pläne,  die  an  dessen  Errichtung  geknüpft  wurden,  nicht 
erllillt  hat.  und  in  Schulkreisen  konnte  man  es  sdion  seit  längerer  Zeit  aus- 
«pre^hen  hören,  das.s  die  Heran])ildunfr ,  beziehungsweise  iiiUiere  Fortbildung 
der  Lehrer  durch  das  Pädagogium,  welches  eine  quasi  Lehrerhochschule  sein 
sollte,  nicht  in  der  gewünschten  Weise  gefördert  und  geptiegt  wurde.  Sollte  es 
die  ihm  gesetzte  Mission  erfOllen,  so  hfttte  es  von  voniherein  ganz  anders  or- 
ganisirt  werden  müssen.  Die  ZOglinge  (bereits  absol\rirte  Lehrer)  hätten  aus- 
reichende Stipendien  erhalten  müssen,  cbmut  sie  sorgenfrei  nnd  ruhig  rein  nnr 
ihren  Vorträgen  nnd  Studien  obliegen  kannten,  nicht  aber,  wie  es  der  Fall  ist» 
daas  sie  Schulstellt  ii  bekleiden  müssen  nnd  nur  so  nebenbei  an  den  Abenden, 
wo  fde  bereits  «Im  *  Ii  die  Tacresarbeit  ersch<")pft  und  abgestumpft  sind,  dem 
Unterrichte  beiwohnen  können,  und  selbst  daran,  wenigstens  au  dem  regei- 


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—   226  — 


mUssig-eii  Besudle,  dnrcli  Zwischeiirülle  g-ehindert 'sind,  ja  für  die  Examina, 
welche  dudi  der  Probilstein  und  zugleidi  der  Beweis  für  den  Erfolg  der  Studien 
sind,  nicht  die  nöthige  Zeit  uud  die  rechte  Masse  finden.  Viele  nahmen  daher 
auch  Bur  partiell  als  H9rar  thefl,  ohne  daas  sie  regelmässig  das  ganze  Jalir 
kommen  konnten.  Viele  blieben  in  Folge  des  Zeitmangels  oder  der  StraiMueen 
bald  gaas  ans,  Andere  Mdeder  machten  kein  Examen;  nnr  ein  geringer  Peroeut- 
theil  erschien  beim  Examen,  und  wie  armselig  war  nicht  selten  da  noch  der 
Erfolg,  der  zu  dem  Ganzen  in  keinem  Verhältnisse  stand.  Andererseits  hätte 
man  dem  Leiter  der  Anstalt.  Dr.  Dittes.  der  sich  dazu  vorzüirlieh  eignete  und 
der  seine  Stelle  sowol  als  DirectX »r  wie  als  Lehrer,  was  Anregung,  Wissen- 
sdiult  und  methodisch -didaktische  Anleitung  betrifft,  vollkommen  ausfüllte, 
mehrere  tüchtige,  durch  geistvolle  Vortiäge  wie  durch  erzieherische  Wirksam- 
keit hervorragende  FrofesBorea,  die  zngleicb  praktisehe  SchnlmSnner  sind,  zur 
Seite  stellen  mfissen,  Schnlmftnner  von  idealem  Schwnng  nnd  Begeistemng, 
welche  durch  gediegene,  nach  allen  Seiten  hin  tiefer  anregende  VortrSge  die 
Lehrer  zu  nachhaltigem  Selbststudium  und  tieferem  Eindringen  drängen  und 
sie  mit  höherem  Geiste  ausrüsten.  Leider  legte  man  den  ganzen  Wert  in 
die  rechte  Wahl  des  Direetors  allein  und  ver^ja^s.  dass  dieser  auch  wieder 
die  rechten  Kräfte  neben  sich  braucht,  die  iim  in  seiner  Weise  unterstützen 
und  nach  demselben  Geiste  mit  ihm  zusammenarbeiten.  In  der  Wahl  der 
Letzteren  war  man  unglücklich!  Man  wählte  Leute,  denen  selbst  eine  tiefere 
wissenschaftliche  philosophische  Bildung  (Wissensansammenhang)  fehlte,  vor 
allem  der  rechte,  interessante,  lebenerweckende  Vortrag;  blosses  Lesen  ans 
Manosoript  kann  selbst  den  strebsamsten  Lehrer  nicht  interessiren,  noch 
weniger  für  ein  tiefes  Eindringen  begeistern  und  zu  einem  lebendigen  Selbat- 
studium  anregen.  Und  doch  sollte  das  Pildagogium  dem  jungen  Lehrer  g-e- 
wlssermassen  eine  Hochscliulr  sein;  dann  abei*  mussten  solche  Lehrer  ihi-en 
Zöglingen  auch  etw;is  Tüchtiges  bieten,  nicht  aber  blos  aus  einem  Hefte  vor- 
lesen, was  nöthigenfalls  der  Zögling  im  ei-sten  besten  Werke  in  der  Bibliothek 
auch  ünden  kann.  Dazu  bedurfte  es  keines  Pädagogiums.  Die  Folge  war 
anch  eine  vielseitige  Enttftnsehnng  unter  den  strebsameren  Lehrern,  welche 
etwas  Gediegenes  zu  h9ren  verlangten,  an  dem  blossen  Vorlesen  ans  einem 
Hefte  aber  keinen  Geschmack  finden  konnten.  Viele  wendeten  sich  bald  ab 
und  blieben  aus  —  der  Nutzen  und  die  geringe  Anregung  waren  nicht  die 
Zeit,  die  Last  des  Hin-  uud  Herfahrens  oft  ans  weiter  F^me  der  >[ülie  wert. 
So  recrutirten  sidi  die  Zöglinge  mein-  aus  Vei-sorgungs-Speculation.  als  aus 
tiefem  Interesse;  die  Mehrzahl  derselben  bildeten  die  Ijehrerinnen,  und  für 
diese  hat  man  doch  das  Pädagogium  am  allerwenigsten  gegründet.  Der  geringe 
Erfolg  oder  besser  der  Misserfolg  ist  also  lediglich  auf  die  unglückliche  Wahl 
der  Lehrkrttfte,  die  den  Director  hi  seiner  hohen  Angabe  hfttten  nnterstlitaai 
sollen,  znrfickznffihren.  Wir  kommen  auf  diese  nicht  unwichtige  Angelegenheit 
wol  noch  zu  sprechen  ;  heute  wollen  wir  nur  noch  auf  den  Einen  Umstand  hin- 
weisen, dass  sich  die  gut«  Frequenz  des  Pildago^ums  (zumeist  Lehrerinnen) 
selir  leicht  damit  erklilrt,  dass  eben  die  Zöglinge  —  und  nicht  mit  Unrecht  — 
in  dem  Besuche  des  städtischen  Pädagogiums  eine  Art  Garantie  tlafiir  er- 
blickten, an  Wiener  Connnunalschulen,  wohin  sich  ohnehin  die  Lehrerwelt 
drängt,  um  so  eher  eine  Anstellung  zu  erhalteu.  Der  Lehremaugel  ist  vor- 
nber,  man  hat  Überall  Auswahl,  wozu  ein  Privilegium  aehalfen?  IHe  freie 


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—   227  — 


ConnirTvnz  wirkt  1)ele1)t'iul  und  treibend;  man  wähle  sich  die  besten  Lehrer. 
\v(i  man  sie  tindet,  und  binde  sich  an  keine  I^flanzschule.  Nur  auf  diese  Weise 
kann  man  Sporn.  Trieb  und  Leben  ins  Schuhvt'sen  und  in  di»'  Lehrerwelt 
biingeiL  Die  Auslagen  für  das  Pädagogium  wurden  im  Hauptvorausclüage 
pro  1880  mit  47  700  fl.  eingestellt,  und  man  glaubt,  dass  diese  —  wenn  man 
iberlunpt  achon  sparen  mnss  —  liereingebracht  weiden  könnten.  Statt  eines 
PSdagoginms  mit  soleher  Einriclitnng  tiiftte  man  besser,  wenn  man  jedes  Jahr 
einige  tüchtige,  h;>]it  r  strebende  jüngere  Lelirer  mit  Stipendien  auf  ein  bis 
zwei  Jahre  an  eine  Hochschule  schickte  nnd  sie  dort  eine  Art  Prüfung  ablegen 
liesse.  Auf  diese  Weise  kiinnte  man  leicht  tUcbtige  Oberlehrer,  Directoren 
oud  luspectoren  heranziehen. 

Die  in  diesem  Artikel  vorkommenden  nnriebtigen  Angaben,  Wider- 
spruche, falschen  nnd  schiefen  Behauptnngen  können  hier  übergangen 
werden.  Der  Vei-fasser,  der  mir  nacliträglich  von  zuverlässiger  Seite 
genannt  wurde,  kannte  das  Pädagogium  nicht  aus  eigener  Anscliauung, 
und  stellte  nur  zusammen,  was  ihm  zugetragen  und  inspirirt  wurde. 
Ich  erfuhr  auch,  dass  er,  als  ihm  von  befi-eundeter  Seite  nach  Durch- 
sicht seines  Manuscriptes  die  Publicatiou  widen*athen  wurde,  entgeg- 
nete, er  könne  von  derselben  nicht  abstehen,  da  er  „beauftragt"  sei 
—  Ich  meines  Theils  hielt  es  für  das  Klügste,  diese  Zeitungshetze, 
wie  vieles  Andere,  za  ignoriren.  Allein  die  in  dem  Artikel  york<»n- 
menden  Beleidigongen  des  LehrkCipers  machten  dies  unmöglich,  da 
«e  von  den  Betroffenen  sehr  ernst  genommen  worden.  Es  erediien 
hä  mir  eme  Deputation  des  Lehrkörpers,  welche  mir  mittheilte,  einige 
Mitglieder  desselben  seien  der  Ansicht  gewesen,  eine  solche  mit  Be- 
mfang  auf  den  Gemeinderath  ToDfllhrte  öffentliche  Schmähung  müsse 
mit  einer  gemeinsamen  Demission  beantwortet  werden;  die  Mehrheit 
sei  aber  der  Ansicht,  dass  vorerst  eine  den  Verhältnissen  entsprechende 
Eingabe  an  den  Gemeinderatli  gerichtet  werden  solle,  und  die  Depu- 
tation sei  beauftragt,  mich  um  Theilnahnie  an  diesem  abwehrenden 
^>chritte  zu  ersuchen.  Ich  konnte,  abgeseht-n  von  den  Pflichten  der 
Collegialität ,  sclion  aus  dem  Grunde  nicht  ablehnen,  weil  der  ange- 
tiilirte  Artikel,  welcher  meine  Collegen  in  so  ungerechter  Weise 
O&atlich  herabsetzte,  mir  selbst  Weihrauch  streute.  Es  stand  zu 
besorgen,  dass,  wenn  ich  mich  in  diesem  Falle  von  meinen  Collegen 
trennte,  man  denselben  vorspiegehi  würde,  ich  sei  wol  selbst  nicht 
ohne  Antheil  an  der  Entstehung  dieses  Zeitungsartikels,  und  damit 
hätten  unsere  lieben  Freunde  etwas  sehr  Erwünschtes  erreicht:  IGss- 
tranen  und  Zerwürfiiis  zwischen  dem  Lehrkörper  und  dem  Director. 
Nach  mebrfochen  vertraulichen  Berathungen  wurde  folgende  Vorstel- 
lung sn  den  Gemeinderath  gerichtet: 


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1 


—   228  — 

All  den  bibliclien  Gemeinderatli  der  Stadt  Wien. 

Seit  dem  zwölfjährifren  Bestände  des  Wiener  Lebrer-Pädafroj^iums 
sind  auf  dasselbe  in  hiesigen  Zeitungen  zalilreiclie  walirheitswidi'ige 
und  böswillige  Angrift'e  gemacht  worden.  So  lauge  dieselben  lediglich 
dem  Unverstände  und  der  Schmähsacht  einzelner  Personen  zu  ent> 
^ringen  schienen,  glaubten  wir  in  eigener  Sache  jede  Yertheidigong 
unterlassen  zu  sollen,  znmal  selbst  von  berufener  Seite  zur  Wahmng 
der  Ehre  des  Pädagoginms  niemals  eine  Kundgebung  erfolgte. 

Seit  einiger  Zdt  aber  werden  Angriffe  auf  das  Pftdagogiom  und 
den  Lehrkörpw  desselben  mit  geflissentlicher  Bemfang  auf  „die 
massgebenden  Kreise  des  Gtoneinderathes'*  gemadit,  als  ob  der  E^m 
oder  die  Mehrheit  des  städtischen  Vertretungskörpers  das  Fftdagogium 
ftr  ein  schädliches  oder  doch  tberflflssiges  Institut  hielte  und  den 
Anfeindungen  desselben  nicht  fem  stünde.  Überdies  ist  es  eine  be- 
kannte Thatsache,  dass  einzelne  Mitglieder  des  Gemeinderathes  die 
Absicht  kundgegeben  haben,  auf  die  Auflösung  des  Pädagogiums  hin- 
wirken zu  wollen. 

Olme  nun  auf  die  Tntentionen  des  loblichen  Gemeinderathes  ii*gen<l 
wie  einwirken  zu  wollen,  müssen  wir  doch  dringend  wünschen, 

dass  die  Situation  des  Pädagogiums  in  dem  einen  oder  an- 
deren Sinne  klar  gestellt  werde, 
indem  dasselbe  nicht  femer  die  Zit  lsclieibe  jeder  beliebigen  Feindselig:- 
laeii  bleiben  kann,  wenn  es  nicht  desorganisirt  werden  soll.  Auch 
sind  wir  keineswegs  gewillt,  unsere  Ehre  jeder  beliebigen  Venm- 
glimpfimg  zn  Überlassen. 

Wir  ersuchen  daher  den  löblichen  Gtemeinderath,  dieser  xamerer 
Vorstellung  eine  ernste  Würdigung  widmen  zn  wollen,  indem  wir  mit 
gebührender  Hochachtung  verharren. 

Wien  den  10.  Juli  1880. 

Director  und  Lehrkörper  des  Pädagogiums. 
Dittes.    Beiling.    Doublier.    Haberl.  Kauer. 
Pommer.   Pöuuiüger.   Kieck.  Umlauft. 


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I 


Friedrieh  Rfiekerf 8  Credaakenlyrik 

als  Bildungssinittel  für  höhere  Lehranstalten. 
Von  Dr,  Georg  Voigt  -  Annaberg, 

Im  FrOblmge  unsere  Lebens,  da  alle  Geisteskräfte  noch  in  der 
Wärme  des  Gemflts  verehugt  sind,  da  aller  doch  schon  eine  reichliche 
Mt^uge  aufsprossender  Keime  und  jugendfrischer  Triebe  Zeugnis  ab- 
legt von  seliger  Werdelust  und  von  lebhaftem  Thatendrange  des 
jnngen  Menschen,  in  diesem  Lebensfrühliuge  ist  es  auch,  wo  sich  in 
ans  das  Bediüfnis  regt  nach  einer  das  Gemüth  ganz  erfüllenden  und 
beft-iedigenden ,  so  weit  als  möglich  von  uns  selbstthätig  erbauten 
ethischästhetischen  Idealwelt  auf  religiöser  (Trundlage.  Gern  und 
mit  Begeisterung  schwingt  sich  darum  der  Jüngling  zu  Gedanken 
über  die  Menschheit,  über  Gott  und  die  übersinnliche  Welt  empor. 
Dagegra  kann  ihm  eine  philisterhafte,  mateiialistische  Richtung,  die 
nicht  seinein  auf  erhabene  Ziele  gerichteten  Willen  für  die  Zukunft 
Aa^aben  stellt,  und  die  nicht  seine  Phantasie  beschäftigt,  sondern 
geflissentlich  yeniaehlftssigt,  nicht  genügen;  er  Ifisst  sie  mit  Ent- 
rüstung beiseite  Uegen,  besondere  wenn  er  bemerkt,  dass  sie,  deren 
höchstes  Ziel  nur  Erwerben  und  Gteniessen  ist,  durch  egoistische  Be- 
sdufinkfheit  zu  Konsequenzen  kommt,  welche  don  Gemeinwesen 
schädlich  sind.  Nur  das  Streben  nach  dem,  was  sein  soll,  nach  dem 
ewigen  Guten,  Wahren,  Schönen  erscheint  ihm  als  wahrhaft  segen- 
bringend für  die  Menscliheit  im  Ganzen,  wie  für  den  Einzelmenschen. 
In  seinem  dunklen  Drange  hat  so  auch  der  Jüngling  den  richti^ren 
Weg  gefunden;  denn  wie  die  ideale  Richtung  auch  selbst  in  ihren 
Veriminjren  iimiur  noch  achtungswert  blieb,  so  hat  aucli  sie  allein 
sich  als  wahi'haft  schöpferisch  und  zeugungsfähig  gezeigt,  imd  allein 
der  Idealismus  hat  sich  im  Verlaufe  der  Geschichte  als  Triebkraft 
aDer  grossen  Bewegungen  und  Erscheinungen  bewiesen.  Damm  kann 
dem  Jänglinge,  ihm,  dessen  Herzenswunsch  es  ist,  in  seinem  späteren 
BeraflMen  der  Welt  euimal  mehr  als  ein  blosser  Lohnarb^ter  zu 
werden,  dämm  kann  ihm  (besondere  wenn  er  einst  in  weiteren 
Kreisen  wirken  soll)  nichts  Besseres  auf  seine  Lebensreise  mitgegeben 
werden,  als  eine  Stärkung  der  ursinllnglich  schon  von  selber  sich  in 

^dagpchim.  4.  Jabif  .  Hdt  IV.  16 


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—   230  — 

I 

ihm  re^t'iiden  idealen  Kiclituiif^.  damit  er  auf  den  Weg  gelani^e.  auf 
welchem  er  sicli  später  selbst  zu  einer  edlen  Persönlichkeit  vollends 
heranbilden  könne,  zu  einer  Perstinlichkeit.  in  dei'  eine  heilifre  Gluth 
für  alles  Vortreöliche  lodere,  die  gegen  alle  Angiiffe  und  Verführungs- 
künste von  Gemeinheit,  Gottlosigkeit  und  Frevel  sich  schützen  könne, 
and  die  den  wahren  Wert  des  Menschendaseins  erkenne. 

Gleichwie  ein  Stern  im  Norden  bei  allen  Ändenmgen  nnd  allem 
Umschwünge  der  übrigen  irdischen  und  himmlischen  Dinge  nnyer- 
änderlich  immer  vom  gleichen  Standpunkte  ans  in  den  Wechsel  nnd 
Wandel  der  ganzen  Erscheinmigswelt  hereinschaut,  nnd  wie  er  so 

Verkünder  und  Abbild  der  unveränderlichen  und  ewigen  Gottheit  Ist, 
also  auch  muss  uns  der  Idealismus  einen  unverrückbaren  Standpunkt 
ausserhalb  des  Weltgetriebes  verleihen,  er  niuss  \  erkünder  des  Gött- 
lichen und  Wegweiser  zur  Gottheit  für  uns  sein.  Wer  das  erreicht 
hat,  der  kaim  dann  mit  Schiller  ausruteu: 

,^etzt  hab'  ich  eine  Strasse  nur  m  wandeln; 

Das  unstet  schwanke  Sehnen  ist  gebunden, 
Dem  Leben  ist  nein  Inhalt  ausi^cfniulen. 
lJn<I  wie  (Ut  Pilyer  Nich  nach  ( »stcn  wendet, 
Wo  ilmi  die  Sonne  der  Verheiü-sung  glänzt, 
So  kduret  sich  mein  Hoffen  und  mein  Sehnen 
Dem  einen  hellen  Himmeliipnnkt«  xn." 

Wird  aber  einer  derartigen  Kichtunii  iiiclit  schon  in  den  .Tujifend-  i 
jähren  im  Menschen  zur  Herrschaft  verliolten,  aus  seinem  späteren 
alltä<>:licheu  Berut'älebeu  wii'd  i^ie  ihm  noch  viel  weniger  kommen 
können! 

Es  fehlt  nun  anch  nicht  an  Factoren,  welche  abzielen  auf  eine 
ideale  Bildung.  Da  ist  zunächst  der  Religionsunterricht,  welcher  eine 
solche  anstrebt  Das  Ghristenthum  ist  ja  stets  darauf  gerichtet  ge- 
wesen, das  Höchste  zu  verwirklichen  und  zu  diesem  Zwecke  Herz 
nnd  Leben  umzugestalten.  Auch  der  Greschichtsunterricht  soll  und 
kann  den  idealen  Sinn  mächtig  fördern,  und  gerade  die  Geschichte 
ansei'S  Volkes  zeig  t  an  so  vielen  Stellen  ein  Einstehen  für  die  höchsten 
Güter  des  Lebens,  dass  ihr  Studiuni  herzerhebend  wirkt. 

Dass  die  Idealität  wirklich  ein  echt  nationaler  Zug  der  T>eutschen 
ist,  das  beweist  namentlich  auch  der  Entwickelungsgang  der 
deutschen Plülosophie.  di»  .  obschon  dem  SohulunteiTichte  ferner  stehend,  ' 
doch  so  manchen  fruchtbaren  (Tedanken  hervorbrachte,  der  auch  dem 
Schulwesen  förderlich  wui*de,  besonders  seit  durch  Kant  und  Fichte 
eine  sti^eng  ethische  Bichtnng  in  ihr  aufkam. 


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» 


231  — 

In  engeFem  Zosammenbaiige,  als  man  gemeinhin  anzunehmen 
pflegtf  steht  aber  mit  der  Philosophie  die  deutsche  Poesie,  diese' 
fianptverkilndfirin  des  Idealismus.  Unsere  grossen  Dichter,  bei  ihrem 
Streben,  edle  Menschlichkeit  zu  verkttnden,  haben,  genfthrt  und  ge- 

t6rdevt  durch  eine  geistige  Aulfassung  der  Religion  und  durch 
philosophische  Studien,  das  Hohe  luul  Heilige  in  seiner  lebendiyfen 
Ei-scheinung  in  ihren  Schöpfungen  ei)isch,  lyriscli,  dramatisch  und 
didaktisch  gefasst  und  dargestellt  und  so  das  Tlirifi:e  zur  Wiirdis-ung 
und  Verehrung  des  (TÖttlichen  reichlich  beigetragen.  So  ersclieint 
die  ideale  Kichtung  als  ein  uraltes  Erbtheil  aller  rilicder  unsers 
Volkes,  das  w  nicht  vernachlässigen  dürfen.  Unsere  grossen  Denker 
nnd  Dichter  haben  ihi'em  Volke  im  Reiche  der  Idee  eine  Wohnstätte 
bereitet,  und  immer  ist  man  in  Deutschland  bemüht  gewesen,  den 
Segen  ihrer  Arbeit,  so  weit  dies  möglich,  alsbald  auch  der  Jugend 
nkommen  zu  lassen. 

Wenn  schon  ein  Elopstoek,  ein  Sfchiller,  ein  Gk>ethe  die  Poesie 
als  ein  ernstes  Geschfift  betrieben,  welches,  wie  aUes,  was  in  die 
H9he  und  Tiefe  fährt,  auf  einer  Art  rdigiasen  Sinnes  beruhte,  nnd 
vem  sie  gerade  deshalb  der  Sdiule  so  lieb  und  wert  sind,  so  ist 
unter  unseren  späteren  Poeten  d^r  Dichterphfiosoph  Friedrich 
Rückert,  was  leider  bis  jetzt  noch  gar  nicht  genug  zur  (Geltung 
gekommen  ist,  wie  in  gar  mancher,  so  aucli  in  dieser  lliusiclit  Fort- 
setzer des  gros.sen  Werkes  unserer  Philosophen  und  classischen 
I>ichter  in  bewusstester  Weise.  Er  hatte  sich  ein  klares  Urtlicil  <>t*- 
bildet  über  das,  was  seine  Vororänger  erstrebten,  er  hatte  iliren 
Gedankenreichthum  in  sich  aufirenomnieii  und  zielt  nanientlicli  in  seiner 
Gedankenlyrik  mit  Aufwendung  all  seiner  bedeutenden  Geisteskraft 
darauf  hin,  die  Erkenntnis  der  Welt  mit  der  des  Göttlichen  zd  ver- 
knüpfen. So  bringt  er  neben  vielen  anderen  namentlich  die  erhabenen 
Gedanken  znm  Ausdrucke,  dass  das  Göttliche  in  der  Menschheit  liegt 
lud  auf  der  Erde  wächst,  dass  die  Gottheit  in  uns  wirkt,  wenn  wir 
es  ihr  nur  zulassen,  und  dass  das  GiJtÜiche  nicht  vom  3f ^schlichen 
zn  trennen  seL  Dies  Bewusstsein  und  Sdbstgeflihl  verleiht  ihm  Mnth 
ad  Begeisterung,  das  Ziel  der  Menschheit  ins  Vollkommene  zu  setzen 
OBd  selber  schon  beharrlich  nach  dessen  Erreichung  zn  ringen,  sowie 
Ändere  dazu  anzuhalten.  Dabei  erweist  er  slcli  als  einen  selbst- 
ständigen Denker,  der  sich  seinen  eigenen  Standpunkt  wahrt.  Wenn 
Dichten  ..sinnliches  Reden"*  ist,  so  ist  Rückert  ein  Meister  der  Dicht- 
knnst.  (U^nn  die  Abstractionen  seines  religiös-philosopliischen  Ideeu- 
gaogeä  hat  er  in  poetischer  Form,  iu  Bildern  und  Gleichnissen  gar 

16* 


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—   232  — 


deutlich  und  klar  und  doch  zugleich  auch  dichteriscli  schön  dargestellt. 
Beligion,  Philosophie,  Poesie  vereinigt  er  aufs  innigste  mit  einander, 
indem  er  seine  Lehren  vom  Erkenntnis-,  vom  Heils-  und  vom  Willens- 
ideale einkleidet  in  Bilder  der  göttlichen  Herrlichkeit  und  Seligkeit, 
die  alle  Welt  durchdringt.  In  so  umfänglicher  Weise  gibt  er  sich  der 
Ltenng  jener  selbstgesteUten  Aufgabe  hin,  das  Denken  ftber  wdtliche, 
naWriiche  Dinge  ntft  dem  ftber  das  65tt]iche  zn  yersOfanen,  dass  man 
fSMt  .  sagen  möchte,  er  habe  hier  die  Ergebnisse  vom  Entwicklungs- 
gänge des  Denkois  der  Welt  dichterisch  schön  dargestellt  .Wer  vftre 
im  Stande,  alle  von  ihm  beigebrachten  Gedanken  bis  zn  ihren  zeitlich 
und  räunüich  oft  so  fern  yon  einander  liegenden  Ursprüngen  zu  ▼e^ 
folgen!  Darum  können  auch  gerade  seine  Dichtungen,  wie  fast  keine 
anderen,  wenn  man  sie  nur  recht  auf  sicli  wirken  la.s.st,  neben  der 
Freude  an  der  Poesie  als  solcher  noch  einen  sittlich-religiösen  Kern 
sicliem.  Sie  leliren  uns.  wie  wir  können  uns  genügen  lassen  an  dem. 
was  da  ist;  sie  zeigen  uns  an  des  Dichters  eigenem  schönen  Vorbild^ 
wie  wir  bei  den  manniglaclien  Enttäuschungen,  welclie  das  Leben 
bringt,  in  den  unvergänglichen  Gütern  des  Geistes  Ersatz  lür  Ver- 
lorenes und  Erhebung  über  alle  Gemeinheit  des  Erdenlebeus  finden 
können,  damit  wir  ein  wahrhaft  glückliches,  geistig  gesundes  Dasein 
ftthren  mögen.  Soldi  höheres  Leben  aber,  ein  Leben  im  Geiste  und 
in  der  Wahrheit  kann  allein  aus  dear  lebendigsten  Liebe  zum  Höchsten 
stammen,  und  yon  solcher  Liebe,  die  da  Mutter  aller  Ideale  ist,  zeigt 
sich  unser  Dichterheros  beseelt.  Yon  dem  Sehen  mit  sinnlichen  Angen 
ausgehend  und  auihteigend  zum  intellectudlen  Schauen,  von  der  „guten 
Mutter  Natur"  anfimgend  und  auf  ihrer  Stufenleiter  emporklimmend 
zur  Welt  des  Geisteslebens,  gehingt  er  zum  Thema  und  Princip  sdner 
Gedankenlyrik,  der  heiligen,  schöpferischen  Liebe.  Durch  solche  Liebe 
erhebt  und  läutert  der  Dichter  unsere  Phantasie,  die  er  zu  V)ilden  weiss 
zur  tl)enTiittlerin  einer  übersinnliclien  Welt,  von  solcher  Liebe  mächtig 
ei^^i  itleii.  fordert  er  naclidrücklich  zu  strenger  Thätigkeit,  zum  Wirken 
und  Handeln  in  ilnvm  Dienste  auf.  Er  w^eist  uns  darauf  liin.  dass 
nur  das  Gute  wahrhaft  Bestand  hat,  und  dass  alles  ihm  Entgeg^n- 
strebende  doch  endlich  überwunden  werden  muss,  er  luhrt  und  mahnt 
zur  SelbstbeheiTschung  und  Selbsterziehung;  imd  dies  alles  tr&gt  er 
mit  solchem  Nachdrucke  vor,  dass  man  erkennt:  hier  kommen  seine 
innenten  Überzeugungen  zur  Sprache. 

Die  reifere  Jugend  (und  auch  die  darauf  folgende  Altersstufe,  weldier 
ja  immer  auch  noch  die  Fortbildung  erwünscht  ist)  wird  keiner  anderen 
Führung  sich  williger  unterordnen  als  der  durch  solche  Poesie,  wie 


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—   233  — 

wir  sie  bei  Rückert  finden^  in  welcher  Gemüth  und  firkenntnis  gttneiii- 
«ain  walten  und  welche  sowol  dnith  ihren  Inhalt  als  snch  durch  die 
in  ihr  herrsdiende  Schönheit  eine  Harmonie  unsere  geistigen  Seins 
herheifOhrt,  durch  welche  der  Wille  unmerklich  auf  das  HOchste  hin* 
gelenkt  wird.  Wie  unser  Dichter  selbst  ein  erhabener  Erzieher  nnsers 
Volkes  ist,  so  ist  auch  die  LectOre  und  das  Studium  seiner  Dichtungen 
besonders  für  den  gesammten  Lehrstand  segenbringend  und  herzerhebend 
denn  hiermit  wird  eine  überaus  reiche  Fundgrube  tiefster  Ideen  er- 
schlossen. Damm  darf  man  wol  auch  kühn  behaupten,  dass  die  Schule 
als  ein  den  idealen  Interessen  gewidmetes  Institut  zunächst  die  Ver- 
pflichtung habe,  die  in  Riickert's  Werken  nihenden  und  für  die  Schule 
noch  so  gut  wie  gar  nicht  nutzbar  gemachten  Büdungssckätze  der 
Jugend  zu  ihrem  Heile  zu  iil)ermitteln. 

Ist  es  zwar  nicht  abzuleugnen  (und  Rückert  erweist  sich  eben 
darin,  dass  er  diese  Erkenntnis  an  die  Spitze  seiner  Lebensauifassung 
stellt,  als  zeitgemässester  IMcliter),  dass  so  manche  Blüten  der  phan- 
tasieroUen  Vorzeit»  welche  den  Baum  der  Menschheit  schmückten,  von 
der  reiferen  Erkenntnis  unserer  Zeit  abgestreift  worden  sind,  dass  die 
Nenzeit  nicht  trftumerisdie  Stimmungsmenschen  hratt<diea  kann,  dass 
wir  yiefanehr  im  Zeitalter  der  ernsten  und  hewussten  Arbeit  stehen, 
die  in  wechselvoller  Gestalt  unser  Dasein,  Denken,  Handeln  und  Em- 
pfinden beherrscht:  so  ruht  doch  unserm  Dichter  sowol  als  auch  Aesa 
Erziehern  der  Gegenwart  noch  ToHere  Wahrheit  und  noch  grösseres 
Recht  in  der  Fordening,  die  auch  ein  Goethe  und  ein  Fichte  aus- 
sprachen, dass  der  ganze  Mensch  nach  all  seinen  Kräften  zu  bilden 
sei.  Wenn  demnach  der  überwiegenden  Verstandestliätigkeit  unserer 
Zeit  mit  ihren  Abstractionen,  wenn  der  fiebernden  Hast  dieser  Zeit 
Ziel  und  Mass  gesetzt  werden  muss,  so  könnte  das  hauptsächlich 
'ladurch  geschehen,  wodurch  es  Fr.  Rückert  anstrebt:  durch  Hinweis 
aal  die  Henlichkeit  Gottes,  wie  sie  sich  offenbart  in  Natur  und 
Mfinachenleben .  überhaupt  durch  fieissigere  Einführung  der  Schönheit 
in  unsere  Bildungskreise;  fenier  dadurch,  dass  wir  die  ältere  ideale 
£nft»  wie  sie  hervortritt  in  der  phantasievollen  Weisheit  der  Yoraseit, 

benntsen,  unsere  moderne  Nflchtemheit  mit  ihr  zu  beseelen;  end- 
lich dadurch,  dass  wir  einen  guten  und  starken  Wüloi  zu  bilden 
lachen  nicht  durch  fortwährenden  Hinweis  auf  die  Strenge  des  6e- 
aeties,  sondern  durch  Anleitung  zur  Selbstbesinnung,  durch  Anregung 
des  Strel)ens,  das  von  ferne  geschaute  Vollkommene  auch  so  viel  als 
nfiglich  zu  verwirklichen  und  dadurch,  dass  wir  solche  Hinlenkung 
d««  Willens  auf  das  Höchste  immer  im  Bande  der  Liebe  halten. 


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l)ies  alles  und  nru-h  s<»  niHiiclics  andere  ist  der  Segen,  welchen 
ein  LeJirer  ei'wacliseiier  .Tuiü:en(l  zu  erwai'teii  hat ,  der  sich  bemüht, 
seine  Schüler  einzuiiihren  in  die  reichen,  vieUältigen,  edlen  AnscliauungH» 
und  (iedankeii  Fr.  Kückert's.  Je  mehr  aber  in  den  hr»lieren  Schulen 
diesem  grossen  Dichter  zu  seinem  Rechte  verhoUen  wird,  desto  mehr 
wird  auch  bezüglich  unserer  ganzen  Nation  in  Erfüllung  gehen,  was 
er  in  der  „Weisheit  des  Brahmanen'*  gesprochen: 

Icli  bin  der  Leib  nicht»  der  evoh  vor  den  Augen  ateht^ 

Ich  bin  des  Liede;<  Tm,  der  ench  zu  Heuen  geht. 
Und  wenn  das  Lied  ergreift  und  heiligt  euren  Sinn, 
So  danket  Gott  datUr,  dass  ich's  geworden  bin. 


Wie  wir  ms  ein  filementurlehrbnch  der  GeograpUe  deskei. 

Von  tFohann  F^efberger'Weitmfdd» 

In  den  (tsterreicliisclien  Volks-  und  Büi*gerschulen  beginnt  der 
geographische  Unterricht  nach  den  gesetzlichen  Lehrplänen  auf  der 
Mittelstufe  mit  dem  bestimmten  Schulorte.  Von  hier  aus  bewegt  sich 
derselbe  zur  nächsten  Umgebung,  zum  Schulbezirke  imd  Heimatlande. 
Daran  schliesst  sich  eine  Betrachtung  der  Nachbarländer  an,  bis  die 
Schüler  eine  übersichtliche  Kenntnis  der  österreichisch- ungarischen 
Monarchie  besitzen.  Gleichzeitig  sind  die  wichtigsten  geograpluschea 
Gnmdbegriffe  zu  entwickehh 

Hieran  reiht  sich  auf  der  Oberstufe  eine  Betrachtung  der  Nachr 
harstaaten,  Europas,  der  Nachbarmeere  und  Continente,  und  den 
natOrliehen  Schlussstein  des  geographischen  Unterrichtes  bildet  eine 
Behandlung  der  Erde  in  ihrer  Totalitat  und  in  ihren  wichtigsten  Be- 
ziehungen zu  anderen  Weltkörpem. 

Dieser  Lehrplan  abstrahirt  von  jeder  fiir  das  kindliche  Lebens- 
alter unpassenden  Systematik,  kennt  auch  nicht  mehr  die  alte  Schei- 
dung des  LeFirstofles  in  einen  mathematischen,  physikalischen  und 
politischen  Theil,  sondern  ist  rein  psychologisch-didaktischer  Natur. 
Der  Lehrer,  welcher  nach  ihm  verfährt,  fragt  sich  jeden  Augenblick: 
Was  haben  meine  bestimmten  Schüler  tur  Vorkenntnisse,  woran  kann 
ich  meinen  neuen  Lehrstoti"  anknüpfen,  um  das  (-Jeistes-  und  Gemüths- 
leben  der  Schüler  ÜTichtbringend  anzuregen?  Soll  doch  nicht  blos 
das  Gedächtnis,  sondern  auch  die  Phantasie,  der  Verstand  und  das 
(Temüth  durch  den  geographischen  l'nterricht  geweckt  und  so  der 
Wille  indirect  auf  das  ethisch  Wertvolle  hingeloikt  werden.  £s  gilt 


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auch  hier,  dass  der  Lehrer  nach  den  geheimen  Krälteii  und  Fäden 
im  Seelenleben  seiner  Kinder  forsche  und  danach  seine  Thätigkeit 
eflirichte.  Ans  der  grossen  geographischen  Wissenschaft  ist  der  Stoff 
doirt  anssnwahlen,  zn  ordnen  nud  in  solche  Formen  m  kleiden,  dass 
er  diese  gebeimen  Fftden  und  Erftfte  der  Kindesseele  milchtlg  eigreife 
and  mit  sich  emporziehe  zu  emer  höheren  Stnfe  des  Geisteslebens. 
Der  Lehrer  vermag  hier  viel  zn  wirken,  besonders  wenn  ihm  gnte 
Lehrmittel  und  Handbücher  zur  Verfligung  stehen. 

Es  gibt  heute  in  Österreich  bereits  ausgezeichnete  wissenschaft- 
liche Werke  Uber  Geographie,  vorzügliche  Atlanten,  Bilder- Alben  und 
dgl.  Für  den  Mittelschuiunterricht  fehlt  es  auch  nicht  mehr  an  guten 
LehrbücheiTi  der  Erdkunde.  Dagegen  sind  der  wirklich  guten  Hilfs- 
bücber  tlir  den  geogra])liischen  Unterricht  an  Volks-  und  Bürgerschulen 
noch  wenige.  Es  ist  nicht  unsere  Absicht,  hiei-  im  fremden  Ueistes- 
lei&tungeu  Kritik  zu  üben,  wir  wollen  nur  die  Forderungen  entwickeln, 
welche  wir  an  ein  Lehrbuch  der  Geographie  für  Volks-  und  Bürger- 
aohnlen  stellen,  und  die  wir  demnächst  auch  in  einem  entsprechenden 
fiiche  praktisch  verwirklichen  wollen.  „Nur  die  Lumpe  sind  be- 
wheiden*',  sagt  Goethe. 

Der  elementarste  geographische  Unterricht  soll  mit  dem  Schul- 
orte  heginnen,  so  yeiiangt  es  die  Methode  und  das  Gesetz.  Die 
ilteren  Lehrbücher  der  Geographie  beginnen  alle  mit  der  Erde  als 
Weltkörper,  mit  dem  Universum.  Welcher  Weg  ist  der  richtige?  Denken 
wir  uns  in  die  Seele  eines  Kindes  von  8—10  Jahren.  Was  wird 
ihm  leichter  vei-ständlich  sein,  der  grosse  Krdkörper  in  seiner  Totalität, 
•Hier  der  kleine  tiaute  Winkel  auf  der  Erde,  wo  es  seine  fröhliche 
Kinderzeit  verlebt,  wo  \'ater-  und  Mutterliebe  täglich  es  umgeben,  wo 
•-Tesch\^ister  und  "Mitschüler  es  gelegentlich  hinaus  fiihren  in  Feld 
und  Wald,  Berg  und  Thal?  Woher  hat  ein  Kind  vor  und  während 
dia*  bisherigen  Schulzeit  seine  ersten  geographischen  Anschauungen 
gewonnen,  aus  dem  grossen  Universum,  aus  den  astronomischen  Ver- 
hältnissen der  Himmelskörper  zu  einander,  oder  ans  dem  kleinen 
8tickchen  Erde,  das  seinen  Geburtsort  bildet  und  umgibt?  Wenn  die 
Antwort  anf  diese  Fragen  selbstverstfindlich  ist,  so  darf  auch 
Lehrbuch  nicht  mit  der  astronomischen  Geographie,  sondern  nur  mit 
dem  Schulorte  und  seiner  nächsten  Umgehung  beginnen.  Nun  hat 
aber  jedor  Schnlort  eine  andere  Umgebung.  Es  kann  sidi  daher  Dir 
ein  Lehrbuch  auch  nur  darum  handeln,  tflr  diesen  ersten  Abschnitt 
«Ugemeiiie  Normen  zn  geben  darüber,  wie  die  zu^ligen,  dusch  das 
I^ben  selbst  gewonnenen  geographischen  Erkenntnisse  eines  Kindes 


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durch  entsprechende  Betrachtung  der  Heimat  erweitert  werden  sollen. 
Es  können  in  diesem  Theile  eines  Lehrbuches  einzelne  Lesestücke 
sich  finden  mit  Belehnmgen  über  £ltem  und  Familie,  Gemeinde,  Be- 
zirk, Land.  Sie  soQen  mOgMchst  concret  gehatten  sein,  eingiestreole 
Gedichtchen,  Spiftchlein  n.  dgl.  mögen  die  Liebe  und  Frende  der 
Kinder  am  (}eg6iistande  f5rdem. 

Je  mehr  sich  die  Kenntnisse  des  Kindes  im  fortschreitenden 
Unterrichte  erweitem,  desto  mehr  geographische  Hauptformen  treten 
in  seinen  Gesichtskreis.  Was  ein  Berg,  ein  Thal,  ein  Bach  oder 
Fluss  sei,  kann  ein  Kind  aus  der  geographischen  Betrachtuug  der 
Unij^ebun?  des  »Schulortes  lenien.  Viele  andere  geographische  AUge- 
nieinbegntte  muss  es  sich  im  Laufe  der  Schulzeit  noch  aneignen. 
Wie  soll  dies  geschehen?  Die  älteren  Lelubüclier  der  Geogi*aphie 
für  Volksschulen  haben  ofemeint.  man  müsse  derlei  Allgemeinl)eo:iitt*^ 
in  bündigen  Definitionen  schön  geordnet  als  Einleitung  vorausscliickeu. 
Ks  wurde  z.  B.  definirt,  was  eine  Insel  oder  Halbinsel  sei,  und  erst 
viel  später  lernte  das  Kind  gelegentlich  wirklich  eine  Insel  odar 
Halbinsel  kennen.  Was  war  hier?on  die  Folge?  die  DifinitionspaFa- 
graphe  lernte  das  arme  Kind  unter  schwerem  Angstsdiweiss  ana- 
wendig —  wozu?  Um  am  nfichsten  Tage  das  Memte  vergessen  zu 
haben  und  das  Nene  mit  nm  so  grosserem  Ekel  za  lernen.  Ist  der 
Allgemeinbegriff  das  Ergebnis  einer  Abstraction  von  Einzelbegriffim 
re^.  Einzeldingen,  so  mnss  man  anch  dem  Kinde  zuerst  diese  Ein- 
zeldinge nahe  legen,  daraus  mag  es  sich  concrete  Begriffe  Mden, 
ans  denen  wieder  die  Allgemeinbegriffe  erwachsen.  Zu  dieser  Denk- 
tliiitigkeit  aber  muss  der  Unterricht  amegen.  In  einem  Lelirbuche 
werden  demnach  derlei  Allgemeinbegriffe  nur  am  Schlüsse  des  ein- 
sclüägigen  Lehrstoffes  behandelt  werden  dürfen,  nicht  am  Anfange. 
Niemand  lernt  eine  Spraclie  dadurch,  dass  er  sich  hinsetzt  und  die 
Grammatik  oder  ein  Wörterbuch  von  A — Z  auswendig  lernt,  nein, 
der  lebendige  Gebrauch  der  Sprache  wirkt  entscheidend.  Ähnlich 
wird  ein  Elementarlehrbüch  der  Erdkunde  nicht  ganze  Abschnitte 
mit  Begriffserklftrungen  geben  dürfen,  sondern  die  Erklärungen  sind 
einzeln  über  den  ganzen  Ijehrstoff  zu  vertheüen  und  dort  zn  geben, 
wo  sich  unmittelbar  eine  G^egenheit  dazu  bietet. 

Damit  nahe  yerwandt  ist  eine  andere  wichtige  Frage  des  geo- 
graphischen Unterrichtes.  Die  älteren  Löhrbach«*  der  Geognq^ 
beschreiben  beispielsweise  zumt  das  Alpengebirge  in  seiner  TotaMtftti 
dann  die  einzehien  Theile  desselben,  ja  oft  beschreiben  sie  nieht  ein> 
mal,  sie  geben  nur  Namen  und  Zahlen.   Ähnlich  machen  sie  es  mit 


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der  geaunmten  Oro-  und  Hydrographie:  znerst  kommt  der  Contment, 
dami  das  Laad  in  diesem  Oontinente,  erst  das  allgemeine  Gaaize,  dann 
das  besondere  Einzelolject  Ist  dies  richtig?  Fragen  wir  wieder  die 
Kindesseele:  was  liegt  seiner  Vorstellung  näher,  ein  einzehier  Berg 
oder  ein  Qebirgsland  Ton  mehr  als  4000  □  Meilen?  Lernt  es  im 
Leben  selbst  znerst  weite  Gebirgsländer  oder  einzelne  Berge  kennen? 
Wenn  die  Antwort  klar  ist,  so  wird  ein  Lehrbuch  wieder  zuerst  den 
concreten  Theil,  dann  das  Uanze  beli;indt'ln  müssen. 

In  manchen  älteren  Handbücheni  der  (Teo^rai>hie  konnte  man 
seitenlang^e  Znsanimenstellungen  von  Fluss-  und  Ber^namen  mit  vielen 
Zahlen  tinden.  Das  arme  (-redächtnis  des  Kindes!  Ist  denn  der  Name 
die  Hauptsache  und  nicht  das  geographische  Object  selbst?  Wenn 
man  nicht  alles  beschreiben  kann,  warum  müssen  die  sibirischen 
Fttksse  und  die  chinesischen  Berge  in  der  Volks-  oder  Bürgerschule 
ach  so  breit  machen?  Liesse  sich  nicht  im  usuellen  Lehrstoffe  ane 
bessere  Auswahl  treffen  nadi  radicalen  Gesichtspunkten? 

ESnige  Lehibficher  der  Geographie  bringen  geographische  An- 
sdiasongstafl^  LandschaftsbQder,  Uenschentypen  n.  dgL  Dieser 
Vorgang  ist  ein  sehr  fruchtbarer ;  soll  doch  der  geographische  Unter- 
richt zum  TheÜ  ein  Ersatz  sein  f&r  die  nicht  überall  mögliche  Be- 
tnushtnng  der  wiridichen  Welt  in  ihrer  Grösse.  Allein  das  Format 
eines  Schulbuches  und  auch  das  von  An  schau  ungsbildem  ist  ein  kleines, 
der  Kostenpreis  soll  ein  billiger  sein;  es  empfiehlt  sicli  daher  mehr, 
geographische  Bilderatlanten  für  die  Schule  herzustellen,  derlei  Zeieh- 
nungen  aus  dem  «chulbuche  selbst  aber  wegzulassen.  Sie  stören  auch 
manchmal  die  Disciplin. 

Dies  wären  im  wesentlichen  die  Hauptgesiclitspunkte,  nach  denen 
wii*  glauben,  dass  ein  Elementarlehrbuch  der  Erdkunde  abgefasst 
sein  könnte.  Vielleicht  kommt  es  noch  dahin,  dass  auch  der  erste 
GeschichtsunteiTicht  eine  methodische  Beform  erfährt  und  mit  dem 
geographischen  Unterrichte  innig  verschmolzen  wii*d.  Die  Schule 
bitte  damit  viel  gewoimen.  Das  „Wie"  dieser  Befonn  und  Yer- 
sehmelzang  ist  fireüich  noch  kaum  embiyonisch  vorhanden. 

AniiM  ikung  des  Herausgebers.  In  Betreff  des  Gebraudies  von  Lehr- 
bfichera  in  den  Händen  der  SchUler  verweise  ich  auf  Jahrg.  II.  S.  601  ff.  dieser 
Zeittduifl,  sowie  auf  mebie  Methodik.  Wenn  es  sieh  aber  um  einen  Leitftulen  Ar 
in  Lehrer,  ndt  tndenn  Worten  m  «inen  amgefllfarten  Lehrgang  handelt, 
so  stnmne  ieh  bollgüch  des  geographischen  ünteniohtes  den  im  yoiatehmden  Anf* 
Sitae  entwickelten  Qnmdsfttssen  an.  D. 


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über  weiblielien  Erwerb  und  weibliche  Thätigkeit. 

Von  Friedrich  Avcker'Leoben, 

enn  noch  vor  hundert  Jahren  ein  Mann  wie  Jnstas  HSeer,  d^ 
man  Deatsdihinds  patriotischen  Franklin  nannte»  in  seinen  1774  er- 
schienenen „patriotischen  Phantasien"  allen  Ehistes  aussprechen  konnte: 
„er  würde  als  Hann  des  Volkes  kdn  Ifftddien  heiraten,  das  lesen  nnd 
schreibe  könne**;  und  wenn  ein  gewiegter  Schulmann  der  damaligen 
Zeit  soßrar  meinen  konnte,  dass  sich  mit  dem  Lesen  wol  noch  ein  Zweck 
verbinden  lasse,  nämlicli  das  Lesen  im  (Tesang-  nnd  Gebetbuche,  dass 
aber  das  Schreiben  bei  den  „virginibus  geradezu  ein  vehicul  ziir 
Lüderlichkeit  sei,*'  und  wenn  man  dagegen  die  Menge  von  Mädclieii 
und  Krauen  betraclitet.  die  heutzutage  in  den  Amtsstuben  herumsitzen 
und  die  Feder  füliren,  oder  «:ar  jene  Auserwälilten,  die  von  einigen 
Universitäten  zu  Doctoren  juris  odei*  medicinae  ernannt  werden,  —  80 
muss  man  ob  des  gänzlichen  Umschwungs  staunen,  den  die  Frauen» 
frage  in  diesem  Einen  Jalirhundert  genommen  hat. 

In  der  neuesten  Zeit  ist  die  Frage  der  Frauen-Emancipation  sogar 
zur  brennenden  Tagesfrage  geworden,  und  die  edelsten  Geister  mfihen 
sich  ab,  ihr  gerecht  zu  werden  und  sie  auf  dem  einzig  richtigen  — 
weil  einzig  möglichen  —  Wege  der  Mittelstrasse  ihrer  Lösung  entgegen 
zu  ffthren. 

Die  Emancipation  der  Frau  soll  nach  dreifacher  BichtUng  ge- 
sdiehen;  sie  fordert: 

1.  Gleichheit  der  Bildung  und  freie  Wahl  des  Berufes, 

2.  Gleichheit  der  politischen  Rechte, 

3.  Gleichheit  in  der  Ehe. 

Die  folgende  Abhandlung  soll  sich  nur  mit  der  ersten  diej^r 
Forderungen  bescliäftigen. 

Dass  die  (-rleichberechtigung  zur  Edaugung  jeder  Bildung  und  zur 
ungehinderten  Wahl  des  Berufes  nui"  „im  Principe gefordert  werden 
kann,  in  Wirklichkeit  sich  aber  nicht  auf  alle  Berufsarten  ausdehnen 
lässt,  vei-steht  sich  von  selbst  Denn  da  es  Berufsarten  gibt,  welche 
eine  männliche  Kürperkraft  nnd  Körper -Constitution  erfordern,  so 
müssen  diese  yon  yorn  herein  dem  weiblichen  Geschlechte  verschlossen 
bleiben.  HierfBr  die  Grenze  zu  bestimmen  ist  schwer,  und  nur  die 


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Praxis  wird  da  von  selbst  sondeiii  und  die  Linie  des  Möglichen  er- 
halten. Aber  so  ubeitrieben  scheint  es  anch  gar  nicht  mit  dieser 
Gleichberechtigimg  zum  Bei'ofe  gemeint  zu  sein.  Es  ist  mehr  der 
weibliche  Stolz  (mitunter  wol  aach  die  weibliche  Eitelkeit),  der  so 
rigoros  auftritt  und  besonders  auf  dem  Felde  geistiger  Thätigkeit  sich 
nicht  zurückgesetzt  wissen*  wllL  Anderseits  legen  die  Vorkftmpferinnen 
dar  Frauenfrage  ihre  Lanzen  em  f&r  all  die  Tansende  ihres  Gesdilech- 
tes,  die  den  Erwerb  durch  diriiche  Arbeit  zu  ihrem  Unterhalte  zu 
suchen  gezwungen  sind,  oder  die  ihn  aus  Trieb  zur  Thätigkeit  und 
ans  Vergnügen  suchen,  und  sie  kämpfen  dafttr  —  man  kann  es  nicht 
ttdei-s  sagen  —  mit  vollkommener  Bereclitigimg". 

In  den  niederen  Schichten  der  Gesellschaft  hat  es  die  Noth  ja 
iiiiiner  mit  ?;i<"h  gebracht,  dass  das  Weib  nebst  seiner  Bestimmung 
ttir  die  8oi-ge  des  Hauswesens  aucli  P^rwerb  und  Verdienst  nach  aussen 
suchen  niusste.  Tm  Arbeiterstande  ist  dies  eine  tägliche  Ersclieiiiung. 
Anders  in  den  mittleren  Schichten  der  Gesellschaft.  Hier  kannte  man 
bis  in  die  Neuzeit  nur  wenig  das  Wort  „Erwerb**.  Nur  wenn  die 
Noth  allzusehr  drängte,  gritfen  Mädchen  und  Frauen  zu  Erwerbs- 
zweigen, und  dies  oft  nur  heimlich,  yerschämt  Arbeit  suoliend.  Meist 
war  es  der  dürftige  Erwerb  mit  der  Nadel,  der  wegen  Mangels  wissen- 
sehaftlicher  Bildung  gewählt  wurde,  oder  es  waren  niedere  Dienste 
als  Kinder-  oder  Stubenmädchen  oder  Ladendienerinnen,  zn  denen  man 
sich  herbeilassen  musste.  Nur  wenigen  gehing  es,  weil  eben  die 
n5thige  Bildung  fehlte,  sich  dem  Erziehungs&che  mit  Erfolg  zn  widmen. 
In  der  Begel  beschränkte  sich  auch  dies  auf  ein  v^einzeltes  und  oft 
sehr  mangelhaftes  Unterrichtgeben  in  der  Musik  oder  in  dner  Üremden 
Sprache,  die  man  kaum  selbst  erst  erlernt  hatte.  In  den  weiblichen 
Erziehungs- Instituten,  welche  einzelne  mit  „obrigkeitlicher  Bewilli- 
gung*' errichten  durften,  war  kein  einziges  rjehifach,  die  Handarbeit 
ausgenommen,  von  weiblichen  Lehrkräften  vertreten. 

Da  nun  solcher  Weise  eine  Versorgung  der  Töchter  durch  Arbeit 
uud  durch  Ergreifen  eines  Berufes  eine  so  geringe  war,  war  es  nur 
natürlich,  dass  man  dafür  eifriger  an  eine  Versorgung  durch  Heirat 
denk^  musste.  Daher  die  unerquickliche  Hast  von  Seite  der  Eltern 
sowol  wie  der  Töchter,  frühzeitig  und  um  jeden  Preis  auf  eine  solche 
Versorgung  auszugehen,  und  daher  auch  die  vielen  ohne  Neigung  und 
ans  niedrigen  Motiven  geschlossenen,  oft  unglflcklidien  Ehen  mit  all 
dem  Unheil,  das  sie  in  ihrem  Gefolge  führen  und  ttber  die  G^esell- 
schaft  bringen. 

Und  bei  dieser  Betrachtung  ist  noch  nicht  der  Schaar  Jener 


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Mädchen  und  Fl  auen  iredacht,  die  durch  Noth  oder  auch  dui'ch  Küssig- 
gang  dem  Laster  in  die  Arme  creführt  werden. 

Wahrlich,  die  Frauenfrage  wurde  immer  dringender.  Sie  wui*de 
es  in  dem  Masse,  als  einerseits  unter  dem  männlichen  Theile  der  Ge- 
sellschaft die  Bildung  sich  in  immer  weitere  Kreise  wbreitete  und 
den  Gontrast  mit  der  zurückbleibenden  Bildung  des  weiblichen  Ge- 
schlechtes immer  anfßUliger  machte,  anderseits  aber  Mmxh,  tes  das 
verfeinerte  Galtarleben  die  Lebensbedfirftüsae  e^MHe  und  vwvielftlr 
tigte,  daher  das  materielle  Leben  rathoterte,  ynß  es  iftariyuipt  dte 
socialen  Verhältnisse  umgestaltete.  Die  Yersorgong  der  TOcbber  m- 
wol  inneriudb  der  FamiHe  als  dnrch  EhesdJiiMPang'  nadi  aaowa 
wnrde  immer  erschwerter  und  somit  das  Bedfirftiis  nach  seIhBtaMiidigen 
Erwerb  für  dieselben  immer  ausgedehnter. 

80  verband  sich  die  materielle  Notlnv  endigkeit  mit  der  geistigen 
Forderung  der  Zeit,  nm  den  gerechten  f^ilteruf  des  weiblichen  (Ge- 
schlechtes nach  Gleichberechtignfr  zur  Bildung  und.  den  gesellschaft- 
lichen Missverhältnisseu  zufolge,  auch  nacli  einem  grösseren  Räume  zu 
ötfentlicher  Thätigkeit  und  Erwerb  laut  werden  zu  lassen.  Wie  aber 
namentlich  letzteres  zu  vereinen  sei  mit  der  Beschränkung,  die  das 
Geschlecht  gebietet,  dass  die  Frau  dabei  nicht  des  Tjpus  edler  Weib- 
lichkeit verlustig  gehe,  darin  besteht  die  eigenthümliche  Schwierigkeit 
bei  Lösung  der  Frauenfrage.  Weibliche  Sinnesart  und  weibliche  An- 
muth  düifen  nicht  nntergeh«i,  wie  gross  und  weit  dem  Weibe  «och 
der  Baum  za  öffentlichem  Wirken  gebissen  wird. 

Die  weibliche  Erziehong  hat  demnach  in  der  Jetztieit  ihre  Auf- 
gabe im  allgemeinen  nach  zwei  Bichtangen  hin  zu  lösen.  Einerseits, 
und  zwar  in  erster  Linie,  hat  sie  das  junge  Mädchen  fttr  sme  Be- 
stimmung als  Gattin,  Mutter  und  Hausfrau  zu  bilden,  in  zweiter  Linie 
aber  auch  zu  befUiigen,  im  NotbüEtlle  selbstständig  bestehen  und  hierzu 
irgend  einen  Zweig  der  Thätigkeit  und  des  Erwerbens  ergieifen  zu 
können,  der  es  nach  Massgabe  seiner  Stellung  in  der  Ge.sellschaft 
nicht  nur  vor  Mangel  schützt,  sondern  auch  sonst  seinen  Öchatl'ens- 
di'ang  und  seinen  Ehrgeiz  betriedigt. 

Diese  Doppelrichtung  der  Mädchenerziehung  ist  während  des 
Kindesalters  leicht  einzuhalten.  Der  Unterricht  in  der  Volks-  und 
Bürgerschule  lässt  Zeit  genug  für  die  Erziehung  des  Mädchens  zu 
}läuslichkeit  und  weiblicher  Beschäftigung.  Es  >\ird  nur  an  der  Ge- 
schicklichkeit der  Elteni  liegen,  in  dem  jungen  Mädchen  den  Sinn  und 
die  Liebe  zu  Häuslichkeit  und  weiblichem  Wesen  schon  während  der 
Schulljahre  zu  entwickeln.  Kritischer  und  schwieriger  wird  dies  wer- 


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deOt  wenn  das  Mädchen  —  dem  JnBgfraaenaJter  eatgegeoieifend — eine 
Aoslnldiiitg  erlialten  soll,  die  mehr  Zeit  und  Mühe  heasBpniciit,  a«di  ehi 
stirkeres  Interesse  fessdt,  und  so  die  Freude  an  hioalichem  Schaffsn 
ond  Wirken  leicht  heeintiftchtigen  k(fiiiate,  sei  es,  dass  diese  weitere 
Büdong  gleich  waf  einen  praktisdien  Erwerb  abmelt,  sei  es,  dass  sie 
den  Stofengang  höherer  Anshttdimg  ans  blosser  Uehe  nur  Wissen- 
schaft einschlagen  soll.  Da  muss  um  so  sorglicher  der  Sinn  für  häns- 
liche  Thätigkeit  und  weibliches  Schaffen  bewahrt  werden:  dieser  Sinn 
soll  wie  ein  helljrlänzender  Faden  sichtbar  bleiben,  an  welchem  sich 
die  Kennt nisst'  nur  als  edle  Krvstalle  ansetzen.  Häusliche  Thäti^rkeit 
iiud  weibliches  Wirken  düi-fen  nie  ganz  ausser  t'bung  kommen,  der 
Sinn  (latür.  die  Freude  daran  dürfen  nie  ganz  ersterben.  Besonders 
bei  wissenschaftlichem  streben,  wo  Geist  und  Kraft  drängen,  einen 
höhei-en  wissenschaftlichen  Standpunkt  zu  erringen,  wo  es  gilt,  ein 
regelmässiges  Stadium  zu  diesem  Ziele  einzuschlagen,  wo  also  Gefahr 
vorhanden,  dass  der  weibliche  Sinn  p:anz  in  dem  Eifer  tiir  das  Stu- 
diimi  ai]i|;ehen,  TielleiGht  gar  das  Zerrbild  eines  weiblichen  Studenten 
mit  mftnnlichen  Manieren  und  emancipirter  Denkungsweise  entstehen 
konnte,  da  muss  diese  Gefidir  um  jeden  Preis  yermieden,  lieber  das 
Studium  als  das  Wdb  geopfert  werden. 

Aus  all  dem  Iblgt,  dass  den  MKddien  wol  jede  geistige  Ausbil« 
dung  zugänglich  sein  soll  (wer  könnte  denen,  die  dazu  befähigt  sind, 
die  ToDe  Berechtigung  dasa  bestreiten?),  dass  aber  auch  diese  Ansbil- 
dung  schon  an  und  für  sich  —  aberesehen  von  Erwerb  und  Beruf  — 
durch  die  überwiegende  Anforderung  an  die  Erlialtung  des  Sinnes  für 
Häuslichkeit  und  häusliches  tSehaffeu  in  natürlicher  Weise  sich  selbst 
l>esrhi-änkt.  Dies  der  Unterschied  im  Wesen  der  Ausbildung  zwischen 
Mädt  hen  und  Jüngling.  Beim  Mädchen  existirt  dies  zweite  Element, 
das  beim  Jüngling  nicht  vorhanden  ist,  daher  die  scientifische  Bildung 
för  diesen  eine  uneingeschränktere  und  weitergehende  sein  kann. 

Ebenso  natürlich,  nur  noch  prägnanter,  tritt  dieser  Unterschied  in 
der  noch  grösseren  Beschränkung  des  weiblichen  Geschlechtes  bei  der 
Wahl  einee  Berufes,  eines  Erwerbes,  oder  sonst  einer  öffentlichen  Wirk- 
samkeit an£  Hier  kommt  zu  der  emschränkenden  moralischen  Forde- 
mng:  dem  Geschlecht  den  Typus  der  Weiblichkeit,  Anmuth  und  Sitte 
zu  bewahren,  noch  das  eingangs  erwähnte  Hindernis:  dass  die  weib- 
liehe Köiper-Gonstitntion  für  viele  Beruflmrten  gar  nicht  geeignet  ist 

Somit  redneirt  aidi  die  erste  der  Forderungen  im  Capitel  der 
I^raaen-Emancipatlon:  ^.Gleichberechtigung  zur  Bildung  und  ireie  Wahl 
des  Berufes**  in  der  Praxis  auf  viel  engere  Grenzen,  als  es  sich  in 


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der  Theorie  dem  Principe  iiacli  ausspricht.  Diese  Grenzen  zu  finden 
und  einzuhalten  ist  Sache  der  Fürsorge  des  Staates  sowol,  als  Sache 
der  elterlichen  Erziehung  in  der  Familie. 

Der  Staat,  indem  er  einerseits  die  Bildung  des  weiblichen  Ge- 
schlechtes durch  Unterrichtsanstalten  aller  Art  fordert,  und  dabei  im 
Principe  snsspricht,  dass  der  Fran  jedvede  geistige  Ansbüdimg  mög- 
lich gemacht  werden  soll,  wird  anderseits  die  erwfthnte  Grenze  doch 
da  ziehen,  wo  sie  zum  allgemeinen  Wole  zu  ziehen  nofhwendig  er- 
scheint Eine  Umschau  auf  dem  Felde  der  Bemfethätigkeit  der  Frauen 
wird  diesen  Punkt  leicht  finden  lassen. 

Die  Biehtung,  in  welcher  die  Fran  in  Bezug  auf  Erwerb  thätig  sein 
kann,  ist  eine  dreifache:  die  gewerbliche,  die  künstlerische,  die  wissen- 
schaftliche. Für  die  gewerbliche  sorgt  der  Staat  durch  niedere  und  höhere 
Töcliterschulen,  namentlich  aber  durch  gediegene  Fi  aiienerwerbschulen. 
Tietztere  »lualiliciren  speciell  zum  gewerbliclien  Beruf,  zur  Thätigkeit 
im  Handel  und  iti  der  Industrie.  Die  Fäclier.  die  sie  zu  lehren  haben, 
sind:  kaufmännisches  Reclmen.  Münz-,  Mass-  und  Gewichtskimde,  Buch- 
haltung, moderne  Sprachen.  Verkelu*s-,  Handels-  und  Waarenkunde, 
Chemie,  Technologie,  Zeichnen  (Ornament-  und  Musterzeiclinen),  Hand* 
arbeiten  jeglicher  Art,  Zuschneiden,  Anfertigung  von  Kleidungsstücken, 
Ton  Patzsaclien  u.  s.  w.  In  diesen  Fächern  bewandert,  hat  das  Mftdchen 
volle  Freiheit,  jede  einschlägige  Thätigkeit  zu  eigrdfen.  Der  Staat 
Betet  derselben  keine  Grenzen,  erweitert  sogar  die  Sphäre  des  Erwerbens 
durch  Verwendung  yon  weiblichen  Individuen  in  Post-  und  TelegrapheD- 
Ämtem,  bei  Eisenbahnen,  zur  Krankenpflege  in  Heilanstalten  u.  s.  w. 

Noch  weniger  eingeengt  ist  die  Thätigkeit  der  Frau  in  Bezug  auf 
künstlerisches  Streben.  Hier  kann  sie  frei  um  den  höchsten  Preis 
verl>en  wie  der  Mann.  Die  Mittel  zur  Ausbildnng  für  die  Kunst,  die 
Kiuistschulen ,  die  Konservatorien  und  Akademien  der  darstellenden 
\ne  bildenden  Künste,  sind  beiden  (Teschlechtei-n  zugänglieh.  Wo  etwa 
nocli  vereinzelt  ein  Vorurtlieil  gegen  uneingescliränkte  Zulassung  von 
Frauen  zu  den  Maler-  und  Bildhauer-Akademien  besteht,  wird  das- 
selbe der  Forderung  der  Zeit  bald  weichen  müssen.  Und  so  wie  die 
Mittel  zum  Studium  frei  und  uneingesclu'änkt  gegeben  sind,  so  ist  es 
im  vollkommensten  Masse  auch  die  Verwertung  der  Kunst  und  der 
Erwerb,  der  damit  zu  gewinnen  ist. 

Anders  ist  es  mit  der  Thätigkeit  der  Frau  in  wissenschaftlicher 
Richtung.  Hier  können  die  Mittel  zur  Ausbildung  nur  bedingungs- 
weise frei  gegeben  werden,  weil  die  Verwertung  der  Wissenschaft 
für  die  Fran  niur  eine  viel  beschränktere  als  f&r  den  Mann  sein  kann. 


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—   243  — 


Zwar  bis  zu  einem  gewisjsen  Grade  wissenschaftlicher  Ausibildung, 
wie  de  die  höheren  Töcliterschiilen,  dann  die  sonrenannten  Fortbil- 
dmgsscbiilen  and  die  weiblichen  Seminarien  zur  Bildung  Ton  Leh- 
rainnen  und  Ei-zieherinnen  bieten,  kann  der  Staat  vollkommen  Für- 
floige  tapeffen  und  damit  der  Frau  den  Bemf  als  Erzieherin  und  Leh- 
retiB  der  weiblichen  Jngend  sowol  in  privater  Ansttbnng  wie  an  Öffent- 
lichen Lehranstalten  sichern.  Bei  gediegener  Ansbüdnng  hätten  hier 
die  Fraara  das  weitere  Ziel  zn  erreiehen,  die  Beihilfe  männlicher  Pro- 
fomren  an  den  weiblichen  Lehranstalten  mit  der  Zdt  ganz  entbehrlich 
a  machen,  üidem  sie  selbst  anch  für  die  höheren  Fächer  als  Leh- 
rerinnen eintreten.  Diese  Emancipation  wäre  wol  das  Erste,  das  sich 
der  Khrg^eiz  der  Frauen  nicht  nelimen  lassen  sollte.  Hierzu  bedaif  es 
aber  niclit  der  Errichtung  weiblicher  Gymnasien  (analog  den  männ- 
lichen), da  die  formelle  Bildung  durcli  die  alten  Sprachen  nicht  absolut 
nothwendig  ist,  wie  aueli  nicht  weiblicher  Universitäten,  sondern  Mos 
der  Errichtung  höherer  Seminarien  (neben  den  niederen),  von  tiu  liiigen 
Mäiijiem  der  Wissenschalt  so  lange  geleitet,  bis  aus  den  Anstalten 
seihst  Professorinnen  heiTorgehen  können,  welche  die  Stelle  ihrer  Leh- 
rer einzunehmen  vermögen.  Ans  der  Zahl  der  sodann  vom  Staate 
angestellten  Professorinnen  oder  Directorinnen  könnten  einzelne  im 
EiziehungsfiMshe  besonders  bewährte  Franen  sogar  als  Beii'äthe  fOr 
wdhUche  Erziehnng  im  Unterrichtsministerinm  und  bei  den  politischen 
Behörden  der  Provinzen  mit  der  Leitung  der  weiblichen  Erziehung 
a  emem  grösseren  Wirkungskreis  verwendet  werden. 

Danüt  ist  dem  wissenschaftlichen  Streben  der  Frau  ja  ein  bedeuten- 
des Feld  eröffiiet,  und  bis  hieriier  kann  der  Staat  die  Concurrenz  auch 
nbeschränkt  freigeben,  da  Zweck  und  Ziel  praktisch  und  möglich  sind, 
ind  der  Beruf,  zu  deui  das  Studium  fiihrt,  ein  dem  Geschlecht  mit  Recht 
zukommender,  die  staatliche  Ordnung  nicht  beeinträchtigender  ist. 

Würde  der  Staat  abei-  weibliche  (Tymnasien  und  weibliche  l'jii- 
\>i>itäten  emchten.  so  müsste  er  sicli  iierbeilasseii,  nebst  dem  männ- 
lichen Beamtentum  des  Staates,  das  namentlich  aus  den  Hr)rsälen  der 
Rechtswissenschaft  hervorgelit,  auch  ein  weibliches  Beamtentum  zu 
»cbatfen,  wollte  er  nicht  die  Menge,  die  sich  an  die  geödeten  Thikreu 
<l£r  Gymnasien  und  Universitäten  mit  der  fioffiiung  auf  einstige  An- 
ateUmgen  herandrängen  würden,  in  ihren  gerechten  Erwartungen 
tloschen.  Hier  ist  also  die  Grenze,  sowol  tSar  das  Studium  als  auch 
ftr  den  Beruft  die  der  Masse  des  weiblichen  Geschlechtes  zu  dessen 
eigenem  Wole  wie  zu  dem  des  Staates  gezogen  werden  muss.  Ein 
weibliches  Beamtentum  zu  schaffen,  kann  dem  Staate  wol  nicht  bei- 


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kommen.  Dagegen  mag  es  einzelnen  Mädchen  und  l'rauen,  die  bei  be- 
sonderer Begabung  den  Drang  nacli  den  Universitäts-Studien  in  sich 
fühlen,  nicht  versagt  bleiben,  diesem  Drange  folgen  zu  können.  Sie 
sollen  selbst  von  Seite  des  Staates  Unterstützung  datür  finden.  Für 
solche,  wenn  sie  durch  strenge  abgelegte  Prüfungen  die  nüthigen  Vor- 
kenntnisse erwiesen  haben,  können  immei'hin  abgesonderte  Vortxä^ 
an  Universitäten  eingerichtet  werden. 

In  England  haben  seit  einem  Jahrzehnt  die  Universitäten  v«m 
Cambridge,  Oxford  und  London  Studiencnrse  für  Damen  (Ladies  Col- 
leges) erQflhet,  die  den  Universltftts-Oiirsen  Ar  Mämer  gm  gleich  ge- 
halten sind,  nnd  wofftr  Cambridge  nnd  Oxford  den  Damen  Certificate, 
London  sogar  (^cielle  Diplome  ausstellt*) 

Mit  der  allgemeinen  Frage  über  die  Zulassung  der  flauen  zn 
den  Universitäten  steht  die  specieüe  ttber  das  Studium  der  Medidn 
und  Chirurgie  von  Seite  der  Frauen  in  engem  Zusammenhang.  Hier 
winkt  den  Frauen  ein  Beruf,  nnd  zwar  ein  eben  so  schöner  und  hu- 
maner als  auch  verlockender  und  den  Ehrgeiz  befriedigender  üeriü'. 
Die  Heranbildung  weil)licher  Arzte  mit  der  Bestimmung  als  Frauen- 
und  Kinderärzte  hat  eine  nicht  zu  verleugnende  i)raktische  Seite.  Das 
weibliche  Geschlecht  plaidirt  dafür  auf  Ginind  der  Schonung  seiner 
sittlichen  Gefühle,  indem  es  der  liäutiir  vorkommenden  Fälle  gedenkt, 
wo  die  Anwesenheit  eines  männlichen  Ai-ztes  am  Krankenbette  der 
Frau  bei  dieser  die  peinlichsten  Empfindungen  hervorzurufen  yermag. 
Auch  am  Krankenbette  des  Kindes  sei  der  weibliche  Arzt»  weil  inniger 
vertraut  mit  der  Natur,  dem  Wesen  nnd  der  Äusserungsart  des  Kin- 
des, bei  sonst  gleichem  Wissen,  besser  am  Platze  als  der  mftunlidie. 
Daher  ertönt  das  Verlangen:  den  Srztlichen  Beruf  auch  der  Frau 
freizugeben,  als  eine  der  lautesten  Forderungen  von  den  Lippen  der 
Vorkämpferinnen  der  Frauen-Emandpation. 

Die  Frage  hat,  seit  sie  aufgetaucht,  zu  vielfochen  gegnerischen 
Erörterungen  geführt,**)  wurde  aber  auch  an  vielen  UniversitAteu 
praktisch  zu  lösen  begonnen.  Ob  die  Beispiele  der  bisher  mitunter 
mit  ausgezeichnetem  Erfolge  promovirten  weiblichen  Äi-zte  die  Frage 
schon  Uber  den  Standpunkt  des  Experiments  zu  erheben  im  Stande 
waren,  vermögen  wii-  nicht  zu  entscheiden.   That^ache  ist,  dass  in 

*)  Siebe  Päd.:  Jahrgang  II.  6.  (März-)  Heft. 

**)  Wir  erwlhnea  hier  mir  die  beiden  gegueriacben  Sduiften  sweierFachmliiBer 
ans  dem  Jahre  1872:  ^Das  Stndiom  der  Mediehi  durch  Vtwm**  von  FrotaorDr.  m 
Biachoff  in  Mfladieo,  md  „Daa  Itewa  StQdiiun  und  die  Intereoocn  der  Hochaehile 
Zürich"  von  Prnfeamr  Dr.  Heimaun  in  Zürich. 


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den  v^rwinlgton  Staaten  Nordamerikas  die  meisten  UniTersitäten  die 
Fnaen  zum  Stadimn  der  Medicin  zulassen,-  und  dass  daselbst  fast 
keioe  grossere  Stadt  existirt»  in  der  nicht  weibliche  Ärzte  thätig  wftren. 
In  fioropa  gestatten  Bng^d  und  Schweden  das  Stadium  nnd  die  Exa- 
mina ftr  die  Praxis.  In  Holland  ist  das  Stndimn  ides  Apotheker- 
wesens  den  Franen  frei  gegeben.  In  Petersborg  ist  ihnen  an  der 
medo-chiruroischen  Akademie  ein  vierjähriger  C'ursus  eröflftiet.  In 
Deutschland  nehmen  einige  Universitäten  Frauen  als  Hospitantinnen 
auf,  raachen  aber  diese  Begünstigung  von  dem  freien  Willen  der 
Professoren  abliängig.  Eine  Ansnalime  macht  die  Hoclischule  in  Zü- 
rich, wo  die  weibliehen  nnd  männlichen  Studenten  gleiche  Rechte  zur 
Erlanguntr  des  Doctorgrades  Ix'sitzen,  und  aUjälirlich  eine  ziemliche 
Anzahl  Krauen  das  Diplom  erhalten. 

Freilich  ist  die  junge  Studentin,  wenn  man  sich  dieselbe  am  Secir- 
tische  denkt,  kein  angenehmes  Bild.  Aber  bis  sie  dahin  kommt,  haben 
die  Vorstudien  schon  eine  Reihe  von  Jahren  gedauert  und  ihr  Zeit 
gdassen,  dass  der  Emst  ihres  Strebens  nnd  der  unwiderstehliche 
Drang  nach  der  Wissenschaft  sich  hinlänglich  bewfthren  konnten,  so 
dass  die  Erscheinung  eine  die  zarte  Wdbtichkeit  minder  beleidigende 
Fbtnmg  gewinnen  kann,  besonders  wenn  letztere  auch  wurkUdi  nicht 
danmter  leidet,  was  immerhin  ganz  gut  gedacht  werden  kann.  Dass 
es  e^n  nur  ehie  Sache  ftr  einzefaie  Anserwthlte  sein  kann,  nicht  für 
die  Menge  taugt,  liegt  auf  der  Hand.  Uberhaupt  wird  die  praktische 
Thätigkeit  der  Frm  auf  wissenschaftlichem  Felde  der  Mühen  und 
Schwierigkeiten  wegen,  die  einerseits  durch  die  doppelte  Aufgabe  der 
weiblichen  Erziehung,  anderseits  durch  die  erwähnte  „Grenze"  ge- 
schahen werden,  immer  nur  eine  sporadische  Erscheinung  bleiben.  Ein- 
zelnen aber  wii*d  sie  vom  St<iate  nicht  verwehrt  werden  können. 

Der  Staat  kann  ja  überhaupt  nur  in  gi'ossen  Zügen  Fürsorge 
treffen,  dass  das  weibliche  Geschlecht  in  Bezug  auf  öffentliche  Thätig- 
keit und  Erwerb  nicht  in  Bahnen  gelenkt  werde,  die  den  Charakter 
der  Weiblichkeit  gefiihrden.  Die  eigentliche  Sorge  in  dieser  Beziehung 
kommt  der  Familie  zu  nnd  liegt  in  der  Erziehung,  die  dem  jungen 
weiblichen  Wesen  als  Erstes  dem  Sinn  und  den  Geschmack  fQr  edle 
Weiblichkeit  efaiimpft  und  bewahrt,  so  dass  das  junge  Mftdchen  von 
selbst  sieh  von  allem  abgestossen  ffthlt,  das  ihm  diesen  Typus  der 
Weiblkiikeit  gefthrden  kdnnte.  Bas  dem  weiblichen  Geechlechte  offen 
gelassene  Feld  des  Erwerbes  und  des  öffentlichen  Wirkens  ist  so  gross, 
•lacss  es  keines  excentrischen  und  ungeheuerlichen  ( 'bergreifens  in  die 
Thätigkeitsspliäre  des  Mannes  bedarf,  um  der  Frau  genugsam  K«um 

Piodafogiam.  4.  Jahrg.  H«ft  IV.  17 


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zur  Entfaltung?  ilirer  Fähigkeiten  und  zur  befriedigenden  Au.^nützun^ 
und  Verwertung  derselben  zu  la.sseu.  Es  wird  Sorge  der  Faiuilie 
sein,  dass  dieser  Raum  ihrem  Streben  und  ihrem  Ehrgeize  auch  \\irk- 
lich  genüge.  Es  geschieht  el)en  durch  Erhaltung  des  Sinnes  für  Häus- 
lichkeit, wodurch  ein  (Teuvn^-cwicht  gegen  jedes  excentrische  Sti-eben 
geschaft'en  wird.  Dieser  Grundsatz  soll  aufrecht  erhalten  werden,  in 
welcher  Richtung  aucli  (sei  es  in  gewerblicher,  künstlerischer  oder 
wissenschaftlicher)  das  junge  Mädchen  seine  £rwerbsthätigkeit  beginnt) 
und  wie  sehr  auch  sein  ganzes  Wesen  davon  in  Anspruch  genommen 
sein  mag.  Immer  soll  es  sich  den  Sinn  für  häusliches  Leben  und 
Wirken,  mid  die  Eigenschaften,  die  es  als  Gattin,  Matter  und  Haus- 
frau braucht,  ungeschmälert  als  einen  Schatz  bewahren,  der  ihm  den 
reichsten  Segen  für  die  Zeit  verspricht,  wo  das  Geschick  es  an  die 
Seite  eines  Gatten  ruft.  Die  Franenfrage  hat  eben  heutzutage  diese 
doppelte  Seite,  daher  die  Erziehung  der  Madchen  die  oberwihiite 
doppelte  Aufgabe.  Befindet  sich  doch  die  Mehrzahl  der  Familien  in 
Veihältnissen ,  die  es  entweder  gebieterisch  fordeni,  dass  sich  die 
heranwachsende  Tochter  alsbald  ii-gend  einer  Erwerlisthätigkeit  zu- 
wende, oder  die  es  wenifjstens  wünschen  lassen,  dass  sie  darauf  v<jr- 
bereitet  sei  für  den  l^all,  dass  sie  niclit  heiratet;  selbst  als  verheira- 
tete Frau  können  die  Verhältnisse  zum  Miterwerben  an  der  Seite  des 
Gatten  auffordern,  können  endlich,  wenn  ihr  das  Unglück  den  Gatten 
wieder  entreisst,  die  Witwe  ganz  auf  die  Erhaltung  der  Familie  an- 
weisen. Aber  auch  für  die  reich  bemittelten  Töchter  des  Landes  for- 
dert es  der  Geist  der  Zeit  und  die  B'ranenwiirde,  dass  sie  kein  nnt«- 
loses  Leben  in  eitlem  Nichtsthnn  Twbringen,  sondern  sich  irgend  einer 
Thätigkeit,  und  w^ui  sie  nicht  heiraten,  irgend  einem  edlen,  sie 
beschäftigenden  Lebenszwecke  hingeben. 

Das  eben  ist  der  grosse  Umschwung,  den  die  Franenbildnng  seit 
den  letzten  hundert  Jahren  erfahren  hat>  dass  ein  Justus  MOser  heut- 
zutage nicht  mehr  sagen  konnte:  er  wfirde  „als  Mann  des  VolkeB** 
kein  Mädchen  heiraten,  das  lesen  und  schi*eiben  könne.  Die  BOdcuig 
der  Frauen  strebt  von  den  höheren  Volksclassen  nacli  abwärts  immer 
allgemeiner  zu  werden,  —  das  Bedüifnis  des  Erwerbens  für  die 
Frau  ^^e\vinnt  von  den  unteren  Volksclassen  nach  aufwärts  eine  ininit^r 
::rris>ere  Ausdehnung.  Bildung  und  Ei'werb  sind  das  Ertordeniis  (ie> 
Tages  auch  für  die  Frau  ueworden;  Talent  und  Fleiss  können  nun 
auch  bei  ihr  Befriedigung  nach  jeder  Richtung  finden.  Weiss  sie  dazu 
aucli  noch  sich  den  Reiz  edler  Weiblichkeit  zu  bewaliren,  SO  ist  das 
Bild  der  Frau,  wie  es  die  Jetztzeit  fordert,  ein  Tolikommenes.  — 


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Erziehung  zur  Arbeit 

Unter  den  pädagogischen  AuiSgaben  der  Gegenwart  macht  sich 
mit  steigendem  Naehdmck  die  Erziehung  znr  Arbeit  geltend,  nnd 

eine  Zeitschrift  wie  die  unserige  darf  diese  Erscheinung  nicht  igno- 
riren,  hat  \ielmehr  ihre  Leser  über  den  Stand  und  die  Entwickehmg 
der  Sache  in  Kenntnis  zu  erhalten.  Demgemäss  liaben  wir  unlänsfst 
P*dag.  III.  Jahrg.  S.  621  ftV)  ein  Stück  amerikanischer  Pädagogik 
als  eoncreter  (Testaltung  der  Idee  und  Praxis  der  Arbeitsschule  vor- 
getahrt,  und  wollen  wir  heute  auf  zwei  uns  näher  liegende  ebenfalls 
höchst  beachtenswerte  Versuche  gleicher  Art  hinweisen. 

Wir  schicken  zur  Orientirong  über  die  ganze  Angelegenheit  einige 
allsremeine  Bemerkungen  voraus.  Die  Nothwendigkeit  physischer  Arbeit 
ab  eines  wichtigen  Mittels  der  Erziehung  findet  immer  mehr  Aner* 
kennnng,  nicht  nnr  da,  wo  es  sich  um  die  Hebung  der  untersten  Volks* 
sehieht  handelt,  sondern  selbst  im  Hinblick  auf  die  Ausbildung  der 
hSheren  Classen.  So  Äussert  ein  ausgezeichneter  SodalphOosoph:  „Ich 
kann  mich  nicht  des  Gedankens  erwehren,  wie  kräftigend,  beglückend  es 
fSr  die  Jugend  werden  mftsste,  wenn  der  wissenschaftliche  Unterricht, 
von  den  ersten  Jahren  der  Kindheit  an  bis  zum  Mannesalter  empor, 
immer  von  Körper-  nnd  Geistesübung  durch  Arbeit  im  Freien  und  in 
ländlichen  Werkstätten  begleitet  würde.  Der  Idealismus  sollte  von 
friihe  an  innigst  mit  dem  Realismus  des  wirtschaftlichen  Arheitslebens 
verknüpft  sein.  Wir  würden  dann  weit  mehr  physisch  und  moralisch 
t'esunde,  dabei  ganze  Menschen  erziehen.  Die  Bildung  würde  einer- 
seits allgemeiner  werden,  und  die  problematischen  Naturen  eines 
geistigen  Proletariates  anderseits  w- ürden  leichter  vom  Schauplatz  ver- 
schwinden." (Dr.  Wilhelm  Neurath,  der  Socialphilosoph  Franz 
Qnesnay.)  Für  ganz  nnerlässiich  aber  wird  von  einsichtigen  Mäunem 
die  Arbeit  in  der  JBrziehung  solcher  Kinder  gehalten,  welche  ohne 
genügende  häusliche  Zucht,  Überwachung  und  praktische  Anleitung 
aufvracbs^a  und  daher  der  Gefiihr  ausgesetzt  sind,  dem  niedersten  Pro- 
letariat anheimzufollen.  Hier  soll  die  Arbeitsschule  dem  Paiq^erismus 
nnd  der  ans  ihm  entspringenden  Demoralisation  vorbeugen.  Um  aber 
diesen  Zweck  nachhaltig  zu  f5rdem,  sollen  die  Arbeitssdiulen  nicht 
m  erster  Linie  Stätten  des  Erwerbes,  sondern  Bfldungsanstalten  für 
die  sie  besuchenden  Kinder  sein.  Die  Arbeitstüchtigkeit  und  die  mo- 
raliiichen  Eigenschaften,  welche  in  ilinen  die  Kinder  erlangen  sollen, 


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—   248  — 

(reiten  weit  mehr  als  der  momentane  Verdienst,  welcher  sich  allenfalls 
erzielen  Hesse.  Um  aber  den  Zöglingen  eine  wirklich  praktische,  im 
Leben  verwertbare  Ansbildung  zu  bieten,  will  man  den  Arbeitsunterricht 
nicht  nach  abstracten  Theorien,  sondern  gemäss  den  örtlichea  Ver- 
hältnissen, also  im  Anschlüsse  an  das  Nächstliegende  gestalten, 
von  dem  aua  man  nnr  behutsam  und  aUm&hUch  zn  ferner  Hegenden 
Arbeitsformen  übergehen  wilL  Dies  sind  die  Grundsätze,  welche  der- 
zeit von  den  einsichtsvollsten  Vertretern  des  Arbeitsunterrichtes  über- 
einstimmend als  massgebend  betrachtet  werden,  und  welchen  auch  die 
Männer  huldigen,  von  deren  Leistungen  wir  im  Folgenden  Kenntnis 
nehmen  wollen. 

Vor  uns  Hegt  eine  kleine,  kaum  6  Bogen  umfassende  Drnckschrift 
unter  dem  iTitel:  „Die  Lehr-  und  Arbeitsschule  zu  Alfeld.  Eine 
Antwort  auf  die  Frage:  Wie  nimmt  die  Schule  Theil  am  Kami)fe 
gegen  den  Pauperisnuisy  Von  w^il.  Dr.  Konrad  Miclielsen.  Zweite 
mit  einem  einleitenden  Vorworte  versehene  Ausgabe.  Hildesheim. 
Gerstenberfr,  188L**  Die  Schrift  unterrichtet  uns  über  die  im  Jalu^e 
1852  von  Dr.  K.  Michelsen,  weil.  Seminardirector  in  Alfeld,  daselbst 
als  Lehr-  und  Arbeitsschule  begründete  Seminarfreischule  und  zwar 
über  den  Ursprung  und  das  Regulativ,  über  den  täp^lichen  Fortgang 
und"!  über  die  bisherigen  Resultate  dei*selben.  Es  wird  uns  da  ein 
Stack  Erziehungs^raxis  vorgefhhrt,  welches  f&r  jeden  PAdagogen  und 
insbesondere  f&r  Fachmänner  der  Arbeitsschule  von  hohem  Interesse 
ist  Das  einleitende  Vorwort  zum  Berichte,  verfosst  von  Eduard 
Michelsen,  dem  Sohne  des  GrOnders  der  Alfeldeir  Arbeitsschule,  setzt 
die  Zwecke  und  Grundsätze  auseinander,  nach  welchen  die  Anstalt 
ins  Leben  gerufen  und  eingerichtet  wurde.  In  welchem  Geiste  dieses 
Vorwort  und  die  Alfelder  Arbeitsschule  geschaffen  ist,  möge  durch 
folgendes  Ciuit  t^ezeigt  werden,  .jf^rundsätzlicli  ist  nicht  das  Fabrikat 
der  Kinderhände  die  Hauptsache,  sondern  die  erziehende  Arbeitsübnng 
und  die  sittliche  Arbeitssrewrdinunj?.  Die  Weckung  de«  sittlichen 
Bewusstseins,  dass  Recht  und  Ptlicht  sich  jreirenseitig  bedingen,  und 
dass  daliei-  auch  derjeniüe.  welcher  auf  das  Recht  Anspruch  machen  will, 
gekleidet  und  genährt  zu  werden,  sich  unter  die  Ptlicht  beugen  mus.s 
nach  seinen  Kräften  mit  seinen  Händen  zu  schaffen  und  zu  wirken 
—  das  ist  ein  eminent  wichtiger  Punkt  für  die  Zeit  unserer  socialen 
Bewegung,  in  der  man  vielfach  die  Bettlerlumpen  für  das  wirksamste 
Mittel  hält  zur  Aufstellung  von  Foitlerungen  und  Bechten.  Die  Ar- 
beitsschule von  Dr.  Michelsen  will  keine  Arbeiterschnle  vorstellen, 
vrill  keine  Vorbereitungs-  oder  Abrichtnngs-Anstalt  auf  industrielle 


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Fertigkeit  sein;  sondern  sie  will  zeigen,  dass  für  die  künftigen  Arbeits- 
geber und  Arbeitsnehmer  gerade  nnserer  Taire  und  bei  unserer  weit- 
gefiihrten  Arbeitstheilimg  in  dem  mit  der  Hand  Arbeitenkönnen  and 
ArbeitenmOgen  ein  erziebliclier  Sdiwerpunkt  för  G^Uth,  Thatkrait 
«nd  Körper  des  ZOgÜngs  liegt** 

Femer  liegt  uns  yor:  „Dritter  Jahresbericht  der  Hansindnstiie- 
Sehnte  za  ödenbnrg  Uber  das  SchuQahr  1880 — 1881,  im  Anfkrage  des 
Yereins-Ansschnsses  erstattet  vom  Director  H.  Schranz.**  —  Den  Ort- 
lichen Verhältnissen  entsprechend  fasst  die  Ödenbnrger  Arbeitschule, 
wie  der  Bericht  an  erster  Stelle  liervorliebt ,  den  Begrilf  der  ,.Haus- 
indiistrie"  nicht  im  allgemeinsten  Sinne  des  Wortes,  sondern  nui-  als 
einen  „ergänzenden  Bestandtheil  des  Acker-  und  Weinbaues"  und  be- 
i^cliränkt  sich  auf  diejenigen  B-;schäftigun?eu,  welche  dem  Volke 
..wahrend  der  Wintermonate  einen  Nebenerwerb  verschaffen."  Dann 
üUu't  der  Bericht  turt: 

Zweitens  besteht  unserer  Erfahrung  zufolge  da^  g-rösste  HiM<l^»rnis, 
da.«  sirh  der  Einbürgerung'  der  Hau.sindu.'itrie  eutg'ei^enstellt,  darin,  diuss  der 
|rro.>5sen  Masse  des  Volkes  mcli  der  Sinn,  die  Lust  und  Liebe  für  iu- 
dastrielle  Beschäftigungen  überhaupt  fehlt,  dass  die  erforderliche 
technische  Bildnng,  sowie  der  nOthige  Geschmack  mangelt.  Das 
Tertain,  auf  dem  wir  die  Hansindnstrie  Terbreiten  sollen,  gleicht  zum  grOssten 
TheOe  einem  oncoltiTirten  Lande;  die  lationeUe  Gidtor  einzuleiten,  rnnss  nnsere 
erste  Aufgabe  sein,  indem  wir  schon  in  dem  noch  emi)ranglichen  Kinde  die  Arbeits- 
last auf  diesem  Gebiete  wecken,  Auge  und  Hand  desselben  bilden  und  die 
praktische  Ge.schicklichkeit  entwifkoln.  Drittens:  um  Missorfolge  auf  diesem 
Cfebiete  zu  vermeiden,  soll  stivnge  darauf  geiifhtct  wenL  ii.  dass  alle  Mass- 
nahmen und  alle  Einrichtungen  mit  den  Fähigkeiten  und  der  technischen 
bildang  des  Volkes  im  Einklänge  stehen;  dass  nur  das  und  nur  soviel  zu  ver- 
«irkUcfaeii  Tersncdit  werde,  als  Aussicht  anf  sicheren  Erfolg  hat.  Ans  diesem 
Oraade  verzichteten  wir  auf  momentane  glänzende  Erfolge,  schlössen  ans 
strenge  an  die  gegebenen  Verhftltnisse  an  nnd  schritten  nur  langsam  vorwärts. 
Viertens  halten  wir  es  für  ganz  verfehlt,  das  Volk  beim  Beginne  der  Tlültig- 
k*it  einer  Hausindustrieschule  (Lehrwerkstätte)  ausschliesslich  durch  Hinweis 
aaf  den  materiellen  Gewinn  der  Hausindiistrie  tÜr  die  Sache  gewinnen  zu 
wollen,  indem  man  auf  ähnliche  Institutionen  des  Auslandes  hinweist  und  die 
dort  möglichen  materiellen  Erfolge  in  unmittelbare  Aussieht  stellt.  Dieses 
Lockmittel  mag  wol  für  den  Moment  verfangen,  aber  nicht  fär  die  Dauer, 
md  genau  betrachtet  bringt  es  der  Sache  mehr  Schaden  als  Nutzen.  An 
vielen  Orten  konnten  wir  die  Erfiihrnng  madien,  dass  za  Beginn  der  Hans- 
iadostriebestrehnngen  auf  die  angedeutete  Weise  ein  helles  Feuer  der  Be- 
geisterung angefacht  ^Mirde,  das  sich  jedoch  bald  als  Strohfeuer  erwies  und 
ebf-nso  rasch  erloseh.  als  es  anflolerte.  AViesoV  Iti  Folge  der  mangelnden 
und  unentwickeldteu  technischen  Fertigkeit  konnte  nur  wenig  producirt  werden: 
an<l  das  wa*i  mit  vieler  Mühe  er/eugt  wurde,  war  entweder  durch  die  darauf 
verwendete  Arbeitszeit  zu  theuer  geworden,  oder  aber  entsprach  hinsichtlich 


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des  Geßcliüiackes  den  Anfordeiuiigen  nicht,  bo  das»  dadurch  der  Absatz  dieser 
Prodacte  ersehwert,  nnd  bescliränkt,  und  der  erhoffte  materielle  Gewinn  iUnsoriscb 
gemacht  wurde.  Die  gew&hnlicfae  Folge  davon  war,  dass  man  der  Sache  den 
Rücken  kehrte  ond  diesdhe  filr  eitel  Schwindel  erU&rte.   Wir  meinen  daher, 

im  ersten  Stadium  der  Hausindustriebestrebungen  soll  die  moralische  Seite 
der  Saclie,  die  sittlich  bildende  Wirkung  der  Arbeit  mehr  betont  mid 
dw  materielle  Gewinn  erst  nach  nnd  nach,  Hand  in  Hand  mir  d»  r  Eni- 
wickelung  der  technischen  Geschicklichkeit  in  den  Vordergrund  tictcn.  Es 
möge  darum  dei-  junge  Landmann  erst  für  sich  und  das  Haus  di\  ei*sc  (.ie^rcn- 
btände  erzeugen  und  erst  später  damit  das  Gebiet  der  Concurrenz  betreteu.  Die 
Förderer  nnd  Leiter  der  Hansindostriebestrebungen  aber  mögen  sldi  In  diesem 
ersten  Stadium  damit  begnfigenr  dass  die  jungen  Leute  überhaupt 
w&hrend  der  rauheren  Jahreszeit  arbeiten  und  anstatt  die  Wein- 
schenken  zu  besuchen  oder  herumzulungern  sich  angenehm  und  nütz- 
lich beschäftigen.  Dieser  moralische  Gewinn  Iftsst  sich  wol  nicht  in  Zifiem 
ausdrücken,  ist  aber  gewiss  beachtenswert,  wenn  man  erwUgt,  wie  viele  seciale 
UbelstUnde  und  Schnden  aus  dem  MUssiirirang-e  entspringen.    Überall,  wo  heute 
eine  blühende  Hausindustrie  besteht,  hat  sie  ditsen  Entwickelungsgani,^  ein- 
geschlagen, und  eine  Haußindustrie-Werkstätte,  die  ilu-e  Zöglinge  wie  gewühn- 
liche  TaglOhner  entlohnen  muss,  entbehrt  der  gesunden,  entwickelungsfähigen 
Basis  und  entspricht  Üirer  Auljs^be  nicht.  Auf  Omnd  der  hier  sUssirton  Grond- 
sfttae  hat  der  Ausschuss  im  Herbste  1678  die  Hausindustrieschule  als  Vereins- 
institut eröffnet  und  mit  diesem  Frühjahre  eine  grössere  "Weidencultur  angelegt 
Schon  im  ersten  Schuljalire  betrug  die  Schülerzahl  60;  in  diesem  Jalire  stieg 
sie  bis  gegen  80  und  noch  immer  musste  eine  jrrosse  Anzahl  zurückgewiesen 
werden.    Die  Ha usindustrieschule  besteht  gegenwärtig  aus  zwei  l  lassen, 
nämlich  aus  einer  Yorbereitungsclasse  und  aus  einem  Curse  zur  Heran- 
bildung von  Lehrern  tiir  den  Hausindustrie-Unterricht  im  Kähmen  der  VoUo* 
schule.  Die  yorbereitungsclasse  ist  für  10 — 14-jährige  Knaben  der  hiesigen 
acker-  nnd  weinbantreibenden  Bevölkerung  bestimmt  und  soll  die  betreASaDden 
Knaben  nicht  nur  für  den  spiteren  eigentlichen  HauaiBdustrieuntericht,  sondern 
überhaupt  für  die  praktischen  Bedürftiisse  des  täglichen  Lebens,  sowie  für  das 
etwa  zu  erlernende  Handwerk  vorbereiten,  indem  durch  die  Arbeiten  in  dem  Kinde 
Sinn.  Lust  und  Liebe  für  industrielle  Beschäftigungen  geweckt,  die  praktische 
Geschicklichkeit  und  der  Geschmack  entwickelt  und  der  Grund  zur  Arbeit- 
samkeit und  Sparsamkeit  gelegt  wird.    Mit  dieser  Classe  ist  nämlich  die 
Schulsparcasse  in  folgender  Weise  verbunden.   Jeder  Knabe  ejhält  ein 
Sparbücfalein,  in  welches  alle  Betrüge  eingeü-agen  werden,  die  er  für  die  an- 
gefertigten Arbeiten  erhftlt    Die  Schule  löst  den  grösstentheils  ganz  armen 
Knaben  die  fertlggesteUten  Arbeiten  ab  nnd  sucht  sie  qoiter  zu  Tcrtusaem; 
die  dafür  entfallenden  und  im  Sparbächel  gntgeschriebenen  Beträge  w^^en 
den  betreffenden  Zöglingen  am  Schlüsse  des  Scliuljahres  ausgefolgt.    Die  aut 
diese  Weise  in  der  ^'orbereitungsclas8e  erzielten  Resultate  sind  freilich  nur 
bescheidener  Art;  es  sind  nur  Keime  im  Kindesherzen,  die  noch  einer  liebe- 
vollen Pflege  bedürfen.    Aufgabe  der  Gesellschaft  muss  es  daher  sein,  diese- 
Keime  zur  Entwickelung  und  Entfaltung  zu  bringen.  Schulgeld  wird  von  diesen 
Knaben  selbetrerstlodUcfa  nicht  eingehoben:  gearbeitet  wird  wOcheatlieh  zwei 
bis  dreimal  in  je  2  Stunden.   Der  Ours  zur  Heranbildung  von  Lehrern 


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für        Hausindustrieniiterriclit  ist  in  fi-st^r  Linie  für  die  letztjilhrigren  Zöi^. 
liiiiTt^  ilt  r  beiden  hiesifren  Lehrerbildnng'sanstAlten  bestiiiinit,  die  im  Lauf'»-  eines 
Jaiires  befähigt  werden,  einen  oder  zwei  llansindustriezweige  im  Rahiin  n  der 
Volksschule  zu  lehren.  Der  Unterricht  ist  liier  ein  praktisch-tlieoretischer.  Der 
pnktiMhe  TheQ  untote  Udier:  1.  Korih,  Stroh-  und  Scliillflechteii;  2.  haus- 
indnstrielleB  Holzschnitceii  in  YerliliuLiiiig  mit  LanteSgen  und  Tischlerei; 
annerdem  erhielten  einige  ZOglinge  Anleitung  im  Drechseln.   Daneben  wnrde 
nedi  jedem  ordmtlichen  ZOglinge  Gelegenheit  geboten,  sich  diejenigen  Formen- 
arbeiten  aigneigTien,  die  geeignet  sind,  den  Himsindustrieunterricht  in  der  ^'olks- 
scbule  voi*ZTibereiten.  wie  das  Flechten  mit  Papierstreifen.  das  Falten.  Ausstechen, 
Ausnähen  und  Aui^schueiden.    Für  jeden  der  genaimtt'n  Industriezweijje  war 
♦■in  eigener  Cui"«  organisirt  und  jedei-  ordentliche  Zögling  konnte  sich  zwei 
CüTse  ü'ei  wählen,  musste  sich  aber  mindestens  ein  halbes  Jahr  lang  den  Ar- 
beiten eines  Conee  widmen;  fBr  jeden  Con  waren  ohne  theoretischen  Unter- 
richt wöchentlich  4  Standen  hestimmt.    In  Znkonft  mnss  jeder  ordentliche 
Zi^ling  ein  ganzes  Jahr  lang  einen  Indnstrieswelg  treiben.   Der  theoretische 
üntoricht  bestand  bisher  in  einer  Anzahl  von  Yortrilgen  und  Besprechungen 
aber  Material,  Werkzeuge,  Weidencultur,  Zweck,  Ziel  und  Methode  des  Hans- 
indastrieunterrichtes  in  der  Volksschule.    Jeder  ordentliche  Zögling,  der  das 
vorgeschi-irViLiit'  Ziel  erreichte,  erhielt  ein  staatsgiltiges  Diplom  als  Lehrer  fiir 
den  Hausindustriemiterricht  im  liereiche  der  Volksschule.   Bisher  musste  jeder 
Zögling  dieses  Curses  —  die  unbemittelten  ausgenommen  —  pro  Schuljahr  5  fl. 
fBr  Abnützong  der  Werkzeuge  nnd  Verbranch  des  Materials  entrichten;  dieser 
Betrag  wnrde  fBr  die  Zuknnft  anf  3  fl.  herabgesetzt   Neben  den  Seminar- 
iSglingen  fhnden  aneh  noch  solche  Sdhne  bemittelter  Eltem  nnd  Erwachsene 
Anfioahme,  die  einen  der  oben  angefiihi-ten  Industriezweige  zum  Privatver- 
fni9gen  erlernen  wollten;  auch  diese  zahlten  bislier  nur  für  Abnützung  der 
Werkzeuge  ö  t1.:  in  Zukunft  müssen  sie  jedoch  nebst  den  3  fl.  für  Werkzeuge 
noch  5  11,  an  Schulgeld  entrichten. 

Die  Lehrwerkstätte  füi-  Korbflechterei  soll  das  KorbH^chteii  als  Haus- 
industrie in  doppelter  Richtung  verbreiten j  erstens,  indem  sie  der  acker-  nnd 
weinbantreibenden  Bevölkerung  Gelegenheit  bietet,  im  Korbflechten  eine  Neben* 
beschftftignng  nnd  einen  Nebenerwerb  wBhrend  der  Wintermonate  zu 
eriaagen,  zweitens,  indem  sie  befähigte  jnnge  Leute  dnrch  praktischen  und 
theoretischen  Unterricht  zu  Werkmeistern  und  Lehrein  an  Korbflechtschulen 
heranbildet  und  ihnen  anf  diese  Weise  zu  einem  selbstständigen  Erwerb 
verhüft. 

Um  den  Besuch  der  Werkstiltte  in  jedmrtglicher  Weisi-  zu  rrleichtem, 
verzichtet  die  Schule  nicht  nur  auf  die  ?^inschreibegebühr  und  das  Schulgeld, 
sondern  gestattet  anch,  dass  jeder  Zögling  die  von  ihm  angefertigten  Gegen- 
stiode  als  sein  Eigenthnm  betrachte.  Die  Anstalt  vermittelt  anch  den  Ver- 
kanf  dar  marktfiUiigcn  Artikel  nnd  folgt  den  Erlte  daraus  dem  betreffenden 
Zögling  nach  Abzog  der  Materialkosten  baar  aus.  Dafür  muss  sich  aber  jeder 
Theilnehmer  verpflichten,  die  Anstalt  während  der  Daner  des  Curses  nnd  bis 
zur  Beendigung  desselben  ununterbrochen  zu  besuchen. 

Der  Ausschußs  war  bisher  fortwilhrend  bestrebt,  di»-  Existenz  unserer 
8chnle  nicht  nur  in  pädagogischer,  untenichtlicher  Hinsicht  durch  ge- 
diegene, solide  Leistungen,  sondern  auch  in  materieller  Beziehung  dmch  Kröff- 


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nuiig  ueuer  Einnahinsquelleii  zu  siclieru.  Un8ei*e  diesbezüglichen  Bestrebungeo 
blieben  nicht  erfolgloe;  die  höbe  Begierouff  steuerte  im  eisten  Jahre  fl.  500 
mr  Erhaltung  unserer  Schale  bei,  welcher  Betracr  hn  vorigen  Jahre  nm  fl.  700 

erhöht  ^urde,  so  dass  gegenwärtig  das  hohe  Ministerinm  für  Cnltus  und  Un- 
terricht fi.  500,  das  hohe  Handelsministerium  fl.  700  beitiftgt  Aach  die  Stadt 
Ödenborg  benilügte  für  dieses  Jahr  fl.  300. 


Allmählich. 

Eine  orthographische  Geschichte. 
Von  Ben  Quülan, 

„Bcngler,  komm  heraus,  schreib  „allmählich"  an  die  Tafel",  sprach 
Dr.  Dächsei,  als  er,  einen  BOndel  Aoftätze  onterm  Arm,  das  Glassenzimmer  be- 
treten hatte.  DoctorDftchsel  machte  bei  diesen  Worten  ein  Gesicht,  dass  wir 
alle  sofort  merkten,  er  hatte  sich  wieder  einmal  schwer  geäi^ert.  ünd  er 
konnte  sich  so  ärgern,  so  gnt  er  sonst  war,  der  gute  Doctor  DächseL  Nicht 
dass  wir's  etwa  darnach  angelegt  hätten  ;  wir  hatten  ihn  ja  alle  g:eni,  trotz, 
vielleiclit  auch  gerade  ^vegen  der  Eigenheiten,  die  er  liatte.  und  die  ihn  zum 
Helden  so  mancher  unt^r  den  Woogrstildter  iTymnusiasten  cureirenden  Ge- 
schichte machten.  Wir  lachten  freilich  alle,  wenn  ein  böser  Mitpennal  den 
Doctor  nachmachte,  wie  er  zum  Exempel  in  der  Literaturstaude  die  poetischen 
Figuren  mit  plastischer  Anschanlichkeit  dannistellen  pflegte.  Wie  ihm  bei  der 
Hyperbel:  „Jeder  Zoll  ein  ESnig!"  die  Brost  schwoll,  nnd  die  ganse  Ge- 
stalt vom  Scheitel  bis  zur  Zehe  Hoheit  und  Würde  atlunete.  Und  besonders 
wie  er  das  bekannte  Beispiel  des  poetischen  Contrastes  dramatisch  belebt  vor* 
tnig.  „Er  zog  den  Deg:en  ans  der  Scheide",  begann  da  der  Doctor.  nnd  mit 
grimmigem  (xesichte  iiacktr  er  tirn  eigenen,  an  der  Linken  baumelnden.  —  die 
Woogstädter  Lehrer  waren  niiinlicli  früher  eehalten,  dem  Werke  der  Jugend- 
erziehung in  feldmässiger  Au.srü.stung  obzuliegen,  in  doppeltem  Sinne  Diener 
der  PallM  Athene.  „Besah  die  Spitze  und  die  Schneide.*  Dlchsel's  knii- 
sichtige  Änglein  sprühten  Mnth  nnd  Blntdarst,  aber  der  ganze  Eifect  seiner 
anschanlichen  Darstellnng  ging  wieder  verloren,  wenn  er  nnn  das  blanke 
ScUaditschwert  dicht  anter  die  Nase  braelite  nnd  zi^inkemd  beängte:  „Und 
—  steckt  ihn  langsam  wieder  ein.''  Mit  allen  Zeichen  der  Verzagtheit  ver- 
smkte  er  die  WatFe  in  die  Lederscheide,  niclit  ohne  ein  paar  Mal  daneben  ge- 
stossen  zu  habm.  -  unter  schallendem  Lacht'ii  der  ('lasse,  ein  Lachen,  das 
immer  auf's  w\w  lier\ niznrutVn  der  muthwillige  Nachahmer  des  dramatischen 
Lehrers  stets  »icher  sein  konnte. 

Aber  wenn  wir  anch  über  ihn  lachten,  wir  hatten  doch  alle  nnsem  Doctor 
Dflchsel  gern  nnd  httteten  nns,  ihn  leichtsinnigerweise  zn  irgem.  Denn 
ärgern  konnte  er  sich,  wie  gesagt,  nnd  manchmal  scheinbar  fl.ber  ganz  unbe- 
deutende Dinge.  Was  heute  seinen  Zorn  erregt  hatte,  wu-s-sten  wir  nach  seinen 
ersten  Worten,  denn  sobald  er  ein  Wort  an  die  Tafel  schreiben  liess,  war  im 


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Aiiisatz  ein  orthographischer  Schnitzor  (gemacht  worilpii.  und  ortliog-raphisfthe 
»Schnitzer  in  der  Secimda  brachteu  Dächsei  alleiuai  in  die  heftigste  Aufregung. 

Nur  der  anglüddiche  Bengier  wnnte  nJchts,  da  er  als  Neneingetretener 
den  Doctor  imd  aeine  Gepilogeidielteii  noch  nicht  kannte.  Aber  gelioraam  eQte 
er  aaf  das  Gebot  des  Lehrers  zur  Schvltafbl  and  begann  zu  schreiben: 

,.A— 1— 1— m— ä— 1— i— g." 

..Falsch!"  sagte  Doctor  Dächsei  mit  geranselter  Stirn,  and:  ,,Fal8ch!"  rief 

die  Secnnda  trimiipiiirend  nach. 

..Aber  Pron  ssor  Knrzmann  in  Mainbach  hat  uns  imuiPr  gesagt,  so  niüs.ste 
das  Wort  gescluiebt^n  werden",  entschuldigte  sich  der  ortliograjibische  Sündi»r. 

Doch  mit  blosser  Berufung  auf  Autoritäten  Hess  sich  Dächsei  nicht  kom- 
nen.  ^  wird  nicht  so  geschrieben,  mag  es  gesagt  haben,  wer  will'S  sprach 
er  odt  Naehdmck,  and  mit  krttftigem  WlBche  ISeehte  er  das  omlnQaeWort  yen 
der  Tafel  am. 

Beagler  wollte  seine  Sache  besser  machen  and  begann  ohne  Oehelss  aoih 
aeoe  za  schreiben. 

„A— 1— 1— m— ä— h-  -1— i— g." 

Der  Erfolg  war  ein  neues,  noch  zornigeres  Stimrunzeln  von  Seiten  des 
Lehrers;  neues,  noch  triumphirenderes:  „Falsch!"  von  den  Bänken  her. 

,,Lass  sein,  lass  sein,  du  hast  offenbar  keine  Ahnung  von  der  richtigen 
Sehrelbang  des  Wortes.  Geh,  hole  doch  das  Bach,  welches  ich  mitgebradit 
habe.   Kennst  dn  es?*' 

Wir  kannten  es  alle,  denn  schon  manchmal  war  ans  orthographische 
Weisheit  daraus  verkündigt  worden.  Dem  Nenling  Bengier  war  es  anbekaimt. 

,.Lie8  den  Titel!" 

..Deutsclies  Wörterbuch  von  Doctor  Friedrich  Ludwig  Karl  Weigaad 
Jääster  Band.    A— L.  Gipss 

„Gut  schon!  Vor  allen  Dingen  will  icii  dir  jetzt  etwas  über  dieses  Buch 
sagen.  Den  andern  habe  ich  es  schon  öfters  gesagt;  thut  nichts,  sie  kSnnen  es 
noch  eüunal  hiBren.  In  dieaem  W9rterbnciie  findest  da  die  sicherste  Angabe  Uber 
die  Abstammong  and  damit  aoch  über  die  Schreibang  der  deotschen  WQrCer.  Es 
ist  f8r  jeden,  der  unsem  Wortschatz  kennen  lernen  will,  ein  unentbehrlicher 
Rathgeber.  Nicht,  als  ob  es  nicht  noch  andere  gute  deutsche  Wörterbücher  gäbe. 
Das  Handwörterbuch  der  deutschen  Sprache  von  Daniel  Sanders  ist  ebenfalls  aus- 
gezeichnet. Von  dem  grossen  Sanders'schen  Wörterbuch  in  zwei  Quart  bänden 
rede  ich  euch  nicht,  obwol  es  bis  jetzt  meines  Erachtens  das  grossartigste  Er- 
zeugnis auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Lexikographie  ist  und  auch  nach  Voll- 
endong  des  Grimm'sehen  WQrteibaches  —  wenn  dieses  überhaupt  je  vollendet 
wfad!  —  seine  ehraiTolIe  SteUnng  neben  diesem  behalten  wird.  Aber  für  each 
iit  es  nichts;  es  ist  sa  teaer.  Zwei  BAnde  72  Mark,  das  ist  kein  Essig!  Ich 
selbst  bin  noch  nicht  in  der  Lage  gewesen,  es  mir  anzuschaffen  nnd  mnss  mich 
&it  dem  kleinen  behelfen.  Auch  das  ist  vorzüglich.  Was  die  Vollständigkeit 
in  der  Angabe  der  verschiedenen  Bedeutungen,  sowie  der  grammatischen  Be- 
ziehungen eines  Wortes  anlangt,  reiclit  ihm  Weigand  das  Wa.nser  nicht.  Da- 
gegen was  diesen  so  schätzenswert  macht,  die  Gesciiichte  jedes  einzelnen 
Wortes  und  die  Zuiückführuug  desselben  auf  Stamm  und  \Vui*zel,  das  fehlt 
wieder  bei  Saadfirs.  Beide  Bücher  ergfinsen  sidL  Aof  meinem  Schreibtisch 
stehen  beide  neben  einander.   Ich  wollte,  die  Personen  yertriigen  sich  so  gnt. 


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—  254  — 


¥de  ihre  BQcher  es  bei  mir  tinm.  —  So,  jetzt  wdlen  wir  naeh  der  AbBeliwei<- 
twag,  —  die  aber  nur  tigttrlich  eine  AlndiwelAuig  genannt  werden  kann,  in 
Wirklichkeit  war  de  eine  sehr  sachgemftsse  einleitende  Bemerkung,  —  kotz- 
am,  wir  wollen  wieder  zum  Ausgangspunkte  kommen.  Schlag  Seite  34  auf 
und  suche  unser  Wort.    Wie  ist  es  da  geschriebenV 

„A— 1— 1— m— ä-^-h— l-i— c— h.'* 

„Siehgt  du!  Und  nun  liess  den  ganzen  AbaatB." 

„^Allinälilich,  Adverb  und  dann  auch  wol  A^jectiv:  hOehst  bequemlieh, 
„ohne  alle  (jcsthwiniliirkt'ir. 

„Weniger  gut  uUmalich;  aber  uurichtig,  wenn  auch  oft  allmälig  ge- 
„sduiebeB.  Denn  mitteldentsch:  afanedich  (Jerosehin  6788--*"' 

, Jeroschin  hat  eine  Deutsdiordenschronik  verüstsst  Diese  ist  auch  für 
die  Sprachwissenschaft  ein  sehr  wichtiges  Docnment,  weil  sie  in  der  mittel- 

deutschen  Sprache,  dem  Übergange  vomlfittelhodideutsehen  znmNeuhodident- 
schen,  geschrieben  ist.  Weiter!" 

„n Jeroschin  6783)  d.  i.  mittelhochdeutsch:  almechiich,  und  mählich  ist 
„eigentlich  mSh-lich  statt  mächlich  bei  Schmeller  — 

„FrofiBssor  Sehmeiler  inlfilnchen  war  einer  der  bedeutendsten  Germanisten 
unsers  Jahrhunderts.  Hier  ist  sein  BaieriscfaesWOrterbuch  gemeint  Vorwärts!^ 

^^Sehmeller  U  54S  michleich  aus  einem  Voeabolaiiam  vüol  Jahre 

„1445)  zusammeiigt\setzt  mit  mach  in  gemach,  wie  denn  aiuh  ^pmähli*  h 
„statt  gemächlich  steht,  z.  B.  „Gemach!  Gemählich!  verziehe  noch  ein 
„wenig «"^  (Philaader  Ton  Sittewald  I.  225) 
„Was  ist  das?" 

„Ein  satirischer  Boman  aus  der  Zeit  des  dreissigjfthrigen  Krieges.  Der 

Verfesser  desselben  war  Moscherosch." 

„Crnt!    Lies  den  Artikel  zu  Ende." 

—  und  so  aurli  allgeniählicli  —  allffemächli«  h."" 

„Und  so  ist  es!^  bekräftigte  Dächsei.  „Gemach,  allgemach,  allgemädilich, 
allgemUhlieh,  aUmlUich.  „Allmählieh'«  heisst  das  Wort,  allmBhlidi  wird*s 
geschrieben!'' 

Aber  Bengier  wollte  sich  so  knner  Hand  nicht  gefhngen  geben.  „Pro- 
fessor Kurzmann  hat  es  uns  ganz  anders  erklärt.  Er  sagte,  das  Wort  kflnune 

von  allemal  und  dcsweg-en  müsse  es  ,,nlliii:i]ip:"  «reschrieben  werden.  Das  h 
hinter  dem  ;i  spi  altfrllnkisch.  denn  heutzutage  sclirfibe  man  nur  noch  das 
Mahl  =  Malilzeit  mit  h.  nicht  ahvv  das  die  VVrviellachung^  anzt"ij2:ende  Mal. 
Ganz  falsch  sei  das  eh  am  Schlüsse,  denn  die  Nachsilbe  sei  nicht  „lieh",  son- 
dern „ig'*,  und  „ig"  schreibe  man  mit  einem  g." 

„So—o — 0 — o!"  erwiederte  der  Doctor,  und  heller  Hohn  lag  auf  dem  Cte- 
sichte  und  klang  im  Ton  der  Stimme.  „Von  allemal  soU  allmühlich  komoaen. 
Eine  schöne  Etymologie.  Wie  vorzüglich  sie  ist,  will  ich  dir  gleich  beweisen, 
und  zw  ar  durch  ein  argumentum  ad  hominem.  Du  weisst  doch ,  was  das  ist?** 

Bengier  bejahte,  wich  aber  dabei  ein  paiU'  Schritte  zurück. 

^Du  gehst  wol  zuweilen  zum  Schlossappel,  nicht  wahr'/  Na,  leufrue  nur 
niclit:  icli  woiss  es,  und  ihr  habt  ja  auch  die  Erlaubnis,  hie  und  da  ein  Ulas 
Bier  zu  trinken.  —  Trinkst  du  nun  dort  das  Bier,  das  dir  die  Frau  Wirtin 
bringt,  allmälig  oder  allmählich?  Trinkst  du  es  allmälig,  also  allemal,  w  enn 
es  vor  dich  gesetzt  wird,  was  bist  du  da?  Ein  Trunkenbold,  ein  Lump,  ein 
Niehtsnuta,  der  Über  kurz  oder  langrdegirt  werden  wird.  Und  ebenso  nielita- 
nutdg  als  das  „allmälige"  Trinken  ist  das  „AUmftlig'sehreiben.  —  Trinkst 


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—   265  — 


du  dagejEren  dein  Bier  allmählich,  das  heisst.  g-anz  j^nnarh  oder,  nach 
Weipand,  „höchst  hoqneinlicli.  oliin-  alle  GeschwinditrkHit"  und  jrchst.  nachdem 
du  zwei  Glas  getrunken  hast,  still  wit  dci  lu  ini,  dann  bist  dn  auf  dem  lediten 
Wege.  Also,  Freund,  alluiählich  und  nicht  alliaiüig,  beim  Triiikeu  wie  beim 
Schreiben,  das  ist  mein  Rath.   Setsse  dkäi!** 

Bas  Dftebsd'sche  argomentiiBi  ad  hominem  war  unleugbar  trivial,  und 
das  bomerische  GelSditer,  das  sieb  nach  den  letsten  Worten  des  Lebrers  er- 
hob, mochte  weniger  der  Scliärfe  seiner  Beweisfttbrong'  gelten,  als  der  Sonder- 
barkeit der  Exemplification  und  wol  auch  dem  persönlichen  Momente  darin, 
denn  der  gute  Bentrler  hatte  von  Mainbach  den  Knf  eines  „allmalijren"  Bier- 
trinkers mitg^ebia« ht.  - —  Pocii  das  Gute  hatte  die  Demonstration,  dass  sie 
wirkte.  AVer  unter  uns  bis  dahin  noch  unsicher  war.  der  wusste  von  jetzt  ab 
lür  alle  Zeiten,  dass  „allmählich"  in  der  Mitte  ein  h  und  hinten  ein  ch  haben 
niiisste,  und  hindchtUeh  dieses  Punktes  brauchte  sich  Doctor  DSchsel  Uber 
keinen  von  vns  mehr  m  ftrgein.  So  viel  vennag  bei  einem  deutschen  Jfing- 
ling  ein  Glas  Bier,  selbst  wenn  es  nicht  in  natnra,  sondern  blos  gleichsam 
and  als  Simile  verabreicht  wird! 

Aber  jedes  Ding  hat  seine  zwei  Seiten,  selbst  die  Sicherheit  in  der 
Orthog-rapliie.  Die  Schreibung-:  allmählich ist  seit  jener  Zeit  für  mich  so 
zum  nnverletzliehen  Prinei|i<^  {geworden,  dass  mir  all» mal  ein  Stich  duirlis 
Herz  geht,  wenn  ich  irgendwct  auf  eine  andere  Schn-ibart  stosse.  Mittt-n  in 
der  fesselndsten  Leetüre  wüd  mir  duicii  das  unglückselige  Wort  der  Zusam- 
menhang zerrissen;  vergebens  yeranche  ich,  den  Faden  wieder  anzuknapfeu; 
rneni  Ange  haftet  wie  yerzanbert  an  den  Cedsohen  Bachstaben;  vor  den  Geist 
tritt,  ich  mag  mich  wehren,  wie  ich  wül,  das  Woogstftdter  Gymnasinm,  der 
Do(  tor  Dachsei,  Bengier  an  der  Schultafel,  das  Bier  im  Schlossappel,  Trunken- 
bolde und  solide  Trinker,  relegirte  Gymnasiasten  und  delirii'ende  Lumpra, 
Scharen  von  h,  ch  und  g,  die  auf  der  Nasenspitze  des  Professors  Kurzmann 
Cancan  tanzen,  und  Gott  weiss,  was  alles  tiü-  Teufelszeug.  Eine  halbe  Stunde 
und  länger  habe  ich  manelimal  zu  thun,  bis  ich  meine  Gedanken  glücklich 
'Viieder  zu  Zucht  und  Ordiiung  zurückgefüliit  habe.  —  Ach,  der  Leser  glaubt 
gar  nicht,  was  das  Ar  eine  elende,  peinigende  Geschichte  ist!  —  Ludwig 
l^oirt  hat  in  seinem  PidagogiSGhen  Skizzenbuch  yon  der  Noth  erzahlt,  die  ihm 
der  ftlsche  Gebrauch  des  Conditionalis  Futurum  „würde"  schon  gemacht  hat; 
aber  das  ist  gar  nichts  gegen  die  Qnalen,  die  mir  die  illegitimen  Briider  All- 
niählichs  t'urtgesetzt  bereiten,  denn  „tttglich  werde  ich  von  ihnen  angelaufen'*, 
kknn  ich  mit  Sanct  Paulus  sagen. 

Da  bekftmme  ich  eine  Lesemappe  ins  Haus  irebracht.  Ich  blättere  in  den 
illustrii-teu  Heften  und  finde  in  Nr.  29  von  ..Über  Land  und  Meer"  eimii 
neuen  Boman  von  (negor  Samarow.  Der  Name  des  Verfassers  zieht  mich 
an,  ich  beginne  sein:  „Garde  du  Corps'^   ,J)ie  Sonne  eines  heissen  Julitages 

des  Jahres  1850  senkte  sich  allmftlig  **    Fort  ist  die  Lust,  die 

Blfttter  fliegen  bei  Seite. 

In  der  Mainnmroer  von  Westennanns  Monatsheften,  die  daneben  liegt, 
steht  die  eigenthüralich  schöne  NovcIIh  ..EUernklipp*'  von  'J  h.  Fontane.  Mit 
regem  Interesse  verfolge  ich  den  Fortgang  der  Frzählung.  ich  begleite  den 
Pfanvr  und  den  Förster  zu  dem  einsamen  Haus  in  der  Höhe,  ich  sehe  sie 
später  von  einander  gehen,  ich  höre,  wie  dieser  zu  dem  Geistlichen  spricht: 


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—   25b  — 

„Klu'wüi'den  sehen  den  Haselbusch,  und  wenn  Sie  den  haben,  bchläugelt  sich's 
alimftlig  . .  .  HeillgeB  Bierglas!  idioii  wieto!  Aiieh  mit  „Elleniklipp'' 
ist'8  hente  vorbei. 

Die  Glocke  schlag^  ich  eüe  cur  Schule.  Bei  der  Leetüre  von  „Ilaria 

Stnart'S  bei  der  ergreifenden  Darstellanii^  nnsen  SchiQer  verg^esse  ich  meine 
orthographischen  Schmerzen.  Wie  weiss  doch  der  grosse  Dichter  für  die  un- 
glückliche Königin  zn  Fotheringhai  unser  Herz  zu  gewinnen!  Wie  empört 
uns  die  rohe  Behandlung,  die  die  ariiie  (iefangene  t-rdulden  niussl  Wie  gerne 
vergeben  wir  mit  Hanna  der  Reumüthigen  ihre  früiieren  Fehltiitte!  Wie 
hoffen  wir,  dass  J^Iortimers  Befreiungsplan  gelingen  werde!  Wie  freuen  wir 
uns  der  nenen  Freiheit,  die  de  anf  einmal  nach  der  strengen  Haft  genieesen 
darf!  Von  Theilnahme  nnd  Begeistenmg  hingerissen ,  lese  ich  die  heRüchen 
Strophen  am  Eingänge  des  dritten  Actes,  vro  die  Gefiuigene,  von  Fanlet  ans 
den  düsteren  l^Fauern  entlassen,  freudig  die  Luft  der  vermeinten  Freiheit  trinkt» 
Ich  glaube  es  für  einen  Augenblick  selbst,  was  sie  an  Kennedy  spricht: 

„  (flaub'  mir.  nicht  umsonst 

itt  nidnes  üLerkers  Thor  geöffnet  worden. 
Die  kleine  Gnnst  ist  mir  des  giOssem  Qiaeks 

Verknnderin.    Ich  irro  inVht.    Es  ist 
Der  Liebe  thät'ge  Hand,  der  ich  sie  danke, 
liord  Lesters  mächtigen  Arm  erkenn'  ich  drin. 
Allmfthlig  .  . 

Ei,  in  drei  Tevfels  Namen,  was  ist  denn  nur  das  wieder!  Wahrhaftig, 
da  hab*  ich  in  der  Eile  die  Gotta'sche  Ansgabe  mitgenommen,  vor  der  ich 

mich  sonst  wolweislich  hüte,  denn  sie  druckt  beharrlich  „anmfthlig"  statt 

„allmählich''.    So  ist  auch  diese  reine  Freude  durch  das  entsetsliche  „all- 

mählig"  um  ein  gut  Stück  getrübt  worden. 

So  geht  es  nun  fast  jeden  Tag.    Wo  ich's  am  wenigsten  vennuthe.  stol- 

l)ere  ich  über  diesen  gai-stigeii  Stein.    Bei  den  Classikern  liabe  ich  mir  darum 

ganz  genau  gemerkt,  welche  Ausgaben  ich  für  meine  Lectüi*e  brauche.  Demi 

soll  ich  mir  etwa  das  schOne  „Testament  des  Johannes**  dadurch  verimnieii 

lassen,  dass  ich  in  der  Lessingansgabe  von  GOschen  lesen  muss:  „So  zaudernd 

eUig,  als  ein  Freund  sich  aus  den  Armen  eines  Freundes  windet,  um  in  die 

Umarmungen  seiner  Freundin  zn  eflen,  —  trennte  sich  allmählig  sichtbar 

Johannis  reine  Seele  von  dem  eben  so  reinen,  aber  verfallenen  Körper"?  Da 

nehme  ich  doch  lieber  Grote's  Lessing,  denn  abgesehen  von  der  vortrefflichen 

Ausstattung  tinde  ich  doch  stets,  wie  n'cht  und  hillig  ist.  ,.allmählich".  Oder 

kann  mich  eine  erste  Ausgabe  des  Mattliias  Claudius  trotz  der  Chodowiecki'schen 

Stiche  erfreuen,  wenn  icli  darin  auf  Stellen  stosse,  wie: 

„Und  hättest  Wandsbeck  Lust  zu  sehn 
UikI  bist  nicht  etwa  Reiter, 

So  musst  du  an^  dfin  Tliore  gehn 
Und  so  all  müh  Hl,'  weiter"'? 

Darum  lese  icli  Claudius  immer  in  der  neuesten,  von  Redlich  l)esorgten 
All  nage,  denn  diese  hat  zwar  schlechte  Holzschnitte,  aber  ein  regelrechtes 
^.allmählich". 

Und.  doch  ist  die  unrichtige  Schreibweise  an  sich  noch  das  kleinere  ÜbeL 
Schlimmer,  viel  schlimmer  ist  es,  wenn  sö  ein  oder  gar  ein  paar  Bastarde  mit 
dem  rechtmftssigen  Kinde  in  einem  nnd  demselben  Schriftwerk  um  den  Sitx 


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—  257  — 


in  Hause  streiten.  Das  scheint  unglaublich  und  doch  wie  hliiitip-  kommt  es 
vor!  Kan  macht  sich  gar  keinen  Begriff  von  der  Frechheit  jener  Missgeborenen 
oder.  jta»en  wir's  ohne  Bild,  von  der  Conseqnenzlosigkeit  und  Saloperie  mancher 
Schriftsteiler.  Wie  »  in  Proteus  tritt  da  ..allmählich**  hi  allen  möglichen,  Jiein 
unmöglichen  Gestallen  aus  demselben  TintenfaKse  heraus  ans  Tagrslicht. 
Haarsträubende  Dinge  könnte  ich  darüber  berichten,  wenu  ich  nicht  fürchten 
■Me,  den,  der  davon  hOrt,  dadurch  znm  ToDkommeaen  ortbographiichen 
Pemlidtten  an  madien  and  an  ingend  einer  dnhUen  That  an  treiben.  Ein 
pur  Eiempel  rnnse  ich  doeh  bringen,  damit  man  tieht,  waa  ich  leide,  and  mein 
geqnältes«  Herz  an  der  Gewissheit  der  Theilnalime  fUilender  Menschen  sich 
wenigstens  ein  klein  bisschen  anfrichten  kann. 

Am  übelsten  steht  es  mit  den  Zeitniitreü!  —  Aus  alter  Gewohnheit  halte 
ich  mir  das  „Frankfurter  J(tunial**.  W  ährend  icii  nun  aber  an  dem  einen 
Tage  darin  den  Satz  linde:  „Wenu  ujan  hierzu  noch  den  Umstand  in  Betracht 
liebt,  dasB  unsere  Laudleute  mit  ihi'en  Vertreteru  iu  der  Grundsteuercommis- 
iion  nichts  weniger  als  zoftieden  sind,  so  wird  der  Umschwnng  vOllig  begreif- 
fich,  der  sich  in  ihren  Kreisen  allmählich  an  Gunsten  der  Liberalen  voll- 
zieht,'* —  heisst  es  an  einem  andern:  „Ans  kleinen  Anfängen  werde  diese 
deitsehe  Ausgleichspartei  allmählig  mächtig  werden  und  die  Stelle  der  Ver- 
ikasBBgspartei  vertreten,  welche  sich  selber  ins  x^i  liente  Verderben  treibe,** 
—  und  an  einem  dritten:  „Aus  persönlicher  Erfahrung  weiss  ich.  dass  Antrüge, 
wv!<he  anfangs  mit  lebhatlem  Widerstande  aufgenommen  werden,  alliniilig 
aiijiehmbar  erscheinen.**  Und  in  der  belletristischen  Beihige  der  genannten 
Zeitmig,  der  „Didaskalia^ ,  steht  heate:  „Die  Anordnung  der  Planeten  weist 
mit  Bsrtfaimtheit  auf  eine  allmäh lige  ^tstehnng  derselben  hin/  —  und 
■Algen:  „Allmälig  wurde  sein  Oedcht  immer  heiterer,  und  schliesslich  hatte 
der  Zar  an  sich  zn  halten,  um  nicht  in  lustiges  Lachen  aasznbrechen.'* 

Als  mir's  einmal  zu  arg  wurde,  wollte  ich  mir  statt  des  „Journals**  die 
-Frankfurter  Zeitung"  halten,  aber  in  ihn-  Nummer,  die  ich  zur  Probe  in  die 
Hand  nahm,  fand  ich  auf  der  einen  Seite:  ..So  rückt  denn  allmählich  auch 
der  aufrichtige  und  verständige  Nationalliberalismus,  wie  <lie  Prov.-Korr. 
jüngst  da«  Beunigsen'sche  Gefolge  bezeichnete,  in  die  Schusslinie  der  Kegierung,** 
und  auf  der  andern:  „Allmftlich  werden  die  Ausstellungsgegenstände  ihrer 
Hillen  enUedlgt»**  —  und  ich  hatte  genug.  —  Seitdem  habe  ich  mich  in  mein 
SeUeksal  ergeben,  die  Zeitung  mit  Hindeinissen  zn  leeen  und  ndr  mitten  in 
üe  bunten  Bflder  von  Wahlen  und  Parlamentsverhandlungen,  Kaiserreisen  und 
Prinzenhoclizeiten ,  Attentaten  und  Kriegen  durch  das  Wörtchen  „allmählich'* 
auch  noch  den  Doct/)r  Däcbsel  und  Bengier  und  daa  Bierglas  hineinzaubem  zu 
IsSKn.    'Huit  nicht  viel! 

Eine  viel  verzweifeltere  Geschichte  ist  es,  datss  derselbe  Hexensabbatii  auch 
lü  Büchern,  belletristischen  und  wissenschaftlichen,  wiederkelirt,  wo  doch  nicht 
wie  bei  den  Zeitungen  die  hastige  Herstellung  zur  Entschuldigung  dienen  kami. 
Znm  Exempd! 

„Wie  allmählich  Stille  eintraf,  heisst  es  an  einer  SteUe  des  Romans: 

Die  letzten  Humanisten  von  A.  Stern,  „und  alle  am  Tische  nach  den  gewaltig 

erhobenen  Stimmen  hinlaoschten ,  rief  der  Amtmann  Möller  **  dagegen 

m^-hrere  Blätter  vorher:  ..^liUler  stand  noch  immer  vor  ihrem  \'ater  und  sah 
den  lütter  mit  erwartendei'  und  allmählig  mit  ungeduldiger  Miene  an.*^ 


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1 


—    258  — 

„Mochten  sich  auch  die  Aiihiinger  des  verstorbenen  Jesus- ,  schreibt 
Eduard  Zeller  über  die  £nt8tehan]?  der  ersten  Christengremeinde  in  seinem 
kritisdieii  Werke:  Die  Apostelgeachichte,  „nar  allm&hlig  zu  etnem  ÜMten 
geschloflsenen  Vereia  snaammeiigeftniden  habeiit  . .  bo  miuste  es  doch  der  Über- 

1i(  fernng  nahe  liegen,  diesen  ErfoIg^  als  einen  momentanen  darznstellen",  eben- 
daselbst aber  Jinch  über  die  Kämpfe  zwischei)  Tiulenchristenthuin  und  Heiden- 
christenthnni :  ..Das  ist  wenigstens  auch  sonst  der  Ganp:  solcher  Partei vorhand- 
Inn-irii.  dass  zurrst  doi-  Geg-ensatz  der  Eichtungen  am  stärksten  betoni.  das. 
worin  man  übereinstimmt,  am  moi.sten  zurückgestellt  wird,  und  dass  erst  im 
weiteren  Verlaufe  die  Gegensätze  sich  allmUlig  abstumpfen,  die  gemeinsamen 
Zweeke  und  Voranssetzangen  dentllcher  henrortreten." 

Hefnridi  Kurts  in  Dorpat  hat  einen  ^^briss''  und  ein  yjjehrbnch*'  der 
Eirehengeediielite  geschrieben.  In  diesem  steht:  „Diese  yon  Tonherein  sicki 
geltend  nmchende  Not h wendigkeit  (fester  C^emeindeämter)  steigerte  sich  noch 
durch  das  allmälige  Erlöschen  der  ansserordentlichen  chansmatischen  Befillii- 
gung".  in  jenem:  ..Die  drei  sittlichen  Krobsschflden  der  alten  Welt,  die  Vei-- 
achtnnjr  tVemder  Nationalität,  die  Herabwürdigunp-  des  Weibes  und  die  Skia- 
veiei  wurden  .  .  .  durch  allmUhli^e  Welterueuerung-  von  innen  hei'ans  ohne 
gewaltsames  AnkämptVn  gegen  bestehende  Rechte  überwunden.''  • 

In  der  zehnten  Anfinge  seines  Lehrbnchs  d^  Weltgeschichte  hatte  Geoi-^ 
Weber  die  Worte:  „Die  deotschenKriegalente  aber  drangen  allmählich  über 
die  Enns,  setzten  sidi  in  dem  schönen  Landstriche  diesseit  nnd  jenseit  dieses 
Flnsses  fest  und  fügten  densiMben  als  baierische  Ostmark  dem  Reiche  bei*-, 
daneben  aber  wieder:  „Drei  Mittel  schienen  ihm  (Conrad  II.)  besondei-s  geeig- 
net, die  flacht  der  Kaiserkrone  zu  erhöhen:  die  allmiilige  Aufliebung  der 
herzoglichen  Gewalten  und  ihre  l'bertragunfi:  auf  den  Kaiser,  die  Verleihung- 
dei-  einflussreielisten  Kirclieiiiimter  an  Glieder  des  Heri'scherhauses  und  die  Erb- 
lichkeit der  kleineien  L.ehen." 

Von  den  Komödien  des  Aiistophanes  gibt  es  von  Seeger  eine  gute  deut- 
sche Übersetzung  mit  lehrreichen  Ehileitnngen.  Wenn  aber  Seeger  glaubte, 
die  komische  Kraft  des  Onginals  dadurch  zn  verstärken,  dass  er  allein  im 
zweiten  Bande  folgende  drei  Sätze  drucken  liess:  ^Die  ]^dlosopIiiscbe  und  die 
komische  Kritik  sind  einander  näher  gekommen,  sie  kennen  und  achten  sich, 
die  Einseitigkeiten,  die  scharfen  Ecken  haben  sich  allmählig  im  Laufe  der 
Zeit  aneinander  abgerieben**,  und:  „Sie  haben  die  \'olk8religion,  die  allmü- 
lig  in  den  Köpfen  der  Leute  ein  Chaos  von  halber  Weisheit  und  ganzem  Un- 
sinn geworden  war,  mit  den  Pfeilen  der  Dialektik  und  der  Komik  von  alleu 
Seiten  beschossen,  weil  ihre  Zeit  vorttber,  ihre  Blflte  nnd  Fracht  abgefalleii, 
weil  sie  nnr  noch  dn  gefährliches  SpiebEeng  grosser  Kinder,  eine  tSdtiiidie 
Waife  im  Kampfe  der  Finsternis  gegen  das  Licht  war^S  mid:  „Es  war  ein 
Staat,  der  noch  nie  in  der  Welt  dagewesen,  aber  schon  oft  geahnt  worden  ist, 
ein  Ideal,  für  dessen  allmähliche  Realisining  jetzt  endlich  die  Zeit  gekom- 
men .sein  könnte"  —  wenn  er.  wie  sesag-t.  dieses  Kunterbunt  von  ..allmalia:" 
und  ..allmilhlis:"  und  ..alliiiälilich"  für  aristophanische  Komik  hielt,  so  liaben.  auf 
mich  weniirsteiis,  im  Gej^eiitheil  seine  .s<»nst  so  geistvollen  Einleitungen  aus  diesem 
Grande  stellenweise  die  Wirkung  einer  herzzerfleischenden  Tragödie  gehabt. 

Und  wenn  ich  dann  nach  derartigen,  in  einem  fort  erdnldeten  Peinigiia- 
gen  mich  einmal  erholen  will,  wenn  ich  durch  Versenken  in  des  edlen  Feucb- 


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;.  '  - 

—   259  — 

fiefdeben  M^Ktttetik  der  Seele"  das  verlorene  (Tieichgewicht  des  inneren  Menschen 
mir  wieder  zu  erringen  8trel)e.  aber  auch  hit  r  dasselbe  entsetzliche  Geschick 
ittir  widtTtaliit:  denn:  ..Nach  einer  halben  Stunde  kehlte  etwas  Beweirnnür 
zurück,  l'uls  und  Herzschlag  hoben  sich  alhnilhlich'',  erzlihlt  der  Arzt-Phiio- 
sopii  zwar  an  einer  Stelle,  das  verhindert  ilin  aber  nicht,  anderswo  zu  schreiben: 

Partien  der  menschlichen  Organisation,  welche  einen  lebendigen  Kreis 
dsntellt,  greiiea  wechselwirksam  in  einander;  was  das  bleiche,  ftltenvolle 
Antlitz  cor  Sohan  trügt,  werden  die  leise  Stinune,  der  schwankende  Schritt, 
die  unsicheren  Schriftzüge,  die  nnschlüssige  Stimmong.  die  EmpAlnglichkeit  für 
den  Wechsel  der  Witterung,  die  sich  allmälig,  aber  grfindlich  einschleichende 
Krnnkiieit  auf  andere  Weise  verrathen".  und:  ..Die  ganze  Natur  ist  ja  nur 
Echo  des  (.ieistes,  und  es  ist  das  höchste  Gesetz,  welches  sich  in  ihr  auftinden 
lässt:  dass  aus  dem  Idealen  das  Reale  werde.  djiss  die  Idee  all niä lieh  die 
Welt  nach  sich  gestalte",  —  wer  wollte  dann  nidit  meiner  \  ersicheruiig 
S^ben,  dass  ich  Gefahr  laufe,  durch  das  „allm&hlich"  noch  allmählich  den 
Veiitand  za  Terlieren. 

„Ja,  den  Verstand  zu  yerlierenl*'  betheoerte  ich  mit  der  Heftigkeit  eines 
leidenschafttioh  erregten  Herzens  dem  Freunde,  dem  ich  einst  schmersbewegt 
memen  Kummer  klagte,  wobei  ich  ihm  nicht  verhehlen  iconnte,  dass  er  selbst 
in  seinem  neuesten  Werke  miTi  ohne  es  zu  Überlegen,  gleiche  Qualen  verur- 
sacht hatte. 

Er  lachte  laut  auf. 

„Toller  Ben  Quiilan!"  sagte  er  dann,  „wie  kann  man  Kleinigkeiten  so 
tragisch  nehmen!" 

Ich  wollte  gegen  die  „Kleinigkeiten^'  energisch  protestiren. 

„Sei  stiU",  führ  er  fört,  ,4b  b»t  nun  lang  genug  geredet   Statt  den 

Verstand  zu  verlieren,  hfir'  midi  nur  einen  Augenblick  ruhig  an  und  lass  dir 
erklären,  woher  das  ganze  Durcheinander  kommt.  Die  Drucker  haben,  Grott 
weiss!  warum,  fast  sämmtlich  die  Rchreibting  ..allmHlig'*  sich  angewöhnt.  Fin- 
det nun  auch  einer  von  ihnen  in  einem  Manuscripte  ..allmählich'',  so  behält  er 
dennoch  aus  »-intrewurzelter  Gewohnheit  seine  Orthographie  ])ei.  Bei  der 
Con-ectur  wird  dann  freilich  das  Wort  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt  wieder 
hergestellt,  wo  der  Goneetor  die  Abwelckung  bonerkt.  Abor  da  er  ehiHensch 
ist,  übersieht  er  sie  manchmal,  und  so  bleibt  dann  neben  dem  „allmählich"  hie 
und  da  auch  ein  „aUmMig**  stehen.  Und  bei  der  Verbesserung  des  Dmcksatzes 
wird  auch  nur  ein  Theil  des  corrigirten  „allmälig^'  wirklich  in  ..alhnühlich" 
ungewandelt.  Denn  der  Drucker  ist  auch  ein  Mensch,  der  etwas  übersehen 
kann.  Er  setzt  hier  nur  ein  h  liinter  das  ä  und  l.lsst  das  g  am  Ende  stehen, 
dort  verbessert  er  das  g  in  eh.  vergisst  aber  das  h  einzuschalten.  So  gesellen 
sich  zu  den  ..allmählich  '  und  ..allnüllig"  auch  noch  die  ..allmählig"  und  ..all- 
mälich".  — -  Das  Einfachste  wäre,  die  Schriftsteller  bequemten  sich  dazu,  der 
Sehteibweise  der  Drucker  zu  folgen.  Dann  wftre  doch  wenigstens  die  Schwan- 
kimg  beseitigt,  wenn  wir  freilich  das  „allmftllg"  in  denEanf  nehmen  müssten.** 
..Ntin,  nein  mid  abermals  neinl^  rief  ich  aus.  „AllmMig**  ist  durch  und 
durch  falsch,  und  die  Unwahrheit  billigen,  w  issend,  dass  es  die  Unwahrheit  ist, 
ift  Sünde  wider  den  heiligen  Geist.  Nein,  nein!  —  Aber  Dank  dir.  dass  du 
mir  di,  Wurzel  des  Übels  enthüllt  hast.  Die  Ursache  der  Krankheit  ei-kannt 
haben,  heisst  ja,  wie  ihr  Meüiciner  sagt,  die  UeiiuDg  begonnen  haben.  Und 


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—   260  — 


verlass  dich  drauf,  nun  werde  ich  nicht  rohen,  bis  ich  das  Mittel  geAmden 
habe,  diese  Heilonj^  gftQzlich  za  vollbiingen.'* 


Und  ich  habe  es  gefanden. 

Es  besteht  einfach  darin,  daäs  ich  mich  offen  und  vertrauensvoll  an  alles, 
was  Drveker  heisst,  «9  weit  die  deutaehe  Zunge  klingt,  mit  meinem  Anliegen 
wende. 

,Jhr  lieben,  goten  Drneker,  ihr  braven,  Terstftndigen  Leote,  ihr  hoch- 
angesehenen,  wackeren  Kriegslente  der  sechsten  Grossmacht  Europas! 

Lest  alle  meine  Geschichte,  die  Geschichte  vom  tüchtigeü  Doctor  l>aclisel. 
Lest  dazu,  was  ich  von  den  Leiden  erzählt  habe,  die  ich  alle  um  euretwillen 
erdulden  muss,  und  die  ihr  so  leicht  heben  könnt.  Bedenkt  dabei  —  nein  es 
ist  nichts  mehr  nöthig;  wenn  ihr  lest,  was  ich,  für  euch  zumeist,  geschrieben 
habe,  dann  legt  gewiss  jeder  von  euch  die  Hand  auf  den  Setzkasten  und  gelobt 
hei  der  heiligen  Beehtachrefbang,  vmi  nnn  an  sich  abzawenden  von  den  schlech- 
ten, nichtanntsigenPrlltendenten,  m9gen  sie  „allmttlig"  heiaeen  oder  „aDmlhllg" 
oder  „allnüUidi*',  nnd  hinfort  aUeceit  treu  und  gewärtig  sn  sein  dem  allein 
rechtndssigai  Herrn 

„Allmählich!**" 


'    Und  das  ist  der  Zweck  meiner  orthographischen  Geschichte. 


VwnDtwortUehcr  BdUeteart  M.  8i«I». 


Biehdraekani  Julius  Klinkliardt,  LtiftSg. 

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(irniubätoe  zur  Beurtheilni^  der  deatechen  Jngendliteratar. 

Von  Dietrich  Theden-Hambxoy, 
L 

Kein  Zweig  der  deutschen  Literatur  dürfte,  was  den  Umfang 
^trifft,  in  den  letzten  Decennien  einen  solchen  Aufschwung  genommen 
Jiaben,  wie  die  Jugend-  und  Volksliteratur.  Aber  das  Wort:  „FOr  die 
Jagend  ist  nur  das  Beste  gut  genug*',  das  nngeschmäleirt  auch  anf 
die  Ar  das  Volk  bestimmten  Sdmftai  Anwendung  findet,  ist  leider 
immer  mehr  ausser  Acht  gehissen  worden,  und  der  durch  Überproduction 
herbeigefilhrte  zeitweilige  UmfiKng  der  Jugend-  bezw.  Volkslitenitur 
ist  kemer  der  schlechtesten  Beweise  für  den  geringen  inneren  Gehalt 
derselben. 

Wie  viele  Unberufene,  sowol  Verleger  als  Autoren,  wenden  sich 
gegenwärtig  lüclit  «lein  Krziehungsfelde  zu.  auf  dem  sich  wahrlicli  nur 
selten  noch,  und  dann  aUein  bei  holier  Begabung,  goldene  Ähren  ge- 
\dnnen  lassen.  Ks  ist  fieilich  richtig,  dass  nicht  allein  die  bt  iufs- 
mässisr  Hiatigen  und  nicht  nur  die  Männer  der  Wissenschaft  erziehend 
und  veredelnd  die  Fortent\vickeluna-  nnsers  (Teschlechtes  sich  ansre- 
legen  sein  lassen  sollen,  sondern  alle,  welche  zu  diesem  wichtigen 
<Teschäftc  inneren  Beruf  und  äussere  Veranlassung  liaben.  Aber  wie 
oft  ist  leider  der  letztei'e  Umstand  allein  der  Grund,  sich  hinauszu- 
wagen auf  die  schwere  und  gefahi-volle  Bahn  der  Jugend-  und  Volks- 
eiziehung! 

Eine  grosse  Anzahl  von  Autoren  greift  lediglich  zur  Feder,  um 
stich  Taschengeld  zu  erwerben,  nicht  wenige  auch,  um  nur  den  Buhm 
ZQ  haben,  ebenflsdls  „em  Schriftoteller*'  zu  sein.  Aber  was  nützt  es 
«ich,  wenn  ein  Sduriftsteller  wirklich  den  guten  Willen  hat,  etwas 
Tüchtiges  zu  leisten,  und  doch  über  das,  was  eine  erziehende  und  ver- 
edelnde Einwirkung  anf  die  bildsamen  Seelen  von  Jung  und  Alt  aus- 
znüben  \ennag.  sich  nicht  klar  ist?  Und  \vas  nützt  es,  wenn  ein 
Alltor  sowol  pädagogisch  gebildet  als  hoclibtigabt  ist.  wenn  ei-  nicht 
mit  Besonnenheit  und  stetem  Hinblick  aiü  den  hohen  Zweck  seiner 

Pfttlxgo^um.   4.  Jahrg.   Heft  V.  18 


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Arbeit  etwas  Keelles  und  daui  ind  AVertvolles  zu  leisten  alle  Kraft  ein- 
setzt, sdudeni  Einsicht  und  Begabung  iu  Mastieuproductioii  sich  zer- 
splittern und  verlieren  lässt? 

Die  Zahl  derjenigen  Volks-  und  Juofendschrittsteller,  welche  wirk- 
lich zur  gedeihlichen  Fortentwickeluug  unseiti  Volkes  beitragen, 
Schi'iftsteller  von  Beruf  sind,  ist  klein. 

Und  nnbeträchtlich  ist  in  unserer  Zeit  auch  die  Zahl  derjenigen 
Verleger,  welche  ihre  Manuscripte  nach  dem  inneren  Wert  derselben 
wählen,  und  welchen  bei  Herau$gabe  ihrer  Artikel  Aber  dem  eigenen 
Wol  noch  das  der  Leser  steht  Die  meisten  Verlagsbnchhändler 
sehen  bei  Auswalü  ihrer  Werke  nur  darauf,  ob  dieselben  auch  ver- 
käuflich sind;  ob  sie  aber  Wert  haben,  oder  ob  sie  geradezu  schäd- 
lich sind,  das  wird  absichtlich  ausser  Acht  gelassen.  Der  zu  erzie- 
lende materielle  Gewinn  ist  allein  die  Triebfeder  alles  Handelns  die- 
ser Interessen-Heroen,  deren  Tliätigkeit  um  so  weniger  zu  unter- 
schätzen ist,  als  ihnen  genieinliin  eine  »n'osse  Geschäftssrewandtlieit 
eignen  ist.  und  sie  im  Publicum  wie  in  der  ^lehi'zalil  der  Sortiiiieuter 
kräfti^-e  Stiitzen  «.'■♦'winuen.  indem  es  ilinen  durch  die  zu  zahlenden  nie- 
dri^ren  Honorare  einer-  und  den  ziemlich  sicheren  Erfolg  andei^eits 
ermöglicht  wird,  ihren  Artikeln  eine  reiche  äussere  Ausstattung  mit- 
zugeben und  sie  trotzdem  dann  noch  billig  an  den  Sortimenter  abzulassen, 
so  dass  durch  die  Ausstattung  das  Publicum  und  durcli  ..den  Junten 
Verdienst''  der  Sortimenter  gewonnen  wird.  Die  Herstellung  der 
schworen  Belefarungsschriften  dagegen  ist  kostspieliger;  es  müssen  so- 
wol  höhere  Honorare  bezahlt,  als  auch  die  Hlustrationen  sorgfiUtiger 
und  meist  in  grösserer  Anzahl  hergestellt  werden.  Um  aber  das  kau- 
fende Publicum  nicht  a  priori  durch  den  Preis  abzuschrecken,  darf 
dieser  nicht  nur  kein  höherer  sein,  als  der  sensationeller  und  eflfoct- 
voller  Unterhaltungslectflre,  sondern  muss  thunlichst  noch  niedriger 
gestellt  werden.  Dann  jedoch  kommt  der  Verleger  wieder  mit  dem 
iSortiiiieiitei-  in  Streit,  der  mit  einigen  Procenten  weniger  sich  begnü- 
gen soll,  das  aber  übel  nimmt  und  lieber  dem  Publicum  ..die  theureu 
Sachen,  bei  denen  niclits  zu  vrrdieiifu  ist",  gar  nicht  ei*st  vorlegt. 

Die  kräftigste  I  nterstiitzung  aber  findet  die  Ausschussliteratur 
im  lesenden  Publicum  seilest.  Nicht  das,  was  wertvoll  ist,  will  es 
haben,  sondern  das,  was  unterhält,  spannt,  reizt.  Pikante  Oolportage- 
romane,  die  sprechen  das  Volk  an!  Auch  die  Stuttgarter  Sensation^- 
romane  und  ludianergeschichten  für  diedugend  mit  ihrem  verlockenden 
bimten  Bilderkram,  ihren  in  die  Augen  fallenden  Titeln  und  Umschlägen, 
haben  nicht  erst  in  den  letzten  Jahren  begonnen,  selbst  die  bessere 


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—   263  — 


Belehmngsltteratur  in  den  Hintergrand  zu  drängen.  Aber  üii-e  Ver* 
bratang  hat  in  den  letzten  Jahren  emen  solchen  Umfang  angenommen, 
dass  es  bald  keinen  Winkel  im  weiten  deutschen  Yaterlande  mehr  geben 
mti,  in  dem  man  nicht  wenigstous  einige  Exemplare  dieser  mitgraaen- 
haften  Scenen  angeflUlten,  jeder  Moral  spottenden  Gargotagen  finden 
kSimte.  Habe  ich  sie  doch  selbst  in  einem  bedentenden,  nnter  staat- 
licher Controle  stehenden  Waisenhause*)  gesehen!  iSo  geht  es  über- 
haupt: wo  man  nicht  mit  Fleiss  nach  dem  Trivialen  greift,  da  o-e- 
schieht's  aus  Gleichgültigkeit.  Kitern  und  Krzielier,  beide  vei-siindigeu 
sich  in  gleichem  Grade. 

Wohin  aber  fiihren  dergh'iclien  Machwerke  den  Leser?  Wenn 
wir  aufrichtig  sein  wollen:  zu  ('(»ntusion,  Haltlosigkeit  und  Verdor- 
benheit in  der  Sitte,  im  Denken  und  Handeln  —  zu  Obertiächlichkeit, 
Dünkel  und  frülueüer  Keflexion  —  zu  Romauhaftigkeit)  Verschroben- 
lieit  and  Blasirtheit! 

IL 

Eine  gate  Jagendschrift  festigt  den  Charakter,  anstatt  ihn  zu 
zerrütten,  f5rdert  die  Entwickelang«  anstatt  sie  zu  hemmen.  Sie  macht 
den  Leser  auf  Fehler  nnd  Unlauterkeiten  des  eigenen  Ich,  anf  Vor- 
züge and  Verdienste  Anderer  aufmerksam  —  sie  lehrt  ihn  Demnth 
und  Bescheidenheit;  sie  spornt  ihn  znr  Nachahmung  des  Edlen  und 
Wahren  und  zur  Überwindung  und  Vermeidung  von  Schein  und  Lüge 
an  —  heisst  ihn  naclidenkeu  und  erwägen.  Sie  gewährt  dem  Zög- 
liui((-  in  mftssigen  Stunden  eine  geistige  Krfriscliung  und  bewahrt  vor 
whädlicher  Zerstreuung;  sie  bietet  ihm  eiiin  willkommene  Erholung 
von  der  Schularbeit  und  bildrt  doch  zujj^leich  eine  Ergänzung  des 
•Schulunterrichts.  Mit  einem  Wort:  sie  ist  als  annmthende  l'mschrei- 
bung  ethischer  Kernsätze,  als  Verstand  und  Gemiitli  anregende  Detail- 
Dialerei  pädagogischen  Lehr-  und  Übungsstoffes  ein  Fin-derungsm Ittel 
far  Gesinnung  und  Wissen,  und  Manches,  was  durch  das  trockene 
Wort  de8  Erziehers  im  Herzen  oder  Kopfe  des  Kindes  nicht  haften 
wollte,  findet  durch  die  ungestörtere  and  mehr  concentrirte  Einwir- 
kung des  Baches  willig  Ao&ahme  und  Beherzigung.**) 


*)  Dem  Hftmbiiiger.  Die  Titel  der  Werke  siiid  mir  nidit  mehr  erinnerlich;  ich 

habe  jedoch  ehuge  derselben  gelesen,  und  der  Eindruck,  den  icli  enipfins;.  war  der, 
dem  Otto  Sutermeister  in  den  Worten  Ausdruck  jj^bt:  ,.Pift"  pafti  tiberlall.  Kampf, 
M*'i"I  und  Todtsrhlag  und  alle  die  Herrlirlikeiten,  die  druiu  und  dran  bäugeu,  schit« 
dem  diese  Bin  her  von  Anfang:  bis  zu  Ende  —  in  Text  und  Bildern!" 

**)  „tierade  die  heiligsten  Gedanken  sträuben  siel»  oft,  laut  Uber  die  Lippen  zu 

18* 


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• 

—  sei- 


lst nun  ancli  nnspiv  Jugendliteratui*  mit  wertlosen  Elementen 
legirt,  und  sind  aucli  die  besseren  Erzeugnisse  von  der  erdi'ückendeii 
flnt  des  Schalen  und  Verwerflichen  bedauerlich  in  den  Hintergnuid 
gedrängt  und  nicht  ohne  Mühe  hervorzusnchen  —  das  darf  behauptet 
werden:  bei  aller  Armut  an  guter  LectQre  in  der  üm&ngs-  und 
Zahlenvergleichung  dieser  mit  derrecusabeln  reprflsentirt  doch  auch  die 
erstere,  der  breiten  Masse  entsondert  und  fttr  sich  allein  flbersehen, 
einen  Schatz,  der  den  weitestgehenden  Anforderungen  gerecht  zu  wer- 
den geeignet  ist  und  das  Leben  der  Natur  wie  der  Menschheit  um- 

Sie  kuiniiit  ziii-  (-ieltiuig,  wenn  unbegabte  und  speculirende  Au- 
toren und  \'t'rl(^frer  verdrängt,  Talent  und  redliches  iStreben  bervor- 
gesuclit  und  iierausgeboben  werden. 

m. 

W  as  bei  Heurtlieilung  der  Jugend-  und  Volksschriften  in  Betracht 
kommt,  ist  dreierlei:  Der  Inlialt,  die  Form,  die  Ausstattung. 

Der  Bihalt 

Die  Jugend-  und  Volksschrift  muss  sittlich-rein  gehalten  sein.  — 
Sciirifteii.  welche  ihren  Lesern  lauter  Tugend-Heklen  und  Heldinnen 
V'trtuhieu.  die  von  ihi'eu  Verwandten  mit  Zuckerbrot,  von  ihren  V(ir- 
gesotzten  nnt  Amt  und  Ehren  und  von  Gott  mit  allem  erdenklichen 
Glück  ptiichtgeuiass  beloliut  werden ,  sind  zu  verwerten.  Eine 
Jugend-  und  A'olksschrift  nuiss,  sofern  sie  niclit  geradezu  beleh- 
renden Inhalts  ist,  sittliche  Gegensätze  enthalten.  Der  sittliche  Con- 
trast  dai'f  kein  zu  greller  sein;  der  Lesei*  neigt  sich  sonst  sehr  bald 
und  so  entschieden  nach  der  ihm  zusagenden  Seite  liin,  dass  er  der 
entgegengesetzten  nicht  mehr  die  erforderliche  Beachtung  schenkt  und 
daher  die  Lehren  und  Oonsequenzen  dieser  verloren  gehen  Iftsst  Das 
Wahre  und  Gute  werde  gern  in  seiner  höchsten  Potenz  geschildert;  doch 
lasse  man  dann  den  Leser  das  ihm  vorgeführte  denkbar  Höchste  und 
Vollkommenste  nicht  blos  begaffen  und  bewundem,  sondern  man  zeige 
ihm  auch  den  Pfad  bergan  und  stELtze  und  begleite  ihn.  Die  Schil- 
denmg  des  Falschen  und  Bösen  in  seiner  ganzen  Entartung  werde 

rieten,  oder  wenlen.  wenn  sie  Auge  in  Ango  horvortreton.  nicht  ganz  mbefan^n 
hiugenoninicn.  Das  Buch  dagegen  mit  seiner  lieimlichen  Sprache  kann,  auch  ohne 
<lie  tromnif  Sehen  zu  verletzen.  >Ianches  auf^sprechen.  wa-<  flf-r  Erzieher  nicht  iiuiiier 
zu  sagen  verniair,  und  kann  «laiuit  uutfe>ir»rt  die  heiliirsten  Eniptindungcn  \veoken 
und  uälireu.'"  Kühner  iSehniidV  Kncycloitüdie  des  gcsaiuinten  £rziehiuigr<-  und  Un- 
terrichts Wesens,  2.  Aullage,  B<1.  III.  pag.  881). 


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TT—  -••  • 

—  265  — 

Termiedei).  Denn  dadurciii  dass  man  dem  Leser  das  Laster  lasterhaft  er- 
scheinen lässt,  kelirt  man  seinen  Sinn  noch  nicht  dem  Guten  zu.  Und 
wer  dem  Gnten  nicht  nm  seiner  selbst  willen  zngethan  ist,  den  wird 
keine  Furcht  und  kern  Abschen  vor  dem  Entgegengesetzten  dazu  be- 
wegen. Nie  trete  das  Böse  in  glatter  und  bestechender  HQlle  auf; 
Die  werde  ein  Fehlw  bemäntelt*)  Das  Gute  werde  nicht  besonders 
belohnt,  das  Böse  nicht  besonders  bestraft  Der  Leser  soll  erkennen, 
wie  das  Gute  den  Lohn  in  sich  selber  trägt;  wie  sich  das  Böse  in 
and  dnrch  sich  selber  rftcht  Gr  soll  zniHeden  sein,  wenn  das  Oute 
gelingt,  und  Freude  empfinden,  wenn  das  Böse  vereitelt  wird.  „Noch 
jp.iir]  muss  er  sich  be^niij^eu  mit  dem  ^juteii  Willen,  auch  wenn  die 
Austulirunp:  nicht  orelin^rt,  und  darf  als  Belohnung  und  Strafe  nichts 
aiiilt  THs  vei'lan<;en,  als  das  Hewusstsein."'  (Oi»pel  a.  a.  0.  8,  124.)  — 
M;m  hWw  sich,  bei  der  Auswahl  auf  vorwiegend  rt'li.u:iösen  Inhalt  zu 
sollen.  Schriften  dagegen,  in  denen  diese  Richtung  minder  hervortritt, 
zu  verwerten.  Fromme  ßegeln,  Seufzer  und  Aussprüche  nützen  gar 
aichts;  sie  dienen  auch  zumeist  nur  dazu,  eine  vertlachte  und  verfehlte 
Darstellung  mit  Schick  zu  Ende  zu  bringen  und  es  dem  Verfasser  zu 
ermöglichen,  in  einem  nenen  Capitel  seinen  Baritätenkarren  aufs 
neue  festzn&hren.  Das  Beligiöse  soU  dem  Leser  in  den  Handlangen 
der  ihm  yorgeföhrten  Personen  entgegentreten,  nnd  je  kenscher  auch 
m  dieser  Beziehung  die  Schüdenmgen  sind,  desto  gesunder  nnd  ker- 
niger ist  meist  die  ganze  Schrift  Sehr  bezeichnend  nnd  charakteri- 
stisch ist  ein  Ausspruch  Jeremias  Gotthelf  s  in  „Jacobs  Wanderungen". 
,tJacob*S  sagt  der  Meister  in  seiner  derben  Weise  zn  seinem  Gesellen, 
als  dieser  sich  wundert,  wie  wenig  Geistliches  mau  während  der  gan- 


*)  „EtE&hle  deiueu  Kinderu  kerne  Beispiele  vou  Schlechtigkeit,  an  die  sie  gar 
■ieht  denken,  die  ihnen  so  ferne  liegt,  dass  sie  ihre  Existenz  gar  .nicht  ahnen.  £in 
Lelirer  endUdte  in  Religiiosstnnde  die  Geschichte  emes  missrathenai  Sohnes,  der 
Ton  Stufe  XV  Stofe  sank  and  eodliidi  dahin  kam,  den  ebenen  Vater  au  enMwden, 

um  ihn  zu  berauben.  So  etwas  lialte  ich  f&r  einen  höchst  ungeschickten  MissgriflT; 
nicht  durch  Abschreckung  er/ielt  liic  Pädasrofjfik  ihre  Triumphe,  sondern  durch  An- 
ziehiiHü^.  „So  will  ich  juicli  werden I"'  soll  das  Kiml  lehcnditr  im  Herzen  fühlen;  da- 
•iiinli  kommt  es  weiter  voran,  als  dnrch  die  P^uiiitindiing:  „Ptiii.  wie  hässlichl'"  Das 
möchte  ich  nicht  sein"  kommt  in  der  Regel  gar  nicht  zum  wirküchen  Ent- 
■dihisse.  —  Nichts  Schlechtes  erzählen,  was  nicht  bereits  in  dem  Anschannngskreiäe 
desKmdes  liegt;  mit  dem  Guten  aber  immer  wdter  gehen,  immer  hoher  hinauf,  das 
sd  deuie  Losung.  —  Es  ist  eine  Versttndignng  im  der  Unschuld,  Bilder  vor  dem 
Auge  des  Kindes  zu  entrollen,  Thatea  nnd  Gesinnungen  an  schildern,  an  deren  Nied- 
rifßuit  es  noch  nicht  sredaclit  hat»  die  also  gar  nicht  ans  seiner  Anschannng  ge- 
nommen sind,  die  das  Kind  nörhi2:cn.  unter  sich  7.n  sehen,  statt  dass  es  immer  ZU 
Edlerem  empor  blicken  »oUte."   (Oppel,  „Buch  der  Eltern,"  pag.  124  iL) 


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—   266  — 

zen  Woche  im  Hause  seines  Meisters  höre  und  niclits  von  alledem, 
was  Soiintasrs  in  der  Kirclu"  gepredigt:  „Jacob,  wenn  Ihr  ein  Stuck 
Speck  esset,  lasst  Ihr  den  Zipfel  eine  ganze  Woche  zum  Maul  herans- 
hHn«ren?  l'nd  wenn  Ilir  ein  Glas  Wein  getrunken  habt,  hisst  Ihrs 
über  Kinn  und  Halstuch  laufen,  dass  Ihr  den  ganzen  Tag  nach  Wein 
stinkt?  Bringt  Ihr  nicht  beides  s&nberlich  in  den  Leib?  Wer  nicht 
dnnim  ist,  wird  ans  Eurem  Schalten  merken,  ob  Ihr  was  Rechtes  oder 
was  Schlechtes  Im  Leibe  habt,  oder  gar  nichts!**  —  Fehlen  darf  die 
Beligiosität  nicht;  aber  sie  soll  nicht  in  blossen  Bedensarten  oben 
auf  treiben,  gleich  den  glftnzenden  Fettaugen,  die  mit  dem  Schöpf- 
löffel abgefüllt  werden  und  nun  eine  um  so  wässerigere  Kost  zurück- 
lassen. Der  confessionelle  Standpunkt  trete  nicht  in  den  Vorder- 
grund. Es  ist  niclit  mithig.  dass  er  ganz  verwischt  wird:  (h»ch  skII 
ihm  das  Verletzende  gegen  Ander.sglaubende  genommen  werden.  Die 
Jugend-  und  Volksschritt  sei  Mittel  zur  Fiirderung  von  AutT^läruug 
und  Duldung.  —  Das  erotische  Element  werde  in  der  dugendschrift 
möglichst  vermieden;  eine  gänzliche  Exclusion  desselben  ist  jedoch 
nicht  zu  fordern.'^)  Nicht  statthaft  ist,  die  Erotik  zum  Object  der 
Darstellung  zu  machen,  und  durchaus  ausgeschlossen  ist  auch  die  Ero- 
tomanie. Liebeserklärungen  oder  Treubruchscenen,  zweideutige  Hand- 
lungen nnd  Redewendungen,  yersteckte  Anspielungen  etc  dürfen  in 
einer  Jngendschrift  nicht  zu  finden  sein.  In  allen  demjenigen  Fällen 
aber,  in  denen  die  geschlechtliche  Liebe  nebenher  benutzt  wird,  euk 
Bindemittel  zwischen  Menschen  abzugeben,  die  wir  lieben  und  achten 
gelernt,  ist  gegen  ihre  Heranziehung  nicht  das  Geringste  einzu- 
wenden.**) 


*)  Zn  verlangen  ist,  „dass  in  der  Jogendschi^  die  thierisdie  Katar  des  Ifen« 
sehen,  die  eben  beklmpft  and  niedergehalten  werden  soll,  nieht  hervortrete.  Und 
nicht  allem  sachlich,  aoch  hinsiclitlich  der  Aiudracksweise  ist  eine  eatapnAeoiM 

Vnr^iicht  zu  empfehlen.  Denn  es  i^bt  Dinge,  die  an  sich  keineswegs  unsittlicli  sind, 
aber  doch  von  dem  natürlichen  Schamjfefiilil  verschwiegen  wler  von  dem  civili.«irten 
in  Conventionelle  Eiiplioniisnion  irehüllt  zn  werden  ])f1p[ren;  nnd  An>-(lrü<  ke.  die  ilieser 
conventi'inf'lh^n  Dcecnz  widt  i'^trt'itt'n.  knuiifn  dt  in  Kiiulc  in  ühulicli«.'r  Weise  an^tr.>Mg 
werden,  wie  ein  nnsclmldii^t  r  Wilder,  wenn  wir  ihn  in  seiner  Nacktheit  in  nnsere 
GeselUchaft  einfuhren  wollteu.  Doch  auch  eine  zu  ängstliche  Nachgiebigkeit  gegtu 
ehie  ttbeiilsinerte  sprachliche  Decena  kann  schaden,  nnd  ea  mitssen  daher  solche 
menschliche  Dinge  nnd  namentlich  die  Oeschichte  der  Liebe,  wenn  sie  emmal  dar- 
gestdlt  worden,  zwar  mit  keuschem  Sinne,  aber  mit  festen,  nicht  dnrch  Halbdunkel 
zn  Arg^volm  verleitenden  Zflgen  geaeichnet  werden."  (Kühner,  a.a.O.  pag. 888ff.> 
**)  ,.Kinder  bis  zum  Alter  von  12 — 14  Jahren  —  eine  bestimmtere  Grenze  lässt 
sich  hei  der  unirleichniüssijjen  Entwickelune:  der  Kinder  nidit  /ieli.  ii  pfleiren 
Stelleu,  die  von  geschlechtlicher  Liebe  handeln,  mit  einer  £kulcheu  Lubelaugeuheit  zn 


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—   267  — 


Der  Inhalt  muss  der  Walirlieit  entsprechen.  —  Es  ist  nicht  nö- 
thig,  dass  die  Pei'sonen,  welche  uns  in  einer  Jn^endschrift  vorgeführt 
werden,  wirklich  ezistirt,  oder  die  heschriebenen  BegebeuheiteE  sich 
so  nnd  nicht  anders  zugetragen  haben,  als  angegeben  wird.  Sie  sol- 
len  der  Wahrheit  entsprechen,  das  heisst:  der  Charakter  der  vorge- 
ifihrten  Personen  und  die  Einzelheiten  der  beschriebenen  Begeben- 
heiten sollen  dergestalt  dem  Leben  nachgebildet  sem,  dass  sie  nicht 
nnr  die  Möglichkeit  der  Wahrheit»  sondern  auch  die  Wahrschenilich« 
kdt  ftSr  sieh  haben.*)  —  Was  Uber  Länder  nnd  Volker,  sowie  Pflan- 
zen nnd  Thiere  nnd  Überhaupt  über  die  Natar  gesagt  wird,  hat  voll 
imd  sranz  der  Wirklichkeit  zu  entsprechen.  —  Übertreibungen  sind 
streng  zu  vermeiden,  besonders  auch  in  der  l  liaiakteristik  der  Per- 
suneu,  da  nichts  für  das  jugendliche  (-reniüth  schädlicher  sein  kann, 
als  fortwährend  sich  zwischen  Extremen  zu  bewetren  und  den  ^len- 
schen  entwtMler  zum  VA\u;i^]  crliüben  oder  zum  TeulVl  erniedrigt  zu 
Sehen.  Den  ersteren  bewundert  es,  ohne  zum  Nachstreben  angeregt 
zu  werden,  und  den  zweiten  bedauert  oder  vembscheut  es,  ohne  an 
die  Möglichkeit  eines  gleichen  Falles  zu  denken.  —  Auch  diejenigen 
Dichtungen,  welche  lediglich  Producte  der  Phantasie  sind  (Sagen, 
Märchen,  Fabehi),  müssen  denjenigen  Stempel  der  Wahrheit  und  Natür- 
lidikeit  tragen,  den  anch  das  Kind  sofort  herausfindet**)  Begel-  nnd 
gesetzlos  hingeworfene,  nur  durch  Farbenpracht  fesselnde  Bilder  sind 
mit  Entsdiiedenheit  zn  verwerfen. 


lesen,  dui  der  Erwichsene  dadmeh  oft  mit  Wehmnth  an  die  Unschnld  der  eigenen 
gtaddioh  verlebtem  Jugendzeit  erinnert  wird."  —  „Es  Ueat  sich  nicht  bestrdten, 

diu»  der  geschlechtlichen  Liebe,  wofeni  sie  nicht  zu  einer  grob-sinnlichen  ausartet, 
eine  starke  sittli(:h»Mi(lc  Kraft  innewohnt,  die  schon  manchen  Ji\ui?ling,  manche  Jung- 
tran vor  Irrwegen  bewahrt  und  zu  edlem  Thun  begeistert  hat.  Schriften,  in  wel- 
chen eine  solche  reine  Liebe  gcsclnldtTt  wird.  /..  B.  Schnitze's  .'Bezauberte  Rose'* 
KinkeFs  „Otto  der  Schütz  ',  .lulius  Sturm  s  „Stilles  Leben'',  G.  Döring's  „Bildhciniitzer 
Tön  Tirol''  und  manche  Homane  von  Walter  Scott,  müssen  darum  auch  weit  eher 
iun  beitragen,  des  jugendlichen  Lesers  GefUile  m  läutern  und  som  Ideale  au  er- 
heben, als  dazu,  ihn  znin  Bohen  nnd  Gtemein^  herabzuziehen.**  (Kaiser,  „Jugend- 
leetare  nnd  Sehttleibibiotheken"«  pag.  18  ff.) 

*)  ,,ünter  dieser  Wahrheit  ist  nicht  eine  Beschränkung  auf  die  nackte  Wirk« 
lif  hkeit  zti  verstehen,  sondern  jene  innere  Wahrheit,  welche  aucli  dem  ideelh  n .  jtoe- 
tist  h  ^^estalteten  Leben  das  Überzeugende  Qepxflge  der  Wirklichkeit  gibt."  (K.Uh- 
iier,  a.  a.  O.) 

**i  ..Der  Schriftsteller  muss  sein»'  iibenmtiirlielien.  wunderbaren  Personen,  seine 
mit  mens*  blieben  Leidenscbaften  nnd  menschlielier  Rede  beirabten  vemunffloson  Wesen 
»>  reden  und  handeln  lassen,  wie  es  der  ihnen  beigelegten  Natur  oder  den  au  iiiuen 
b  der  Wirklichkeit  wahigeDommenen  Eigenschaften  gemSss  ist."  (Kaiser,  a.  a.  0.) 


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—   268  — 


Die  Ju|2^eii<l^cliritt  iiiuss  bildemle  Kiemente  entlialieii.  Sie  kann 
den  dreifaclieii  Zw»'ck  halten:  zu  unterhalten ,  zu  veredeln,  oder  da.s 
W  issen  drs  Lesers  zu  l)ereichern.  Schriften,  welche  nur  unterhalten 
wollen,  sind  aust^eschlossen.  Mit  der  rntei-haltunu-  ist  niin(lesteii>  <\w 
Veredelung  des  Lesers  zu  verbinden,  nicht  nnnder  alier  auch  mir  dei' 
Belehrung-  eine  entsprechende  Lhiterhaltung.  —  Soll  durch  Schiiften 
ein  veredelnder  Einfluss  auf  das  Gemüth  des  Lesei*s  ausgeübt  werdeiit 
So  hat  denselben  eine  Indiere  Idee  ZU  Grunde  zu  liegen.  £s  müssen 
durch  die  Erzählungen  Wahrheiten  veranschaulicht  werden,  von  deren 
Erkenntnis  ein  heilsamer  Einfluss  auf  den  Leser  zu  erwarten  ist.  Die 
Erkenntnis  einer  Wahrheit  darf  jedoch  nicht  ans  willkfirHch  oder  zn- 
fUlig  herbeigeführten  Glttcks-  und  Unglöcksföllen  hergeleitet  werden. 
Geschichten,  in  denen  Menschen  unverschuldet  in  allerlei  Noth  und 
Unglück  gerathen  und  dann  auch  wieder  ohne  eigenes  Thon  und 
Streben  dnrch  zufällige  Erbschaften,  zufälliges  WblwoUen  hochstehen* 
der  Mitmenschen,  durch  Auffinden  verborgener  Schätze,  Lotteriespiel 
u.  s.  w.  aus  aller  Angst  und  Verlegenheit  herauskommen,  sind  tür  dt-ii 
Leser  eher  gefiihrlich  als  nützlich.  Auch  die  beliebten  Amerikareisen, 
durch  welche  arme  Teufel  meist  als  geldstrotzende  Wellmänuer  in 
di«'  staunt'nde  Heimat  zurückkehren,  sind  ein  grosses  Übel.  Nicht 
nui-.  (lass  sie  dem  (rekle  einen  zu  grossen  \\'ert  beilegen;  sie  führen 
auch  zu  gänzlich  falschen  Vorstellungen  iiber  die  Erlangung  desselben 
und  lassen  uns  die  Geiahren  und  MiUiseligkeiten,  mit  denen  der  Mensch 
in  fernen  Erdtheilen  zu  kämpfen  hat,  nur  selten  miterleben  und  noch 
viel  weniger  nrtheilsfirei  und  unbefangen  schätzen.  —  Werke  beleh- 
renden Inhalts  (Biographie,  Völkerkunde,  Naturkunde,  Kunst  und  Tech- 
nik etc.)  sollen  auf  der  Höhe  der  Wissenschaft  stehen.  Den  Stoff  be- 
treffend, darf  nur  das  allgemein  Wissenswttrdige  und  Bildende  gewählt 
werden,  „nicht  Details  einer  Fachwissenschaft^  auch  wenn  sie  an  sieb 
noch  so  interessant  und  amüsant  dnd;  nur  das  wahrhaft  Grosse,  aidit 
das  Curiose,  allein  durch  Ausserordentlichkeit  Fesselnde;  nur  die  be- 
wähi'te  \\'ahrheit,  nicht  das  Problematische  und  Hypothetische." 
(Kühner.) 

Di'V  Inhalt  sei  f>paun*Mid.  Die  rein  didaktische  Jugend^rlnitt 
fessele  durch  Hcstimmflieit,  Scharfe  und  Prägnanz  im  Ausdruck  ini'l 
Stil;  sie  vermeide  aniKithige  Hedm^tion.  folge  einem  bestimmten  Plane 
und  gehe  in  der  Ausführung  desselben  nie  über  die  gesteckten  (ireii- 
zen  hinaus.  Sie  schildere  lebendig  und  mit  Wärme,  wo  es  angebt 
selbst  mit  Humor,  trage  aber  auch  ein  nnverkennbares  Gepräge  sti-en- 
ger  Authenticität  und  wahre  ihrem  Urtlieil  Ruhe  und  Besonnenheit 


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—   269  — 


Die  erzählend  didaktische  Jngendschrift  sei  so  gehalten,  dass  weder 
das  Erzählende  noch  das  Belehrende  besonders  in  den  Vordergrund 
tritt;  doch  trage  das  Ganze  einen  mehr  unterhaltenden  Charakter. 
Die  Handlung  der  Erzählung  sei  bewegt;  das  Belehrende  stehe  mit 
der  Erzählung  in  engster  Verbindung  und  sei  in  der  Fassung  knapp 
nnd  anschaulich.  Die  erzählend  veredehide  Jugendschrift  darf  den 
Leser  nicht  unnatürlich  aufregen;  doch  soll  sie  seine  Gedanken  voll 
uud  jranz  sammehi  und  sein  Gemiitli  aus  dem  Grunde  bewegen.*) 

Der  Inhalt  muss  der  Alters-  und  Kntwickelunofsstufe  des  Lesei-s 
angemessen  sein.  Man  glaube  nicht,  die  .Tugendschrift  habe  sicli  in 
Stoffwahl  und  Sprache  lediglich  oder  aucli  nur  vorzugsweise  in  der 
engen  Sphäre  des  Kindes  zu  bewegen,  duicli  Geschichten  von  Kin- 
dern das  Kind  zu  unterhalten,  und  es  zu  behdiren  durch  Beispiele 
von  Kindern.**)  Nein!  die  Welt  der  .Tugendschrift  sei  dem  Gesiclits- 
kreise  und  dem  Verständnis  des  kindlichen  Lesers  zwar  erreichbar, 
greife  und  weise  aber  gleichzeitig  darüber  hinaus.***)  Jede  Jugend- 
schrift lasse  daher  einen  bestimmten  Leserkreis  ins  Auge  und  suche 
diesen  zu  sich  onporzuziehen.  Alles  aber,  was  für  den  in  Betracht 
gezogenen  Leser  ungeeignet  —  was  zu  hoch  oder  auch  zu  niedrig 
ist,  sei  weggelassen.  Juristische  Spitzfindigkeiten,  Wortklaubereien  und 
Eonstschlttsse  gehören  in  keine  Jugendschrift,  kirchliche  Streitigkeiten 
wie  sociale  und  politische  Missstftnde  eben  so  wenig.  —  Didaktische 
Jngeneschriften  rein  religiösen  Inhalts  und  solche,  in  denen  die  tief- 
sinnigen Heilswahrheiten  der  christliclien  i-Jeligion  nebenher  zu  mehr 
oder  minder  logischer  resj).  tht  (»logischer  Krörterung  kommen,  iUjer- 
sTeigen  die  Fassungskraft  dei-  -fugend  entschieden  und  sind  dalier 
durchaus  zu  verbauueQ.tj    Und  auch  diejenigen  iSciuüten,  in  denen 


♦)  „Wenn  die  Zuhörer  mit  weit  g:eöftneten  Aueren  dir  .-«tarr  ins  Gesiclit  l>li(  kt-n ; 
wenn  ilkneu  bei  ergreifenileii  Sceueti  die  Thräuen  in  die  Augen  treten;  wtnn  Me  \m 
heiteren  Büdem  lachend  und  jubilirend  vom  Stuhle  aufspringen;  wenn  nie  oft  niit 
kmein  reden,  jetet  nnwfllkttrUch  rofen:  t^Ach  wie  gntV  und  dann  wieder:  ,^ch 
Gott!  Ach  Gott^*  —  dann  ist*«  das  Rechte,  dann  hist  da  un  Stande,  sie  durch  deine 
Ecäüünngen  immer  weiser,  hesser  nndglttckhcherzumadieii.**  (OppeL) 

**)  ..Der  Knabe  fühlt  .sich  ungern  klein,  er  möchte  ein  Mann  sein;  der  ganze 
Blick  de»  wolaugelegten  Knaben  ist  tlber  sich  gerichtet,  und  wenn  er  acht  Jahre 
hat,  geht  .sein  (Jesiditskreis  Uber  alle  KinderliLstoricn  hinweir."  (Herbart.) 

***)  „Da.s  Küiderburh  nins.s,  statt  den  Kindeni  nachzukriechen,  neben  dem  Ver- 
ständlichen einen  atacheluden  Zusatz  von  noch  nicht  verständlichen  JDingeu  geben.  ' 
(Dahlmann.) 

t)  «Bs  ist  lOnrahr  nicht  schwer,  ein  Kind  durch  Voistellnngen  von  dem  natOr- 
liehen  Verderben,  vom  Gericht,  vom  Einflösse  des  bOsen  Feindes  in  Anfregung  und 
Aagst  2a  TersetKen,  es  mit  Zweifeln  an  seiner  Seligkeit  anzufüllen  nnd  es  dadurch 


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—   270  — 


die  Ki  kenntnis  orewisser  Walirlu  ir^n  den  Kindern  „in  kindlij-lier  WeL>;e", 
oder  „ilii'^i*  Anscliaiuiii«:-  und  Denkart  anjreniessen" ,  also  <re\vij>ser- 
massen  spielend  bei^jcebracht  werdt^u  soll,  sind  niclit  zu  dulden.  Sie 
arten  entweder  in  wertlose  langweilende  Moraliiredigten  aus  und  wer- 
den als  solche  überschlagen,  oder  geben  dem  Kinde  von  dem  Ernste 
der  Religion  einen  Begriff*),  der  sich  im  späteren  Leben  bitter  rächen 
wird. 

Die  i?  orm. 

Der  Wert  einer  Jagendschrift  wird  durch  die  Form  fast  nicht 
minder  bedingt,  als  durch  den  Lihalt.  Die  Jngendscfarift  hat  zwar  zu- 
nächst die  Kenntnisse  nnÜ  das  Wissen  des  Lesers  zu  bereichem,  sei- 
nen Verstand  zu  schärfen  und  sein  Gemfith  zu  veredeln;  sie  soU  aber 
auch  das  Sprachgefölü  desselben  bilden,  seinen  Geschmack  verfeinein 
nnd  seine  Phantasie  beleben  nnd  leiten.  Das  Grosse  nnd\\'alire  uiacht 
keinen  oder  einen  nur  geringen  Kindrnck,  wenn  es  niclit  auch  in  einer 
dem  Stotte  entsprechenden  HüIIh  geboten  wird;  nnd  auf  das  Getiihl 
des  T.esei-s  insbesondere  wiikt  eher  die  Form,  ah  der  i:>toft'.  Man 
beachte: 

Die  Jugendschrift  sei  correct  im  Ausdruck,  damit  nicht  nach 
Bräsig'scher  Ai-t  etwas  ganz  anderes  gesagt  wird,  als  was  gesagt 
werden  soll.  Veraltete  Ausdrücke  sind  zu  vermeiden.  Sie  geben  zu 
Missvei*ständnissen  Anlass  oder  verleihen  dem  (xanzen  das  Gepräge  der 
SchwerfiUÜgkeit  und  Affectaüon.*'^)  Von  Provinzialismen  werde  ein 

zu  allem  zu  bewegm,  was  man  will  ....  Es)  kaun  sein,  dass  dadurch  firttbzeitige 
tiefe  Erfahrungen  vom  Verkehre  der  Seele  mit  Christo  hervorgebracht  worden  »ind. 
Alter  diese  Erfolge  waren  Krftdtr^^,  vor  denen  man  sich  eher  fürchten  sollte.  al> 
•lariilier  frenen.  Kenn  hifr  stt-llr  sirli  die  schlinimste  aller  < Gefahren  ein:  frühe  Ab- 
nutzun::;  aller  .solcher  Kintlriii  kc  nnd  Krlebui.s.se,  und  einschleiehen'ie  L'nwahrheit.  in- 
dem die  Kraft  schwindet  und  die  Kedensarten  bleiben."  (H.  Thierse 
Christi.  Familieoleben",  pag.  114.) 

*)  „Nur  mit  Schmerz  und  Unwillen  kann  man  die  HMse  der  Kinderbttcher  be- 
trachten, in  denen  Posse  mit  Andacht  Tcrmischt  iritd.  Was  kann  aus  scddien  BQ- 
dungsmitteln  entstehen,  als  ein  (reschlecht.  (la.s  seine  ästhetische  Spielerei  tVir  Reli- 
ffion  und  am  Ende  den  furchtbaren  Emst  derKeligion  .selbst  fiü*  eine  Spielerei  hiiltl  ' 
(Thiersch.  a.  a.  O.)  —  ..Wer  e-  irnr  mit  seinen  Kindern  meint,  irehf  ihnen  -tart 
jener  tVuinnielndi  ii  S.  hiiften  anmuTlu  iiile  Sthilderuni^en  des  wirkliclR-n  Lehens  in  'lie 
Hand,  nnd  wenn  er  ein  Weiteres  thnn  will,  s<^  .schlage  er  ihnen  zn  passender  Stuiule 
ein  geei^ietes  Capitel  der  heiligen  Schrift  auf,  welche  sich  zu  jener  Älischlingsüte« 
ratur  Tertiftlt,  wie  die  unerschöpflich  sprudelnde  lautore  QueUe  su  dem  schnell  T«r- 
dunstenden  trOben  Pfuhle."  (Kaiser,  a.  a.0.) 

**)  Kan  veigteiche  z.B.  Ebeling:  „Das  GelSute",  pag.  3 ff.,  wo  es  u.  a.  hdsst: 


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—   271  — 

i^Mursamer  Gebrauch  gemacht.  Sie  beschränken  die  Verbreitong  des 
Baches  aof  za  kleine  Kreise.  Wortverrenkimgen  sind  entsdfieden  zu 
miasbfllig^ 

Stil  imd  Ansdracksweise  seien  nidit  nnr  grammatikalisch,  son- 
dern auch  logisch  richtig.*)  Die  DarsteUung  sei  yolksthflndich,  ohne 
m  anstössige  Derbheit  nnd  Trivialität  auszuarten;  glatt,  ohne  geleckt 
zu  sein.  Die  Darstelluno-  sei  klar  nnd  diircbsichtig,  nicht  seicht;  wo 
es  nöthig  ist:  kindlich,  niiht  kindisch;  sie  sei  einfach**),  aber  kratt- 
voll  und  lebendig;  ruhig,  nicht  matt;  wai-m,  nicht  seutiineuaL***) 

Die  Ausstattung. 

Da  die  Ausstattung  im  Ganzen  nebensächlich  ist,  sei  ihre  Be- 
handlung auf  einige  wenige  Winke  beschränkt.  Hauptsache  ist,  dass 
man  sich  nicht  verleiten  iässt,  von  dem  Ausseren  eines  Werkes  auf  den 
Inhalt  desselben  zu  schliessen.  —  Der  Druck  sei  ein  reiner  und  leser- 
licher; zu  feiner  Druck  schädigt  das  Auge.  Das  Papier*  sei  fest^  glatt 
und  von  entsprechender  Stärke.  Die  gebotenen  Illustrationen  seien 
treu  und  lebenswahr  in  Auf&ssung  und  Darstellnng,  sorgftltig  und 


n.  Eon  Hansfirau  ist  eine  treffliche  Qattin,  eine  gate  eoigsame  Matter,  nnd 

wem  ae  nicht  in  Küche  und  Xeller  schaltet  nnd  waltet,  nicht  den  Mfigden  gebie- 
tet,  wie  Ihr,  se  liegt  die  Schuld  nicht  an  ihr,  alldieweil  und  sintemal  sie  hftufigTon 
Gehresten  nnd  Krankheiten  heimgesucht  ist,  auch  würdet  Ihr  es  Übel  vermerken, 
wenn  sie  f^tatt  Eurer  das  Regiment  ftthren  wollte,  alldieweil  nnd  sintemal  Ihr  ge 
wöhnt  seid,  allein  zu  rflifieren.  ' 

*;  Es  Lst  gleichmütig,  wer  den  Fehler  macht,  oh  Autor  odcrSct/er:  t  )bertlii<  hli«  h- 
keiten,  wie  z.B.:  „Er  sollte  nicht  fest  und  nicht  zuverlünsig  sein,  er  sollte  gern  alier 
.«ehr  veränderlich  jungen  Damen  den  Hof  machen  etc."  (C-ruu,  „Der  Weg  zum  GlUck 
pag.  III),  sind  nkht  m  dulden  —  ich  sehe  hier  davon  ah,  dass  derartige  Berichte 
iberhanpt  nicht  in  die  Jngendsehrift  gehSrNi  — ;  nnd  ebenso  wenig  dürfen  gramma- 
tikaiische  Schnitzer  vorkonmien,  wie  dieselbe  Verftmserin  an  demselben  Orte  sich  ihrer 
wiederholt  schuldig  macht,  braucht  me  (pag.  186)  die  Präposition  „wegen"  doch  sogar 
mit  dem  Dativ:  „Es  ist  nicht  wegen  dem.  was  die  Leute  sagen"  etc.  —  Richtigkeit 
der  Form  i.<t  auch  für  die  gebundene  Rede  zu  verlangen;  der  Knittelvers  taugt  für 
die  Jugend  .so  wenig,  wie  fllr  di  n  F-rwachsenen. 

**)  Nicht  schwierige  Satzconstructionen,  nicht  Perioden,  auch  nicht  weithergehidte 
Worte,  Bilder,  Bed^guren  machen  den  Stil  schön;  was  ihn  ansprechen  lääst,  ist  die 
ihm  innewohnende  Wahrheit  nnd  Natürlichkeit,  ist  die  Klarheit  und  Deutlichkeit 
mit  welcher  er  seinen  Gegenstand  aar  Anschauung  bringt. 

***)  Die  ,^ch"  und  »0"  kommen  bei  manchen  Schriftstellern,  und  nicht  allein 
bei  Damen,  dutzendweise  vor;  aber  auch  die  stetige  Wiederholung  jgewisser  Schlag- 
wörter ist  nicht  zw  rechtfertigen.  Beispiel:  nnd  nun  galt  es  noch  eine  bange. 

entsetzHch  hanirc  ^'iertelstunde  zu  bestehen,  während  das  schwere,  schwere  Werk  vor 
sich  ging"  etc.  (Filse's,  „Elisabeth",  pag.  272.) 


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—   272  — 

sauber  in  der  Ausführung:.  Carieaturen  nach  Art  des  Struwelpeter 
sind  nicht  zu  dulden;  ebensowenig  Farbenklexereien  nach  Art  der 
meisten  Bilderbücher.  Scenea  von  Verbrechen  und  blutigen  Kämpfen, 
die  nur  dazu  beitragen  können,  schauerlichen  Eindrücken  und  schäd- 
lichen VorsteUungen  eine  feste  Gestalt  zn  geben,  werden  aasgeschlos- 
sen. Ber  Einband  sei  solid.  Ein  pompOser  Einband  steigert  in  schfid- 
licher  Weise  die  Anspräche  der  Jugend;  dagegen  ist  ein  geschmack- 
volles Äussere  wol  im  Stande,  den  Schönheitssinn  zu  bilden  und  zur 
Ordnungsliebe  anzuhalten.  Umschläge  mit  derart  greUen  Bildern,  wie 
sie  durch  speculirende  Buchhändler  in  letzter  Zeit  aufgekommen  sind, 
verleiten  zur  Obei-flächlichkeit  und  Trivialität. 

IV. 

„Dem  guten  Leuiimiid  laugst  vergangener  Zeiten,  \ielleicht  auch 
einigen  irrünen  Oasen  in  der  immer  breiter  sich  ausdehnenden  l'her- 
setzungs Wüstems  sagt  Eduard  Engel  („Die  Übersetzungsseuclie  in 
Deutschland",  pag.  4j,  „verdanken  wir  Deutsche  den  zweifelhafte ii 
Kuliui:  das  ilbersetzungsvolk  par  exoellence  zu  sein.  Es  ist  das  eigent- 
lich für  kein  Volk,  welches  von  solcher  literarischen  Nachrede  be- 
betroffen wird,  ein  beneidenswerter  Voi-zug,  denn  die  literarhistorisclie 
Erfahrung  wie  der  oberflächlichste  Blick  auf  die  zeitgenössische  Biblio- 
graphie lehren,  dass  die  „tiberBetiery61ker*',  im  Allgemeinen  nicht 
gerade  die  ersten  SteUen  in  der  literarischen  Welthierarchie  einnehmen. 
Nnr  Völker,  deren  eigene  nationale  Literatui'  noch  wenig  entwickelt 
oder  im  Niedergange  begriffen  ist,  treiben  das  Übersetzen  gewisser- 
massen  professionsmässig,  mit  einer  Art  von  Methode,  die  sidi  kein 
halbwe^  bedeutendes,  geschweige  denn  ein  Aufsehen  machendes  Werk 
entgehen  lässt.  Die  (rriechen  liahen  niclits  Namhaftes  von  den  Konieru 
übersetzt,  wol  aljcr  diese  vieles  von  jenen.  Die  P'rauzosen  bekümmern 
sich  bekanntlii^h  biutwenii:-  nni  die  Literatur  ihrer  nalien  und  fer- 
nen Nachbarn;  dagegen  übersei /en  die  Spanier,  Italiener.  Holländer, 
und  nun  gar  die  Deutschen,  nahezu  jedes  IJucli.  weldies  mein-  als  eine 
Auflage  erlebt ;  —  wir  Deutschen  sind  beiluutig  so  erpicht  darauf,  dass 
wir  die  zweite  Auf  läge  eines  ausländischen  Buches  kaum  mehr  abwarten." 

Diese  mit  Recht  gerügte  t 'bersetzungswuth  macht  sich  auch  in 
der  Jugendliteratur  in  der  bedauerlichsten  Weise  geltend.  Wir  sind 
zwar  keineswegs  dagegen,  dass  wirklich  bedeutende  Werkender  aus- 
ländischen Literatur  in  guten  Übersetzungen  auch  dem  Deutschen  zu- 
gSngig  gemacht  werden;  wir  meinen  aber:  die  Jugend  müsse  man 
möglichst  damit  verschonen.  Denn  wo  es  sich  nicht  gerade  um  Werke 


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—   273  — 


bandelt,  deren  Gegenstand  der  Dentsche  nicht  ans  eigener  Anscbaanng 
kennen  oder  doch  nicht  so  gründlich  kennen  kann,  wie  der  an  Ort 
imd  Stelle  lebende  Aasländer,  da  ist  aach  die  denteche  Literatur 
reichhaltig  genug,  um  der  Jugend  alles  zu  bieten,  was  ihr  nur  eu* 
trSglich  sein  kann.  Die  Jugend  lerne  vor  allen  Dingen  die  Schätze 
der  eigenen  Literatur  kennen,  und  erst  der  Erwachsene  mö^e  seinen 
Blick,  nachdem  er  das  Eigene  würdio^on  jrelernt.  auch  aiU  das 
lenken,  l'nd  dann  —  was  uns  noch  meiir  in  der  Ahneig-uns"  gegren 
l'bersetzungt'n  bestärkt  — :  was  für  (4arp:(»tagen  sind  es  doch  zumeist, 
die  uns  nach  dem  Recept  ir^^'nd  eiiu's  ausländischen  (-Genies  geboten 
werden!  Da  bleibt  auch  niclits  un\ prbraiint  und  nnverbrüht  —  alles 
vrinl  verquickt!  Uns^Te  <leutsclie  Sprache  wii-d  oft  derart  verkauder- 
welscht und  verstümmelt,  dass  sie  nicht  wieder  zu  erkennen  ist» 
„Selbst  bezüglich  der  Übersetzungen,  die  in  das  Gebiet  der  Kunst  zu 
weisen  sind,  also  Umdichtuniren  fremder  Poesien,  kann  sich  der  wahr- 
haft literarisch  Gebildete,  ja  der  künstlerische  Übersetzer  selber  — 
and  gerade  der  —  nicht  yerhehlen,  dass  alle  Übersetzung  Stückwerk 
bleibt,  bleiben  muss.*)  Der  heimliche  Beiz  aller  Poede  ist  ein  so 
unnahbarer,  feiner  Schmetterlingsflftgelstattb,  dass  auch  die  zarteste 
Behandlung,  das  feinfühlendste  Eingehen  auf  seine  verbotgenen  SdiOn- 
heiten  nie  mehr  als  annfthemd  den  Eindruck  des  Originals  hervorrufen 
kann."  (Engel,  a.  a.  0.  pag.  15.) 

Auch  die  ..Bearbeitung"  fremdsprachlicher  und  ausländischer  AVerke 
ist  nicht  zu  billigen.  Heisst  doch  nach  den  heute  landläutigen  Begritteu 
ein  derarti jres  Buch  ITir  die  .lügend  bearbeiten  nichts  weiter,  als  das- 
selbe übersetzen  und  die  anstössigen  oder  über  das  Verständnis  der  ins 
Atige  getässten  Leser  hinausgehenden  Stellen  desselben  auszumerzen, 
oder  auch  zu  verfeinern  und  zu  verstecken  —  zu  verobertlächlichen. 
„Es  ist  dem  Verfasser  oft  hart  angekommen,*'  schreibt  Hücker  im 
Vorwort  seiner  Bearbeitung  des  „Oliver  Twist"  von  Charles  Dickens, 
.die  herrlichen  Reflexionen  des  Dichters,  in  denen  sich  Gemüth  und 
Satire  in  so  wunderbarer  Vereinigung  finden,  ansscheideii  zu  mfissen** 
—  und  wir  glauben  es  ihm  um  so  mehr,  als  in' seiner  „Bearbeitung^ 
auch  von  der  gerühmten  „Wahrheit  und  Lebenstrene**  der  Dickens'schen 
Schilderungen,  der  „Gemüthstiefe,  sittlichen  Hoheit  und  echten  Bell- 
giositftt"  derselben  nichts  flbrig  geblieben  ist,  was  ftlr  jene  Ausschei- 

*)  lÜMi  veigieiclie  x.  B.  audi,  was  Schiller  in  th  n  Vorerinnenuigeii  sur  Über- 

*pt/nn£r  »les  zweiten  nnd  vierten  Buche»  der  Acneide  Werke  I,  pajr.  ß6  ff."^  sagt.  — 
ihi  rein  wisüenschaftlichen  Werken,  von  denen  wir  hier  abstrahiren,  m  ea  natürlich 
ein  Anderes. 


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—  274 

<liing  hätte  eiitscliädigeii  köunen.  —  Nur  die  von  einijren  wenigfen 
Schriftstellern  beliebte  freie  Keproductioii  Iremdsprachlicher  Werke 
dürfte  zulässig  aeia;  aber  aucli  diese  nur,  soweit  sie  von  rein  dichteri- 
schen Erzeugnissen  absieht  und  sich  den  erzählend  beschreibenden  Wer- 
ken (aus  der  Länder-,  Völker-  und  Naturkunde)  zuwendet.  Das  Vortheil- 
hafte  einer  solchen  Reproduction  liegt  besonders  in  dem  Umstände, 
dass  der  Schriftsteller  seinen  Stoff  dergestalt  zu  verarbeiten  und  sich 
geistig  zu  eigen  zu  machen  hat,  dass  derselbe  gewissermassen  als  ein 
Product  eigener  Phantasie  und  Erfahrung  erscheint  und  dem  aus  dem 
Vollen  heraus  Niederschreibenden  gestattet,  dieses  wegzulassen  und 
jenes  zu  mildern  oder  in  seinem  Effekte  zu  erhöhen,  ohne  dem  einheit^ 
liehen  Charakter  des  Ganzen  etwas  zu  vergeben,  oder  die  'l'reue  und 
Frische  der  Darstellung  in  irgend  welcher  Beziehung  zu  gefährden. 

V. 

Wir  halten  Indianergeschichten,  Scliilderunüren  «refalirvoller  .Tagdea 
und  Reisen  etc.,  wie  sie  die  neuere  Zeit  hervorgebracht  hat,  im  all- 
gemeinen für  eine  berechtigte  und  nutzbringende  Lecture.  „Denn  ab- 
gesehen von  der  in  solchen  Werken  liegenden  realistischen  Belehrung, 
wirkt  auch  das  sozusagen  epische  Moment  solcher  modernen  Odysseen 
befruchtend  und  belebend  auf  den  Geist  des  Knaben  ein  und  feuert 
ihn  an,  gewisse  männliche  Tugenden:  Muth,  Ausdauer,  Festigkeit  in 
Ausführung  eines  idealen  Zieles  hochzuhalten.^  (Widmann,  „Ifit- 
theilungen  etc."  VI,  pag.  10.)  Zu  fordern  ist  jedoch: 

Die  in  Betracht  kommenden  Schilderungen  beruhen  mdglidist  auf 
Autopsie.'*')  Nur  dadurch  wird  die  Wiedergabe  der  realen  Wirklich- 
keit möglich,  und  allein  diese,  nicht  philosophische  Betrachtung  und 
Kritik,  hat  für  die  Jugend  Wert.  Die  Pliaiitasie  des  Autoi-s  sei  eine 
geregelte.  Sie  darf  weder  in  das  «Tebiet  des  Unmöglichen,  noch  auch 
nur  in  das  des  rnwahrscheinliclien  sich  verirren. Der  Charakter 
<les  (lewaltt  hat  igen  lässt  sich  oline  (Tpfälirdung  der  Walirheit  i)ei 
Heist'-,  .lagd-  und  Indianerireschichten  nicht  vermeiden.  Niemals  aber 
äoll  ihnen  jeuer  Blutgeiuch  anhaften,  wie  ihn  durchweg  die  lranzösi> 

*)  Schilderung  auf  «uiiml  eiirencr  Anschiuninö:  ist  *hm  Werken  Friedrich 
<i erstäcker's  naclizuriilmitn.  V^l.  .sdnniiit:  ..In  der  Ansiedelung'',  nPampas* 
Indianer'"  und  ..Geortr.  d<M-  kleine  (ii-ldirrinnT  in  < ';ilit'unnen". 

**)  ,.I>ie  .Sciiritteii  vf.ii  Julius  V'einc  halten  wir  nicht  für  .Tugendscliritren. 
wie  sehr  sie  den  Erwatluseneii,  der  schon  .schärfer  zu  trennen  vennag,  unterhalten 
mögen.  Diese  Mischung  echten  realen  Wissens  mit  utopischen  Tr&umereicn  müäste 
junge  Leute  arg  verwirr«!.**  (Widmann,     a.  0.,  pag.  10.) 


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-~  275  — 

* 


sdieD  Schriftsteller  ihren  Werken  zn  geben  wissen,  und  nie  darf  anch 
das  Gfemüth  des  Lesers  durch  Handlungen  der  Bohheit  verletzt  wer- 
den.*) Botanische,  zoologisdie,  mineralogische,  gec^praphische,  etbno- 
gnphttcfae  und,  wo  in  ältere  Zeiten  zurttckgegrilfen  wird,  mythologi- 
sche SchOdenmgen  etc.  seien,  ohne  gerade  die  zu  Grunde  liegende 
Ainichtlichkeit  auffällig  zu  verrathen,  fleissig  eingefiiprt.  Strenge  Zu- 
TeilSssigkeit  solcher  Schilderungen  ist  imbedingt  zu  verlangen.  Wün- 
schenswert wäre  auch,  dass  die  Verfasser  von  Schriften  der  berührten 
Art  sich  nicht  nur  an  Werke  ül)er  die  von  ihnen  ins  Auge  gefassten 
Völker  hielten,  sondeni  aucli  die  Literatur  jener  Völker  selbst  studir- 
ten  und  lieranzfigen;  stellen  doch,  wo  sie  der  betreffenden  Sprache 
mcht  kundig  sind,  last  immer  Übei'setzungen  zu  Gebote. 

VI. 

Der  Lebensweg  des  Knaben  ist  von  dem  des  Mädchens  zu  ver- 
Dchieden,  als  dass  beide  durch  ein  und  dasselbe  Mittel  zweckentspre- 
chend auf  den  ihrigen  yorbereitet  und  auf  demselben  fortgeleitet  wer- 
den sollten.  Jener  muss  im  Kampfe  ausserhalb  des  Hauses  seinen 
Witkungskreis  suchen  und  finden;  dieses  aber  soll  dem  Lärmen  und 
femdlichen  Streiten  und  Bingen  des  handelnden  Lebens  fem  bleiben, 
soll  im  Reiche  der  Ruhe  und  StiUe,  im  Hanse  schaffen  und  im  fried- 
lichen Glück  Friede  und  Glück  verbreitend,  thätig  sein.  So  verschie- 
(Un  daher  der  Ijebensgaiig  und  Lebensberuf  des  Einen  von  dem  des 
Andern  ist,  so  verschiedene  Resultate  müssen  durcli  die  Leetüre  erzielt 
wtrden.  und  so  verscliiedene  Mittel  sind  anzuwenden,  uiu  jeden  ent- 
sprechen«!  in  seinen  Beruf  einzutiihren. 

IHe  Noth wendigkeit  einei-  speciell  für  Mädchen  berechneten  Lite- 
ratur ist  nicht  wegzuleugnen.  Anders  verhält  es  sich  mit  der  Frage, 
iib  die  zur  Zeit  für  Mädchenliteratnr  ausgegebenen  Ei-zeugnisse  ihren 
Namen  verdienen  und  als  zweckentsprechend  bezeichnet  werden  dür- 
ieot  und  da  gkuben  wir  uns  weder  berechtigt,  kurzweg  mit  Nein, 
nocb  allgemein  mit  Ja  zu  antworten.  £s  gibt  unter  den  für  die  weib- 
liche Jugend  bestimmten  Schriften  viele,  die  als  durchaus  recusabel 
zn  bezeichnen  sind,  manche  aber  auch,  von  denen  sich  ein  recht  er- 
spriesslicher  Erfolg  fftr  den  weiblichen  Leser  wol  erwarten  Ifisst 

Ffir  Mädchen  bis  zum  Alter  von  15  Jahren  soUte  in  der  Leetüre 

*)  ..Ganz  verwerflich  .sind  Darstellungen  sc  liifckliclier,  imnatürhcher  Tode.sarten, 
.Ii»  ih^m  Knaben  jf^nes  wdllüsfifre  (irausen  erreu-en.  wek-lies.  >tiiff  den  frischen  Jn^end- 
luuTh  aii/usporntn,  erachlaftend  wirkt  und  vielleicht  AusbrUcliun  leiger  Graiisamkeit 
Vorsthub  lebtet.  '  (Widmann,  u.  a.().) 


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21b  — 


kaum  eine  besondere  Kielitimjr  hei  vortreten.  Das  ^Mäddien  in  die.seiii 
Alter  hat  mit  dem  Knaben  das  IJcdürlViis  nacli  Ausbihhinir  des  Geistes 
und  nacli  Anei<rnunfr  crediegenen  Wissensstolb'S  gemein,  und  \venn  auch 
der  Knabe  auf  beides  in  umfangreicherer  Weise  bedacht  sein  und 
manches  treiben  und  lernen  muss,  was  dem  Mädchen  entbehrlich  ist, 
so  ist  es  doch  gut,  auch  dem  Mädchen  einen  weiteren  GesichUki*eis 
zu  erööiien  und  ihm  nicht  nur  die  Möcrli'  hkeit,  sondeni  auch  die  ver- 
anlassende Gelegenheit  zu  bieten,  sich  ebenso  Allseitigkeit  des  Ver- 
standes wie  Klarheit  des  Gtouthes  anzueignen.  ^Man  mag  sich  mit 
Recht  darüber  yerwundem,  dass,  wfihrend  in  die  speciell  für  Knaben 
besthnmteii  Bttcher  in  neuerer  Zeit  so  reicher  Wiaaensstoff  ans  ver- 
schiedenen Gebieten  hineingezogen  wird,  dies  bei  der  Mädchenliteratnr 
yiel  weniger  geschieht  Und  doch  hätten  es  gerade  die  Mädchen  sehr 
nOthig,  dass  ihnen  in  den  Jahren,  in  welchen  ihr  Geist  und  ihr  Ge- 
mttth  so  leicht  unklarer  Phantasterei  und  nngesmiden  Träumen  zur 
Beut«  wird,  eine  gediegene  und  gesunde  Kost  geboten  werde,  eine 
solche,  die  positiven  W'issensgehalt  in  sich  schliesst,  und  die  zugleicli 
durch  \V)rftihrung  von  concreten,  dem  wirklichen  Leben  und  der  (-ie- 
schichte  entnommenen  fharakterbildeiii  stählend  und  läuternd  auf  ihivii 
Willen  einzuwirken  vermag."  (Zeheuder,  „K.  Übers,  d.  Entw.  d,  d. 
Jugendl.-',  pag.  24  ff.) 

Nach  der  Confirmation  weiche  die  Leetüre  des  Mädchens  von  der- 
jenigen des  Knaben  ab.  Das  Mädchen  werde  anf  seinen  Beruf  als 
Hansfrau  vorbereitet,  doch  nicht  dadurch,  dass  man  demselben  vor- 
zugsweise Erzählungen  ans  dem  Leben  selbst  noch  junger  Mädchen 
bietet  Das  Messe  einen  Brunnen  fhUen  mit  dem,  was  man  zuvor  aus 
ihm  geschöpft  hat  Ihre  Umgebung  lernen  die  Mädchen  zur  Genüge 
ans  der  täglichen  Anschauung  kennen,  und'die  Offenbarungen  und  Fol- 
gen ihres  Denkens  und  ihrer  Gesinnung  sind  nicht  bedeutend  genug, 
um  zu  einer  Quelle  anregender  und  geistig  vertiefender  Belehrung  zu 
werden.  Ihr  geistiger  Horizont  werde  erweitert  durch  die  Vorflkhrung 
und  das  Heispiel  tüclitiirer  Frauen,  an  denen  sie  erkennen  können, 
wozu  ein  AVeib  sich  emporzuschwingen  vermag,  und  wozu  sie  selber 
bich  emporzuarbeiten  liaben. 

vn. 

Die  Zahl  der  für  die  Jugend  bestimmten  Bildungs-  und  Unter- 
haltnngsbücher  ist  ziu*  Zeit  eine  so  grosse,  dass  auch  dem  Bestorien- 
tirten  eine  Übei'sicht  kaum  möglich  ist;  die  Zahl  der  der  Jugend  zu- 
geeigneten „Blätter"  nnd  „Zeitungen^  ist  auf  dem  besten  Wege,  eine 


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—   277  — 

solche  i  bei*siclitslosigkeit  ebeulall?*  aiizubHlineii.  Und  sie  alle  wollen 
lediglich  das  „Beste'*  unserer  kleinen  Staatsbürger  im  Ange  haben; 
sie  alle  suchen  unter  der  %iel versprechenden  Parole,  ..die  heiligsten 
Güter  nnsers  Volkes  anf  das  sorglMtigste  hegen  und  pflegen  zu  wol- 
]mf*t  möglichsten  Eingang  —  sie  alle  wollen  das  Beste  fttr  die  Jugend, 
das  Beste  auch  zugleich  ffir  das  Haus  bieten!  Versprechungen  sind 
leicht  gegeben;  gehalten  werden  die  obigen  nicht  Es  ist  freilich  nicht 
zn  leugnen,  dass  einige  derartige  Jugendzeitungen  recht  Erfreuliches 
bieten  und  durch  Beichhaltagkeit  des  Inhalts  auch  selbst  den  schärfer 
Prüfenden  zu  täuschen  im  Stande  sind.  Aber  gerade  diese  Reich- 
haltigkeit sollte  den  Stein  des  Anstosses  bilden,  gerade  ihr  gegenüber 
sollte  man  stutzig  \verden  und  sicli  IraiL^eii,  für  wen  (liesclbe  wol  be- 
rechnet sein  niöofe.  Da  gibt  es  Gedichtclien  und  Erzählungen  für  die 
Zarteste  Juuend;  Schilderungen  aus  Natur  und  (Tesdiichte  für  reifere 
Knaben  und  Mädchen;  Jagd-  und  Reiseabenteuer  für  Knaben  —  sen- 
timentab'  Sitazierganirschilderungeii.  Kalmtahrten,  W'aldpartien,  Rheiu- 
wanderungen  mit  Kuinenromantik  für  Mädchen;  wissenschattliclic  Ski3&- 
zen  für  ilie  reilste  Jugend;  Novellen  für  Erwachsene  ....  Es  ist  un- 
erfindlich, wem  mit  diesem  Sannnelsurium  gedient  sein  soll. 

Es  liegt  uns  fem,  die  Zeitscbrüten  fttr  die  Jugend  gänzlich  zu 
verwerfen;  sie  können  ebensowol  &aeü  wolthätigen  Einfluss  auf  den 
Leser  ftben  wie  Bücher.  Aber  wir  yerlangen  unbedmgt,  dass  auch 
eme  Zeitschrift  ein  bestimmtes  Alter  ins  Auge  fasse  und  ausschliess- 
Heh  für  dieses  sorge.  Ein.  Kind,  das  eine  Jugendzeitschrift  liest,  will 
alles  lesen,  soll  alles  verstehen. 

Am  gefjlhrlichsten  sind  die  Zeitschriften  für  Kinder  und  Er- 
wachsene zutrleich.  Für  Jusrend  und  Haus  kann  nur  der  sclirei- 
hen,  der  seine  Feder  gairz  in  den  Dienst  der  Jugend  stellt  und 
iinbeabsi<']itigt  durch  künstlerische  ISchönheit  und  \'ollendung  des  Aus- 
flrucks  nnd  dei'  iJarstellunL''  aucli  das  Interesse  des  Ei-wacbsentMi  zn 
fesseln  weiss.  Die  Arbeiten  dessen  abci-.  der  bei  seiner  Darsiellung 
beide  Parteien  ins  Auge  fasst  und  Vieiden  zugleich  ihrem  Bedürfnis 
und  ihrer  Anschauung  Entsprechendes  bieten  will,  werden  weder  für 
die  eine,  noch  tiir  die  andere  Partei  von  Nutzen  sein.  Kindlidies  Be- 
dürfnis nnd  kindliche  Anschaiidug  sind  von  dem  Bedüifnis  und  der 
AnfEassung  des  Erwachsenen  grundverschieden,  und  die  den  letzteren 
ansprechende  kräftige  und  in  ihren  Begründungen  und  Folgerungen, 
wie  in  ihrer  ganzen  Combination  logische  Darstellung  stösst  den  kind- 
lichen Leser,  der  mit  dem  Gemüthe  aufßvsst  und  urteilt,  entweder 

FMag^fta».  4.  J«ltrs.  Heft  V.  19 


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/  • 


—   278  — 

geradezu  al),  oder  aiu  li  ist  ihm  (luiikt^l  und  unverständlich  uiid  be- 
nimmt ihm  aus  diesem  Grunde  ilas  nötlüge  luteresse. 

vin. 

„Iii  unserer  Zeit  kann  niclits  so  sehi*  bilden  und  verderben,  me 
gut  oder  schiecht  gewählte  Leetüre,  —  ein  Buch  hat  oft  auf  eine 
ganze  Lebenszeit  einen  Menschen  gebildet  oder  verdorben."  (Herder.) 
Das  ist  ein  Urtheil,  scharf;  vielleicht  auf  die  Spitze  getrieben;  aber  es 
enthält  sicher  so  viel  Wahrheit,  „tun  an  die  nnabweisliche  Pflicht 
zu  mahnra,  dass  der  Erzieher  die  Lectfire  seines  Zöglings  nicht  nnr 
abwehrend  überwache,  sondern  ihre  tie%ehende  Wirkung  in  einen 
stets  fördernden  Zusammenhang  mit  seinem  Erziehungsplane  bringet 
(Ktthner.) 

Die  Auswahl  der  LectOre  sei  euie  sor^altige  und  treffe  nnr  das 

wirklich  Wertvolle*),  lasse  aber  Mittelmässig:es  und  Zweifelhaftes  ganz 
ausser  Acht.*')  Man  lialtc  uut  iiiässiiro  Verwendung  der  Lecttire.  Da?; 
Kind  soll  freilich  ein  Buch  ^wn  Ivscii:  aber  es  soll  nicht  so  an  das- 
selbe ofefesselt  werden,  dass  es  Scherz  und  Spiel  meidet,  nni  hei  sei- 
nem Hiielu*  zu  hocken,  dass  seine  Leselust  in  T.escwuth  ausartet. 
Man  halte  lUe  bestehende  Ordnung  streng  aufrecht,  lasse  das  Khid 
svm&r  gewolmten  Beschäftigung  nach  wie  vor  nachgehen,  sehe  aut 
unveiTiachlässigte  Anfertigung  dei-  Schularbeiten,  und  halte  überhaupt 
auf  das  bestinnnteste  darauf,  dass  der  Leser  das  Buch  ohne  Unmutli 
und  ohne  Bedenken  und  Zaudern  aus  der  Hand  legt,  sobald  dne  Pflicht 
dies  erfordert.***) 

„Wir  müssen  den  Zögliiig  lesen  lehren,  indem  wir  ihm  das  Gute  undSclu'ne 
/.uführen,  damit  ihn  klUiftig  das  Geschmacklose  und  UnaittJiche  dxvxk  sich  selbst  ab* 
Stusse/'  (Herbart.) 

**)  Manch  artiges  Bikldeiu  lässt  sich  einmal  lesen. 

Zu  dem  der  Leser  nie  dann  A>iederkehrt :  " 
Doch  was  nicht  xweimal  lesouwert  gewesen. 
Das  war  nicht  einmal  lesenswert."  (Rfickert.) 
Nichts  veideibt  die  Jugend  mehr,  als  die  Beschäftigung  mit  dem  Hlttel- 
iiiä<sisen,  oder  dem,  wa.«  noch  darunter  steht;  in  seiner  (iden,  dumpfen,  bcächrinkten 
Weise  yerOdet,  ▼eidurapft  und  beschrftnkt  es  auch  das  jugendUche  (lemiith.'' 

(R  t.snikra  nz.> 

***)  Küliner  äussert  sich  t'oli^eudeniiassen :  ..Der  TA'setrii'l)  nniss  mit  den  Uhric'  n 
Fähigkeiten  des  (iei.stes  in  ein  angemessenem  Gleicligewicht  gesetzt,  zu  be-i>nueucr 
^ielbstthätigkeit  gebildet,  und  der  Lesewuth,  dieser  schlimmen  LeideuäcUatt,  uiuss  mit 
Entschiedenheit  mtgegengearbeitet  werden.  Die  Schularbeit  darf  nicht  durch  Lesen 
zurOckgesetat,  der  ernste  Arbeitssinn  nicht  durch  Hingabe  an  den  Bds  leichter  Lectüre 
geschwächt  werden.  Ebenso  ist  dahin  an  sehen,  dass  die  IVeiheit  der  Bewegung  in 


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—   279  — 

Man  sehe  darauf,  dass  das  Kind  mit  Besinminj?  lese.*)  Es  soll 
sich  in  das  Baoh  hineindenken,  liincinarbeiten;  das  Gelesene  soll  es 
im  Zusammenhange  bewegen,  soll  ihm  Veranlassung  geben,  die  emp&n- 
genen  Mndrttcke  seiner  eigenen  Anschauung  anzupassen  oder  als  die- 
ser widersprechend  zu  verwerfen.**)  Man  komme  den  Fragen  des 
Kindes  um  AufUfirnng  flbei*  ihm  undeutliche  Stellen  nicht  zu  ba«it- 
wiUig  entgegen,  sondern  heisse  es  nachdenken  und  das  Buch  noch 
emmal  lesen.  Gerade  darin,  dass  das  Kind  sich  selbst  zurechtfindet, 
liegt  ein  eigenthümlicher  Reiz  zur  Energie  und  zum  ernsten  Er- 
wägen,***) und  je  verständiger  man  es  in  diesei-  Beziehung  auf  sich 
selbst  anzuweisen  versteht,  um  so  bedeutender  werden  auch  die  Früchte 
der  genossenen  Leetüre  sein. 

Der  Altersstufe  des  I^esers  wende  mau  die  grösste  Sorgfalt  zu. 
Dem  Kinde  bis  zu  acht  Jahren  sollte  nur  erzählt  werden,  denn  wirk- 
lich gediegene  Leetüre  hat  man  für  dieses  Alter  doch  nicht.  Die 
Leetüre  des  späteren  Alters  stehe  mit  dem  Schulunterrichte  in  an- 
gemessener Connexion.  Auch  die  Lebenslage  des  Lesers  ist  in  Betracht 
zu  ziehen  und  auf  Erweiterung  seines  Gesichtskreises  Bedacht  zu  neh- 
men. Aus  dem  Überfluss  soll  der  Leser  in  einfachere  Verhältnisse,  in 
beschrfinkte  Lagen  hineingef&hrt,  aus  der  Stadt  auf  das  Land  geldtet 
werden  und  vice  yersa  der  in  der  Einförmigkeit  des  Landlebens  sich 


der  Katnr,  in  der  Geselligkeit  und  in  seNtttschafliBiider  nnd  erfinderiaclm  Thitigkeit, 
(Ue  durch  Schularbeit  und  Civilisation  schon  genngsam  eingeengt  ist,  nicht  anch  noch 
dorch  LectUre  mehr  als  billig  besdiräiikt  werde.  Unter  den  gegebenen  Verhältnissen 
i^it  es  weit  häutiger  niUhig.  den  Letfctrieb  der  Jugend  au  dämpfen,  als  ihn  zn  befur- 
dem."  (A.  a.  0.  pag.  893  ff.) 

*)  ,,Niclit  viel  le''»  11,  sondern  gut  Ding  viel  und  oft  lesen,  macht  fromm  und 

Uog  dazu.**  (Luther.) 

*♦)  Goethe  erzählt  a\is  seiner  Jugend:  :  ahtr  die  grosse  Foliobihel,  mit 

Kupfern  von  Meriau.  ward  häutiir  vnu  uns  (lurclihliittprt ;  (iottfried's  Clirouik,  mir 
Knpteni  desselben  Meisters,  belehrte  uns  von  den  merkwürdigsten  Fällen  der  Welt- 
geschichte; die  Acerra  phiIol(^ca  that  noch  allerlei  Fabeln,  Mythologien  und  Seit- 
sunkeiten  hinzu:  und  da  ich  gur  hald  die  Ovidisehen  Verwandlungen  gewahr  verde, 
und  besonders  die  enten  Bflcher  fleissig  studhrte,  so  war  mein  junges  Gehirn  schnell 
genug  ndt  einer  Masse  von  Bildern  und  Begebenheiten,  von  bedeutenden  und  wunder- 
baren Ge*4talten  und  Ereignissen  angeffUit,  nnd  ich  konnte  niemals  Langeweile 
haben,  indem  ich  mich  immerfort  besehäftigte,  diesen  Erwerb  zu  ver- 
arbeiten, zu  wiederholen,  wieder  hervorzubringen.  (Aus  meinem  Leben,  LI.) 

***)  ..Allf's  V<»rtr*'fniche  beschränkt  uns  für  einen  Augenblick,  indem  wir  uns 
dem"5elheii  niclir  gt-warhscn  tiihlen;  nur  insoteni  wir  es  nachher  in  unserer  Xiitur 
anfnehniHu.  es  uiisern  (^eiste.s-  und  Gemilthskräfteu  aneig^ien,  wird  es  uns  lieb  und 
wert.'"  (Goethe.) 

19* 


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—   280  — 


bewegende  Leser  aus  seiner  trägen  Ruhe  in  raseljeiv.  geschäftigere 
Kreise.  In  Kticksicht  auf  die  Individualität  des  Kindes  ist  zu  erwägen, 
wie  die  Leetüre  zur  richtigen  Entwickelimg  des  Charakters  fördernd, 
hemmend  oder  umschaffend  einzugreifen  hat  „Die  LectQre^  sagt 
Ktthner,  „als  ein  wichtiges  Glied  in  der  Entwidkelong  der  Gesanunt- 
büdung,  idrd  die  übrigen  Factoren  derselben  unter  sich  zu  assocüren, 
sie  zu  verstfirken,  zu  heben  oder  auch  zu  dämpfen,  den  Pedanten  zu 
erfrischen  und  der  SchuUurbeit  geschmeidig  zu  machen,  den  Wider- 
willigen und  Trftgen  durch  annehmliehe  Form  des  Lernstoffes  zur 
Arbeit  zu  locken  haben.  Eine  entschiedene  Vorliebe  flir  ein  bestimmtes 
Studium  wil  d,  wenn  sie  an  sich  berechtigt  erselioint,  durch  gleicliartige 
Leitiire  gefördert,  der  Einseitigkeit  durdi  angemessene  Vielseitigkeit, 
der  Nei<rnng  zur  Zersiilitteniii^'-  durcli  stren^-e  Kinlieitlichkeit  der 
Lectüre  entgegengewirkt,  das  leicht  erregbare  ^remiierament  durch 
beruliigende  Lectüre,  die  Leseleidenschaft  durch  praktische  Beschäfti- 
gung und  äusserste  Beschränkung  der  Lesefreiheit  gedämpft,  dagegen 
die  Gleichgütigkeit  und  träge  Abneigung  gegen  T.ectiire,  die  sich 
ebenfalls,  wenn  auch  weit  sdtenei*,  findet,  durch  stärkere  Heize  imd 
mit  Hilfe  anregender  Besprechung  aus  ihrer  Indolenz  geweckt,  oder 
aneh,  wenn  sie  aus  Übersättigung  entspringt,  durch  lang  andauernde 
Entbehrung  geheilt  werden  müssen.**  AJso  auch  in  dieser  Beziehung: 
Quidquid  agis,  prudenter  agas,  et  respice  finem!  — 


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Gedanken  über  den  Idealismus  der  Arbeit. 

Von  Otkar  Waidt€k, 

(Fortsetzung  und  Schlu^i.) 
IV. 

„Nicht  (ÜP  Triebe,  \vt4(he  nach  lUot  lulen  zciijen  sich 

nus  als  die  eigentlichen  (Quellen  des  socialen  und  menschlichen  Fnit- 

»chi'ittes  Das  innerste  latente  Leben  der  Seele  sehen  wir 

herauf  in  das  Licht  des  Bewusstseins  drängen,  und  anregende  Reize, 
von  der  Aussenwelt  kommend,  und  anregende  T?eize,  welche  von 
Seele  anf  Seele  wirken,  sind  die  wichtigsten  Beförderungsmittel  filr 
neue^  höhere  Seelengebnrten  nnd  Steigenmg  des  socialen  Lebens.^  (Neu- 
rath, Volkswirtschaftliche  und  Socialphilosophische  Essays.  8.  222.) 

Wir  sind  gewohnt  nach  dem  alltäglichen  Leb«i  unser  Dichten 
and  Denken  einzurichten  und  mit  diesem  Treiben  und  Weben  so  innig 
in  verwachsen,  dass  selbst  dei*  ideale  Zug  unserer  grossen  Denker,  die 
fem  diesem  Marktgewimmel  stehen  und  weniger  vom  Strudel  dieses 
geschäftigen  Treibens  bespült  werden,  darunter  leidet.  Sollte  der 
Trieb  nach  Brot,  di(^ser  reinste  Naturtrieb,  der,  indem  er  die  F2xistenz- 
fras/e  aufwirft  und  im  Bestimnnins2:s<rruii(le  die  einheitliche  Lösunir  der- 
st^lbtii  fordert,  nicht  ..der  Hani»thebcl  bei  dem  Werke  menschlirju-r 
VVrvollkoininuug''  sein  dürfen?  ^\'ie  unfiirmijr  erscheint  uns  das  Wesen 
der  menschlichen  Natur,  wenn  wir  das  V)unte  (Gemisch  von  Krätteu 
im  Brotneid  entarten  und  chaotisch  in  einem  Knäuel  sich  verwickeln 
sehen,  in  welchem  die  spedfisch  verschiedenen  Anlagen  in  Nichts  ver- 
sclmielzen?  \\'ie  ganz  andere  aber  erscheint  uns  dieses  Wesen,  wenn 
wii-  in  die  Werkstätte  der  Natnr  treten  und  dort  die  transcendentale 
Freiheit  suchen!  Dann  finden  wir,  dass  im  Triebe  der  Selbsterhaltung 
das  gesammte  Leben  eines  Individuums  znsammenfliesst,  dass  von 
diesem  Brennpunkte  aus  der  pr&ponderirende  Theil  des  Lebens  am 
besten  erhellt  nnd  beleuchtet  wird.  „Die  eigentliche  Quelle  des  Fort- 
sehrittes —  sagt  Neurath  selbst  —  ist  das  Leben,  welches  in  den  Wesen 
schlummert  und  unter  äusserer  Influenz  Anregung  für  das  Ei*wachen 


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—  282  — 


tiiidet."  Kann  etwas  in  uns  erwarlien,  was  nirlit  im  Triebp  jrele<»en? 
Ebensoweni<r  als  wir  erwarten  können,  dass  das  zahme  Schaf  den 
Mutli  eines  Raubthieres  anneinnen  werde,  ebenso weni^^^  können  wir 
erwai-ten,  dass  ein  Mensch  ohne  die  entsprechende  individuelle  Be- 
föhi^ng  ein  Genie  "werden  könnte.  Was  würden  wol  „anregende  Reize, 
welche  von  Seele  auf  Seele  wirken."  der  individuellen  Anlage  nützen, 
wenn  nicht  der  prApondem-ende  Theil  unsers  Lebens,  in  dem  der 
BestimmQngsgnmd  der  Naturabdcht  lieg^  dnrch  den  wachsenden  Trieb 
zum  Schwerpunkt  der  Existenz  gemacht  wird?  Die  anregenden  Beize, 
welche  von  Seele  auf  Seele  wirken,  erzeugen  allzugeme  die  Nach- 
ahmnngssucht  und  den  yerderblichen  Mechanismus,  an  dem  unser  ganzes 
Erziehungswesen  krankt.  Eben  weil  die  Erziehnng  nnbekfimmert  um 
den  Bestimmunfrstrnind  der  einzelnen  Individuen  den  Unterricht  foi-dert, 
schaftt  sie  das  cliaotische  (lemisch  von  Krälteu,  dem  wir  im  Kampfe 
uni  Brot  so  häntij»-  bejregnen. 

Gewiss  ist  der  Kampf  nm  die  Existenz,  ,,in  welchem  der  Geist  den 
Sie«»  errino^t,  mehr  ein  Kesnltat  des  Anfwärtsstrebens  unserer  irdisrlien 
Welt,  als  die  Quelle  dieses  (ianges  nach  oben  zu  hr»heren  Lebenslonnen 
hin.*'  Der  Mensch  ist  das  formvollendetste  Geschöpf  und  kann  nur 
seine  ganze  Krait  dahin  aufwenden,  seine  inneren  latenten  Erscheinungen 
-frei  zu  machen,  sie  vom  latenten  Zustande  loszulösen,  um  dem  Ideale 
seiner  wahren  Vollendung  sich  zu  nähern.  Wie  ist  es  aber  möglich, 
dass  dieses  Anfwärtsstreben  zum  Ideale  der  Vollendung  ohne  den  rich- 
tigen Bestimmnngsgmnd  stattfinde,  dass  die  latenten  ErscheinuDgen, 
die  wir,  wenn  sie  frei  geworden  ins  Bewnsstsein  gelangt  sind,  seelische 
Gebilde  nennen,  ohne  ihren  Bestimmungsgrund  sich  einheitlich  sammefai? 

Wie  der  Hund  in  seine  SpQmase,  der  Adler  in  seine  Augen  den 
Schwei-punkt  seiner  Lebensrichtung  verlegt,  weü  die  Natnr  ihnen*  diese 
Organe  zum  Haui)tsitz  des  Bestimnumpfscrrundes  gegeben,  so  hat  der 
Menscli  in  irgend  einem  präponderii'enden  '1  lieüe  des  Organismus,  der 
am  emi)fänglichsten  ist,  den  Hauptsitz  seines  iJestimmungsgrundes.  dt-r 
gleichsam  zum  Daimnnion  des  Lebens  wird  und  nach  allen  Riclitung:en 
liiii  das  innere  Wesen  entfesselt,  damit  alle  Xi'äfte  vei'eint  nach  dem 
bestimmten  Ziele  streben. 

Gewiss  ist  es  ein  mächtiger  Drang,  der  die  gesamrate  organische 
Natur  zu  dem  obersten,  foinnvollendetsten  Wesen,  zum  Menschen  empoi^ 
treibt;  gewiss  ist  es  ein  Naturdrang,  wodurch  der  geistig  begabte 
Mensch  dieses  Besü-eben  der  organischen  und  anorganischen  Natur, 
soweit  es  in  seiner  Macht  steht«  zu  untersttttzen  sich  bemüht:  dabei 
ist  jedoch  noch  immer  nicht  zu  befftrchten,  dass  die  gesammte  Natur 


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—   283  — 


in  den  Seelengebarten,  also  in  ihren  eigenen  Erscheinungen  sich  ver- 
lieren werde.  Denn  wenn  auch  der  Qedanke  eine  odiose  £r8cheunmg 
bldbt,  so  bleibt  das  Wesen,  za  dem  der  Gedanke  als  Ersdieurang 
gehört«  doch  nicbt  „Was  aas  Stanb  geboren,  muss  zu  Staabe  w^en." 
Die  zerfiülenen  höheren  Gebilde  mttssen  von  neuem  die  Lanfbahn  be- 
ginnen nnd  von  Stufe  zu  Stufe  durchmachen,  den  Gipfel  des  Zieles  zu 
errachen.  Im  ewigen  Werden,  im  ewigen  Auf-  und  Niedersteigen  ver- 
jüngt und  veredelt  fdch  die  Natur,  krystallisiren  sich  immer  mehr  und 
mehr  die  Formen,  läutern  sich  die  Krscheinungen. 

Der  Mensch  hat  lange  mit  seiner  Kindheit  zu  kämpfen,  um  selbst- 
ständig  zu  werden,  weil  er  in  seinem  innert^n  WVsen  eine  Welt  ver- 
schlossen hält,  in  der  die  jranze  anorganische  und  organische  Natur 
latent  liegt,  die  autgehen  will  und  sich  in  das  Bewnsstsein  drängt. 
Hat  docli  jeder  einzelne  Mensch  seine  Welt,  die  er  unter  seinem 
Herzen  trägt,  die  von  der  seines  Nebenmenschen  mehr  oder  weniger 
verschieden  ist,  durch  die  er  sich  von  allen  anderen  Individuen  unter- 
scheidet und  um  so  besser  seinen  Selbstzweck  charakterisirt,  je  mehr 
and  je  klarer  sich  sein  latentes  Wesen  innerhalb  seines  geistigen 
Lebens  abspiegelt  Wie  ein  fruchtbarer  Keim  greifb  mit  ihren  Fang- 
amen  die  natOrliche  Bähung  in  den  geheimnisvollen  dunklen  Schoss 
der  Beiche  unserer  latentod  Erscheinungen,  nimmt  sie  in  sich  auf  und 
strebt  alsdann  mit  vereinter  Triebkraft  empor  in  die  geistige  Welt, 
in  der  er  sieb  frei  entiUtet  und  neue  Gedankenkeime  liefert,  die  in 
einer  besseren  Zukunft  im  Schosse  einer  edleren  Generation  einen  neuen 
Lebenslenz  feiern  sollen. 

Den  Umstand,  dass  Jeder  Mensch  ausser  seiner  individuellen  Be- 
tahigiing  noch  die  allgemeine  des  ganzen  Mensclu-iiiieschlechtes  besitzt 
hat  der  Mensch  selbst  benützt,  die  Individualität  durcli  die  allgemeine 
Befähigung  zu  verdunkeln,  den  Bestimmungsgiund  gewaltsam  in  das 
Leben  hinein  zu  tragen  und  die  persönliche  Freiheit  zu  unterdrücken. 

Allein  die  Schatzkammern  unsers  Wissens  füllen  sich,  und  die 
veredelte  Natur  drängt  sich  mit  allen  ihren  Organen  empor  zur  „see- 
lisch lebendigen  Existenz^,  in  der  ihre  Gesanmitkraft  unter  einem  ge- 
memsamen  Bestimmungsgrund  sich  sammelt  und  um  so  allgewaltiger 
auf  das  Ganze '  znrfickwirkt.  Dadurch  sprengt  der  Mensch  die  feste 
Hfllle  semer  allgemeinen  Befiibigung,  die  Individualität,  befruchtet,  be- 
ginnt sich  zu  entfUten,  und  die  latenten  G^en  tauchen  auf  aus  dem 
dunklen  geheuauiisvollen  Grunde. 

Sollte  die  Natur,  indem  sie  die  Menschheit  so  mannigfach  beflibigt 
gebildet,  jedem  Menschen  einen  bestimmten  l'rieb  gegeben,  diesen  Trieb 


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I 


^   284  — 

mit  bestimmten,  seinem  Wesen  entsprechenden  Anlagen  versehen  hat, 
nicht  die  Absiebt  gehabt  babeu,  den  einzelnen  Menschen  so  frei  und 
unabhängig-  wie  möglich  von  den  anderen  za  machon,  und  so  in  dei- 
entwickelten  Individualität  ihr  Ideal  zu  erstreben?  Gibt  es  aber  auch 
für  die  GeseUschaft  ein  schöneres  Ziel,  als  das  der  vollendeten  Indi- 
vidualität? Die  Individualität  ist  eine  Blüte  des  yielverzweigten  Men- 
schenstammes,  die  leider  nnr  an  einzelnen  Endpunkten  zum  Vorscheine 
kommt,  weil  die  Erziehung^  nicht  tief  genug  in  die  untersten  Volkse 
schichten  dringt,  und  überdies  allzu  unnatürlich  ist  Zwar  hat  der 
Aufschwung  nnserer  Erkenntnisse  einen  Theil  der  Menschheit  edler  und 
besser  gestimmt.  Dabei  zeigt  sich  stets:  was  der  Mensch  an  geistiger 
Kralt  gewonnen,  das  hat  er  an  roher  Arbeitskraft  verlort u.  Das  ist 
ein  schönes  Zeichen,  ein  Zeichen  des  Anfschwnnges.  Das  ( 'lüturleben 
bat  dabei  mit  Naturkräften  gearlteitet  und  (irosses  geleistet. 

Al)er  zahllose  edlere  und  bessere  (lenien  schlummern  im  Schosse 
unsere]-  Vr»lker  und  kiiunen  nicht  auttauchen,  weil  ihre  allgemeine  Be- 
fähigung wie  ein  eherner  Panzer  sie  umscliliesst.  Diese  Menschen 
haben  keinen  selbstständigen  Bestimmungsgrund,  keine  pers("»nliche  Frei- 
heit. Sie  arbeiten  ohne  Beihilfe  ihrer  Anlagen,  oline  Ziel,  ohne  Be- 
geisterung. Da  wirkt  der  Znfall,  da  beglückt  die  Gunst  des  Augen- 
blickes, macht  Emen  zu  Knechten,  Knechte  zu  Herren,  Freigeborene 
zu  Sdaven  und  die  Gesellschaft  zu  einem  Wellenmeer,  das  von  der 
Laune  des  Windes  getragen  wird. 

V. 

Innerhalb  der  allgemeinen  menschliehen  Befähigung  —  sagten 

wir  —  liegt  die  Individualität  latent  und  kann  nicht  zum  Vorsclieine 
kommen,  weil  die  Erziehung  nicht  krättijr  genug  in  die  Speiche  der 
Aulagen  tallt  und  das  innere  Wesen  befreit.  Früh  wird  der  Mensch 
gewöhnt,  mit  Hammer  und  AniVioss  die  Natur  zu  lit  /wingen.  anstatt,  dass 
nuni  ihn  zuvor  lehre,  sich  die  Naturkriitte  >ell»st  dit-ustbar  zu  niacht  u. 
Dalier  versteht  der  Mensch  noch  nicht  mit  Hüte  der  schlummernden 
Naturkräfte  sich  wider  die  hartnäckigen  Naturkräfte  zu  rüsten. 

Die  Arbeiterclasse  steht  deshalb  ganz  im  Dienste  des  Mechanis- 
nuis  und  opfert  diesem  Tyrannen  den  besten  Theil  des  Lebens,  weil 
die  Erziehung  verabsäumt  hat,  die  latenten  geistigen  (Gebilde  heraus- 
zulocken und  den  präponderirenden  Theil  des  Lebens,  den  Bestimmunga- 
grund,  zu  organisiren. 

„Woher  sollen  wir  emen  kräftigen  Bauemstand  nehmen,  woher 
eine  gesunde  Arbeiterclasse,  wenn  wir  nnsere  physischen  Kräfte  in 


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—   285  — 


l>enkkraft  unisetzen?"  fragt  der  Politiker,  oliiie  zu  bedenken,  dass 
gerade  dadurch,  dass  w  der  Individualität  die  iiir  gebührende  aiitr»- 
noine  Stellnng  im  Staatshaushalte  anweisen,  die  Arbeitskraft  veredelt 
wird  mid  durch  den  G^ist  der  Eirfindung  mehr  gewinnt^  als  an  Arbeits- 
kraft verloren  geht.  Bedmiil  nicht  der  harte  Kampf  wider  die  Natur 
unsere  Arbeiterclasse?  Wird  nicht  überdies  der  Wolstand  den  schäd- 
lichen Elementen  i)reisgegeben,  die  nur  der  Geist  durch  richtige 
Gt^mnittel  entfernen  kann?  Irrig  ist  die  Ansicht,  dass  der  gebildete 
Mensch  niclit  Arbeiter  sein  könne.  Sie  wird  von  den  modenien  Ari- 
stokraten vertheidigt.  die  erst  jün^rst  arbeitsscheu  «icworden.  weil  sie 
sieh  nicht  salontiihiir  halten,  wenn  ihre  emsiLren  Kitern  das  Feld  ire- 
dfinirt  haben,  oder  irar  n(»c]i  düngen.  .Manner.  die  erst  Jünirst  gelernt 
haljeii.  Handschuhe  zu  tragen,  sind  Verächter  der  edlen  Arbeiterclas.se 
jrewurden.  Das  moderne  Kastenwesen  ist  wahrlich  nicht  viel  be.sser 
als  jenes  uralte,  das  die  (rlieder  der  Menschheit  auseinandergeriasen 
and  die  Naturabsicht  vereitelt  hat. 

Die  Natur  kennt  kein  Kastenwesen;  sie  hat  Menschen  gebildet, 
T«m  denen  sie  jedem  seinen  Tiieb,  seine  Anlagen,  seinen  Bestimmungs- 
gnmd  gegeben.  Wollten  wir  ein  Kastenwesen  gelten  lassen,  so  mttsste 
jeder  Mensch  für  sich  eine  Kaste  bilden.  Jedes  künstliche  Kasten- 
wesen hemmt  die  Natur  in  ihrem  Entwickelungi^^ange,  im  Streben  nach 
idealer  Vollendung,  die  sie  im  steten  TJmwandelnngs-  und  Umbildungs- 
prticesse  mit  dem  Einzehnenschen  zu  erreichen  wünscht 

Das  Vorurtheil  hat  Vei-wirrung  unter  den  menschlichen  Anlagren 
geschaffen.  Während  eiuer.seits  die  Fertigkeit  die  Arbeitskraft  im 
Mechanismus  ennüdet.  durch  die  allgemeine  Leistungsfähigkeit  die 
individuelle  verdunkelt  hat.  zerstoite  anderseits  die  ^\'ort-  und  (-Je- 
dankenrultiir  alle  freien  geistigen  (Tebildf  und  das  allgemeine  Wissen, 
di**  <Tedankenu!assen  verdrängten  jenes  Daimonion,  jene  geistige  Stinnne 
iu  uns,  die  in  unseru  eigenen  Gedanken  frei  und  selbstständig  wkt 
und  den  Bestimmungsgrund  dui'ch  selbsterzeugte  seelische  Grebiide 
naher  bestimmt 

Daher  kommt  es,  dass  selbst  unser  Jahrhundert,  mit  \'orurtheilen 
gesättigt,  sich  von  den  rosigen,  alten  Zeiten,  da  die  allgemeine  Unter- 
wttrfig^eit  so  riele  dienstbare  Geister  gezeugt,  nicht  trennen  kann. 
Die  reactionftren  Elemente  treten  immer  wieder  zusammen,  um  dem 
m<idem6n  Gedanken  der  persönlichen  Freiheit,  der  sich  gewaltsam 
ans  dem  Schosse  der  schlummernden  Natur  empordrängt,  kräftig  zu 
begegnen. 

In  der  Hand  des  Pädagogen  liegt  das  Heil  der  künftigen  Gene- 


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—   286  — 


ratiüii.  Wii-  sagen  in  der  Hand  des  Pädagogen,  da  er  dazu  beruttu 
ist,  Denk-  und  Arbeitskitift  in  UbereinstimmoDg  zu  biingen.  wie  Ur- 
sache und  Wirkung  richtig  zu  stimmexL  Die  Wirkung  daif  die  Ur- 
sache nicht  gewaltsam  herausfordern,  wenn  nicht  das  Wesen  im  In> 
gang  umtttz  Kraft  verlieren  und  die  Gewohnheit  den  geistigen  Fort- 
schritt hemmen  soll.  Darin  eben  ist  der  Mensch  dem  Thlere  weit 
voraus,  dass  immer  neue  Gedanken  ans  seinem  latenten  Znstande  auf- 
tauchen, ihn  dem  Zustande  des  Beharrens  entreissen  und  zum  Fort- 
schritt drängen. 

VI. 

Kin  dreifaches  Wissen  untersclieidet  Aristoteles:  ,.l)as  Wi^.«^^u 
des  Allgemeinen,  das  Wissen  des  Besonderen,  endlich  die  wirkliche 
thätige  Ausübung  des  Wissens."  (Ei*ste  Analytika  IT.  B.  21  c  i  Diej>e 
Eintheilnnjr  ist  recht  «^ntach  und  iranz  der  Anscliauunu  entlehnt. 

Zu  dem  allgemeinen  Wissen  gelniren  die  abstracteii  (icdanken- 
reihen,  die  in  ihrem  Umfange  die  concreten  Vorstellungskieise  trageiL 
Vorstellungen  sind  die  Grundlage,  von  der  aus  der  Geist  immer  mehr 
in  die  abstracto  Spiiärc  sich  erhebt.  Wie  das  Wasser  zuvor  in  Dunst 
sich  verwandeln,  iu  den  Wolken  sich  verdichten  muss,  um  rein,  unge- 
trübt, destillirt  wieder  zur  Erde  zu  sinken,  um  die  organische  Natur 
zu  laben  und  zu  tränken,  so  muss  die  Erscheinungswelt  in  der  Form 
von  Vorstellungen  in  der  Seele  zusammenfliessen,  sich  ansammein,  um 
ihr  Gemeinsames  aus  sich  herauszutragen,  im  Abstracten  zu  destilliren 
und  von  Iirthttmem  gereinigt  zur  Seele  zurflckzukehren. 

Innerhalb  der  concreten  Vorstellnngskreise  liegt  demgemäss  die 
Erkenntnis  des  Allgemeinen,  das  sich  in  der  Folge  als  das  Gremein- 
same  einzelner  verschiedener  Erscheinungen  aus  den  Verbindimgeu 
ausscheidet,  sich  vom  mütterlichen  Boden  lossagt  und  zum  freien  selbst- 
ständigen Gedanken  sicli  erhebt.  Yorstelhingen  und  abstracte  (ie- 
danken  verhalten  sich  demgemäss  zu  »'iiiander  wie  Grund  und  Folge. 

Wir  nennen  die  A'orstellungen  concret,  welclie  unmittelbar  aus 
der  Verbindung  der  Xatunorlage  —  also  der  Erscheinungen  der 
Aussenwelt  überhaupt  mit  der  Innenwelt  des  Individuums  hervorgehen. 
Die  latente  Innenwelt  ist  der  mütterliche  Boden  für  Vorstellungen 
der  durch  den  steten  Contact  mit  den  Erscheinungen  der  Aussenwelt 
neu  befruchtet  wird  und  neue  Erscheinungen  aus  sich  heransgelNlert« 
Jede  solche  Erscheinung  —  sei  sie  Empfindung  oder  (Jefllhl  —  durch 
ein  Wort  isoUrt,  gehört  zur  concreten  Grundlage  unserer  Gedanken- 
kreise.  Dadurch  aber,  dass  wir  gewohnt  sind,  nicht  unsere  eigenen 


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—   287  — 


Empfindnngeii  zn  benennen,  sondern  dieselben  als  Eigenschaften  den- 
jmgWL  Gegenstlinden  beizulegen,  wetehe  die  Empfindongen  in  nns 
wacbgerofen  haben,  nimmt  der  Gedanke  einen  objectiven  Charakter  an 
ond  die  Sutjectiirität  wird  dnrch  die  Allgemeinheit  des  Gedankens 
Terdmikelt,  denn:  die  Eigenschaften  eines  Objectes  haben  allgemeine 
Giltigkeit  nnd  die  Benenirang,  die  die  Empfindung  zum  Gedanken  er- 
hebt, liefert  nicht  da.s  Individuum,  sondern  der  A\'ortscliatz  einer 
Nation.  Wenn  das  g-anze  Volk  saül:  der  Katfee  ist  l)itter,  muss  das 
Individuum,  wenn  es  sich  vcrstandlirh  niaclien  will,  dasselbe  sagen. 

Trotzdem  bleibt  die  Emptindun^i'  an  und  tür  sich  subjectiv  und 
der  (bedanke,  der  die  Kmjdindung  waciirutt,  loncret;  denn  das  Indivi- 
duum weiss  genau,  w^elche  Empfindung  der  Kaff'ee  an  seinem  Gaumen 
wachruft  Der  Gedanke  isolirt  daher  eine  bestimmte  Empfindung,  und 
urenn  auch  das  Wort,  das  die  Empfindung  gegen  jede  ähnliche  ab- 
grenzt, zum  Wortschatze  der  Nation  gehüi-t,  der  einzelne  Mensch, 
wemi  er  nicht  seine  Individualität  dem  Gedanken  geopfert,  kann  den 
Gedanken  als  seine  eigene  Lebenserscheinung  anerkennen.  Jedenfells 
gehört  das  Wort  der  ganzen  Nation  nnd  drttckt  den  Gefühlen  der 
Emzelnen  den  nationalen  Stempel  auf.  Im  Worte  verleibt  sich  das 
nationale  Gef&hl  zu  einer  Einheit,  in  der  Sprache  die  ästhetisch  natio- 
nale Substanz.  In  Beziehung  auf  das  Individuum  bleibt  demgemäss 
jedes  Gefiihl  subjectiv-concret  in  Beziehung  auf  die  Sprache  snbjectiv- 
allgemein.  in  Heziehung  auf  das  Object,  von  welchem  der  Reiz  ausge- 
übt wild,  oV)jectiv-concret.  Im  l^mgange  hat  das  Wort  einen  natio- 
nalen Charakter  und  durcli  den  häufigen  (lebiauch  verliert  selbst  der 
«•oncrete  Gedanke  den  individueUen  (Telialt.  indem  er  in  dem  allge- 
meinen nati(malen  sich  allmählich  verliert.  IMe  LebenstVische.  die 
lebendige  Kiatt  der  Neuheit  als  Lebenserscheinung  wirkt  nicht  nielir 
und  der  kräftige  Kern  verschwindet,  je  mehr  sich  im  Umgange  der 
nationale  (ledanke  entwickelt.  Die  Individualität  büsst  ZAvar,  da  sie 
dnrch  die  Allgemeinheit  des  nationalen  Gedankens  verdunkelt  wird, 
grOsstenteite  die  Klarheit  des  Selbstbewnsstseins  ein,  erhält  jedoch 
in  dem  nationalen  Gedanken  Ersatz,  indem  durch  einen  solchen  Ge- 
danken die  Empfindung  am  besten  isolirt  wird  und  so  in  das  Be- 
wusstsein  tritt 

Lassen  w  gut  gewählte  Beize  spielen,  dann  cultiviren  wir  das 
GefUhlssystem  des  Kindes,  und  aus  dem  geheimnisvollen  Grunde  seines 
Lmem  tauchen  wie  von  selbst  auf  die  verschiedenartigsten  Erschei- 
nungen, die  durch  iln  t^  .specifischen  Unterschiede  sich  gegenseitig  ab- 
grenzen und  ins  Bewusstsein  drängen.    Je  leblialter  der  Verkehr 


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zwischen  liiiuMi-  und  Aiisseuwelt  ist.  um  so  deutlicher  .sondern  sich 
die  Erscheinungen,  um  so  klarer  treten  die  specifischen  l'nterschiede 
in  das  Bewusstsein,  indivldualisireu  den  Gehalt,  um  so  innig-er  ver- 
wächst aber  auch  das  Gemeinsame  zu  einem  Ganzen.  In  dieser  Weise 
behauptet  sich  das  Clmrakteristische  der  Individualität  und  der  Verlust, 
den  die  persönliche  Freiheit  durch  die  Allgemeinheit  des  Wortschatzes 
erleidet,  ist  unbedeutend.  Aristoteles  bezieht  das  Wissen  auf  das  Ob- 
ject  der  Erkenntnis  und  nicht  auf  das  denkende  Subject,  ohne  zn 
bedenken,  dass  die  Naturrorlage,  als  der  erziehende  Factor,  wol  ob- 
jectiv  giltig:  anerkannt  werden  muss,  dass  diese  objective  GUtigkeit 
aber  durch  den  Denki)n)cess  des  zu  erzieh«id^  Factors  näher  bestimmt 
individualisirt  werden  muss.  Der  Gedanke  muss  als  Lebensersclieinung 
hervorgehen,  wenn  er  rein  conrect  und  nicht  allgenu'in  sein  soll. 

Dieses  eigt  iitliiimliche  Wissen  des  Individuums,  welches  sich  durch 
eine  bestimmte  Kiclitung  des  Kraftgefühls  von  dem  anderer  Individuen 
unterscheidet,  ist  ein  wichtiger  Hestandtlieil  des  allgemeinen,  subjectiveu 
XationalgetUlils.  In  diesem  Wissen  lierrt  der  Ausdruck  des  Lebens. 
Weil  dasselbe  aber  eng  mit  unserm  Wesen  verwachsen  ist,  entzieht 
es  sich  gerne  dem  Bewusstsein,  da  der  Mensch  seine  Innenwelt  nicht 
als  'J'eil  der  Natui  vorlage  anzusehen  gewohnt  ist  und  nur  jene  als 
das  Object  der  iilrkenntnls  studirt.  Durch  die  Ausbildung  unserer 
Erkentnisse  kam  auch  dieses  subjective  Wissen  zum  Vorschein  und 
dürfte  in  der  Folge  Gegenstand  eines  eingehenden  Studiums  werden. 

Ganz  anders  verhlllt  es  sich  mit  der  rein  objeetiven  Erkenntnis. 
Damit  wir  uns  gegenseitig  verständigen  kdnnen,  beziehen  wir  die  in 
uns  freigewordenen  Erscheinungen  auf  das  Object,  von  welchem  die 
Beize  ausgehen.  In  diesem  Falle  ist  ein  Gedanke  nur  dann  concret, 
wenn  wir  die  Erscheinung  auf  ein  bestimmtes  Object  beziehen.  Die 
Natur  schaltet  mit  ihren  Krscheinungen  in  gleicher  Weise,  wie  wir 
mit  unseni  f}uchsial>en.  Hine  und  dieselbe  Erscheinung  finden  wii'  an 
verschiedenen  ()l)jecien.  s(»  dass  wii-  «iezwungen  sind,  derartige  Erscliei- 
nungen  selbstständig  und  unabhängig  von  den  betretfenden  Objecteii  zu 
denken.  Ein  solcher  (M'duiike,  den  wir  auf  kein  bestinnntes  (Jbject 
beziehen,  ist  absti*act.  Immerhin  leiuditet  ein,  dass  subjectives  imd 
objectives  Wissen  so  innig  verschmelzen,  dass  sie  sich  gegenseitig  re- 
prodttciren.  Der  objective  Gedanke  k  iiui  mittelbar  durch  die  ästhetische 
Substanz  die  Lebenskraft  in  Ai'beitskralt,  wie  umgekehrt  der  subjective 
Gedanke  mittelbar  durch  den  objeetiven  Arbeitskraft  in  Denkkraft  um- 
wandeb.  „Die  Seele  —  sagt  Spinoza  (III.  Th.  von  d.  Äff.  L.  54)  — 
strebt  nur  das  vorzustellen,  was  ihre  Macht  zu  handeln  setzt.  —  Denn, 


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—   289  — 


fügt  er  hinzu  —  ,,das  i^treben  oder  die  Macht  der  Seele  ist  ihi-  Wesen. 
Das  Wesen  der  Seele  bejaht  aber  nur  das,  was  die  Seele  ist  nnd  ver- 
mag, mid  nicht  das,  was  sie  nicht  ist  nnd  nicht  rermag.''  Wie  die 
Dampfkraffc  nach  allen  Bichtangen  hin  den  Druck  ttbt,  bis  sie  den 
liehtigen  Ängrif&pnnkt  findet,  so  wirkt  der  objective  Gedanke  auf  die 
sabjective  Gefählsstimmnng  ein,  die  dann  den  Druck  auf  die  Anlagen 
fortsetzt,  und  mittelbar  durch  diese  ÄngrifGspunkte  Lebenskrfiite  in 
Denk-  oder  Arbeitskraft  umwandelt 

Die  Au.sbildiinjr  der  ästhetischen  Substanz  ist  dalier  der  wiclitif>:ste 
Piiukt  liir  flie  ])ä(hitro2:isfhe  Kikciintnis.  Wenn  nicht  die  Anlaufen  zu 
Ansnittsiiuiikteu  aus<rtibildet  werden,  so  wird  die  Kraft  des  Naturtriebes 
getheilt,  zers|»littert. 

A\'ie  weni^  versteht  die  liäusliclie  Erzielniii<r  nach  dieser  Eichtuns' 
hin  zu  wirken  und  den  Schwerpunkt  der  Existenztrage  auszubilden! 
Jede  Mutter  raeint,  ihr  Kind  sei  von  Natur  aus  besonders  günstig  be- 
gabt und  VM  fliirfe  einer  ganz  eigenthümlichen,  recht  nachsiclitigen  Be- 
handlung. Von  ihren  Romanen  irregeführt,  wollen  sie  Romanhelden 
erziehen  und  erziehen  bunt&rbige  Pilze  auf  dem  weichen  Boden  des 
Cnlturstanbes.  Ihre  lächerlichen  Figuren,  denen  von  den  herrlichen 
Anlagen  nichts  als*  der  Schatten  geblieben,  gebaren  sich  wie  grosse 
Genien,  lassen  sich  wie  Aristokraten  im  Triumphwagen  einherführen, 
weQ  sie  zwei  Bosse  bezahlen  können.  Wenn  dann  die  Mond  auf  dem 
Markte  im  Preise  sinkt,  weil  das  Volk  vom  Glänze  solcher  Genien 
sdch  nicht  überwunden,  sondern  zurückgedrängt  sieht,  will  man  nattir- 
liili  die  Volksbihlung  verurtheilcii.  die  Reartion  auf  die  Fahne  setzen, 
Bildimgsanstalt^n  in  Klöster  umwandeln,  den  Zeitgeist  aus  seiner  festen 
und  sichern  Stellung  drängen,  weil  nur  in  der  allgemeinen  Dunkelheit 
selbst  Scheinlielden  glänzen  können.  Aber  die  freie  Schule,  die  schönste 
Erningenschaft  unsers  Jahrhunderts,  wird  bestehen:  getragen  von  der 
pädagogischen  Idee,  die  sich  mit  ihren  Gedankennetzen  um  das  ge- 
rammte Wissen  schlingt,  wird  die  Schule  eine  neue  (Teiieration  schaffen, 
die  jenen  Beactionsgeist^rn  einen  schwarzen  Denkstein  setzen  wird, 
einen  schwarzen  Stein  mit  goldenen  Lettern  beschrieben:  „Gott  sei 
Dank!  sie  sind  gewesen!"* 

m 

„Unter  Imperativ  überhaupt  ist  jeder  Satz  zu  verstehen,  der  eine 
mögliche  freie  Handlung  aussagt,  wodurch  ein  gewisser  Zweck  wirk- 
lich gemacht  werden  soU."  (Kant,  Einl.  zur  Logik,  Anhang.)  Somit 

ist  für  Kant  —  wie  er  selbst  gesteht  —  eine  jede  Erkenntnis,  „die 


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Imperative  oder  Gründe  zu  möji^lielieii  Tinperativeu"  enthält,  eine  prak- 
tisclie.   Nachdem  am  Ende  —  wie  M  ir  gezeigt  haben  —  alle  Erkennt-  j 
nisse,  wenn  sie  nicht  ein  Gedankenconglomerat  in  der  Seele  bilden 
sollen,  durch  ein  Endglied  mit  der  ästhetischen  Substanz  yei-wachsen 
sein  mfisaen,  so  muss  jede  Erkenntnis  einen  praktischen  Wert  haben. 

Unsere  Moralphilosophen  sind  gewohnt,  die  Sittlichkeit  als  den 
Endzweck  nnsei's  Dichtens  nnd  Schaffens  selbstständig  zn  bdiandeln 
und  trennen  dadurch  die  Ursache  von  der  Wirkung,  den  Qedankea 
von  der  Handlung,  erheben  den  Gedanken  zum  Imperatav,  zum  Sitten- 
gesetz. Was  derartige  Gesetze  für  eine  Bdhe  möglicher  Handlungen 
dem  Leben  nützen,  weiss  am  besten  der  PSdagoge,  der  mit  der  kind- 
lichen Seele  vertraut  ist.  Wie  lange  lassen  sich  Kinder  von  Vor- 
schriften gänj^eln?  Und  widersetzt  sich  nicht  die  junge  Natur  unseru 
Vorschriften  ? 

Sittliclikeitsgesetze  sind  nur  eine  Sanindung  von  Lebenserschei- 
nuugen,  v<tn  Gedanken,  die  von  selbst  im  Leben  zum  Vorscheine  kom- 
men müssen.  Solche  Erscheinungen,  als  Ei-ziehungsmittel  verwendet, 
gängeln  die  freie  Natur  und  erzwingen  sich  die  Wirkung. 

Jede  gute  Erziehung  ist  an  und  für  sich  sittlich,  in  ihr  liegt  der 
moralische  Wert.  Der  Erzieher  muss  selbst  frei  sein,  ohne  Vorschrift» 
ohne  Imperativ,  ohne  Gesetz.  Alles  Wissen  muss  im  Bestimmungsgrnnfl 
ansehen;  was  nicht  darin  aufgeht,  ttbt  Zwang  und  schädigt  die  MoraL 
Wie  soll  ein  Gedanke,  der  nicht  einen  Thefl  nnsers  Bestimmungsgnuides 
ausmacht,  eine  freie  Handlung  erzeugen  können?  Jeder  Imperativ 
fordert  unbedingte  Unterwerfhng.  Die  Natur  jedoch  übt  keinen  Zwang. 
Sie  gibt  und  das  Individuum  nimmt,  was  es  braucht  Du  musst 
nehmen,  wenn  du  werden  sollst,  was  du  sein  sollst  —  dieser  Imperativ 
lieg^  im  Natnrtrieb  selbst. 

Welch  lieniiclie  Träume  gel)ieit  nicht  die  Phantasie  gebildeter 
junirer  Leute,  weklie  Erwartungen  umgaukeln  nicht  den  angehenden 
.Mann?    Shid  das  leere  Träume,  falsche  Erwartungen?    Das  sind  die  i 
schönsten  (iedanken,  die  lautersten  pjscheinungen,  die  in  uns  frei  j 
^verden  k(»nnen.    Sie  kehren  niclit  mehr  wieder,  wenn  des  Lebens  [ 
innerster  Kern  unentwickelt  bleibt  und  wir  auf  Abwegen,  nach  fremden  i 
Zielen  lossteuernd,  vom  wahren  Ziele  uns  mehr  entfernen.  Da  sehen 
wir,  was  der  edle  Trieb  der  Menschennatur  fordert,  was  er  begehrt. 

Leben  will  das  Kind,  es  will  sich  frei  entwickeln,  und  wir 
treten  mit  Vorschriften  ihm  in  den  Weg  und  zerknicken  im  Werden 
gleich  das  freie  Selbstbewusstsein.  Wie  soll  es  spielen  können,  wie 
soll  es  seine  Anlagen  ftben,  denen  in  der  Zukunft  die  schwierige  Anf- 


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t 

—   291  — 

gHbe  zoMt,  die  Existenzfrage  richtig  zu  lösen,  wenn  wir  mit  Ge. 
(lankenmassen  die  junge  Seele  überladen  und  zur  Thätigkeit  zwingen? 
Wir  messen  uns  an  die  Natur  zu  meistern,  wenn  wir  gransam  durch 
Furcht  vor  Strafen  den  jungen  Muthwillen  einschüchtern. 

Die  Beligions^  und  Moralphilosophie  hat  die  Natur  mit  einem 
Panzer  von  Vorschiiften  und  Imperativen  umgeben,  sie  hat  aus  den 
edelsten  Schätzen  unsers  moralischen  Gehaltes  Perlenschnflre  uns  ge- 
woben und  darin  uns  verstrickt  Dieses  Farbenspiel  unserer  idealen 
Natur  hat  mSehtig  gewirkt  und  viele  Fanatiker  geschaffen.  Dieses 
fühUose  Wortideal,  das  nach  aussen  hin  so  herrlich  geglänzt,  füllte 
sich  im  Inin'in  mit  eiskalten  Schauem,  die  in  den  Reactionsgelüsten 
unserer  W'ortlielden  in  unsern  Tagen  nocli  immer  wiederkehren,  uni 
den  neuen  Lenz  unserer  Freiheit  zu  versclieuclieii. 

Selbst  so  manclie  unserer  besten  Pädagogen,  die  allül)era]l  die 
(Ttdanken-  und  die  Wortcultur  bekänipien  und  mit  allen  Watten  der 
Überzeugung  für  ei*ziehenden  Unten-icht  einstehen,  huldigen  ihrer 
eigenen  Ansicht  rein  zum  Hohne  dem  kategorischen  Imperative,  diesem 
pTunmigen  Feinde  des  erziehenden  Unterrichtes,  mühen  sich  ab,  in  ihrer 
Weise  Moralsätze  der  Seele  aufzuladen.  Diese  Männer  treten  dann 
TOT  die  Welt  hin  mit  ihren  Zöglingen  und  wollen  bewundert  sein. 
Wh-  geben  ihnen  nur  dieselbe  Antwort,  welche  Demonax  jenem  rö- 
misdien  Senator  gab,  der  ihm  in  Athen  seinen  sehr  hObschen,  aber 
mMchenhalten  und  verweichlichten  Sohn  mit  den  Worten  vorstellte: 
,^ein  Sohn  will  dir  ein  Compliment  machen,  Demonax.**  „Ei**  —  er- 
widert der  Philosoph  —  „schön  ist  er,  deiner  windig  und  seiner 
Mutter  ähnlicli."  (Lncian.)  Wälirend  die  Moralpilosophie  durch  ihre 
Imperative  der  (4edankencultui'  in  der  Schule  den  Scepter  in  die 
Hand  Liedriiekt,  greift  die  Sociali>liil()sojiliie,  die  nach  eiii^r  uesnndt'U 
Aibeitei-classe  strebt,  in  das  entgegengesetzte  Extrem.  \ Du  der  Ar- 
beitsschule erwartet  diese  das  Heil  und  Wol  der  Gesellscliaft. 

Soll  etwa  die  Arbeitsschule  durch  die  Fertigkeit  den  Beweggrund 
in  die  Seele  tragen? 

Xaturgemäss  nuiss  sich  die  Ursache  zu  einer  Wirkung  entwickelt 
haben,  wenn  die  Wirkung  zum  Vorscheine  kommen  soll  Haben  wir 
gezeigt,  wie  die  Gedankencultur  &lsche  BeweggrOnde  in  die  Seele 
pflanzt  und  den  Mechanismus  erzieht,  so  wird  es  jetzt  wol  einleuchten, 
daas  wir  durch  unrichtige  Beschäftigung  die  Arbeitskraft  dem  Mecha- 
nismus der  Fertigkeit  preisgeben  und  den  Menschen  zum  Sclaven  eines 
Handwerks  machen. 

,.Soweit  ein  Mensch  zu  einer  Handlung  dadurch  bestimmt  wird, 


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dass  er  unziiieifheiule  Yorstellunjjeii  hat,  kann  man  nicht  unbedingt 
saji:en,  da.ss  er  aus  Tufrend  liandle,  sondern  nur,  soweit  er  durch  et^vas 
b(  stimmt  wird,  was  er  ei'keunt."  Das  ist  wol  klar  genug  gesagt  und 
bedarf  keines  Zusatzes. 

Fertigkeit  allein  ist  keine  Tugend;  der  lichtige  Gredanke,  der  als 
Beweggrand  die  Fertigkeit  begleitet,  den  Trieb  des  Beharrens  nnter- 
bricht  und  vorwärts  treibt,  muss  werkthätig  eingreifen  nnd  nach 
innerer  Vollendung  hinstreb^ 

Der  Mensch  hat  kein  Bedit,  der  Natur  vorzugreifen  und  dem 
Menschen  den  Platz  in  der  Gesellschaft  anzuweisen.  Jeder  Mensch 
hat  seinen  Platz  bestimmt  in  der  Gesellschaft;  um  ihn  ansfüllon  zu 
können,  jifab  ihm  die  Natui-  Aiilaüeii  und  l^'ahic)^keiten.  Im  geisti-vii 
Leben  zeij^en  sicli  die  ersten  Ki  scheinun^en,  die  jene  AnlajGfen  n;iiit'r 
bestimmen,  und  im  geisti^ren  Leben  müssen  wir  die  An<iritlsiiiiukrt' 
suchen,  wir  die  Existenzfrage  eines  Individuums  mit  Hille  der 

Individualität  im  Sinne  der  Natural)sicht  lösen  helfen  sollen. 

Keine  Imjjerative,  keine  (j-edanken-  und  Worteultur,  aber  auch 
keine  Arbeitsschule  brauchen  wir.  Dagegen  fordeit  die  Zeit  Päda- 
jungen,  tüchtige,  Männer,  die  den  Funken  Begeisterung  unter  ihrem 
Herzen  tragen,  die  sich  bewusst  sind,  dass  sie  berufen  seien,  eine  neue 
Generation  heranzubilden,  eine  Greneration  echter  Männer,  Staatsbürger, 
die  nicht  ans  dressirten  Gedankenrittem  und  Worthelden  besteht. 

Wir  sehen  die  beiden  Extreme  vor  uns,  hier  die  Imperative  der 
Geschicklichkeit,  die  Feinde  des  erziehenden  Unterrichtes,  da  die 
Arbeitsschnle,  die  ohne  geistige  Vorlage  maschinenmässig  das  Lehes 
in  Gang  bringen  will. 

Klier  kr>niien  \\\y  von  einem  Gedanken  erwarten,  dass  er  auf  ganz 
verscliiedeiie  Anhigeii  gleiclizeitig  verschiedenartig  wirken  könne,  ^la 
er  in  seintMü  Umfange  \ erscliiedene  Gedankengelülde  hält,  von  weKlieii 
jede  Anlage  die  ihr  verwandten  J^^lemente  sich  heransliolen  kann,  als 
von  einer  bestimmten  Beschäftigung,  dass  sie  einen  Künstler  schatten 
werde.  Niemals  wird  ein  angeliendt^r  Virtuose  beim  Hobelgang  auf 
das  Reich  der  Töne  Stessen,  niemals  der,  der  den  Hammer  führt,  am 
Webstuhl  sich  zurecht  finden.  Lassen  ivir  das  nichtige  Spiel,  das 
unsere  Volkskraft  nicht  veredelt,  das  den  Kreis  der  Vorstellungen 
nicht  erweitert,  sondern  an  den  mechanischen  Gang  der  Ausbildung 
der  Fertigkeit  festschmiedet. 

Führen  wir  ein  das  Kind  in  die  Werkstätte  der  Natur  und  er* 
öffnen  wir  ihm  die  Schleusen  der  Erkenntnisse,  dass  es  fühle,  bewun- 
dere und  denke.    Dann  werden  die  Angritfspunkte  der  Arbeitskraft 


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von  selbst  anftancheii,  und  was  für  die  Werkstätte  bestimmt»  da«  wird 
ein  Heister  am  bestoi  .za  l)eschftftigen  wissen. 

Keinen  Handwerker,  keinen  Heister,  keinen  Efinstler  fordert  das 
Volk  von  der  Sdraie,  aber  es  fordert  eine  gesunde  Grundlage  geistiger 
Vorbfldnng  fOr  das  Leben,  es  fordert,  dass  in  dw  Schnle  jene  Erschei- 
nnngen  frei  werden,  durch  die  der  Bestimmungsgnmd  des  Lebensti  iebes 
schärfer  ausgeprägt  ^vird. 

In  diesem  Bestiramiingsgrund ,  in  dem  das  ideale  Icli  zusammen- 
fliesst,  liegt  die  ganze  Lösung  der  Existenz  trage,  mit  ihm  ist  das  Ziel 
•1er  Lebenskraft,  auf  das  der  !^[ensch  mit  wahrer  Begeisterung  und 
mit  vereinten  Kräften  lossteuert,  gegeben. 

\\'ie  fest  und  sicher  ein  solches  Ziel  den  Jüngling  nach  sich  zieht, 
zeigt  das  Leben  selbst  uns  tüglich.  Nicht  Noth,  nicht  Gewalt,  nicht 
die  schönsten  Versprechungen  können  Jünglinge,  deren  Qeast  mit  ihrem 
Lebensziele  v^knüpft  ist,  yon  ihrem  Vorhaben  abbringen. 


PiMi>«;ogiam.   4.  Jahrg.   Ucft  V. 


20 


Wiener  (leschiehten. 

Vm  Dr.  Ki-iedrich  DiHeiu 
V. 

Am  14.  Juli  1880  ging  ilas  zwölfte  8tudieiijalir  des  Pädagogiums 
zu  Ende.  Im  Schlussactus  warf  ich  einen  Rückblick  auf  die  Lebens- 
und Ticidensgeschiclite  der  Anstalt,  wies  nach,  wie  sich  dieselbe  unter 
luitwährenden  Anfechtungen  erhalten  und  bewährt  hatte,  und  zeigte 
besonders  die  Ungerechtigkeit  und  Haltlosigkeit  der  neuesten  Angrifi'e. 
Das  Pädagogium  aber,  fügte  ich  hinzu,  müsse,  allen  Umtrieben  and 
allen  reactionären  Zeitströmungen  zum  Trotz,  unwandelbar  seiiie  ur- 
sprüngliche An^be  und  seinen  ursprünglichen  Geist  festhalten,  wenn 
es  mit  Ehren  stehen  oder  —  mit  Ehren  fidlen  wolle,  und  so  lange 
ich  an  der  Spitze  der  Anstalt  stehe,  kOnne  ein  Wandel  derselben  Ini- 
nesfiUls  erfolgen.  —  Der  Zweck  dieser  Anbräche  konnte  natürlich 
nur  ein  interner  sein:  es  galt  die  bestehenden  Verhältnisse  klar  zu 
stellen,  die  Luft  der  Anstalt  rein  zu  erhalten,  ihren  inneren  Zusam- 
menhalt zu  wahren  und  Allen,  die  ein-  und  ausgingen,  den  Emst  der 
Situation  zum  Bewusstsein  zu  bringen.  Mein  oft'enes  Wort  hatte  einen 
«rünstigen  Eifolg;  als  die  Fei-ien  verp'aneren  waren,  strömte  die  Wie- 
ner Lehrerscliaft  zalilreirher  denn  Je  in's  Pädagogium,  und  so  erreichte 
bei  Beginn  des  dreizelinteii  Schuljahres  die  Freqiuenz  desselben  mit  dei" 
Ziffer  230  die  liöchste  Höhe. 

Keinen  Erfolg  hatte  dagegen  die  an  den  Gemeinderath  gerich- 
tete Vorstellung  Vom  10.  Juli  1880.  Zwar  hiess  es  in  einer  Zeitungs- 
notiz, der  Gemeinderath  werde  diese  „fulminant«''  Kundgebung  mit 
einem  Verweis  gegen  deren  Urheber  beantworten.  Allein  das  wollte 
wenig  bedeuten;  denn  mit  einem  Verweise  konnte  man  dem  Ldukör- 
per  nicht  konunen,  das  mnsste  der  Gemeinderath  selbst  einsehen. 
Zur  Gewährung  einer  Satisfaction  aber  konnte  er  es  auch  nicht  brin- 
gen. Einem  solchen  Acte  hätte  nothw^dig  eine  Discnssion,  eme 
Selbstschau,  euie  Darlegtmg  der  Beziehungen  zwischen  dem  Rath- 
hause  und  der  Journalistik  vorausgehen  müssen,  und  solche  Beleoch- 


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—  295  — 

tang  war  nielit  opportun.  Das  Decomm,  so  viel  daToa  noch  existirte, 
konnte  nnr  durch  Schweigen  gewahrt  werden,  und  so  blieb  der  Ge- 
meihderath  jede  Antwort  schnldig.  Es  war  eben  bereits  dahin  ge- 
kommen, dass  eine  Bemednr  der  dem  Pftdagogiiim  zugefügten  Unbilden 
vom  Rathhause  ans  nicht  mehr  erfolgen  konnte. 

Dies  zeigte  sich  auch,  und  zwar  recht  drastisch,  als  bald  darauf 
die  Commission  des  Pädagogiums  einen  Versuch  machte,  die  Ehre 
<ler  Anstalt  und  ihres  Lehrkörpers  im  Gemeiuderathe  wieder  herzu- 
stellen. Dieser  Versuch  kam  zu  spät,  wurde  auch  niclit  mit  beson- 
derem Ueschicke  ausgeführt ,  verfehlte  daher  nicht  nur  sein  Ziel, 
sondeiTi  machte  das  Übel  noch  ärger.  Doch  bevor  ich  die  angedeutete 
Aaion  und  deren  seltsamen  Verlauf  erzähle,  mnss  ich  meinen  Lesern 
die  genannte  Commission  selbst  vorftthren. 

Gemäss  dem  Statut  bestand  sie  aus  sieben  vom  Gemeinderath  aus 
fiduer  Mitte  ernannten  Mitgliedem.  Der  Director  des  Pädagogiums 
hatte  das  Recht,  allen  Verhandlungen  der  Commission,  die  nicht  ihn 
selbst  betrafen,  mit  berathender  Stimme  beizuwohnen.  Die  Commission 
sollte  sich  regelmftssig  einmal  im  Monate  versammeln,  femer  am 
Schlüsse  des  Schuljahres  und  ausserdem  so  oft  es  das  Bedfirfhis  er- 
forderte. Die  ihr  zugewiesenen  Functionen  waren  folgende:  alljälir- 
hche  Bestimmung  der  Zahl  der  Zöglinge,  Prüfung  und  Genehmigung 
des  Verzeichnisses  und  Frequentationsplans  der  Hörer,  Einschreiten  bei 
>cliwereren  Disciplinailallen.  Antiägc  zur  Besetzung  erledigter  Lehr- 
stellen auf  Grund  der  Vorschläge  des  Directors,  Mitwirkung  bei  Auf- 
stellung des  Lehiplans.  Bestätigung  des  Stundenplans,  Assistenz  bei 
den  Wiederholungen,  Nachprüfungen  imd  Schlusscensuren,  IJberwachung 
der  genauen  Vollziehung  aller  auf  die  Anstalt  sich  beziehenden  Nor- 
men, Aufeicht  über  die  Pflichterfüllung  des  Directors  und  der  Lehrer, 
Erhaltung  der  Eintracht  zwischen  ihnen,  Vertheilung  der  innerhalb 
des  bewilligten  Prftliminars  Ittr  die  einzelnen  Wanderungen  enteilen- 
den Anslagen,  ürlaubsertheflung  an  den  Director  und  Vorkehrungen 
m  Krankheitgailen  desselben,  Aufhahme  des  Inventars  Uber  das  Ge- 
sammteigenthom  der  Anstalt  am  Schlüsse  eines  jeden  Schobahres, 
Jahresbericht  fiber  den  Zustand  der  Anstalt  unter  Beilage  des  Direc- 
torialberichtes,  Erstattnng  der  Jahresrechnnng  über  sämmtliche  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  der  Anstalt  nebst  Voranschlag  für  das  folgende 
Jahr.  Sorge  tür  das  allgemeine  Gedeihen  der  Anstalt,  den  Fortschritt 
und  die  Kntwickelung  derselben.  Dies  die  statutarischen  Bestimmungen. 

Was  nmi  die  Männer  betrifft,  welche  während  der  kritischen  Zeit 
dei'  Commi:!^iou  angehörten,  so  waren  tu  folgende: 

20* 


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—   296  — 

V)  Dr.  Josef  Weiser,  I)irector  der  Staats- lieaisclmle  im  8.  Be- 
zii'ke,  einer  der  tüclitijrsten.  thätifrsten  und  verdientesten  Schulmänner 
ÖsteiTeichs,  speciell  Physiker  und  Mathematiker,  aber  aucli  mit  leb- 
haftem Interesse  fUi*  das  Gesammtgebiet  des  JB^rziehungs-  und  Unte^ 
richtswesens  und  mit  einer  umfänglichen  allgemeiiieii  Bildung  ans- 
gestattet,  schmucklos  und  nicht  selten  rauh  im  Äusseren,  aber  redlichen 
Willens  and  soliden  Charakters,  in  kirchlicher  Hinsicht  gut  katholisch. 
In  politischer  conservatiy,  dennoch  ein  entschiedener  und  standhafter 
Freund  des  P&dagogiums,  seit  1867  Mitglied,  seit  1869  Ohmann  der 
CommiBsion,  in  derselben  an  Einsicht,  Eifer,  Ge^nssenhaftigkeit  und 
Thätigkeit  ^  wahres  Muster; 

2)  Dr.  Karl  Hoff  er,  Advocat,  ein  guter  Mensch,  dem  Fort- 
schritte zugethan,  ein  stets  bereitwilliger  und  vielfach  verdienter 
Freund  der  J^clmle  und  des  Lehrerstandes,  wie  Weiser  vom  Ursprünge 
des  Pädagogiums  an  Mitoflied  der  Commission  und  meist  an  do^en 
Seite,  niclit  karg  an  synipatliisdieu  Zusprachen,  aber  oline  Wachsam- 
keit und  Voraussicht,  in  wiclitigeii  Momenten  öfters  abwesend; 

3)  Dr.  Leopold  Kompert,  Schriftsteller,  ein  fein  gebildeter  Geist 
lind  makelloser  Charakter,  dem  Pädagogium  sympathisch  und  forder- 
lich, so  lange  er  konnte,  aber  in  den  letzten  Jahren  kränklich  und 
deshalb  zurückgezogen  lebend; 

4)  A.  Riss,  vormals  ein  eifriger  Wortfflhrer  der  Badikalen,  ein 
sogenannter  Bezirksdemokrat  und  im  Gemeinderathe  Mitglied  der 
„aussersten**  Linken,  seit  etlichen  Jahren  den  Umstanden  Bechnong 
tiagend,  in  Sachen  des  Pädagogiums,  so  weit  nicht  seme  Person  he- 
rfihrt  wurde,  ziemlich  apathisch; 

5)  JosefKfihn,  Dr.  jiu*.,  problematisch,  nach  Einigen  eifrig 
klerikal,  nach  Anderen  nur  beschränkt; 

6)  Bernhard  Frieb,  Priestei-  des  l^euedictiner-Stiftes  der  Schot- 
ten und  Director  des  Gymnasiuius  daselbst ; 

7)  Karl  Land  st  einer,  lu-sprünglicli  Mönch  und  Priester  des 
Piaristeii-Ordens  und  Professor  am  (ivinnasium  desselben,  dann  Welt- 
priester, Consistorialrath,  Yertieter  der  katholischen  iurche  im  n.  ö. 
Landesschulrath. 

Was  die  zuletzt  genannten  beiden  Geistlichen  betriflt^  so  hat  der 
eine,  Ken*  Fiieb,  in  emer  öffentlichen  Sitzung  des  Gemeinderathes, 
auf  welche  ich  später  zu  sprechen  komme,  ausdrucklich  erklärt,  dass 
er  n&ls  Saulns"  ins  Pädagogium  eingetreten  sei  Nun  ist  zwar  die- 
ses Bekenntnis  ohne  Zweifel  eine  Hyperbel;  denn  yon  den  geHUirlichen 
Eigenschalten,  durch  welche  nach  der  Apostelgeschichte  der  biblische 


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—   297  — 

Paulus  sich  hervorthat,  war  an  Herrn  Frieb  nie  etwas  zu  bemerken. 
Derselbe  bat  sich  vielmehr  stets  als  ein  g^thei'ziger  und  biederer 
Mann  gezeigt;  ja  er  Hess  sieh  schliesslich,  ebenfiills  nach  eigenem 
Bekenntnis,  zn  dnem  „Paulns*  des  Pädagogiums  bekehren,  nnd  zwar 
nieht  erst  dorch  ein  Wander,  sondern  durch  die  ganz  natOrlichen 
Wahrnehmungen,  welche  er  in  der  Anstalt  machte.  Als  sidier  darf 
aber  angenommen  werden,  dass  er  als  principieller  Gegner  des  Pftdago- 
gioms  in  die  Commission  eingetreten  war.  Und  dies  konnte  auch  nach 
Massgabe  der  Haltung,  welche  der  gaiizt'  hohe  Klems  gegen  das  P<ä- 
(lagutrium  von  Anfang  an  und  fortwälirend  eingenommen  hat,  nnd 
gemäss  der  iJisciplin,  welche  in  der  katlmlischen  Hierarchie  herrscht, 
gar  nicht  anders  sein.  Auch  ist  es  für  jeden  rechtschaffenen  Mann 
selbstverständlich,  dass  er  eine  Anstalt  bekämpft,  die  nacli  seiner 
Meinung  zerstört,  was  ihm  als  das  heiligste  Erbtheil  und  hücliste  Gut 
der  Menschheit  gilt  Ich  habe  daher  auch  die  Gegnerschaft  des  Glems, 
sofimi  sie  aus  innerer  Überzeugung  entsprang,  stets  zn  würdigen  ge* 
wusst  und  gar  oft  gewünscht,  dass  conseqaente  l  berzeugungstreue 
auch  in  anderen  Kreisen  herrschen  mOge.  Nor  Lanheit»  Gesinnungs- 
losigkeit, selbstsüchtige  Tendenzen  und  unredliche  Eampfesmethoden 
sind  mir  stets  zuwider  gewesen,  die  letzteren  deshalb,  weil  ich  mich, 
trotz  der  keineswegs  blos  in  irgoid  einem  Orden  übUehen  Praxis, 
nicht  davon  überzeugen  kann,  dass  der  Zweck  die  Mittel  heilige,  am 
allerwenigsten,  wenn  der  Zweck  selbst  ein  unheiliger  ist. 

Was  Herni  Landsteiner  betrifft,  so  liat  derselbe  nie  erklärt, 
dass  er  aus  ciiRiu  Saulus  ein  Pauhis  geworden  sei.  Dazu  ist  der 
Mann  viel  zu  klug.  Was  brauchen  die  Leute  zu  wissen,  ob  er  Saulus 
oder  Pauhis  ist?  Dem  Einen  inissfällt  Saulus,  dem  Andern  Paulus, 
l'nd  warum  sollte  Herr  Landsteiner  irgend  einem  3Iensehen  miss- 
lallen? Er  hat  es  von  jeher  verstanden,  Allen  zu  gefallen:  wer  nur 
immer  seines  Anblickes  genoss,  hatte  seine  Freude  an  ihm.  So  be- 
richtet er  selbst  in  seiner  Autobiographie:  ,.Das  Leben  eines  Paria.^ 
Und  so  hat  er,  der  sich  in  seiner  Demuth  mitCaideron,  Corneille,  Hum- 
boldt und  anderen  geistig  Armen  yergleicht,  nachdem  ein  blindes  Schick- 
sal ihn  lange  Zeit  für  einen  „ Paria  ^  gehalten  hatte,  endlich  auch 
denen  gefhUoii,  die  ans  dem  strebsamen  Manne  —  denn  strebsam  ist 
er  —  zu  machen  wnssten,  wozu  sein  Gtesde  ihn  präformirt  hatte.  Er 
wurde  persona  gratissima,  und  man  fand  ihn  vorzüglich,  geeignet  für 
allerlei  Ehrenstellen,  namentlich  auch  für  die  Commission  des  Pädago- 
giums, welcher  die  Sorge  für  das  allgemeine  Gedeihen  der  Anstalt^ 
oblag.  Und  gewiss,  er  hat  seine  Sache  gut  gemacht. 


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—   298  — 

Im  Pädagogium  wurden  die  letzten  vierWuclien  jedes  Schuljahres 
einer  allgemeinen  Wiederholung  gewidmet,  welche  einerseits  das  Ge- 
lehrte befestigen,  anderseits  die  Fortschritte  der  Horei-schaft  klarstellen 
sollte.  Das  Statut  bestimmte  überdies:  „Die  Mitglieder  der  Aut'sichts- 
commissioii  sind  verpflichtet,  der  Wiederholung  in  allen  Gregenständen, 
nach  einem  anter  ihnen  festgesetzten  Modus,  heiznwohnen.^  —  Der 
^jModns",  d.  h.  die  Tabelle,  nach  welcher  die  Mitglieder  der  Ck>nimis- 
^on  den  Wiederholungen  beiwohnen  soUten,  wurde  auch  im  Sommer 
1880  in  herkömmlicher  Weise  angestellt  und  im  Conferenzzimmer  des 
Ffidagoginms  aufgelegt.  Von  Kompert  musste  abgesehen  werden,  da 
er  einen  Curort  aufznsuchen  genöthigt  war.  W^eiser  erfüllte  mit  ge> 
wohntem  Eifer  seine  PHicht;  auch  Hoffer  und  Frieb  tliaten,  was  ihnen 
oldajr.  Dagegen  erschienen  die  HeiTen  Landsteinei-,  Kiiliii  und  Riss 
niemals  zur  Ausübung  ihrer  Function;  vielleicht  haben  sie  inzwischen 
anderswo  der  „Sorge  für  das  allgemeine  (gedeihen  der  Anstalt"  ob- 
gelegen, da  sie  es  nicht  für  nöthig  hielten,  ihi-  Ausbleiben  zu  eiit- 
scliuldigen.  Zum  Schlussactus  erschien  ^rar  Weiser  allein.  Frieb  war 
dui'ch  Amtsgeschäfte  an  seine  eigene  Berufsstätte  gebunden  und  Horter 
mochte  es  seit  der  Kundgebung  vom  10.  Juli  nicht  mehr  geheuer 
finden,  das  Pädagogium  zu  betreten. 

Nun  hatte  die  Commission  ihren  Jaliresbericht  zu  erstatten.  £bd 
ich  aber  den  wesentlichen  Inhalt  desselben  reprodndre,  nross  ich  eine 
kleine  Berichtigung  vornehmen,  die  wegen  der  vorstehenden  Notmen 
nOthig  ist  Auf  S.  13  des  erwähnten  Jahresberichtes  heisst  es  näm- 
lich: „Die  Inventarien  sämmtlicher  Lehrmittel  wurden,  wie  seit  meli- 
reren  Jahren,  von  dem  Mitgliede  der  AuMchtscommission,  Hem 
Gemeinderath  A.  Riss,  in  Evidenz  erhalten.*^  Weiser,  der  Verfasser 
des  Beliebtes,  mochte  «ilauben,  dass  HeiT  Riss  wenigstens  in  diesem 
Punkte  seine  Pflicht  gerhan  habe,  oder  dass  im  Falle  eines  Irrthnms 
Herr  Riss  die  nöthige  ('(»rrectur  anbringen  werde,  da  ja  der  Bericht 
auch  in  seinem  Namen  veifasst  und  mit  seiner  Zustiunnunpr  fre<huckt 
wurde.  Abi^-  Weiser  liatte  sich  geiiTt  und  Riss  licss  sicli's  get'allHi. 
Damit  nun  nicht  der  Schein  entstehe,  als  seien  meine  obigen  Benici- 
knngen  über  die  Unthätigkeit  des  Hen-n  Riss  durch  ein  officielles 
Uocument  widerlegt,  bemerke  ich  ausdrücklich,  dass  Herr  Riss  üd 
ganzen  Schuljahre  1879—1880  das  Pädagogium  niemals  betreten  hat. 

Der  Bericht  selbst  hatte  ein  sonderbares  Schicksal  Es  war  schon 
eine  Abnormität,  dass  er  im  Namen  einer  siebengliedei'igen  GomiDi8sio& 
abgeÜBtsst  werden  mnsste,  von  der  nur  drei  Mann  genfigend  infomiirt 
waren,  wozn  noch  das  Gmndttbel  kam,  dass  die  Commission  keines- 


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—   299  — 


Wegs  harmouiscli  nach  einem  Ziele  8ti*ebte.  Der  Beridit,  wie  er  ge- 
druckt vorliegt,  trägt  das  Datum:  „Wien  im  September  1880."  Ich 
lernte  Um  erst  im  Deceiiiber  kennen,  wo  mir  ein  Exemplar  zugestellt 
wurde.  Einigen  meiner  CoUegen  hatte  ihn  Weiser  theUweise  schon 
Ende  September  oder  Anfang  October  yorgelesen,  nm  ihnen  die  Be- 
ndugnng  za  geben,  dass  sie  durch  dieses  offidelle  Docmnent  die  bis 
dahin  yergeblidi  erwartete  Satisfaetion  erhalten  würden. 

Zunächst  zeigt  der  Bericht  statistisch,  dass  das  Pftdagogium  seit 
emer  Beihe  von  Jahren  sich  gedeihlich  entwickelt  habe,  und  dass  die 
ihm  gewidmeten  Mittel  „nicht  vergeudet,  sondern  dem  edlen  Ziele 
»Mner  zeitgemässeu  Heranbildung  unserer  Jugend  zu  gute  gekommen" 
seien.  Bezüglich  des  letzten  Julires  constatirt  er,  dass  dasselbe  einen 
ungestörten  Verlaut'  genommen,  und  dass  der  Unterricht  ordnungs- 
massig stattge^deu  habe.  Daim  heisst  es  wörtlich: 

Unter  allen  Mitgliedern  des  Lehrkörpers  bestand  wfthrend  s  u:anzen 
Schaljahres  ein  collegialisches  freundliches  Entgegenkommen  und  die  schönste 
Haniionie,  so  dass  ein  vermittelndes  P^inschreiten  von  Seiten  der  Pftdagogioms* 

Aufsiclitscomniission  als  unnöthig  entfiel. 

Audi  der  Zustand  der  Disciplin  war  seitens  der  sifanzen  H<lre]-s(  haft  bei 
allnii  Unterri(:htszweig:en  dem  reiferen  Altej-  der  Tlieilnclniu  lulen,  dem  Krnste 
ünd  der  Würde  der  Anstalt  vollkommen  aug-emessen,  daher  auch  hier  jedes 
Eingreifen  von  Seite  der  Aufsichtscommission  überflüssig  wurde. 

Ebenso  war  in  Hiübicht  der  Leistungen,  d.  i.  bezüglich  der  Früchte  der 
BemChnngen  aller  Lehrenden,  welche  sich  in  den  erworbenen  Kenntnissen  mid 
Fertigkeiten  offenbarten,  ein  Rficksehritt  gegen  die  Voijahre  duishans  nieht 
n  verzeichnen  y  eher  konnte  man  in  nicht  wenigen  Eimeelftllen  ehien  erfreu- 
lichen Fortachritt  nicht  verkemran. 

Weiter  wird  die  en'osse  Bedeutung  des  Pädagogiums  für  die  städti- 
schen Schulen  hervorgehuben  und  hieran  folgende  Auseinandersetzung 
geknüpft : 

Man  sollte  sich  ing-lich  zu  der  Erwartung-  bereehtigt  halten,  dass  die.se 
Erwägung  allein  ausreichend  erscheinen  müsste.  auch  Jene  von  derWiciitigkeit 
des  Bestandes  unseres  Pädagogiums  zu  überzeugen,  die  sich  bisher  noch  gai* 
keine  Hflhe  gegeben  haben,  sich  von  der  Emrichtong  und  Wirksamkeit  dieser 
Fortbadnngsanstalt  fOr  die  Lehrer  mraerer  Volksscholen  efaie  eingehendere  An- 
•chammg  ond  gründlichere  Überzengong  2B  versehafifen. 

Die  Commune  Wien  hat  in  den  letzten  fünfzehn  Jahren  schöne,  zweck- 
milssige  Schulhäuser  gebaut  und  mit  der  ert'orderlichen ,  dem  Geiste  der  fort- 
whreit**ndeii  Zeit  entsprechenden  Einrichtungen  versehen,  mit  einem  Kosten- 
anfwandn  von  über  sechs  Millionen  Gulden.  Das  ist  sicher  eine  Opferwilligkeit, 
der  sich  keine  andere  Gemeinde  rülimen  kann.  Grosse,  he(ineme  und  pracht- 
volle Scholhänser  mit  schöner,  zweckmässiger  Einrichtung  sind  aber  doch  nur 
efaie  leere  Sehale  ohne  fruchtbringenden  Kern.  Diesen  bildet  allein  em  ge- 


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—  300  — 


diegener,  guter  VnterrMit,  der  aber  nur  tod  einem  auf  der  Höhe  der  Zeit 
stellenden,  gat  und  anareieliend  vorgebildeten  Lelirer  erwartet  werden  kann. 

Die  Commune  liat  femer  mit  grossen  Kosten  ihre  Schalen  mit  Biblio- 
theken nnd  ansreichenden  Lehiiiiitteln  versehen;  aber  alle  die8e  Bibliotheken 
nnd  noch  so  znlil-  und  sinnreichen  Lelirmittel  sind  todte  Buchstaben.  Kur  der 
Geist  nia(  ht  svW'j:.  und  dieser  beseligende  Geist  kann  wieder  nnr  von  guten 
Lehrern  aus^'-chtn. 

Sollten  dci-artise  ErwUj^unfren  uns  nicht  zur  vollen  Eikeuntnis  bring-en. 
wie  einsichtsvoll ,  w  olmeinend  und  weise  jene  Männer ,  welche  gegenwärtig 
dem  GFemetnderathe  nicht  mehr  angehören,  gedacht  nnd  im  schönsten  Sinne 
des  Wortes  patriotisch  gehandelt  haben,  welche  mit  Fenereifer,  der  ihre  Bnist 
durchglühte,  die  Väter  der  Goromnne  bewogen  haben,  eine  Ansialt  zn  grfinden, 
ilirt-  Lehrer  selbst  weiter  forüsnbilden .  sie  auf  die  Höhe  der  gegenwärtigen 
Zeit  zu  stellen  nnd  bei  ihrem  unaufhaltsam  raschen  Fortschreiten  auf  derselben 
zu  erhalten,  jene  ^länner,  welche  mit  Geduld  nnd  eiserner  Ausdauer  die  Sehwif^- 
rigkeiten  und  lüiideniisse  {il>er\viindeii  haben,  welche  der  Activirung  tinsei'eä 
Pädagogiums  riesemrrnss  und  centnerschwer  entgegengestellt  wurden? 

Nun  haben  wir  das  schöne  \  ermächtnis  einer  wannen.  schul£i*euudlicheu. 
erhebend»!  Zeit.  Sollen  wir  dasselbe  nicht  mit  aller  Sorgfalt,  väterlicher  Zn- 
ndgnng  nnd  Liebe  hegen  nnd  pflegen?  Sollen  wir  uns,  wenn  wir  es  nicht  thnn 
wollten,  dem  hohnischen,  schadenfrohen  nnd  verächtlichen  Spotte  desAnsbuides 
preisgeben?  Nein,  wir  werden  eine  Anstalt  erhalten,  um  welche  uns  das  ausser- 
österreichische  Deutschland  beneidet,  deren  Huf  nach  allen  vier  Winden  weit 
über  die  Grenzen  unseres  herrlichen  geliebten  Vaterlandes  vorgedrungen  istl 
Wir  werden  die  ()i)ft  i'.  welche  unsere  verjüngte  herrlic  he  Vaterstadt  in  schwe- 
ren, drüekeiulcn  Ztiteii  freigebig  dargebracht  hat.  auch  in  der  kommenden, 
hüttentlich  besseren  Zeit  nicht  verweigern!  Es  handelt  sich  ja  um  das  Liebste 
nndThenerste,  was  wir  besitzen,  um  die  Hoilhnngen  der  kommenden  Generation, 
um  die  Blttte  unserer  Jugend,  um  unsere  Khider. 

Auf  die  gegen  das  Pädagogium  gerichteteu  Anfeiuduugeu  übtr- 
geUeiid.  bemerkt  der  liericlit: 

Eine  nicht  unheilcutende  Menge  heult  ^edaiikt  iilos  mit.  ohne  sieh  jemals 
um  die  innere  Einrichtung  des  Pädagogiums,  um  die  Ziele,  denen  es  uacli- 
strebt,  um  die  Hittel,  welche  dabei  fai  Anwendung  gebracht,  und  um  die 
Frflchte,  welche  erzielt  werden,  zu  kttmmein,  Mos  der  lieben  EäteEkdt  willen, 
um  zu  zeigen,  dass  man  an  den  Tageehiteressen  auch  lebhaften  Antheü  nimmt, 
und  dass  man  sich  befähigt  und  berufen  fühlt .  auch  in  dieser  Sichtung  sein 
massgebendes  Urtheil  zu  sprechen,  sein  Veratänduis  für  alles  zu  zeigen.  Andere 
verschanzen  sich  hinter  das  Pflichtgetlihl,  die  wirtschaftlichen  \'erhältnisse  der 
Commune  im  Auge  l>ehalten  zu  müssen,  und  weisen  aus  diesem  Versteck  auf 
die  schwer  drückenden  Verhliltnissc  dt  i-  üetrenwiirtigcn  ükoimmischen  Lage  lun. 
indem  sie  sich  beuuihen,  khir  dai'zuthun,  dass  die  nandiaften  Kosten,  welche 
die  Erhaltung  des  Pädagogiums  verursacht,  ganz  ohne  genügende  Gnnd  ver- 
geudet werden,  indem  sie  anderweitig  viel  wolthätiger  nnd  fruchtbringeoder 
verwendet  werden  konnten.  Ja  sie  begniigen  sich  mit  den  Hinweiznngen  auf 
den  herrschenden  Nothstand  nicht,  auf  deren  wüMge  und  freudige  Attfkiahme 
sie  bei  der  Menge  rechnen  kOnnen.  Grobe  Lttge  muss  zum  Hithelfer  genonunn 


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\v^rden.  iuilfiii  man  mit  Enn)hase  hinauszuschreit'ii  sich  nicht  eutbliidet :  Sieben- 
uiitiviei-zigt;uust'n(l  (xaldeii  kostet  das  Piidagogfium  Jahrlich,  williiend  factisch 
daüiselbe  im  Jahre  niemals  Uber  zwauzigtausend  (jruldeu  in  Anspruch  genommen 
hat,  die  an  4ie  Zöglinge  za  gewftiireiideiiUiitendltmngeii  mit  eingei-edinet  Die 
nit  dem  Pidagogiom  yerbandeae  DoppelÜbangsschnle  wird  ja  so  stark  besneht, 
dass  sie  wid  Bieht  minder  nnterlialteii  werden  mflaste,  wenn  aneh  das  erstere 
niemals  ins  Leben  gemfen  worden  wftre. 

Am  meisten  betrübend  muss  jedoch  die  bittere  Erfobrong  wirlcen,  daas 
selbst  hin  and  wieder  ans  den  Lehrerkreisen  sich  Stimmen  Yemehmen  lassen, 

das  Pädaorosium  sei  entbehrlich,  unnütz.  Solclu'  Äusserniiiren.  wenn  auch  van 
dieser  Seite  nur  seltener  zn  vernt'lmien.  müssen  wahrhaftig?  in  \'ei>;uchuns 
faliren.  sie  aus  der  Besorg-nis  zu  erklären,  die  jüng-ere  Lehrerwelt  könnte 
am  Ende  gar  gesclieidter  werden,  als  sich  die  Urheber  solcher  Stimmen  selbst 
liihlen. 

Schliesslich  sajrt  der  Bericht: 

Concm-se  zur  Wiederbesetzun^  der  trt'ii*^ewordenen  1  )irectorstellt»  für  die 
Kiiaheuübungsschule,  sowie  fiir  die  Besetzuuf?  der  internen  Lehrerstelle  sind 
aiisgMclirieben  worden,  i'ür  beide  Stellen  haben  sich  tüchtige,  vertrauens- 
wilrdige  Beweiber  in  nicbt  nnbedentender  Anzahl  eingeftinden.  So  können 
vir  denn  mit  gntem  Grunde  erwarten,  diese  Lfidcen  baldigst  ansgeffillt  zn 
sehen.  Der  Lehrkörper  wird  dann  mit  frisch  gestähltem  Hnthe  fortfahren,  die 
höchst  wichtige  Aufgabe  weiter  zn  verfolgen,  unserer  Volksschale  einsiditSToUe, 
tüchtig  gebildete  und  mit  festem  Willen  ihrem  erhabenen  Berufe  treu  ergebene 
Lehrer  zuzuführen. 

Dann  werden  liottcntlich  die  ('belwollenden  endlich  einsehen,  dass  die 
n>tf  Commune  des  Kelches  nicht  j^ewillt  ist.  eine  mit  so  viel  Anstrengung 
ennngene  Schöpfung  von  solcher  Wiclitigkeit  ohne  zwiageadeu,  ja  nur  stich- 
haltigen Gfnttd  einfach  fidlen  zu  lassen,  und  auf  das  schöne  Vorrecht  za  ver- 
zichten,  an  ihren  Schulen  höher  gebildete,  intelligentere  LehrkrSlte  zur  Heran- 
Idldnng  ihrer  Jugend  zu  besitzen  als  jede  beliebige  Ideine  Landgemeinde. 

Dann  werden  aber  auch  jene  tflchtigen,  ansgezeichneten  Männer,  aus  denen 
der  Lelii k<irper  des  Pädagogiums  zusamnienyf setzt  ist.  und  welche  demselben 
schon  seit  Jahren  mit  inni^-er  Liebe  und  dem  treuesten  Prtichtu:etTihle  an- 
hängen und  ihre  besten  Kiiifte  dem  erhabenen  Ziele  <»i)ferwillig  darbringeu, 
wieder  neuen  Mut  Ii  schöpfeu  und  sich  in  ihrem  hochherzigeu  Streben  nicht 
wankend  macheu  lassen. 

Bei  den  schon  seit  Jahren  andauernden  unverständigen,  nidit  selten  ein- 
iUtigen,  in  der  neuesten  Zeit  aber  schon  wahrhaft  böswillig  hervortretenden 
AnMidungen  thnt  eine  solche  Kundgebung  aber  auch  wirklich  noth.  Es  ist 
ftr  Männer,  welche  das  Bewnsstsein  haben,  infoli^o  ilirer  ausgebreiteten,  ans- 
gezeichneten Bemfskenntnisse  die  ehrenvollste  An«  rkennung  zu  verdienen,  und 
infolge  langjälu*iger,  mit  gewissenhafter  Berutsti  cne  n;ich  jeder  Kichtuufi:  streng 
ertullter  Dienst})tlichten  auf  allo-emeine  Achtung;  und  ^'rechte  Anerkennung 
VtillbesTÜndetcii  Anspruch  zu  besitzen,  keine  geriny^fü^iire  Ivleinigkeit.  seit  ge- 
raumer Zeit  fortwährend  angegriüeu  und  böswillig  verletzt  zu  werden.  Solclie 
Mfianer  aind  berechtigt,  efaie  feste,  nicht  misszuverstehende  Eikl&rang  zu  er- 
warten, dass  sie  ihre  besten  Krilfte  nicht  einem  Instltate  zu  widmen  haben,  auf 


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—   302  — 

welches  8ein  Schöpfer  selbst  keinen  Wert  melu*  le^e,  von  dem  er  vielleicht  die 
MdniiDgr  liege,  es  sei  yortheilhafter,  wenn  dasselbe  je  eher  desto  lieber  anfjgfe- 
lassen  wflrde.  Diese  Erklüning'  Gemeiuderath  bflndig  damit  geben, 

dass  er  den  Lehrkörper  desselben  wieder  vollstlndig  erglnz»i  wird. 

Bevor  ich  das  Scliicksal  dieses  Berichtes  erzähle,  imiss  ich,  dem 
chronologischen  Leitfaden  folgend,  andere  Vorgänge  darstellen. 

Der  lö.  September,  der  Eröffiinngstermin  des  Schuyahres,  war 
gekommen,  und  die  Einschreibimgen  für  den  nenen  Cnrsus  erfolgten. 
Die  Wiener  Lehrerschaft  zeigte  noch  immer  ein  lebhaftes  und  stei* 
gendes  Interesse  für  das  Fftdagogimn,  irie  dieselbe  Überhaupt,  yon 
sehr  vereinselten  Ausnahmen  abgesehen,  in  der  ganzen  Geschichte  des 
Institates  eine  hOchst  rOhmliche  Haltung  an  den  Tag  gelegt  hat.  Das 
Auditorium  war  also  vorhanden,  aber  es  verging  ein  Tag  am  den  an- 
dern, ohne  dass  der  Unterricht  beginnen  konnte,  da  über  eine  ganze 
Reihe  der  wichtigsten  l.chrfitcher  noch  keine  Verfügung  getrottVn  war. 
Ich  erwartete  stimdli<  li  die  Kiiiladung  zu  einer  Sitzung  der  Commission. 
Da  kam  Weiser  insPiidatroofiuni,  um  mit  mir  Rücksprache  über  dieSituatiou 
zu  nehmen.  Er  sagte,  dass  esilnn  trotz  mclirwüchentlicher  Bemühungen 
bis  dahin  nicht  prelungen  sei,  eine  Sitzung  zu  Staude  zu  bringen,  da 
er  die  Commissiousmitglieder  nicht  habe  auflinden  können.  Es  wiü*e 
unter  diesen  Umständen  das  Beste,  wir  fingen  wieder  in  derselben 
provisorischen  Verfassung  an,  unter  der  das  letzte  Schuljahi-  verlaufen 
war.  Ich  entgegnete,  dass  ich  in  Rücksicht  auf  meine  Gesundheits- 
verhältnisse die  im*  vorigen  Jahre  geführte  Supplirung  nicht  au6  heue 
Übernehmen  kOnne,  zumal  dies  nur  eine  weitere  Verschl^pung  der 
erforderlichen  und  langst  eingeleiteten  Besetzungsmassregeln  zur  Folge 
haben  würde.  Weiser  meinte  aber,  ich  möge  die  Sache  doch  noch 
einmal  versuchen  und  bemerkte,  dass  ich  für  die  Supplinmg  auch  eine 
Entschädigung  erhalten  solle.  Ich  entgegnete,  darauf  sei  es  nicht  ab- 
gesehen und  das  komme  niclit  in  Betracht;  aber  in  Rücksicht  auf 
meine  ungünstigen  (4esnii(llieits\  (  rliältnisse  könne  icli  eine  weitere 
Stellvertretung  ttberliau})!  nicht  iilieiiiehiuen  und  müsse  dringend  bit- 
ten, endlich  einmal  Ernst  zu  machen  mit  der  Besetzung  der  internen 
Lehrstelle.  Etliclie  Tage  darauf  fand  eine  ^Sitzung  der  Commission 
statt.  Eünf  Mitglieder  hatten  sich  eingefunden;  ausser  dem  noch 
ki-anken  Kompert  fehlte  Hoffer. 

Um  die  ausgeschriebene  Stelle  hatten  sich  zwölf  Herren  bewor- 
ben. Für  die  zu  treffende  Wahl  war  §  13  des  Statuts  massgäiend, 
welcher  lautete:  „Jede  Lehrstelle  wird  vom  Gemeinderathe  nach  Aus» 
Schreibung  eines  Concnrses  auf  Grund  eines  Vorschlages  des  Directors 


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—  303  — 


über  Antrag  der  Aufsi<  litscommission  besetzt.  Als  Lelirer  am  Päda- 
gogiam  sind  nur  solche  Männer  zulässig,  die  ilire  volle  BefiUügiing, 
den  betreffenden  Gegenstand  in  einer  fttr  die  Forttnldmig  von  Lebrem 
geeigneten  Weise  yonratragen,  dargetban  haben.**  —  Nach  den  Moti- 
Ten,  anter  "welchen  seiner  Zeit  diese  Bestünmnngen  beschlossen  worden 
varen,  soUte  über  das  Vorhandaraein  der  geforderten  Befithignng  der 
Dheetor  entscheiden  (vgl.  Faedag.  IL  Jahrg.  S.  573).  —  Unter  den 
zwölf  Competenten  waren  mehrere  junge  Männer,  denen  ebenso  die 
uöthige  Vorbildung,  wie  praktische  Übung  und  Erialining  fehlt«.  Von 
ihnen  musste  also  ohne  weiteres  abgeselicn  werden.  Unter  den  übri- 
j^eu  Bewerbern  waren  zwar  mehrere  recht  tüchtige  Lehrkräfte,  aber 
nur  zwei  besassen  die  den  Erfordernissen  des  Concurses  und  der  in 
Betraclit  kommenden  Stelle  entsprechende  Befähigung.  Einer  von  die- 
sen stand  aber  bereits  in  einem  Alter,  in  welchem  der  Wiener  Ge- 
meinderath grundsätzlich  niemand  mehr  anzustellen  pflegte.  Blieb 
also  nur  ein  Mann*  übrig,  den  ich  voi*schlagen  konnte.  Dies  war 
Dr.  Hermann  Wolff,  Docent  an  der  Univeisität  Leipzig.  Derselbe 
hatte  sich  ftber  den  Besitz  einer  gründlichen  Bildung  in  den  betr^en- 
den  Fächern  sowol  dnrch  seine  Studien-  und  PrOfungszeugnisse,  als 
auch  durch  bedentaide  literarische  Werke  bestens  auegewiesen.  Daza 
kam  eine  Empfehlung  von  Seiten  dnes  Mannes^  dessen  yoDste  Compe- 
tenz  und  Zuverlässigkeit  Jeder,  der  in  der  Gelehrtenwelt  bekannt  ist, 
anerkennen  wird.  Diese  Empfehlung  lautete: 

Herr  Dr.  phil.  Heriiuum  Wulft',  Privaidocent  der  Philosophie  an  <ler  hie- 
bigen  Universität,  hat  mii-  uiitgetheilt,  duää  er  sich  um  eine  Lehrstelle  au  dem 
Stidtiseheii  Pädagogium  in  Wien  beworben  hat,  und  mieh  enncht,  seine  Be- 
werbiuig  mit  einigen  empfehlenden  Worten  zn  nnterstfttzen.  Ich  kann  dies  in 
der  That  mit  Übwsengnng  thnn,  da  ich  schon  ehemals  Herrn  Dr.  Wollt;  als 
er  mein  Zuhörer  war,  als  einen  überaus  strebsamen  und  sittlich  ehrenwerten 
jungren  Mann  kennen  lernte,  er  sich  aber  seitdem  durch  philosophische  Schriften 
>M  kaniit  jreniacht  hat,  die  zwar  eine  andere  EiphtniiH:  als  di^^  von  mir  vertretene  ver- 
ImIl'hii,  jedenfalls  aber  ihn  als  einen  selbstständi^:  denkenden  kritischen  Kupf 
k'tdtiiuii'en.  An  unserer  Universität  hat  er  mit  nnerniüdlichem  Eifer  nnd  aner- 
kennenswertem Erfolg  Vorlesungen  gehalten  und  durch  Leitung  von  Übungs- 
gesellschaftea  Ml  am  die  Stadirenden  Terdieat  gemaeht  nnd  rieh  der«ii  Hoch- 
•ehtoBg  mid  Dank  erworben.  Bedegewandt  wie  er  ist,  mOchte  ich  ihn  insbe- 
Mndtte  m  Uaiea  tiualichen  Vortragen  ftber  Logik,  F^chologie,  Uethodologie 
für  wolbef^lhigt  halten,  wobei  ihm  ohne  Zweifel  die  Erftdirnngen,  die  er,  bevor 
er  die  akademische  Laufbahn  betrat,  als  Hanslebrer  gemacht  hat,  zu  statten 
kommen  würden. 

Leipzig,  den  29.  Juli  1880.  Dr.  M.  W.  DrobiM  h. 

Professor  und  Geh.  Hath. 

Fenier  hatte  Dr.  Wollt  schon  längere  Zeit  mit  bestem  Krlblge  in 


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—   304  — 


denselben  l'äclieru,  für  weldie  -wir  eine  Lelirkraft  suchten,  am  Leli- 
reriimensemiuar  zu  Leipzig  Untemcht  ertheilt,  was  durch  die  Direc- 
tion  in  der  anerkennendsten  Weise  bezeugt  war.  Endlicli  hatte  der- 
selbe im  Leipziger  Lehren^erein  und  in  anderen  pädagogischen  Krei- 
sen mit  ausgezeichnetem  Erfolge  Vorträge  gehalten,  worfiber  ebenfalls 
die  gOnstigsten  Berichte  vorlagen.  —  Bei  diesem  Sachverhalte  wfirde 
ich  geradezu  gegen  mein  Gewissen  und  gegen  das  Literesse  der  meiner 
Leitung  anvertrauten  Anstalt  gehandelt  haben,  wenn  ich  nidit  Herrn 
Dr.  Wolff  für  die  vacante  Stelle  vorgeschlagen  hätte.  Noch  heute  bin 
ich  überzeug,  dass  er  dem  Pädagogium  die  erspriesslichsten  Dienste 
geleistet  liaben  würde.  Nur  wenn  ich  die  Absicht  gehabt  hätte,  dem 
Institute  Schaden  zuzufügen,  würde  ich  einen  Anderen  vorge.'^chlagen 
liaben.  Allerdings  hatte  Dr.  Woltl"  zwei  Fehler,  die  neuerdings  in 
Wien  wieder  schwer  in  die  Wagscliale  fielen:  er  war,  wie  ich  selbst, 
Protestant  und  Ausländer.  Es  wäre  mir  lieb  jjewesen,  wenn  ihm 
diese  Makel  nicht  angehaftet  hätten.  Aber  ich  konnte  sie  nicht  be- 
seitigen und,  was  die  Hauptsache  war,  unser  Statut  erkannte  in  ihnen 
n  i  c  h  t  ein  Hindernis  der  Anstellung  am  Pädagogium.  —  Zu  dieser 
Darlegung  des  Sachverhaltes  füge  ich  (wegen  einer  später  zu  erwäh- 
nenden Verdächtigung)  die  Bemerkung,  dass  mir  Dr.  Wolif  bis  zn 
seiner  Bewerbung  ganz  unbekannt  war,  und  dass  ich  niemals  in  einer 
personlichen  Beziehung  zu  ihm  gestanden  habe. 

Als  nun  die  der  Besetzungsangelegenheit  gewidmete  Commissions- 
sitzung  eröffnet  war,  bemerkte  Herr  Landsteiner,  der  als  R^ßrent 
fungirte,  dass  er  meinem  Vorschlag  (der  schriftlich  den  Acten  beilag-) 
71  i cht  zustimmen  könne.  Manches,  was  er  auf  dem  Herzen  hatte, 
deutete  er  nur  tiüclitig  an,  dagegen  betimte  er  mit  Nachdruck,  dass 
Dr.  Wolff  ein  Ausländer  sei,  dass  dessen  Walil  den  ganzen  österrei- 
chischen Lehrerstand  beleidiiren  müsse  und  h<u'hst  unpatriotisch  sein 
würde.  Jetzt  wusste  ich  genuy.  Solche  Argumente  waren  allmächtig; 
ich  hatte  schon  zur  Genüge  erfahren,  dass  ihnen  selten  Jemand  ent- 
gegenzutreten wagt,  weil  das  in  der  That  gefährlich  ist,  während 
mit  der  Berufung  auf  den.  „echt  österreichischen  Patriotismus"  gar 
viel  ausgerichtet  und  erreicht  werden  kann.  Herr  Landsteiner  brachte 
dann  seinen  Gegenantrag:  es  sei  Herr  Dr.  Pommer  zn  wählen,  der- 
selbe, welcher  im  vorigen  Jahre  Supplent  der  deutschen  Sprache  und 
Literatur  gewesen  war.  Er  hatte  sich  nun  auch  um  die  interne 
Lehrstelle  beworben,  aber  dabei  eine  Reihe  von  Propositionen  aufge- 
stellt, welche  mit  dem  ausgeschriebenen  Ooncurs  unvereinbar  waren, 
weshalb  der  Wiener  Magistrat,  wie  mir  zuerst  Herr  Pommer  selbst 


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—  305  — 


enihite  und  später  auch  die  Zeitungen  berichteten^  dessen  Bewerbung 
Ar  imznljtasig  erklärt  hatte.  Dazu  kam,  dass  Dr.  Ponunefi  seine  son- 
stige TOsenschafUiche  Büdmng*  in  Ehren,  für  einen  sehr  wichtigeii  ' 
Theil  der  in  Betracht  konunenden  Lehrthfttigkeit  die  statntenmfissig 
erforderUche  Befilhignng  entschieden  nicht  besass,  was  evident  war. 
Und  wenn  man  auch  hoffen  wollte,  dass  er  sich  aUmfihlich  „einarbei- 
ten'* werde,  so  stand  dem  das  Bedenken  entgegen,  dass  er  nach  seinen 
eigenen  ErklSnmgen  nicht  gewillt  war,  seine  volle  Kraft  der  neuen 
Stelle  zu  widmen,  sondern  dass  er  daneben  sein  (Tymnasiallehr- 
amt  beibehalten  wollte,  "wo  möglich  mit  verminderter  Stundenzahl. 
Herr  Landsteiuer  suclite  natürlich  seinen  Candida! en  in  das 
g^nstigfste  Licht  zu  setzen,  wobei  er  unter  Andei-em  die  wes:en 
ihrer  Plumpheit  geradezu  lächerliche  Beliauptun^^-  aufstellte ,  dass 
i'ommer  über  alle  seine  Mitbewerber  auch  durch  grosse  literarische 
Werke  hervorrage;  in  Rücksicht  auf  die  mangelhafte  Befähigung:  des- 
selben beantragte  Landsteiner  zunächst  nur  pro\isorische  Anstellung 
lof  ein  Semester;  dass  eine  Äusserung  des  Hagistrats  fiber  Henn 
Vmmer  den  Acten  beiliege,  erwähnte  Herr  Landsteiner  nur  flüchtig 
und  dme  den  Inhalt  dieser  Äusserung  mitzutheilen.  Hinsichtlich  der 
n  besorgenden  Oberbfirdung  Pommers  bemerkte  Herr  Landsteiner, 
sein  Candidat  werde  zur  Erleichterung  am  Gymnasium  einen  Supplen- 
ten  erhalten,  wovon  aber  hernach,  als  das  Landsteinei'sche  Arrange- 
ment zur  Ausführung  kam,  nicht  mehr  die  Rede  war.  —  Ich  bemerkte, 
dass  zu  einem  halbjährigen  Provisonum,  wenn  man  recht  behutsaui 
vorgehen  widle,  wol  auch  Dr.  WulW  bereit  sein  Wierde,  und  Weiser 
schlug  vor,  an  denselben  eine  hierauf  bezügliche  Anfra<re  zu  rirliten. 
Aber  Landsteiner  und  Genossen  wollten  davon  nichts  wissen,  lür  sie 
war  Dr.  Wolff  überhaupt  unmöglich.  Ich  hob  nun  das  Bedenkliche 
der  Landsteiner-Pommer'schen  Combinatioa  nochmals  hervor,  worauf 
HeiT  Kühn  bemerkte:  Nachdem  uns  der  Herr  Director  seine  Ein- 
wände gründlich  auseinandergesetzt  hat,  beantrage  ich  Schluss  der 
Deliatte  und  stimme  f&r  Pommer.  Herr  Riss  liess  sein  „Kinverstan- 
den"  erschallen,  und  das  Geschält  war  erledigt 


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(iedanken  über  reli^iös-.sittliche  Bildang  durch  die 

Volkfisehale. 

Von  <r.  HufMutUdi'  Unna. 

Uaaptaufgabe  der  VoUuschiile  ist  die  Entwlekeliuigr  mid  Sttrkiing  der 
Geistes-  und  Gemfitliskrtlfte  ihrer  Zßg^nge.  Sie  bedarf  dazn  eines  Steifes  und 

soll  diesen  aus  dem  Cultnrleben  dos  Volkes  entlehnen.  Auch  die  religiöse  Ent- 
wickelunpfBRtufe  des  Volkes  hat  ein  Becht  auf  BerUcksiclitigiingp.  Wie  aber 
dioses  T\»'('lit  in  koinfwi  Gegenstandi'  so  wt'it  roichon  kann,  dass  man  fordern 
dürl'tt'.  die  N'olkssdiuli'  solle  densellit'ii  \  uml  u-;iiiz  iHlircii.  weil  das  eine  Un- 
niöiflichkeit  ist,  so  k;iim  auch  den  Ueli^iousgesfllsrhaften  nicht  gestattet  wei"* 
den,  zu  verlangen.  da«s  die  Volksschule  die  Religionslehre  in  ihrem  ganzen 
Umfange  den  Schülern  übermittele.  Wenn  aber  schon  wegen  Mangels  an  Zeit 
die  Volksschule  zu  einer  Auswahl  genSthigt  ist,  so  wird  man  ihr  auch  er- 
lauben müssen,  dai^enige  ausznwfthlen,  was  ihren  Zweclcen  am  meisten  dienen 
kann. 

Was  der  Entwickelung  und  Stärkung  der  Geistes-  und  Gemfithskräfle  am 
erfolgreichsten  zu  dienen  fähig:  ist.  kann  nur  von  der  Erziehnngs-  und  Unter- 
rirhtswissenschat't  btstiiiniit  werden:  was  für  das  Leben  am  meisten  notlitlint. 
liJlngt  vom  jcwrili^^i  n  (  iilturznstande  ab.  PUda^o^ik  und  Culturznstand  .sollen 
ulso  zusammen  über  die  Auswahl  des  Stotles  aus  jedem  Unterrichtsgegenstande 
entscheiden.  Die  Art  und  Weise,  wie  der  ausgewählte  Untenichtsstoff  zu  be> 
handeln,  ist  lediglich  Sache  der  Pftdagogik.  Diese  moas  also  im  Gebiete  der 
Volksbildung  yollstftndig  Herrin  sein  mit  der  einzigen  Einschrftnknng,  dass  sie 
bei  der  Auswahl  des  Stoffes  für  den  UnteiTicht  auf  den  Cultnrzustand  Bfick- 
sieht  nehme.  Man  gesteht  ihr  dieses  Recht  ancli  in  fast  allen  Gegenständen 
W^illig  zu,  nur  im  Relig-ionsunternchte  wird  es  ilir  streitig  gemacht:  in  diesem 
gilt  tiiatsilclilidi  noch  imint>r  die  'IMieolo^-ie  einzig  und  allein  als  bestimmende 
Gewalt.    Woht-r  diese  auffallende  ThatsaelieV 

"Wenn  man  das  Bestehende  vollständig  begreifen  will,  so  muss  man  seinem 
Entstellen  nachforschen;  die  Geschichte  ist  eine  gro.sse,  in  manchen  Dingen  die 
einzige  Lehrmeisterin.  In  den  Jahrhunderten  vor  der  Refbrmation  war  bei 
den  christlichen  Vdlkem  die  Theologie  die  KOnigin  aller  Wissenschaften.  Es 
durfte  nichts  gelehrt  werden,  was  die  Kirche  nicht  gnthiess.  Tausende  wurdfo 
verfol-  t.  I  ingekerkert,  verbrannt,  weil  sie  etwa.s  gelehrt  hatten  oder  glaubten, 
was  der  Kirche  und  ihren  Dienern,  den  Priestern,  nicht  genehm  war.  Xocli 
heute  wird  in  K'om  das  \'eizeichnis  derjenjö-en  Bücher  fortgeführt,  welche  von 
dei'  römisciien  Curie  der  darin  enthaltenen  Irrlelu'en  wegen  verboten  sind. 


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—   307  — 

Auch  Schriften  Lessüiff's,  Qoethe'8,  Schiller'.s.  unserer  deutschen  Geisteslielden, 
8t«hen  in  demselben.  Der  grosse  Galiläi  kam  in  den  Kerker  der  TrKinisition, 
veil  pr  die  Rewp<rnnfr  der  Erde  gelelut  hatte,  und  norli  heute  darf  nach  dem 
AVilU  n  der  römischen  Kirche  die  Lehre  des  Cupernicus  nur  ala  Hyi>othose  vor- 
getragen werden.  Der  Papst  schleudei-te  ehedem  seine  Bannstrahlen  auf  ganze 
VSIker,  wenn  diese  nicht  nach  seinem  Willen  glaubten  und  handelten;  glück- 
liekerweiae  zBuden  und  tOdten  dieselben  heute  nicht  mehr.  0ie  Einibeiirelbr- 
aation  des  16.  Jahrhimderts  sehlnur  der  ICacht  der  Thedogie  und  der  Prie- 
ster eine  unheilbare  Wunde.  Seitdem  rafften  sich  die  mei$;ten  Wissenschaftea 
empor  und  ent\\ickelten  sich,  ohne  nach  den  Leliren  der  Theologie  zq  fragen, 
— •  und  von  da  an  datirt  ihi-  AufldiUien. 

Im  Reformatictiiszeiralter  und  noch  lanp'  nachher  gab  es  keine  Wissen- 
whaft  der  Erziehung';-  und  des  Unterriciits.  Die  luotestantisch«-  Kirclie  stiftete 
Schulen  für  das  \'olk.  damit  ihre  Anhänger  lesen  lernten  und  den  Katechismus. 
Ibre  Leiter  nnd  Aufseher  waren  natüi-lich  die  Geistlichen.  Sie  konnten  lesen 
ind  kannten  den  EatechiBmna  nnd  verstanden  so  zn  lehren,  wie  es  eben  da-' 
luÜB  an  der  Zeit  war.  An  der  Methode  etwas  beesem  za  wollen,  fiel  selten 
einem  ein.  Die  Theologen  sind  überhaupt  im  allgemeinen  von  jeher  conserva- 
tiv  nnd  allen  Neuerungen  feind  ^rewesen.  Die  berechtigte  Herrschaft  der  Geist- 
lichen über  die  Schulen  und  die  unpildajroofischen  Lehrer  dauerte  fort  bis  in  das 
Zeitalter  der  AufklUrunp-.  Da  fanden  in  Deutschland  Rousseau's  Ideen  Uber 
natniiremilsse  Ei-ziehuufc  einen  fruciitbai'en  Boden,  Auch  auftreklärte  Theolo- 
^'eii  schlössen  sich  den  Philanthropinisten  an.  Endlich  trat  in  der  Schweiz  Pesta- 
lozzi auf  nnd  ward  der  Schöpfer  eines  methodischen,  auf  die  Gesetze  der  Geistes- 
entwiekelnng  gegründeten  Unterrichts.  Auch  manche  Theologen,  protestantische 
wie  kathoUsdie,  huldigten  seinen  Lehren,  verbreiteten  sie  nnd  büdeten  sie 
weiter  uns.  Innige  zogen  aus  den  handwerkelnden  Schnlmeistem  allmählich 
einen  Lehrerstand  heran,  der  in  Unterricht  und  Erziehung  nach  pädagogischen 
(rrnndsUtzen  verfuhr.  Audi  in  der  Theolog-ie  hnldioften  hervorragende  Geist- 
liche vernünftig-en  Grundsätzen  und  wirkten  diesen  gemäss  für  Schule  und 
Kirche.  Wir  erinnern  nur  an  Sailer.  Wessenberfj:.  Chr.  Schmid  auf  katholischer, 
au  Natorp,  Schleiermacher,  Dinter  auf  ])rote8tanti8cher  Seite.  Prior  Hoogen 
and  andere  Geistliche  strebten  schon  damals  nach  einer  Reformation  des  Reli- 
gionnmterrichta  in  der  .Schule.  Jener  sehrieb  in  „Beitrüge  zur  Beförderung 
der  Hnmanitüt*'  (Basen,  Büdeker,  1805)  seinen  noch  für  unsere  Zeit  wichtigen 
Aatuta:  „Die  g:nten  Aussichten,  welche  die  Verbesserung  der  Schulen  für  Auf- 
klärnng,  oder  eine  moralische  und  staatsf,'edeihliche  Bildnnjr  des  Volkes  gewäh- 
ren kann,  wenn  die.se  Schulen  blos  als  staatsbürg-eiiiche  Institute.  unabhUng'is: 
vom  kirchlichen  Relig-ionswesen  behandelt  werden."  Bis  zu  dieser  Zeit  waren 
die  Pfarrer  meüst  immer  noch  die  natiulichen  Autoritäten  der  Lehrer.  Kur/. 
lUichher  brach  das  Unglück  Uber  Preussen  herein.  Gemahnt  durch  Fichte,  dei- 
in  einer  besseren  Erziehung  des  Volkes  die  Möglichkeit  einer  Wiedergeburt  deb 
Staates  erkannte,  wurden  junge  Mftnner  zu  Pestalozzi  gesandt,  Senünare  fttr 
Lehrer  gegründet,  und  es  entwickelte  sich  auf  pKdagogischem  G«l^ete  ein  Stre- 
ben für  die  Hebung  der  Volksbildung,  welches  in  kurzer  Zeit  die  herrlichsten 
Früchte  zeitigte.  In  wenigen  Jahren  wurde  der  Stand  der  Volksschullehrer 
em  wesentlich  anderer,  ein  »Stand,  dei-  sieh  sairen  durfte,  dass  er  eine  beson- 
dere Kunst  verstände,  die  Kunst  eines  uatiugemässen  Klemeutaruiiterrichts. 


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—   308  — 


l)er  glürreicheii  Erhebung-  des  deutschen  Volkes  im  Jahre  1813  und  der 
Befreiung'  vom  fi'anzösischen  Joehe  folgte,  wie  jeder  grossen  politischen  Anf- 
reg^ig,  eine  tiefe  Abspannung,  und  politische  wie  kirchliche  Absolatisten  be- 
imteten  diese  Zeit,  um  wieder  211  gewinnen,  was  sie  in  der  Zeit  der  AnfUlning 
und  der  geistigen  Erlielnuig  verloren  iiatten.  Die  Begiemngen  Terliessen  die 
Bahnen,  welche  Stein  ihnen  vorgezeichnet  hatte,  und  die  Geistlichen  saehtea 
ihre  Macht  zu  stärken  durch  Zuriickfühnin^  der  Zustände,  welche  vor  der  Auf- 
klftmngsperiode  in  der  Kirche  bestanden.  Die  Schule  blieb  trotz  ihrer  vöUiisren 
Umgestaltnuir  und  trotz  der  piidas-oirischen  Bildung- der  Lehrer,  denen  die  Geist- 
lichen in  der  Schularbeit  meist  nicht  mehr  ebenbürtig:  waren,  unter  der  Herr- 
schaft der  Theologen  und  steht  noch  immer  unter  derselben.  Nicht  nur  der 
Stoff,  sondern  zum  grossen  Theil  auch  die  Methode  des  Keligionsunterrichtes 
wird  durch  die  Geistlichkeit  oder  doch  nach  ihren  Wünschen  festgestellt,  und 
mdst  sind  es  Geistliche,  welche  die  ganse  Scfanlarbeit  des  VolksschnUehras  n 
benrtheilen  haben. 

Anf  die  Yerderblichkeit  dos  letzteren  Zostandes  wollen  wir  liier  nicht 
naher  eingehen,  sondeni  nur  die  Übel  naclizuweisen  suchen,  welche  daraus  ent* 
sjii  in^-en.  dass  nur  die  ReiigionsgesellBchaften,  also  die  Theologen  es  sind,  welche 
über  den  Keligionsuntemcht  in  der  Volksschule  bestimmen. 

Wenn  man  auf  die  Frage  nach  dem  Zwecke  des  Relig^ionsunterrichtes 
antwortet:  Der  Religionsunterricht  soll  religiös -sittliche  Menschen  bilden;  so 
darf  man  anf  fast  allgemeine  Znsthnmnng  rechnen.  Aher  werden  die  ZnstiBh 
inenden  anch  wirklich  einig  sein?  Gewiss  nicht;  denn  hei  dem  Worte  „reli- 
güfe''  denken  die  verschiedenea  Beligionsparteien  nnd  nicht  selten  sogar  die 
verschiedenen  Mitglieder  derselben  Confession  an  ganz  Verschiedenes.  Diese 
Verschiedenlieit  geht  so  weit,  dass  eine  Partei  der  jindem  alle  Religion  ab- 
spricht, sie  irreligiös,  religionshis  nennt.  Dem  Ultramontanen  ist  nur  derjenige 
wahrhaft  religiös,  welcher  aji  die  l 'nfehlbarkeit  des  römischen  Rischofs,  fifiii 
Allhänger  Calvins  nur  derjenige,  welcher  an  die  unbedingte  Guadejiwahl  glaubt 
Q.  8.  w.  Sie  alle  verwechseln  Confession  mit  Religion,  sie  alle  fordern  daher 
von  der  Sehlde,  dass  diese  vor  allem  diejenigen  Dogmen  lehre,  welche  ihre 
Confession  von  anderen  Confessionen  unterscheiden,  Qyd  in  dieeerFordemng  sind 
die  Übel  eingeschlossen,  welche  aus  der  Bestimmung  der  BeligionagesellschafteB, 
d.  i.  der  Priester,  tther  den  Inhalt  des  Lehrstoffes  im  Beligionsnnterrichte  ent- 
springen. 

Relig-ion  ist  ihrem  allgemeinsten  Wesen  nach  das  Gefühl  der  Abliäniiii:- 
keit  von  einer  überirdischen,  nur  in  ihren  Wirkungen  erkennbaren  flacht.  Ihis 
Meinen  der  Menschen  über  diese  Macht  schon  hat  mit  dem  Wesen  der  Reügion 
nichts  zu  schaffen;  nach  ihm  gestalten  sich  die  verschiedenen  Coufessioneu, 
deren  es  so  viele  gibt,  als  selbststftndig  denkende  Menschen  vorhanden  sind. 
„Hein  Gott,  dein  Gott,  sein  Gott  sind  drei  verschiedene  Götter."  Niemand 
hrancht  zu  fürchten,  dass  dem  denkenden  Menschen  das  Wesen  der  Reliirion 
jemals  abhanden  komme ;  die  Confessirmen  aber  werden  sich  mit  dem  Cnltnr- 
zustande  nothwendig  im  Laufe  dei*  Zeit  ilndem.  Sind  diese  sich  stetig  ändeni- 
dern  Leliniit  iiiungen  von  besonders  liuliem  Werte?  Welchen  Ma.ssstab  sollen 
wir  an  sie  anlej^en.-'  Wir  ai  ( cittii-eii  gern  denjenigen,  welchen  der  Stifter  der 
christliciien  Religion  gegeben  hat:  „An  ihren  Früchten  sollt  ihr  sie  erkeniieiL" 
Was  er  unter  diesen  Früchten  versUnd,  haben  seine  Apostel  Paulos  und 


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Johannes  am  schönsten  gesagt.  l.Cor.  18:  „Wenn  ich  mit  Menschen-  und  nüt 
Eng:elznngen  redete  und  hätte  der  Liebe  nicht,  so  wÄre  ich  ein  tiinendes  Erz 
oder  eine  kling-ende  Schelle,  und  wenn  ich  weissagen  könnte  und  wüsste  alle 
(iebeiniTiisse  und  hiltte  allen  Glauben,  also  dass  ich  Berge  versetzen  könnte, 
luid  hätte  der  Liebe  nicht,  so  wäre  ich  niclits."  l.  .Toh.  4,  IH:  ..Gott  ist  die 
Liebe.   Wer  in  der  Liebe  bleibt,  der  bleibt  in  Gott  und  Gott  in  ihm.*' 

Kit  diesen  AnsqirBcheii  Jesu  und  seiner  Apostel  werden  wir  wol  sagen 
dOiü^n,  dass  der  Zweck  des  BeUgionannterrichts  die  Weeknng  nnd  Bdelrang 
der  Henscbenfiebe,  also  des  sittlichen  Lebens  sei.  Dann  aber  bat  keine  der 
confessionellen  "Religionslehren  Anspruch  auf  allgemeine Hochschätanng  nnd 
anf  besondere  Beiücksichtigung  im  Unterrichte  der  Volksschule,  Ton  welcher 
nicht  nachjrewiesen  werden  kann,  dass  sie  die  Erziehung  der  Menschen  zur 
Sittlichkeit  zu  tfii^dem  im  Stande  sei.  Solcher  (ilaubenslehren  aber  gibt  es  nur 
z\\ei,  die  Lehre  von  Gott  und  die  von  der  Vergeltung  im  .Jenseits:  alle  andeni 
sind  in  diesen  zweien  mit  enthalten.  Dies  wii"d  auch  die  Hauptui-sache  sein, 
dasB  wir  diese  beiden  in  fiist  allen  Confessionen  finden. 

Die  mdagogik  soll  bd  der  Auswahl  desüntenichtestoffies  fiberhaapt,  also 
aoeh  des  religi5sen,  anf  das  Leben  Bflcksieht  nehmen.  Da  nnn  für  das  Leben 
anf  Erden  es  nichts  Wichtigeres  gibt,  als  die  Sittlichkeit  der  ifenschen,  so  liegt 
es  anf  der  Hand,  dass  aus  der  Religionslehre  vor  allem  der  Glaube  an  Gott  und 
an  Vergeltung  nach  <h'm  Tode,  also  diejeniiren  GlauhenssUtzc  gewählt  werden 
müssen,  welche  auf  unsert-r  heutig-en  Culturstute  allen  unter  uns  bestehenden 
Tontessionen  gemein  sind,  und  femer,  dass  die  Lehre  von  (rott  in  dem  Satze 
giljfelu  muss:  „Gott  ist  die  Liebe."  Im  übrigen  wird  es  hauptsächlich  dai-auf 
ankommen,  der  Jagend  die  Sittenlehre  in  möglichst  klarer  nnd  eindringlicher 
Weise  an  fibermittebi  nnd  sie  zur  Beobachtung  derselben  geneigt  zn  machen. 

Sehen  wir  nns  den  ttbrigen  religiösen  Lehrstoff  der  verschiedenen  Beligions- 
Parteien  mit  Bficksicht  anf  seine  Wirksamkeit  für  die  Hebang  der  Sittlichkeit 
genauer  an.  so  werden  wir  finden,  dass  er  fiii*  dieselbe  nichts  enthält,  was  nicht 
»chon  in  den  beiden  genannten,  allen  Omfessionen  geraeinsamen  Lehren  ent- 
halten ist.  Die  Wahrheit  oder  Unwahrheit  derselben  also  völlig  dahinerestellt 
sein  lassend,  behaupten  wii*.  dass  die  Schule,  um  durch  den  Religionsiinteiricht 
für  das  Leben,  für  die  Versittlichung  der  Menschheit  zu  wii'ken,  der  specilisch 
eooAessionellen  Beligionslehren  nicht  bedarf.  Wir  nnterschreiben  also  auch 
heite  noch  die  Forderung,  welche  im  Jahre  1848  bedeutende  llBnner  so  gern 
in  die  prenssiscbe  Verfassungsnrknnde  gebracht  hfttten:  ,|Der  allgemeine  Reli- 
gionsuntenicht  yerbleibe  der  Sdiule,  der  confesslonene  werde  der  Kirche  ftber- 
lassen." 

Über  die  An  und  Weise,  wie  in  Kelijtrions-  und  Sittenlelnv  unterriciiet 
wei-den  soll,  steht  allein  der  Pädagogik  die  Entscheidung  zu.  Eine  Hauptregel 
der  Methodik,  welche  namentlich  auch  bei  der  Auswahl  des  Stoßes  beachtet 
Verden  muss,  lautet:  „Lehre  nie  etwa«,  was  der  Schüler  noch  nicht  fassen 
kaanP  Die  f&r  das  Leben  wichtigsten  Glaubenssatae  siüd  zugleich  die  fass- 
bsisten.  Ob  sie  aber  von  dem,  was  fiberhaupt  zur  Erzielung  dnes  reUgiSs- 
»ittlichen  Lebens  yerwendet  weiden  kann,  das  Fassbarste  seien,  ob  also  mit 
ihnen  der  Religionsunterricht  zu  beginnen  habe,  wird  wol  einer  genaueren 
Überlegung  bedürfen. 

Dem  sechsjährigen  Kinde  ist  manches  nicht  fassbar,  was  von  einem  zehn- 

Psdagofiwa.  4.  Jahrg.  Heft  V.  21 


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jährigreii,  welches  schon  vier  Jaiue  naturgemäs.s  unterrichtet  worden  ist.  sehr 
bald  begriffeu  wird.  Der  Unterricht  moss  sich  dem  Standpunkte  des  Schülers 
anflchlieeBen.  Alle  erste  Bfldnng  geht  von  der  Aaecbanung  aus.  WasderSchfUer 
nicht  durch  die  Sinne  wahniehmea  kanif  das  rnoBB  er  dmch  Vergleichen  mit 

Angeachantem  erkennen  leinen.  Vorstellungen  von  Dingen,  Tliätigkeiten  und 
Eigenschaften,  die  nicht  sinnlich  wahm^mbar  sind,  können  doch  nur  durek 
sinnli<'h  Angeschautes  zur  Klarlieit  kommen.  Von  der  Geburt  eines  Menschen 
an  sorgt  die  Natur  für  die  Ansammlung  sinnlicher  Anschauungen.  Der  Schüler 
besitzt  davon  beim  Eintritte  in  die  Schule  raeist  schon  eine  nicht  unbedeutende 
Menge,  unter  diesen  auch  solche,  welche  als  Grundlage  für  den  ersten  Reli- 
gionsmiterricht  benatzt  werden  können.  Die  Mutter  hat  ihm  Nahrung  gegeben, 
hat  ihn  warm  gebetteti  hat  seine  Schmerzen  gemildert,  hat  ihm  Freade  gemacht 
Das  sind  Anschanonfen  ond  Erfohrangen,  ans  welchen  der  Begriff  „Liebe^  nr 
Klarheit  gebracht  werden  kann.  Die  Klarheit  kann  ond  soll  erhSht  werden 
dnrch  die  Erzählung  von  Liebesthaten ,  welche  von  Mensfdien  in  besonderen 
Verhältnissen  sind  geübt  worden  nnd  die  Lie})e  in  besonders  ergreifender  Weise 
vor  Augen  stellen.  AVas  im  Menschenleben  das  Höchste  ist,  das  soll  im  Unter- 
riclite  in  der  Religion  das  erste  sein. 

Wenn  der  Begriff  „Liebe**  dnrch  Anschauung  und  Vergleichuug  der  Liebe*- 
tiiaten  von  Menschen  zur  Klarheit  gekommen  ist,  dann  mag  der  Blick  des  Kin- 
des auf  den  Vater  aller  Kenschen  hingelenkt  werden.  Natur  nnd  Qeeehichte 
bieten  an  dieser  Betrachtang'  ansehanliches  Material.  Das  Wesen  Gottes  im 
allgemeinen  ist  die  Liebe.  Er  handelt  nach  Gesetzen.  Nur  bei  Beacfatong  der 
Naturgesetze  ist  das  Wol  der  Menschen  gesichert.  Sie  kennen  zu  lernen  nnd 
zum  Wole  der  Menschen  zu  verwerten,  oder  andererseits  sie  möglichst  unschäd- 
lich zu  machen,  ist  eine  der  höchsten  Auttrabcii  des  Menschengeschlechts.  In 
(lott.  der  die  Liebe  selber  ist,  hat  der  Menseii  sein  sittliches  und  intelleetuel- 
les  Ideal.  Schon  in  den  Sagen  und  Mythen  der  Alten  wird  ei-  als  solches  hin- 
gestellt. 

Die  Lehre  von  der  Vergeltung  im  Jenseits,  also  von  der  Unsterblichkeit 
der  Seele  und  der  Belohnung  nnd  Bestraftmgr  nach  dem  Tode  des  Leibes,  llnlet, 

was  die  Vergeltung  anbetrifft,  im  Leben  des  Schülers  genägende  Anknüpfungs- 
punkte. Befolgnng  der  Gebote  von  Eltern  und  Lehrern  findet  ihren  Lohn,  Zu- 
widerhandlungen weiden  bestraft.  Beachtung  der  Naturgesetze  hat  gute  Folgen. 
Übertretung  dei  seli)cn  führt  Unglück  und  Schmerzen  herbei,  l)it^se  nicht  selten 
offen  zutagetretende  Veigeltung  für  da.^  Thun  und  Lassen  der  Menschen  al> 
Erziehungsmittel  zu  l>enutzen,  wii-d  niemand  unangemessen  finden.  Die  Wirk- 
samkeit dieses  Erziehungsmittels  aber  wird  leider  sehr  geschwächt  dadorch, 
dass  die  Folgen  nicht  nnansbleibliche  sind ,  nnd  dass  sie  oft  nicht  als  Folgen 
erkannt  werden.  Nicht  alle  Handlungen  werden  denen,  die  sie  hiemeden 
bestrafen  oder  belohnen  würden,  bekannt;  andere  haben  nicht  unter  allen  Um- 
standen die  gewöhnlichen  Folgen.  Durch  beide  Umstände  wird  die  Wirkung 
der  Vergeltung  als  eines  Erziehungsmittels  abgeschwächt.  Sie  würde  für  die 
Übung  im  sittlichen  Handeln  und  dadurch  für  die  Stärkimg  der  sittlichen  Ki-att 
Grosses  bewirken  kiinnen,  wenn  sie  nach  jeder  That  ausnahmslos  und  dem 
Thäter  erkennbar  eintrllte. 

Für  manche  Menschen  gibt  es  schon  hienieden  eine  solche  Vergeltung; 
aber  nur  für  di^'enigen,  deren  Gewissen  so  zart  besaitet  ist,  dass  nach  jeder 


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'S?:?.  ■ 


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durcli  Leidenschaft  oder  Übereilnnj?  herbeigetührten  CbertretnDg  eine  Dishar- 
monie einti'itt,  welche  Scham  und  inneren  Schmei*z  erzpufft.  Dom  Gemüthe 
de«  Schülei-s  diese  empfindliche  Besaitung  anzueignen,  ist  eine  schwierige,  aber 
schöne  Aut^jahe  für  den  Erzieher.  Um  sie  zu  »«rfüllen .  muss  er  auf  alle  mög- 
hciie  Weiße  den  Bück  schärfen  für  das  Sittliche  und  Schöne,  und  das  Wol- 
giefidkn  to  Sehilen  an  demselben  zn  erMeii  sneiheii.  Ist  es  gelungen,  den 
ZBgling  zn  gewSfanen,  nicht  ohne  ürthefl,  nioht  ohne  miigonif  dee  Onten  ond 
SdiSnen,  nieht  ohne  IQa&bUlignn;  des  BSeen  nnd  HMadiehen  die  Dinge  nnd 
Hiätigkeiten  annschauen,  so  leite  ihn  der  Erriieher  weiter  an,  nach  jeder  eige- 
nen Handlung  anch  diese  vor  sein  Gewissen  zn  stellen^  und  er  hat  ihm  dazu 
geholfen,  dass  er  sich  selber  richtet,  und  also  eines  :indern  Richters  nicht 
mehr  bedaif.  Ein  Mensch,  welcher  diese  Stute  des  sittlichen  Lebens  erreicht 
hat.  wird  deshalb  noch  nicht  aufhören,  in  seinen  Handlunf^en  zn  irren,  aber  er 
<l«rf  mit  Geliert  sagen:  „Und  ob  ich  auch  aus  Schwachheit  telüe,  hen-scht  doch 
In  mir  die  Sünde  niebl.'* 

Efai  Henadi,  weleher  sich  nach  jeder  Ü1)ertretang  selber  richtet,  welcher 
m  also  andi  btlsst,  wird  des  Hinbliekes  auf  das  Jenseito  fHr  sein  Strdien  nach 
«ttlir  lier  Vervollkommnung  nicht  bedürfen;  auf  niedrigerer  Stufe  der  Sittlich- 
keit aber  kann  der  Gedanke  an  das  ewige  Leben  zur  Zügelung  selbstsüchtiger 
Begierden  das  Ihris-e  beitragen,  namentlich  bei  solchen  Menschen,  die  durch 
Sinnengenuss  die  Stimme  des  Gewissens  zu  betllnljen  .snchen.  Ihnen  mag  der 
Gedanke,  dass  der  Sinnengenuss  mit  dem  leiblichen  Tode  sein  l^jide  en-eichen 
wird,  und  dass  dann  Jeder  seinem  Gewissen  wii*d  zuhören  müssen,  einen  heil- 
samen Schrecken  ^aflOssen. 

Hier  scheint  mir  die  geeignete  Stelle  zn  sein,  einem  Einwurfe  zn  beg^ 
Ben,  der  in  manchem  Leser  schon  fHlher  mag  geweckt  worden  sein,  dem  Ein- 
wurfe nämlich:  Ist  denn  ein  Mensch,  welcher  aus  Furcht  oder  Hoffnung  das 
Böse  nnterhlsst  oder  das  Gute  thut.  ein  sittlidier  Mensch?  Wir  antworten  mit 
dein  Frager:  Nein!  Aber  es  wird  Jedermann  zugeben,  dsiss  wir  der  Furcht 
und  Hoffnung  als  Erziehungsmittel  zur  Sittlichkeit  heute  und  wol  für 
alle  Zeit  nicht  entbehren  können. 

Vielleidit  kann  man  auch  dasjenige  Eraiehungsmittel  zur  Sittlichkeit, 
welches  wir  jetzt  noch  andeiten  wollen,  unter  diejenigen  der  „Furcht  und  Hoff- 
VMBg'^  zihlen;  aber  man  wiid  es  dann  jedenfiills  zn  den  reinsten  dieser  Art 
rechnen.  Dieses  Endehnngsmittel  ist  die  Wecknng  des  Nachdenkens  Uber  die 
Fdgen  unserer  Thaten,  nicht  über  diejenigen  Folgen,  welche  sie  für  uns.  son- 
dern ül>er  diejenigen,  welche  sie  für  die  Menschheit  haben  kr»nnen,  welches  mit 
dem  Bewusstsein  unser«  Fortlebens  in  der  Menschheit,  unserer  Unsterblichkeit 
im  IMesseits  zusammenfallt.  .Jede  un.serer  Thaten  hat  ihre  Fidgen.  nicht  nur 
für  uns,  sondern  auch  tür  unsere  Umgebung.  Die  gute  wie  die  böse  That  wird 
auf  unsere  Mitmenschen  und  anf  die  menschlichen  Zustände  der  Gegenwart  und 
der  ^onft  fluen  Einflnss  ansflben.  Unsere  Thaten  sind  nicht  ein  Abgeschlos- 
snes,  sie  leben  fort  in  der  Menschheit  „Das  eben  ist  der  Finch  der  bSsen 
That,  dass  sie  fortzengend  Böses  mnss  g^ftren.*'  Ebenso;  Das  ist  der  Segen 
jeder  guten  That.  dass  sie  fortwirkend  Gutes  mnss  erzeugen-  Das  B9se  an 
sich  und  für  sich  liebt  kein  Mensch,  kein  Mensch  hat  Gefallen  an  dem8ell)en. 
Weil  e«  böse  ist,  sondern  nur,  weil  es  im  Augenblicke  der  Ausübung  desselben 
der  selbstsüchtigen  Begierde  Befiiediguug  verspricht.   W  enn  in  dem  Augen- 

21» 


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—   312  — 


■blicke,  in  wclcluiii  «'in  Monscli  (luicii  die  Heg^ierd«'  zu  einer  bösen  That  g-e- 
reizt  wild,  der  Ciedanke  klar  vor  seine  Seele  träte:  „Deine  Tliat  wird  fort- 
leben und  fortlebend  immer  wieder  Böses  erzeugen,'*  er  würde  sie  vielleicht 
nnteriasseii. 

Aber  mag  auch  dieaes  EittehnngBiiiittel  der  „Furcht  nnd  Hoibiiniir''  «Hiea 
der  edebten  sefner  Art  sein,  solche,  welche  in  diese  Kategorie  gar  aidit  ge- 
hören. Bind  immerhin  die  besseren. 

Alle  Erziehung  beruht  in  der  richtigren  Entwickelung  der  Anlagen  des 
Zöglings  und  in  der  zwerkniiissicf^n  T.eitung  und  Benutzung  seiner  Triebe. 
Einer  der  stürkt^ten  und  wiclitigsten  dieser  letzteren  ist  der  Thätigkeitstrieb. 
Sorgt  der  Erzieher  dafür,  dass  diesei-  Trieb  seines  Zöglings  sich  auf  Nützliches 
und  Gutes  richtet,  so  gewinnt  er  ihn  für  das  Thun  des  Nützlichen  und  Guten. 
Soll  diese  Sorge  gelingen,  so  mnss  man  es  Tersteheni  dem  Kinde  die  Thlltig- 
keit  anziehend,  lieb  zu  machen.  Ein  Kind  ahmt  gern  nach,  aber  die  bloese 
Nachahmung  ist  nicht  im  Stande,  es  dauernd  sn  ftsseln;  es  ermüdet  bei  d«r^ 
selben.  Eine  Tbatigkeit,  welche  dauernd  fesseln  soll .  nmss  eine  schöpferische, 
muBs  Selbstthätigkeit  sein.  Deshalb  ist  die  Bildung  der  Phantasie  von  so  hohem 
Werte,  Ist  diese  so  weit  entwickelt,  das«  j^ie  dem  Zöglinge  bei  einer  nach- 
ahmenden Thätigkeit  über  diese  hinaus  ein  Ziel  zeigt,  so  wird  das  Streben 
nach  deinsel])cn  rege  und  treibt  zu  sellistilnditrem  schöpferisch,  n  liandeln.  wel- 
ches alles  um  uns  her  vergessen  macht.  Darin  berulit  auch  der  hohe  Wert  des 
entwickelnden  Unterrichte.  Er  zeigt  dem  Schfiler  in  Jedem  Angenblieke  ein 
nenes  Ziel  nnd  fesselt  ihn  dadurch  voll  nnd  ganz. 

Eines  der  bedanerlichsteA  Hindemisse,  welches  sich  der  Weckmig  und 
Anreizung  zur  Selbstthätigkeit  im  Denken  und  Handeln  entgegenstellt,  ist  der 
Umstand,  dass  die  Schnle  so  wenig  im  Stande  ist,  der  Individnalität  der  ein- 
zelnen Schüler  Eeclinung  zn  tragen.  Wo  die  natürliche  Beanlagnng  fehlt,  da 
ist  es  sehr  scliwierig,  Interesse  für  einen  (Tee-enstand.  Lust  nnd  Liebe  fiir  eine 
Thätigkeit  zu  wecken;  zu  .schöpferisclier  ThätiL^keit  anzuregen,  ist  da  jraiiz 
unmöglich.  Könnten  wir  jedem  Zöglinge  immer  eine  seinem  Ingenium  ent- 
sprechende Ari)eit  geben,  so  würde  jeder  diese  Thätigkeit  mit  Frenden  ergr^« 
fen,  zn  hohen  Zielen  gelangen  nnd  im  Thnn  des  Rechten  taglich  mehr  erstarken. 
Wie  sehr  es  daher  geboten  ist,  der  Ihdividnalit&t  der  ZSglingc  betreflb  ihres 
Bildungsganges  möglichst  Rechnung  zu  tragen,  liegt  auf  der  Hand. 

Nach  unserer  Darstellung  liegen  die  reinsten  und  wichtigsten  Erziehungs- 
mittel zur  Sittlichkeit  nicht  auf  dem  (lebiete  der  lieligion.  Wer  uns  darin  nicht 
isnstinnnen  sollte,  der  ist  vielleicht  in  dem  Irrtlmme  befans-en.  dass  alles,  was? 
wir  in  dem  Buche  lesen,  welches  die  Christen  als  die  Quelle  ihrer  C'onfessioii 
betrachten,  zur  Religionslehre  gehöre,  dass  sie  also  auch  die  Sittenlehren,  weiche- 
in grosser  Zahl  in  der  Bibel  enthalten  sind,  zur  Keligiou  rechnen.  Die  heutigen 
Christen  shid  dnrch  ihren  Bildungsgang  onwillkttrlieh  dazn  gekommen,  das 
Gebiet  der  Beligion  als  ein  Gebiet  zn  betrachten,  welchee  dasjenige  der  Sitt> 
lichkeit  einsehlicBse.  Sie  denken  bei  dem  Ansdmcke  „religiöser  Mensch"  ge- 
wöhnlich zugleich  an  einen  sittlichen  ^lensehen.  Weit  eher  aber  dürfte  man 
berechtigt  sein,  in  jedem  sittlichen  ]Menschen  zugleich  eine  religiöse  Person  zu. 
erblicken,  l'nser  Ih'ldnngrsfrang  wenifrstens  spricht  dafür.  Wir  alle  sind  von 
.lugend  an  daran  gewidint.  <las  (nite  zu  thun.  um  (lott  wol  zu  gefallen,  nnd  in 
ihm  das  Ideal  der  Sittlichkeit  zu  erblicken.   Es  dürfte  daher  nur  sehr  selten 


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vorkommen,  dass  ein  sittlicher  Mensch  nicht  an  Gott,  nicht  an  eine  überirdi- 
sche Macht  glaube,  von  welcher  er  sich  ablüingfis:  fühlt.  Daprearen  kommt  es 
iiiclit  e:ar  selten  vor.  dass  reliariöse  Menschen,  also  Menschen,  welche  die  ei;»;eiit- 
lif;li  reli^^iiiseu  PHicliten  aufs  strengste  ertüUen,  doch  unsittlich  sind,  sich  nicht 
sdieaeu,  heimlich  ihren  Lüsten  zu  früliuen  und  gegen  das  Woi  ihi'er  Mit- 
■enschen  za  intrigoiren,  namentlkb  wesn  dieselben  einen  andern  Eatechismtts 
gdemt  haben.  Freilich  erschrickt  der  einfache  Hensdh,  wenn  er  erfthrt,  dass 
eine  Pereon,  welche  im  Beten,  in  händieher  Andaeht,  in  ftommen,  salbungs- 
vollen Eeden.  im  Kirchengehen,  Beichten,  Abendiiialilsgenoss  etc.  ein  Übriges 
thnt,  .«lieh  nebenbei  nicht  gescheut  hat,  Witwen  und  Waisen  zn  berauben,  aus 
d^r  Xoth  der  Unglücklichen  \'ortheil  zu  ziehen  u.  s.  w.  Man  begreift  nicht, 
wie  das  möglich  sei.  ]>ieses  Niclitbe^i-reifeu  geht  aus  dem  vorhin  berührten 
Irrtliume  hervor.  Sieht  mau  ein.  dass  die  l^tlichten,  welche  dem  religiösen  Ge- 
fühle entspringen,  von  den  laichten  der  Sittlichkeit  veiiächieden  sind,  so  hat 
dieEradidnnng,  dass  streng  kirehllehe  Hauchen  Dicht  selten  zugleich  onsittlidi 
M,  dmrehans  nichts  Aofftdlendes.  Einen  andern  Irrthnm,  der  leider  anch  ein 
«eitvertoeitflter  ist,  hinsnnehmend,  stellt  sich  diese  Thatsache  sogar  als  leicht 
begreiflich  dar.  so  da.ss  man  geneigt  werden  kannte,  hinter  jeder  anssergewöhn- 
li<  lieu  äosseriichen  Frömmigkeit  Unsittlichkeit  zu  vermnthen.  Dieser  zweite  Irr- 
thum besteht  darin.  d:i!^s  man  irlaubt,  durch  die  vorhin  genannten  religiösen 
Handlungen  (rott  witliretUllig  werden  zu  können,  ihm  gleichsam  einen  Dienst 
damit  zu  erweisen,  weh  her  dazu  bereciitige,  auf  sein  Wolgefallen  rechnen  zn 
dürfen.  Dass  dieser  lirthum  vorhanden,  beweist  hinlänglich  die  Thatsache, 
da»  man  jene  Handlungen  vorzugsweise  „Gottesdienst"  nennt  Liegt  es  nun 
bei  dem  kirchlich  Frommen,  der  in  diesem  Irrthome  befangen  ist,  nicht  nahe, 
den  er,  nidit  Im  Stande,  seine  selbstsüchtige  Begierde  m  zOgelii,  nach  Be- 
gehung einer  unsittlichen  That  seinen  Eifer  in  der  Erfüllung  ftnsserlicher  reli- 
giö^ier  Pflichten  verdoppelt  und  nnn  sich  der  Hoft'nung  hingibt,  dass  sein 
erhöhter  Eifer  auf  der  einen  Seite  die  VersäumnLs  auf  der  andeni  wett  machen 
werde?  Diese  Hoftnnng  wird  bei  dem  (ililubigen  noch  beMUiders  vei-stärkl  durch 
die  Lehre  von  <ier  \'erdorbenheit  der  Menseliennatur  und  von  der  stellvertre- 
tenden Genngthuung  durch  Christum.  Wenn  nicht  die  Sittlichkeit  diuch  die 
Beligiositüt  geradem  soll  geschädigt  werden,  so  mnss  man  namentlich  fttr  die 
Besftitigong  des  zweiten  Iirthnms  thfttig  sein;  es  mnss  jedermann  einsehen 
lernen,  dass  die  genannten  ftosserlichen  reUgiCsen  Handlungen  an  und  fOr  sich 
dorchaus  nichts  Verdienstliches  sind,  sondern  nur  dann  einen  Wert  haben,  wenn 
Mittel  zur  Wecknng  imd  Stärkung  eines  sittlichen  Lebens  sind. 

(ribt  uns  aber  auch  die  Relitrion  als  solche  wenige  !\Iittel  zur  \  ersitt- 
li'  liinii;  der  Menschheit  an  die  Hand,  so  stellt  sie  uns  doch  in  dem  riehtig  ver- 
Ätaiidenen  Begrifte  ..Gott  -  das  Ziel  nioralisehen  Strel»ens.  da.s  Ideal  der  Sitt- 
lichkeit vor  Angen,  dessen  tiefste  Erklärung  wir  in  dem  Woite  des  Apostels 
Johannes  besitzen:  „Qott  ist  die  Liebe'';  und  wir  werden  wolthnn,  die  Erziehnng 
Sur  Sittlichkeit  in  der  Yolksschnle  stets  mit  diesem  Begriffe  zn  verknfipfen. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  sefaiesdich  noch  einmal  den  Stoff,  welchen  die 
Volksschule  zur  Weekung  und  Belebung  sittlicher  Gesinnung  ZU  behandeln  hat, 
niul  die  Art  und  \\  eise  dieser  Behandlung  nach  den  Fordeningen  der  Pädago- 
gik,  mid  vergleichen  wir  diese  in  wenigen  Worten  mit  den  Forderungen  der 
kirchlichen  Theologie  l 


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—   314  — 


Im  Oleiclnüsse  vom  bannherzigen  Saiuarit^T  ist  der  Stoit  kiii  z  und  bündig- 
bezeiclmet  mit  den  Worten:  „Du  sollst  Gott  helfen  von  g^anzem  Herzen  und 
deineu  Nächsten  wie  dich  sdbst.*^  Diese  zwei  Gebote  dem  Sehitler  mfig^lielist 
klar  nnd  nnvergesslieh  zu  machen,  das  ist  in  reUgilto-sitÜicher  Beziehung  die 
Aufgabe  der  Yolksschnle.  Dabei  darf  aber  nicht  veigessen  werden,  dase  die 
Liebe  zn  Gott  sich  nur  in  der  Liebe  zn  den  Menschen  en%'eisen  lässt.  ,.So 
jemand  spricht:  Ith  liebe  Gottl  und  hasset  seinen  Bruder,  der  ist  ein  Lügner." 
Um  ilif'Bf  Aufg-abo  dor  reliiriös-sittliclion  Erziohnnjr  mög:lichst  vollständig  zu 
lösen,  niuss  der  .Schüler  luitreleitet  werden,  in  seinen  Lebenskreisrn  das  sitt- 
liche nnd  unsittliche  "Wrlialten  zu  beobachten,  und  sein  (iemüth  niuss  diinli 
Unterriclit  und  Erzicliuufi  so  gebildet  werden,  dass  der  Anblick  des  Ciuten 
Frende  in  demselben  erregt,  der  Anblick  des  Schiebten  dagegen  es  mit  Uias- 
faUen  erfUUt.  Dazu  kSnnen  schOne  Darstellnngen  guter  Handlnngen,  sowie 
knrze  schSne  Anssprflehe  ftber  onsere  Pflichten  wesentlich  beitragen,  nnd  sie 
sind  deshalb  dem  Gedttchtnisse  nnd  Gemüthe  tief  einzuprägen.  Bei  der  Aus- 
wahl derselben  soll  man  auf  unser«*  Iveligionsorknnden  Rücksicht  nehmen,  aber 
sie  sollen  ebensowenig  wie  die  Darstellungen  über  Gott  allein  aus  ihnen  fire- 
noninien  werden.  Die  Wichtigkeit  der  Sache  nnd  die  Gediegenheit  der  Foiui 
müssen  bei  dei-  Auswahl  entscheiden.  Vor  {'berladunp  dos  GedUchtnisses  hüte 
man  sich  und  strebe  lieber  nacii  immer  tieferer  Durclidjingung  des  Gelenitenl 

Was  verlangen  dagegen  die  Kirchen  von  der  VoUEHchBle?  Schon  a«f  der 
Unterstufe,  welche  SchfUer  von  6 — 8  Jahren  enthält,  sollen  etwa  20  UbUsde 
Geschichten  eingepfftgt  werden.  Diese  Geschichten  fBhren  dem  Sdiffler  Zi- 
stände  vor,  für  die  er  in  seiner  Erfahrung  gar  keine  Analogien  findet,  in 
welche  er  sich  also  gar  nicht  hineindenken  kann.  Manche  derselben,  z.  B.  die 
Traumdeutungen  .Toset's.  Moses  Flucht  etc.  sind  für  das  sittliche  Leiten  gar 
nicht  fruchtbar  zu  machen  bei  den  Kleinen,  andere,  z.  B.  die  Uiit'erung  Isaaks, 
der  Brudermord  Kains.  der  Veikauf  Josefs,  stellen  Handlungen  dar,  dereo 
iScheusslichkeit  abhalten  würde,  sie  einem  Kinde  zu  erzählen,  wenn  sie  uiclit 
in  der  Bibel  stünden.  Ansserdem  soUmi  diese  Kinder  mehrere  Kirehealiede^ 
Strophen,  Psalmenverse,  Katechismnsstficke  nnd  Sprüche  answendi;  lemsn,  die 
dem  Kinde  gar  nicht  Uar  gemacht  werden  kSnnen.  Der  Lehrer  denke  nnr  an 
Stellen  wie:  „Unser  Wissen  nnd  Verstand  ist  mit  Finsternis  umhüllet,**  .Xicht 
vom  nngebomen  Liclite,''  etc.  Was  soll  das  Kind  mit  solchen  WortschSUen? 
Kimnen  sie  einen  förderlichen  Einflnss  auf  sein  Gemüth  liabenV  Es  ist  nicht 
niöß-iich.  aber  sie  werden  seinen  (ieist  und  sein  Gemüth  abstumpfen.  Hei  man- 
chen biblischen  Gescliichten,  Liederstro])hen  und  Katechismusstücken  wird  der 
Lehrer  sogar  wünschen,  dass  die  Schüler  sich  bei  einzelnen  Steilen  derselben 
nichts  denken  möchten.  Warum  denn  gerade  solche  Stoffe  für  den  Beligioni» 
Unterricht  wühlen?  Der  Pfairer  nnd  Püdagoge  Ch.  B,  L.  Natoip  sagte  im 
Jahre  1804:  „Der  Weg  zun  Tempel  der  Wahrheit  nnd  Tugend,  der  lings 
Sinai  und  Horeb  führt,  ist,  aufs  gelindeste  gesagt,  ein  Umweg,  nnd  in  Deutsch- 
land braucht  man  nicht  durch  den  Vorhof  Jndäas  dahin  einzugehen." 

Widmen  wii-  scliliesslich  der  Art  und  Weise,  wie  im  KeligionsuntemVlite 
nach  den  Foi-derungen  der  Pädagogik  verfaliren  werden  soll,  nocli  einige  Woite. 
Sie  fordert,  dass  der  Lehrer  Uberall,  wo  es  möglicli  ist,  entwickele.  Der  Pä- 
dagoge lässt  die  Schüler  sehen,  hüien,  fühlen,  walimebnien,  so  weit  iluu  das 
müglich  ist;  er  weckt  die  Erinnernng  an  frühere  ühnlicfae  Wahmehmungcn 


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—  316  — 

nnd  theilt  ihnen  Eifabrung'en  andortT  mit.  veranlasst  sie.  sicii  über  da.s  Wahr- 
iE-enoniniene  nnd  Eniptnndene  auszusiirechen.  stellt  alles  zusaninien.  Hlsstt  ver- 
gleichen nnd  verhilft  durch  Scheiden  imd  Verbinden  den  Schülern  zu  Begriffen, 
Segehi,  Gesetzen,  zur  Walurheit  Die  Schüler  werden  dadurch  in  steter  Selbst* 
tUUlgkeit  erhalten  und  die  Kraft  im  Denken  und  Wollen  wachst  dnich  die 
Übung.  Dabei  kann  es  nicht  ansbleiben,  dass  sich  ihrem  Gedächtnisse  die 
Stoffe,  die  Gegenstände,  wie  die  Thateachen  nnd  Walirheiten,  welche  dem  Un- 
terrichte zu  Grunde  lagen  oder  als  Ref^nltat  desselben  ausgesprochen  werden, 
lebendig:  und  fest  einprHg:en.  Sn  erfüllt  der  Unterricht  seine  höchste  Autj^abe, 
er  weckt  und  stärkt  die  mensciiliche  Kraft.  Was  Anlage  und  Möglichkeit  war, 
wird  zu  Kraft  und  Wirklichkeit. 

Die  orthodoxen  und  ultrumoutaneu  Theologen  nennen  ein  solche  Art  und 
Weise  des  Religionsnntenidits  nicht  selten  geradezu  „Teofelswerk'*.  Sie 
ssgeii:  Der  Xenseh  ist  nur  zum  Bteen  geneigt»  seine  Anlagen  sind  Yerdorben, 
er  geht  aitHieh  in  Ghronde,  wenn  nicht  dnrch  den  Oebrandi  der  kircbUchen 
Gnadenmittel  das  Erbarmen  Gottes  ihm  zngelenkt  wird.  Nicht  aus  »einem 
Innern  kann  dem  Menschen  das  Heil  kommen,  nur  von  der  Kirche.  Nur  das 
.\ufnehiuen  der  Heils  Wahrheiten  der  Kirche,  das  o^lunbi^e  Annehmen  der  con- 
fessionellen  Lehren  und  der  phlubifre  (iehranrh  der  von  der  Kirche  verwalteten 
Heüs^ter  kann  ihn  Gott  wol^efiillig  machen.  Er  braucht  die  Wahrheit  nicht 
zu  suchen,  er  kann  sie  aus  sich  auch  nicht  tinden ;  sie  ist  da,  die  Kirche  besitzt 
sie.  Der  Ooeliie'sidie  Sats:  nWas  Tai  den  Vitem  du  ererbt,  erwirb  es,  um 
es  n  beattaea*',  ist  den  OUnbigea  eine  Thmrbeit.  Der  Mensch  kann  ond  soll 
nach  ürai  Wüten  nichts  thnn  als  aufhehmen,  glauben  und  gehurchen.  Die 
entwickelnde  Methode  bildet  nach  ihrer  l^Ieinnng  hochmUthi^e,  unlenksamei 
z^eifelsüchtige  Menschen,  welche  schliesslich  nicht  einmal  die  Autorität  der 
Kirche  anerkennen.  Die  Heils  Wahrheiten  also  müssen  frefreben  und  in  die  har- 
ten Köpfe  und  Herzen  hineingezwnnpen  werden;  zu  verstehen  braucht  man  sie 
nicht,  begriffen  können  sie  nicht  wcnU  n.  Das  ist  für  Lelirer  und  Schüli  i  .  mei- 
nen sie,  eine  leichte  Arbeit  und  gewöhnt  den  Menschen  au  Gehoi-sam  und  Un- 
terwfirfigkeit. 

Wo  die  Wahrheit  liegt»  ob  in  der  kirchlichen  Theologie»  oder  in  der  Päda- 
gogik» ist  fttr  den,  welcher  das  Fortschreiten  der  Menschheit  in  Bildung  und 

Gesittung  beobachtet  hat  nnd  w&nscht,  keine  Frage  mehr.  Vernunft  und  Er- 
fahrung  entscheiden  für  die  Pädagogik.  Die  Wissenschaften  blühen  erst,  seit- 
dem die  kirchliche  Theologie  nicht  mehr  die  freie  Forschung:  hemmt.  Wie 
weit,  oder  vielmehr  wie  wenig-  weit  wii-  mit  dt-n  Lehren  und  mit  der  Methode 
der  Kirche  in  Betretf  der  Sittlichkeit  gekomiiD  ii  sind,  das  bezeup:en  die  Straf- 
predigten der  kirchlichen  Theologen  selbst.  Hat  die  kirclüiche  Theologie  in 
15  Jahrhfuderten  die  Christenheit  auf  sittiichan  Gebiete  nicht  weiter  fthren 
können,  so  hat  man  doch  wol  ein  Recht,  an  der  Unfehlbarkeit  ihrer  Mittel  za 
iMeifetn  and  die  HoAiong  zu  hegen,  dass  der  Weg,  welcher  zu  der  heutigen 
Stufe  geistiger  Bildung  geführt  hat»  anch  wol  auf  sittlichem  Gebiete  zu  höhe- 
ren Stufen  leiten  werde. 


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Ober  den  Wert  der  Jugendspieie. 

Von  Dr.  Ewald  jääitfe- Baris. 

m 

Das  vegetative  System  ist  die  bleibende  Qmidhige  auch  fnr  dieMoskel- 

uud  NervenbeÜiätigung,  und  von  seiner  Gesundheit  hängt  zum  grossen  Theile 
die  Krilftig-keit  und  Munterkeit  der  letztei*en  ab.  Diese  Muskel-  und  Nerven- 
bethätigung-  regt  sich  bekanntlirli  bald  mit  einer  gewissen  ^bstständigkeit  und 
das  geschieht  zuei-st  in  der  h'oriu  de.s  S})ieh's. 

Der  Bej^-ritV  Spiel  ist  ein  ziemlich  elastischer.  Wir  nennen  tkst  jedwede 
Beschäftigung  der  Kleinen  Spiel,  wie  wir  auch  die  planvollen,  willkürliclieii 
Bethfttiguugen  nnserer  reiferen  Jugend,  za  «denen  bereite  eine  gewisse  Muskel- 
kraft vorhanden  nnd  geübte  Sinnesth&tigkeit  yoransgegangen  sein  mnss,  mit 
dem  Namen  Spiel  beseiehnen,  sobald  dies  der  Jagend  Lust  TerDrsacht  Wir 
konnten  Spiel  defiiüren  als  jene  sneirst  nnwfllkOriichen  Bethätignngen,  die  aieh 
dann  zu  willkürlichen  erheben  und  von  denen  jeder  Act  Lust  ist. 

Gewölmlich  denkt  man  bei  dem  Xamen  .Tiis'pndspiel  nur  an  eine  be- 
schränkte Anzahl  von  Spielen;  auch  ist  man  sich  im  aligemt-iiifii  irar  nicht  des 
Wertes  derselben  be\vu.s.st .  wie  dies  deutlicli  <lie  arge  \'ernaciiliissie:unir  der 
gemeinsamen  Jugeudspiele  in  Deutsclüand  zeigt.  Und  doch  wird  sich  jeder 
unserer  Leser,  dem  ehemals  das  Gltiek  dieser  heiteren  Unterhaltongen  geboten 
wurde,  mit  Vergnttgen  der  Standen  erinnern,  während  weleher  er  sieh  den 
unschuldigen  und  köstlichen  Amusemento  des  Spieles  hingab.  Soweit  unser  Ge- 
dächtnis zurückreicht,  vielleicht  bis  zu  der  Zeit  der  ei-sten  Kinderschuhe  — 
sehen  wir  uns  in  den  anschuldigen,  harmlosen  Freuden  der  Jugend.  Oder  wo 
gäbe  es  jemanden,  der  an  der  spielenden,  jauchzenden  Kindermenge  vorüber- 
g-inge.  ohne  dass  er  sie  mit  wärmstem  Interesse  betrachtete  und  bei  sich  selbst 
sagte:  ,,Wie  glücklich  seid  ihr  noch!  0.  könntet  ihr  es  immer  bleiben!"  Poch 
die  wenigen  Jugendjahre  rauschen  schnell  dahin,  bald  gehören  sie  nur  nm-h 
den  vergangenen  besseren  Tagen  an.  Bei  dem  heutigen  schnellen,  sich  förmlich 
jagenden  Cnlturleben  Ueibt  unserer  Jugend  su  wenig  Zeit;  wir  mfissen  daher 
Sorge  tragen,  diese  zu  vertängem  oderr  was  besser  ist,  sie  den  Kindern  wert- 
voller zu  machen.  Und  wir  können  das  um  so  leichter,  als  sich  mit  demWert- 
yoUen  das  dem  Kinde  Angenehme  verbindet.  Die  Jugend  fragt  nicht  nach 
einer  Definition  von  Spiel:  doch  fragen  wir  sie:  ^Wollen  wir  ein  wenig  spie- 
len so  lu'iren  wii-  sie  aus  einem  j^lunde:  ..(),  ja.  ja.  bitte!"  Da  ist  kein 
Zwang,  sondern  treiester  Wille:  da  ist  kein  mürrisches  Gesicht,  sondern  heiter- 
stes Kinderantlitz!  Jeder  Act  des  Spieles  ist  der  Jugend  eben  Lust,  und  unter 
steter  Lust  wird  sie  zui*  Bethätiguug  und  somit  ziu*  Arbeit  geführt.  Wo  köuu- 


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T»  ii  wil-  für  heuW  I'heile,  Erzieher  wie  Zügüüif,  einen  besseren,  uaturliclieren 
and  bequemeren  Weg  linden? 

Das  Spiel  setzt  voraas,  dass  die  Nerven-  und  Moskelbewegung  bereita 
eine  gewiaae  Selbatsttodigteit  erreicht  habe,  nnd  dasu  war  eine  sweckmassie^ 
■nd  für  das  Wachsthimi  ansreioliende  EnOhmg  lOadg. 

Wie  schon  gesagt  ist  der  Wert  der  Jngendspiele  nicht  hinreichend  be- 
kannt; die  weitaus  grOsste  Zalü  der  Eltern  nnd  anch  der  Lehrer  sieht  dieselben 
mit  wenig:  Wertschätziino:  an.  Die  einen  sagen,  dass  sie  ganz  überflüssig 
seien:  die  andern,  daas  sit-  zu  weiter  nichts  dienen,  als  die  Jugend  ein  wenig 
zu  l/e.<5cliiit"tiiren;  nocli  andere  halten  sie  ans.«('hlies8lich  für  f^rholungsniittel. 
N'aiueutlich  in  Deutschland  ist  inan  peinlich  daiaut  bedacht,  die  für  das  Spiel 
aif  dem  Stundenpläne  etwa  angesetzte  Zeit  von  zehn  oder  fünfzehn  Miuuten 
ja  nicht  nm  eine  Ifinnte  zn  verlängern.  Dies  wird  mathematisch  genau  nach 
der  denteehen  üntereffidersahr  abgewogen.  Ich  bin  anch  ein  Freund  der  Pfinkt- 
fiehkeit,  wfinsche  aber  nicht,  daes  in  dieser  Weise  gegeizt  nnd  der  Jugend  so 
gar  fielten  das  Vergnügen  des  gemeinschaftlichen  Spieles  geboten  werde. 

In  den  deutsclien  Stildten  ist  das  ^esellijie  Kinder-  und  Jugendleben  sehr 
beschränkt.  Die  besseren  Familien  halten  si(  Ii  tlii'  die  Kleineu  Kindermädchen; 
die  reifere  Jugend  muss  entweder  Bänke  drucken  oder  treibt  sich  wild  umher. 
Die  Kindermädchen  frequentiren  mit  den  Ptlegebefohlenen  entweder  langweilige 
Wege,  oder  sie  nehmen  anf  irgend  welcher  Bank  Platz,  um  eine  ihnen  uütz- 
Ikdie  Arbeit  sn  beginnen  oder  fortansetzen.  Man  nimmt  keine  Rüekii^At  auf 
Whid  nnd  Sonne;  das  Eindennftdchen  strickt,  die  Pfleglinge  beschftftigen  sich 
nach  ihrer  Weise;  sie  spielen,  aber  es  fehlt  die  Geselligkeit  nnd  die  verstSnd- 
uisT«^  Leitung,  daher  der  vollkommene  Nntzen.  Man  könnte  es  so  einfach 
haben;  es  erforderte  niclits  als  einen  günstigen,  öffentlichen  Platz,  geschützt 
V'ir  Wind  und  Wetter,  und  —  —  vor  Kastengeist.  Donh  oline  diesen  letzte- 
ren ueht  e.s  in  Deutschland  nicht.  Der  Herr  Bürgermei.ster  kann  doch  niclit 
mit  dein  Expedienten  und  der  Herr  Mediciualrath  nicht  mit  dem  Chiruisren 
Sprechen:  wie  kann  man  da  verlangen,  dass  die  Kinder  zusauuuen  spielen V 
Durch  sokhea  kleSnlichen  Sinui  der  die  Fran  X.  mehr  wert  aehi  isast  als  die 
Frau  T.,  wird  das  patriarebaiische  Familienleben  wie  anch  das  gemeinschaft- 
liche Kinder-  und  Jugendleben  ganz  und  gar  verhindert  nnd  der  Kastengeist 
mit  seinen  anekelnden  und  zerfressenden  Eigenschaften  der  kleinen  Wdt  un- 
bewosst  eingeimpft,  um!  —  das  alte  Lied  bleibt  ewig  neu. 

In  den  D<>rfern  fehlt  nun  zwar  nicht  das  gesellis"e  Kinder-  und  Jugentl- 
leben.  dafür  alx'r  jede  I^eitung  und  Beaufsichtigung,  und  dabei  gibt  es  S(t  wenig 
zweckmässige  «lugendspiele ,  dass  die  Jugend  nur  geringen  Nutzen  aus  ihrer 
freien  Beschäftigung  zieht.  Überdies  liält  das  Landvolk  die  Jugendspiele  im 
gibistigaten  Falle  für  völlig  ttberflfissig,  und  weiss  nicht,  dass  sie  eine  Kette 
TOB  pädagogisch  wichtigen  Beschäftigungen  sind. 

In  den  Städten  hat  man  zwar  Me  nnd  da  angefangen,  die  Kleinen  in  Klein- 
kmderschulen  nnd  Kindergärten  ein  wenig  zn  beschäftigen  und  das  allerdings 
meist  in  spielender  Weise.  Was  ist  das  aber  für  so  viele?  Dort  wie  anf  dem 
Lande  wSre  auf  einfachem  Wege  dem  Manirel  y.n  begegnen,  wenn  sieh  Personen 
landen,  die  für  Verbreitung  und  weitere  Ausbildung:  zweckmässiger  Jugend- 
spiele Sorge  tragen  möchten.  Das  würde  besser  sein,  als  unsere  Jugend  in 
fromme  Jönglingsvereine  und  Nachmittags-  und  Abendgottesdienste  zu  treiben. 


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Es  ist  iiiclit  der  Zweck  dieser  Zeilen,  die  zwcckniiLssigsten  Jiigeiidspiele  als 
sololif  liier  namhaft  zn  machen,  oder  von  ihnen  eine  Beschrt  ihnng^  zn  gi-eben. 
Zu  diesem  Zwecke  findet  der  Leser  das  Material  in  verschiedenen  Schriften. 

Der  Wert  der  Jngendspiele,  und  von  dfeeemvdll  ich  sprechen,  besteht  zu- 
nftchtt  darin,  das«  de  der  Jugend  EriMdnng  bieten,  die  bo  noth  thttt  Seien  vir 
doch  offen.  So  sehr  anch  die  Leiatuigen  dentsdier  Schulen  über  die  anderer 
Nationen  hervorragen  —  nnd  davon  tiberzengte  ich  mich  allenthalben  — ,  sie 
leiden  doeh  fast  alle  an  ZU  grosser  Überbttrdnn^  und  Überfuttemng,  die  die 
Materie  nicht  verdanen  lÄsst  nnd  die  Schnle  und  das  Schullehen  hassen  macht. 
Dieses  ewige.  Einpauken  und  Eintriehteni  von  allen  niü<^lichen  nutzlosen  I)in- 
g-en,  die  nach  wenigen  Jahren  federleicht  dem  jntrendlichen  Gehinie  entfliehen  l 
Dieses  steife.  i)einliche,  die  Kinderwelt  marternde  Schulleben!  Welch'  hohle 
Snperklugheit  wiid  da  gepflegt  und  grossgezogen!  Was  onserer  Jugend  noth 
thnt,  das  ist  Erholung,  und  wie  konnte  sie  dieselbe  besser  Bnden,  als  in  den 
Spielen,  die  ihr  efai  Bedttrfius  sind?  Gtobt  der  Jugend  gemeinsanie  Spiele!  Gebt 
ihr  Zeit,  in  welcher  der  angestrengte  Geist  ausruhen,  wahre  Freude  und  wahre 
Erholung  finden  kann!  (lebt  ihr  Stunden,  während  welcher  sie  nicht  an  alle 
die  Themen,  Kegeln  und  Formeln  denkt,  die  ihr  immer  nnd  immer  durch  den 
Kopf  gehen!  (rebt  ihr  heitere  Spiele,  die  sie  vergessen  lassen  die  Chikanen, 
denen  sie  von  „unpädagogischen  Pädagogen"  ausgesetzt  ist!  Gebt  ihr  Jene 
hannlose  Müsse,  die  allein  im  Stande  ist,  die  Schüler-  und  Jugendzeit  als  die 
goldene  Zeit  in  der  Erinnerung  zu  erhalten.  Denn  das  gezwängte,  Soldaten- 
mässige,  ewig  eintrillende,  homer  strafende  und  gute  Lehren  ettheOeodeSehiil- 
leben  halt  unsere  Jugend  nur  in  Fureht,  macht  die  Sehule  verhasst  und  ver- 
bitteit  die  sehAnste  Lebensieit.  ünsere  Jugend  bedarf  mehr  Erholung.  Gehe 
man  nach  England  und  überzeuge  sich;  frage  man  die  dortige  Schölerwelt  — 
sie  ist  immer  lustig  und  in  fröhlichster  Stimmung  und  kehrt  mit  Freuden  in 
ihre  SchulwerkstUtte  zurück,  nicht  weil  sie  in  ihr  weniger  Arbeit  findet,  son- 
dern weil  sie  die  freie  Zeit  mit  herrlichen  Jugendspielen  verbringt;  diese  und 
nicht  der  Cicero  sind  ihr  die  Würze  des  Schullebens.  Wo  findet  man  das  in 
Deutschland?  Wie  viele  gehen  mit  Seufzen  anstatt  mit  Freuden  zur  Schule  I 
Wie  wenige  freundliche  Sterne  zeigt  in  dieser  Besiehung  die  Lehrerweit!  Ja, 
viele  sind  bemüBn,  aber  wenige  sind  auserwShlt 

Die  Jugendspiele  sfaid  f^er  der  Gesundheit  sehr  dienlich,  und  auch  diese 
thut  unserer  Jugend  noth.  Wie  viele  Treibhauspflanzen  werden  erzogen!  Die 
lange  Schulzeit  nnd  die  riesige  Privatarbeit  —  sie  absorbiren  einen  Tag  um 
d4n  andern  und  die  J.  gend  verkümmert  in  der  dumpfen  T.nft  der  Schul-  und 
Wohnzimmer.  Das  gemeinsame  Spiel  und  die  frische  Luft  sind  der  Jugend  ho 
niithig.  wie  d»-m  Fische  das  Wasser.  Ich  stehe  nicht  an,  die  Jugendspiele  in 
dieser  Beziehung  zum  mindesten  an  die  Seite  der  Crjumastik  zu  setzen.  Denke 
man  nar  an  Ringen  nnd  WettUnfen,  Haschen  und  Klettern,  Renn-,  Ball-  und 
Reifenspiele,  Schtttzen-  und  Soldatenspiele,  Ringelspiele  mit  Gesang,  Schwim- 
men und  Gricketspiel*),  Faustkampf  nnd  Schneebällen  u.  s.w.,  u.  s.  w.  Alles 

*)  Dieses  Spiel,  das  auf  einem  grossen  Rawnplut/e  (dem  cricketfrritiind)  ans- 
gdlihrt  wird,  ist  ein  höchst  feines  6piel  und  nur  dem  Geübten  verritäudiich.  Es 
fltrdert  KOrperkraft  und  Gewandtheit,  gibt  aber  auch  Oelegoiheit,  erwoiboie  Fer* 
tigkeit  zu  zeigen  und  geltend  zu.  madn  ii.  Tu  EnirlaiHl  ist  es  selbstverständlich,  dajss 
jedes  Alter  um  jeder  Stand  es  zu  spielen  verstehe.  Es  ist  ein  eigentlich  englisches 


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BfWfgniif^  in  frisclier  Lutt,  M:l<'iclivi<'l ,  ob  die  Sonne  brennt  oder  ein  scharfer 
Wind  durch  das  ju<<endliche  Haar  i)t'eift  —  das  lässt  din  junge  Brust  tief 
athmeu  und  röthet  die  Wangen,  da&  gibt  neue  Krälte  und  schafft  Blut 
ind  Leben. 

Z«  gkieher  Zeit  wird  dar  E&rper  aber  auch  gewandt  imd  geschickt  Es 
ist  wakr,  das  Tamen  wirkt  auch  nadi  dieser  Seite  hin,  jedoch  gibt  es  mt^ 
rohe  Kraft,  als  Geschicklichkeit  und  Gewandtheit.  Unsere  Gymnastik  leidet 
sa  dem  fibergrossen  Streben,  hervorragende  Muskelbildnng  and  Mnskelleistiui* 

pen  zu  erzielen;  Gewandtheit,  Geübtlieit  und  Weganz  der  vielfachen  Körper- 
bewegungen wird  erst  in  zweiter  oder  dritter  Linie  berücksichtigt.  Zu  diesem 
Zwecke  sind  besonders  vortheilhaft  die  Kenn-  oder  lieifenspiele.  Schützencorps- 
and  Soldiitenöpiele,  die  Ballspiele,  das  Tanzen  und  das  Cricketspiel.  Und  wenn 
dss  Commando  ertSnt:  „Jetzt  drauf  los!''  —  da  müssen  die  Sinnesorgane  ge- 
übt  nnd  der  EOrper  gewandt  sein,  der  Geist  berechnend  and  fiberlegend,  wenn 
der  Feind  gesddagen  oder  nmaingelt  and  gefiiagen  werden  soll,  wenn  über- 
hanpt  die  Partei  den  Sieg  erringen  wilL*  Hier  gelten  keine  rohen  Kräfte,  nnr 
Idoge  Gedanken,  geschickte  Beine  and  Hände  und  geübte  Angen  nnd  Ohren. 
In  wie  hohem  Maasse  sinnreiche  Jugendspiele  den  Körper  üben,  ilin  kräftig- 
und  gewandt  machen,  kann  man  an  der  englischen  Jngend  sehen.  Die  eng- 
lische Jugenderziehung  ist  in  dieser  Bezieliuug  jeder  andern  voraus  und  ver- 
dient die  lebhafteste  Nachahmung.  Durch  vieles  Baden  und  Schwimmen,  Ru- 
dern and  Fassballen,  darch  Schwert-  nnd  Fanstkampf,  Wettlauf  nnd  Gricket- 
ipid  wird  die  englische  Jagend  kififtig,  geschickt,  zähe  o^d  ansdanemd.  Je 
giSsser  die  Hindemisse,  desto  grosser  die  Anziehongskraft:  kein  Flnss  ist  ihr 
zu  breit,  kein  Berg  zu  hoch,  kein  Weg  zn  lang«  kein  Wetter  zu  schlecht.  In 
iN  ntschland,  besonders  in  den  Internaten,  erzieht  man  nichts  als  fröstelnde, 
bleiche  und  leicht  ermüdende  Gestalten,  eckige  nnd  einseitige  Charaktere,  em- 
ptindsame  Naturen,  Tj'pen  von  Stubenhf>ckern  und  Bücherwürmern. 

Dass  die  Jngendspiele  eine  Erholung  sind,  dass  sie  der  Gesundlieit  dienen, 
den  Körper  kräftigen,  gewandt  und  geschickt  machen,  wird  niemand  in  Ab- 
rede steUen  wollen,  eben  so  wenig,  dass  dies  für  unsere  Jugend  heilsam  sei. 
Doch  betrachten  wbr  den  Wert  der  gemeinsamen  Jagendspiele  auch  noch  nach 
snderen  Ge&iditspankten. 

Sie  sind  aach  fttr  die  Bildung  des  Willens  von  hober  Bedeutung.  Die 
ersten  Muskelbewegnngen  des  Kindes  sind  völlig  planlos;  Aufgabe  der  Erzie- 
hung ist  es.  dieselben  möglichst  bald  und  möglicht  zweckmässig  in  planvolle  zii 
verwandeln.  Sehen  wir  z.  B.  das  noch  ganz  junge  Kind  an.  das  eben  erst 
antllngt  zu  .spielen.  Es  sucht  einen  Gegenstand,  der  in  seinem  Bereiche  ist, 
an  sich  zn  ziehen;  ist  ihm  das  gelungen,  so  wirft  es  ihn  weg,  nm  ilin  abermals 
la  ergreifen.  Sein  Wille  hat  einen  Gegenstand  erfasst;  das  Kind  ist  in  das 
Stsdiom  getreten,  wo  der  Wille  sich  zn  bethätigen  sacht.  Hier  moss  die  Er- 
dehong  zaHUfe  kommen,  am  solche  Bethtttigang  zn  Ittrdem.  Der  natürlichste 
Weg  ist  das  Spiel.  Man  wird  in  der  ersten  Zeit  dem  Idndlichen  Triebe  am 
zweckmissigsten  dadurch  zu  Hilfe  kommen,  dass  man  Objecte  wählt,  die 
besonders  intensiv  anf  die  äinnesoigane,  namentlich  aaf  das  Auge  wirlcen; 

Nationalspiel;  überall  finden  rieh  Cricketchibfl.  Anf  rine  Besdu^ribnng  dieses  feinen 

Spieles  mu.s.s  ich  hier  verzichten.  Icli  einpfelile  das  interessante  Buch  ..Tom  Brown's 
School  Days,  hy  an  old  boy"  von  Th. Hughes  (deutsch  vonDr.E. Wagner,  Gotita). 


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—   320  — 

beüoii(l»^rs  »-eeignet  sind  buiitt^  Cie}i:t' iistände,  auf  welchen  das  Auge  mit  \  orliebe 
Iiaftet  und  die  das  Kiud  reizen,  das  Spiel  fortzusetzen  und  somit  seinen  Willen 
Immer  von  neuem  za  beth&tigeiL  Die  anfangs  ganz  minimale  Vontellnng  ond 
WertwMtKon^  entwickelt  sich  za  immer  weiterer  wülkfirlicher  BethStisaacr}  die 
im  80  intennver  geschehen  wird.  Je  mehr  man  den  jngendlichen  Willen  dorch  zweck* 
mäsaige  Spiele  n&hrt  Ea  miua  nadi  ond  nach  zu  immer  planvolleren  Uns- 
kelbewegniigen  kommen  und  das  um  so  mehr,  je  mehr  sich  seine  Sinne  zu  ent- 
wickeln und  zu  schilrfen  in  dem  Spiele  Gelegenheit  hatten.  Es  ist  einleuch- 
tend, (lass  die  Spiele  ein  zweckniilssitres  Bethätigungsniittel  des  Willens  sind, 
und  weil  das  Kind  mit  wachsender  Kraft  vom  Xichtsthuu  und  von  planlosen 
Bewegungen  zu  planvollen  Sinnes-  und  MuskelbethUtigungeu,  d.  i.  zui*  Arbeil 
geflihrt  wird,  so  sind  die  Spiele  die  Br&cke,  welche  das  Kind  in  natOrlicher 
ond  daher  heqnemer  ond  angenehmer  Weise  znr  Arbeit  leiten. 

Wir  wünschen,  dass  die  gemeinsamen  Jugendspiele  nicht,  wie  oft  in 
Bentschland  nnr  aller  Uonate  i^dcht  einmal  sich  wiederholen  sollen,  son- 
dern, wie  in  England,  alle  Tage  vielmaL  Dann  wird  das  Spiel  anch  eine  gute 
Willensbildung  sein.  Die  Jngend  mnss  sich  dem  Leiter  des  Spieles  nnd  dem 
Principe  desselben  unterordnen.  Freilich  könnte  man  saj^en,  dass,  wenn  der 
Wille  nur  nach  dieser  Seite  hin  durch  Spiele  jE^ebildet  würde,  man  in  Dentseh- 
land  JiiiTt'ndspielo  nicht  niithi«-  lüitte.  da  es  l)ei  der  dortigen  Subordination  und 
dem  «  wijreu  Drillen  nicht  g'erade  daran  It  hlt.  Doch  wissen  wir,  dass  die  Wil- 
lensbildung frühzeitig:  beg-innen  muss.  und  dass  der  Wille  immerwälirender 
Übung  bedarf.  Der  Wille  ist  abhängig  von  zäher  Übung;  nicht  genug  Mo- 
mente kdnnen  wir  an&nchen,  die  den  Willen  üben  nnd  stählen.  Strengste  Con- 
seqnenz  nnd  eiserne  Zfthigkdt  mflssen  voihanden  sein,  sollen  doch  dorch  Vor- 
stellnngen  nnd  Wertschfttznngen  entweder  Mnskelgmppen  oder  Oedankenver- 
bindun^'en  angeregt  w»  i  d.  n.  Durch  immer  fortgesetzte  Spiele,  wie  sie  in  Eng- 
land stattfinden,  also  durch  Wiederholunfr.  trdu  n  wir  der  Jugend  (Mjuner.  welche 
nöthig-  ist,  um  willkürliche  Bethlltiffunffen  fest  zu  machen.  Dass  daneben  auch 
Erholung-  niUliiq:  sei,  die  auf  Conservirung  von  Muskel-  und  Nervenki*aft  ab- 
zweckt, wird  niemand  in  Abrede  stellen  w(dlen. 

Zugleich  werden  im  Spiele  verkehrte  Kegungen  unterdrückt,  oder  » s  wird 
denselben  voi*gebeugt,  welch'  letzteres  das  Bessixi-e  ist.  eben.so-  wie  es  lei<  lircr 
ist  Krankheiten  zu  verhüten,  als  sie  zu  heilen.  Familien-  und  Schulleben  sind 
oft  die  Ursache  nervöser  Übeneizung.  Da  bewähren  sich  fortgesetzte  Jugeud- 
spiele  als  treffliclie  Gegenmittel.  Sie  Terhttten  Jene  VerUtterang  und  Heftig- 
keit, welche  wie  ein  dnnkler  Schatten  so  manches  Henschenleben  tr&bt  Jede 
etwaige  körperliche  oder  geistige  Überfütterung,  welche  Hnskel-  nnd  Nenreo- 
th&tigkeit  beeinträchtigt,  das  Kind  an  pas.sives  Geniess^  n  gewöhnt  und  ein  An- 
knüpfungspunkt für  Faulheit  nnd  Lüsternheit  ist,  wird  durch  fortgesetztes 
Spiel  paralysirt. 

Die  gemeinsamen  Jugendspiele  l)i-i!mon  allerdings  auch  unvermeidhche 
Leiden  mit  sich.  I)as  ist  jedoch  sehr  erwiinsdit :  denn  die  Juirend  muss  lernen, 
Leiden  zu  ertragen  und  sich  über  unerllillbare  Li*'liliny:.>wünsehe  hinwegzu- 
setzen. Auch  wir  wollen,  dass  man  dem  Kinde  schweren  küii)erlichen  oder 
geistigen  Sclunei-z  möglichst  ei-spare :  ist  doch  die  Widerstandskraft  seines  o^ 
ganischen  nnd  psychischen  Lebens  noch  eine  geringe.  Allein  e«  mnss  sehos 


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—  321  — 


frühzeitig  ;?e\snhnt  ^vpnlpn,  tuitürlichen  und  onyenneidlicheu  Leiden  Gedifld 
und  Entsaininff  >'iit^e?»'nzustellrii. 

Bei  der  AVillensübung  imiss  auch  die  riiabhaii^^ifrkeir  dt  r  Willensactf  von 
Ort  lind  Zeit,  Stiinninng'  und  Unijirebun^  aiifrestrcbt  weiden,  und  die  Jusfend- 
»piele  kommen  auch  in  dieser  Beziehung  uns  zu  Hille.  Wir  wissen,  daüs  der 
Meaadroft  aieh  Mlbet  ungleich  ist  und  sieh  verschieden  zeigt  Je  nach  den  Ter- 
leUedeaen  Umgelrangen,  Besiehnngen  und  Stimmungen.  Da  ist  der  eine  Knabe 
«gmogen  im  elterlichen  Hanse,  aller  hrav  in  der  Schule;  ein  anderer  daheim 
stiÜ  and  demfithig,  im  {^entliehen  Leben  dagegen  lelihaft  undstok;  die  Mehr- 
zahl ißt  nur  arbeitsam  unter  Anregung  Anderer,  in  Abwesenheit  derselben  da- 
refpn  arbeit«8chen.  Alle  diese  Unregelmilssigkeiten  in  unserer  Bethatiguuf!: 
THrbVren  wir  nur  durch  Zucht,  die  immer  und  überall  jreübt  werden  niuss.  und 
weil  die  Ju^rendspiele  su  ujanuiyfacher  Art  sind  und  auch  viele  vnn  ihnen  von 
Ort.  Zeit,  Stimmung  u.  s.  w.  abhängen,  so  werden  sie  unter  verständnisvoller 
Ldttug  nidit  Teifäil^  wfUkUriiche  fielhitigungen  fest  und  leicht  nnd  nnab- 
kiagig  an  machen.  Wir  wissen,  je  ungebildeter  jemand  ist,  desto  mehr  besitat 
er  eine  gewisse  Steiflfl^dt  nnd  Festgefshrenheit,  so  dass  er  nur  in  einer  ge- 
winen Art  und  von  gewissen  Punkten  ans  seine  Kräfte  willkürlich  in  6e- 
w^Dg  setasen  kann  und  dass  ihn  jede  Abweichung  von  dem  Gewohnten  stdrt. 
Freilich  erfordert  die  Beseitifrung-  dieses  Manjrels  besondere  Bedingungen  und 
för  die  Jugendspiele  besondci-s  vorstllndnisvolle  Leitunjr.  Dass  manche  Betliü- 
liffunisren  ihrer  N.itur  nach  vcui  «rewissen  körperlichen  und  jreistigen  oft  selir 
coQiplicirten  Dispositionen  abhängig  sind,  lässt  sich  nicht  leugnen. 

Hier  wollen  wir  auch  der  Forderung  gedenken,  wegen  der  Macht  des  Bei- 
qsds  seUeehte  Umgebung  zu  meiden.  Während  der  Schnlstnnden  wissen  wir 
ji  unsere  Jugend  ziemlich  gnt  geborgen;  doch  ansserhalb  derselben,  besonders 
won  sie  die  freie  Zeit  im  öffentlichen  Leben  verbringt,  sieht  und  hört  sie  ent- 
fietzliche  Dinge.  Die  Forderuntr.  die  Jugend  während  dieser  Z>  ir  so  viel  als 
möglich  spielen  zu  lassen,  ist  auch  nach  dieser  Seite  hin  bedeutsam.  Ist  die 
.Tasfend  wiShrend  derselben  unter  verständiger  Leitun^r.  so  uuteiiietrt  sie  nicht 
Am  whiidlichen  Einflüsse  schlechter  TJm^ebunfi:.  Der  Nachahmull^^>^trieb  ist  be- 
8»mders  der  Jugend  eigen,  und  man  kann  deutlich  sehen,  wie  sie  dasjenige, 
wag  ihre  Sinne  auffassen,  durch  verschiedene  Bewegungen  wieder  geben. 

Allerdings  ist  es  gnt,  wenn  die  Jugend  von  Zeit  an  Zeit  sich  selbst 
flberiassen  ist,  am  Oeistessammlnng  und  Gemütshmhe  zu  finden.  Dennoch  aber 
snd  obgleich  anch  Goethe,  Kant  und  Schopenhauer  behaupten,  dass  gemein- 
sames  Leben  nur  zu  oft  den  Strom- dar  Gedanken  störe,  so  darf  man  doch  diese 
Wahrheit  nicht  zu  weit  ausdehnen  und  sie  nicht  in  dem  blasse  auf  die  Jug-f^nd 
anwenden  wie  auf  die  Erwachsenen.  Unsere  Jufrend  hat  wenicei-  das  Bedürf- 
nis, sich  sri  Mssen  (iedanken  hinzusri  ben.  noch  in  den  Mussestunden  und  im 
.Alleinsein  Herzensfrieden  und  Gemüthsrulie  zu  suchen.  Durcli  die  Abgeschlos- 
senheit unserer  Jugend  unter  sich,  durch  das  Getrenntsein  von  gleichartigen 
Kkmenten,  kommt  es  dahin,  dass  man  so  viele  Personen  trifft,  die  sich  nicht 
▼ostefaen.  Es  hat  ihnen  eben  genügende  Gelegenheit  gefehlt^  mit  Anderen  zn 
votehren«  die  auf  gleicher  geistiger  Stufe  standen,  und  daher  die  Crelegenheit 
rie  verstehen  zu  lernen,  d.  h.  die  Art  des  Andern  nachzufühlen;  dieses  Ver- 
SKigen,  die  Denk-  und  Anschauungsweise  des  iVlitmenschen  nachzufühlen,  wird 
Bur  durch  gemeinsames  Zusammenleben  gelernt.    Die  Erfahrungen  Anderer 


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—   322  — 

itfitzen  uns  weiiig,  weiui  sie  nicht  iu  iiii»ereQ  eigeneu  Erlebnissen  Anknüp- 
fungspunkte finden. 

Fllr  dieBUdnng  des  Willens  ist  aach  von  grossem  Voitlieile  dieSiehemiig 
des  Gelingens  und  die  Verhtttiing  des  Ifisslingens.  In  nnseren  Selinlien  fioUt 
msn  hierin  nur  zu  oft.  Man  stellt  Anforderungen,  die  der  Schüler  nicht  er- 
füllen kann,  and  die  Schuld  lio^t  uicht  am  Schüler,  sondeni  meist  am  Lehrer. 
Man  kann  an  die  Jugend  dnch  nur  Anforderungen  stellen,  zu  dei*en  Erfüllung 
ilire  Kraft  nusi-t  icht:  andernfalls  tiirt  die  Gefalir  ein,  diiss  wir  Misstrauen  im 
Scliiiler  erztiiiit  ii.  dass  er  beginnt  Ketiexionen  zu  machen,  durch  welche  der 
Trieb  zur  Bethätigiuig  gehemmt  wird.  Selbst  Leute  von  Talent  haben  nach 
irgend  welcher  Seite  bin  mit  Misstranen  in  ihre  Kräfte  zu  kämpfen.  Nmi 
gibt  es  sahireiche  Jngendspide,  die  ▼onügUch  geeignet  sind,  der  Jugend  die 
Znversidit  des  Gelingens  an  verleihen,  weil  Ihre  Aosführong  im  Bereiche  der 
Möglichkeit  liegt  nnd  eine  Kette  yon  Zwischengliedern  zu  gutem  Ende  führt. 

Hierzu  kommt  ein  weiteres  Moment.  In  unserer  Zeit  ist  es  wahrlich 
nöthig,  das  WolwoUen  zu  wecken  und  zu  üben.  Auch  die  Jugend  soll  schon 
angeleitet  werden  mit  den  Mitmenschen  in  allen  wesentlichen  Punkten  sjmpn- 
thisch  zu  fühlen  und  das  „Ich'*  nicht  andei-s  als  Eines  unter  vielen  Cileichen 
zu  betrachten.  Dazu  gehriren  jedoch  viele  Factoren,  in  eistei-  Linie  ein  wol- 
georduetes  Familienleben,  das  in  dem  Kinde  Liebe  zu  den  Seinen  püauzt,  die 
hentantage  hei  der  ToUendetsten  Ausprägung  desMaterialismos  wahrlich  drin- 
gend noth  thnt.  Wenn  bo  der  Familiensinn  begründet  ist,  dann  werden  ÜMrt- 
gesetate  gemeinsame  Jugendspiele  auch  nach  ^ner  andern  Seite  Früchte 
tragen.  Sie  werden  Je  lAnger  je  mehr  den  Familiensinn  erweitem  helfen  zu 
dem  Menscliheitssinn. 

Zuletzt  wollen  wir  noch  erwähnen,  dass  die  gemeinsamen  .Jugendspiele 
auch  den  Ordnungs-  und  Wahrheitssinn  pflegen,  wie  sie  auch  den  Greist  der 
Kameradschaft  fördeni.  Die  Jujjfcndspiele,  so  wie  sin  in  England  gepflegt  wer- 
den, bieten  oft  Gelegenheit,  iiecUt  zu  sprechen  und  Wiüirheit  zu  üben.  Streitig- 
keiten, henrorgemfen  dundi  das  Spid  sind  oft  so  erbittert,  dass  sie  nur  durch 
einen  Schiedsspruch  geschliditet  werden  kOnnen,  dem  sich  dann  die  jugendliche 
Schaar  unterordnet;  denn  es  gilt  Wahrheit  nnd  Recht  aasnerkennen,  seihst 
wenn  es  noch  so  hart  für  den  Einzelnen  ist,  ja  selbst  wenn  es  den  besten  Freund 
des  Schiedsrichters  trifft.  Jeder  tUngrifT  in  die  alten  Bräuche  gilt  als  Frevel 
am  Heiligen.  Oft  jreschieht  fs.  dass  zwei  jugendliche  Helden,  die  sich  nie 
..ausstehen"  und  die  nie  Syni|»athif'  zu  einandt-r  i^rwinnen  konnten;  dui-ch  einen 
W  ettkampf  teste  und  dauenide  Freundschaft  kniiiden.  dass  sie  zu  ihnn  über- 
raschenden Beweise  kommen,  dass  die  Antipathie  auf  Nichts  geginindet  war. 
.dass  sie  sich  wahrhaft  lieb  gewinnen.  Und  am  Ende  sagt  sich  die  junge  Schaar: 
„Es  war  nicht  so  hSs  gemeint,  das  Ganze  ist  ja  nur  ein  Sinei."  So  wird  Wahr- 
heit nnd  Beeht  geflht,  so  wird  der  Geist  der  Kameradschaft  genAhrt,  so  wird 
Interesse  für  menschliche  Art  überhaupt  gezeigt  und  bethAtigt  und  so  geschieht 
es,  dass  der  Einzelne  gern  Opfer  bringt,  falls  ein  Anderer  davon  übrrliaupt 
einen  Gebrauch  oder  unter  Umständen  einen  besseren  Gebrauch  machen  kann. 

Unsere  l  eitVre  .Tujtrend  sollte  einen  Anfaufi:  machen  mit  der  Einsicht,  dass 
auf  die  Natur  nicht  anders  mit  Erfohj;-  yewiikt  werden  kann,  als  nach  ihren 
Gesetzen,  uiul  auf  Menschen  nicht  anders,  als  auf  Grund  von  Kenntnis  wirk- 
licher Gesetze  der  menschlichen  Natur.   Das  muss  man  aber  praktisch  lernen, 


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—  323  — 


di'iin  srinst  fiihren  auch  Thätigkeit  und  Wolwollen.  selbst  in  ihrei-  Dnrchdrin- 
jnm^,  aus  Mangel  an  Erfolg  leicht  zu  ^'erstimnmiig  uiid  Miäsmuth  gegenüber 
der  Weit,  der  Natur  sowol  als  der  Menscliheit. 

Wir  siiid  am  Ende.  Wir  haben  versucht  anzudeuten,  in  welcher  Weise 
die  gem^nttmeii  Jogeudspiele  auf  Gesanclheit  und  Wülen  wirken,  wie  sie  dea 
KOrper  üben,  das  Vertrauen  auf  eigene  Kraft  nfthren,  den  Gebt  der  Kamerad- 
•ehalt  und  des  Wcdwollens  fördern,  den  Ordnnngs-  imdWahrheltsaimi  pflegen. 

Wir  können  nnr  noch  den  lebhaften  Wunsch  aussprechen,  dass  der  dent- 
sehen  Jugend  gemeinsame  und  sinnreiche  Spiele  recht  bald  und  recht  oft  unter 
verständnisvoller  F.eitung  gegeben  werden  mögen.  Enirlaiid  sei  in  dieser  Be- 
ziehung unstM-  \'orbild !  Dann  wird  unsere  Jugend  nicht  blos  gesünder  sein, 
sondern  auch  geschickter  und  wilien^tärkeF;  und  Schule  und  Jugendzeit  wer- 
den ihr  lieb  und  t heuer  bleiben. 


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1 


Kindergarten  nnd  Volksschnle. 

Gegenüber  den  Freunden  dee  Eindergartens,  welche  denselben  als  eine 
fiberail  wünschenswert«  Vorstufe  der  Volksschnle  betrachtoi,  steht  noch  immer 
eine  nicht  ^nz  unbt^tleutende  Anzahl  von  Schulmännern ,  welche  behaupten, 
dass  ;ui  den  ans  Kinder^ilrten  (  und  Kinderbewahranstalten)  in  die  \'olksschulen 
eintretenden  Kiiidei  ii  im  Vorj^leiche  mit  ihren  direct  aus  dem  f^lternhanse  kom- 
menden Alter8g:en(»ssen  mehr  Fehler  als  Vorzüge  wahrnehmbar  seien.  IVr 
Streit  kann  offenbar  am  besten  geschlichtet  werden  dui'ch  eine  möglichtji  viel- 
seitige Beobachtung  der  Kinder  in  solchen  Elementardassen,  welche  ihre  Scha- 
ler theik  direct  ans  den  Familien,  theils  ans  Erziehnngsanstalten  für  das  vor- 
sehnlpflichtige  Alter  erhalten.  Es  ist  aber  nSthig,  dass  diese  Beobachtong:ea 
nicht  nur  völlig  unparteiisch,  sondeni  auch  planmässig  angestellt  werden.  Der 
Wiener  Lehrerverein  „Volksschule'*  hat  diese  Angelegenheit  eingehend  erörtert 
nnd  als  Leitfaden  für  die  anzustellendt  u  l^eobaclitiui^en  eine  Reihe  von  Fra- 
gen aufgestellt,  welche  auch  iu  weitereu  Kreisen  Interesse  erregen  dürften. 
Sie  lauten: 

1)  Zeigen  sich  die  Zöglinge  der  Kinderbewalu  austiüt  und  des  Kinder- 
gartens im  allgemeinen  anstelliger  nnd  geschickter,  sowie  besser  {8r  die  Schule 
vorbereitet? 

2.  Lässt  sieh  ein  wesentlicher  Einflnss  der  Kindergarten-Erziehnng  auf 

die  Sprachfertigkeit  nnd  die  Gedllchtnisstärke  der  Kleinen  beobachten? 

3.  Sind  sie  im  Stande,  Fomen  schneller  au&ufassen,  und  zeigen  sie  sieb 

in  manuellen  Fertiprkeiten  e-esrhiikfer? 

4.  Lilsst  sich  ein  tiinlernder  Kintinss  des  Kindergartens  auf  die  (iehrir- 
und  .Stimmbildung  des  Kindes  in  Kiicksiclit  auf  den  Gesangsuntenicht  walir- 
nehmeu? 

5.  Sind  etwa  auch  an  sonst  schwach  beimlagten  Zöglingen  im  Zusammen* 
halte  mit  anderen  gleichbegabten  Schülern  Einfliisse  wahrzunehmen? 

6.  Welche  Bemerkungen  ergeben  sich  in  Rfickdcht  anf  die  Einordnung^ 
der  Kleinen  in  die  geselligen  Verhftltnlsse  des  Schnllebeus?  t 

7.  Ist  das  Auge  derselben  etwa  durch  die  Kindergarten-Arbeiten  gre- 
schwUcht  worden  V 

8.  ZeiiTt  n  die  Z<«glinge  in  der  Schule  eine  auffallende  Uuruiie  uud  her- 
vortretende Spiel-  nnd  'ITmdel sucht? 

9.  In  welcher  KiclHung  sind  bezüglich  des  Unterrichtes  zwischen  den  Zög- 
lingen der  Kinderbewahraubtalt  und  jenen  des  Kindergartens  auffiUlige  Unter- 
schiede wahrzunehmen? 


VeiBDtwortticber  RMUctonr;  M.  Stein.     Bnebdracknei  Jnlim  Klinkbardt,  Ltipiig. 

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Über  den  (iottesbegriff. 

I. 

w  ie  vid  die  rdigiösen  VorsteUnng^  zur  Erziehung  der  Vl^Iker 

beigetragen  haben,  das  lehrt  die  Cultiir^eschichte.  In  erster  Linie 
stehen  hier  die  Begriile  von  der  Gottheit  und  was  sich  ihnen  an- 
schliesst.  W  enn  wir,  angerep^t  durch  die  neuere  Religions-  und  Natnr- 
forschung,  diei>em  Gej^enstande  eine  kurze  Betraclitun;?  widmen,  so 
lassen  \sir  die  theoloo^ischen  und  streng^  philosophischen  Auffassungen 
ganz  bei  Seite  und  halten  uns  hauptsäclilich  an  die  Vorstellungen  be- 
deutender Völker,  wie  sie  in  der  Culturgeschichte  sicli  gezeigt  haben. 
>ioch  fernei  liegen  uns  die  kirchlichen  Dogmen  über  den  Gegenstand 
der  folgenden  Eröi-terungen. 

Die  Fragen  über  Religion,  Gottheit,  Oftenbamng  etc.  sind  heut 
ni  Tage  auf  einen  ganz  andern,  mehr  historischen  Boden  gestellt 
Süd  an  der  Beantwortung  hetheüigen  sich  die  vergleidiende  Sprach- 
wisseoBchaft  nnd  Mythologie  ebenso  wie  die  nenere  Natorforschnng. 
Durch  die  Kenntnis  der  heiligen  Urkunden  der  Inder,  Perser  und  an- 
derer Volker  ist  neben  der  Bibel  ein  neues  Feld  eröffnet,  so  dass 
nir  sagen  können:  die  Übellieferungen  der  Völker  sind  cuHnrhisto- 
rische  Urkunden,  aber  keine  Dogmen,  und  keine  tJberlioferung  be- 
weist etNvas  lur  oder  gegen  die  andere.  Im  G^.gensatze  zu  Fischers 
rHeidenthum  und  Offenbarung"  (Mainz  1878 1  muss  man  behaupten: 
Alle  Überlieferungen  i  Urkunden)  zeigen  nni".  dass  gewisse  N'orstel- 
lunsren  den  Völkern  gemeinsam  sind,  oder  dass  Übertragungen  statt- 
gefunden haben. 

Viele  Jahrhunderte  aber,  bevor  Urkunden  niedergeschrieben  wui*- 
den,  bestand  Religion  bei  den  Völkern,  herv<»rgegangen  ans  einer 
kindlichen  Naturbetrachtung. 

Die  Beligion  hat  das  mit  der  Sprache  gemein,  dass  Eindrücke 
auf  Sinn,  Oeftthl  und  Verstand  die  ersten  Anregungen  gegeben  haben, 
und  Religion  und  Siurache  haben  sich  je  nach  der  VolksindiTidualitftt 
verschieden  entwickelt.  In  dem  menschlidien  Geiste  liegt  die  ge- 
meinschaftliche» Quelle  ftr  Sprache  und  Poesie,  für  Offenbarang  und 

M^ofian.  4.  Muts.  H«tt  VL  22 


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—  826  — 


Relicioii.  Für  die  Kichtuii^  dei-  letzteren  waren  aber  hervoiTagende 
Gfeister  (Buddha,  Moses  u.  a.i  massgebend. 

Der  Sprache  und  Poesie  ist  die  Personilication  ei^^en,  die  dann 
auf  Gottlieiten  übertragen  wird.  Das  Wesen  ist  einerlei,  der  Name 
vei*schieden.  Diesen  'Vorgana-  zeichnet  J.  Grimm  in  meisterhafter  Dar- 
stellung in  seiner  akademischen  Abhandlung  „Über  die  Nauien  des 
Donners",  indem  er  sagt;  „Wie  alle  ürwörter  der  Sprache  aus  sinn- 
liclier  Anschauung  entsprangen,  sind  aucli  die  ersten  Götter  des  Hei- 
denthums yon  dem  Eindruck  herzuleiten,  den  mächtige  Natnrkräfle  in 
der  weichen,  empfiUiglidien  Seele  des  Menschen  hinteiüeBfl^.  Ihm, 
der  alle  irdischen  Dinge  za  heherrschen  den  Mnth  nnd  das  Vermögen 
bei  sich  fthlte,  stand  die  höhere,  seinem  Willen  ungehorsame  Gewalt 
jener  Erscheinungen  helfend  oder  schädigend  gegenflber,  und  er  beugte 
sich  Tor  ihnen  in  Ehrfiircht  oder  Schauer.  Die  unnahbare  Wölbong 
des  Himmels,  an  welchem  Sonne  und  Mond  nach  geordnetem  Wechsel 
leuchteten,  das  laute  Gekrach  des  Donners,  der  einen  blitzenden  Boten 
voraus  entsandte,  alles  musste  des  Menschen  entzücktes,  erschüttertes 
Herz  zu  frommen  Empfindungen  aufregen  und  ihn  seine  Abhängigkeit 
von  ihm  überlejrenen  \\'esen  gewahren  lassen,  um  deren  Gunst  er  zu 
werben,  deren  Zorn  er  zu  türchten  hatte.  Sie  selbst  aber  dachte  er 
sich  lange  in  keiner  andern  Gestalt  als  in  der  sie  ihm  sichtbar 
wurden.  So  nahe  es  auch  lag,  bildlich  zu  vergleichen,  die  Sonne  als 
das  allsehende  Auge  des  Tages,  den  Mond  als  das  der  Nacht  zu  nen- 
nen, dem  Flnss  Arme,  Haupt  und  Mund,  dem  Feuer  Zunge  beizulegen, 
im  Donner  die  Stimme  Gottes  zu  hören:  war  es  doch  ein  viel  stär- 
kerer Sprung  von  der  Wahrheit  des  baren  Anblicks,  dass  die  Fantasie 
allmählich  diesen  Naturereignissen  volle  menschlidie  Bildung  aneig- 
nete und  leiblich  gestaltete  GrOtter  der  Sonne,  des  Mondes,  Wassers, 
Feuers  und  Donners  zu  schaffen  begann.  Um  soldier  Gestalt  willen 
rückten  sie  dem  Menschengeschlecht  näher,  handelten  und  vediielteD 
sich  nun  auch  in  menschlicher  Weise,  zugleich  aber  wichen  sie  v<a 
ihrer  ursprünjrlichen,  einfachen  Bedeutung  ab." 

Da  wir  liiej-  den  (lOttesbegrirt'  besprechen,  so  tassen  wir 
Hauptvertreter  desselben  für  die  indogerinanischen  \'ölker  nur  die  .ilten 
Inder,  für  dieS»*miteii  die  alten  Israeliten  ins  Auge. *^  Für  die  Erfor- 
schung der  lieli^ion    der    Inder  ist    in  liervorragender  Weise  der 
deutsche  Gelehrte  Max  Müller  iu  Oxturd  thätig,  besonders  durch  sein 


♦)  Eine  ausftlhrliche  Darstellung  der  relig:iösen  Eutwickflnmrs^tufen  amtotr 
Völker  findet  man  in  der  „Völkerkunde"  von  0.  PeacheL  ö.  Aofi.  mi. 


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—   327  — 


ktetes  Werk:  „Vorlesungen  über  den  Ursprung  und  die  Ent Wickelung 
der  Beligion"  (Strassborg  1880).    Um  den  Ursprung  der  Beligion 
nachzuweisen,  beginnt  Müller  mit  der  Wahrnehmung  des  „Unend- 
lichen'', d.  i.  der  allgemeinste  Ausdruck  ßir  alle  Gegenstände  des 
Glaiibens,  die  Jenseit  des  SmiüieheD  liegen.   Andere  Ansdrfkcke  wie 
dis  ÜBsichtbaie,  das  Übersmnliche,  das  Ubematflrliche,  das  GNttttiche, 
das  Absolute  etc.  sind  ibm  nicht  scharf  und  mnftssend  genug.  Es  ist 
Thatsaehe,  dass  alle  Menschen  an  etwas  gkuben,  was  jenseit  der 
smnliehen  Wahrnehmung  liegt    „Obgleich  die  Griechen  sich  viele 
ihrer  Gottheiten  als  sinnlich  wahrnehmbar  vorstellten,  so  galt  doch 
auch  ihnen  der  liöcliste  Gott,  der  schon  in  den  alten  arischen  Spra- 
chen Dvaus-pita,  Himmel-Vater,  im  (iriechischen  ZfTs  ;f im  La- 
t^inis<  lien  Ju-pit^r  hiess,  fiir  fast  ebenso  unsichtbar  wie  Er,  den  wir 
nocli  immer  unseni  Vater  im  Himmel  nennen."    M.  Müller  verfolgt 
in^ibesondere  die  religiöse  Entwickelung  der  alten  Inder,  unserer  ari- 
schen Almen.    Ihr  Suchen  nacli  dem  Unendlichen,  Unsichtbaren  nahm 
nicht  den  Ausgang  etwa  vom  Fetisch-Dienst,  d.  k  von  der  abergläu- 
Mschen  Verehrung  unbedeutender  Gegenstände,  sondern  Sinn  und  Ver- 
stand gab  ihnen  die  Offenbarung.  Sie  bekamen  eine  Ahnung  von  einem 
Etwas,  das  ist,  das  aber  die  Sinne  nicht  erreichen,  das  unsere  Sprache 
oder  unser  Verstand  nicht  nennen,  nicht  begreifen  kann;  sie  wurden 
inne,  dass  es  etwas  jenseit  des  Endlichen  geben  mfisse:  lebendige, 
unsterbliche  Mächte,  wie  sie  auch  von  Griechen,  Römern  und  den 
alten  Deutschen  benannt  wurden. 

Die  bedeutendste  Urkunde  der  alten  indischen  Literatur  ist  der 
Bigveda.*)  Aus  diesem  erfahren  wir,  dass  der  Glaube  an  einzelne 
Gotter  wechselnd  hervortrat,  je  nach  dem  Gebiete,  in  dem  sie  herr- 
schend gedacht  wurden.  Die  Hymnen  des  Veda  weisen  drei  Reiche 
auf:  das  der  Erde,  des  Luftraumes  und  des  Hellten  Himmels.  Die 
Hauptgestalt  des  Mittelreichs  der  Lüfte  wai'  ludra,  der  gefeiertste 
Gott  der  vedischen  Zeit.  Unter  den  Gottheiten  des  lichten  Himmels 
galt  als  der  höchste  Varuna  (Uranos  der  Griechen),  ursprünglich  die 
Personification  des  allumfassenden  Himmels.  In  den  Hymnen  feiert 
naa  ihn  als  den  herrschenden  Friedenskönig  gegenüber  dem  streit- 
bttren  Eriegshelden  Indra.  Sie  schildern  den  Gott  als  den  allweisen 
äcMpfer,  Erhalter  und  Eegenten  der  Welten,  den  allwissenden  Be- 
flehützer  des  Guten  und  Bächer  des  Bösen,  und  die  Lieder  erinnem 
an  den  Ton  der  Psalmen  und  die  Sprache  der  Bibel  überhaupt.  An 

Moflterhaft  bearbeitet  Ton  Adolf  Kaegi.  Leipzig  1881. 

22* 


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—   328  — 

Variiiia  srliliesst  sich  audi  der  Glaube  an  persüuliche  Unsterblich- 
keit, an  das  Leben  der  Seele  nach  dem  l'ode. 

Weder  von  den  indem  noch  von  den  Indoeuropäern  kann  mau 
sagen,  dass  der  Monotheismus  die  ui'sprüngliche  Form  der  Reli^on 
gewesen  sd.  Hei  den  Indern  entstand  auf  natürliche  Weise  der 
Glaube  an  einzelne  höchste  Wesen  (Devas),  die  dann  in  verschiedeDea 
Entwickelmigsstiifen  and  selbst  (wie  in  Griechenland)  in  venchiedenea 
Gegenden  als  allerhöchste  Terefart  wurden.  Man  nennt  die  jlldlsche 
Beligion  monotheistisch  und  spricht  von  einer  urweltlichenOffenhanuig, 
Ton  wdcher  dann  die  andern  Völker  abtrOnnig  geworden  nnd  in  Viel- 
götterei verfallen  seien.  Die  nenei-e  Sprach-  nnd  Religionawisseiiachaft 
hat  dies  gründlich  widerlegt.  Weder  die  Sprache  noch  die  Beligion 
verdankt  ihren  Urspnmg  einer  urzeitlichen  Offenbarung,  sondern  beide 
haben  sich  auf  natürlichem  Wege  entwickelt,  und  zwar  auf  (inuulla^a^ 
der  Wurzeln  in  der  jeweiliß-cn  Völkert'amilie.  Hinsichtlich  der  Reli- 
gionen ist  nur  zu  bemerken,  dass  erleuciitete  I'ersonen  (Propheten, 
iielit'ionsstitrer )  den  vom  Yolksf^reiste  vorbereiteten  oft  neue  Bahnen 
angewiesen  haben.  Ich  sHjre  „vom  Volkscfeiste  vorbereitet",  denn 
plötzlich  „vom  Himmel  (Telallenes"  wäre  nutzlos  gewesen  tiir  Menschen, 
die  nicht  selbst  ihre  sinnlichen  Eindrücke  zu  Begriffen  verarbeitet 
hätten.  Und  eben  so  verhält  es  sich  mit  den  Religionsbegritfen ;  denn 
kein  Missionär  kann  einem  Wilden,  der  absolut  keine  Idee  von  Religion 
hat,  den  christlichen  Katechismns  lehren.  So  wird  anch  kein  Mann, 
der  sich  mit  vergleichender  Religionswissenschaft  emstiich  beschältigfc» 
von  einer  Inspiration  der  sogenannten  heiligen  ürkimden  der  Völker 
sprechen.  Rigveda,  Avesta  und  die  hebräischen  Urkunden  stehen  in 
dieser  Hinsicht  auf  derselben  Stnfe,  wenigstens  für  den  Gnltnihisto- 
riker.  Die  Mehrzahl  der  zünftigen  Theologen  aller  Confessionen  wo^ 
den  wol  noch  lange  nicht  zu  dieser  Erkenntnis  kommen.  Ihre  Jjehr- 
meinungen  (Dogmen)  nennen  sie  positive  Religion,  ^^'ir  nerriren  das 
('bei'lieferte  auch  nicht,  aber  wir  jreben  ihm  den  richtigen  historischeu 
Wert  und  bewahren  uns  die  Fi  eiiieit  der  Ausleerung. 

Nicht  alle  ^'ölker  liaben  für  die  Kntwickelung  ihrer  Keligi(tns- 
und  Gottesbegi'itfe  denselben  Weg  eingeschlagen,  sondern  auf  ver- 
schiedenen Wegen  ist  dieses  Ziel  en-eicht  worden.  Dies  sehen  wir 
namentlich  an  der  Eigenthümlichkeit  ihrer  heiligen  Urkunden.  Han 
brancht  nur  den  Xexia  nnd  das  alte  Testament  zu  vergleichen,  h& 
denen  beiden  die  Phantasie  des  betreifenden  Volkes  eine  bedeutende 
Rolle  spielt  Bei  den  Indem  ward  anfiings  mehr  als  ein  verehrtes 
Wesen  als  oberste  Gottheit  gepriesen,  während  im  Alten  Testamente 


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—  329  — 


dieselben  Attribute  nur  Einem  Xainen  zngetheilt  wurden*),  weil  der 
Name  Eines  höchsten  götUichen  Wesens  schon  gefunden  war,  als  die 
Bttcher  des  Alten  Testaments  au^ezeichnet  wurden.  Diese  Vorstufe 
zum  Monotheismus»  wie  er  am  deutlichsten  im  alten  Indien  ersdieint, 
nennt  M.  Hüller  Henotheismus  und  yergleicht  diese  Entwi<^nngs- 
stufe  mit  den  Dialekten,  die  einer  Gesammtspraehe  vorausgehen. 
Henotheismus  nennt  er  den  Glauben  an  einzelne  ahwechsehid  als 
b^hste  hervortretende  Götter,  ganz  verschieden  von  Monotheismus, 
dem  Glauben  an  nur  einen  Gott,  mit  entschiedener  Leu^nung  der 
M'irlichkeit  anderer  Götter,  und  Polytheismus,  dem  Glauben  an 
viele  (TÖtter,  die  zusammen  eine  Art  von  geordnetem  Götterstaat 
bilden.  Wahrend  des  Bestandes  der  (unten  genannten)  Einzelgütter 
zeigte  sich  mit  <ler  Zeit  die  Neigung  bei  den  vedischen  Ariern,  eine 
Art  von  Oberhoheit  in  das  Güttersystem  zu  bringen,  aber  mit  weniger 
glücklichem  Erfolge  als  in  Griechenland,  wo  zuletzt  Zeus  als  Haupt 
ier  Welt  und  der  Götter  galt,  als  der  allerhöchste,  als  Gott  (&€6g) 
schlechthin. 

Allmählich,  als  das  religiöse  Bewusstsein  der  Inder  stfirker  wurde, 
w8hrtti4  08  nach  dem  Unendlichen,  dem  ewig  Unhekannten  suchte, 
begann  der  Zweifel,  und  dieser  ist  f&r  Vieles  der  Anfang  der  Er^ 
keuntnis  des  Wahren.  Man  bezweifelte  das  Dasein  des  Hauptgottes 
ludra  und  mit  der  Verneinung  aller  Devas  (Götter)  gelangte  man  zu 
emer  Art  Atheismus,  der  aber  zu  etwas  Besserem  f&hrte.  Sie  ve]> 
Hessen  die  lichten  Devas,  weil  sie  mehr  suchten  und  an  etwas  Höhe- 
res glaubten.  Ohne  solchen  Atheismus  wäre  jede  neue  Religion,  jede 
ßefonnation  unmöglich.  Solcher  Personen,  die  von  den  überlieferten 
Ansichten  über  die  Gottheit  abwichen,  hat  es  mehrere  gegeben,  z.  B. 
in  den  Augen  der  Brahmanen  war  Huddha  ein  Atheist;  in  den  Augen 
seiner  Athenischen  Richter  war  Sokrates  ein  (Gottesleugner,  weil  er 
an  etwas  Höheres  glaubte  als  an  Aphrodite  u.  a.  Auch  bei  deu 
Juden  galt  jeder,  der  sich  als  Sohn  Gottes  fühlte,  als  ein  Gottes- 
lästerer (Matth.  9,  3).  Alle  Christen  hiessen  bei  Griechen  nnd  Kö- 
rnern Gottesleugner  oder  Atheisten  (Apostelgesch.  24,  141  In  den 
Augen  des  Athanasius  waren  die  Arianer  Antichristen,  Atheisten; 
noch  im  16.  Jahrhundert  nannte  Servet  den  Calvin  einen  Atheisten, 

•)  Nicht  80  in  Indien.  Hier  war  Dyaua,  der  Hhnmel,  uls  der  stets  Leuchtende, 
Vamna  war  der  Himmel  als  <Ier  alles  I'infassende,  Savitri  die  Sonne  als  Licht  und 
Leben  Itrintfcnd.  Vishnu  war  die  Sonne  als  durch  »len  llimniel  schreitend.  Indra  er- 
schien am  Himmel  als  Kegen  bringend  (Jupiter  ;i)luviu.sy,  Agni  war  Feuer  und  Licht 
fiberbaupt. 


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—   330  — 


während  Calvin  den  Servet  des  SclieiterhanfenB  fiu*  würdig  erachtete, 
weil  dessen  Ansicht  von  der  Gottheit  der  seinigen  widersprach.  l>i>- 
selbe  Undaldsamkeit  kehrt  in  anderer  Form  immer  wieder  und  wir 
erleben  sie  noch  heut  zu  Tage. 

Als  die  vedischen  Inder  gewahrten,  dass  ihre  GOtter  nichts  als 
Namen  sei^  kam  ihnen  kein  Ghristenthnm  als  Erlösung,  wie  bei  den 
heidnischen  Griechen,  Römern  nnd  Dentschen,  bei  denen  dann  ihre 
Gottheiten  in  Dftmonen  und  bOse  Geister  (Teufel)  verwandelt  wurden. 
In  Indien  war  keine  andere  Religion  da,  um  die  Bedürfnisse  des 
menschlichen  Herzens  zu  befriedigen,  als  die  der  Brahmanen,*)  Man 
Hess  die  alten  Namen  fallen,  aber  der  Glaube  an  daj^,  was  sie  nennen 
wollten,  blieb,  „\ielleitlit  das  stille,  sanfte  Sausen,  das  einst  Elia 
hörte",  und  die  Weisen  mögen  wo]  manchmal  in  der  Stimmung  ge- 
wesen sein,  die  in  Uhlands  „verloi-ner  Kirche"  ihren  schönen  poetischen 
Ausdruck  findet. 

Die  folgenden  religiösen  Zustände  und  gesellschaftlichen  Verhält- 
nisse Indiens  können  wir  hier  nicht  weiter  verfolgen  und  wenden  uns 
dem  fSar  ans  als  Christen  näher  stehenden  Volke,  den  Israeliten  so, 
nm  von  einer  anderen  Seite  den  Gottesbegriff  kennen  zn  lernen. 

n. 

Auch  die  semitischen  Stämme  in  Palästma  haben  viele  Wande- 
lungen yensdt  des  Stromes  nnd  in  Ägypten**  Jos.  24,  14)  durchge- 
macht, bevor  Jahveh,  J^ova  zu  entschiedener  Herrschaft  gelangte. 
Die  monotheistische  Idee  des  Mosaisrons  kam  nur  sehr  allmählich  zur 

Reife,  und  um  den  reinen  .Tahvehdienst  aufrecht  zu  erhalt t  n,  war  das 
Prophetenthum  \on  grosser  i^edeutung;  denn  in  1.  Sam.  9,  9  \esen 
wir:  ,,Vor  Zeiten  in  Israel,  wenn  man  <rin*r  <^ott  zu  fragen,  sprach 
man:  Kommt,  lasst  uns  gehen  zu  deinSelier;  denn  die  man  jetzt  Pro- 
pheten heisst,  die  hiess  man  vor  Zeiten  Seher."  Propheten  erscheinen 
im  Alten  Testamente  als  Vertraute  der  (rottheit,  als  Mund  der  Götter; 
schon  bei  den  Ägyptern  hiessen  so  die  Obersten  ihrer  Priester.  Dass 
Jehova  ein  ansserweltlicher  Gott  ist,  nicht  etwa  aus  dem  Na- 
tnrdienst  entsprungen,  nnd  als  übersinnliche  Macht  bildlich  nicht 
darstellbar,  das  verleiht  der  nationalen  Überliefening  der  Hebräer 
ihren  vornehmsten  Wert  Jehova  erscheint  dem  Propheten  im  Feuer, 
ist  aber  nicht  das  Feuer,  er  ist  in  dem  Worte,  das  ans  dem  Feuer 


d.  h.  Oberpriester.  BrAhmana  bilden  eine  Abtheilung  derVeden  nnd  bendMn 
sich  anf  Oebet  nnd  Opferfaioidlnng;  der  Hanptinhalt  ist  (naeh  IL  HflUer)  theolo- 
gisches Gefasel.  Rfickert's  «»Weisheit  des  Brahmanen"  hat  jedenfalls  grösseren  Wert. 


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—   331  — 


gehört  wird.  Der  Gedanke  des  ausserweltlichen  und.  intellectuellen 
Gottes  ist  von  Mose  ge&sst  und  in  dem  Volke,  das  er  führte,  gleich- 
nm  verkörpert  worden,  und  dazu  haben  des  Volkes  Schicksale  viel 
mü^irirkt  Wie  die  Inder  dem  Gette  Opf ergaben  (Somaopfer)*) 
brachten,  um  seine  Gnnst  za  geigrinnen,  so  geschah  es  auch  bei  den 
Hetarftem.  Übrigens  werden  schon  Samuel  die  Worte  in  den  Mnnd 
gelegt,  dass  Jahveh  am  G^orsam  mehr  Wolgefallen  habe  als  am 
Opfer  (ygL  Psalm  51,  18  fg.).  An  mehreren  Stellen  in  den  Bttchem 
Mose  geschieht  der  Braado^er  Erwähnung,  z.  B.  2  Hos.  18, 12;  in 
20,  24  heisst  es:  „Einen  Altar  von  Erde  mache  mir,  darauf  du  deine 
Brandopfer  und  Dankopfer,  deine  Schafe  und  Rinder  opferst."  Im 
Kapitel  21  werden  sogar  Verordnungen  über  den  Brandoptejaltar  ge- 
geben; das  Gesetz  über  die  verschiedenen  Opfer  finden  wir  im  3. 
Buche  Mose. 

Durch  die  mosaisch-monotheistische  Lehre  war  der  neutestanient- 
üche,  christliche  Gottesbegriff  vorbereitet.  Im  Gegensatze  zur 
Heidenwelt,  die  Gott  als  eine  Verkörperung  der  Naturkräfte  auf- 
fasste,  wie  sie  sich  noch  im  Alten  Testamente  findet  (Job,  Kap.  87 
und  38),  faast  die  christliche  Lehre  Gott  als  etwas  Geistiges  auf.  Im 
Evangelimn  nach  Job.  4  TerkQndet  Jesus  dne  Uber  Samariterthum  und 
Jadenthnm  erhabene  Gottesverehrung,  fügt  aber  auch  hinzu,  dass  die 
Samariter  den  Gott  oder  die  Götter,  die  sie  anbeten,  gar  nicht  ein- 
mal  redit  kennen.  Das  sei  bei  den  Juden  besser:  sie  kennen  den 
wahren  Gh>tt  und  deswegen  komme  auch  von  ihnen  das  Heil,  vne  ja 
Jesus  seinen  Zusammenhang  mit  seinem  Volke  und  dessen  heiligem 
Gesetz  nie  verleugnet  hat.  Aber  es  komme  doch  als  etwas  weit  VoU- 
kommneres,  als  eine  „Anbetung  (Tottes  in  (reist  und  in  W  ahrheit." 
Bei  Joh. 4.  24  sagt  er  deutlich:  .,(-iott  ist  Geist  (jtvsvfta  o  ,'><-oc).  und 
die  da  anbeten,  müssen  im  (reist  und  in  der  Wahrheit  anbeten."  Als 
Menschen  werden  wir  nun  aber  immer  gez^^^m^ren  sein,  das  (rtittliche 
in  Menschenform  uns  vorzustellen,  daher  gebrauchen  die  Evangelien 
vorzugsweise  das  Wort  „Vater'S  und  damit  iiäogt  die  Annahme  einer 
^tigen  Vorsehung  zusammen,  die  in  keiner  andern  Beligion  zu  find^ 
ist.  £ine  spätere  Verirrunn:  ist  es,  dass,  um  zum  Vater  zu  gehin- 
gen, eine  Anzahl  polytheistischer  Mittelwesen  zu  FQrbittem  ersonnen 
wurden. 

Alle  Völker  ftthlten  das  Bedfirfhis,  dem  Unendlichen,  welches  sich 


^  Es  ist  dies  das  bdiebteste  Opfer  der  Tediseheii  Zeit»  bei  welcheni  der  ndt 
MOeh  oder  Qerste  gemisefate  Seit  der  Soma|illeaiie  dugebredit  wurde. 


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—   832  — 

hinter  dem  Schleier  de>j  P^ndlicben  verbirgt,  einen  Namen  zu  geben. 
tkkon  die  alten  Arier  wui-den  geführt  zur  Anerkennung  eines  Vatei*s, 
der  im  Hisunel  ist.  Im  ersten  Hymnns  des  Veda  lesen  wir:  ,.8ei  gü- 
tig gegen  nns,  wie  ein  \'ater  gegen  seinen  Sohn/'  Im  Rigveda  heisst 
es:  „Höre  uns,  Indra,  wie  ein  Vater.**  „Vater  im  Himmel**  oder  „himm- 
lischer Vatei^*  ist  nun  auch  die  gewöhnliche  Benennung  im  Neuen 
Testament  Christas  selbst  hat  es  im  Vaterunser  (Matth.  6,  9 
so  vorgeschrieben.  Was  er  unter  dem  Himmelreiche  versteht»  geht 
hervor  aus  den  Glekhnissen  der  Schiffpredigt  (Matth.  13). 

Das  persönliche  Erseheinen  eines  Gottes  gehört  in  das  Grebiet 
der  Poesie.  Wir  finden  es  niclit  blos  im  Alten  Testament,  sondern  auch 
im  indischen  Epos  (Brahma  und  Vischnu),  in  der  llias  des  Homer,  in  der 
germanisclien  Edda  u.  s.  ^\\  Mit  dem  Eingi'eifen  der  Gottheit  in  die 
Gescliicke  der  Menschen  Illingen  auch  die  Wanderungen  der  Götter 
zusammen,  l'nsere  Legenden  und  \'olkssagen  sind  voll  von  Erzäh- 
lungen über  Wandelungen  göttlicher  Personen,  aber  auch  Yon  Christus, 
Petrus  u.  a. 

Indem  wir  mit  der  alten  Zeit  abschliessen,  erinnern  wir  an  einen 
Ausspruch  Goetbe's  in  Riemers  Briefen  (1806).  Dort  schreibt  er:  JiH» 
Phantasie  wirkte  in  früheren  Jahrhunderten  ausschliessend  und  vor, 
und  die  flbrigen  Seelenkr&fte  dienten  ihr;  jetast  ist  es  umgekdurt,  sie 
dient  den  andern  und  erlahmt  in  diesem  Dienst  Die  früheren  Jahr- 
hunderte hatten  ihre  Ideen  in  Anschauungen  der  Phantasie;  unseres 
bringt  sie  in  Begriffe.  Die  grossen  Ansichten  des  Lebens  waren  da> 
mals  in  Gestalten,  in  Götter  gebracht,  heutzutage  bringt  man  sie 
in  Begriffe." 

III. 

Wir  betrachten  liier  die  Gottesidee  nur  historisch  und  ganz  ob- 
jectiv,  ohne  Kücksicht  auf  die  Glaubenssatzungen  der  aus  dem  Christea- 
tlium  hervorgegangenen  Kirchengesellscljaften.  Diese  hatten  das  Be- 
düifnis,  feste  (positive)  Normen  aufzustellen.  Uns  war  es  liier  darum 
zu  thnn,  mit  Übergehung  der  bekannten  Mythologien  der  beiden  s.  g. 
dassischen  Völker  und  der  in  ihrer  £ntwickelung  gestörten  germani- 
schen Religion,  den  Gang  der  Gottesidee  an  swei  Hauptgrundlagen  in 
der  Weltgeschichte  zu  besprechen,  um  den  Gang  zu  ertdidLsn,  nn^ 
welchem  sich  diese  Idee  entwickelt  hat  Das  Weitere  gehört  der 
vergleichenden  Religionsgeschichte  an,  die  eine  der  schönsten  wissen- 
schaftlichen Angaben  für  die  Zukunft  ist.  Die  religiöse  Erziehung 
des  Mensehen  wird  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  auch  fttr  die  Pä- 
dagogik von  Nutzen  sein,  wie  schon  Lessing  in  dem  Schriftchen  über 


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I 


—   333  — 


„die  £rziehang  des  Menschengeschlechts*"  (§  3)  angedeutet  hat  Die 
^Eaementarbttehei^  —  wie  Lessingr  sie  nennt  —  behalten  ihren  Wert 
ftr  die  ColtorgeBehiofate  und  seihet  fSac  die  Jagend,  die  einen  fthnlichen 
Oaag  ehischU^  wie  die  Völker;  nnr  emen  ähnlichen,  nicht  den  glei- 
chen Gang.  In  der  religiösen  Entwickelung  der  Menschheit  kann  es 
80  wenig  einen  Stillstand  geben  wie  in  andern  Gebieten.  Man  brancht 
nicht  gerade  mit  Lessing  (§  86)  ein  neues  Evangelium  in  Aussicht  zu 
stellen,  aber  Notiz  müssen  wir  nehmen  von  den  Ideen,  welche  bedeu- 
tende Männer  besonders  auf  deui  (Tebiete  der  neueren  Naturfoi-sclinng 
aiilirestellt  haben.  Gegenüber  der  Xaturndigiun  <ler  Völker,  die  dureh 
dira'te  Kinwirkung  einzelner  \\  eisen  oder  g^ottertüllter  Männer  geläu- 
tert wurden,  sucht  in  neut^rer  Zeit  eine  andere  Art  Naturreligion  sich 
(reltüng  zu  vei-schatfen,  namentlich  in  Bezug  auf  den  Gottesbegrilf,  der 
ein  Ergebnis  der  Naturbetrachtnng  ist,  bei  einigen  auch  das  Resultat 
flirer  philosophisch-religiösen  Weltanschauung.  Wir  meinen  die  Aus- 
iprüche  und  Hypothesen  eines  Spinoza,  Goethe,  Darwin,  HAckel,  Car- 
neri  n.  a.  Die  Acten  dar&ber  sind  aber  noch  lange  nicht  geschlossen 
tnd  wir  machen  auch  im  voraus  vom  pädagogischen  Standpunkte  ans 
«He  Bemerkung,  dass  solche  Weltansdiauungen  einstweilen  noch  nicht 
Gegenstand  des  Jugendunterrichtes  sein  können,  und  darum  schliesse 
ixk  mich  der  im  letzten  Septemberhefte  des  «J'aedagoginms"  mitge- 
theilten  Ansicht  Picks  im  Wesentlichen  an,  nur  hätte  die  vielseitige 
liel»ens-  und  Weltansc]uiuun<r  ("arneri's  dabei  einige  Rücksicht  verdient; 
denn  durch  die  Schriften  dieses  Mannes  haben  die  Forschungen  der 
Darwinisten  auch  eine  ethische  Seite  bekommen,  namentlich  durch  die 
beiden  Werke  „Sittlichkeit  und  l)ar^vinismus'^  drei  Büclier  Ethik 
(Wien  1871)  und  „Grundlegun-  der  Ethik"  (Wien  1881). 

Nach  der  herkömmlichen  Erziehung  im  Kirchenglauben  fällt  es 
sdbfit  dem  Unterrichteten  ausserordentlich  schwer,  einen  andern  Stand- 
punkt einzunehmen  als  den  bisherigen.  Selbst  Naturibrscher  haben 
1»  jetzt  Bedenken  getragmi,  die  Aufstellungen  Darwin's  und  seiner 
Anhänger  anzuerkennen;  sie  geben  nicht  zu,  dass  die  Naturforschung 
nr  wirklidien  Erkenntnis  Oottes  fittire.  Wie  könnte  der  Mensch, 
sagen  sie,  den  geistigen  Grund  der  Welt  ermessen,  da  er  keinen  an- 
dern Haesstab  ndtbringt  als  sein  eigenes  Selbst?  Sie  f&hlen  sich  nn- 
wOIkfirlich  gedrängt,  die  Gottheit  als  persönlich  sich  vorzustellen,  ohne 
dieses  gerade  auszusprechen.  Andere  nennen  die  ,,Naturgesetze  die 
permanenten  Willensäusserungen  eines  schaHi^ndt  n  Princips." 

Dieses  Suchen  nach  dem  Begritte  des  Uiiendliclien,  wie  wir  es  schon 
Ufi  den  Indem  wahrgenommen  haben,  hat  bis  auf  den  iieutigen  Tag  die 


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—    '6U  — 

Philosophen  beschäftigt.  Von  allen  Gelehrten  abei*,  welche  sich  mit  der 
neueren  Naturforschnng  befreundet  haben,  scheinen  mii*  wenige  mit  sich 
so  im  Klaren  zu  sein  wie  ('arneri.  Er  hat  in  den  genannten  Schritten 
die  Brücke  geschlafen  zwischen  Darwinismus  und  Christenthum  oder 
vielmehr  walirer  Religion.  Es  würde  liier  zu  weit  tüliren.  seine  An- 
sichten über  die  Enwickehingslehre,  deren  Grimdgesetz  die  Causalität 
ist,  über  den  Monismus  etc.  hier  vorzubringen.  Wir  verweisen  einfach 
auf  sein  letztes  Werk  „Grundlegung  der  Ethik'\  Spinoza  und  Kant 
nennt  er  seine  Lehrer.  Auch  Goethe,  der  frühzeitig  mit  den  Schiiflten 
Spinoza's  bekannt  wurde  und  immer  wieder  zu  ihm  zurückkehrte,  sagt 
gleich  im  Beginn  des  16.  Buches  von  ^Dichtung  und  Wahrhett;'':  »Jfehi 
Vertrauen  auf  Spinoza  ruhte  auf  der  Medlichen  Wirkung,  die  er  in 
mir  hervorbrachte."  In  einem  Briefe  an  Jacob!  (1785)  sagt  er:  ^^Spinoza 
beweist  nicht  das  Dasein  Gottes,  das  Dasein  ist  Gtott  Und  wenn 
ihn  andere  deshalb  Atheum  schelten,  so  mOchte  ich  ihn  theissimum 
nnd  christianissimum  nennen  und  preisen." 

Goethe's  Auffassung  der  Natur  und  wie  er  sidi  mit  den  religiösen 
Fragen  abfand,  gelit  aus  seinen  Schriften  hervor.  Aus  vielen  spricht 
deutlich  ein  gewisser  Pantheismus;*)  er  sieht  das  Göttliche  in  dem 
immerfort  W^achsenden  und  Lebenden.  (Goethe  will  sicli  nicht  ver- 
messen, Gott  /u  erkennen,  doch  beglückt  es  ilni,  seine  Spur  wahrzu 
nehmen  in  den  erhaltenden  Gesetzen  der  Natur.  „Ihm  —  sagt  er  — 
ziäntls,  die  Welt  im  Innern  zu  bewegen,  Natur  in  sich,  Sich  in  Natur 
zu  hegen,  so  dass  was  in  Ihm  lebt  und  webt  und  ist,  nie  Seine  Kraft- 
nie  Seinen  Geist  vermisst'*  Nicht  auf  die  Erkenntnis,  sondern  anf  die 
Empfindung  legt  er  den  Nachdruck,  wenn  er  im  Faust  sagt:  „Wer 
darf  ihn  nennen?  Und  wer  bekennen:  Ich  glaub'  ihn.  Wer  empfinden 
und  sich  unterwinden  zu  sagen:  Ich  glaub'  ihn  nicht?  —  Also  alle 
Beflexion  hat  ihre  G-renzen,  und  wer  hier  angelangt  ist,  sollte 
mit  Goethe  sagen:  „Wenn  der  uralte  heilige  Vater  mit  gebissener 
Hand  aus  rollenden  Wolken  segnende  Blitze  Uber  die  Erde  8ft%  kfiss» 
ich  den  letzten  Saum  seines  Kleides,  kindliche  Schauer  treu  in  der 
Brust."  —  Das  stimmt  auch  zu  der  Religion  unserer  gennanischen  Vi»r- 
fahren:  deorum  nominibus  appellant  secretmn  illud,  (lUDd  sohl  reve- 
rentia  videut  (Tacitus  Germ.  IX.) 

*)  1813  schrieb  er  an  Jaoobi:  ,Jeh  fUr  mich  kann,  bei  den  mansigfaltigeii 
mchtongeii  meines  Wesens,  nicht  an  ehier  Denkweise  genog  haben;  als  Didkter  nnd 

Künstler  bin  ich  Polytheist,  Pantheist  hingen  als  Natiirforscher,  und  eins  ><-  onf 
schieden  als  das  andere.  Bedarf  ich  eines  Gottes  fttr  meine  Pendnlichkeit,  als  sitt- 
licher Mensch,  so  ist  dafür  auch  schon  gesoigt." 


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Nleman  kan  beherten 
kindes  zuht  mit  gerten. 

Ein  pä(lajr<>£:isrhes  Bedenken 
VOM  Dr,  H,  JPreUuhKönigtberg  i.  Fr, 

„Niemau  kau  behertcu 
„kmdes  raht  mit  gottti: 
„den  man  i*irea  bringen  mac, 
Jism  ist  ein  wort  «Is  ein  sUm:/ 

ruft  uns  ein  Dichter  zu,  dei-  ein  ganzer  Mann  war  vom  vSclieitel  bis 
zur  Sölde  und  ein  Deutscher  dazu,  wie  wir  ihm  aus  seinen  Zeitge- 
nossen kaum  einen  zweiten  an  die  Seite  zu  stellen  vermögen.  — 
-Scliade  um  jeden  Schlag,  der  vorbei  fällt,"  ruft  heute  der  eratirnte 
Vater,  der  eben  seinen  hofihnngs vollen  Sprössling  durchgebleut  hat 
md,  nach  Luft  ring^d,  das  Böhrchen  bei  Seite  legt  Aber  ruft  denn 
Bor  der  Vater  so,  dem  gewöhnlich  die  angebome  liebe  allein  die 
Nonn  seiner  Pädagogik  sein  mnss?  Ach  nein;  gar  mancher  „gesdknlte** 
PSdagoge  hat  vidleicht  eben  jene  Waltherschen  Verse  mit  seinen  Zög- 
KiigeD  tractirt  nnd  fthrt  plOtdich  mit  hoch  erhobenem  Stdckehen  auf 
änen  unanfmerksamen  SehtÜer  ein,  —  um  Theorie  nnd  Praxis  wOrdig 
za  veibinden.  Jene  Verse  stammen  aus  der  sonnenhellen  besseren 
Hallte  des  deutschen  Mittelalters;  jene  väterliclicn  Worte,  die  jeder 
von  uns  wol  sclion  zu  hören  bekommen  hat,  sind  ein  Motto  der  Zeit, 
^\^:  mit  der  Erziehung  zui-  Humanität  sicli  brüstet.  Unsere  wenig 
liivoreti sehen  Ahnen,  denen  ihre  Ehre  ihr  Leben  war,  hätten  sicherlich 
über  eine  Praxis,  die  diuch  Prügel  zur  Humanität  erziehen  will,  ebenso 
gestaont  wie  über  ein  Verfahren,  welches  die  Moralität  durch  das 
Zuchthaus  beleben  wollte.  Und  wir  Humanitätsritter  schrecken  vor 
dieser  Praxis  nicht  zurück?  Nun,  hier  nnd  da,  aber  im  ganzen  doch 
recht  selten.  Dem  Verfosser  dieses  „pädagogischen  Bedenkens**  ist,  nm 
an  Bdspiel  zu  geben,  ans  einer  kleinen  Stadt  der  Msrk  ein  Fall  be* 
luumt,  wo  ein  im  Dienst  ergrauter  Lehrer  einer  höheren  Unterrichts- 
«astah,  von  dem  Dirigenten  aufgefordert,  den  Stock  seltener  zu  benatzen. 


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—   336  — 


«Miitucli  antwortete:  ,..Ia,  dann  kann  icli  das  in  Zukunft  nicht  leisten, 
was  icli  bisher  o^ek-istet  habe";  —  freilich  ein  stolzes  Selbstbewusst- 

sein,  —  aber  die  jüngeren  Schüler  spielten  auf  der  Strasse  „X  " 

—  so  hiess  der  Lehrer,  und  das  Spiel  bestand  darin,  das»  sie  sich 
gegenseitig  bei  den  Haaren  rauften.  Glücklicherweise  ist  das  kind- 
liche Vergnfigen,  so  viel  ich  weiss,  nur  local  geblieben,  dass  es  aber 
nicht  auch  anderwärts  geübt  wird,  daran  hat  vielleicht  nur  die  geringere 
Erfindnngskonst  der  Jugend  schnld;  denn  geprftgelt  wird  &st  allent- 
halben, in  Gymnasien  und  in  Bealschulen  mit  geringen  Ansnahm^ 
Eine  Berliner  Anstalt  war  vor  einigen  Jahren  so  glttdcUch,  im  Pro- 
gramm anzeigen  zu  kdnnen,  dass  der  Stock  im  Verianf  des  Schuljahres 
nicht  in  Kraft  getreten  sei,  und  aus  dem  Munde  eines  hochangeseheneii 
Berliner  Pädaf^rjo^en,  der  einer  stark  besui  hten  Lehranstalt  als  Director 
vorsteht,  hiirte  der  Verfasser  die  an  einen  jungen  Collegen.  welcher 
sich  zu  Tliätliclikeiten  hatte  hinreissen  lassen,  o:erichteten  Worte: 
..Wenn  Sie  Kneclitf  ii ziehen  woUeu,  ist  eine  höhere  ünterrichtsanstalt 
nicht  der  Ort  dazu!" 

Scheint  man  nun  in  unseren  Tagen  trotz  solcher  vereinzelten 
Stimmen  an  den  Schalen  die  Prii£r(^lstrafe  nicht  entbehren  zu  können, 
die  bereits  Walther  von  der  Vogelweide  principiell  verwirft,  so  dürfte 
vielleicht  nicht  uninteressant  sem,  m  betrachten,  wie  man  sich  in  on- 
serer  Heimat  in  den  verschiedenen  Jahrhunderten  zu  diesem  Zncht- 
mittel  gestellt  hat 

Wie  J.  Grimm  in  den  Rechtsalterthflmem  nachgewiesen  hat,  konnte 
der  freie  Germane  nur  an  Vermögen,  d.  h.  an  Vieh  und  Waifengerftth, 
gestraft  werden;  denn  im  Vermögen  beruhte  die  Macht  des  Einzelnen, 
Minderung  des  Besitzes  war  also  Machtbeschränkung,  und  selbst  der 
Mord  wurde  mir  durch  diese  gebüsst.'t  Niemand  duifte  den  freien 
Mann  schhigen  ausser  dt^n  Priestern,  die  im  Namen  der  erzürnten 
Gottheit  handelten:-)  denn  der  Freie,  mit  der  Ruthenstrafe  belegt, 
verlor  eben  Freiheit  und  Khre,  und  bereits  ein  ungerächt  hingenom- 
mener Backenstreich  machte  ihn  leibeigen.  Wer  einen  Freien  y-ider 
seinen  Willen  nur  an  der  Locke  berührte,  musste  diesen  Frevel  Schwei- 
büssen,  und  wer  sich  mit  der  Schere  drohen  oder  das  Haar  wol  gar 
abschneiden  liess,  der  war  vor  seinen  Stammesgenossen  geschändet.  Nor 
der  Unfreie,  welcher  eigenes  Vermögen  nicht  besass,  bfisste  mit  oder 
an  seinem  Leibe,  aber  selten  wurden  selbst  Sdaven  nur  geschlagen.*) 

Weib  und  Kind  standen  nun  in  des  Hausherrn  Gewalt,  aber  sie 


')  Vgl.  Tacit.  Gem.  21.  —  •)  das.  7.  —  «)  25. 


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—   337  — 


waren  ihm  nicht  leibeigen,  sondern  ni^^ng"»  und  allgemeine  Kecht 
zog  sie  daher  in  diesem  Sinne  in  sein  Bereich;  es  hob,  was  das  Kind 
anlangt,  aucli  das  jugendlicliste  Wesen  durch  bestimmte  Satzung  Uber 
das  SebickBal  des  Knechtes  hinaus,  und  wir  erfohren  z.  B.,  dass  nach 
westgoihlBdiem  Bechte  der  gerichtliche  Wert  eines  wunttndigen  Kindes 
60  Solidi,  deijenige  des  redenden  Kindes  von  3  Jahren  70  nnd  der 
eines  sechsjährigen  80  Solidi  hetmg.  Hatte  so  lange  die  Mutter  die  * 
Erziehung  in  Händen,  so  trat  jetzt  der  Knabe  mit  sieben  Jahren  ans 
der  Kemnate  unter  die  Regierung  des  Täters,  und  mit  acht  Jahren 
büsste  er  bereits,  während  bisher  der  Vater  fftr  die  Handlung^en  seines 
Sohnes  verantwortlicli  gewesen  war,  halbes  Reclit.  Mit  neun  .Taliren 
betruo:  das  Wergeid  des  Knaben  KD  Solidi.  mit  dem  zehnten  .lalire, 
wo  die  Miindit(keit,  nicht  aber  bereits  die  Grossjährigkeit  eintrat.  lOi), 
und  nnn  jährlich  10  S<t]iili  mehr  bis  znni  15.  Jahre,  wo  di*^  volle  Mün- 
digkeit ausgesprochen  Avurde.  die  aber  nach  fränkiscliem,  lanp^obardi- 
schem  und  angelsächsischem  Hecht  wie  nach  dem  Sachsen-  und  Schwa- 
benspiegel schon  auf  das  12.  Jahr  festgesetzt  wird;  auch  nach  der 
Havarar-saga  tritt  mit  diesem  Alter  der  Knabe  für  den  Dienst  zu  Fuss 
iu  den  Heerbann.  War  der  Jüngling  nun  durch  den  Act  der  Schwert- 
leite wehrbar  gemacht,  so  lernte  er,  der  bisher  unter  Leitung  des 
Vaters  Sehnen  gewunden,  den  Bogen  gespannt,  sich  mit  der  Lanze 
wsueht  nnd  seine  Kraft  gestfthlt  hatte,  die  Septem  piobitates,  nSm- 
iich  eqidtare,  natare,  eestibus  certare,  aucupare,  scacis  ludere,  sagittare, 
versiilcari,  und  so  war  also  die  gesammte  Erziehung  des  Kindes,  das 
durch  feststehendes  Oesetz  in  jedem  Alter  gegen  körperliche  Verletzung 
oder  Schädigung  gesichert  war,  auf  Ehre  und  \\'ehrhaftigkeit  gerichtet. 

Dass  nun  in  der  Kemnate  zur  Vertreibung  kleiner  Unarten  die 
RuTlie  als  drohendes  Instrument  vorhanden  war,  lässt  sich  nicht  be- 
zweileln;  aber  sie  befand  sich  in  der  llaud  der  Mutter  und  war  lür 
das  jugendliche  Alter  bestimmt.  Konnte  der  Vater,  der  selbst  gegen 
seine  Sclaven  die  Zuchtruthe  nur  selten  gebrauchte,  sein  Kind,  eines 
freien  Mannes  Kind,  körperlich  ziuditigeu  und  damit  dem  Knechte 
gleich  stellen?  Nein,  mit  dem  siebenten  Jahre  war  das  Kind  sicherlich 
an  Haut  und  Haar  geschützt;  ein  Vater,  der  <icli  in  seiner  Ehre 
gekränkt  fUüte,  wenn  ihm  nur  eine  Locke  seines  Hauptes  berührt 
wurde,  konnte  sein  Kind,  das,  zur  Ehre  bestimmt,  durch  alle  Gesetze 
der  Ehre  in  Schutz  genommen  wurde,  nicht  bei  den  Haaren  raufen  oder 
mit  Rathen  streichen. 

Allerdings  ist  das  kein  directer  Beweis,  dass  die  Prügelstrafe  bei 
der  Erziehung  des  fi^en  Deutschen  ausgeschlossen  gewesen  sei,  wie 


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—   338  — 

das  ganze  Volk  aber  über  solch  ein  Zuchtniittel  dachte,  geht  daraus 
deutlich  genug  lieiTor,  dass  das  Gudruulied  z.  B.  der  wöüischen  Gei- 
liud  nur  die  Drohung  in  den  ^fund  legt,  sie  wolle  die  ihrem  Verlobteu 
unwandelbar  tieue  Jungfrau  mit  „besemen''  peitschen  lassen;  denn 

der  ungefttegen  dlhte  wolte  dft  ftou  OAilfait  niht  orwiDden. 

Aber  auch  hier  bleibt  es  bei  der  Drohung  der  Teufelin;  der  Dichter 
venneidet  es  wuhveislioh,  die  wStrate  vollziehen  zu  lassen.  Und  deiii 
asiatischen  Despoten  Darius,  welcher  den  Alexander  schriftlich  hrdint. 
er  wertle  ilin  „mit  beseiiien  villen"  lassen,  aut wollet  dieser,  derlei  sei 
das  Gebelle  eines  schäbigen  Hofliundes.  er  aber  werde  ihm  mit  dem 
blanken  Eisen  kommen.  Konrad  von  Wüi-zburg  erzählt  uns  in  seinem 
„Otto  mit  dem  Barte",  wie  einen  Schlag,  welchen  der  Tmchsess  zu 
Bamberg  dem  naschliaften  Sohn  des  Schwabenherzogs  yersetzte,  der 
Hofmeister  des  Kindes,  Bitter  Heinrich  Bitzner  von  Kempten,  damit 
vergolten  habe,  dass  er  den  jähzornigen  Mann  sofort  und  vor  den 
Angen  des  Kaisers  mit  einem  Stock  erschlug;  denn 

deu  mau  z  ereu  briiigeu  luac, 
dem  ist  ein  woit  als  ein  slac; 

nnd  der  Dichter,  der  diese  Worte  schrieb,  ist  nicht  blos  Theoretiker, 
ja  sein  Erzieheramt  an  der  Seite  Engelberts  von  Berg,  des  Ei-zbischofs 
von  Cöln,  konnte  ihn  wol  gelegentlich  in  Hämisch  bringen,  da  Hein- 
rich (VIL),  Friedrichs  IL  Sohn,  schon  früh  sehr  hAsstiehe  Seiten  in 
seinem  Charakter  zeigte  und  schon  sehr  Mh  selhststfindig  wurde.  So 
straft  Walther  denn  den  jungen  Prinzen  auch  in  dem  Sprach: 

Selbwahfcen  kiut.  du  bist  ze  krump: 

Bit  nieman  dich  gerillten  mac 

(dft  bist  dem  beiemai  leidar  alze  gros, 

den  «werten  alse  kleine), 

nü  sinf  imde  bnbe  gemach. 

Seine  Kunst  blieb  freilich  dem  unlenksanien  und  ausgearteten,  in  der 
ersten  Jugend  verdorbenen  Königssohne  gegenüber  erfolglos,  und  mit 
nninutlivollen  Worten  riukl  er  ihm  daher  seine  ünverbesserlichkeii 
vor,  indem  er  erklärt,  dass  er  nicht  länger  bei  ihm  Schulmeister  bleiben 
wolle.  Das  geschah,  da  VValther  am  2'^.  Juni  1224  bei  Gelegenheit 
des  Nüniberger  Hoftages  noch  in  Heinrichs  Umgebung  war,  kurz  vor 
oder  nach  der  am  7.  November  1225  erfolgten  Ermordung  Engelberts; 
da  aber  war  Heinrich  zwölf  oder  dreizehn  Jahre  alt,  —  dem  Schwert 
zu  lüein,  aber  der  Ruthe  entwachsen,  und  unser  Sftnger  ist  prindpieU 
gegen  PrOgel;  denn 


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—   339  — 

tk'ii  man  z'ereii  luiii^rcii  mar. 
dem  ist  ein  Wort  als  ein  slac. 

Was  Waltlier  hier  dem  dreizehnten  Jahrhundert  sagt,  das  ruft 
6eikr  von  Kaiaeraberg,  einer  der  YorUnfer  Luthers  und  ein  gewal- 
4ger  fiedner,  dem  fttnfEehnten  Jahrhundert  fast  mit  denselben  Worten 
m:  wen  ein  wort  nit  ist  als  ein  streich,  da  wirt  auch  niemer  gnots 
iä.^)  •  Hatte  nnn  schon  Berthold  von  Begensborg'),  der  grOsste  Volks- 
Prediger  des  Mttehüters,  in  seinen  oft  vor  Tausenden  im  Freien  ge- 
haltenen Reden  die  Altern  zn  Milde  und  Schonung  gegen  die  Kinder 
enuahnen  müssen:  „Als  ez  ein  unziiht  oder  ein  boesez  wort  sprichet, 
^ü  sult  ii"  im  ein  smitzelin  tiion  an  bloze  hfit;  ir  sult  ez  aber  an  bloz 
houbt  nilit  slahen  mit  der  hant,  wan  ir  möhtet  ez  wol  ze  einem  toren 
machen,  ninr  ein  kleinez  riselin,  daz  vohtet  ez  und  wirt  wol  gezogen."  =M 
setzt  «Teiler.  M  wie  er  den  Spruch  des  Dichters  enieuerte,  diese 
Mahnung  fort.  In  einer  Predigt  aus  dem  Jahre  150S  sa^rt  er:  „Da 
hoet  du  dich,  da£z  du  nit  thuest  als  vil  menschen,  die  grimmzornig 
seind  und  lauD'ent  umb  als  ein  wüetender  hundt  wenn  ein  kind  etwas 
thaot,  so  schlahen  sie  es  an  backen,  daz  es  zuo  der  erden  feit  und 
also  verderbt  der  teufel  den,  der  straffen  wil,  daz  die  straff  mer  gät 
i&  eine  räch,  denn  ufz  liebe,'* —  und  drei  Jahre  spftter,  in  der  dritten 
Fredigt  „von  den  siben  schayden**,  bittet  er:  „Tuo  ains,  halt  an  dich, 
Bit  Schlags  kind,  hüz  dir  der  zom  vergät;  denn  straff  mit  einem  hai- 
tem  hertzen  nach  yemunfit.  alle  die  weil  dirs  hertzklopffet,  kere  zuo 
dir  selber,  daz  tuo  zehen,  zwaintzigmal,  so  dick  der  zom  die  mot  in 
die  hand  nimpt,  so  dick  halt  an  dich  "  —  denn:  ,.es  bedörfft  grözer 
kuust,  wissen  wie  man  sich  recht  solt  halten  in  stratfen,  weder  in  der 
hohen  schul  die  heilig  gesclirittt  zu  lesen." '^')  Dass  er  femer  die  Ruthe 
ütti-  fiii"  die  .lahre  angewandt  mssen  will,  die  das  Kind  ehedem  im 
Fmuengemacii  zu^rebracht  hatt^.  geht  ziemlich  deutlich  aus  einem  eigen- 
tiiüiiüichen  Gebrauch  hervor,  den  er  erwähnt;  er  sagt  nämlich  gele- 
gentlich: „Wenn  man  ein  kind  houwt,  so  muoz  es  dann  die  ruoten 
koBsen  und  spredien: 

liebe  mot,  trfitc  r\iot, 
were-stu,  ich  thet  niemer  guot. 

ae  küssent  die  mot  und  springen  darüber,  io  sie  hupten  darüber*'*), 
ud  in  „der  Seelen  Paradies"  schreibt  er  ähnlich:  „Wenn  im  (sc.  dem 

')  Brösamlin.  Bl.  (52.  —  Geb.  zw.  1210  u.  1220  zn  R^gensburg,  «eit  122(i 
FVanzi'^kaner;  gest.  13.  Dec.  1272  zu  Rogen.sbnre:.  —  ^)  Predicrten.  herauspes!'.  von 
Klin^.  Berlin  1824.  21fi.  —  ')  (.eh.  Ki.  März  1445  in  Schaffliawaen,  gest.  10.  März 
lolU.  —     Brösamlin  BI.  63.  —  ")  C'kriatl.  Büg.  ßl.  «8«i. 


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^    340  — 

Mensclieni  leiden  znofallet.  so  sagt  er  danck  dariimb  «(eleicli  als  ein 
veriiiniÜtif,^es  kind:  darum  küsset  es  cttwenn  die  ruot,  wenn  es  echter 
meinet,  daz  der  vatter  ein  j^^efallen  daran  habe."')    Dieser  Fauiilitu- . 
brauch,  dass  das  Kind  zu  Zeiten  die  Zuchtrutlie  küssen  musste,  weist 
an  sich  aiü'  ein  sehr  jug^endliclies  Altei'  des  Kindes,  und  durch  Joliann 
Fiscliart  erfaln-en  wir  sogar,  für  welche  Lebensjahre  er  berechnet  war; 
diesei*  üagt  nämlich  von  des  Gargantua  adeUcher  jugend  und  jugend- 
gem&feer  tilgend:  „Von  dreien  jaren  bis  zu  fünfen  war'er  fromm,  bis 
niman  im  schlaf  machet  der  laus  stelzen,  kfisset  die  rut,"  und  so  haben 
wir  denn  in  dem  erwähnten  Braach  offenbar  einen  Überrest  der  sanftes, 
in  weiblichen  Händen  b^dlichen  Eemnatenerziehang.  Dass  die  hins* 
liehe  Erziehung  aber  im  allgemeinen  tief  gesunken  war,  beweisen  die 
Tiel£Budien  Mahnungen  Geilers  und  seiner  Gesinnungsgenossen,  die  das 
Wol  des  Vaterlandes,  das  Heil  der  Zukunft  yon  der  Besserung  der 
Kinderzucht  abhängen  sahen.   Und  auch  die  Reformatoren,  denen  ja 
daran  gelegen  sein  musste,  von»  Hause  und  von  der  Schule  aus  die 
Kirche  zu  reforniiren ,  wenden  der  Jugenderziehung  ihre  ganze  AiU- 
merksanikeit,  aber  auch  ihre  ganze  Milde  zu;  sie  lordern  Huniauirät 
und  brechen  mit  dem  Stock.  „Die  Krlkliruug  lehre  uns,*'  sagt  selbst  der 
streng  erzogene  Lutlier  in  der  Auslegung  von  I.  Joh.  2,  14,  „dass  durch 
Liebe  weit  mehr  ausgerichtet  werden  könne,  als  durch  knechtische 
Furcht  und  Zwang,  und  solle  der  Cliristenheit  wieder  geholfen  werden, 
so  müsse  man  fürwahr  an  den  Kindern  anheben,  wie  es  vor  Zeiteo 
geschah."  Erzählt  doch  Luther  selber,  er  sei  an  einem  einzigen  Moigeii 
fünfeehnmal  wacker  gestrickt  worden,  klagt  er  doch  darmn  noch  m 
späteren  Jahren,  „wie  vor  dieser  Zeit  die  Schulmeister  gewesen  smd, 
da  die  Schulen  rechte  Kerker  und  Höllen,  die  Schulmeister  aber  Tyraanea 
und  'Stockmeister  waren;  denn  da  wurden  die  armen  Kmder  ohne  Ka» 
und  ohn'  alles  Aufhören  gestäupet,  lemeten  mit  grosser  Arbeit  nad 
nnmässigem  Fleiss,  doch  mit  wenigem  Nutzen;**  —  ,,aber,'^  sagt  er 
dann  anch,  „solche  Lehrer  und  Meister  haben  wir  müssen  allenthalben 
haben,  die  selbst  nichts  gekonnt  und  nichts  Guts  noch  Rechtis  hahfU 
nnigen  lehren."    Aus  solchen  Erfahrungen  aber  floss  ihm  eben  sfiu 
Kif'er  für  Kr»rderung  <les  Krziehungswesens  und  seine  brünsti<re  Liebe 
für  die  Ju^rnd.  und  seine  grösste  Freude  und  Stärkuns:  war  es  iliiii, 
als  er  die  Krüchtt^  st  iiiei-  \ilieir  in  deui  jungen  Geschlechte  reifen  sali: 
,.Es  wüchset  daher  die  zarte  Jugend  an  Knäblin  und  Maidlin,  mit  dem 
Katechismo  und  Schrift  so  wol  zugericht,  dass  mir's  in  meinem  Herzea 

>)  Stmsbuig  lölO,  Bl.  23  b. 


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—  341  — 

sanft  thut,  dass  ich  sehen  ma^,  wie  jetzt  jnnge  Knäblin  und  Maidlin 
mehr  beten,  glauben  und  reden  können  von  Gott,  von  Christo,  denn 
vorhin  nnd  noch  alle  Stift,  Klöster  und  Schulen  gekonnt  haben.  —  Es 
ist  ftrwahr  solches  jrnig  Volk  ein  schönes  Paradies,  dess^eichen  auch 
in  der  Welt  nicht  ist  Und  solches  alles  bauet  Gott,  als  sollt  er 
sagen:  Wohlan,  lieber  Herzog  Hans,  da  befehl  ich  dir  meinen  edelsten 
Schatz,  ein  lustiges  Paradies;  du  sollst  Vater  Aber  sie.  sein,  als  mein 
Gärtner  und  Pfleger."  Keine  GMegenheit  liess  er  unbenutzt,  auf  diesen 
kostbaren  Schatz  nnd  seine  trene  Hut  hinzuweisen;  so  erwiderte  er 
einst  seinem  Freunde  Jonas,  der  an  einem  schönen,  über  dem  Tische 
hänj^enden  Kirschenast  seine  Freude  hatte:  „Warum  bedenkt  ihr  das 
nicht  vi(^hnehr  an  euren  Kindern,  eures  Lt'ibes  Früchten,  welche  scliü- 
nere.  herrlichere  ('reaturen  Gottes  sind  denn  aller  Bäume  Früchte?" 
Wie  aber  die  so  freudig  begonnene  Reformation  gar  bald  in  scho- 
lastische Schulgezänke  sich  auflöste,  aus  denen  mit  Xoth  und  Mühe 
der  evangelische  Kern  gerettet  wurde,  so  vergass  man  auch  alles,  was 
die  Kirchenbesserung  Grossartiges  in  ihrem  Gefolge  gehabt  hatte,  nnd 
wenn  auch  noch  Fischart  dem  Hausyater  zuruft: 

O^iriiiii  ddm  Weib  den  Math,  und  spar  den  Emdem  die  Bath! 

80  verfiel  man  trotz  alledem  sehr  schnell  wieder  in  die  frohere  Praxis, 
Wissenschaft  und  Tugend  in  die  Kinder  hinein-,  Dummheit  und  Fehler 

herausprügeln  zu  wollen,  und  selbst  Rousseau^s  Emil  vermochte  den 

Stock  nicht  zu  verbannen. 

Wie  in  aller  Welt  war  man  denn  aber  in  uiiserm  deutschen  Va. 
leriande  zu  diesem  Dreinschlagen  gelanirt? 

Schon  im  13.  Jahrhundert  ist  der  Marner  für  Schläge  und  fürchtet 
sogar,  —  ganz  im  (T^^gensatz  zu  den  altdeutsclien  Anschauungen  über 
Erziehung,  —  den  Vei  lust  der  Elubarkeit  aus  dem  Mangel  au  Euthen- 
streichen;  deshalb  belehrt  er  seine  Zuhörer: 

„liebem  küid  ist  gnot  ein  lis; 

uwer  äne  vorhte  wahset, 

der  muoz  »under  ere  werden  grid,*' 

und  wir  wissen,  dass  seine  Lieder  bei  dem  Glems  grossen  Beifalls  sich 
erfrenten.  Auch  Geiler  sagt  in  der  Predigt  „von  den  Sünden  des 
Hundes"^)  wiederholentlich:  „Wenn  deine  kind  geschleckt  haben  und 
denn  anfthen  sich  entschuldigen  mit  lugen,  und  brechen  also  bletter 
und  machen  queeten  von  fsigenblettem,  so  solt  du  bircldnqaesten 
machen  von  birkinreisz^  und  mit  denselbigen  jnen  das  weren,  das 


•)  Bl.  Iß,  25. 

PaiagoghuB.  4.  J«lug.  Heft  VL  23 


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h^i  liinten  und  fernen  blitzen  und  uÖ'springeii:  es  ist  ein  ofuote  luoteii- 
latwerg,  wenn  sie  lieiL^en;  also  dick  es  lügt,  so  dick  gib  jm  ein  scldeckliu 
mit  der  nioten:  das  ist  ein  birckinlatwergen;  es  ist  nit  peszers  dafiü- 
uff  ertricb  weder  eben  daz/'  und  Sebastian  Bitint  s&gt  im  Narrenschiff 
„von  ler  der  kind**: 

„die  ruet  der  «ucht  vertribt  on  amerts 
die  narrheit  nsz  <lt's  kindes  Herta, 
on  straffung  selten  veniens  lert." 

Wie  aber  er  niu*  Proverb.  XXII,  15  in  diesen  Verseu  varürt,  so 
schwebt  dieselbe  biblische  Stelle  auch  dem  Hans  Sachs  vor,  wenn  er 
empfiehlt,  „dasz  ihr  solt  ewere  kinder  halten  unter  der  ruthen,  die 
mit  schmertzen  des  kinds  thorheit  treibt  aosz  dem  hertzen,**  and  Agri- 
cola,  welcher  ans  aus  dem  Jahre  1619  meldet,  dass  Tienmdzwanzig* 
jährig]^  Schüler  vom  Prftceptor  mit  Rathen  gestrichen  wurden,  lisst 
sich  darch  Sirach  XXX,  1  zn  dem  Hexameter  verleiten: 

Non  amat  hic  pnemm,  qni  raro  castigat  illum. 

Ulrich  Megerle,  der  Liebliiigspi  ediger  seiner  Zeit,  ein  Barftisser,  der 
vor  den  Fürstenhöfen,  dem  Heerlager  und  zahllosen  Volkshaiiteu  mit 
gleichem  Beifall  seine  Kanzel  aufschlug,  behauptet,  Judas  sei  nur  des- 
halb zum  Yerräther  des  Heilands  gewoixlen,  weil  er  als  Kind  die 
Ruthe  zu  selten  bekommen  habe,  ja  ein  verzogenes  Muttersöhnchen, 
das  mit  acht  Jahren  die  Ruthe  noch  nicht  einmal  gesehen  hatte,  sei 
ein  Wüstling  und  Verschwender,  dann  ein  unnütze  Klösterling,  endlich 
aber  gar  ein  Lutheraner  geworden  und  habe  am  Galgen  sein  Rüde 
gefunden.  Armes  Mnttersöhnchen,  da  wosstost  gewiss  nicht,  als  da 
die  Religion  wechseltest,  dass  Megerles  streng  lutherischer  Landsmami 
Johann  Jakob  Hftherle  das  Prügeln  am  aUersystematischsten  betrieb; 
während  einer  51jährigen  Lehr-,  richtiger  wol  Strafthätigkeit,  hat 
dieser  Schaltyrann  ausser  24010  im  laufenden  verthdlten  Buthenhieben 
noch  86000  Rathenhiebe  nur  für  nicht  gelernte  Liederverse  ,,gebncht^t 
der  zahlreichen  Maulschellen,  PfÖtchen,  Kopfnüsse  und  Notabenes  mit 
Bibel  und  Gesaiitrbuch  gai  nicht  zu  gedenken.')  Erasmus  von  Kotter-  . 
dam  erzählt,  dass  man  im  Collegio  Montagü  die  Ziijrlinge  mit  der 
Peitsche  bis  auts  Blut  gezüchtigt  habe  mit  solcher  Henkerstrenge,  dass 
er  nichts  dav(»n  sagen  mag.  und  M  ir  werden  den  Schmerz  des  Junireii 
Sweiuis  zu  würdigen  verstehen,  in  welchem  er,  als  ihn  Königin  Elisa- 
beth einst  bei  einer  Schulinspection  fragt«,  ob  er  auch  schon  Schläge 
erhalten  habe,  sofort  mit  Vergü  antwortete: 

  ÜDfiuidnni,  regiiuit  inhet  renovare  doloreni. 

0  Vgl  A.  G.  Langes  „Venn.  Schrift",  1838,  S.  187. 


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—  343  — 


Gehen  wir  nun  aber  auf  die  (Quelle  all  der  Lobreden  auf  die 
Küthe  zui  ück,  so  finden  wir  dieselbe  in  der  Kiosterschule.  Diese  An- 
stalten hatten  bei  ihrer  Entstehimg  im  5.  Jahrhundert  zunftchst  nur  die 
JKldung  von  Klostergeistlichen  zum  Zweck,  und  diesen  verfolgten  sie 
mach  in  Deutschknd.  War  nnn  der  MOnch  und  nicht  minder  der 
Neophyt  schon  oftmals  dorch  die  Klosterr^geln  nir  Selbstpeinigong  ge- 
BOtlügt,  dorch  die  Disciplin  aber  stets  yerbnnden,  seinen  eigenen  WiUen 
ToUends  zn  brechen,  jede  Strafe  stillschweigend  hinzonehmen,  so  kam 
hmza,  dass  die  Hierarchie,  um  ein  vOUig  nnterwQrfiges  nnd  ihren 
Fiftnen  blind  ergebenes  Personal  heranzubilden,  mit  Vorliebe  den  nie- 
deren Clerus  aus  dem  Kneclitsstande  sidi  recrutiren  Hess,  dem  die 
Unverlet^liehkeit  seinev  Person  eben  nichts  c^alt.  Mit  der  Sclaven- 
peitsclie  erzogen,  sah  dann  selbst  der  in  höhere  Ämter  beffh'derte 
Klostergreistliche  unfreier  Abkunft  stets  das  drohende  Zuchtmittel  ü))er 
sich  schweben,  stand  er  zeitlebens  in  ( Yiniinalfällen  juridisch  mit  dem 
Knecht  auf  gleicher  8tufe;  denn  wenn  auch  nach  der  Lehre  der  Kirche 
die  ansterbliche  Seele  des  Unfreien  gleichen  Wert  mit  derjenigen  eines 
freien  Mannes  hatte,  so  blieb  doch  an  seuier  Person  nach  dem  deut< 
seilen  Recht  —  nnd  die  Kirche  acceptirte  dasselbe  in  diesem  Falle 
bereitwilligst  —  fort  nnd  fort  der  Makel  unfreier  Qebnrt  haften. 
Allgemein  war  bei  dieser  misslichen,  aber  von  den  Bischöfen  begftn- 
sfcigtai  Sachlage  bereits  im  9.  Jahrhundert  die  laut  erhobene  Klage, 
dass  es  den  zn  kirchlichen  Wfirden  beförderten  Unfreien  an  wahrer 
Liebe  zu  ilirem  Beruf  und  zu  den  Wissenschaften  fehle,  dass  ihr  an- 
gebomer  —  und  freilich  durch  eigennützige  Erziehung  gepflegter  — 
Knec'htssinn  gewöhnlich  in  Hiirte  gegen  die  Untergebenen,  in  Streit- 
sucht mit  den  Brüdern,  in  Trotz  gegen  die  Voi-gesetzten  ausarte.') 

Es  war  also  vorwiegend  (Us  für  den  Sclaven  bemessene  Straf- 
mass, welches  in  der  Klosterschule  (Teltuntr  liatte,  zunächst  freilich 
nur  in  der  schola  interior,  dann  aber  aucli  in  den  unter  ivarl  dem 
(4n>ssen  organisii  ten  scholae  exteriores,  welche  auch  solche  aufnahmen, 
die  Laien  bleiben  wollten;  so  aber  fand  jenes  Strafmass  Eingang  in 
die  Kirche,  und  von  dieser  ging  es  allmählich  auf  den  christlichen 
Staat  fiber,  bis  es,  durch  die  schola  exterior  gleichsam  erst  recht  hei« 
niscb  gemacht,  endHeh  selbst  den  freien  Mann  traf,  und  um  so  em- 
pEfiadlicher  wusste  die  zur  Herrschaft  gehingte  Ruthe  diesen  gerade  zu 
treffen,  je  ausschliesslicher  sie  bei  der  stets  steigenden  Zunahme  des 
Eintritts  Unfreier  in  die  Klöster  nun  von  Leuten  gehandhabt  wurde, 

')  Vgl.  F.  W.  Rettberg,  ..KircheugescU.  DeutscUlaiidÄ",  Oüttiug.  1846—48,  II.  (i48. 

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—   344  — 


die  oft  genug  unter  ilir  geseufzt  hatten.  Strafbestimmungen  in  be!^te^ 
Form  fanden  sich  bald  und  Hessen  sicli  macheu.  Während  wir  wissen, 
dass  Karl  der  Grosse  den  Geistlichen  schon  789  deutsche  Predigt,  d.  U. 
deutsche  Erklärung  lateinischer  Homilien,  befahl,  beschliessen  im  Novem- 
ber 801  electi  sacerdotes,  dass  jeder  gehalten  sein  sollte,  Glaabenshe- 
kenntnis  und  Vatertmser  lateinisch  auswendig  zu  lernen.  Diese  Veroidnimg 
vrvtd  in  das  mit  der  MÜmerwunmlnng  von  802  festgestellte  kirchliclie 
Gesetz  anfgenonuben«  und  die  Mainzer  Synode  von  803  wiederholt  sie» 
ebenso  der  Kaiser  in  einem  dreularschreiben  an  die  Bischdfe  und  infi>]ge 
dess^  die  BischOfe  in  Gapitulaiien  f&r  die  ihnen  untergebenen  Fziester. 
Schon  im  December  805  verordnet  Karl  auf  Betrieb  des  MOndistliums: 
Ut  laici  symbolnm  et  orationem  dominicam  pleniter  discant ....  Qui 
autem  neglegens  inde  fuerit,  talem  disciplinam  percipiat,  qualem  talis 
sit  contt'iiiptor  percipere  dignus,  ita  ut  ceteri  metnm  habeant  amplius; 
und  als  sei  das  noch  nicht  deutlich  genug,  heisst  es  dann  spater: 
Symbolnm  vel  sif2;nacuhim  et  orat.  dom.  oranes  discere  constringautui". 
Et  si  (Ulis  ea  nunc  iion  tcm^at,  aut  vapulet  aut  ieiunet  ....  femiuae 
vero  flagellis  aut  ieiuniis  constringantiu*.  Erst  818  liess  man  von  dieser 
Hecht,  Empfindung  und  Vernunft  Hohn  sprechenden  Grausamkeit  auf 
dem  Concil  zu  Mainz  ab  und  (restattete  das  Auswendiglernen  in  deut- 
scher Sprache.^)  In  die  Lex  Btguwar.  aber  wai*  gar  schon  um  622 
von  Seiten  der  Mönche  eine  Strafbestimmnng  eingeschmuggelt  woideii, 
wdche  den  Sonntagsentiiefliger  mit  60  Stockstreiehen  bedrohte,  knn, 
wir  begegnen  der  FtrOgelstrafe,  abgesehen  von  anderen  emiedrigeodea 
Ehrenstrafen,  die  man  dem  bürgerlichen  Strafoodez  entlehnte,^)  sobald 
wir  die  Erziehung  des  Volkes  in  den  HSnden  der  Geüstlichkeit  sehen, 
und  den  Reihen  des  Oleras  gehören  denn  auch  direct  oder  indirect 
-all  jene  Lobredner  auf  die  Ruthe  an;   „Thorheit  steckt  dem  Knaben 
im  Herzen,  aber  die  Ruthe  der  Zucht  wird  sie  fenie  von  ilim  treiben",") 
ist  das  Tliema.  welches  sie  variiren,  und  andere  dem  alttestamentlicheh 
Geiste  entspi'ossene  Krziehungsrailiscldäge  wurden  eingesclialtet:  ^Wer 
seineu  Solm  lieb  hat,  der  züchtigt  ihn".'')  „Züchtige  deinen  Sohn,  so 
wild  er  dich  ergötzen",'^)  „Lass  nicht  ab  den  Knaben  zu  züchtigen!**) 
denn  „Wo  ist  ein  Sohn,  den  der  Vater  nicht  züchtiget?"  ')  „Wer  seiner 
Ruthe  schonet,  der  hasset  seinen  Sohn",**)  „Wer  sein  Kind  lieb  hat, 
der  h&lt  es  stets  unter  der  Ruthe*^;^)  denn  „Ruthe  und  Strafe  gibt 

'I  Vgl.  Miillcnlioff  n.  Sdierer,  ..DenViniiler'  Exc.  7\\  LTV:  R«ttberjr  a.  a.  0.  L, 
456.  —  -)  PetmrcLae  „Trostspiegel",  iiauki.  1572,  Bl.  72  u.  142.    -  Proverb. 
Xm,  16,  —  *)  das.  Xni,  24b.  —  »)  das.  XXIX,  17.  —  •)  das.  XXDI,  la  - 
Hehr.  XII«  7,  10.  —  »)  Prov.  XHI,  •)  Sur.  XXX,  1. 


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Weisheit!"^)  Kein  Wunder,  dass  nun  auch  die  mit  PrOgeln  gross  ge- 
mdenen  EHem  auf  ihre  Kinder  einsehlug^,  dass  selbst  der  Voiks- 
DQDd  den  Stock  in  Schutz  nehmen  konnte  mit  ,3^^'  macht  böse  Kin* 
der  gut**  und  Jfrische  Ruthen,  fromme  Kinder**  oder  ,4fts  ist  die  rechte 
StMinutter,  die  einen  grM&k  Rock  anhat,  und  auf  der  die  gelben 
Katzen  weiden  "  aber  das  Sprichwort  wandte  sich  doch  auch  }?egen 
die  Prüofelmeister,  indem  es  ihnen  zurief:  „Zorn  wirft  blinde  Junge", 
und  „Der  Platte  vergisst,  dass  er  Schüler  gewesen",*-*)  oder 

„Zwansr  —  währt  nit  lang, 

Hat  mir  bei  »einem  Eid  , 

Ein  alter  Eidi^'noss  ir'seit.'-"') 

Namentlich  aber  rächt  sich  der  Volkswitz  an  der  prüofelnden  Greist- 
lichkeit,  indem  er  nun  seinerseits  den  crroben  Lelirpfatfen  anf  alle 
mögliche  Weise  variirt  und  parodirt  und  ihn  zum  tertium  compara- 
tionis  macht,  wo  nur  von  Rohheit  und  Stockschlägen  die  Rede  ist 

„Ein  eichin  PfiiffB,  das  ist  wAr, 

ein  bileclün  messe  singet; 
der  antliit?;  im  äJreffebiMi  wirt. 
daz  in  der  rücke  ir;ir  «j^eswirt; 
der  setjen  was  ein  koUienslac." 

beisst  es  in  dem  mittelhochdeutschen  Lügenmärchen  von  den  achtzeliu 
Wachtehi^)  und  „rudis  ut  papa  salignus^  schon  im  Reinardus. 

So  war  denn  von  der  Klosterschule  aus  der  deutsche  Lehrer  zum 
hligelmeister  geworden;  Schule  und  Stock  waren  Begrilfe,  die  noth- 
wendig  zusammenzugehören  schienen,  und  wie  gegen  die  Strafe  selbst, 
so  hatte  sich  mit  der  Zeit  auch  gogen  ihre  Bedeutung  die  Empfindung 
abgestumpft  Im  Hause  wurde  nicht  weniger  geprflgelt  als  in  der 
Schidstube,  und  schon  bei  Fischart  spielen  die  Kinder  unter  anderm 
nder  ernste  Schulmeister **;*)  das  Beispiel,  welches  ich  zu  Anfang  dieses 
Aufsatzes  aus  einer  märkischen  Stadt  gab,  illustrirt  uns  vielleicht 
eiuii|:ennassen,  wie  dieses  Spiel  in  Scene  gesetzt  worden  sein  mag.  In 
Bild  und  Wort  kann  der  Schulmeister  nicht  anders  dargestellt  werden 
aL>  mit  s«'inem  Standesattribut,  der  Rutlie;  zahlreiche  alte  Holzscliuitte 
und  Stiche  verewigen  ihn  in  dieser  Weise,  und 

„Magister  nohm  de  Birkeroot 
nn  schloß  dat  Drilckche  baul  half  tud: 
de  Kinderche  krempden  de  T^')(■llelger  zo 
  uu  iefen  glich  all  zur  Schulleu  erus" 

')  Pn>Terb.XXIX,U.—  «)  VgL  Ftozer,  ,3eitr.  s.  M^ythoL''  I,  S66,  No.  156.  — 
'J  H.  R.  Grimm«  „Poet  LnstwSldldn",  Bern  1703.  —  *)  Oiimm,  ,.Kmderm.*'  8.  No.  138. 
-  *)  Garguitiia  c  25. 


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—   346  — 


lieisst  es  im  Yolksreini  vom  kleiueii  Katlirinclien,  das  zum  ersten  Mal 
in  die  ABC -Schule  (jeht.')  .la  an  dem  Eingang  des  Schulgebäudes 
zu  Burgdorf  bei  Bern  trug  sogai'  der  obrigkeitliclie  Wappenbär  das 
..allbeliebte"  Zuchtmittelchen  in  der  Tatze ;'^)  denn  auch  die  Staats- 
behörden nahmen  sich  der  fleissigen  Handhabung  körperlicher  Schnk 
strafen  an.  Li  Bern  z.  B.  wnrde  durch  die  Scholerdnimg  vom  Jahr 
1616  die  Bnthenstrafe  nicht  nor  an  den  nied^ron  Schulen  genehmigt» 
sondern  auch  an  den  Studenten  der  Philosophie  solle  sie  eyentueU 
vollzogen  werden,  und  nur  die  Beflissenen  der  Gottesgelahrtheit  ihr 
fiberhoben  sein,^)  und  em  WohUöblicher  Magistrat  zn  Winterthur  ver* 
fügte  im  Jahr  1771  gegen  den  Stadtschullehrer  Anton  Reinhardt,  der 
damals  zehn  Jahre  lang  erfolp'reich  in  seinem  Amte  wiikte,  sofem  er 
sich  weigere,  den  Schüler  Knuss  öüentlicli  selbst  zu  züchtijren,  anstatt 
ihn  blos  durch  den  Stadtknecht  auf  der  Schullaube  aushauen  zu  lassen 
und  morgen  der  Erkanntnuss  MGHlierren  noch  nicht  nachgekommen 
sei,  so  sei  er  vor  Rath  gestellt.*)  Indessen  darf  nicht  übersehen  wer- 
den, dass  die  Behörden  auch  frühzeitig  schon  ihre  ganze  Aufmerk- 
samkeit der  Behandlung  der  Schuljugend  zuwandten;  so  fordert  die 
Schulordnung  der  Reichsstadt  Esslingen  aus  dem  Jahr  1548  z.  B.,  der 
Lehrer  soUe  die  Schüler  nicht  an  den  Kopf  schlagen,  sie  weder  ndt 
Tatz^,  Sdüappen,  Maultäschen  und  Haarrupfen,  noch  mit  Ohrum- 
drehen,  Nasenschnellen  und  Himbatzen  strafen,  keine  Stöcke  und 
Kolben  zur  Zttchtignng  brauchen,  sondern  —  allein  ihnen  das  Hinter- 
theil  mit  Buthen  streichen.') 

Endlich  aber  werden  wieder  humanere  Stimmen  laut.  John  Locke 
(gest.  1704),  dessen  Worte  in  Deutschland  nicht  ungehört  verhallten, 
empfiehlt  bereits  in  seinen  ..( bedanken  von  der  P'rziehung  der  Kinder" 
zwar  Abhärtung  und  einlache  Lei  eusweise  und  will  jegliche  Verweich- 
lichung und  Verhätschelung  von  der  .Tugend  abgehalten  wissen,  aber 
ebenso  entschieden  tritt  er  gegen  die  körijerliche  Züchtigung  auf.  In 
die  Volksschule  indessen,  welclie  durch  die  Pflege  einsichtiger  Fürsten 
nach  dem  Westfälischen  Flieden  in  manchen  deutschen  Gebietstheiien 
einen  erfreulichen,  kräftigen  Aufschwung  nahm,  drang  noch  immer  nur 
hier  und  da  ein  dürftiger  Strahl  der  neuen  pädagogischen  Erkenntnis, 
dass  Liebe  sicherer  zum  Ziele  führe  als  Zwang,  und  dass  Sanftmnth 
dauerndere  Früchte  zeitige  als  aufbrausender  Jähzorn.  Von  Rousseau 

't  Woydcn,  ..(  olns  Vor/oit",  22f>.  —  -  '  Rurlilu.lz  in  der  f^crmania,  1856,  S.  IbO.— 
"•)  M.  Scliulor.  ..Sitteu  uud  Thateu  der  Kidgenos-seu'".  8.  IVM.  •)  Troll,  ..(jeschicbie 
vfin  Willtort liiir".  2.  126;  vgl.  Kochhok  a.  a.  0.  S.  154.  —  '')  Pfaff,  „Geschichte  der 
Kcic'hsjitadt  Erssliugeii",  236. 


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>  <•  V  . 


—   347  — 

ansgelieiid,  Iiielten  auch  die  Philanthropen  die  Buthe  fiir  entbehrlichj 
denn  da  ihre  Methode  naturgemäss  sei,  sairten  sie,  so  lernten  die  Kin- 
der freiwillig,  mit  Lust  und  Liebe,  und  jede  Strafe  fiele  Yon  selbst 
fort  Es  kann  hier  nicht  der  Ort  seJn,  über  die  Fehler  zu  handebi, 
welehe  Basedow  und  seine  Jünger  begingen,  nidit  der  Ort,  an&a- 
zählen,  welche  pftdagogische  Bichtnng.  die  Bnthe  empfohlen,  welche 
sie  verworfen  habe,  —  sie  hat  noch  hente  ihre  Cortmanne,  und  die 
Mahnmigen  eines  Pestalozzi  und  Lavater,  eines  Schleiermacher  und 
Fichte  sind  noch  immer  nicht  nach  ihrem  Werte  beherzigt.  Prakti<«ch 
sind  wir  auch  jetzt  noch  nicht  viel  weiter  gelangt  als  zu  einem  Stand- 
punkte, auf  welchem  Bruder  Berthold  bereits  im  18.  Jahrhundert,  der 
Esslinger  Magistrat  sclion  1.548  stand:  die  körj»erliche  Züclitigung 
wird  so  beschränkt,  dass  man  sieht,  sie  i.st  im  Princip  verwoilen,  aber 
—  sie  wird  als  ultima  ratio  doch  beibelialten;  es  wird  vor  blindem 
Dreinsclilagen,  vor  leidenschaftlirlien  Zornausbrüchen  seitens  der  Be- 
hörden gewarnt,  —  aber  das  8töckchen  doch  in  der  Hand  des  Lehrers 
belassen. 

So  sagt  die  Disciplinarordnung  für  die  lir>heren  Schulen  der  Pro- 
vinz Westfalen  vom  24.  Apiil  1833  unter  No.  14:  „Allen  Strafen, 
welche  die  Schule  nach  sorgfältiger  und  gewissenhafter  Erwägung 
aller  Umstfinde  auszuüben  sich  genOthigt  sieht,  liegt  die  reine  und 
Täterliche  Absicht  der  Lehrer  zum  Grunde,  den  strafbaren  Schiller  zur 
Besserung  und  Smnesänderung  zu  ftkhren.  Jeder  Schüler  mOge  denn 
auch  durch  ein  untadeliges  Verhalten,  durch  Gehorsam  und  Fleiss  die 
Anstalt  der  traurigen  Nothwendigkeit  überheben,  zu  eigentlichen  Strafen 
zu  schreiten.  Bedeutsam  mag  jedem  Schüler,  auf  dessen  Einsiclit, 
Gefühl  und  Willen  täglich  eingewirkt  wird,  schon  die  leiseste  Rrin- 
nerunff  seines  Lelirers  sein.  Reichen  Winke  und  Erinnerungen  nicht 
mehr  liiii,  so  folgen  V  erweise,  und  sie  werden  entweder  abgesondert 
oder  öttentlich,  gelegentlich  oder  feierlicli,  in  Gegenwart  der  T'lasse 
oder  vor  der  Lehrerconferenz,  endlich  vor  Schülern  und  Lehreiii  zu- 
gleich gegeben.  Hieran  schliessen  sich  Bemerkungen  im  Tagebucke 
der  Classe  und  auf  der  Censnr  oder  —  nöthigenfalls,  besonders  bei 
jüngeren  Schülern,  körperliche  Strafen  ausser  oder  in  der  Classe  oder 
▼or  der  Lehrerconferenz."  Ähnlich  heisst  es  in  einer  Verfügung  des 
Provinzial-SchulcoUegiums  von  Berlin  vom  9.  März  1843  mit  Bezug- 
nahme auf  §  12  der  Instruction  für  die  Directoren  der  gelduien  Schulen 
der  Provinz  Brandenburg  vom  10.  Juni  1824,  es  müsse  das  Streben 
der  I^rectoren  und  Lehrw  der  Gymnasien  sein,  durch  eine  ernste 
Disciplin  und  eine  zweckmässige  Benutzung  der  übrigen  Straiinittel 


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die  körperKclien  Züchtigung-en  in  den  Gymnasien  möglichst  entbehrlich 
zu  machen,  und  es  müsse  bei  Anwt'ndung-  dieses  Strafmittt'ls  als  Grund- 
satz prelten,  dass  melir  der  moralische  Eindruck  der  Strafe  als  der 
körperliche  Sclinu»i*z  die  I^esserung  des  Bestraften  bewiike.  „Um  dies 
zu  erreichen,  wird  den  Directoren  empfolilen,  dass  sie  nur  denjenigen 
Lehrern,  auf  deren  pädajrosrisclic  Einsicht  und  Besonnenheit  überhaupt 
und  auf  deren  Mäösig^g  beim  Strafen  im  besonderen  sie  sich  ver- 
lassen 2sa  können  glauben,  jene  Stra^walt  anvertrauen,  and  die  mit 
derselben  verselienen  Lehrer  anweisen,  im  allgemeinen  nur  in  den  sel- 
tensten Fällen  gleich  nach  dem  Vergehen  des  Schülers  und  auch  nur 
dann  eine  körperliche  Züchtigung  zu  ToUziehen,  wenn  die  Beschämmig, 
welche  er  dadurch  vor  seinen  MitschOlem  erleidet,  als  nöthig  Ar  seine 
Besserung  erscheint,  oder  überhaupt  ein  Auftchub  der  Strafe  die  irol- 
thätige  Wirkung  derselben  Termindem  würde,  und  die  kürperlidie 
Züchtigung  so  auszuführen,  dass  in  keiner  Weise  ans  derselbe  ein 
Nachtheü  (Ür  die  Gesundheit  des  Knaben  erwachsen  könne.  In  Rück- 
sicht hierauf,"  heisst  es  dann  weiter,  „kann  es  nicht  gestattet  werden, 
dass  bei  solchen  Bestrafunj^en  andere  Straf  Werkzeuge  als  em  dünne> 
Rohrstöckchen  oder  eine  Ruthe  in  Anwendung  kommen,"  und:  „In 
hohem  (Trade  ist  es  in  dieser  Hiusiclit  zu  niissbilligen,  dass  eine  der- 
artige Züclitigung,  wie  es  an  einigen  (-ryinnasien  gescliehen  ist,  als 
Folge  einer  Anzahl  tadelnder  Noten  im  Classen-Tagebuclie  eintritt. 
Überhaupt  wird  es  zweckmässig  sein,  eine  solche  Bestrafung  nur  mit 
Vorwissen  und  Zustimmung  der  Eltern  vollziehen  zu  lassen." 
Dass  die  körperliche  Züchtigung  als  eines  der  gewöhnlichen  Strafmittel 
nicht  angesehen  werden  dürfe,  besagt  auch  die  Verfligung  des  K 
-Prov.-SchukolL  zu  Magdeburg  yom  2.  Mai  1867,  „yiehnehr  ist  es  Auf- 
gabe der  Erziehung,  dieselbe  in  den  höheren  Schulen  gänzlich  ent- 
behrlich zu  machen.  Jedoch,"  wird  dann  aber  hinzugefügt,  „wollen 
wir  gestatten,  dass  diese  Stra&rt  an  Schülern  der  drei  unteren  dassen 
bei  Ausbrüchen  yon  Rohheit,  die  dne  sofortige  ernste  Zurückweisung 
erfordern,  zur  Anwendung  gebracht  werden  darf.  So  oft  ein  Lehrer 
sich  hat  bestimmen  lassen,  irgend  eine  körperliche  Züclitigung  vorzu- 
nehmen. Iiat  er  jedesnuil  an  demselben  Taßfe  dem  Director  darüber 
Anzeio-e  zu  machen."  Für  jüngere  Schüler  allein  will  Körperstrafe 
aucii  die  Instnictiun  fiu'  die  Directoren  der  Gymnasien  und  Realschulen 
1.  0.  in  der  Provinz  Preussen  vom  Jahr  1KH7  in  Kraft  treten  sehen. 
Da  heisst  es  unter  Nr.  02:  „Wenn  für  gröbere  Vergehen  eine  massige 
und  zweckentsprechende  Körperstrafe  nicht  entbehrt  werden  kann,  so 
ist  dieselbe  doch  möglichst  selten  anzuwenden.  Dieselbe  ist  in  der 


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Eej^el  nur  in  den  3  unteren  Classen,  in  der  HL  nur  nach  vorgftiigigem 
Conferenzbeschluss  zu  verhängen  und  stets  von  dem  Lehrer  zn  voll- 
neben.''  Fast  wörtlich  so  heisst  es  in  der  Instruction  fftr  die  Direc- 
tomi  der  Gymnasien  etc.  der  Provinz  Pommern  vom  17.  Mai  1867: 
Eörperiiche  Strafen  dürfen  nur  da,  wo  die  ftbrigm  pftdagogischen 
Strsfinittel  nidit  ausreichen  und,  nur  hei  jflngeren  Schfilem  bis  IV. 
hinauf  mit  Missigung  und  Vorsicht  in  Anwendung  kommen;  in  ausser- 
ordentlichen Fällen,  jedoch  immer  nur  auf  Beschlnss  der  Lehrercon- 
leit^nz  auch  in  III.  „Die  Schnlzncht  darf  niemals  bis  zu  Misshand- 
Iniiiren.  welche  der  Gesundheit  der  Kiuder  auch  uur  auf  entfernte  Art 
s<  ljii(lli(  ]i  werden  könnten,  ausgedehnt  werden,"  und  allein  iiber  jüUjQ^ere 
Schüler  verhängt  Priisrelstrafe  auch  die  Instruction  tur  die  Directoren 
der  Gymnasien  etc.  der  Provinz  Schlesien  vom  1.  tJctober  IHOT.  Hatte 
die  Magdeburjrer  Vertüf^ung  vom  2.  Mai  1867  schon  durch  die  An- 
zeigepflicht seitens  des  Lehrers  dem  Director  eine  scharfe  Controle 
an  die  Hand  gegeben,  so  erhöht  diese  noch  die  Instruction  für  die 
Directoren  der  Gymnasien  etc.  der  Provinz  Posen  vom  30.  Januar  1868: 
«Zncht  und  Ordnung  hat  er  (sc.  der  Director)  mit  Festigkeit,  Emst 
und  Wflrde  aufrecht  zu  erhalten  und  darauf  zu  sehen,  dass  dies  auch 
y<m  alloi  Lehrern  d^  Anstalt  gesehdie,  namentUch  aber  Tor  leiden- 
sduiftlichen  Ausbrüche  des  Zornes  sie  auf  das  nachdrücklichste  zu 
warnen.  Sollten  Lehrer  wido*  Erwarten  in  dieser  Beziehung  fehlen 
oder  gewohnheitsmässig  körperliche  Zfichtigung  als  Strafe  anwenden, 
«0  ist  er  befugt,  ihnen  jede  körperliche  Züchti^uufj:  auf  eine  gewisse 
Zeit  zu  untersagen.'*  Dieselbe  Befuj^nis  räumt  den  Directoren  in  der 
Provinz  Preussen  die  Instruction  vom  .Fahre  1867  ein.  Recht  eigent- 
lich zusammenfassend  behandelt  den  (Tegenstand  aber  endlich  eine 
Verfüjj^mg  des  K.  Provinzial-SchulcoUegiums  zu  Kiel  vom  8.  Mai  1872, 
welche  zunächst  von  den  Freiheitsstrafen  handelt  und  dann  unter  Nr.  8 
sagt:  „Von  körperlicher  Zücliti^^uuf^  darf  in  den  oberen  (  lassen  kein 
Gelmulch  gemacht  werden,  auch  in  den  unteren  Clausen  ist  sie  mit 
grosser  Vorsicht,  in  der  Regel  nur,  wenn  andere  Mittel  sich  ^\^rkungs- 
los  erwiesen  haben,  bei  Veranlassungen  ausserordentlicher  Strafbai'keit, 
wie  Bohheit,  Lug  mid  Trug,  Trotz  und  Widersetzlichkeit  anzuwenden. 
Sie  steht  nur  den  ordentlichen  Mitgliedern  zu,  doch  kann  auch  diesen 
die  Befiignis  dazu  zeitweise  durch  den  Director  entzogen  werden, 
wenn  die  Strafe  zn  häufig  ausgettbt  wird  oder  gar  in  Misshandlung 
ausartet  Schlftge  an  den  Kopf  sind  unstatthaft  Zfichtigung  durch 
den  Schuldiener  ist  nicht  zulässig.''  Daran  knflpft  an  die  Verfügung 
dei'selben  Behörde  vom  12.  Januar  1875:  „Wenn  In  der  vorerwähnten 


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Ordnimiür  unter  Nr.  8  die  Bestininmiig  getroffen  ist,  dass  körperliche 
Züchtigung  nur  den  ordentlichen  Mitgliedern  des  Schulcollerrium»  zu- 
stehen soll,  so  werden  damit  auch  diejeni^ren  Schulamtscaudidaten  und 
Hilfslehrer  von  diesem  Eechte  ausgeschlossen,  welche  etwa  mit  der 
Verwaltnng  eiaer  ordentlichen  Lehrerstelle  oder  eines  Classenordinariats 
betraut  sind*  2.  Am  Schinss  von  Nr.  8  heisst  es:  Schlüge  an  den 
Kopf  sind  unstatthaft  Diese  Bestimmung  ist  dahin  m  yerstehen,  dass 
keinerlei  körperliche  Züchtigong  oder  änsserliche  Admonition  ertholt 
werden  darf,  bei  welcher  der  Kopf  des  betreffenden  Schillers  be- 
rührt wird«** 

In  der  Erkenntnis,  dass  gerade  jüngere  Lehrer,  welche  naturge- 
mäss  mit  ihrer  pädagogischeu  Krlkhrung  zuerst  zu  Ende  sind,  am  liiiu-  * 
figsten  zu  körperliclicr  Züchtigung  ihre  Zuflucht  zu  nelimen  geneigt 
sind,  windet  diese  Verfügung  den  Scliulamtscandidaten  und  Hilfsleh- 
rern den  stock  aus  dei-  Hand;  denn  mit  dem  ?j-gi*eifen  des  Stöcktes 
gesteht  der  Lehrer  jedesmal  ein,  dass  er  am  Knde  seiner  Kunst  au- 
gelangt sei,  die  pädagogische  Kunst  zu  übeu  aber  soll  seine  Lebens- 
aufgabe sein;  er  soll  an  der  Hand  von  B&thschlägen  und  DirectiTen 
und  durch  eigene  Gewöhnung,  denn  so  müssen  wir  es  nennen,  den 
Stock  entbehren  lernen.  Wie  wenige  Lehrer  aber  diese  Selbstbeherr- 
schung gewinnen,  da  der  Stock  einmal  in  der  Classe  ist,  geht  deutlich 
genug  daraus  hervor,  dass  auch  ältere  Schulmeister  dies  Strafinittel 
nicht  immer  in  gebOhrender  Weise  schonen,  und  wo  ist  d«m  ftber- 
haupt  eme  feste  Grenze  in  seiner  Benutzung  zu  ziehen?  Je  nadi  der 
Verschiedenheit  des  Temperamentes  wird  dieser  eine  häufige  Anwendung 
körperlicher  Züchtigung  sehen,  wo  jener  sie  noch  äusserst  selten  findet. 
Von  dem  Temperament  aber  dai-f  doch  die  so  hohe  pädafro^ische 
Kunst  nicht  abhängig  gemacht  wei'den.  Und  soll  diese  »Stratait  nur 
für  jüngere  Schüler  der  drei  unteren  ('lassen  in  Anwendung  l)leibeu, 
so  schwankt  auch  hier  die  (irenze;  denn  es  fragt  sich,  welcher  Schüler 
jung  sei;  jung  an  Jahren  und  fortirescliritten  in  der  Entwickelung, 
würde  er  doch  wol  dem  Stock  enthoben  sein  müssen.  Ja  not; Ii  mehr. 
Soll  der  alte  Quartaner  von  Prügeln  befreit  bleiben,  blos  weil  er  älter 
ist  als  seine  Älitschüler?  In  der  Kegel  werden  oben  die  ältesten  Quar- 
taner nicht  die  besten  sein,  und  so  trifft  die  Prügelstrafe  den  besseren 
Theil  der  Classe,  in  welcher  zudem  junge  Schüler,  die  der  Ruthe  un- 
terworfen shid,  und  junge  Lehrer,  weldie  sie  oftmals  uoch  nicht  ent* 
behren  gelernt  haben,  gewöhnlich  gemeinsam  arbeiten,  ein  neuer 
Übelstand! 

Es  soll  femer  dem  Schüler  kein  Nachtheil  au  seiner  Gesundheit 


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ans  der  Strafe  entstehen.  Wenn  non  der  eventuelle  Schaden  auch 
sofort  immer  constatirt  werden  kann,  wer  hüi-^  denn  dem  züchtigenden 
Lehrer  daf&Tt  dass  der  zn  bestrafende  Knabe  nicht  durch  eine  rasche 
Wendung,  mit  der  er  vielleicht  dem  Schlage  ausweichen  inll,  sich  den 
Kopf  an  der  Bank,  am  Tisch  oder  Katheder  beschftdigt?  Sdbstirer- 
stSndlich  werden  derartige  „eigene**  Y^letzungen  bei  den  ganz  yer- 
werflichen  Ohrfeigen  oder  Manlschellen,  gegen  die  schon  Berthold 
eifert,  am  häufigsten  yorkommen,  aber  wer  hat  denn  auch  den  Stock 
so  in  seiner  Gewalt,  dass  jeder  Schlag,  selbst  wenn  der  Knabe  still 
hält,  stets  da  triÖ't,  wo  er  treöeu  soll?  Oder  soll  das  etwa  die  Übung 
inacheu? 

Nun  soll  der  Stock  —  deim  die  liiiüiv  ist  ja  kaum  noch  im 
Schidgebrauch  —  nur  äusserst  selten,  nur  bei  den  pn'össten  Vei'gelieii 
sregen  die  Schuldisciplin  gebraucht  werden,  so  selten,  dass  der  mora- 
lische Eindruck,  die  Beschämung,  mehr  wirkt  als  der  Schmerz.  Ab- 
gesehen davon,  dass  Beschämung,  auch  ohne  dass  man  von  Empfind- 
lichkeit reden  könnte,  in  Deprimirung  übergehen  kann,  ist  eine  alte 
Eriahrung,  dass  da,  wo  einmal  der  Stock  geschwungen  wird,  seine 
Anw^ung  gar  leicht  ausartet;  wo  aber  soll  wolthätige  Beechftmung 
herkommen,  wenn  auch  heute  noch  trotz  aller  Verordnungen  nicht 
selten  fllnf  oder  sechs  Schiller  hintereinander  mit  dem  Bdhrchen  ab- 
gefertigt werden,  vielleicht,  wie  nicht  selten  geschieht,  weil  sie  ihre 
Vocabeln  nicht  gelernt  haben  und  deshalb  —  bereits  —  ins  Tagebuch 
geschrieben  sind!  —  Die  Kinder  werden  gegen  das  härteste  aller 
Straftnittel  vielmehr  abgestunii)tt  und  bleiben  gegen  die  übriKen  erst 
recht  <i-leicligiltig.  oder  bitten  wol  o-ar:  „Sperren  Sie  mich  doch  nicht 
ein;  hauen  Sie  mich  lieber  durch!"  Wo  fernei'  der  Stock  gehandhabt 
wii-d,  es  ist  ebenfalls  Erfahrung,  da  schleichen  sidi  auch  alle  jene  un- 
erlaubten Stratmittel  nebenher  ein.  ja  werden  wul  gar  als  ein  gerin- 
gerer Grad  der  Züchtigung  betrachtet  und  um  so  freigebiger  ausge- 
theüt,  weil  man,  allerdings  in  pädagogischer  Verblendung,  die  Prügel- 
strafe für  das  —  bequemste  Erziehungsmittel  hält;  aber  alle,  denen 
es  Schemen  mag,  als  sei  es  so,  mögen  doch  zunftchst  bedenken,  dass 
sie  gewiss  nicht  zu  ihrer  Beqemlidikeit  den  schwierigsten  Beruf  er- 
wShlt  haben,  sodann  aber  überlegen,  wie  sehr  sie  sich  durch  wülkflr- 
liches  Überspringen  milderer  Strafartoi  den  Unterricht  auf  die  Dauer 
erschweren. 

Ist  es  daher  Aufgabe  der  Erziehung,  den  Stock  entbehrlich  zu 

machen,  so  mache  man  mit  seiner  Entfernung  doch  einmal  vollen 
Emst,  beseitige  mau  ihu  doch  endlich  gänzlich  und  eisetze  ihu  duich 


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die  liebevolle,  (•(niseqiiente,  oft  vielleirlit  allenliiifrs  unbequeme  Anwen- 
dung anderer  Zuclitiiiittel;  denn  er  schadet  mehr  als  er  finichtet,  da 
er  dem  Lehrer  gar  leicht  das  hingebende  kindliche  Vertrauen  seiner 
Zöglinge  entzieht  Sie  sacheu  durcli  Täuschung  der  üblichen  Züch- 
tigung zu  entrinnen,  denn  —  mehr  als  dnrchgeblent  können  sie  ja  im 
Falle  der  Entdeckung  anch  nidit  werden.  Aber  auch  sonst  gute 
Schüler,  und  gerade  sie,  wenn  sie  einmal  gefehlt  haben  —  und  wer 
ist  fehlerfrei?  —  wagen  es  nicht,  die  Wahrheit  einzugestehen,  da  sie 
den  Stock  f&rchten,  und  so  verführt  gerade  er  zu  Log  und  Trog, 
wogegen  er  hauptsächlich  angewandt  werden  solL  Und  dass  anch  die 
Eltern  ans  Besorgnis,  ihre  Kleinen  geprttgelt  zn  sehen,  oft  den  grossen, 
folgeschweren  Fehler  begehen,  den  Schulsünden  ihrer  Sprösslinge  ein 
Mäntclclieu  umzuhängen,  das  beweisen  uns  niclit  nur  oft  genug  die 
von  ihnen  ansjrestellten  Entscliuldigungszettel,  das  sagt  schon  Fischart: 
,.Seht  ilir,  wie  sie  die  kinder  lehren  beten,  schicken  sie  zur  kirchen 
und  schulen,  vereliren  dem  Schulmeister  etwas,  dass  er  sie  nicht 
streicl).  j^eben  für,  sie  seyen  kranck,  könnten  nit  zui*  schulen  kommen!*") 
Drum  fort  mit  dem  Stock!  Zeichneten  sich  denn  die  bestgeprü- 
gelten Jahrhunderte  durch  die  besten  Menschen  aus?  Liebe  und  ^reode 
ist  die  Hauptsumme  aller  Erziehungsweisheit,  Liebe  und  Freude  nn» 
zertrennlich  mit  Religion  und  Tugend.  „Wenn  mich  jemand  fragen 
warde,**  schreibt  Layater  einmal,  »sage  mir,  was  ist  Religion?  so 
würde  ich  antworten:  Beligion  ist  Freude  an  Oott  und  allem,  was 
€tottes  ist  Traurig  sein,  inuner  sen&en  und  zittern,  gehM  nicht  zur 
Beligiosit&t  Eyangelium,  Freudenbotschaft!  wie  wenig  kennt  dich 
der,  der  dich  eine  FreudenstOrerin  nennt!  Freuen  sollst  du  dich,  o 
Mensch,  das  ist  deine  ganze  Pflicht!"  Freilich  wird  dann  die  Schale, 
sobald  sie  den  Stock  beseitigt,  auch  an  das  Haus  die  Forderuug  stellen 
müssen,  sich  unbesonnenen  Dreinschlafrens  zu  enthalten  und  zu  der 
deutschen  Krziehungsmetliode  zuriickznkeliren,  die  das  Elnyefülil.  so- 
bald es  erwaclit  war  un<l  erwacht  sein  nuisste,  schonte  und  pflegte. 
Es  wird  zu  dem  Zweck  >siederum  der  Kikenntnis  Bahn  gemacht  wer- 
<len  müssen,  dass  die  Erziehung  eines  Menschen  nicht  ei*st  mit  den 
Scho^jahren  beginnt,  dass  vielmehr  gerade  die  Behandlung  des  Kindes 
in  den  ersten  Jahren  fiir  sein  ganzes  zakänftiges  Leben  von  grösster 
Wichtigkeit  ist,  und  dass  eigentlich  schon  in  seinem  4* — 6.  Lebensjalire 
die  Grundlage  der  Moral  für  das  ganze  Leben  gelegt  sein  sollte.  Diflse 
h&usliche  Erziehung,  die  der  schulmfissigen  Bildung  des  Geistes  und 


^)  Guguitna  c.  6. 


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Charaktei-s  notbwendig  voi  aulK^ehen  muss,  lieget  nun  hauptsächlich  der 
Mutter  ob;  soll  sie  aber  auf  ihrem  Schoss  den  grüssten  Theil  ihrer 
Vollendung  finden,  damit  Unterricht  und  Belehnmg  einen  festen  Punkt 
kaben,  wo  sie  ihren  Hebel  ansetzen  können,  so  wird  es  eine  Haapt- 
anhabe  sein,  ms  wieder  Hausfrauen  nnd  Mfltter  zn  erziehen,  damit 
wir  beasere  Maischen  haben.  Das  ab^  ist  dann  eben  die  Aniiifabe 
der  modernen  Tdcihterschale,  die  leider  noch  allzu  oft  verkaimt  wird» 
Jede  EnabeDschnle,  heisse  sie,  wie  sie  wolle,  sieht  mehr  oder  weniger 
ihren  Bemf  darin,  ihren  Zögling  für  sem  gesammtes  späteres  Leben 
Torzubilden;  namentlich  aber  die  höhere  Töchterschule  unserer  TtLf^e 
hat  iliren  Beruf  nocli  nicht  erfasst,  wofern  nicht  ein  bisschen  Gesang, 
ein  bisschen  Malen,  ein  bisschen  Kn^^liscli  und  Französisch,  ein  bisschen 
Literaturkenntnis  die  Aufgabe  des  Weibes  sein  soll,  (  berall  dringen 
wir  darauf,  für  das  Leben  zu  erziehen,  die  Töchtei-schulen  erziehen 
ztini  grössten  Theil  noch  für  die  Schule!  ^lan  folge  doeli  unseni  Ver- 
la lireii,  die  durchaus  nicht  zimperlich  waren;  nuiu  lege  ungescheut 
üand  au  und  belehre  die  Mädchen  iu  den  letzten  Jahren  ihrer  Schul- 
zeit, dass  Fehler  der  Kinder  nicht  geboren,  sondern  anerzogen  wei*den, 
und  man  unterweise  sie  vor  allem  darin,  was  eine  gewissenhafte  Er- 
zieherin nnd  Matter,  will  sie  anders  ihrer  heiligen  Pflicht  nachkommen, 
thnn  muss,  nm  Trotz  und  Eigensinn,  Lng  und  Trog,  Herrschsncht, 
Eigennutz  nnd  Unselbststfindigkeit  nicht  aofkommen  zn  lassen,  Wil- 
lensstärke, Bescheidenheit,  Selbstständigkeit,  Wahrheitsliebe,  Anf- 
opfemngsfiUiigkeit  nnd  Sinn  ftbr  Olrdnnng  abw  anzuerziehen.  Man 
lehre  sie  Tor  aDem  die  Macht  des  Beispiels,  ohne  das  man  es  bei  Kin- 
dern zu  nichts  bringt.  Warum  soll  denn  das  Kind  nicht  „graulich" 
sein,  wenn  Maina  sich  scheut,  in  ein  ünsteres  Zinimer  zu  gehen?  Muth 
und  Selbstbeherrschung  lehrt  das  lieLspiel,  wie  es  Eitelkeit,  Vorniäu- 
lichkeit  und  Dfinkelhaftigkeit  erzieht!  Von  den  Töchterschulen  und 
duich  sie  von  den  Müttern  also  hängt  es  mit  ab.  dass  das  Kind  in 
dem  4 — 6.  Jahre  seine  letzte  Züchtigung  empfängt  und  dann  möglichst 
augeschlagen  durchs  Leben  kommt.  Eine  später  vollzogene  körperliche 
Strafe  aber  bringt  selten  Frucht,  während  sie  oft  grossen  Schaden 
anrichten  kann.  Und  darum  noch  einmal:  Fort  ans  unseren  Schulen 
mit  dem  Stock,  der  sich  in  alle  Kinderfreuden  drängt!  Wenn  es  auch 
anüuigs  schwer  erscheinen  mag,  ohne  ihn  zu  Endehungsresultaten  zu 
geüaiigen,  ein  Anfang  muss  gemacht  werden;  Je  länger  je  mehr,  nnd 
vor  allem  je  entschiedener  alle  erziehenden  Factoren  auf  dies  des 
Schweisses  der  Edlen  w&rdige  Ziel  hinarbeiten,  wird  sich  seine  Ent- 
behrlichkeit herausstellen.  Natürlich  genügt  es  nicht,  ja  es  geht  kaum 


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an,  dass  hier  uud  da  einer  ihn  bei  Seite  legt;  aUiiiählich  wieder  die 
Familie,  vor  allem  aber  die  Gesammtheit  in  den  Collegieu  moss  seine 
JlntbehrUchkeit  erkennen;  denn  wo  einer  prügelt,  da  erschwert  er  dem 
anderen  den  Unterricht»  da  nöthigen  yieUeicht  abgestnmpfte  Gtoüther 
auch  den  anderen,  zn  so  hartem  Mittel  am  greifen,  obgleich  er  es  Te^ 
wirft  Alle,  denen  die  Erziehnng  der  Jngend  zn  wahrer  HnnumitSt 
am  Herzen  liegt,  mOgen  daher  beständig  der  Worte  Walthers  einge- 
denk sein: 

^ianan  kan  behertoi 
khidfls  «iht  mit  gerten; 
den  hmh  i^ftren  bringen  mnc, 
dem  ist  eb  wort  ab  ehi  shM^** 


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Die  praktische  Verbildmis  zum  Ukeren  Seholamte  «of  der 

Universität.*) 

Voa  Dr.  t/.  Wycl*gram'Leipnff, 

Die  Versuche,  eine  Reform  uiisers  liöheren  XJntemcht^wesens 
herbeizoflUiren,  ond  einerseits  solche,  die  ihr  Augenmerk  auf  die  Ma- 
terie des  zu  Lernenden,  auf  Inhalt  und  Vertheilang  des  Stotfes  rich- 
ten, anderseits  solche,  deren  Vertreteri  überzeugt  von  der  hohen 
Bedeutung  der  Beschaff<Niheit  des  Lehrerpersonals,  diesem  letzteren 
iliie  Aufionerksamkeit  ^dmen  und  insbesondere  eine  pädagogische  Be- 
ni&?orbfldung  desselben,  fär  welche  bisher  noch  so  gut  wie  gar  nichts 
gethan  ist,  ins  Lebmi  rufen  möchten.  Was  die  ersteren  betrifft,  so 
hat  sieh  sdt  einer  Bdhe  von  Jahren  ein  solcher  Wust  yon  Yorschlft- 
gen,  die  nicht  immer  aus  dem  Munde  berufener  Männer  kamen,  an- 
«.^esHinraelt,  und  mit  solcher  Hast  und  t  berstürzung  ist  von  Welen 
Seiten  ^e«^en  das  Bestellende  angekämpft  worden,  dass  einstweilen 
noch  grosse  Controversen  bestehen.  Anders  verhält  es  sich  mit  den 
Vei-suchen  der  zweiten  Art;  dahin  zielende  Vorscliläi^e  sind  in  ijeriu- 
irerer  Zaiil,  datiir  aber  fast  durdiofänofifi:  von  Avirklichen  Autoritäten 
gemacht  worden,  und  ihrer  Verwirklichung  stehen  nicht  nur  wenigei* 
ftossere  Schwierigkeiten  im  \\'ege.  sondern  es  lässt  sich  Ton  ihr  auch 
mit  weitaus  gi'össerer  (iewissheit  Nutzen  voraussagen.  Die  unlängst 
erschienene  Leipziger  Dekanatsschrifb  des  Herrn  Prof.  Dr.  Hofioumn 
erweist  von  neuem,  welch  dringende  Bedürfhisse  der  Abhilfe  harren. 

Für  die  pädagogische  Aushfldung  der  Aspiranten  des  höheren 
Sehulamtes  ist,  wie  gesagt,  seitens  der  Universitäten  &st  gar  nichts 
gethan.  Fftr  gewöhnlich  besucht  ein  Phflolog,  Historiker,  Mathema- 
tiker etc.  6  —  8  Semester  lang  die  Vorlesungen  und  Übungen  einer 
Hochschule,  lernt  dadurch  das  kennen,  was  man  akademische  Wissen- 
scliaft  nennt  und  was  nicht  in  allen  Fällen,  sich  über  ein  Conglomerat 


♦)  ct.  Leipziger  Dekanatssclirift  «les  Herrn  Prof.  Dr.  Ii,  Hofmann  zum  Recto- 
ntflwediMl  där  üniTenHit. 


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von  Details  erhebend,  einer  philosophischen  Vertiefuni?  der  elementa- 
reren Ding:e  dient,  welclie  zu  lehren  das  spätere  Amt  erheischt.  Ins- 
besondere für  den  Philologen  und  Historiker  steht  das,  was  die  Vor- 
lesnnjren  iliin  bieten,  nacli  Umfang  und  Ort  oft  in  gar  keiner  Beziehung 
zu  dem  Endzweck,  den  doch  für  ihn  als  künftigen  Lehrer  der  Aufent- 
halt auf  der  Universität  haben  soll.  Indessen  ist  das  nicht  das 
Schlimmste.  Hat  der  junge  Mann  die  Universitätsjalire  lilnter  sich, 
so  tritt  er  in  das  Lefarercollegium  irgend  einer  iK'iheren  Sclnile  ein, 
um  sein  „Probejahr**  zn  machen,  d.  h.  um  womöglich  für  500  Thaler 
Gehalt  sogleich  eine  wissenschaftliche  Hilfslehrerstelle  zn  bekleiden, 
die  ihm  neben  24  Unterrichtsstonden  wöchentlich  noch  die  Verpflich- 
tung zn  zahlreichen  zeitraubenden  Correctnren  auferlegt  Der  Zwe(^ 
des  Flrobejahres  ist,  den  Neuling  mit  dem  Organismus  der  Schule  be- 
kannt zu  machen  und  seiner  ünterrichtsfiUiigkeit  seitens  des  Directors 
und  der  Collegen,  welche  in  seinen  Stunden  zn  hospitiren  haben,  Be- 
urtheilung  und  Kathschläge  zu  Theü  werden  zu  lassen.  Brinprt  man 
nun  in  Anschlag,  wie  sehr  sowol  die  Directoren  als  die  Lehrkralte 
unserer  höheren  Schulen  mit  Arbeiten  überladen  sind,  und  wie  wenig 
Zeit  sie  selbst  b(;im  besten  Willen  für  die  Förderung  eines  jüngeren 
Genossen  behalten,  lässt  man  ferner  nicht  ausser  acht,  dass  der  Can- 
didat,  dank  der  grossen  Stundenzahl,  die  ihm  obliegt,  doch  für  den 
weitaus  grössten  Theil  seiner  Arbeit  sich  selbst  überlassen  bleibt  und 
allen  Gefahren  des  Experimentirens  anheim  jQLUt,  so  wird  man  über 
die  Einrichtung  des  Probejahres  nicht  mehr  so  günstig  denken,  als 
man  auf  den  ersten  Blick  zu  thun  geneigt  war.  Immerhin  aber  mag 
noch  das  Probejahr  als  ein  in  gewissen  Beziehungen  berechtigter  und  * 
auch  nützlicher  Versucli  gelten,  dem  Übelstande  Rechnung  zu  tragen, 
dass  der  Gandidat  während  seiner  Studienzeit  nicht  im  geringsten  auf 
die  Praxis  vorbereitet  wird. 

Herr  Prof.  Hofmann  nun  tritt  diesem  schmerzlich  empfundenen 
Mangel  unserer  l'niversitätseinriclitungen  mit  einer  Reihe  von  Vor- 
schlägen nahe,  die  zwar  grosse  Veränderungen  der  bisherigen  Zustände 
fordern,  aber  sehr  besonnen  gestellt  sind  und  besonders  dadurch  Zu- 
trauen erwecken,  dass  sie  in  Leipzig  bereits  seit  mehreren  Jahren 
zum  Theü  in  die  Praxis  übertragen  sind  und  anerkannt  günstige  Er- 
folge erzielt  haben.  In  Kurzem  gesagt  bezwecken  diese  Vorschläge 
die  Gründung  von  pädagogischen  Seminarien  mit  Cbungsschulen  für 
Candidaten  des  höheren  Schulamtes.  Ansätze  zn  solchen  Seminarien 
flnden  sich  hie  und  da  in  den  preussischen  Anstalten  dieser  Art 
(Göttingen,  Stettin  u.  A.).   Aber  diese  Ansätze  sind  so  unentwickelt 


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und  >:ewähreii  in  ihrer  Uuvollkorameiiheit  auch  nur  einer  so  ver- 
schwindend kleinen  Zahl  von  Studenten  Zutritt,  dass  man  sie  füglich 
üisser  Acht  lassen  kann. 

Das  vollkommenste,  was  an  solchen  Seminarien  bisher  geschaften 
ist»  hat  der  ungarische  Minister  von  Trefort  für  Budapest  und  Klan- 
flenhnig  geleistet  Der  amtliche  Bericht  desselben  über  seine  SchOpihng 
(Tom  Jahre  1877/78)  gibt  folgende  Daten.  Das  Mittelschol-  (Gynma- 
Sil-  und  Beal-)  Lehrerseminar  za  Budapest  gewährt  den  Gandidaten 
drei  Jahre  hindurch  ordentliche  Fachvorträge ,  zn  deren  Besuch  jene 
verpflichtet  sind.  Ausser  dem  vorgeschriebenen  Minunnm  kdnnen  be- 
sonders befähigte  Gandidaten  nach  Gutheissung^  des  Professoren-Colle- 
dams  noch  andere  Collegien  frequentireii.  Die  Lelirkiäfte  bestehen 
zum  Theil  aus  Professoren  der  Universität,  zum  Tlieil  aus  solchen  des 
Pulytechnicums.  Das  Seminar  gliedert  sicli  in  eine  philologisch-histo- 
rist'he.  eine  inatliematisch-natnrwissenseliaft liehe  und  eine  j)äda«?of^ische 
Abtlieilung,  letztere  in  Verbindung  mit  der  i'bungsschule.  In  den 
zwei  ersten  Abtheilungen  dauert  der  Lehrcui-s  drei,  in  der  dritten  ein 
Jahr.  Im  Jahre  1877/78  wirkten  in  der  philologisch-historischen  Ab^ 
theflung  neun  Professoren,  in  der  mathematisch-naturwissenschaftlichen 
elf  (einer  dayon  Ahrt  das  Directorat),  an  der  Übungsschule  sechs 
ordentliche  Professoren,  zwei  provisorische  und  ein  Zeichen-Lehrer. 
Die  Zahl  der  Seminaristen  betrug  78.  Dem  Seminar  steht  kein  be- 
sonderes GebAnde  zur  Verfügung.  Die  Übungsschule  zihlt  vier  Claasen, 
welche  stuflenweise  alle  acht  Jahrgänge  des  Gymnasiums  absolviren; 
die  Schülerzahl  betrug  znletzt  99.  An  der  pädagogischen  Abtheilung 
und  zusrleich  an  der  Ubungsschule  waren  39  Tandidaten  betheiligt 
'nämlich  10  ordentliche  Hörer  mit  je  ;UK)  (nilden  .lahresstiptiidium 
lind  29  ausserordentliche  Mitglieder  des  Seminars).  Zur  Anschafliing 
von  Lehrmitteln  und  zu  Experimenten  des  Seminars  sind  2000  Gulden 
bestimmt. 

Diese  Bndapester  Einrichtung  mm  ist  von  allen  Versuchen,  die 
nach  dieser  Seite  gemacht  sind,  derjenige,  welcher  den  Intentionen 
fi<^nann'a  am  nAchsten  kommt  Indessen  gehen  die  letzteren  doch 
Boch  weiter  oder  sind  in  manchen  Punkten  von  denen  Treforts  diver- 
girend.  Hofinann  berechnet  sein  Seminar  auf  di^enigen  Studenten, 
die  sieh  in  dem  letzten  Halbjahre  ihrer  akademischen  Zeit  befinden, 
•nd'zwar  will  er  statt  der  Üblichen  3  V«  Jahre  eine  4  jährige  Studien- 
daner  gesetzt  wissen.  Das  Seminar  soll  den  iUteren  Studenten  Ge- 
legenheit geben,  die  Obliegenheiten  des  späteren  Amtes  in  vollem 
UnAage  kennen  zn  lernen  und  einzusehen,  wie  sich  dieselben  als  ein 


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—   358  — 


Glied  dem  sce.saiiiiiiteu  Unterrichts-  imd  Erzit^hungswesen  emfög-en. 
Drei  Aufg-abeii  hat  nacli  H.  eine  solche  jjraktisclie  VoibiliUius:: 
1.  Weitei'tiilininR-  in  den  wisseiiscliaftlichcn  Discijiliueii  mit  Hiiiweisiinj; 
auf  die  praktischen  AnlordiTung^eu  des  I  ntei  lichtes.  2.  Hospitiren 
bei  musteroriltiofeii  Lehrern  nnd  pi-aktische  Kinlührnno:  in  die  Kennt- 
nis der  verschiedenen  8chuhn'<>anisationeu.  8.  Praktische  Übung  üu 
Unterrichten  und  in  alle  dem,  was  damit  zusammenhängt  Was  den 
ersten  Pnnkt  betrifft,  so  ist  damit  nicht  die  rein  irissen schaftliche 
Arbeit  gemeint,  wie  sie.  losgelöst  von  jeder  Beziehung  zur  Lehrpmxis, 
an  nnsem  Hochschulen  betrieben  wii*d,  sondern  es  soll  an  den  viaseih 
schaftlicben  Gegenstand  eine  Methode  gelegt  werden,  die  seine  didak- 
tische Yerwertbarkeit  erfordert  Es  würde  daher  an  der  jetzigen 
Gestalt  der  auf  fiist  allen  deutschen  Hochschnl^  befindlichen  wissen- 
schaftlichen Seminarien  eine  erhebliche  Änderung  vollzogen  werden 
mttssen.  # 

Das  Schwergewicht  des  Hofinann'schen  Seminars  liegt  indessen 
aut  der  zweiten  und  dritten  Aufgabe  der  praktischen  Vorbildung.  Um 
das  Hospitiren  bei  guten  Lelirern  und  das  eigene  Unterrichten  dt-r 
Candidaten  zu  ei-müfrliclien.  hat  sich  H.  an  die  Schulbehörden  Leipzigs 
gewendet,  und  es  sind  ilnn  sanmitliclie  Schulen  dieser  Stadt  zur  Ver- 
fügung gestellt.  Er  hospitirt  mit  seinen  Zuhöreni  bei  anerkanureu 
Lehrern  und  lässt  sie  dann  und  wann  selbst  vor  einei"  gehöiig  im 
Zuge  beündlichen  Ulasse  ihre  Lectionen  abhalten,  denen  er  seine 
corrigirenden  Bemei'kungen  anfügt.  Indessen  ist  das  alles  nur  ein 
Nothbehelf,  und  wenn  derselbe  vielleicht  für  Leipzig  mit  grossem  Er- 
folge verbunden  ist,  so  muss  dieser  Erfolg  nothwendig  fehlen  in  einer 
kleüien  Universitätsstadt,  in  welcher  weder  der  Zahl  noch  der  Quali- 
tät nach  ähnliche  Schulen  vorhanden  sind.  Um  dem  abzuhdfen  und 
allen  Studenten  des  Reiches  in  gleicher  Weise  die  Möglichkeit  zu 
verschaffen,  sich  zum  Lehrerberufe  praktisch  vorzubereiten,  verlangt 
H.  von  den  deutschen  Regienmgen,  dass  in  Jeder  Universitätsstadt 
ein  solches  pädagogisches  Seminar  errichtet  und  demselben  eine  Xor- 
inalschule  beigegeben  werde.  An  dersell)en  sollen  nur  tüchtige,  aner- 
kannte Lehrer  angestellt  werden ,  und  an  dem  Vorbilde  derselben 
sollen  die  S»-niinaristen  lernen.  Ausserdem  aber  müssen  an  die>er 
Schule  den  Jungen  Leuten  Stunden  zur  eiiitiien  ('bung  zui"  Verfügung 
gestellt  weiden,  und  zwar  will  H.  hier  einen  eigenthümlichen  Moiiiis. 
Kr  ist  der  Ansicht,  dass  eine  blos  einmal  gehaltene  Lectiun  nicht  im 
Stande  ist,  grossen  Nutzen  für  den  Candidaten  zu  haben,  und  will 
infolge  dessen  sämmtliche  Classen  der  Seminarschule  verdoppehi;  hat 


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nun  z.  B.  ein  Candidat  eine  Lection  pfelialteu  in  Quinta  I,  so  soll  er, 
naclideiii  die  Kritik  .statt^^efmideii  bat,  dieselbe  unter  Vermeidung  der 
genügten  Fehler  in  der  Parallelklasse  Quinta  11  wiederholen.  Erst 
dadurch,  meint  Hofniann,  gestützt  auf  reiche  eigene  Ertahrungen,  wird 
der  mrldicbe  Nutzen  einer  Probelection  erreicht. 

Aber  wie  sollen  diese  Semiuai'scbulen  beschattt  werden?  Bevor 
diese  Frage  ihre  zweckmässige  Lösung  gefunden  hat,  ist  natürlich 
nicht  im  entfei-ntesten  an  eine  Verwirklicliung  der  H.'schen  Pläne  zu 
denken.  Die  Schale  muss,  um  Zusprach  za  erhalten,  den  Gynniasien 
gleichberechtigt  gegenüberstehen;  wenn  es  sich  aber  empfiehlt,  ihr  die 
Vordassen  zur  Kenntnisnahme  des  Elementarunterrichts  anzufügen,  so 
stehen  hingegen  der  Errichtung  einer  Prima  und  Obersecunda  Be- 
denken discipHnarer  Natur  gegenüber.  H.  will  die  hdhere  Normal- 
schule bis  zur  Untersecunda  inclusive  reichen  lassen  und  durch  die  Be- 
reditigung  zum  Eiig&hrig-Freiwilligendienste,  die  mit  der  Absolrirung 
dieser  Olasse  verbanden  ist,  zugleich  für  die  erforderliche  Freqnenz 
sorgen.  Rechnet  man  nun  auf  eine  Classe  30  Schüler  und  niuimt  mau 
an ,  dass  nach  dem  Massstabe  gleichstehender  Schulanstalten  jeder 
Schiller  150  Mark  Honorar  zahlt,  so  würde  eine  ('lasse  4000  Mark 
aufl)rinL'-Hn ,  d.  h.  in  der  Hauptsache  die  erforderlichi*  Lehrkraft  be- 
zahlt niachen.*)  Dem  Staate  würden  somit  nur  die  Ausgaben  für 
Errichtung  des  Gebäudes  und  für  Erhaltung  desselben  zur  Last  fallen, 
and  mit  demselben  Rechte,  mit  welchem  dieMediciner  ilu'e  Kliniken  etc. 
beanspruchen,  kann  die  philosophische  Facultät  eine  solche  höhere 
Normalschale  verlangen,  deren  Segnungen  anderer,  aber  nicht  gerin- 
gerer Art  für  die  Gesammtheit  unsers  Volkes  sind.  Auch  füi*  den 
emzelnen  Studenten  würden,  obgleich  H.  die  Studienzeit  um  ein  halbes 
Jahr  verengert  -wissen  wiU,  keine  erheblichen  Mehrkosten  erwachsen, 
da  die  Mitgliedschaft  des  pädagogischen  Seminars  ermöglichen  soll, 
dass  die  Dauer  des  eigentlichen  Probejahrs  auf  ein  halbes  Jahr  redu- 
drt  werde. 

Überblicken  wir  diesen  nur  in  aller  Kürze  wiedergegebenen  Be- 
fonnplan,  so  werden  wir  uns  der  Überzeugung,  dass  alles  bis  ins  ein- 
zelne wolüberlegt  und  streng  innerhalb  der  Grenzen  des  Austührbai-en 
gehalten  ist ,  nicht  verschliesseu  können.  Kür  die  Erfolge  der  neiuMi 
Seminarien  kann  uns  die  segensreiche  \\  irksamkeit  dcö  Prof.  H.  selbst 

*)  In  d«r  Sttekricht  auf  den  FreiwiUigendienst  und  auf  das  Schulgeld  ist  wol 
nv  eine  Aeoomoiodation  an  die  bestehenden  VerhXltnisDe  zu  erblicken;  die  hier  auf- 
tretenden pädagogischai  Bedenken  wird  Herr  Prof.  Hoflnann  jedenfiüls  auch  nicht 

Abeneben  haben.  D.  H. 

2i* 


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1 

■ 

—   360  — 

eine  g;ewisse  (Turaiitie  frel»eii,  die  überall  da  Geltimp-  haben  wird,  wo 
man  an  die  Nj)itze  der  Anstalt  tüclitige,  bewälirte  Pädao;ogen  ruft,  die 
durchaus  niclit  immer  Universitätsprofessoren  zu  sein  })]-auehen.  Aber 
in  der  ganzen  Anirelegenlieit  kann  kein  Schritt  gethan  werden  ohne 
die  Hilfe  des  Staates,  und  wie  bei  uns  die  Regierungen  sich  zu  einem 
Projecte  stellen  werden,  dessen  kostspielige  Eigenschaften  dem  Laien 
stets  eher  in  die  Augen  fallen,  als  seine  Bedeutung  filr  das  geistige 
und  moralische  Leben  nnsers  Volkes,  ist  eine  Frage  von  sehr  zweifel- 
hafter Antwort*) 

*)  Es  wäre  tranrig,  wenn  diese  wichtige  Angelflgeilheit  ad  calendas  graecas  ver. 
ta^rt  werden  sollte;  hoffentlicii  erleben  wir  bald  eiDen  neven  AnfBchwuiig  der  cnlta- 
relleu  Entwickelung  der  deutschen  Nation.  D.  H. 


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Wiener  GeschieliteiL 

Von  Dr,  Friedrich  Ditiea, 

VL 

Nachdem  fOr  das  erste  Semester  des  13.  Schuljahres  Herr  Dr. 
Pommer  zum  Supplenten  der  deutsche  Sprache  und  Llteratar,  der 
Psychologie  imd  Logik,  der  Pädagogik  nnd  ihrer  G^eschichte  emamit 
TO,  femer  ich,  anstatt  der  an  Dr.  Pommer  übergegangenen  Fächer, 
auf  Wunsch  der  Commission  die  Methodik  nnd  Schulpraxis  übernom- 
men, in  den  übrigen  Disciplinen  aber  eine  Vacanz  sich  nicht  ereignet 
hatte,  beprann  der  neue  Cursiis,  zwar  nicht  rechtzeitig,  aber  docli  für 
die  Erledigung  unserer  Aufgabe  nodi  nicht  allzu  spät.  Wenn  nur 
vim  jetzt  an  alles  <^ut  gegangen  wäre!  -  Allein  wir  hatten  eben 
keine  interne  Lehrkraft  erhalten,  und  Dr.  r(Hnnier,  auch  in  sanitärer 
Hinsiclit  nicht  j^anz  fest,  war  eben  übeibiirdet:  er  konnte  sich  neben 
seiner  vollen  Professur  am  (Gymnasium  der  umfänglichen  und  schwie- 
ligen Aufgabe  am  Pädagogium  nicht  mit  der  erforderlichen  Kraft  und 
Sammlung  hingeben  nnd  wurde  oft  am  Erscheinen  in  der  Anstalt  ver- 
hiudert,  was  natürlich  sehr  störend  war,  da  ja  eine  ganze  Gruppe  von 
Fächern  in  seiner  Hand  lag,  und  die  entstehenden  grossen  Lücken  im 
Lehrbetrieb  selbst  auf  den  Fortgang  anderer  Fächer  nachtheilig  wirken 
mussten.  Es  geschah  eben,  was  man  mit  Bestimmtheit  hatte  voraus- 
sdien  können,  mochte  man  ein  Schulmann  sein  oder  nicht 

Hierzu  kamen  andere  Fatalitäten,  zunächst  dne  persönliche  Diffe- 
renz zwischen  dem  Qemeinderath  und  mir.  Qm  wUrde  ich  dieselbe 
mit  discretem  Schweigen  übergangen  haben,  wenn  sie  nicht,  als  sie 
bereits  veraltet  war,  von  anderer  Seite  in  gehässiger  Weise  vor  die 
Öffentlichkeit  gebracht  worden  wäre.  Der  Sachverhalt  ist  folgender. 
Am  25.  October  1880  wuide  ich  mit  folgender  Zuschrift  überrascht: 

„Hemi  Dr.  Friedrich  Dittea,  Direct^r  des  städt.  Lehrer-Pädagog-inms.  Der 

(remeinderath  der  Stadt  Wien  hat  in  seiner  Plenarsitzung  vom  19.  1.  M.  Ihnen 
tiii'  die  vurjülirig-e  SiipplLning:  wälirend  des  ganzen  Schuljalires  in  acht  wöchent- 
lichen riitorrichtsstunden  die  dem  Director  der  lU)ungsschule  als  T.chrer  der 
Methodik  und  Leiter  der  praiitiüchen  übuageu  nach  (iemeiuderathsbeschluss 


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1 


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vom  November  v.  J.  zug^pdaclite  Keiiiuneration  per  Bechshnndert  Gulden  bewil> 
ligt.    Die  städtische  Hauptcasse  wird  demnach  angewiesen.  Ihnen  den  ober- 

wiUinton  Betrasf  aus  der  stildtischen  Casse  zu  erfolg-en.  Hiervon  wt'rdoii  der 
Herr  Director  hieiinit  in  die  Kenntnis  gesetzt,  Wien  am  24.  October  1880. 
Der  Magistrats-Vicediiector.  Spätlu" 

Mit  Beginn  des  12. Schuljahres,  d.i.  Mitte  September  1879,  batte  ich 
auf  W  unsch  der  Conimissioii  die  berülirte  Suppliruug  überuommeu,  wäh- 
rend gleichzeitig  Dr.  Pommer  mit  der  Sui)i)lirung  der  deutscheu  Sjjrache 
und  Literatur  betraut  worden  war.  Das  natürlichste  und  einfachste 
wäre  nun  oline  Zweifel  gewiesen,  dass  der  Gemeinderath,  wenn  er  mir 
eine  Kemuneraiiou  bewilligen  w'ollte,  dies  zu  derselben  Zeit  gt  tban 
hätte,  zu  der  er  Herrn  Dr.  Pommer  seine  Remuneration  anwies,  nämlich 
am  Anfange  des  12.  Schuljahres.  Warum  der  mir  mitgetheilte  Be- 
schluss  um  mehr  als  ein  Jahr,  nämlich  bis  ^sum  19.  October  1880  ver- 
schoben werden  mnsste,  wflsste  ich  nicht  zu  sagen.  Ebenso  räthsel- 
hait  war  und  ist  es  mir  noch  heute,  warum  der  Gtemeinderath  mir 
f&r  jede  wöchentliche  Lehrstunde  nur  75  Fl.  jährlich  anwies,  wihrend 
seit  dem  Bestehen  des  Pädagogiums  jeder  andere  Supplent  und  auch 
Dr.  Pommer  für  jede  wöchentliche  Lehrstunde  100  FL  jährlich  erhalten 
hatte.  Nicht  minder  räthselhaft  war  und  ist  mir  noch  heute  die  Mo- 
tivirung  mit  einem  angeblichen  Gemeinderathsbeschluss  ^vom  November 
V.  .T.".  Schon  das  unbestimmte  Datum  ist  auffällig.  Jedermann  weiss, 
dass  der  Monat  November  HO  Tage  hat.  dass  abei*  eine  (Korporation 
einen  bestimmten  P>esr]duss  nur  an  «;inem  bestimmten  Tage  fassen 
kann,  und  dass  in  ofticielleu  Schriftstücken  ein  so  vages  Datimi,  wie 
,.vom  Novendjer  v.  J.''  nicht  recht  am  Platze  ist,  wenn  es  sich  um 
einen  concreten  Act  handelt.  An  welcliem  Tage  ist  nun  jeuer  angeb- 
liche Besclduss  gefasst  worden?  Ich  habe  in  den  gedruckten  officiellen 
Protokollen  über  die  Gemeinderathssitzungen  liierüber  nichts  gefunden 
und  glaube  noch  heute,  dass  ein  solcher  Beschluss  überhaupt  gar  nicht 
gefosst  worden  ist,  zumal  mir  später,  wie  ich  bald  berichten  werde, 
eine  competente  Persönlichkeit  eine  ganz  andere  Angabe  in  dieser 
Sache  gemacht  hat  Femer  bin  ich  nie  im  Stande  gewesen,  mir  äesa 
dunkeln  Sinn  dieses  angeblichen  Beschlusses  und  dessen  Znsammenhang 
mit  meiner  Supplirung  zu  erschliessen.  Gewiss  ist  so  viel,  dass  die 
beiden  internen  Lehrkräfte,  welchen  vormals  die  Methodik  und  Schul- 
praxis anvertraut  war,  hierfür  ein  höheres  Honorar  erhalten  haben, 
als  den  externen  lielirkrätten  und  Supplentt  ii  nach  ^lassgabe  der  Stun- 
denzahl bewilligt  wurde,  und  dass,  wenn  mau  mir,  wie  jedem  andein 
Docenteu,  für  8  wöchentliche  Lehrstunden  800  Fl.  jährlich  zuerkannt 


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—   363  '  — 


hätte,  der  Stadtcasse  ans  der  bestehenden  Vacanz  nocli  immer  eine 
Ersparnis  erwachsen  wäre,  obwol  ich  den  fraglichen  Unterriclit  in  sei- 
nem vollen  UmÜEtnge  und,  wie  mir  in  den  schmeichelliattesten  Aus- 
dräcken  öfters  versichert  worden  war,  mit  (1<mti  besten  Erfolge  ertheilt 
batle.  Hierza  kam  ein  anderer  wichtiger  Umstand.  Wie  ich  nämlich 
in  Nr.  n  meiner  „Wiener  Geschichten**  berichtet  habe,  hatte  ich  be- 
reits froher  einmal,  nftmlich  mit  Beginn  des  zweiten  Semesters  des 
vierten  SchnQahres,  die  Supplirung  der  Methodik  und  Schulpraxis 
flbemommen.  Mit  Beziehung  hierauf  hatte  ich  dann  folgendes  Schreiben 
erhalten. 

,fAn  Herrn  Dr.  Friedrich  Dittes,  Director  des  städt.  PUdaf^og-jinus.  l>»'r 
Gemeinderath  der  Stadt  Wien  hat  iu  seiner  gesti-igen  Pleiiai'sitzuug  Ihueii, 
Herr  Birector,  anlttsslich  der  Übernahme  von  wSchentlieh  acht  Lehrttonden  in 
der  Methodik  imd  Lehrpraiis  nach  dem  Austritte  des  Oberlehren  Dr.  Willmann 
ane  Bemoneratioii  im  Betrage  von  fOnfhondert  (50ü)  Golden  österr.  Whrg. 
Itewilliget  und  für  die  Bereitwilligkeit,  mit  welcher  Sie  diese  Snpplentm  iil>er- 
nommen  haben,  seine  Anerkennung  ausgesprochen.  Ich  weise  demnach  dos 
städtische  Oberkammeramt  an.  Ihnen  diesen  Betrag"  g-e^-en  cintiu  lie  Enipfaiijrsbe- 
ütäti^ung  auszufolgen.  Wien  am  IH.December  1872.  Der  Bürf^eniicister.  Feldpr.*' 

Gemäss  dieser  Zuschrift  erhielt  ich  damals  für  die  halbjährige 
Sapplirong  der  genannten  Fächer  500  FL,  während  man  mir  jetzt  fftr 
die  ganze  Jahresleistung  nur  600  FL  bot,  obwol  keinerlei  Vermin- 
demng,  sondern,  wegen  der  bedeutend  erhöhten  Frequenz  des  Päda- 
gogiums, eine  Vermehrung  der  Arbeit  eingetreten  war.  Was  endlich 
die  äussere  Form  der  beiden  citirten  Schreiben  betrifft,  so  war  die  des 
titeren  ansprechend  und  der  Repräsentanz  einest  anselinlichen  Gemein- 
vesens  würdig,  die  des  spätinea,  gelinde  gesagt,  höchst  diirftig.  — 
R'i  diesem  Sachverhalte  miisste  das  gemeinderäthliche  Angebot  selbst, 
iii'lit  minder  die  versuclite  MotiviniiiL:-  desselben  und  überhaupt  das 
iTaii^e  .Schriftstück  einen  iin<iinistitzen  Kindriick  auf  mich  machen.  Ks 
ham^dte  sicli  da  nicht  sowol  um  (ield,  als  um  Khre.   Um  jefiocli  meine 
!"  i>">iliclie  Kmptindung  einer  objectiven  Controle  zu  unterziehen,  legte 
icii  d;i  uneifreuliche  Document,  ohne  meine  eigene  Ansicht  zu  äussern, 
einigen  befreundeten,  mit  den  einschlagenden  Verhältnissen  vertrauten 
nnd  volkommen  unbe&ngenen  Herren  mit  der  Bitte  vor,  mir  offen  ihre 
Meinung  zu  sagen.  Sie  äusserten  entschiedene  Missbilligung,  ja  Ent- 
rtstung  Iber  das  Schreiben  und  erblickten  in  demselben  eine  directe 
Bdeidiguor  gegen  mich.  Und  als  ich  noch  eine  andere,  in  Sachen 
des  guten  ?ones  competente  Instanz  consultirte,  lautete  der  ruhige, 
aber  sichere  Ausspruch :  „Das  kannst  Du  nicht  annehmen."  Nunmehr 
sendete  idi  Ugende  Antwort  auf  das  Rathhaus: 


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—   364  — 


.,An  Herrn  Magistrats- Vicedirector  Spätli  in  Wien.  Mittels  Zn- 
sclirift  vom  24.  d.  M.  theilen  Sie  mir  mit.  <ler  Gemeinderatli  von  \\  ieu 
habe  mir  für  die  vorjährige  Suppliruiig  von  acht  wöchentlichen  Unter- 
richtsstunden am  Pädagogium  sechshundert  Gulden  bewillijoret.  Da  es 
gegen  allen  Usus  ist,  dass  am  Pädagogium  acht  wöchenüiclie  Unter- 
richtsstunden mit  nur  600  FL  jährlich  hononrt  werden:  so  kann  ich  mir 
die  erwähnte  spontane  „Bewilligung"  nnr  entwed^  ans  Geringschätzung 
meiner  Lehrthätigkeit,  oder  ans  Bttcksichten  anf  die  bedrifcngte  FinaiUE- 
lage  der  Stadt  erkläi'en.  Im  ersteren  Falle  gebietet  mir  die  Ehre, 
jene  „Bewilligung"  znrfickzuweisen;  im  anderen  verzichte  ich  auf  die 
fraglichen  600  Fl.,  wie  ich  seit  zwölf  Jahren  anf  weit  grössere  Be- 
träge, welche  mir  gebührt  hätten,  verzichtet  habe.  Hiervon  wollen 
der  Herr  Vicedirector  dem  Gemeinderath  Kenntnis  geben.  Wien  den 
26.  October  1880.    Dr.  Friedricli  Dittes,  Director  dc.^  Pä(h\üot;iums." 

Diesem  Schriftstücke  füii-e  ich  für  meine  den  Verliältnissen  fem 
stehenden  Leser  einige  Erläuterunp^en  bei.  Was  die  bedrängte  Finanz- 
lage der  Stadt  betritFt,  so  war  dieselbe  seit  dem  Ablauf  jener  Zeit,  in 
welcher  man  leichten  Herzens  mit  Millionen  ge wirtschaftet  hatte,  im 
Gemeinderathe  selbst  oft  genug  zur  Motivimng  beantragter  Ersparungen 
angefiihrt  worden,  und  im  Kampfe  gegen  das  angeblich  sehr  kostspie- 
lige Pädagogium  hatte  sie  eine  hervorragende  Bolle  gespielt  Bezüg- 
lich der  angedeuteten  Verzichtleistnng  folgende  Bemerkungen.  Nach 
strengem  Rechte,  d.  h.  auf  Grand  des  zwischen  der  Gemeinde  Wien 
und  mir  bestehenden  Vertrages,  hätte  ich  von  Anfang  an  überhaupt 
jede  unentgeltliche  Lehrthätigkeit  verweigern  können.  Selbstverstand-* 
lieh  habe  ich  von  diesem  Bechte,  so  lange  meine  Gesundheit  anshiel^ 
niemals  Gebrauch  gemacht:  dies  wäre  nicht  nur  unbillig,  sondeH  . 
gegen  meine  eigene  Nei^runs:  ^»^ewcsen,  da  ich  nie  Gewinn  gesucht  ind 
gerade  in  der  freien  Lehi-thätigkeit  stets  meine  grösste  Freude  geUu- 
deu  habe.    Allein  dass  ich  gleicli  in  den  ersten  Jaliren  micli  breit 
finden  Hess,  nebst  jenen  pädagouist  lien  Disciplinen,  deren  UbenHlinie 
man  von  mii*  erwarten  konnte,  nocli  eine  Keihe  von  anderen  F  .Hullern 
zu  suppliren,  wodurdi  ich  der  Gemeinde  mehrere  Lehrkräfte  \iiu  damit 
beträchtliche  Geldsummen  ersparte,  meine  Gesundheit  aber  ;usetzte, 
das  konnte  billiger  Weise  niemand  unentgeltlich  erwarten.  Dennoch 
habe  ich  für  diese  ausserordentlichen  Leistungen  nie  eine  Entshädigung 
oder  ein  Wort  des  Dankes  empfangen.  Femer  habe  ich  drel^bn  Jahre 
lang  unentgeltlich  die  Bibliotheksgeschäfte  besorgt  nnd  d»  Schulgeld 
eingenommen,  auch  zehn  Jahre  lang  den  KanzleianfwandätiB  eigenen 
Mitteln  bestritten,  ohne  dazu  irgendwie  verpflichtet  ge^en  zu  seiOf 


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—   365  — 


luid  uhiie  dass  etwa  ein  Usus  dattir  g:esprocbeii  liätte,  da  in  allen 
hölieren  Lehi'anst alten  Wiens  für  diese  Zwecke  besondere  Mittel  zur 
VerftigODg  gestellt  sind.  Was  aber  meine  Besoldung  betrilt'tf  so  ist 
dieselbe  niemals  erhöht  wordea.  Es  ist  wahr,  dass  sie  bei  meiner 
Anstellong  eine  völlig  ausreichende  und  im  Vergleich  mit  den  im 
Schuldienste  gewöhnlichen  Verhältnissen  bedentende  war.  Doch  ent- 
sprach sie  nnr  dem  Hinkommen,  waches  mir  meine  frühere  Stellung 
gebot«!  hatte,  und  bei  meinen  Verhandlangen  mit  dem  Wiener  6e- 
meinderath  hatte  ich  den  Umstand,  dass  derselbe  gerade  anf  mich  die 
Wahl  zn  richten  gesonnen  war,  keineswegs  ausgebentet.  Bios  die 
Erwartnnie:  hatte  ich  ausgesprochen,  dass,  falls  die  Entwickelung  der 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  eine  Vcrnunderung  des  Geldwertes  zur 
Fol^e  haben  sollte,  eine  entsprechende  Krhöhung  meiner  Hesohlunp: 
eintreten  würde.  Das  wurde  denn  auch  bereitwilligst  in  Aussicht  ge- 
stellt. So  schrieb  mir  z.  B.  Dr.  Kolatschek,  der  den  grössten  Theil 
der  Unterhandlungen  mit  mii-  tÜhrte:  „Ks  wurde  in  der  Discussion  her- 
vorgehoben, dass  eine  Erhöhung  des  Gehaltes  nach  Zeit  und  Verdienst 
wol  bewüUgt  werden  sollte.  Im  allgemeinen  werden  Sie  Sich  in  Ihrer 
£rwsrtiing  nidit  enttäuscht  finden,  dass  der  Gemeinderath  von  selbst 
thnn  wird,  was  ndthig  ist,  um  Ihre  Stellnng  zu  verbessern.  Im  be- 
Moderai  werden  wir  schon  sorgen,  dass  es  zur  rechten  Zeit  und  in 
da*  rechten  Weise  geschieht**  —  AUein  diese  Versprechungen  sind 
ebensowenig,  wie  die  frtther  angeführten,  erflUlt  worden,  obwoi  der 
Fall,  flir  den  sie  gegeben  waren,  in  sehr  fühlbarer  Weise  eintrat,  und 
obwo!  man  eben  deshalb  nicht  nnr  allen  Lehrpersonen,  sondern  allen 
ütfentlichen  Functionären  ohne  Ausnahme,  vom  ersten  bis  zum  letzten, 
auch  ohne  dass  man  ihnen  bei  ihrer  Anstellung  Versprechungen  ge- 
niacht  hatte,  sehr  bedeutende  (Tehaltserliriliungeu  zu  bewilligen  veran- 
la>>t  war  und  zwar  zu  wiederholten  Fialen  und  unter  verschiedenen 
Titeln.  Nur  ich  ganz  allein  blieb  jederzeit  viUlig  ausgeschlossen,  mochte 
es  sich  um  Tlienerungsbeiträge,  Fersonalzulagen,  Gehaltserhöhungen 
oder  ähnliches  handehd.  Ich  habe  das  alles  ruhig  hingehen  lassen, 
weil  es  mir  von  jeher  zuwider  gewesen  ist,  micli  um  materielle  Vor- 
theile zu  bemühen,  und  weil  ich  es  für  meine  Pflicht  hielt,  alles  zu 
vermeiden,  was  zn  einer  missliebigen  Erörterung  ttber  die  „Opfer^, 
welche  das  Pftdagc^um  der  Stadt  auferlege,  und  damit  zu  Agitationen 
gegen  die  Anstalt  Anlass  geben  konnte.  Überdies  wdrde  ein  von  mir 
ausgegangener  Hinweis  auf  die  angeführten  Momente  überflüssig  ge- 
wesen sein,  da  dieselben  ja  notorisch  waren  und  der  Commission  des 
Pädagogiums  bei  ihrer  Geschäftsfülirung  jährlich  wenigstens  einmal  in 


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Ei'inueiiiiig  kommen  mussteii.  Kurz,  um  meine  Existenz  hat  sich  iiit'- 
mand  gekümmert,  und  ich  kann  sagen,  dass  icli  micli  im  Dienste  dti 
Stadt  Wien  keineswegs  bereichert  habe.  Ich  könnte  mehi-  sa^en,  wenn 
es  hier  schicklich  wäre,  über  Privat  Verhältnisse  zu  sprechen.  Nur  mit 
Widerstreben  habe  ich  vorstehende  Thatsachen  angetlihrt.  Aber  nie- 
mand kann  es  mir  verargen,  wenn  ich  schliesslich,  nachdem  ich  wäh- 
rend einer  langen  Beihe  von  Jahren  ein  in  seiner  Art  seltenes  Beispiel 
von  Uneigenntttzigkeit  im  öffentlichen  Dienst  gegeben  hatte,  zn  allen 
anonymen  Yerdächtigimgen  nicht  anch  noch  Beleidignngen  von  offi- 
cieUer  Stelle  mhig  hinnehmen  wollte. 

Ich  dachte  non,  die  leidige  Afi^re  sei  mit  meinem  Antwortsdireiben 
abgeschlossen.  Es  war  auch  etliche  Wochen  Ruhe.  Da  bekam  ich 
vom  Bürgermeister  einen  Brief  folgenden  Inhaltes:  „Ew.  Wolgeboreu! 
leh  ei  snche  Sie,  mich  morgen,  Fi'eitag  den  3.  December  d.  .1.,  zwischen 
11  Uhr  Vomiittags  und  1  Ulir  Mittags  in  meinem  Bureau  zn  liesnclif-u. 
Mit  dem  Ausdrucke  der  besonderen  Hochachtung  Newald,  Bürger- 
meister. Wien  am  2.  December  1K80."  —  Als  ich  nun  bei  dem  Herrn 
Bürgermeister  erschien,  äusserte  er  den  \\'unsch.  ich  möge,  damit  die 
Sache  ihren  Abschluss  lande,  die  fraglichen  (UX)  Fl.  annehmen.  Ich 
antwortete,  dass  ich  dies  Ehren  halber  nicht  könnet  übrigens  al>er 
dringend  wünsche,  dass  die  Sache  auf  sich  beruhen  möge.  Der  Bür- 
germeister antwortete,  dass  seines  Wissens  die  Absicht  einer  Beleidigung 
nicht  bestanden  habe,  und  dass  sicherlich  ihm  selbst  eine  solche  Ab- 
sicht fremd  gewes^  sei  (was  ich  gern  glaube);  der  Gemeinderath 
würde  anch  einen  höheren  Betrag  bewilligt  haben,  wenn  der  Beferent 
einen  solchen  proponirt  hätte.  Aber  der  Beferent  habe  seinen  Tor- 
schlag mit  dem  Hinweis  auf  einen  Gemeinderathsbeschluss  aus  dem 
Jahre  1874  motivirt,  und  da  habe  der  Gemeinderath  zugestimmt.  Ich 
äusserte,  diese  Motiviiung  stehe  mit  der  mir  schriftlich  bekannt  ge- 
gebenen im  \\'i(l('rsi»ruc]i.  und  ich  müsse  überhaupt  entsciiieden  bezwei- 
feln, dass  im  Jalire  1><74  ein  Beschhiss  gefasst  worden  sei,  der  deiii 
von  IJSHU  hätte  als  Basis  «lieneii  können.  Darauf  beiuei-kte  der  HeiT 
Bürgermeister,  er  verlasse  sicli  auf  die  Aiilühruug  des  Refercnreii. 
und  er  werde  sofort  Auftrag  geben,  dass  der  citirte  Beschluss  aus  den 
Acten  extrahirt  und  mir  zugestellt  werde.  Ich  sagte,  das  wüi^de  mir 
ganz  recht  sein,  ich  tin  chte  aber  sehr,  dass  ich  einen  solchen  Extract 
nicht  erhalten  würde.  Damit  war  das  Gespräch,  ohne  Ergebnis,  xa 
Ende.  Ich  habe  von  jenem  angeblichen  Beschlüsse  nie  etwas  zu  sehen 
bekommen,  auch  den  Namen  des  „Beferenten**  nie  er&hren. 

Wenden  wir  uns  nnn  wieder  zu  den  Angelegenheiten  des  FSda- 


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—  a<57  — 

goginms  selbst  Die  Wiener  „Presse"  brachte  am  9.  November  1880 
einige  HDttheilungen  ans  dem  meinen  Lesern  bereits  bekannten  Com- 

missionsberichte  (s.  Nr.  V  der  „Wiener  Geschichten").  Vollständig 
reprodiicirte  sie  den  Passus,  wcldier  mit  den  Worten  bpofinnt:  ,.P3ine 
nicht  unbedeutende  Menge  lunUt  f^edankenlos  mit.-'  Diese  Publicati(tn 
der  Presse  war  schon  an  sicli  iiiclit  gerade  eine  3hister])robe  discreter 
BehandhmfT  amtlirher  An,uele*;entieiten.  da  der  fragliclie  Hericlit  nuch 
niclit  vor  da,s  Plenum  des  Genieinderathes  gelangt  war  (ich  selbst  be- 
kam Ilm  erst  drei  Wochen  später);  sie  zeigte  aber  auch  in  ihrer  gan- 
zen Fassung  eine  gewisse  Animosität  und  schloss  mit  der  Bemerkung: 
„Die  Commission  mnss  wol  wissen,  ob  es  nothwendig  war,  gerade 
jetzt  die  schwersten  G^hfttze  auffohren  zu  lassen.  Die  Budgetver- 
handlongen  stehen  vor  der  Thflr.  Da  wird  freilich  manch  hartes  Wort 
faUen."  Also  wieder  der  Stachel  des  Kostenpunktes.  Den  vorher  be- 
zeichneten Passus  hatte  die  Presse  mir  zugeschrieben:  er  sollte  der 
Ton  mir  am  14.  Juli  gehaltenen  Bede  entnommen  sein.  Die  stellen- 
weise  unklare  Composition  des  Gommissionsberichtes  liess  allenfalls 
dne  solche  Auffassung  zu,  obwol  sie  unrichtig  war.  Dem  Satze:  „Eine 
nicht  unbedeutende  Menge  heult  gedankenlos  mit"  —  hatt«  die  „Presse" 
die  Bemerkung  beigefügt:  .,eine  eigenthümliche  Ansdrucksweise  für  den 
Director  des  Pädagogiunis."  Da  nun  der  fragliche  Passus  nicht  von 
mir  herrührte  und  die  an  ihn  geknüi»fte  Bemerkung  im  Hinblick  auf 
die  seit  dem  Kl.  .Juli  eingetretene  Sachlage  nicht  i<rnorirt  werden 
konnte,  so  sandte  ich  an  die  Redaction  der  ..Pi  esse'-  eine  entsprechende 
Berichtigung,  welche  jedoch  erst  in  Folge  wiederholter  und  nachdrück- 
licher Aufforderung  abgedruckt  wurde,  und  zwar  unter  Beifügung  einer 
Erläuterung  des  Inhaltes,  dass  die  Berichtigung  nicht  der  „Presse", 
sondern  dem  Berichte  der  Commission  gelte.  Die  letztere  schwieg; 
natttriieh  wurde  durch  diese  kleine  Zeitungsaffaire  die  Stimmung  an 
keiner  Stelle  verbessert 

Auch  eine  lebhaftere  Geschäftsführung  der  Commission  trat  nicht 
ein.  Aus  ^  dem  Yoijahre  war  noch  die  ordnungsmässige  Nachprüfung 
im  Efickstande.  Weiser  klagte,  dass  er  kein  Commissionsmitglied  zur 
Assistenz  aufzubringen  vermöge.  Endlich  wurde  das  Geschäft  auf 
den  23.  November  angesetzt.  Aber  von  der  Coniniission  erscliien 
Weiser  allein,  obwol  alle  scliriftlich  eingeladen  waren.  Wir  hatten 
selion  einen  permanenten  Strike.  Das  Statut  bestinuiite  in  87: 
„Bei  der  Xaclipi'üfung  niuss  die  Aufsicht sconimission  durch  wenigstens 
zwei  ihrer  Mitglieder  vertreten  sein."  Icli  maclite  den  Commissions- 
obmann  auf  diese  Bestimmung  aufmei'ksam.  £r  meinte  aber,  da  nun 


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—   368  — 


i'iiiiiiiil  niemand  komme,  miU»se  das  Gescliält  eudlicli  erledigt  werden; 
und  «0  n^escliali  es. 

Antangs  December  wurde  der  inzwischeu  gedruckte  Cominissions- 
bericht  über  das  Voijahr  vom  ßathhause  aus  versendet  Nach  etlichen 
Tagen  aber  wurden  die  ausgegebenen  Exemplare  wieder  eingefordert, 
weü,  wie  aus  den  Äusserungen  der  Diener  hervorging,  der  Bericht 
noch  nicht  approbirt  war.  Am  10.  December  kam  derselbe  im  Plenum 
des  Gtemeinderathes  zur  Verhandlung.  Das  Elaborat  wurde  heftig  an- 
gegriffen und  kaum  vertheidigt  Weiser,  ohnehin  durch  Alter  (er 
zählte  siebzig  Jahre),  bittere  ErfiEÜirungen  und  Kränklichkeit  gebeugt^ 
war  nun  ein  Hauptmann  ohne  Compagnie.  Die  Afaire  schloss  damit, 
dass  auf  den  Titel  des  Commissionsberichtes  folgende  Benierkuujr 
di'uckt  wurde:  „t'ber  PlenarbeschliLss;  vom  10.  December  1880  nur  bis 
Seite  10  alinea  2  zur  Kenntnis  genommen."  Mit  dieser  (  lausel  ver- 
sehen, in  allem  t'briiren  aber  unverändert  und  unverkürzt,  gelan^^te 
der  Bericht  anfangs  .Januar  1881  wiedei'  ins  Publicum.  Hemerkung'en 
über  diese  Procediu'  halte  ich  für  unnöthig.  Die  nicht  approbirteii 
fünf  Seiten  des  Berichtes  entlialten  unter  anderem  auch  alle  früher 
(s.  Xr.  V)  mitgetlieilten  Stellen  von  den  Worten  an:  „Eline  nicht  im- 
bedeutende  Menge.**  Selbstverständlich  hatte  mit  dem  angeführten 
Beschlüsse  der  Gemeinderath  auch  dem  Lehrkörper  jene  Satisfaction 
verweigert,  welche  Weiser  —  ob  sonst  noch  jemand,  weiss  ich  nicht  — 
durch  den  Commissionsbericht  erzielen  wollte. 

Nicht  lange  nach  diesem  Vorgänge  scheint  die  Neuwahl  der  Gom- 
mission  stattgefunden  zu  haben.  Es  muss  dabei  recht  still  oder,  wie 
der  offidelle  Ausdruck  lautet,  „vertraulich**  zugegangen  sein,  da  ich 
von  diesem  Wahlacte  nichts  hörte  und  von  der  Existenz  der  neuen 
Commission  erst  im  Febi-uar  1881  Kunde  erhielt.  Diese  neue  Commis- 
sion  bestand  aus  den  Mitgliedern  der  alten,  'l'rotz  allem  Vorausge- 
ganixeiHii  waren  diese  wieder  gewählt  worden,  und  hatten  sie  die 
Wieilerwahl  angenommen.  Auch  hierüber  bedarf  es  keiner  Bemerkung. 
Nur  Dr.  Kompert  hatte  nicht  wieder  gewählt  werden  können,  da  er 
aus  Gesundheitsrücksichten  aus  dem  Gemeinderath  ausgetreten  war. 
Seitdem  soll  er  sich  w^oler  betinden.  An  seine  Stelle  wählte  der  Ge- 
meinderath Herrn  Josef  Gugier,  der  schon  früher  in  Sachen  des 
Pädagogiums  gewirkt  und  neuerdings  durch  die  Bekämpfung  des  Com- 
missionsberichtes sich  hervorgethan  hatte.  Herr  Gugier  war  f&r  diesen 
Posten  recht  brauchbar;  er  ist  ein  intimer  Freund  und  spedeller  Col- 
lege des  Herrn  Landsteiner  und  wie  dieser  sehr  strebsam;  seine 
eifrige  Geschäftigkeit  machte  es  möglich,  dass  der  mit  Ämtern  flber- 


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—   369  — 

häufte  Heil-  Landsteiner  sich  schonen  konnte;  dieser  trat  aun  mehr 
in  den  Hintergr^md  und  beschränkte  sich  auf  Ertheilung*  weiser  Rath- 
schlÄge  und  stilles  Wirken.  Auch  gewann  die  Commission  durcli  Herrn 
Gngier'a  Beitritt  an  Verständnisinnig^keit:  die  Herren  Landsteiner» 
Gngler  nnd  Kfihn  harmonirten  vortrefflich,  Weiser  war  krank,  Hoffer 
imd  Bisa  sind  harmlose  Seelen,  die  niemandes  Kreise  stören. 

Noch  im  Decemher  1880  machte  ich  eine  Erfahrong,  welche  nicht 
ohne  Einfluss  anf  meine  späteren  Entschliessnngen  geblieben  ist  Ich 
hatte,  in  Gegenwart  eines  Dritten,  ein  Gespräch  mit  einem  wichtigen 
{Staatsbeamten.  Derselbe  änsserte  sich  unter  anderem  höchst  ungünstig 
über  die  jiingere  Lehrerschaft  ....  Ich  bemerkte,  (hiss  ich  von  den 
namhaft  gemachten  und  beklafften  Erscheinungen  sehr  wenig  gehört, 
in  den  mir  bekannten  Kreisen  aber  gar  niclits  wahrgenommen  habe. 
Er  meinte  jedoch,  seine  Schihlernng  beruhe  auf  unbestreitbaren  Tliat- 
sachen  uud  gab  mir  dann  selir  deutlich  zu  verstellen,  (hiss  die  Scliuld 
an  den  berührten  traurigen  Erscheinungen  zu  einem  guten  Tlieile  auf 
mich  falle.  Bestimmt  wurde  mir  gesagt,  dass  meine  litei'ariäche  Thä- 
tigkeit  den  Glaaben  nnd  damit  die  Sittlichkeit  der  Lehrer  untergrabe; 
Terstflndlich  angespielt  wurde, in  gleichem  Sinne  auf  meine  amtliche 
Wiiksamkdt  Es  ist  selbstverständlich,  dass  ich  mich  hiergegen  mit 
Entschiedenheit  verwahrte.  Eine  genauere  Wiedergabe  des  ganzen 
Gespräches  moss  ich  an  dieser  SteUe  unterlassen ....  Aber  einige 
Bemerkungen  durften  noch  am  Platze  sein. 

Was  meine  literarische  Thätigkeit  betrifft,  so  mögen  meine  Leser 
beurtheilen,  in  wie  fem  dieselbe  den  Glanben  nnd  die  Sittlichkeit  des 
Lehrerstandes  untergraben  habe  oder  untergi*abeu  könne.  Bezüglich 
memer  amtlichen  Wirksamkeit  w  ur  mir  von  Seiten  unterrichteter  Per- 
sonen, insbesondere  der  Aufsichtscommission  des  Pädagogiums,  niemals 
eine  Andeutung  in  dem  bczeiclinnten  Sinne  gemacht  worden.  Und  was 
die  Lebensfühning  derjenigen  Lehrer  und  Lehrerinnen  betrifft,  welche 
ihre  Fortbildung  im  Pädagogium  gefunden,  so  hat  dieselbe  niemals 
schlechte  Früchte  gezeigt.  Ich  besitze  ein  genaues  Verzeichnis  Aller, 
den  Bildungscursus  des  Institutes  durchlaufen  haben,  und  bin 
dem  Wandel  und  den  Schicksalen  derselben  mit  Theilnahme  und  Auf- 
merksamkeit gefolgt  Niemals  habe  ich  etwas  Übles  erüfthren,  vielmehr 
ist  es  notorisch,  dass  aus  dem  P&dagogium  eine  tflchtige,  pflichttreue, 
achtbare  nnd  geachtete  Lehrerschaft  hervorgegangen  ist  Erhebliche 
Disc^linarfiUle  smd  in  der  Anstalt  äusserst  seltmi,  Verletzungen  der 
Bdigion  und  Sittlichkeit,  oder  der  Staatsgesetze  niemals  vorgekommen. 
£s  herrschte  jederzeit  ein  edler  Geist,  ideales  Streben  und  gute  Sitte 


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—   370  — 


in  unserem  Hause.  Und  was  insbesondere  den  Umstand  betrifft,  dass 
in  demselben  Lehrer  und  Lehrerinnen  zu  gemeinsamer  und  gleich- 
mässiger  Fortbildung  vereinigt  waren,  so  hat  derselbe  zwar  gelegent^ 
lieh  eben£ftll9  einem  böswilligren  Geschwätz  zum  Anknüpftm^punkte 

<li«'nen  müssen,  in  Wirklichkeit  aber  niemals  einen  anstössigen  Vur- 
fall  zur  Folge  gehabt.  Nebenbei  bemerke  ich,  dass  die  Lehrerinnen 
.sowol  an  Talent  wie  an  Charakter  den  Lelirem  ebenbüitig  zui*  Seite 
standen. 

Wie  ist  es  nun  zu  erklären,  dass  in  Kreisen,  denen  das  i*äda<!;o- 
giura  fem  lag,  eine  höchst  ungünstige  Meinung  über  dasselbe  und  spe- 
dell  über  meine  Wirksamkeit  entstehen  konnte?  —  Wenn  Männer,  an 
deren  Intelligenz  und  (terechtigkeitsgefühl  nicht  gezweifelt  werden 
kann  (und  um  solche  handelte  es  sich),  über  eine  Anstalt  und  deren 
Leiter  den  Stab  brechen,  so  kann  dies  meines  firachtens  nur  geschehen 
auf  Grund  von  Aussagen  solcher  Personen,  welche  der  Anstalt  nahe 
stehen  und  gestützt  auf  diese  ihre  Stellung  die  Meinung  zu  erwecken 
vermögen,  dass  ihre  Angaben  auf  Wahrheit  beruhen  .... 

Doch'  genug.  Das  Mass  des  Erträglichen  war  überschritten.  Die 
Oommission  rührte  sich  nicht.  Schon  längst  hatte  sie  eine  auffallende 
Fahrlässigkeit  an  den  Tag  gelegt.  Seit  Beginn  des  13.  Schuljahres 
gab  sie  kein  Lebenszeichen.  Sitzungen  scheint  sie  nicht  gelialteii  zu 
haben;  Avenigstens  habe  ich  Aveder  von  einer  l^inladung  noch  von  einer 
Beschlussfassung  etwas  gesellen  oder  geliört.  Alle  am  Anfanire  des 
Seiiuljalii-es  eingereichten  (lescliättssiücke  blieben  trotz  ihrer  Dring- 
lichkeit unerledigt.  Der  Stundeni»lan  erhielt  niclit  die  erforderliche 
(ienehmigung,  über  die  festzustellende  Zahl  der  Zöglinge,  über  das 
Verzeichnis  und  den  Fre(iuentationsi)lan  der  Hörer  kam  keine  Äusse- 
rung, nachträgliche  Aufnahmsgesuche  blieben  unbeantwortet,  ebenso 
eine  Eingabe  der  Zöglinge  bezüglich  der  Turnübungen.  Kurz,  ein 
wichtiges  Kad  unserer  Anstalt  stand  still,  wenigstens  insofern  es  sich 
um  dessen  ordungsmässige  Thätigkeit  handelte;  so  verloren  wir  d^ 
Boden  des  Statutes,  und  alle  Verhältnisse  wurden  unsicher.  Überdies 
war,  wie  ich  genau  wusste,  in  sehr  wichtigen  Kreisen  eine  hOchst 
bedenkliche  Stimmung  gegen  das  Pädagogium  erzeugt  worden.  Dazu 
kam,  dass  meine  Gesundheitsverhältnisse  sich  von  Tag  zu  Tag  an- 
günstiger gestalteten  und  allmählich  jenen  bedrohlichen  Zustand  annah- 
men, auf  ih-n  schon  einmal  eine  Icbensgetalii  licht-  Kiaukht^it  gefolgt 
^var.  woneben  noch  ein  Itesonderes,  sehr  schmerzhaftes  Leiden  innner 
stärker  aufti-at.  und  eines  erquickenden  Scldafes  liatte  ich  mich  selten 
zu  erfreuen.    Auf  einen  Urlaub  konnte  ich,  aus  Gründen,  die  ick 


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—   371  — 


später  aiitiiliivii  werde,  in  keiiieiu  Falle  Indreii.  Es  iiiusste  als(t  ein 
energischer  Schritt  ireschehen,  um  in  tlie  dunkle  und  versuniptte  Situation 
Licht  und  Bewegung  zu  bringen.  Sachliche  wie  pei*sönliche  Verhält- 
nisse, die  in  diesem  Falle  ohnehin  nicht  getrennt  werden  konnten, 
forderten  mit  gleichem  Naclidruck  eine  Entscheidung.  Und  so  sen- 
dete ich  folgende  zwei  Schreiben  auf  das  ßathhaus: 

1.  AnSe.  HochwolgeboreaHermDr.BitterTonNewaldfBürgermeister 
der  Stadt  Wien.  Da  mir  im  gegenwärtigen  Schoyahre,  dessen  erste  Hälfte 
demnächst  zn  Ende  geH  Ton  der  Existenz  einer  AnMchtsconunission 
des  Pädagoginms  noch  nichts  bekannt  geworden  ist,  sehe  ich  mich 
genöthigt,  an  Ew.Hochwolgeboren  als  Chef  der  Wiener  Oemeinderer- 
waUnng  die  ergebene  Bitte  zn  richten:  Ew.  Hochwolgeboren  wollen 
die  Gewogenheit  haben,  das  anliegende  Schreiben  der  fraglichen  Com- 
mission  zuzuweisen,  oder  eventuell  zu  weiterer  Verfügung  Selbst  zur 
Kenntnis  zn  nehmen.  Mit  dem  Ausdruck  besonderer  Hochachtung 
Ew.  H(»cliW(ilgeboren  er^^el)enpj'         Wien,  1.  Feliruar  ISSl. 

2.  An  die  löbliche  Autsichtsconiniission  des  Wiener  Lehrer-Pädago- 
giums. Meine  unbefriedigenden  (.Tesundheitsverhältnisse ,  welche  mir 
insbe^iondere  möglichste  Einschränkung  des  Sprechens  und  Vermeidung 
von  Erkältungen  dui  ch  starken  Temperaturwechsel  gebieten,  veranlassen 
mich  zn  meinem  Bedauern,  meine  Lehrthätigkeit  am  Pädagogium,  die 
jederzat  eine  Freiwillige  war,  bis  auf  weiteres  einzostellen  und  mich 
auf  meinen  vertragsmässigen  Wirknngskreis  als  Direetor  zn  beschrän- 
ken. Indem  ich  dies  der  löblichen  Oommission  hiermit  anzeige,  muss 
ich  derselben  anheimstdlen,  Aber  das  bisher  von  mir  yertretene  Lehr- 
fi^  vom  zweiten  Semester  des  laufenden  Schuljahres  an  anderweit 
zn  disponiren.  Hodiachtungsoll  etc.  Wien,  1.  Februar  1881. 


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Streitoätoe  cor  Gymnasialfrage. 


haben  nnllliigst  in  nnseran  Idteratorblatte  (Jahtg.  m,  Heft  12) 
eine  anonyme  Broschäre,  betitelt  „Betrachtungen  fiber  nneer  daatiachee  Schul- 

wt  st'ir',  ang-ezoi^.  welche  eine  so  eniste  nnd  entschiedene  Kritik  gegen  die  hea- 
tigfe  griechisch-lateinischi'  d'ynmasialbildung  enthält,  dass  wir  nicht  unterlassen 
können,  anseren  T^oscm  etliche  Hauptsätze  des  Wrfassers  zur  Prüfung  vonra- 
legen.  AVir  ver.^eheii  dieselhe.  beimts  Erleichterung  einer  etwa  au  siezukuitp- 
lenden  Kritik,  mit  fortlaufeiuleii  Xmiiniern, 

1.  „Es  ist  traurig  zu  sehen,  wie  auf  die  Kinder,  welche  von  gramnia- 
tiechen  Begriffen  noch  keine  blasse  Abnnng  haben,  mit  lateinischen  Formen 
hineingewirtsehaftety  nnd  schliesslich  noch  die  bildende  Erafti  die  der  Gram- 
matik als  solcher  eigen  ist»  der  lateinischen  Sprache  nachgerflUimt  idrd. 
Hundertmal  gesünder  und  für  die  Denkentwickelnng  erspriesslicher  ist  ein 
guter  deutscher  Unterricht,  der  die  einfachsten  grammatischen  Begriffe  an  der 
Muttersprache  nachweist." 

2.  ..Der  Götzendienst,  der  mit  der  lateinischen  Grammatik  getrieben  \\  ird. 
entstammt  einer  Zeit,  in  welcher  von  einer  andern  Grammatik  als  der  lateini- 
schen keine  Rede  war  und  an  eine  vergleichende  Giammatik  nicht  gedacht 

wurde  und  erst  in  neuerer  Zeit  hat  man  eingesehen,  dass  die  neueren 

SiKrachen  eben  so  gut  wie  die  alten  wissenschaftlich  behandelt  werden  ktenen. 
Es  liegt  daher  auf  der  Hand,  daas,  wenn  der  grammatischen  Schulung 
au  Liebe  neben  der  ^futtei-sprache  noch  eine  andere  gelehrt  werden  soll,  eine 
solche  zu  wi&hlen  i.st.  welche  sprechen  und  lesen  zu  können  anch  abgesehen  Ton 
ihrem  grammatischen  Nutzen  heutzutage  förderlieh  ist/' 

H.  ..Dass  eine  zeitrauVtende  l'bung  im  lateinischen  Aufsätze  unserer  Zeil 
gwadezu  ins  Gesicht  schlägt,  braucht  nicht  erst  von  mir  behauptet  zu  werden. 
Diese  Übung  wird  sich  von  selbst  verlieren,  denn  nur  noch  wenige  Lehrer 
gibt  es,  die  nach  alter  Art  lateinisch  schreiben  und  spredien  können  ...  Die 
meisten  jfingeren  Lehrer  ftthlen  nicht  mehr,  ob  man  diese  oder  jene  Wendung 
gebrauchen  kann  und  darf,  sondern  sie  schlagen  im  WSrterbuche  nach,  ob  sich 
die  betreffende  W^dnng  angefülirt  findet:  darnach  bekommt  derSchtler  einen 
Strich  oder  keinen.  Eine  solche  alberne  Zusammenstellung  anders  woher  ge- 
holter Phrasen  —  officiell  lateinischer  Aufsatz  genannt  —  führt  natürlich  zur 
fnUilichsten  G«>dankenlnsigkeit.  Das  ( Gepräge  einer  edlen  Bildung,  d.  h.  die 
Fähigkeit  sich  eigeniutig  auszudrücken,  kann  unter  solchen  Wortspielereien 
nicht  aulkomnieii.  Deshalb  ist  auch  oft  an  jenen  Lateinlehrem  ebensowenija: 
Eigenartiges,  als  an  iliren  lateinischen  Exercitien:  wie  diese  Exercitieu,  wenn 
man  sie  iibersetzt,  gewöhnlich  keinen  Sinn  geben,  so  kommt  man  auch  bei 


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Jenen  Schulmeistern,  wenn  man  ihre  lano:on  Reden  sich  znrerlit  l^g^t.  auf  kei- 
nen neuen  —  nicht  einmal  überhaupt  auf  einen  wirklichen  Ucdankeu.  Auch 
auf  der  Universitilt  ist  es  mit  dem  so^'^enannten  Lateinsprecheu  in  den  philolo- 
gischeu  Seminarien  barer  Humbug.  Einige  abgebrauchte  l'hrascu  werden 
immer  hin  und  her  gewechselt,  and  wenn  Dinge  znr  Besprechung  kommen, 
wo  eine  tiefer  gehende  ErOrterong  nOthIg  wird,  taucht  sicluBrlieh  bei  Lehrern 
und  Sehfilem  daa  «^geliebte  Deutsch*'  anf." 

4.  „Die  lateinische  Sprache  ist  auch  keine  internationale  Sprache  der  Ge- 
kfarten  mehr.  Für  jeden  Gelehrten,  der  den  Fortschritten  seiner  Wissenschaft 
in  anderen  Lllndem  zu  fnl<*-en  und  zugleich  seinen  eig-enen  Arbeiten  im  Aus- 
lande Beachtung  zu  veisch;iftVii  wünscht,  ist  es  viel  nützlicher,  des  Franzö- 
sischen und  Englischen  H»'ir  zu  w.  rden,  als  des  Lateinischen,  und  es  dürfte 
auch  in  der  That  den  meisteu  heutigen  Gelehrten  —  einige  Philologen  aus- 
genommen —  schwer  fallen,  die  Resnltate  ihrer  wiasenechaftlichen  Arbeit  in 
Iddliehem  Latein  dansostellen.'' 

5.  „Die  NatnrwiBsensehaftea  werden  heutzutage  erfolgreich  von  Mftnnem 
getrieben,  denen  man  keinen  schweren  lateinischen  Sclmbeaok  vorwerfen  kann, 
Tind  es  ist  anch  für  den  Veratilndigen  nicht  ersichtlich,  was  die  lateinischen 
Vocabeln  mit  der  Secirnng  eines  todten  oder  lebendigen  Hundes,  mit  der  Ana- 
lyse chemischer  Stoffe,  mit  dt  i-  Zellentheorie  oder  mit  dem  Gesetz  von  der 
Erhaltung  der  Kraft  denn  eigentlidi  zu  thun  haben.  Es  ist  grausam,  von 
einem  Cliemiker,  der  sein  Fach  versteht,  zu  verlangen,  dass  er  im  Ductor- 
examen  ein  Capitel  Cäsar  übersetzen  kOnne  ....  Wie  viel  >^ichtiger  wäre 
es,  den  Titel  eines  Doctors  der  Philosophie  nur  an  solche  zn  verldhen,  die  eine 
gediegene  allgemeine  Büdnng  genossen  haben,  und  bei  denen  daher  wahre  Bil- 
dung vorauszusetzen  ist,  d.  h.  eine  das  Leben  durchdringende  Liebe  zur  Weis- 
heit Statt  dessen  laufen  Doctoren  der  Philosophie  herum,  die  von  d^Uizelle 
und  dem  rrschleini.  dem  Batliybius  und  dem  Gesetze  der  Anpassung  gar 
viel  zn  sagen  haben,  für  die  alM-r  eine  Menge  Fragen  nicht  vorhanden  sind, 
denen  das  Nachsinnen  aller  (Gebildeten  aller  Zeiten  gewidmet  war  und  ist.*' 

6.  „Für  die  Mediciner  wird  auch  uuch  das  Lateinische  für  noth wendig 
^erachtet,  obgleich  fast  keiner  bei  der  Lectttre  römischer  Ärzte  eitappt  werden 
dürfte,  und  was  die  lateinischen  Namen  derMedlcin  betrifft,  so  kann  sich  leicht 
Jeder  Uedidner  durch  ein  Fachw<$rtert»nch  über  dieselben  unterrichten,  ja  er 
muhs  es,  auch  in  dem  Falle,  dass  er  den  ganzen  Cicero  stndirt  h&tte,  da  die 
medicinischen  Namen  theils  seltene  Wörter  sind,  thells  aas  späterer  Zeit  stam- 
men oder  gebildet  sind  ....  fHtrigens  hat  man  neuerdings  nachgewiesen, 
dass  sehr  viele  medicinische  Ausdrücke  ans  dem  Arabischen  stammen ;  da 
müRsten  ja  nach  der  Ansicht  gewisser  Leute  die  Mediciner  auch  arabisch 
trtibeu." 

7.  „Wenn  der  angehende  Jurist  auch  noch  so  bewandert  in  Cicero  undTa- 
dtus  yitin,  so  wilrde  er  das  corpus  juris  doch  schwerer  verstehen,  als  wenn 
er  nach  Erlenrang  der  em&chen  lateinischen  Gh-ammatik  und,  nachdem  er  von 

einem  Juristen  in  die  römische  Eechtssprache  eingeführt  worden,  mit  einem 
Specialwörterbuch  an  das  corpus  Juris  geht.  Wie  aber  die  Sachen  jetzt  stehen, 
hat  der  Jurist  am  Ende  seiner  Studienzeit  sein  Cicero-Latein  verschwitzt,  und 

das  Juristen-Latein  nicht  gelernt.'' 

8.  „W'enn  man  meint,  dass  das  Lateinische  des  \'erstäudnisses  derFreiud- 

P^T^Agoginnu  4.  Jahrg.   lieft  VI.  25 


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—   374  — 

wiater  wegen  getrieben  werden  sollte,  so  ist  einmal  zu  ervsi(l»'ni,  lias.s  danu 
noch  gar  viele  Sprachen  in  der  Schule  getrieben  werden  müsfiteu,  ans  dtiuu 
W&rter  in  unsere  Sprache  herttbeifpekommen  Bind,  und  zweitens  mnss  es  ab 
eine  verkehrte  Meinung  hingestellt  werden,  wenn  man  glaubt,  dass  der  GeUI* 
dete,  nm  ein  Fremdwort  gebranchen  zn  dürfen,  sich  des  ürspnings  desselben 
bewusst  sein  niiisse," 

9.  .,Ks  ist  t'iiio  ebenso  liochmUtliige  als  unwaliri*  Brlianptime-.  dass  die 
höheren  Bildiiiie-sanstalten  berufen  seien,  uns  die  Cnltur  alter  und  fremder  Völ- 
ker aus  erster  Hand  zu  g:<'lien,  das«  im  Ue^ensatz  zu  Bürger-  und  Ke;il- 
schulen  die  im  Gymnasium  erlangte  Bildiuig  eben  deswegen  allein  eine  walu-e 
Bildung  sei,  weil  sie  ans  den  Quellen  schöpfe.  Wie  viel  Jahre  müsst« 
die  Jugend  auf  den  Schulbänken  sitzen,  wenn  man  ihr  das,  was  sie  ab  gebil- 
dete Jugend  wissen  muss,  aus  erster  Hand  geben  wollte!  Keine  Sgyptisehe 
Geschichte  ohne  Hieroglyphen,  keine  persische  ohne  Keilschrift  Keine  grie- 
chische und  römische  Geschichte  ohne  genaues  Lesen  aller  griechischen  nnd 
römischen  Histoi-ikei-.  Welches  mühsame  Studium  wäre  erforderlich,  um  einen 
einfachen  Leitfaden  der  deutschen  Literatur  aus  den  Quellen  zu  belefr»  iil- 

10.  „Was  soll  unserer  Jugend  die  Hofpoesie  ans  den  Zeiten  des  Kais^is 
Augustus?  Wie  kann  ein  Jüngling,  der  kaum  im  stände  ist,  die  dcutwhen 
Oden  eines  Klopstock  zu  verstehen,  die  halb  blasirteu,  halb  sentimentalen 
Verse  jener  römischen  Poeten  nachempfinden,  welche  in  dem  verderbten  Hof- 
und  StadÜeben  die  Sehnsucht  nach  Natur  und  Einfolt  fiberkommt?  ....  Über 
Horaz  bin  ich  der  Meinung  JeanPaul's  und  Lichtenberg's,  dass  ihn  die  Schaler 
nicht  verstehen  . . .  Xenophon's  prosaische  Geschichte  Icann  doch  gewiss  eben 
so  gut,  wenn  nicht  besser,  in  deutscher  Überseteung  genossen  werden,  nnd  die 
eine  demosthenische  Kede,  die  etwa  in  Oberprima  exponirt  wird.  «ribt.  weuu 
sie  mit  vieler  Mühe  überwunden  ist.  viel  weniü:er  eineji  He^i  it^"  von  der  Bede- 
kraft  des  Demosthenes,  als  wenn  der  Lehier  nach  einer  eingehenden  Schilde- 
rung von  des  Demosthenes  Leben  und  Wirken  einige  Reden  in  passender 
Übmetzung  lesen,  disponiren  und  von  einigen  Schfilem  vortragen  iSsst .... 
Wenn  man  immer  bei  der  Vertheidigung  der  Gymnasialbildung  die  ,4desle 
Lebensauf&ssung^  betont,  welche  durch  die  Lecttire  der  alten  Qassiker  ge- 
wonnen werde,  so  ist  entgegenzuhalten,  dass  gerade  dj^enigen  Schriftsteller, 
durcdi  welche  entweder  in  philosophischer  Darstellung,  oder  in  Schildernng: 
grossartiger  Charaktere  auf  Gemüth  und  Cliarakter  veredelnd  eingewirkt  wer- 
den könnte,  von  der  SchuUectüre  entweder  gar  nicht,  oder  nur  zom  kleinsten 
Theil  berücksichtigt  werden." 


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Volksbildnngsmittel. 
Öffentliche  Vorträge.  —  Yolkskalender. —  Yolksbibliotheken, 

Vou  I  'i'iuiz  ScMinkert  -  Wien. 

^Sjtum  im  Getriebe  des  öffentUehen  Lebens,  im  Brennpniikte  des  geisti* 
gen  Verkehres  steht  der  Bewohner  der  Stadt*,  ihm  sind  die  reichsten  Bfldnngs- 
itStten  in  mradtteUiarer  Nfthe  erOffiiet,  alle  denkbaren  BUdnngsmittel  sind  ihm 

an  die  Hand  gegeben.  Der  weitans  grösste  Theil  unserer  Staatsbfirg^er,  die 
Provinzbe\vohner,  die  Angehörigen  des  Bauernstandes,  sind  hingegen  nicht  von 
dem  g'leicheu  (tliu  ke  Iteirünstigt.  In  entlegenen  Orten,  wo  nur  l»ei  spiessbUr- 
i:'rli(hen  Stamintiscliziisanimenkünften  die  allernächsten  Angelegenheiten  in 
kleinlichster  Weise  besprochen  und  bekrittelt  werden,  verbringen  sie  ihre  Tage 
ohne  die  nöthige  geistige  Anregung;  auf  einschichtigen  Gehöften,  in  Gegenden, 
wo  die  Welt  mit  Bietern  verschlagen  ist,  oder  gar  hinter  dieser  Holzwand, 
„auf  der  enterbeün  Seiten,  wo  ma  d'Nttgel  nmniat,^  wie  sieh  mir  gegenüber 
dn  Gebirgsbaner  ansdrflckte,  leben  sie  abgeschieden  von  jedem  Verkehr.  Und 
doch  Ist  nnser  deutsches  Volk  —  namentlich  die  Bewohnerschaft  der  Berg- 
fegenden—  mit  den  besten  Anlagen  des  Herzens  und  des  Geistes  ausgestattet. 
Welch'  kostbare  Scliätze  des  Gemüthes  sind  nicht  in  den  Ausserunfrcn  der 
Volkspoesie  aufgespeichert!  VAn  genauer  Kenner  des  Volkscharakters,  der 
steirische  Dichter  P.  K.  Rosegger,  sagt  in  einer  kleinen  Mahnrede  zu  seinen 
I^andsleaten :  „Ös  seids  gscheita,  wia  immer  aGstudirter  in  daStodt,  oba  findn 
thnali  engan  Vastond  nit  —  valegt  hobts'n  und  hiaat  topts  nmer  in  Finstan 
nnd  snachts'n  —  aof  d'Lesst  sitat's  eppa  dranf!"  In  einem  Gedichte  „Grfiass 
Gott**  erzählt  er:  „A  Gmttat  hobn  deLent  as  wia  d'VBgerl  in  Lüftn,  und  anf- 
richti  gSl^,  a  Worms  HerzMl  hobns  a.''  Sorge  zu  tragen ,  dass  diese  Eigen- 
schatten zum  Heile  des  Volkes  verwertet  werden,  dass  ein  braver  und  tüchtiger 
Menschenschlag  nicht  veikümniere  in  geistiger  Nacht,  —  das  ist  die  unabweis- 
bare Pflicht  der  Intelligenz.  ^lan  ist  .stets  bereit,  die  Kraft  des  Volkes 
auszunützen:  es  ist  mit  Abgaben  und  Lasten  überbürdet;  es  nuiss  zur  Erhal- 
tung des  Wehrstandes  den  grössten  Theil  beitragen;  aus  ihm  regenerii-t  sich, 
was  im  geistigen  Bingen  an  Kraft  verloren  geht  Und  was  macht  die  Gegen- 
leistang  ans?  Mit  Worten  war  man  immerdar  sehr  freigebig;  aber  man  hat 
es  nicht  einmal  sonderlieh  der  Htthe  wert  erachtet,  so  wie  es  die  veränderten 
VerhiltniSBe  erhdsdien,  dem  Volke  die  einfachsten  Kunstgriffe  zu  lehren  oder 
die  noth wendigen  Fingerzeige  zu  geben,  damit  der  Wii-t Schafts-  iind  Gewerbe- 
betrieb einen  höheren  Ertrag  abwerfe.  Allein  ir^'setzr  auch,  es  wären  in  dieser 
Beziehung  die  nütbigeu  Massualuueu  getruüeu  worden,  so  wäie  damit  noch  nicht 

25* 


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—   376  — 


alles,  noch  laiipfc  nicht  alles  geschehen.  Es  niuss  tiefer  gefi;:ritten  und  die  all- 
gemeine Bildung  gehoben  werden,  damit  der  Möglichkeit  Kaum  gegeben  sei. 
dass  zu  jeder  Zeit,  auch  wenn  die  gängelnde  Hand  fehlt,  vuui  „gemeinen''  Maüoe 
die  geeignetsten  Mittel  gewflUt  und  die  gfinstigen  Faetorea  in  yoUatfindigstOD 
Hasse  ansgenfitst  werden,  nm  seine  Lage  m  verbesseni  tind  sich  selbst  n 
Terrollkommnen.  Haben  wir  denn  nicht  dieNenschnle,  die  achtjährige  Schal- 
pflicht?  wird  man  verwundert  fragen.  Abgesehen  davon,  dass  mandie  Sebnle 
in  unseren  Gebirgsgegenden  den  Namen  ..Neuschule''  nur  insofern  einigennassen 
in  Anspruch  nehmen  darf,  als  sie  etwa  in  einem  renovirten  (iebHude  unter- 
gebracht ist.  besteht  thatsächlich  die  achtjährige  Schulpflicht  nui-  in  den  aller- 
wenigsten Gemeinden;  man  darf  sich  nicht  durch  da.s  Geschrei  derjenigen  tüu- 
seilen  lassen,  welche  in  verachtungswürdigem  Egoismus  oder  in  erbarmungir 
würdiger  BescfarSnhtheit  gegen  jede  Volksbildung  eifern.  Und  selbst  wens 
auch  hierin  nichts  mehr  zu  wünsehenfibrigbliebe,  w&retrotademdeniBildiuigs- 
bedOrfiiisBe  des  Volkes  noch  nicht  vollkommen  Genüge  gethan.  Dörth  dBeo 
ach^ährigen  Schnlbesnch  kann  nicht  all  das  erreicht  werden,  was  man  zn  tat- 
dem  berechtigt  ist:  sehr  schlau,  aber  auch  sehr  sophistiscli  ist  es  daher,  wenn 
nnsere  Gegner  auf  mangelhafte  Erfolge  der  Neuschule  hinweisen,  nm  daraas 
abzuleiten,  dass  sie  —  ganz  unnöthig  .sei.  Nach  zurückgelegtem  \ierzehnten 
Lebensjahre  tritt  der  junge  Mensch  in  Verhältnisse,  welche  einen  erzieheuden 
Eiuflnss  ei-st  reeht  wünschenswert  macheu.  Über  verschiedene  Fragen  wird  er 
sich  in  diesem  Alter  erst  klar;  sittlichen,  socialen,  wirtschaftlichen  Belehrungen 
yermag  er  erst  jetzt  das  richtige  VerstSndnis  entgegenzubringen  nnd  dieselben 
werden  nnnmehr  anch  am  erfolgreichsten  angebracht  Was  geschieht  aber  in 
dieser  wichtigen  Lebensperiode,  am  dem  jungen  Landmann  —  gleichviel  ob  er 
Bauer  oder  Marktler  ist  —  geistige  Anregung  zu  Meten,  um  einen  erhebenden, 
iordernden  Einfluss  anf  die  Bildung  seines  Charakters  zunehmen'?  Einzig  und 
allein  von  der  Kanzel  hei'ab  hört  er  belehrende  Woi-te.  Ich  bin  sehr  weit  d.i- 
von  entfernt,  den  Wert  und  die  Bedeutung  des  religiösen  Zuspruches  leugnen 
oder  auch  nur  schmälern  zu  wollen;  aber  nicht  immer  wird  das  Wort  Gottee 
in  würdiger  Form  verkfindigt,  nicht  immer  erfüllt  es  seinen  veredelnden,  e^ 
hebenden  Zweck.  Gewöhnlich  wird  mit  zu  grosser  Beharrlichkeit  und  Aus- 
schliesslichkeit anf  das  Jenseits  hingewiesen,  faidessen  wir  Menschen  braochen, 
die  anf  die  W^elt  taugen;  man  belehrt  die  GliUibigen  nur  allzagem  darüber, 
wie  es  im  Himmel  aussieht  und  wie  es  in  der  Hölle  zugeht,  dabei  vergessend  — 
vielleicht  absichtlich  — ,  dass  es  den  JiCiiten  mitunter  doch  auch  zu  wissen 
noth  thut,  wie  sie  sich  hier  auf  JCrden  zurecht  tiuden  können,  nnd  wohin  die 
Wege  tühren,  die  sich  auf  derselben  ki'euzen.  Ich  brauche  nur  an  die  Missions- 
predigten zu  erinnern,  durch  welche  man  unser  Volk  stärken  will  im  Guten, 
aber  statt  dessen  die  eddsten  religiösen  Begriffe  verdirbt  and  entstellt»*)  In 
gehobener  Stimmung  tritt  der  Bauer  in  tUe  Kirche.  Hier  ist  der  Ort»  wo  sdo 


*)  Über  die  Wirkungen  derartiger  geistlicher  EmahnuDgen  belehrt  em  Zeitvng»* 

bericht  vom  30.  Ocrnber  1881  auch  das  grössere  Publicuni .  dem  »ilclie  DinL'e 
wöhuUch  unbekannt  bleiben.  In  diesem  Berichte  wird  nämlich  mitgetheilt ,  daae  ia 
einer  Pfane  bei  Knittelfeld  in  Stefermark,  wo  eine  „Misdon''  abhalten  wnrde. 
fünf  Fälle  von  religiösem  Wahnsinne  vorgekommen  sind.  Gar  nichts  Foge- 
M'öhnliciies!  Ich  k5onte  da  noch  allerlei  Vorkommnisse  ans  meinem  EriahrangdEreiie 
hinzufügen. 


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—   377  — 


Denken  ausruht  von  den  Sorgen  nnis  tägliche  Brot;  hier  ist  der  Ort.  wo  sich 
sein  Geist  emporschwingt  über  die  Alltiljrliolikeit  mit  ilirem  selbstsüchtigt'n, 
materiellen  Hasten  und  Treiben.  Der  Laim  der  Arbeit  ßcliweigl;  ernste,  wür- 
dige Mdodiea  ransdieii  an  Mbi  Ohr;  der  BUdc  kann  nidit  liinaimfliiweUiBii  in 
die  Uane  Ferne,  er  iit  eingeengt  von  mfldemLiehtgUuuB  nnd  aelilichtemPnuik. 
AU  du  bewirkt  eine  gewine  Sammhmg;  Dar  lebeturfhihe,  selten  leflectirende 
Naturmensch  fühlt  sich  in  der  Nähe  eines  hohficn  Wesens,  einer  besseren, 
idealeren  Welt:  er  sitzt  still  und  überlegt.  Und  wie  viele  solcher  weihevollen 
Augenblicke  der  Erhebung  and  Empfänglichkeit  verstreichen  nnbenützt  — 
miasbraucht. 

Überall,  wohin  wir  auch  uiuseni  Blick  auf  dt^iii  «n  liirtt-  dt  i  \  olkshildung 
wenden  mögen,  bietet  sich  aus  ein  unbefriedigt  luU  .s  Bild.  Die  Behebung  dieser 
traurigen  Znatinde  ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben;  denn  sonst  dürfen  wir 
nie  anf  eine  Besserung  vnserer  Iftndlichen  VerliUtnisse  lioffen.  DerBsner  kann 
niditehersn  einer  politischen  Selhststftndigkeit  gelangen,  als  hisseine  Kenntnisse 
bereichert  sind  und  sein  UrÜieilsverm5gen  durch  logischen  Unterricht  geschürft 
nnd  gestärkt  worden  ist;  nur  wenn  die  Geisteskraft  gestählt,  ein  edleres  Selbst- 
gefiihl  wachgerufen  worden  ist,  wird  er  sich  aufraffen  können,  um  mit  morschen 
Vonirtheilen,  altersschwachen  Überlit  tViungen  zu  brechtMi.  Es  wilrc  argeTäu- 
M'hung,  wollte  man  sich  bei  dem  gegenwilrtigen  Bildunghistande  des  grössten 
Theiles  der  Landbevölkerung  der  Hoft'nung  hingeben,  dieselbe  werde  durch 
eigenen  Kntsdilnss  dahinkommen,  dass  sie  sich  eine  bessere  Bfldung  aneigne; 
etwa  indem  die  Kinder  Iftager  in  die  Schnle  geschickt  werden  oder  für  eine 
bessere  Forthildnng  der  jnngen  Leute  gesorgt  wird;  indem  Bfteher  gekauft  und 
gelesoi  werden  u.  s.  f.  Der  Bauer  Uesse  seine  Kinder  am  liebsten  so  auf- 
wachsen, wie  die  Weidennithen,  die  er  in  den  Zaun  steckt  und  welche  von 
<Ah»t,  olme  Pflege,  ohne  Schutz,  zu  treiben  und  zu  spriessen  V)eginnf>n.  Es  ist 
auch  gar  nicht  zu  erwarten,  dass  diejenigen,  welche  erst  erzogen  werden  sollen, 
selber  die  ricliri^'-cn  Mittel  und  Wege  wählen,  um  auf  eine  h<»here  Piildungsstufe 
zu  gelangen;  deshalb  ist  auch  auf  Petitionen  von  Landgemeinden  um  Herab- 
setsnng  der  Schidpflicht  n.  s.  w.  —  ganz  abgesehen  yon  der  Art  und  Wdse, 
wie  dieselben  zu  Stande  kommen  —  gar  kein  Wert  an  l^gen.  Wir  müssen 
das  Volk  anfsnchen,  mttssen  ihm  die  geistigen  Güter,  die  wir  durch 
nnser  Denken  und  Forschen  ennufren  haben,  en  t  gegen  tragen.  Aber  wir 
dürfen  nicht  ausschliesslich  auf  die  Verbreitung  von  positiven 
Kenntnissen  unser  Augenmerk  wenden:  auch  auf  die  sorgsame 
Pflege  einer  idealeren  Eichtung  miissen  wir  in  unserni  Streben, 
das  Volk  zu  bilden,  Bedacht  nehmen.  Wenn  die  Seele  die  hemmenden 
Bande  abwirft,  sich  in  eine  reinere  Sphäre  erhebt  und  hier  das  Edle,  Vollkom- 
nene  in  klarster  und  dentUehster  Gtostalt  erschaut,  dann  geht  sie  auf  bi  dem 
Gefühle,  dass  ihr  die  Kraft  innewohne,  das  Hohe,  dem  sie  plOtsIich  so  nahe 
gerückt  ist,  au  eneiehen;  das  bessere  Wollen  regt  sich  fketer  und  müehtiger. 
Der  beengende  Bann  d«  r  Selbstsudit  ist  gebrochen,  allgemeinere,  höhere  Pflich- 
ten treten  mit  zwingender  Gewalt  vor  das  Bewusstsein.  —  Das  ist  jene  er- 
habene Stimmung,  in  der  wir  unsere  edelsten  Entschlüsse  fassen,  die  mit  solcher 
Macht  anf  unser  Seelenleben  wirken,  dass  wii-  uns  der  Ausführung  derselben 
mit  nie  erlahmendem  Kifer  hingeben.  K»  in  Menschenherz  ist  derselben  gänz- 
lich versclilossen,  solange  dessen  Fühlen  nocii  nicht  erstorben  ist  in  der  Öde 


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—  378  — 

eloinkr  W^rkoiiimcniicit.  Audi  die  Herzon  jener  veniiaa:  sie  zu  rinden  und  zn 
erwärmen,  die  fernab  \uni  rpjre  pulsirenden  ^'erkehl•sleben  der  sprossen  Gesell- 
sehaft  iu  armseligen  Gehotten  wohnen.  Die  Erweckung:  und  die  Pflege 
dieser  erhebenden  Kegung,  durch  welche  die  Willenskraft  ge- 
festigt, die  Aufopferungsfähigkeit  f&r  gesteckte  Ziele  gestftrkt 
wird  —  soll  die  Aufgabe  jener  idealeren  Seite  der  Volksblldnag 
sein.  Man  iirt,  wenn  man  nicht  über  die  Beibringnng  positiver,  theoretischer 
Kenntnisse  hinausgeht  nnd  dabei  wähnt,  das  Beste  gethan  za  haben;  es  müssen 
weitere  Zielpunkte  eröftnet  und  dei-  feste  Wille  wachgerufen  werd^Mi.  dit^se  Ziel"' 
zn  erstreben,  die  erworbenen  Kenntnisse  thatsilchlicli  zu  vt  i  werten.  I'ann  t-nsr 
kann  man  mit  unerschütterlichem  Vertrauen  auf  eine  Hebunir  der  \'erh.iltui»e 
sowol  in  geistiger,  als  auch  in  wirtschaftlicher  Beziehung  iu  die  Zukunft 
blicken.  —  Da  predigt  der  Wanderlehrer  im  Wirtshaus  Uber  einen  rationelle- 
ren Betrieb  der  Bienenznehtt  der  Obstenltiur,  eine  gweckmlUwige  Bereitung  und 
Verwendung  des  Dfingers  u.  s.  f.  —  unawdfelhaft  durchaus  heilsame  Lehren. 
Sind  nun  seine  bäuerlichen  Zuhörer  doch  schon  so  weit  vorgeschritten,  um  die 
Berechtigung  seiner  Ausführungen  anzuerkennen,  dann  w  erden  sie  ihn  nicht  als 
^Stodleut,  df^s  sn  wos  nöd  verstellt,  dös  nixi  dreinzreden  bot'*,  beti-achten.  vie 
es  leider  nurzunft  vui'komnit.  w  erden  ihn  auch  nicht  auf  dem  kürzesten  Wege 
zur  Thür  hinausltefördern.  welche  Proeedur  ebenfalls  hiiutig  v<»rgen<tnmien  wii"d. 
sondern  werden  ihn  anhören,  wul  auch  vei-stehen,  darauf  heimkehren,  um  den 
alten  Schlendiian  —  weiterzupflegen.  Es  fehlt  ihnen  eben  ein  weiterer  Aus- 
blick, das  Verständnis  für  die  eigentliche  Bedeutung  jener  Lehren,  die  ihnen 
gegeben  werden,  und  endlich  auch  die  nOthige  Willenskraft  und  Ausdauer,  um 
sich  mit  Erfolg  der  Erstrebung  eines  höheren  Zieles — ihrer  Venrollkomninung 
hinzngeben. 

Wir  dürfen  also  auf  ein  Vorschreiten  niemals  mit  Zuversicht  liofFen,  so 
lansre  die  Beseitiguiis"  <lieser  Klüngel  nicht  dadurch  möglich  gemacht  wird,  das« 
man  dem  Landvolke  eine  idealere  Bildunir  zu  Theil  werden  lässt.  die  sich  nicht 
an  den  kalten  \'erstaud,  sundern  an  das  CJemüth  wendet.  Die  Seele  mn&s  be- 
freit werden,  damit  sie  fähig  wird,  sich  in  einer  erhabeneren  Stimmung  zu  be- 
wegen. Dies  kann  nur  durch  die  VorfBhmng  des  Schönen,  Edlen  und  Guten 
erreicht  werden.  Dieselbe  muss  aber  in  einer  Art  geschehen,  die  den  Land« 
be wohner  anzieht;  seiner  Eigenheit  muss  Rechnung  getragen  werden,  sonst  wird 
der  Zweck  verfehlt.  Und  da  bieten  uns  namentlich  drei  Eigenschaften  eine 
sichere  Stütze:  die  rege,  heitere  Phantiisie.  die  Lust  zu  hören  und  zn 
schauen,  die  naive  Leljensfreude.  Mit  festem  Vertrauen  können  wir  auf 
dieselben  bauen  ;  di  iui  wt-nn  auch  diese  \  orziige  bei  den  Üewohnern  einzelner 
Gegenden  durch  Jahrliunderte  lange  Knechtung  und  geistige  Bedrückung  zu- 
rückgedämmt und  niedergehalten  worden  sind  —  keiner  Macht  ist  es  gelungen, 
sie  in  der  Volksseele  gfinzlich  zu  venrichten,  und  es  bedarf  nur  der  geringsten 
Anregung,  um  sie  wieder  zur  IHschen,  freien  Äusserung  zu  bringen.  Oll^nt- 
llehe  Yeniiistaltnniren:  belehrende  nnd  unterhaltende  Vortrfige,  Belästi- 
gungen, dramatis<  he  Aufführungen  von  erhebenden  Ereiirnissen  aus  dem  Volks- 
leben n.  8.  f.  werden  allgemeinen  Beifall  linden,  und  durch  dieselben  wird  nn.«.er 
gedachter  Zweck  am  b-ichtesten  und  sichersten  ei reicht.  "Mein  Freund  Willi- 
bald Nagl  bat  ni>er  diesen  (rcgenstünd  sehr  ausfiihrlicli  im  1.  niul  '2.  Hefte 
des  gegenwartigen  Jahrganges  dieiser  Zeitsclirift  gehandelt,  und  icli  kann  mich 


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—   379  — 

«iahcr  tiir  diesmal  bes<;liränkt'iu  auf  den  Aufsatz  dfsscllu'n  /^..I'usero  Baueriiwi'lt 
und  die  Studien  über  Spraehe  und  Wtsen  des  \  olkes"  j  zu  verweisen,  am  viel- 
leicht später  wieder  hierauf  zurückzukommen. 

Aber  wenn  auch  dem  gesprochenen  Worte  infolge  der  Unmittelbarkeit  und 
frischen  Lebandigkeit  eine  Torstttrkte  WiriEung  zukommt,  tmd  daher  auf  den 
mfindUeben,  direeten  Vericehr  ein  besonders  grosses  Gewicht  zn  legen  ist,  dfirfen 
wir  doch  nicht  ausser  acht  lassen,  dass  uns  noch  ein  bedeutsames  Mittel  an  die 
Hand  g^egeben  ist,  um  unser  2Qel  zu  erreichen,  dass  noch  ein  zweiter  Weg 
iiiösrlich  ist.  um  eine  Verbindung  zwischen  der  Intellig:enz  und  dem  ^'olke  her- 
zn>t»'llen:  es  kann  auch  der  literarische  W'euf  eint^esehlao^en  und  durch  di»' 
Wrbrt'ituns"  von  Schriftwerken  die  X'olksbildun^  y:eh(>beu  und  gelV.rdert 
werd»  n.  Während  die  ^Vil■kuug  der  Rede  auf  einen  engeren  Kaum  beschränkt 
bleibt,  ssieht  jene  des  Druckwerkes  weitere  Kreise  —  aber  leider  wird  viel  von 
d«r  Tiefe  und  Nachhaltigkeit  eingebfisst  Es  muss  andi  ein  gewisser  Fortschritt 
vorausgesetzt  werden,  der  nicht  flberall  anzutreffen  ist,  nämlich  dass  Bficher 
gelesen  nnd  verstanden  werden.  Solange  der  Lehrer  in  der  Schule  mit  ,.der 
Linir**  hinter  dem  Schüler  steht,  geht  es  noch  leidlich  mit  dem  Lesen:  aber 
wenn  derselbe  einmal  der  Jfachrsph.'lre  des  ersteren  entrückt  ist,  dann  klaj)])! 
er  das  Buch  zu  und  ist  bestr«'bt.  die  erlernte  Knust  lerhr  schnell  wieder  zu 
vergessen,  sodass  man  von  juiiuen  Leuten,  die  einig-e  .laiire  aus  der  Schule  sind, 
nicht  selten  die  Antwort  bekununt :  ,,J<tmein.  «'Druckte  kunnt  i  hasen  uo  lesen, 
ober  mit'n  Schreibn  derhobts  ml  hold  immerzna  a  wenk,  nnd  s'Gschriebane  von 
wen  oiuiem,dlte  se  konn  i  mr  nnmigli  n8d  ausdeutschen— is  so  viel  an  Inter- 
sehiad,  wia  d'Leut  d'Bnagstabn  mochant!'*  Wenn  das  Lesen  Sdiwierigkelten 
bereitet,  wird  natärlich  das  Verständnis  beeintrdchtigt  und  so  der  Wert  der 
Lectftre  geschmälert.  Das  Landvolk  kauft  daher  auch  nicht  gern  Bücher: 
aber  ausser  dem  Gebetbuche  ist  doch  noch  eines,  das  sich  ihm  unentbehrlich 
eremacht  hat.  und  zwar  ein  rftht  weltlich  nn£relc«rtes.  Ks  hilft  die  tlüchtii*'e. 
iiiilialrbare  Zeit  messen  und  muss  Trost  und  Aufschhiss  t,o'l)en.  wenn  der  Bauer 
in  banger  Sorge  für  die  reifenden  Feldfrüchte  na*  Ii  dem  Wetter  lugt.  Dieses 
Buch  ist  der  Kalender.  In  jeder  Bauerastnbe  finden  wir  an  einem  sicheren 
Orte  —  etwa  im  „Bankladel",  auf  der  „GsdiirrsteUn'*  oder  gar  an  einem  Nagel 
an  der  Wand  —  irgend  efaien  „Volkskalender".  Derselbe  enthttlt  ausser  dem 
fiblichen  Calendarinm  und  einigen  sachlichen  Notizen  verscMedene  unterhaltende 
imd  belehrende  Beigaben.  Die  Beigaben  bilden  fdr  uns  den  wichtigsten  Thell 
df^s  ganzen  Kalenders,  nnd  es  stellt  lebhaft  zu  wünschen,  dass  demselben  von 
Volksfreundlichen  Schriftstellern  die  ihm  gebiilirende  Aufmerksamkeit  ireschenkt 
werde.  Die  Kalendergeschichten  werden  an  den  lauiren  Winterabenden  gelesen 
und  wieder  gelesen,  bis  sie  gründlich  verstanden  werden  und  sich  sogar  dem 
Oedächtnisse  eingeprägt  haben.  Der  Nutzen,  weldier  auf  diese  Weise  durch 
ehien  gediegenen  Kalenderinhalt  erzielt  werden  kann,  liegt  auf  der  Hand, 
und  welcher  Schaden  durch  einen  schlechten  gestiftet  wird,  ist  eben&lls  leicht 
abzunehmen.  AVenn  der  Bauer  wirtschaftliche  Dinge  in  einer  Druckschrift 
behandelt  findet,  gibt  er  gewIHmlich  nicht  viel  darauf;  aber  wenn  in  politischen, 
socialen  Fragen  seinen  verborgenen  Meinungen  geschmeichelt  wird,  dann  hat 
auf  einmal  das  „Druckte"  AVert.  ..Do  steht's  jo  sclnvorz  auf  weiss  —  no  .  - 
isasu!"  Eine  gewisse.  ;^erade  nicht  vulksfreundlich  zu  nennende  Partei,  welche 
aber,  was  die  Kenntnis  des  Volkscharakters  und  die  zweckmässige  Wahl  der 


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—   380  — 


Mittel  zur  Erreicliiiiip:  ihier  Ziele  anbetrifft,  alle  anderen  in  Scliatt^n  stallt,  hat 
sich  uuu  mit  kluger  Beredmuug  der  Kaleuderliteratur  bemächtigt,  um  uiitu* 
dem  Volke  AnhSogeir  Ar  Ihre  Sache  —  die  olericale  —  m.  weriien.  Diese 
deiicale  Ealenderwirtschaft  hat  namentlich  in  letster  Zeit  bedenhHchere  Di- 
mensionen angenommen,  nnd  es  «mag  mir  daher  gestattet  sein,  dieselbe  etwas 
nfther  zn  belenchten.  Es  handelt  sich  für  die  Veranstalter  der  Herausgabe 
eines  solchen  Kalenders  dämm,  das  Landvolk  aus  der  Stagnation  nicht  aofzn- 
rütteln  und  j^deii  Kückscliritt  (die  Stagniation  tuhrt  zu  demselben)  zu  l)eeün- 
stigreii.  damit  ilire  l'artei  nicht  entbehrlich  fifuiadit  und  ihre  kindische  Freude, 
zu  ht  rischen  und  zu  bevonuunden,  nicht  ^-l  ündlich  zu  Wasser  \\eide.  Alles, 
was  die  Wüienssch w  ache  beheben  und  einen  trischemi,  belbstständigen  Eut- 
schliis  herbfitfUhfen  hSnnte,  wird  daher  gewissenliaft  vmiied«i  nnd  vor  jeder 
Massnahme,  welche  darauf  ahsielty  Arsoiglichst  gewarnt.  DieNothwendigfceit 
jeder  Neoerong  wird  geleugnet;  im  alten  Jammer  nnd  Elend  weiterleben  and 
Hich  mit  den  faulen  Zuständen  nach  Thnnllchkeit  abfinden,  das  wird  als  schönste 
Tugend  hingestellt;  Ergebung  und  Demuth  ist  des  Christen  Pflicht  Es  wird 
über  ein  ..sittlich-ökonomisches  Experiment"  gepredigt;  danmter  ist  die  Be- 
schränkung aut  das,  was  man  hat.  zu  verstellen:  jede  Besserung,  jedes  \ot- 
wärtsstreben  ist  damit  aufgehoben;  alle  Einrichtungen  zur  Förderung  des  Bil- 
dungsgrades, volkswirtschal'tliche  Neuerungen  u.  s.  f.  werden  von  vomhereiu 
für  ttberflttssig  erklärt,  was  die  bftnerlidien  Leeer  ungemein  anspricht,  da  sie 
in  ihrer  Neigung  zur  Schlaffheit  bestäriit  nnd  die  Vorwflrfe,  die  sie  sUdi  denn 
doch  im  geheimen  manchmal  darüber  machen,  beschwichtigt  werden.  „Esmnasi 
oans  jo  auf  sein  Sö\  a  denga,  n5d  nar  grod  anf  dSs,  woe  auf  dHVSld  tangt' 
heisst  es  allemal,  nnd  dabei  wird  vergessen,  dass  gar  niemand  ein  ausschliess- 
lich weltliches  Streben  verlangt,  und  jeder  Fortschritt  dem  Heile  der  Seele  zu 
Gute  kommt.  Die  Tendenz  allei-  Belehnnifr,  die  in  diesen  „ Volkskalendem" 
enthalten  ist.  gipfelt  in  dem  Hinweise  auf  Keligiosität  nnd  (rlaubenstieue:  Po- 
sitives hndet  daneben  natürlich  keinen  Kaum  mehi*.  ,.lietet,  fastet  und  arbeitet** 
—  and  yeriiarrt  nur  um  himmelswillen  in  enrer  geistigen  Trägheit;  damit  Ist 
das  Latein  dieser  Heiren  zn  Ende.  Am  liebsten  be&ssen  sie  sich  mit  jenen 
Gegnern,  die  am  leichtesten  zn  widerlegen  sind:  mit  unbesonnenen»  radicalen 
Qnerköpfen.  Alle  stimmen  in  einer  Eigenschaft  überein:  im  gemeinsten  Hasse 
gegen  die  Schule.  Sehr  leicht  erklärlich:  in  der  Schule  lernt  man  rechnen, 
lesen  nnd  sogar  —  schreiben,  was  am  Ende  die  Leute  befähigen  könnte,  ilire 
Stimmzettel  bei  den  Wahlen  selber  auszufertigen!  Leiirer,  Professoren  weiden 
in  zahllosen  Lügenanekdoteii  als  verkajjpte  Spitzbuben  und  .luy^endx  eni»  i  Iht 
hingestellt;  Studenten,  insofern  sie  von  moderner  Wissenschaft  genossen  und 
etwa  aufklärend  im  Kreise  ihrer  Verwandten  auf  dem  Lande  wirken  könnten, 
werden  als  Musterbilder  sittlidier  Verkommenheit  geaeichnet.  Die  liberale 
weltliche  Obrigkeit  kommt  ebenürils  schlecht  genug  davon.  Die  gewissen 
Lanmifrommen,  die  gemnthlich  Gleichgiltigen  und  die  Geistliclikeit  werden  im 
Lichte  verblendender  VerklUning  gezeigt;  da  ist  alles  eitel  G<dd  und  Spiegel- 
glanz;  alles  selbstloseste  Hingabe,  Aufopferung,  Duldung.  Mit  besonderer  Vor- 
liebe werden  zu  diesem  Zwecke  gescliichtliche  Ereignisse  beniitzt,  bei  welchen 
das  karholivrlie  Volk  und  des.sen  \'ertreter  eine  MllrtyrerroHe  spielen;  etwa 
Scenen  aus  Keligiouskriegen  u.  dgl.  ImUanzen  undüros.sen  können  wir  iumr- 
halb  dieser  Gattung  von  „Volkskalendem'*  zwei  Gruppen  unterscheiden.  Eine 


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~  381  — 

derselben  verlieht  ihre  Saclie  roh,  plunii»,  oline  Geselimaek.    Einige  Proben 
«ollen  hier  Platz  tiudeu.    ^Unsere  Schnlen  g-leichen  dem  Schmucke  eines  Gra- 
bes, von  auj'sen  Glanz,  Pracht  und  Autwand,  inwendig  nichts  als  Fäulnis  und 
Verwesung/  —  „Bauer,  da  klagst,  dass  die  Schulkosten  deine  Geldcasse  aus- 
iSomeiL  (So  ist* s.)   Sei  still  und  bedenke  (wie  fein),  dass  in  wenigen  Jahren 
die  Bildimg  deine  Geldeaase  voUkenimen  ersetzt."  ^atholiecber  Heimats- 
kalender  für  Stadt-  nnd  Dorflente  1879.) —  „Je  mehr  sich  die  Uenschen 
der  Confessionslosigkeit  nflhem,  desto  mehr  fühlen  sie  sich  bewogen,  möglichst 
wenig  zu  arbeiten,  dagegen  aber  möglichst  viel  zu  gemessen."    ( „Über  die 
Pienstbotennoth.")    ^Der  Liberalismus  hat  es  darauf  abgesehen,  durch  seine 
Einrichtungen  den  unabhilngigen  Bauemstand  zu  ruiniren.-^  —  ,.Uber  das 
AV  asser.  Lieber  Leser!  Wäre  das  Wiisser  nicht,  wäre  schon  mancher  auf  Erden 
Terbrannt  und  würde  noch  mehr  drüben  in  der  Ewigkeit  brennen.  Nun  hat  aber 
Oett  gerade  an  daa  Wasser  wunderbar  grosse  Gnaden  geknüpft.  Es  wischt  nns 
dasTanfwasser  von  Sünden  rein  nnd  schlitzt  nns  so  gegen  dasHöUenfever,  nnd 
damit  nns  diese  Gnade  der  Taufe  der  Tenfel  nicht  wieder  so  leicht  raubt,  waff- 
net  sich  der  gute  Christ  dnrch  Weihwasser  gegen  die  höllischen  Versuchungen. 
Selbst  die  Pein  des  Fegfeuers  mildert  dieses  Weihwasser,  deshalb  gehört's  auch 
zu  einem  christlichen  Grab.  Lt-rne  also,  lieber  Leser"  u.s.w.  (Jalernel)  (Kremser 
Volkskalendel-  für  das  katholische  Volk.)    Der  Haupteflect  liegt  aber 
in  der  ganzen  Anlage  von  Novellen,  Geschichten.  Anekdoten,  und  es  würde  zu 
weit  führen,  wenn  ich  mich  hierüber  des  näheren  verbreiten  wollte.  Die  äussere 
AntBtattnng  (Papier,  Druck,  lUnstrationen)  dieser  Kalender  lAsst  viel  zu  wün- 
schen übrig.  Die  zweite  Omppe  ist  in  jeder  Beziehung  der  ersteren  ftbeiiegen. 
Es  wird  raffinirter  vorgegangen.  Wir  finden  Novellen  mit  clericaler  Tendenz, 
die  nicht  ikbel  geschrieben  sind.  Legenden  sind  sehr  zahlreich.  Im  Ganzen  trifft 
man  weniger  auf  abstossende  Gehässigkeit,  sondern  mehr  auf  den  Ausdruck 
siis.<:Hch<'r  P'römmelei.    Die  Illustrationen  sind  hüb.sch,  der  Preis  billifj:.  Ich 
nenn»'  als  Beispiel  für  dieses  Genre;    „Illu.strirter  katholi.s» hei-  l'nterhaltungs- 
kalender'',  „Tiroler  Marienkalender",  „Regensburger  Marienkaleuder'',  „Öster- 
reichischer Volkskalender  mit  Abbildungen"^.  Dieser  letztere  enthielt  im  vori- 
gen Jahrgange  die  Geschichte:  „Alte  Gebräuche.  Eine  zeitgemftsse  Eizahlnng 
ffir  das  Volk  von  JoB.ZapIetaL"  In  derselben  ist  einem  Lehrer  eme  entehrende 
Solle  zugedacht;  sie  ist  voll  von  boshaften  AusftUen  gegen  Fortschritt,  Bil- 
dm1jL^  Schttlerziehung  und  Liberalismus,  so  dass  ein  Lehrer  in  einer  öst^errdchi- 
gchen  Lehrerzeitung  auf  die  Gefährlichkeit  dieser  Schandnovelle  aufmerksam  zu 
machen  .sich  bewogen  fühlte.  Auch  dei-  „Kathol.  Si^verinuskalender''  gehört  zu 
dieser  Gruppe.  Derselbe  enthält  unter  anderem  folgenden  Passus:  „Die  Pefol- 
gung  anscheinend  harter  oder  kleinlicher  Kirchengebote  ist  wertvoller  und  Gott 
wolgefälliger,  als  die  Übung  vieler,  vermeintlich  grosser  und  verdienstvoller 
gster  Werke.**  Als  ich  das  las,  sah  ich  unwilllittrlich  nach,  ob  nicht  auf  irgend 
einem  Dmckbogen  die  I^ipierfabrik  bezeichnet  sei,  welche  —  so  geduldiges 
Papier  ansengt  Zu  allem  Glücke  ist  unser  Volk  zum  grOssten  Theile  noch  zu 
saiv,  um  von  diesen  halbversteckten  Dornen  verletzt  zu  werden,  und  weil  ich 
schon  jener  „zeitgemässen  Erzählung"  Erwähnung  gethan  habe,  will  ich  hier 
noch  bemerken,  dass  ich  auf  dieselbe  von  einer  «Kloanhäuslen'n"  aufmerksam 
Ik'eiiiacht  wurde,  niclit  etwa,  weil  in  derselben  ,,d'neu  Zeit"  so  gottserbärmlich 
verlästerti  sondern  weil  daiin  eine  Bäuerin  vorgeführt  wird,  die  gar  so  „mor- 


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(liaiiificli  schöldeir*  kann.  Eines  ji'dm^l»  ist  nnzwoifelliaft :  dt-ni  \"<ilke  wird  dnnh 
diese  Kalender  ein  sdileeliter  Dienst  erwiesen,  und  zur  liilduni;-  und  Veredelung 
vermög-en  sie  nichtig  linizutra^en.  l)er  beste  unter  ihnen  war  noch  der  ..Ilhistrirte 
katholische  Volkskalender'  von  .Tarisch;  in  letzterer  Zeit  hat  sich  aber  auch 
diewr  Im  Sampfe  der  übrigen  verirrt. 

Neben  diesen  clericalen„VoUc8kalendem''  gibt  es  auch  eine  weit  geringere 
Anzahl  von  solehent  welche  eine  „liherale"  Richtung  einhalten,  wie  z.  B.  der 
„Constitntionelle  österreichische  Kalender"  (angeblich  eine  Auflage  von  300  000 
Stiick),  der  ., Politische  Volkskalender''  im  Verlage  des  liberalen  politischen 
Vereins  für  Oberlisterreich,  nnd  der  henerznm  ersten  Male  eischienene  ..Dentch- 
ÖBterreiciiiscIie  liauernkalender*'.  heraussregeben  von  Leopold  Krrnnmyr.  Vor- 
stand des  ol)erösterreieliisi  lien  Huuei  iiven  ins.  Diese  Kab-iuier  stehen  dt-n  znei-st 
behandelten,  von  welchen  alle  Kramläden  der  Provinz  geradezu  überschwemmt 
sind,  nicht  nnr  in  numerischer  Schwäche  gegenüber,  sondern  sie  können  auch, 
was  die  ftnssere  Ausstattung,  den  Kostenpunkt  betrifft,  die  €!onenrrenz  sehwer 
auftiehmen.  Zudem  ist  der  Inhalt  nicht  immer  glücklich  gewfthlt  Politischen 
nnd  landwirtschaltlichen  Au6fttxen  wird  ein  zu  grosser  Raum  gelassen;  wie 
sich  das  Volk  diesen  gegenüber  verhalt,  habe  ich  schon  früher  angedeutet.  Viele 
von  sogenannten  ..Volkskalendern"  finden  endlich  gar  nicht  den  Weg.  den  sie 
nehmen  sollten,  und  bleiben  auf  ein  feineres  Stadtjmblicum  beschränkt. 

Der  Volkskalender  soll  jene  Leute,  die  weil  au>serhal))  des  Bereiches  der 
Bücherwelt  stehen,  des  t(»rdernden.  bildenden  Einflusses  der  Literatur  theihaftig 
machen.  Er  soll  ihnen  tür  das  ganze  Jahr  mit  seinen  Wechselfällen  ein  beleh- 
render, unterhaltender  und  aufinuntemder  Begleiter,  ein  lieber,  tretender 
Freund  sein.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  wühle  und  ordne  man  den  Inhalt: 
kleinliche  Parteirücksit^ten  dürfen  nicht  massgebend  s^,  weil  dadnich  das 
allgemeine  Geltungsgebiet  des  Xab  ndei-s  beschränkt  werden  würde.  Die  wich- 
tigsten politischen  Vorgänge  sind  klar  und  verständlich  darzustellen,  damit  der 
Leser  im  Stande  ist.  sich  ein  niö^rüchst  selbstständiges  rrtlieil  zu  bilden.  Be- 
lelirungen  nnd  Aufklärungen  übei"  Volks-  und  Landwirt.schaft  sind  ]iicht  zu 
vergessen.  Man  tadle  die  Fehlei-  in  ernster,  eindringlicher  Weise,  nicht  im 
rauhen,  gehässigen  Tone,  den  unsere  heutige  Kritik  nui*  zu  gern  anschlägt 
und  der  niemanden  so  sehr  verletzt  und  einschüchtert,  als  den  Leser  aus  dem 
Volke,  welcher  sehr  geneigt  ist,  allsogldch  auf  Missgunst  zu  scfaliessen.  Lob 
soll  in  einer  Art  gespendet  werden,  dass  nicht  die  Gefahr  damit  verbunden  ist. 
schfidtiche  SelbstgefJllligkeit  gross  zu  ziehen.  Auch  auf  zweckmässige  Anlei- 
tnncren.  Rathschläge  sei  man  bedacht,  ebenso  dürfen  natnr-.  weit-  und  cultnr- 
geschichtliclie  Mittheilungen  nicht  überseben  werden.  Was  das  rein  P-eHetristische 
betrirt't.  wähle  man  ausPeini  nnd  Prosa  unserer  besten  Scliriftsteller  und  l>ichter 
das  passendste  aus;  es  wird  sieli  genug  finden.  Namentlich  solche  (lescliichteu 
oder  Gedichte  sind  empfehlenswert,  welche  eine  scharfe  Pointe  gegen  SchwÄchett 
und  Fehler  des  Volkes  haben,  die  also  gegen  Aberglauben,  OleichgUtigkeit, 
Pessimismus  u.  s.  w.  ihren  Stachel  richten.  Bas  Osterreichische  Volk  ist  unge- 
mein spottsüchtig,  und  ein  witziges  Wort  über  ehi  Gebrechen  wirkt  daher  oft 
mehr,  als  eine  lange  nnd  breite  Demonstration;  der  östeneicher  ist  eher  dem 
zugänglich,  was  seine  Phanta.sie  oder  seinGemüth  anspricht,  als  Inirischen.  ver- 
standesgemässen  Auseinandersetzungen.  Es  ist  dies  jene  KiL'-enscliatt.  die  uns  von 
Seiten  der  Niederdeutschen  den  Ruf  der  „Gemüthlicheu'*  eingebracht  hat  l  ud 


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—   383  — 

in  der  Thnt:  wer  mit  einem  Oberdeutschen  gut  an  sein  will,  ninss  vor  allem 
dessen  Gefühlsleben  kennen  \um\  w  iinligfen;  was  ilmi  liehonswürdig-  scheint,  das 
planbt  er,  nnd  wer  sein  Hovz  bt  sitzt.  der  besitzt  ilni  (^-.inz.  Es  wäre  dies  eine 
luv  htlieiliire  Scliwäeh«'.  und  vielleicht  sug-ar  unklug,  ött'entlich  davon  zn  sprechen, 
wenn  nicht  das  Gefühlsleben  auf  ganz  bestimmten,  richtig^en  Associati(»ni  be- 
ruhen würde,  so  dass  ihn  sein  Gefühl  oft  sicherer  auf  das  Hechte  leitet,  als 
dies  dnrch  Bationalistik  möglich  wftre,  nnd  zndem  glanbte  ich  anf  diesen  Cha- 
raktensog  schon  deshalb  verweisen  zn  mflssen,  nm  den  Wert  nnd  die  Bedeu- 
tung der  schönen  literatnr  für  die  Volksbildung  ins  gehörige  Licht  zu  setzen. 
Wie  jt^ne  Geschichten,  welche  sich  för  die  Aufftissungsweise  des  Volkes  eignen 
sollen,  beschalTen  sein  müssen,  und  welcher  Stil  tiberliaupt  in  populären  Schriften 
zu  beachten  ist,  habe  ich  in  meinen  Aufsiitzen  ..IMjer  Bauernyeschichten" 
(III.  Jahrg-ang-  6.  lieftl  und  ..Der  volksthüniliche  Stil  in  iiopulilren  Be- 
lehrnngs-  und  Unterhaltungsschriften"'  (III.  Jahrgang  12,  Heft)  näher 
zn  erörtern  versucht.    Weil  es  darauf  ankommt,  auch  den  Gesichtskreis  des 
Landvolkes  zn  erweitem,  thntnian  gut,  nicht  ausschliesslich  Dorfgeschichten 
zn  wfthlen,  wiewol  durch  dieselben,  indem  sie  anf  gewisse  verborgene  Eigen- 
heilen  des  Volkslebens  eingehen,  das  Zutrauen  geweckt  und  ein  gewisser  Reiz 
auf  den  bäuerlichen  Leser  ausgeübt  wird.  Es  ist  nÄmlich  eine  irrige  Annahme, 
dass  den  Bauer  das  nicht  interessire.  was  von  Verhältnissen  und  Zuständen 
handelt,  die  ihm  ohnedies  bekannt  sind:  es  freut  ihn,  wenn  er  sieht,  wie  auch 
andere  sich  mit  seiner  Lage  und  Eigenart  beschäftigen  und  dies  wichtig  genug 
finden,  um  öffentlich  darüber  zu  sprechen  oder  zu  sclireiben.  Sein  Selbstbewusst- 
seiu  wird  hierdurch  in  edler  Weise  gehoben,  und  das  ist  sehr  nothweudig,  wenn 
er  bewogen  werden  soD,  endlich  einmal  ans  seiner  Znrfickgezogenheit  heraus- 
zutreten. Uan  darf  den  gewissen  ,3ftneni8tolz'*  nicht  mit  Jenem  Selbstbewnsst- 
Sehl  verwechseln.  Es  stellt  sich  freilich  wol  mancher  „schwere"  Bauer  weit- 
spurig vor  ein  Häuflein  seiner  Berafsgenoisen  hin,  rttckt  den  Hut  über  die 
Augen,  so  dass  er  den  Kopf  in  den  Nacken  werfen  muss,  um  auf  die  Umstellen- 
den unter  der  Krämpe  herabzusehen,  kreuzt  die  Hände  auf  dem  Rücken  und 
erzählt  recht  wegwerfend,  dass  er  so  und  so  viel    Kindel  '  dioben  auf  seiner 
Alm  habe.  ..eh  nöd  wert,  da.ss  nia  davon  redt,"  aber  er  sähe  sich  schon  hinaus, 
denn  sie  „zügeln"  so  viel  gut  auf  seiner  Alm  und  schuldig  sei  er  auch  nichts 
darauf  —  „wos  eh  nöd  der  Ufla  wert  is,  dass  ma  s  sock*,*'  der  macht  sich 
patzig  —  das  ist  der  richtige  „Bauernstolz",  der  nicht  weiter  reicht,  als  bis 
dorthin,  wo  die  Alm  und  das  Bindvieh  aufhört.   Derselbe  äunert  sich  auch 
noch  in  einer  etwas  allgemeineren  Weise  dadnrcli,  dass  d.  i-  Bauer  mit  Vorliebe 
darauf  hinweist,  dass  er  jenem  Stande  angehrii-t.  welcher  das  Land  erhält; 
..v^"nn  mir  ins  nöd  schinten  und  plofrn  tuten,  liiitteu  d"  Heirischen  nixi  z'  fressen. •• 
Aber  auch  mit  dieser  otien  ausges]»roclienen  Ansicht,  welche  viel  Bitterkeit  und 
Groll  enthält,  tritt  er  noch  nicht  aus  seiner  scheuen  Zurückhaltung  und  Ab- 
geschiedenheit heraus.  —  Wenn  Bauernkinder  von  Fremden  beim  Spiel  über- 
rascht werden,  dann  lassen  sie  alles  liegen  und  stehen  und  verstecken  sich 
Unter  irgend  eine  bergende  Wand  oder  einen  Zann,  um  von  dort  ans  verstohlen 
die  Vorübergehenden  zu  mustern  nnd  mit  spöttischem  Gekicher  allerlei  Aus- 
stellungen einander  zuznflOstem;  aber  hervor  wagen  sie  sich  doch  nicht  mit  ihrer 
Kritik,  es  fehlt  ihnen  hierzu  das  Vertrauen  in  die  Bichtigkeit  derselben  und 
iu  die  Kraft,  sie  zu  vertreten.   So  wie  die  Jnugeu  sind  auch  die  Alten.  Das 


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—   384  — 


BewTis8t.seiii  vom  Werte  und  der  Bedentniig-  des  Bauernstandes  im  Staate  muss 
vf-redelt  nnd  vertieft  werden,  damit  sich  hieran  auch  die  ÜberzeujEmng  kiiüpte, 
diubs  es  der  Würde  desselben  entspricht,  ja  dass  er  sogar  veqjfliehtet  ist,  von 
der  Gtesammfbdt  naclidrftelclieliat  m  wlangen,  was  iltm  gebührt;  diese  feste 
ÜbenseiigDiig  wird  dann  zn  einem  heUbringenden  WiUensentsehloss,  m  einem 
energjsdien  Hervortreten  führen. 

Die  äussere  Ausstattung  des  Volkskalenders  soll  solid  und  geschmackvoll 
sein.  Ein  billiger,  aber  dauerhafter  Einband,  gutes  Papier  und  deutlicher  Druck 
sind  nothwendige  Eigensdiaften.  lllustratiftnen  dürfen  nicht  felilen.  Der  Leser 
lilsst  gern  seine  Phantasie  diu  eh  sie  unterstützen,  und  er  liebt  es  auch,  die 
Richtigkeit  seiner  Pliantasievorstellungen  an  ihnen  zu  prüfen.  Endlich  —  das 
darf  mau  niclit  übersehen  —  muss  ja  auch  was  für  die  Jungen  Leutel",  für 
die  Kinder  da  sein.  Die  dericalen  Kalender  sind  alle  illnstrirt,  und  sehen 
deshalb  werden  sie  lieber  gekauft  als  die  anderen,  welche  gewöhnlich  nicht 
mit  Büdem  gestert  sind.  Der  binerliche  Käufer  prüft  wol  nicht  lange  nnd 
gibt  sich  auch  mit  schlechten  Illustrationen  leicht  zufrieden;  aber  im  Interesse 
der  Bildung  des  Geschmackes  und  Hchönheitssinnes  sollen  eher  weniger,  aber 
bessere  Zeichnungen  gewühlt  werden.  —  Mit  diesen  Eröi-terungen  habe  ich  das 
Gebiet  des  \>rlegers  berührt  und  ich  kann  es  nieiit  unterlassen,  hier  auf  einige 
IiTthünier  und  (  beistünde  hinzuweisen.  Dass  so  unendlich  viele  clerieale.  bil- 
dungsfeiudliche  Kalender  und  so  vei-schMrindend  wenige  volksfreuudliche  im 
Umlaufe  sind,  findet  com  Tbeil  seine  BridSning  in  der  allgemein  verineiteten 
Ansicht,  mit  dem  Landvolke  liesse  sich  nor  mit  dericaler  Ware  ein  Geschlft 
machen.  Betraditen  wir  uns  dodi  den  „Clericalismas**  unserer  Landlente  nnd 
das  Fraternisii  en  mit  der  Geistlichkeit  etwas  näher.  Von  der  ganzen  srrossen 
Schar,  welche  die  intelligenten  Stände  repräsentiren.  sind  es  fast  ausschliesslich 
die  Geistliclien.  die  sich  mit  dem  Volke  näher  abgeben,  die  ihm  zusprechen, 
ihm  eine  gewisse  Theilnahme  bezeigen,  sich  in  die  Intimitäten  desselben,  in 
Fiunilieii Verhältnisse  vertiefen,  die  sich  mit  volksthümlichen  .Studien  ])efasseu 
(MisBOu,  Strobl,  Mareta,  Landsteiner,  Kerschbaumer  u.  a.j.  Hierzu  kommt  noch, 
dass  die  Geistlichen  meist  ans  bänerlichen  Kreisen  stammen.  Ss  hat  sich  daher 
über  dieselben  ein  popnlJIrer  Heiligenschein  gebreitet,  nnd  das  Vdk  wBMt  sie 
häufig  auch  dort  zu  Fflrsprechem,  wo  andere  seine  Interessen  besser  vertreten 
würden.  Unsere  liberalen  „Volksmänner"  findra  hingegen  mit  ihrer  (bei stock- 
hohen Intelligenz  in  eine  niedere  Bauernstube  gar  nicht  hinein:  sie  kömien  den 
Leuten  nichts  mundgereclit  machen.  \'ergegenw iirtigen  wir  uns  einmal  eine 
Wahlcampagne.  Bei  diesen  \'oi-gängen  soll  sich  ja  die  (lesinnung.  in  luiserm 
Falle  also  der  Clericalismus.  äussern,  und  die  Politiker  in  der  Stadt  tallen  nach 
denselben  ilu-  Urtheil.  —  Der  liberale  Candidat,  irgend  ein  Advocat,  Pi-ofetsor, 
Grossgrandbesitzer  oder  Fabrihsherr,  der  sonst  gar  nicht  viel  mit  den  Leotsn 
verkehrt»  hält  in  ehiem  grosseren  Wirtshause  seine  Gandidatenrede.  Er  meint* s 
nnstr^%  ehrlich;  aber  er  will  auch  imponiren,  will  dem  Abdruck  seiner  Bede 
im  Localblättlein  ein  niö^^liehst  geldirtes,  gewandtes,  nobles  Äu.sseres  versehaifen, 
daher  wirft  er  mit  Fremdworten,  parlamentarischen  Ausdrücken  hemm,  TtT' 
liert  sich  in  intime  Pai-teizwistiy^keiten  und  Clubverhältnisse,  meint  sr hliessbVh 
das  Beste  geleistet  zu  lial/cn.  und  —  seine  Zuhörer  sind  so  klug  gewurden,  wie 
d<*r  Hofmarscliall  v.  K:ill>.  Dei-  Candidat  der  Clericalen  —  wer  ist  denn  der, 
und  was  thut  denn  er,  um  günstige  Chancen  zu  erringen?  Er  ist  ein  Land- 


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—  385  — 


pfarrer,  oder  ein  Allei-^Äeltskerl.  \\W      doren  g^ennof  anf  dem  Lande  ^ibt,  oder 
ein  Bänerlein,  von  dem  man  eiNvaitt  t,  dass  es  sich  leicht  herumkriegen  lässt. 
Er  verschniiUit  es  gewöhnlich  ganz,  sich  in  einen  Wortkanipf  einzulassen,  und 
zieht  sich  zurück,  wie  Reineke  auf  seine  Burg;  aber  jedenfalls  macht  der 
Pfarrer  der  betreffenden  Wahlgemeinde  mit  einigen  Gesinnungsgenonen  einen 
kleinen  Rundgang  so  den  Walilmftnnem  —  lanter  guten  Bekannten.  Der  eine 
derselben  UM  seineD  Sohn  stodiren,  und  der  Herr  Pfttner  hat  ihm  m  einem 
Stipendium  verhelfen;  der  andere  führte  einen  Process,  und  es  wurde  ihm  ein 
lielfender  Einschlag"  gegeben;  dem  dritten  geht  der  Cooperator  bei  der  Bie- 
nenzucht an  die  Hand;  der  vierte  ist  ebon  damit  boschütti<rt.  steine  Wirtschaft 
tiberzugeben,  und  es  wurde  ihm  dabei  mit  einem  guten  Ruthe  g-enützt,  so  dass 
weder  er,  noch  sein  Lieblingskind  zu  kurz  kommt;  der  fünfte  hat  eine  alte 
Mutter,  die  in  der  Versorgung  gut  untergebracht  wurde  u.  s.  f.    Man  kommt 
nnn  auf  die  Wahl  zn  sprechen;  der  Bauer  fragt,  „der  welchi  dann  oft  der 
Gschddter  war."  „  „No  —  do  is  jo  gor  koan  Frog  nOd:  der  N.  hold"  *\  meint 
dannif  der  Clericale,  nnd  diese  wenigen  Worte  wiegen  mehr  als  eine  ganze 
Rede  —  der  N.  wird  gewählt.    Der  allerwinzigste  Brachtheil  wfthlt 
ans  Überzen?nng  clerical,  d.  h.  weil  er  so  glaubensstark  ist,  am 
die  clericale  Partei  als  solche  in  jedem  Falle  für  die  unfelilbare 
zu  halten,  sondern  die  Wahlen  fallen  deshalb  clerical  aus,  weil 
die  Clericalen  die  einzigen  sind,  welche  richtig  agitiren,  welche 
sich  mit  dem  Volke  abgeben  und  es  verstehen,  mit  demselben  zu 
reden.  Was  der  Gew&hlte  in  der  Stadt  drinnen  macht,  wie  er  sogar  den 
Interessen  seiner  WiUer  zuwider  handelt,  davon  erfahren  dieselbea  nichts; 
denn  Zeitungen  lesen  sie  nicht»  und  würden  dieselben,  falls  sie  es  thftten,  nicht 
verstehen;  wenn  ein  Liberaler  etwa  in  einer  Versammlung  das  Wirken  des 
eftwicalen  Abgeordnete  beleuchtet,  gelingt  es  ihm  doch  nicht,  die  Köpfe  der 
Bauern  zu  erhellen,  gerade  so,  wio  es  dem  Caiididateii.  von  welchem  ich  bei- 
sjnelsweise  gesprochen,  nicht  gelunjren  ist.  sich  vei-stilndlich  zu  maclien.  Ich 
könnte  hier  historische  Voif.Ule  erziihlen.  aber  die  Tendenz  dieser  Bllltter  vei-- 
bietet  mir  es.  tiefer  in  das  Gebiet  der  Politik  einzudiingen.    Es  lag  mii*  auch 
nur  daran,  darzuthun,  auf  welcher  Seite  der  Fehler  zu  suchen  ist:  nicht  anf 
Seite  des  Landvolkes,  ttber  welches  man  so  sehr  klagt,  sondern  anf  jener  der 
liberalen,  welche  es  nicht  verstehen,  dem  Volke  zum  Herzen  zn  sprechen,  ihre 
nntzbringenden  Ideen  populär  zu  machen.  Ist  es  denn  gar  so  sehr  der  Wilrde 
eines  intelligenten  Hannes  zuwider,  hinabzusteigen  unter  die  Geringsten  seiner 
Mitbürger,  um  ihnen  die  Hand  zn  bieten  und  sie  hinauf  zu  weisen  die  be- 
schwerlich zu  erklimmenden  Stuten  der  Bildung,  welche  zur  erhöhten  Platt- 
form der  Intelligenz  führen?   Freilich  wol.  wenn  man  \'er\valtungsrath.  oder 
Baruu,  oder  am  Ende  gar  noch  mehr  ist,  dann  .schickt  sich  so  was  nicht. 
Aber  sollte  es  denn  in  den  liberalen  Reihen  nicht  edle  und  geistvolle  Hftnner 
geben,  die  klar  erkennen,  dass  diese  Aufgabe  bedeutsam  genug  ist,  um  sein 
liestes  KBonen  daf&r  einsnisetzen?  Der  Verkehr  mit  dem  Volke  entwürdigt 
niehty  es  beweist  vielmehr  einen  wahren  Adel  der  Gesinnung,  wenn  man  sich 
fiber  eoglierzige,  althergebrachte  Vornrtheile  und  gesellschaftliche  Hindernisse 
hinwegsetzt,  um  den  Armen  von  den  Schätzen  darzubieten,  welche  hohe  (  n  ister 
mit  rastlo.seni  Eiter  zusammengetnigen.    Es  liecrt  nitdits  Kleinliches  und  Herab- 
minderndes in  diesem  Beginnen;  es  ist  ein  gründlicheres  Wissen,  ein  reicheres 


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3«6  — 


Gemütlislebeu,  eine  ausgebreitetere  Erfahiuiij^,  eine  krältigere  Ausdauer  ndtbig. 
um  sich  dem  lebfrischen  Empfinden  und  dem  Kinderveratande  des  Volkes  ao- 
zoschmiegen.  Und  wenn  solche  Bestrebungen  ernstlich  anftanchen,  dann  vM 
das  Volk  alsogleicli  erkennen,  nach  welcher  Bichtang  es  sich  zu  halten  hat. 
dam  nicht  wahllose  Ergebenheit,  sondern  Beschränktheit  der  Wahl 
ist  eSy  was  dasselbe  in  einem  gefährlichen  Garne  gefangen  hiilt.  Schon  heute, 
da  doch  von  einem  innigeren,  eingehenderen  \'erkeln-e  zwischen  der  Intelligenz 
und  dei-  Banernwelt  eigentlich  niclit  die  Kede  sein  kann,  indem  ja  nur  ein 
Gewaltstreich  (oder  Missgriff?)  eine  etwas  rej^ere  Theilnahme  der  ersttnii  für 
die  letztere  wachgerufen  hat,  sieht  man,  wie  sich  das  Landvolk  von  seinen  bis- 
herig«! Bathgebem  emandpirt.  Es  finden  sich  eben  heute  PersSnlichkeitea, 
die  nnn  endlich  durch  den  allgemeinen  Bof  der  Entrüstong  bewogen  wurden, 
ihre  I%higkeiten  den  Misshandelten  za  leihen;  ehedem  waren — oder  schienen  — 
sie  nnznganglich.  Der  Bauer  weiss  ganz  gut,  wo  er  hin  zn  langen  hat,  wenn 
er  zwischen  Sj^reu  und  Korn  steht.  Bei  einer  Baueni Versammlung,  welche  von 
Clericalen  veranstaltet  wurde,  rief  ein  Bauer:  ,.A  wos  -  wnnn  mir  an  Adv(»katen 
brauchen,  gehn  mir  zan  Advokaten;  und  wann  mir  an  Ptorrer  brauchen,  gehn 
mir  zan  Pforrci-I"  Im  Waldviertel  ei-suchte  unlilngst  ein  T'farrer  einen  bäuer- 
lichen Bürgermeister,  er  möge  seine  Untei*scluift  unter  eine  i^etitiou  au  das 
Kerrenhans  nm  Herabsetzung  der  Schnlpfiicht  anf  sechs  Jahre  setzen;  der  Biir- 
genneister  holte  sich  Bath  bei  volksfrenndlichen  Personen  und  wies  den  Pfiurer 
ab.  Dies  nor  als  einige  Beispiele. 

Es  ist  also  vollständig  falsch,  wenn  man  meint,  das  Landvolk  sei  luut  i- 
besserlich  und  verharre  in  einer  unbezwingbaren  Abneigung  gegen  alles  Liberahi. 
Ih  n  \'erlegem  ist  dringend  ans  Herz  zu  legen,  der  liberalen  Volksschriften- 
literatur überhaupt  und  den  Volkskalendern  insbesondere  eine  liebevolle  Auf- 
merksamkeit zu  schenken.  Sie  werden  nirht  nur  ein  gutes  GeschUft  machen, 
sondern  sich  auch  ein  unleugbares  Verdienst  um  di»;  Förderung  der  heiligen 
Sadie  der  Büdnng  md  des  Fortschrittes  erwerben. 

Bei  meinen  bisherigen  Betrachtongen  ilber  die  USglichkeit,  anf  dieLand- 
bevSlkemng  einen  erhebenden,  bildenden  Einfloss  ansznflben,  habe  ich  jenen 
bei  weitem  zahlreichsten  Tbeil  derselben  im  Auge  gehabt,  welcher  noch  nicht 
so  weit  vorgeschritten  ist,  um  aus  eigenem  Antriebe  nach  Bildungsmittelu  zu 
greifen,  oder  in  Folsje  seiner  Abgeschiedenheit  von  den  Bildungsstätten  überhauj-t 
nicht  in  der  Lage  ist.  dies  zu  thnn.  Ein  geringerer  Bruelitlieil  ist  jed-H-h 
schon  genügend  vorgebildet,  um  selVist  die  Wege  aufzusuchen,  die  zur  Bildung 
fuhren,  und  nach  jenen  Mitteln  zu  langen,  welche  zur  \'ervollkomiuuung  die- 
nen; derselbe  besteht  ans  den  Jftarktlem  (Bewohner  der  Provinzorte)  und  den 
reicheren,  von  vom  herein  gebildeteren  Banem,  wie  wir  sie  meistens  anf  dem 
Flachlande  antr^n,  wo  ein  regeres  Verkehrsleben,  bessere  Bewirtschaftung 
und  liiilieres  Erträgnis  des  Bodens  diese  günstigeren  Verhältui-sse  hervorge- 
rufen Iiaben.  Dem  Bildung8bedürfni8.se  dieser  Leute  kann  durch  die  Einridi- 
tniiir  der  VolksbiblfotlK'ken  Reebnnng  getragen  werden.  Man  ist  nun  auch 
alleiuhalbeii  mit  der  Aufstellung  derartiger  Bibliotheken  beschäftigt,  und  für 
die  Xiitzlirhkeit  deisellu  n  spricht  schon  der  Umstand,  di\ss  sie  von  elericalef 
Seite  als  „Gift  für  das  Volk"  bezeichnet  werden,  wobei  wol  an  kein  anderes 
Gift  gedadit  werden  kann,  als  an  dn  Gegengift  gegen  „Missionen*'  und  der^ 
gleichen  silsse  Tollkirschenlabungen,   welche   dem  Volke   mit  frommer 


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—   387  — 


Miene  dargereicht  wt  idt  n.    Dei-  (niinduiig'  von  V<>lksl)ibliotlu'ken  wird  aiu  li 
höheren  Ortes  einige  Aufmerksamkeit  gesclieukt;  so  hat  auch  heuer  der  nieder- 
üstorreicliische  Landtag  eine  kleine  Summe  für  diesen  Zweck  bewilligt,  und 
der  LandeBaoBBohius  liethdlt  ans  derselben  jene  Gemeinden,  welche  nm  Sab- 
ventionen  zor  Enrichtmi^  von  VollLsbibliotheken  ansochen.   Überdies  leihen 
Private,  Vereine,  ö/TenTliclip  Anstalten  (Sparcassen  n.  s.  w.)  solchen  ünter- 
nehmnngen  sehr  oft  in  lobenswerter  Weiwe  ihi-e  Unterstützung.   So  hat  sich 
namentlich  der  Reiclisrathsabgeordnete  Ritter  von  Schitnerer  für  die  Aufstellung 
von  Tolksbiblif»tlit'ken  im  Waldviertel  sehr  verdient  gemacht.   Ebenso  hat  der 
..coiistitutioiielle  Fi'rtschrittsvert'in  in  Krems"  in  dieser  Hinsicht  eine  sehr  an- 
erkeunensweite  Rührigkeit  entfaltet.   Derselbe  hat  in  den  Jahren  1873 — 1877 
Velksbibliotheken  aufgestellt  in:  Weissenkirchen,  PöggsUll,  Bninn  a.  Reh- 
berg, Eirchberg  a.  Wagram,  Lengenfeld,  Of5hl,  Plank,  Strass,  Furt,  Senften- 
berg,  Gr.'Weikersdorf;  Gedersdorf,  Wagram  a.  d.  Traisen,  Bossatz,  Stein  nnd 
Mlihldorf.  Für  die  Benützung  solcher  Volksbibliotlieken  ist  kein  Entgelt  zu 
entrichten,  auch  ist  kein  Einsatz  für  das  entliehene  Buch  zu  erlegen.  Die 
Bibliothek  ist  entweder  bei  einem  Lehrer,  ein»*m  Wirte  oder  bei  irgend  einer 
andrrn  Persimlichkeit  auffj:eijtellt,  die  der  Sache  g'enii^ende«  Interesse  entge;ü:en- 
brini^t,  um  einiire  Mühe  nicht  zu  scheuen.    Die  Bücher  können  entweder  jeder- 
zeit entlehnt  und  /ui  ückges teilt  werden,  oder  es  ist  ein  bestimmter  Bibliotheks« 
tag  festgesetst.  IndenWintennonaten  iirt  die  Frequenz  natOrlich  am  stärksten. 
Ist  der  B&cherwart  ein  Wirt»  so  erfirent  dchdieBibli<»thekgewöiinlich  einer  aus- 
giebigeren Beniltznng,  als  wenn  derselbe  ein  Lehrer  ist;  die  Erwachsenen  glauben 
sich  etwas  zu  vergeben,  vreoü  sie  noch  zu  dem  Lehrer  gehen,  und  überdies 
finden  sich  im  Wirtshause  ausser  den  literarischen  auch  noch  andere  Genüsse. 
Im  Gebirge  werden  Bibliotheken  fast  ausschliesslich   von  Marktleni  benützt; 
in  meiner  Genend  kenne  ich  zum  Beisjjiel  nur  einen  einzig-en  alten  IHauern- 
knecht.  der  .-ich  ans  der  Bibliothek  lüicher  entlehnt.  Sehnlkiiider.  nu'isttMitlieils 
Kinder  der  iUuktier,  nehmen  auch  selu"  eifrig  die  Bibliothek  in  Aiisijruch;  wo 
keine  besondere  SehQlerbibliothek  besteht,  ist  es  daher  geboten,  in  der  Auswahl  der 
Bftcher  auch  auf  diese  kleine  Kundschaft  Rficksicht  zu  nehmen.   Bein  land- 
wirtschaftliche Bücher  werden  im  allgemeinen  von  den  Bauern  nicht  mit  be- 
sonderer Vorliebe  gelesen;  sie  entlehnen  zuei*st  Werke  andeien  TnhaUes  (belle- 
tristische, ethnographische,  historische)  und  dann,  wenn  sie  einmal  am  Lesen 
Geschmack  finden  nnd  Zutranen  zu  den  Büchern  gewonnen  haben,  solche  aus 
deia  landwirtschaftlichen  Faclie.    Dies  i.st  sehr  h-iclit  erkliUiich.    Die  Bücher, 
«lenkt  sich  der  Bauer,  werden  drinnen  in  der  Stadt  gemacht  —  was  versteht 
denn  ein  Städter  von  der  Bauernwirtschaft!   Auf  papierene  Beweise  gibt  der 
Bauer  in  solchen  Dingen  ftberhaupt  nicht  viel,  da  will  er  sehen,  sich  selber 
tberzeugen.   Die  ÜbelstBnde  in  derBewirtsdmftung  des  Bodens  können  daher 
nv  durch  die  Errichtung  von  Musterwirtschaften  wirksam  bekfimpft 
werden.  Ethnogi  aphische  Bücher  werden  T<»rwiegend  von  Bauern  gelesen-,  be- 
sonders das  Land  jenseits  des  grossen  Wassers,  auf  welchem  in  g^rossen  iSchitten 
das  Unlieil  der  deutschen  Ackerbauer,  das  amerikanische  Getreide",  herüber- 
schwimmt, fesselt  ilir  Interesse.    Beliebt  sind  ausser  benetristis<hen  auch  bio- 
graphische, historische,  naturjüreschichtliclie  Werke.  DcrMarkth  r  liest  weniger 
ethnographische  Bücher;  Landwirtschaftliches  hat  lür  ihn  nutüriich  einen  sehi* 
geringen  Wert;  er  verlegt  sich  mehr  auf  die  Naturkunde  und  Belletristik. 


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—   388  — 


Was  die  belletn>stiisclieii  Schrifti  n  anbelangt,  kann  man  die  Bedbachtunji:  machen, 
dass  dio  Werke  GeistilcktM  's  sehr  gern  gelesen  \verden;  namentlich  unter  den 
Bauern  tiuden  sie  Anklang.  GeratUcker  bietet  eben  eine  Fülle  ethnographischer 
Belehntngefi  in  der  ansprechenden  Form  einer  Erzählung.  Classiker  werden 
nur  von  Uarktlem  gelesen.  Im  Ganzen  ondGroeaen  iBast  Bich  in  derAnswahl 
der  LectSre  erkennen,  dass  der.Baner  von  dem  Wunsche  geleitet  wird,  za 
lernen,  sich  weiter  za  bilden,  das  Versäumte  einzuholen;  der  Karktler  aber, 
der  von  Hans  ans  eine  etwas  sorg:fältigere  Erziehong  genossen  hat,  legt  anf 
Unterhaltung  einen  grösseren  Wert. 

Die  Erfahrungen,  welche  man  machen  kann,  indem  man  die  Benützung 
der  bestehenden  Bibliotheken  beobachtet,  müssen  bei  der  Einrichtung  von  neuen 
verwertet  werden.  Man  hat  sich  iaerbei  im  allgemeinen  an  jene  Cresiehtspunkte 
zn  halten,  welche  icli  Eingangs  entwickelte:  Bereicherung  der  Kenntnisse  neben 
dner  erhebenden,  veredelnden  Einwirknng  anf  das  Oemftt,  den  Charakter. 
Bein  landwirtschaftlichen  Fachschriften  soll  kein  allzagrosser  Banm  ges^Nuit 
werden.  Mir  liegt  unter  anderen  das  Bttcherverzeichnis  einer  Volksbibliotfaek 
vor,  welche  118  Bücher  umfasst.  darunter  40  landwirtschaftlichen  Inhalts; 
dieses  Verhältnis  ist  entschieden  ein  unrichtiges.  Ethnogaphische,  historische, 
naturgesohiciitliche  Bücher  müssen  in  richtiger  Würdigung  ihrer  Bedeutung  in 
jede  Volksbibliüthek  eingereiht  werden.  Die  Vorführung  edler  Charaktere 
der  Geschichte  wirkt  befeuernd  und  aneifemd;  an  den  Zuständen  und  Verhält- 
nissen fernerer  Zeiten  und  Länder  lernt  man  die  gegenwärtigen  im  eigenen 
Lande  benrtheilen,  nnd  wenn  der  Landmann  die  Nator  genauer  kennt,  wird  er 
ihr  freier  nnd  selbstbewnsster  gegenüber  stehen,  wodurch  der  beengende,  ver- 
dflsternde  Aberglauben,  der  erschlaffende  Pessimismus  am  ehesten  behoben  wirl 
Auf  belletristischem  Gebiete  lassen  sich  nur  allgemeine  Fingerzeige  geben, 
nach  welchen  bei  der  Wahl  der  Bücher  vorzugehen  ist.  Seichte  Fabrikate, 
phantastiscli  angelegte  Werke,  odei-  solche,  zu  deren  richtigem  Vei-stündnis  ein- 
gehende Ketiexionen  nöthig  sind:  solche,  die  eine  höhere  Bildung,  ausgebreite- 
teres  Wissen  voraussetzen,  übergehe  man.  Gediegenes  werde  gewilhlt  • —  was 
klärt,  versöhnt,  befriedigt.  Übrigens  verweise  ich  auf  das,  was  ich  über  die 
Kalendergeschichten  gesagt  habe;  hier  mOchte  ich  nur  noch  auf  zwei  Novellen 
aufmerksam  machen,  die  in  keiner  Volksbibliothek  fehlen  soUten:  Auerbach 
„Der  Lauterbacher'*  und  Zschokke  „Das  Goldmacherdorf'.  —  Was  endlich  das 
P.edüiihis  der  Kinder  an  solchen  Orten,  wo  keine  Schfilerbibliotheken  bestehen, 
betrifft,  so  kann  demselben  um  so  leichter  Rechnung  getragen  werden,  ab 
Schriften,  die  eigentlich  für  die  .Tugend  bestimmt  sind,  auch  von  den  erwach- 
senen Landleuten,  denen  ja  eine  naive  Autfassungsweise  eigen  ist,  mit  Nutzen 
und  ^'el•gnügen  gelesen  weiden  können.  Schriften  v«»n  F.  Hoffmann,  Louise 
Pichler,  Wildermuth  sind  für  diesen  Zweck  zu  emjjfehlen. 

Meine  Stimme  ist  schwach,  und  der  £uf  des  Einzelnen  verhallt  leicht  in 
unseren  buntbewegten  Tagen ;  allein  mir  kann  auch  ein  geringerer  Erfolg  Ge- 
nfige bieten,  und  selbst  wenn  es  mir  nur  gelungen  sein  sollte,  zum  Nac  hdeo- 
ken  anger^  zu  haben,  wie  dem  Bildungsbedfirfhisse  des  Volkes  durch  prak- 
tische Massregeln  nachzukommen  i.st,  will  ich  mich  zufrieden  geben.  So 
gehe  man  denn  endlich  daran,  das  Versäumte  nachzutragen.  Wissen  und  Bil- 
dung dort  zu  verbreiten,  wo  noch  öde  Leere  herrscht. 


V«nntwortKeber  Beda«tmur:  IL  Stein.     Bnehivwkw«!  Jnlla*  Kliiikh«rdt,  Leipiif. 


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Der  Pessimismus  und  die  ^ittenlelire.*) 

Von  Prof.  Dr,  Joh,  JBMmke^.'QaXUn, 

An  dem  Kntwickeluno-s-  und  Läuterungsprocesi?,  au  dein  wisseu- 
scliaftliclien  Schicksale  der  Sittenlehre  darf  der  Pädagoge  nicht  theil- 
nahmlos  vorbeigehen;  ^^ein  Interesse  daran  muss  sich  vielmehr  in  dem 
Masse  steigern,  in  welchem  dem  Pädagogen,  ich  meine  dem  Lehrer, 
seine  Erziehungsaufgabe  zu  klarerer  Erkenntnis  kommt  nnd  tiefer  em- 
pfondene  Pflicht  wird.  Ähnelt  die  Arbeit  der  Schule  in  ihrem  Ghuige 
einer  in  sich  zoriicklaiifenden  Linie,  so  ist  die  Schale  selbst  eine  Ellipse, 
deren  zwei  gleichwichtige  Brennpunkte  Wissen  nnd  Sittlichkeit  heissen; 
eben  deshalb  aber  gilt  das  Interesse  des  Pädagogen  nicht  einseitig  dem 
Fortsehritt  der  rem  theoretischen  Wissenschaften,  sondern  diesem  nnd 
zugleich  nicht  weniger  dem  Fortschritt  in  der  Sittenlehre.  Dass  aber 
in  dieser  letzteren,  d.  h.  in  der  theoretischen  Gnmdlegung  der  Sitt- 
lichkeit, ebenfalls  das  menschliche  Wissen  eine  Weiterentwickelung 
erlalire,  darf  nicht  bezweifelt  werden;  dieser  üfeschichtlichen  Ent- 
wickeliiniJ-  in  einer  bestinnnten  Kichtunu-  naclizujjehen  und  das  an- 
geblich Gewonnene  einer  «ri'i'ndliclien  und  möglichst  ruhigen  Prüfung 
zu  unterziehen,  dihfte  t'in  Vorhaben  sein,  welclies  sich  der  besonderen 
Theünabme  der  Jugenderzieher  zu  eiireuen  hat. 


Wie  manches  erscheint  dem  praktisch  sich  bethätigenden  Menschen 
als  sittlicher  Lebensgnmdsatz  so  ein&ch,  angemessen  und  gnt,  was 
dem  Theoretiker  ein  unbewiesener  Satz  bis  auf  lange  Zeit  geblieben 
ist,  nnd  worüber  vielleicht  sogar  die  widersprechendsten  ürthefle  in 
den  yersdiiedenen  Sittenlehren  zu  finden  sind;  nicht  zu  reden  von 
grundlegenden  G^egensfttzen,  in  denen  sich  oft  Sittenlehren  einander 


*)  Hiirmit  heginneu  wir  <lit»  [•uhlication  »-inor  AMiaiidlung,  die  wir  tr;ir/  ihres 
bedeutenden  Uinfunges  uiü^ereu  Lesern  vorkgeii  uud  ernster  WlmUgung  enii)telilen, 
weil  )de  eine  wichtige  Zeit-  und  Streitfrage  mit  musterhafter  GrttudUchkeit  be- 
handelt D.  H. 
Fadagogliuii.  4.  Jahig.  Befk  VIL  26 


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—  390  — 


gegc.iiiilx'rgestanden  sind.  Aber  trotz  solcher  Gegensätze  oder  vielleicht 
eben  in  Folge  derselben  ist  die  Wissenseutwickelung  auch,  was  die 
Sittenlehre  anlangt,  vorwärts  gekommen. 

In  Gegensätzen  bewegt  sich  ja  dwchweg  die  theoretische  Bahn 
des  menschlichen  Geistes;  denn  begrenzt  ist  das  Gesichtsfeld  des  ein- 
zelnen  Forschers,  nnd  nicht  yoll  nnd  ganz  tritt  auf  einmal  das  Object 
des  menschlichen  Ströhens  vor  das  Ange;  nnr  allmählich  gelangt  Stack 
um  Stück  ans  Tageslicht  der  Erkenntnis  und  sinken  hinwiederom 
Phantasieconstructionen  in  die  Nacht  dei*  Vergessenheit  zurück.  Aber 
immerhin  fügt  sich,  wenn  auch  nur  langsam  nnd  unter  grosser  Arbeit, 
ein  Stein  solider  Erkenntnis  an  den  andern  nnd  belohnt  die  nie 
rastende  Forschung  der  Menschheit  mit  sicherer  Gabe. 

Wer  jedoch  selbst  diese  ^\'ahrhei^  zu  bezweifeln  wagt,  für  den- 
jenigen muss  nicht  nui-  das  eigene  Streben,  sondern  auch  jede  Kriiik 
dessen,  was  andeie  ^lensclien  als  Resultat  ihres  Foi'schens  verkiniden. 
eine  Illusion  mid  eine  nutzlose  Arbeit  sein.  Mich  aber  lässt  die  UbiM- 
zeugung  von  dem  freilich  langsamen,  aber  doch  stetigen  Fortschreiten 
der  Erkenntnis  den  Math  gewinnen,  mit  einzustehen  in  die  Reihe 
derer,  welche  den  Versuch  maclien,  an  den  Antworten,  die  anf  eine 
grosse  Frage,  vor  allem  in  der  Neuzeit,  gegeben  sind,  eine  die  Er- 
kennUiis  föinlemde  Kritik  zu  üben  und  vielleicht  auch  einen  Schritt 
vorwärts  zu  machen. 

Die  grosse  Frage  ist  die  Sittenlehre. 

Die  Wissenschaft  kann  sich  begi'eiflicher  Weise  nicht  beruhigen 
mit  der  Annahme  einer  Sittenlehre,  welche  ihr  von  anderswoher  em- 
fach  angeboten  würde  und  deren  Princip  sie  nun  ohne  Kritik  zu  dem 

ihrigen  machen  sollte;  unter  ihren  Anspielen  selbst  vielmehr  will  sie 
die  Grundsteinleirung  vor  sich  »rehen  sehen.  Schon  mancherlei  Funda- 
mente sind  im  Laufe  der  Zeiten  von  der  AVissenschaft  gelegt  wurden, 
aber  immer  noch  ist  die  Sittenlehre  eine  irrosse  Frage  geblieV)en. 

Unter  den  Männern  des  lU.  .Tahi'liuuderts  nun  haben  an  der 
Lösung  derselben  sich  hervorrairend  versucht :  Arthur  Schopenhauer 
und  Eduard  von  Hartmann,  welche  Beide  nicht  nui*  durch  den  Geist, 
der  aus  ihi-en  Versuchen  spricht,  sondern  auch  durch  den  von  den 
Übrigen  durchaus  abweichenden  Weg,  anf  welchem  sie  bis  scum  Ziele 
gelangen  zu  können  meinen,  ein  sorgföltiges  Interesse  beanspruchen 
dürfen. 

Diese  beiden  Philosophen  sind  zugleich  der  heutigen  Zeit  bekannt 
als  die  Vertreter  jener  eigenthfimlichen  Beurtheilung  dei*  Welt  und 
des  menschlichen  Lebens,  welche  den  Namen  „Pessimismus''  trägt; 


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—   391  — 


und  man  liai  wul  (Tiund  anzunehmen,  dass  deren  pessiniij^tisclie  Be- 
urtheilimg  der  Welt  in  bestioimtem  logischen  Znsaminenliange  mit  der 
Constniction  ihrer  Sittenlehre  stehe.  Dem  Bewusstsein  unseres  christ- 
hchen  Europas  aber  erscheint  durchweg  eme  derartige  pessimistisclie 
Weltbeurtheilung  so  fremd  und  so  widersprechend  der  ganzen  Grund* 
läge  des  überlieferten  sittlichen  Bewosstseins,  dass  es  kaum  jemanden 
Wunder  nehmen  wird  zu  hören,  wie  von  allen  Seiten  die  Unmöglich- 
keit, mit  dem  Pesaimismns  eine  Sittenlehre  zn  vereinigen,  aufs  Leb- 
hafteste yerkfindet  worden  ist. 

Die  Bereitwilligkeit,  ttber  den  Pessimismus  und  eine  aus  ihm  und 
semer  metaphysischen  Grundlegung  heraus  entwickelte  Sittenlehre 
kurzer  Hand  den  Stab  211  brechen,  erhielt  ihre  Nahrung  von  ver- 
schie^lenen  Seiten  her.  Viele  schon  verletzte  die  ungewohnte  Art, 
Frairen  dieser  Gattung  zu  behandeln  und  die  delicatesten  Saclien  in 
uii_'-fnii'ter  Sprache  darzustellen.  Andere  widerte  das  (luälerisclie 
Markten  mit  Lust  und  Unlust  an,  das  ihnen  wie  eine  Zangengeburt 
der  Selbsttuusclaing  vorkam;  noch  andere  sahen  in  dem  Pessimismus 
nur  das  Selbstbekenntnis  eines  bankerotten  Charakters  oder  das 
raftinirte  Testament  eines  Blasirten;  und  vielleicht  die  m(  isten  ei*- 
achteten  den  Kampf  gegen  eine  solche  Lehre  überhaupt  für  einen 
heiUgen  ICiieg  zum  Schutze  und  zur  Erhaltung  ihrer  eigenen  Welt- 
anschauung. So  kam  es,  dass  manch  ein  ürtheü  im  Affect  gedacht 
und  auch  ausgesprochen  wurde,  welches  auf  Wahrnehmungen  beruhte, 
die  mit  getrübten  Augen  gewonnen  und  yon  der  Euträstung  mit  un- 
richtigem Begriff  versehen  worden  waren:  eine  unwahre  Auffassung 
des  Pessimismus  war  es  dann,  gegen  welche  man  den  Kampf  anhob. 

Zur  Bichtigstellnng  der  Sachlage  hat  das  Buch  von  A.  Tanbert: 
„Der  Pessimismus  und  seine  Gegner**  nun  wo!  das  Meiste  beigetragen, 
und  heutzutage  wird  in  der  wissenschaftlichen  Welt  kaum  Einer  nielir 
die  unter  den  Bildungsphilistern  allerdings  noch  umlaufenden  barocken 
L'rtheile  über  einen  Pessimismus,  wie  ilin  ^-esrhlossen  und  correct 
E.  V.  Hartmann  vertritt,  zu  den  seinigen  maclieu  wollen. 

Das  allmählich  somit  gewonnene  correcte  Bild  vom  Pessimismus 
hindert  aber  iu  keiner  Weise,  dennoch  die  Bedenken  gegen  eine  mit 
demselben  verbundene  Sittenlehre  in  gleicher  Stärke  laut  werden  zu 
lassen,  ohne  den  Vorwurf  der  rasch  fertigen  Absprecherei  auf  sich  zu 
laden;  und  wenn  diese  Bedenken  auch  keineswegs  in  den  Trumpf 
aasklingen  kOnnen,  eine  derartige  Sittenlehre  sei  unmöglich,  so  stützen 
sie  sich  doch  um  so  energischer  auf  die  Behauptung,  eine  pessimistische 
Sittenlehre  halte  die  wissenschaftliche  Kritik  nicht  ans. 

26* 


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•  •  • 

—   392  — 


Nach  (liest-)'  iiMciitunf^  liin  hat  sich  mm  heute,  wie  es  scheint,  die 
bis  in  die  (Ti-undvesteii  der  Weltanschauungen  sich  einwühlende  Pessi- 
mismus-('oiitroverse  gewandt,  so  dass  es  angezeigt  ist,  der  Streitfrage 
in  dieser  ihrer  neuesten  Gestalt  nachzugehen  and  zu  erforschen,  ol>> 
und  welchen  Zusammenhang  denn  der  Pessunismns  nnd  die  Sittenlelue 
überhaupt  haha  Man  wird  sofort  erkennen,  dass,  wenn  der  Gegen- 
stand der  Untersacbnng  in  dieser  Weise  formnlirt  ist,  unter  der 
„Sittenlehre^  nicht  eine  bestimmte  geschichtliche,  sondern  nnr  das 
Ideal  derselben,  welches  alle  wissenschaftlich  berechtigten  Forde- 
rangen in  sich  erfUlt  hat,  verstanden  sein  kann.  Denn  die  ganze 
Frage  hätte,  wenn  die  „Sittenlehre^  eine  bestimmte,  geschichtUdi 
gegebene  bedenten  sollte,  entweder  gar  keinen  Sinn  oder  keine 
wissenschaftliche,  principielle  Bedentnng;  nnd  zwar  erst  eres, 
wenn  die  „Sittenlehre"  nur  irgend  eine  möofliche  bezeichnete:  denn 
mehr  als  ein  Heispiel  gibt  uns  die  (Teschichte  seit  dt^n  Zeiten  des 
Brahmanismns.  dass  der  Pessimisnuis  in  Wirklichkeit  mit  einer  Sitten- 
lehre verbunden  war;  und  letzteres,  wenn  die  „Sittenlelirc"  die 
christliche  Sittenlelire  heissen  sollte:  denn  was  auch  immer  aui^  der 
Confrontation  derselben  mit  dem  Pessimismus  resaltiren  würde,  sei  es 
ein  Sieg,  sei  es  ein  Fiasco  des  Pessimismus,  so  wäre  damit  in  der 
Lösung  des  wissenschaftlichen  Problems  der  Sittenlehre  noch 
kein  Schritt  vorwärts  'gethan.  Dieses  Problem  ist  es  aber,  welches 
an  diesem  Orte  sein  Anrecht  anf  volles  Interesse  geltend  machen  wül 
nnd  wenn  es  etwa  anch  nnr  in  irgend  einem  Theile  gelGst  würde,  so- 
fiele  damit  wol  anch,  wie  za  hoffen  ist,  ein  volles  erhellwdes  Schlag- 
licht anf  die  wissenschaftliche  Wahrheit  der  christlichen  Sittenlehre. 

Es  wird  aber  für  die  Lösnng  der  Hauptfrage  dienlich  sein,  deo 
Pessimismus  zunächst  in  seinen  historischen  Erscheinungen  aufira- 
suchen  und  dieselben  vorncliiiilicli  darauf  hin  anzuseilen,  ob,  insolern 
sie  auch  eine  Sittenlehre  aufweisen,  diese  sich  widerspruchslos  mit 
dem  Pessimismus  vereinigt  und  auf  ihm  aufgebaut  ist.  Erst  an  diese 
historisch-kritische  Arbeit  soll  sich  dann  die  principielle  Untersuchung 
anschliessen,  und  <xanz  passend  bietet  sich  als  hervorragendes  Binde- 
glied beider  Theile  E.  v.  Hartmanns  neuestes  Werk:  „Phänomenologie 
des  sittlichen  Bewusstseins." 

Die  arische  Völkerfamilie  nimmt  für  sich  den  Kahm  in  Anspruch, 
pessimistische  Weltanscbanangen  am  schärften  ansgeprlgt  za  haben,, 
nnd  zwar  finden  sich  dieselben  in  jenen  zwei  Völkern,  die,  wenn  anch 
nicht  zn  gleicher  Zeit,  so  doch  aus  gleichem  Stammsitz  Mittelasiens, 
das  eine  nach  Süden,  das  andere  nach  Westen  answandemd,  Indien  nnd 


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—   393  — 

Europa  zu  ihren  Wohnsitzen  gewählt  haben.  Indogermanischer  Scharf- 
blick soll  es  nach  Schopenhauer  sein,  welcher  aliein  das  Wesen  der 
Welt  als  Übel  klar  und  rein  zu  erfiissen  vermöge,  und  welchei*  die 
Wahrheit  des  Pessimismiis  deshalb  dort,  wo  jener  ungetr&bt  und  ange- 
hemmt gewesen  sei,  nämlich  bei  den  Aija  Indiens,  von  Anfang  an  habe 
hervortreten  lassen,  während  diese  Walurheit  in  Europa  bei  den  stamm- 
verwandten Vdlkem  vor  allem  durch  Einfluss  des  semitischen  Geistes 
tns  ins  neunzehnte  Jahrhundert  nach  Christi  (Geburt  hintangehalten 
worden  sei. 

In  der  That  sieht  man  die  pessimistische  Beurtheihuig-  der  Welt 
schon  seit  dem  letzten  Jalirtauseiid  vor  Christi  Geburt  unter  dem 
Arjavolke  des  Gane:eslandes  den  lioden  tur  sich  allein  in  Anspruch 
nehmen,  währen<l  in  liiuropa  Schopenhauer  (1788 — 1860)  als  der  P>ste 
die  principielie  Betonung  des  Pessimismus  an  die  Hand  genommen  hat. 

Eigenthümlicher  Weise  zeigt  nun  der  indische  Pessimismus  mit 
seiner  an  ihn  sich  knüpfenden  Sittenlehre  selbst  in  der  äusseren 
■  Eutwickelung  die  Ähnlichkeit  mit  dem  europäischen  Pessimismus 
muera  Jahrhunderts,  dass  sowol  jener  wie  dieser  je  zwei  Ausgestaltungen 
sogt,  die  zeitlich  auf  einander  folgen  und  von  denen  die  zweite  hikben 
wie  drüben  aus  der  ersten,  freiUch  mit  selbsteigener  Kraft,  heraus- 
gewachsen ist;  die  beid^  .Formen  des  indischen  Pessimismus  treten 
uns  im  Brahmanismus  und  Buddhismus,  die  beiden  europäischen  in 
dem  philosophischen  System  Schopenhauers  und  demjenigen  E.  v.  Hart- 
manns  vor  Augen. 

Der  zeitliche  Zwischenraum,  welcher  zwischen  diesen  heiden  Paaren 
pessimistisclier  Weltanschauung  liec^t  und  die  damit  verbundene  grosse 
Verschiedenheit  der  äusseren  VerliäUnisse,  in  denen  sie  ins  Leben 
traten,  mau  schon  den  hinreichenden  Krkliirnnjifsgrund  liefern,  dass 
die  indische  Species  des  Pessimismus  das  Gemeiugut  eines  ganzen 
Volkes  war  und  im  religiösen  Gewände  auftrat,  während  die  euro- 
päische auf  einen  j^eringen  Bruchtheil  der  Gebildeten  Europas  sich 
beschränkt  sieht  und  als  philosophisches  Axiom  auftritt.  Dort  ist  das 
Oemdnwesen  in  seiner  Gesammtheit  und  insbesondere  die  gesammte 
Priesterschaft  Vertreter  der  pessimistischen  Anschauung,  hier  aber 
wnrd  diese  bis  jetzt  nur  von  einzelnen  Personen  getragen. 

Nichtsdestoweniger  ist  es  die  europäische  Spielart  des  Pessimismus, 
wdche  für  uns  in  Anbetracht  der  Theorie  und  der  Praxis  das  bei 
weitem  grössere  Interesse  in  Anspruch  nimmt,  weil  sie  sowol  im 
modernen  wissenschaftlichen  Kleide  auftritt,  als  auch  mit  unsem 
europäischen  Verhältnissen  des  socialen  Lebens  reciiuet.  Die  indische 


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1 


Art  wird  ein  eiireiitliclies  luterosse,  wenn  man  von  denijeninren  des 
Historikers  absieht,  niu*  insofern  erregen,  als  besonders  Schopenhauer 
anf  sie  Rücksicht  nimmt  und  sie  zum  Belege  herbeizieht  Den  weit- ' 
greifenden  inneren  Unterschied  aber  dieser  zwei  Formen  pessimistischer 
Weltanschaanng,  wie  sie  Indien  nnd  Europa  aufweisen,  werde  ich  im 
Verlauf  dieser  Untersuchung  zur  Darstellung  bringen. 

I.  Der  FessimismuB  und  die  Sittenlehre  in  Indien. 

A.  Im  Brahmanismus. 

,,Unter  dem  lachendsten  Himmel  inmitten  einer  üppig  blühenden 
Natnr  schlug  eine  trübe,  finstere,  mönchische  Anschauung  von  dt-r 
absoluten  Vcrderbtlicit  des  Fleisches,  von  dem  Elend  des  P^rdenlebens 
ihren  Tlirou  auf."  (Ouncker,  Geschichte  des  Alterthunis,  ITT.  419. 
4.  Auflage.)  Dieser  ßralimanismus  erklärte,  dass  die  Welt  voll  wäre 
von  Übeln,  das  Treben  eine  Kette  von  lieideii  und  die  Krde  ein  Jamin»*r- 
thal.  Wenn  nun  mit  dem  Wort  I^essimisnms  bezeichnet  werden  soll 
„die  Behauptung  von  der  Negativität  der  Lustbilance  in  der  Welt" 
(v.  Hartmann:  Geschichte  und  Begründung  des  Pessimismus,  s.  i\7\ 
so  lässt  sieh  nicht  bestreiten,  dass  der  Brahmanismus  zu  den  Ver- 
übtem des  Pessimismus  zu  zäMen  ist.  Indessen  nimmt  derselbe  doch 
gegenüber  den  drei  andern  Vertretern  eine  ganz  eigenartige  SteQimg' 
zu  dem  pessimistischen  Theorem  ein:  während  nämlich  die  übrigen 
drei  dasselbe  zu  ihrem  Ausgangspunkt  wählen,  nnd,  von  ihm  aus 
rückwärts  schauend,  eine  theoretische  B^*ündung  und  Erklärung  der 
„Thatsache"  des  Allübels  gewinnen  wollen,  sowie,  vorwärts  schauend, 
eine  Sittenleliie  auf  <lie.^e  Tliatsache  mit  Hilfe  der  gewonnenen  tht^)- 
retisclien  Unterlage  aui bauen,  ist  die  'i'liatsaclie,  welcliei"  der  brah- 
manische  Pessimismus  Ausdruck  gibt,  für  den  Hrahmanismus  erst 
vorhanden  in  Folüc  der  vorausgehenden  Lehre  vom  Bralimaii 
und  zum  Theil  wenigstens  auch  der  an  diese  letztere  sich  anschliessea- 
den  und  in  die  Praxis  schon  eingegangenen  Sittenlelirc  Mau  darf  hier 
nicht  einwenden,  dass  mit  dem  letzteren  in  Wirklichkeit  keine  l  >ifferenz 
angezeigt  sei,  indem  vom  Brahmanismus  nur  systematisch  dargestellt 
werde,  was  bei  den  übrigen  Drei  zunächst  empirisch  gewonnen  worden 
sei;  kennzeichnet  es  doch  gerade  den  Brahmanismus,  dass  er  mit 
seinen  theoretischen  Speculationen  fiber  das  Brahman  direct  um- 
gestaltend eingegriffen  hat  in  die  Auffassung  und  Beurtbeilung  der 
Welt  und  die  Gestaltung  des  socialen  Lebens  der  Inder.  Und  wenn 
es  auch  richtig  ist,  was  Doncker  (IIL  425)  sagt,  dass  nämlich  die 


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—   395  — 

Keli<^ion  der  Brahiiianeii,  welclie  das  Leben  der  Inder  t^inofreifender, 
als  kanm  eine  andere  Religion  «  in  anderes  Volk,  belierrsrht.  nicht 
•  dieses  Eri^ebnis  erreicht  hätte,  wenn  ihr  nicht  Sinn  und  Herz  des 
Volkes  auf  halbem  Wege  entgegengekommen  wäre:  so  war  es  doch 
in  keiner  Weise  etwa  ein  pessimistisch  geübtes  Bewasstsein  des 
Volkes,  welches  zu  diesem  Entgegenkommen  schon  veranlasst  hätte. 
Ein  solches  Bewosstsein  wurde  vielmehr  erst  lebendig,  nachdem  der 
Sieg  des  Brahman  Uber  den  Indra  vollzogen  nnd  damit  das  Geschick 
der  Inder  pessimistisch  entschieden  war.  Mit  der  brahmanischen  Brille 
anf  der  Nase  nnd  der  brahmanischen  Sittengeissel  anf  dem  Bücken 
konnte  dem  Inder  das  Theorem  des  Pessimismus  nicht  ausUdben  nnd 
mnsste  die  Thatsache  des  Jammerthals  ihm  von  jedem  neuen  Tage 
unentrinnbar  ad  homineni  demonstrirt  nnd  zum  Bewnsstsein  gebracht 
werden.  Um  midi  kurz  auszudrücken:  die  Jiraliinaiilelire  ist  nicht 
aus  dem  Pessimismus,  sondern  der  Pessimismus  der  ßrahmanen  ist 
aus  der  Hrahmaiilehre  «geboren. 

Für  die  Untersuchunii-.  in  welcliem  Zusanuueuluiugc  die  Sjttenlelire 
und  der  Pessimismus  im  Brahmanisnuis  stehen,  ist  diese  eigenthümliche 
Genesis  des  brahmanischen  Pessimismus  von  grosser  Bedeutung.  Bei 
der  Au&tellang  der  brahmanischen  Sittenlehre  ist  der  Pessimismus 
durchans  nicht  von  einem  norm-  nnd  directiongebenden  Einiiass:  dieser 
Umstand  muss,  um  nicht  eine  schiefe  Auffassung  herein  zu  lassen,  wie 
sich  bald  zeigen  wird,  mit  aller  Kraft  betont  werden. 

Die  brahmanische  Sittenlehre  forderte  „mit  Vernichtung  des  be- 
sonderen Seins  auch  das  Aufgeben  des  Sichempfindens,  des  Bewusst- 
seins  des  Selbst,  des  Ich,  um  in  die  Substanz  Brahman  einströmen  zu 
können;  so  wurde  die  Zerbrechung  des  Körpers  durch  eine  unbarm- 
herzige Askese,  die  Zerstömng  der  Seele  durch  Meditation  ohne 
Object  das  liöcliste  Gebot,  das  ctliisclic  I<leal  der  Inder,  so  wurde  die 
Hingebuni^  ihres  Naturells  zu  selbstvernichtender  Vei*seiikung  in  eine 
seelenlose  Weltseele"  ( Duncker  III.  -U9i.  Asketik  und  (^uietik  bil- 
deten also  den  Inhalt  dieser  Sittenlehre:  der  Zweck,  welchen  dieselbe 
•labei  ins  Au<rc.  «^etasst  hatte,  war  fiir  den  Kinzelnen  das  Aufgellen 
und  Eiiiswerden  mit  Brahman.  und  die  Veranlassung  zu  diesem  Motiv 
des  Brahraanenlebens  bildete  die  Thatsache  von  der  erkannten  Un- 
reinheit der  sinnlichen  Welt,  die  als  unreine  aber  eben  erst  entdeckt 
wurde  anf  Grund  der  durch  Specnlation  gewonnenen  Erkenntnis  vom 
unsinnlichen  und  unpersönlichen  Brahman. 

Als  unreine  wurde  nun  die  Welt  des  Brahmanen  zu  einem  Jammer- 
thal gemacht,  und  nicht  die  Thatsache  des  Leids,  sondern  die  der 


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Unreinheit  der  Welt  war  der  empirische  Untergrund  der  brahma- 
nischen  Sittenlehre.   Aus  dem  Dogma  von  der  Unreinheit  hatte 

sich  die  ganze  Breite  des  Cerenioniells,  der  Reinheits-  und  Speise- 
vorsoliriften  tut  wickelt  und  war  die  Etliik  der  Bralimanen  zui-  Aj>ketik 
und  (,>iiietik  geworden. 

Als  Gebot  des  Gottes  Biahinuii  wurde  diese  Sitteulelnv  vei- 
kiindet,  uud  uirirends  tiudet  nuui,  djiss  sie  irj^endwie  durcli  den  Hinweis 
auf  das  l.eid  der  Welt  noch  unterstützt  worden  wäre  und  dui'ch  das- 
selbe etwa  einen  menschlichen  Passirschein  zu  erhalten  gesucht  li;itt»\ 
Ist  es  doch  vielmehr  bekannt  genug,  dass  die  Brahmanen  nicht  das 
gegenwärtige,  sondern  vielmehr  nur  das  künftige  Leid  bei  Ein- 
führung ihrer  Sittenlehre  heranzogen,  und  zwar  in  dem  Sinne,  dass 
dieses  als  schreckhafte  Folge  der  Nichtbeachtung  der  Sittenlehre  vor 
Augen  gemalt  wurde  in  der  Seelenwanderung.  War  för  den 
Brahmanen  selbst  vielleicht  schon  die  specnlative  Erkenntnis  vom  Gott 
Brahman  der  bestimmende  Grund,  nm  diese  Welt  und  sich  sdbst 
schliesslich  verneinen  zu  wollen,  so  wurde  das  übrige  Volk  zur  Annahme 
der  Sittenlehre  durch  die  Furcht  vor  dem  künftigen  Leid  gebracht, 
nnd  mochte  auch  der  Quietik  des  Brahmanismns  ein  dem  Arjavolk  im 
Gangeslande  allmählich  eingebomer  quietistischer  Hang  entgegen- 
kommen, so  li(;ss  sich  die  Asketik  dem  ^'olke  doch  nur  durch  die 
Schre('ki)ilder  der  Seelenwanderung  aufzwingen. 

Das  künftige  Leid  hat  aber  als  solclies  nichts  /u  xlialten  mit 
dem  Pes.simismiis.  der  sich  auf  die  gegenwärtige  Welt  Itezieht,  uud 
wenn  es  den  Brahmanen  nnthwendig  erschien,  jenes  Leid  hereinzu- 
nehmen in  ilire  Predigt,  so  kann  dies  als  Beweis  dienen,  dass  wenig- 
stens beim  Aufkommen  des  Brahmanismns  das  Bewusstsein  des  ^'olkes 
nidit  vom  Pessimismus  erfiiilt  war,  da  nämlich  in  solchem  Fall  die 
Lehre  von  der  Unreinheit  der  Welt  und  die  Sittenlehre  von  der  Ver- 
neinung dieses  Lebens  direct  an  das  Bewusstsein  des  Volkes  vom 
Elend  dieses  Daseins  angeknüpft  hätte,  nm  den  aus  demselben  sich 
noth wendig  entwickehden  Trieb,  aus  diesem  Elend  sich  zu  befireien, 
als  subjecdve  Basis  zu  benutzen. 

Ist  nun  der  Pessimismus  im  Aijavolke  überhaupt  durchaus  nicht 
die  schon  vorgetundene  Basis,  auf  welcher  sich  das  brahmanisch-sittliche 
Leben  des  Einzelnen  erhob,  so  hat  derselbe  demnach  auch  nicht  die 
theoretische  Grundlage  für  die  von  den  Brahmanen  construirte 
Sittenlehre  gebildet.  Ich  habe  schon  oben  behaui)tet,  dass  die  brah- 
manische  Sittenlehre  als  Eiiüsuugszwt'i  k  die  Vernichtung  des  Brahman- 
widrigen,  das  ist  des  ^Siunlicheu,  zur  Grundlage  hat,  dass  ah>o  dieser 


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Rein igungsz weck  das  Treibende  des  brahmaniseli-sittliclieii  Stiebens 
L<t;  der  Brahmane  will  nicht  deshalb  aus  der  Welt  und  aus  seiner 
eigenen  Existenz  heraus  ins  Brahman  zurück,  weil  diese  Welt  und 
diese  seine  Existenz  nichts  als  Leid  bieten,  sondern  weil  sie 
brahman  widrig,  unrein  sind.  Wenn  nun  die  brahmanische  Sitten- 
lehre durch  die  Qualen  der  Asketik  und  die  Lehre  von  den  Büssungen 
in  einer  Reihe  von  künftigen  sinnlichen  Existenzformen  die  Seele  des 
Inders  mit  Leid  und  Schrecken  erftkllte,  wenn  die  Fein  nnd  die  Ent^ 
behnmgen  der  SlUmmigen  in  diesem  Leben  ihm  dieses  letztere  als 
eine  Kette  von  Leiden  zeigten,  so  wird  freflich  ein  jeder  den  daraus 
nothwendig  sieb  entwickelnden  Fessimismns  dieses  Inders  begreifen. 
Aber  es  wftre  doch  ein  fifttales  vtfTegov  ngoitgov,  das  sich  der- 
jenige zn  Schulden  kommen  liessot  welcher  behauptete,  dass  dieser 
Pessimismns,  welcher  auf  Grund  der  durch  die  Sittenlehre  der  Brah- 
manen  hervorgerufenen  socialen  Zustände  erst  gewonnen  war,  diese 
Sittenlehre  selbst  hervorgerufen  hätte. 

Es  ist  daher  falsch  gegritiVn,  wenn  Sclioitenhauer  zur  Bestätitiung 
Seines  ]^\^siniisnuis  auf  die  Brahniaueu  zurlkkgreitt  als  seine  angeb- 
lichen Bundesgriiossen:  denn  er  vergisst,  dass  gerade  die  Qualen  der 
Asketik  diesen  Indern  die  W  elt  erst  qualvoll  und  die  endlosi'U  Seelen- 
wanderungen mit  ihrem  endlosen  Gefolge  von  neuen  Qualen  die 
Existenz  erst  voll  Leid  machten.  Dieser  brahmanische  Pessimismus 
hatte  nicht  nur  eine  theoretischet  sondern  auch  eine  vom  Brahmanismus 
zuvor  geschaffene  praktische  Voraussetzung,  und  auf  ihn  könnte  sich 
der  Gegner  des  Schopenhauerschen  Pessimismus  mit  ebenso  gutem 
Grunde  berufen,  indem  er  behauptete,  dass  der  brahmanische  Pessi- 
mismus gleichsam  eine  künstliche  Frucht  des  auf  die  natOiliche 
Existenz  des  Volkes  und  des  Einzelnen  umgestaltend  wirkenden 
Brahmanismus  sei 

Gäbe  man  aber  auch  einmal  zu,  dass  wenigstens  der  Brahmane, 
der  Priester,  ancli  abgesehen  von  dem  selbstgeschaifenen  asketischen 
Leid,  die  Welt  für  ein  .lammerthal  erklärt  haben  könnte,  so  würde 
dieser  sein  Pessiniisnuis  sich  dennoch  nicht  decken  mit  denijeiiiiren  des 
Buddha  und  der  Europäer;  ich  möchte  jenen,  im  (legensatz  zu  diesem 
als  dem  unbedingten,  den  bedingten  Pessimismus  nennen,  und 
einen  solchen  sogar  dem  Brahnumismns.  insofern  er  eine  r<'ligir>st^ 
Weltanschauung  ist,  direct  zuschrei))en  als  eine  noth wendige  (  on- 
sequenz.  Wenn  der  Brahmanismus  nämlich  Gott  und  Welt  in  Wider- 
spruch stellte  als  Unendliches  und  Endliches,  so  dass  das  „in  Gott 
Sein"  das  „in  der  Welt  Sein'*,  und  umgekehrt,  ausschloss,  so  musste 


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der  Braliinain'  notliweiuliij:  diese  seiue  Existenz  in  dt!r  Welt  als  eine 
elende  erkennen;  denn  ilini  war  ja  das  ,.in  Gott  Stiir'  der  einzig 
mögliche  Seligkeitszustand.  Jeder  andere  Zustand  also  erscliien  damit 
eo  ipso  als  ein  elender  und  die  Welt  demnach,  welche  ihm  einen 
solchen  bereitete  und  ihn  durch  ihr  Dasein  an  dem  ,,in  Gott  Sein** 
hinderte,  als  em  .Tammerthal.  Was  daher  diese  ihm  bot,  konnte  ihn 
nicht  in  seinem  religiösen  Streben  fördern,  mnsste  ihm  als  ein  Hindernis 
zur  Seligkeit  und  in  Folge  dessen  als  eine  unaufhörlich  fliessende 
Quelle  des  Leids  erscheinen.  Diesen  Pessindsmos  aber  nenne  ich  einen 
bedingten,  bedingt  nämlich  dorch  den  religiös  bestimmten  Widei^ 
spmch  von  Gott  nnd  Welt,  welcher  demgemäss  zugleich  mit  der 
Streichung  dieser  religiösen  theoretischen  Toraussetzung  sich  auch 
gestrichen  sähe.*) 


*)  Ich  mache  liier  eine  im  weitereu  Simie  auch  zu  der  geäteiit^u  Auigabe  ge« 
hörige,  wichtige  Anmorkung.  Bdcanntlich  hat  Schopenhauer  nichts  ao  sehr  am 
Christenthum  zu  rttbmen  f  ewusst  als  dessen  Pessinusmus;  es  ist  ihm  hierbei  ergangen 
wie  bei  dem  Brahmanismns,  denn  er  hat  auch  im  Chiistenthum  nur  einen  Termeint- 

liehen  Bandesgenossen  gefanden.  Schon  der  Brahmane  eridtrt  nicht,  das^s  I'  i  Mensch 
überhaupt  kein  fröhliches  Da.«eiii  auf  der  Welt  führen  könne,  ^londem  er  Ijt  liatipttrt 
nur,  das.s  die  Wt^It  vom  Standpunkt  eine-  Aiili;in«jers  des  BraliniMiiismus  v'\n  Jammer- 
tlial  Hci.  Als  i)iaktisc!ii'r  Beles,''  tVir  tlirst-n  lieding'ten  I'e.^<iuiisiiius  kann  /uirleich 
dieueu  jener  Wechsel  von  Askese  und  Genusj«,  der  das  Leben 'dieser  luder  keim, 
zeichnet,  die  Thatsache  also,  sie  sich  für  die  l'ein  der  SQhnungen  und  die 
Qualen  dar  Aslcese  im  ttppigen  Genuss  entscbidigten.  Wenn  nun  anderseits  das 
Mstorische  Ghristenthum  von  dm  elenden  Dasein  nnd  dem  Jammerthal  der  Welt 
weiss,  so  ist  auch  dieses  pessimistische  Bewnsstsein  gegründet  auf  dem  Widerspruch 
▼on  Gott  und  Welt  und  aus  diesem  entsprungen.  Ein  solches  wird  stets  da  aaf- 
treten.  wo  immer  eine  Religion  auf  dem  Widerspruch  von  Gott  und  Welt,  mag  der- 
selbe nun  grobsinnlich  oder  geistig-sittlich  gedacht  sein,  siili  erhebt.  Als  religiöser 
strebt  der  Mensch  zu  Gott,  er  will  bei  (Jott  sein,  daher  wird  ihm  die  im  Wi-it-r- 
spruch  zu  Gott  stehende  Welt  eiu  L'bel  und  sein  eigenes  Dasein  in  derselben  eine 
Quelle  des  Leids  und  der  Trttbsal  sem.  Unter  diesem  religiSsen  Gesichtspunkt  be- 
trachtet auch  das  historische  Christenthnm  allein  die  Weit  nnd  das  mensofaliche 
irdische  Dasem  als  eüi  Elend.  Es  wird  keineswegs  von  ihm  erkürt:  „In  itat  Welt 
hat  ftberhaupt  der  Mensch  Leid."  somb  rn:  „In  der  „Welt"  habt  ihr  (Christen) 
Leid";  der  Christ  leugnet  nicht  die  Freuden  dieser  Welt  Überhaupt,  sondern  nur  fUr 
die  Chris  teil;  die  Christen  werden  leiden  und  wcrdtii  in  der  ..Welt-  nur  Trübsal 
haben,  d»  nn  als  Kindt  c  Gottes  sind  si»'  nichr  von  der  ^W'elf  und  isr  die-^e  ihnen 
ein  Fremdes  und  Feindseliges.  Dieser  bedingte  Pessimismus  darf  in  keiner 
Weise  zusammengeworfen  werden  mit  dem  uubediugteu  eines  Schopenhauer  und 
T.  Hartmann,  und  hier  wäre  das  Wort  am  Platze:  si  dno  dicnnt  {dem,  non  est  idem. 
Die  beiden  genannten  Philosophen  ziehen  idlerdings  mit  Vorliebe  die  vermeintliche 
Verwandtschaft  mit  dem  historischen  Christenthum  an.  Vom  bedingten  Pessimismus 
zum  unbedingten  ist  nicht  nur,  wie  vielleicht  jene  Mfinner  meinen,  ein  Schritt,  sondm 


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Obwol  nun  der  bedingte  Pessimismus,  wie  ihn  der  Brahmanismus 
zeigt,  in  der  Speculadon  der  Brahmanen  recht  wol  der  Aufstellung  der 
Sittenlehre  hätte  voransgehen  und  demgemäss  von  bestimmendem  Ein- 
fliiss  auf  die  letztere  hätte  sein  kOnnen,  so  lässt  sich  doch  meines 
Erachtens  aus  der  brahmanischen  Sittenlehre  selbst  nachweisen,  dass 
dieser  Einflass  nicht  stattgefunden  habe.  Die  Ethik  der  Brahmanen 
ist  Asketik,  und  weil  sie  dieses  ist,  kann  der  Pessimismus 
ihre  Grundlage  nicht  sein;  diese  Behauptung  mag  paradox  klingen, 
da  man  Pessimismus  und  Asket&  fast  als  Zwillungspaar  anzusehen 
gewohnt  ist. 

Asketik  ist  diejenige  Sittenlelire,  welche  an  den  Mensehen  die 
Forderung  stellt,  sich  körperliclie  Schmerzen  und  (^uahn  zu  bereiten; 
der  Pessimismus  ist  die  [Behauptung  von  der  Negativität  der  Lustbihiuce 
in  der  Welt.  Wird  nun  je  auf  Grund  des  Pessimismus  von  einem 
Menschen  Askese  gefordert  werden  können?  Jcli  behaupte:  Xieniiils! 
Die  „Tliatsache"',  welclie  im  Pessimismus  nusLn'sprochen  ist,  ist  freilich 
dazu  angethan,  den  Menschen  zum  Handeln  zu  veranlassen,  aber  immer- 
hin, das  liegt  auf  der  Hand,  allein  zu  solchem  Handeln,  welches  die 
erfahrene  Negativität  der  Lustbllance  nicht  vermehrt,  sondern 
im  schlimmsten  Falle  gleich  erhält,  im  besseren  Falle  vermindert; 
der  Pessimismus  als  solcher  wird  also  nicht  auf  Mittel  sinnen,  durch 
welche  sich  die  Fein  des  Daseins  vermehren  würde. 

Man  wird  nun  vielleicht  zugehen,  dass  dies,  auf  den  nicht  weiter 
refiectirenden  Pessimisten  angewandt,  seine  volle  Richtigkeit  habe, 
jedoch  dabei  bemerken,  dass  der  reflectbende  Pessimist  doch  gar  wol 
zur  Adcese  seine  Zuflucht  nehmen  könne;  indem  der  letztere  nämlich 
etwa  die  eigentliche  Quelle  seines  Elends  in  seiner  eigenen  Sinn- 
lichkeit entdeckt  habe,  werde  €^  naturgemäss  diese  Quelle  zu  ver- 


eine unaii8tVillit:ire  Kluft  delint  sich  /wischen  ilmt  ii  aus.  ilan  könnte  liier  freilich 
eUiwendeu:  der  Pe.s.sin)ismuä  ist  ein  theoretischer  Satz  und  desfien  Wahrheit  ist  eiu 
und  dieselbe,  mag  nmi  der  eine  auf  diesem,  der  andere  auf  jenem  Wege  ihn  ge- 
Amden  haboi,  nnd  demnach  sind  der  christliche  nnd  der  schopenhaaoische  Peasi- 
ninnns  verwandt,  ja  ein  und  derselbe.  Diesem  ist  aber  eben  mit  Omnd  entgegen- 
zuhalten,  dass  der  Pessimismus,  obwol  er  eine  Behauptung,  also  ein  theoretischer 
Satz  ist.  dennoch  gegenüber  den  sonstiy^en  theoretischen  Sätzen  die  Eigenthiuulic  likeit 
zei^t,  dass  er  ein  Wertschüt/ungsurtheil  i.st,  das,s  also  sein  eitrentlicher  Inhalt 
erst  er*a,-st  \vtrr<len  kann,  wenn  man  zuj^leich  den  Massstab  weiss,  nach  welchem 
das  Urtheil  abgemessen  ist,  und  indem  mau  .sich  nun  dieses  Massslabes  erinnert,  wird 
sofort  die  totale  Differenz  zwischen  christlichem  und  schopenhauerischem 
Pessimismus,  trotzdem  sie  in  ihrer  kurzen  Wortfusung  gleich  lauten,  in  die  Augen 
s|ringen:  in  jenem  beisst  der  Hassstab  Gott,  in  diesem  aber  Individnalwille. 


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nicliten  streben.  Ich  c:ebe  letzteres  zu.  fii<re  aber  bei.  dass  ein  ."^olclier 
Pessimist,  nachdem  er  einmal  so  viel  Verstand  in  dei*  Entdeckung  der 
Elendsquelle  bewiesen  hat,  doch  nicht  so  durchaus  unverständig  sein 
wird  zu  glauben,  dass  er  seine  Sinnlichkeit  am  besten,  wenn  er 
dies  überhaupt  fiir  möglich  hält,  auf  dem  Wege  der  Asketik  vernichte. 
Der  erste  Yersach  schon  müsste  ihn  yon  solchem  Irrthnm  zurück- 
bringen: Hanger  z.  B.  ist  eine  Qual;  unser  Pessimist  1^  sich  nan  die 
Askese  eines  dreitägigen  Hungers  auf;  die  Negativität  der  Lustbüanoe 
vermindert  sich  nicht,  sondern  sie  vermehrt  sich  in  dieser  Zeit,  und 
nachdem  er  dann  zu  ifasten  au^sfehOrt  hat»  ist  seine  Sinnlichkeit  nicht 
geschwächt,  wenn  er  nur  erst  wieder  ordentlich  gegessen  hat  Er 
sieht  also  ein,  dass  diese  dreitägige  Askese  ihn  nicht  dem  Ziele  näher 
gebracht  hat,  dass  er  es  aber  vielleicht  hätte  erreichen  könnon,  wenn 
er  bis  zum  Hungertode  mit  Fasten  fortgefahren  liiitte.  3fit  dieser 
Überle^ng  erst  wäre  er  dann  wieder  zu  Verstand  gekommen,  indem 
er  nun  einsieht,  dass  die  Askese  ihn,  anstatt  aus  der  Sinnlichkeit 
herauszuheben.  JtMleM  Augenblick  in  verschärfter  \\'eise  an  dieselbe 
maline  und  zu  den  gewöhnlichen  noch  aussergewühnliclie  (Qualen  füge, 
dass  hingegen  das  einzige  Mittel,  seinen  Zweck,  Befreiung  von  seiner 
Sinnlichkeit,  zu  erreichen,  der  Selbstmord  sei.  Er  würde  uunmelu* 
jeden  bemitleiden,  welcher,  einerlei  theoretischer  Meinung  mit  ihm,  in 
unverständiger  Verirrung  die  Askese  als  Mittel,  um  die  Sinnlichkeit 
und  damit  die  Lebensqnal  zu  vernichten,  wählte. 

Der  Askese  liegt  ein  Streben  zu  Grunde,  das  vielleicht  mit  dem- 
jenigen, welches  aus  dem  Pessimismus  entspringt,  einige  äussere  Ähn- 
lichkeit zeigt)  aber  inhaltlich  von  demselben  durchaus  sich  unterscheidet, 
da  es  einen  positiven  Zustand  des  Individuums  bezweckt  Es  ist 
das  Streben,  vom  „Weltlichen**,  Sinnlichen  frei,  d.  h.  bei  Gott  zu 
sein,  oder  mit  anderen  Worten,  schon  in  diesem  Leben  die  Sinnlich- 
keit als  den  gottwidrigen  Theil  des  Menschen  zu  überwinden  und 
sich  über  dieselbe  zu  erheben.  Hieraus  resultirt  dann  begreiflicher- 
weise, dass  der  ^Mensch  gleichsam  sicli  selbst  herausfordert,  die  von 
Gott  verliehene  Kraft  an  seiner  eigenen  Sinnliclikeit  eiprobt  und  in 
der  freiwilligen  l'bernaliine  körperlicher  Leiden  eine  Virtuosität  aus- 
bildet, die  ihn  als  leidenden  und  docli  über  die  Leiden,  also  auch  über 
die  gott  widrige  Sinnlichkeit,  sich  erhebenden  Menschen  darstellt.  Er- 
haben zu  sein  über  die  Lebenstinal  während  des  Lebens:  darin  soll 
die  Askese  üben,  und  dies  ist  ihr  einziger  Zweck;  in  ihr  soU  der 
Mensch  der  Sinnlichkeit  absterben,  d.  b.  über  sie  sich  positiv  er- 
heben, aber  keineswegs  selber  aus  dem  irdischen  Leben  scheiden, 
d.  h.  sterben. 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


—  401  — 

Daraus  ^celit,  wie  mir  sclieint,  mit  voller  Evidenz  hervor,  dass 
Askese  niemals  aus  dem  Pessimismus  als  solchem  herauswachsen  kann. 
Das  Streben  des  Asketen  und  dasjenige  des  Pessimisten  begegnen  sich 
allerdings  in  dem  Object,  um  das  es  sich  handelt,  nämlicli  in  der  Sinn- 
lichkeit; jener  will  ihr  absterben,  dieser  mit  ihr  zugleich  sich 
sterben  lassen.  Diesen  gnmdsätzlichen  Unterschied  bestätigt  die 
Tbatsache,  dass  ein  Asket,  so  viel  er  auch  reden  mag  in  zweideutigen 
Ausdrücken,  wie  «das  Fleisch  tOdten^  oder  „den  Körper  kreuzigen**, 
niemals  als  solcher  den  Selbstmord  in  seine  Aufgaben  hineinnehmen 
wud,  den  Selbstmord,  welcher  vom  blossen  Standpnnkt  des  empirischen 
Pessimismiis  ans  das  einzige  verständige  Badicahnittel  genannt 
werden  mnss. 

Diese  zwei  Extreme  berühren  sich  aber  doch,  und  zwar  nicht  nur 
in  dem  iSinne,  dass  sie  beide  das  Freisein  vom  Sinnlichen  zum 
Ziele  haben,  sondern  auch  in  der  Bezielning,  dass  der  ^fensch  leicht 
vnn  der  Askese  zum  Selbstmord  überzusehen  i^eneigt  ist.  Vom  Hun- 
g^riiwollen  zum  Verhungernwollen  ist  kvin  grosser  Schritt; ,  das 
erstere  ist  asketisch,  das  letztere  pessimistisch.*) 

Die  Forderung  der  Askese  also  auf  der  einen  Seite,  und  die 
Abweisung  des  Selbstmordes  auf  der  andern  Seite;  beides  und  schon 
jedes  für  sich  bildet  einen  durchaus  sichern  Beleg  dafür,  dass  die 
Sittenlehre  des  firahmanismus  keineswegs  ans  dem  Pessi- 
mismus desselben  herausgewachsen  ist  und  daher  auch  durch- 
aus nicht  in  demselben  sich  gründet  Die  Asketik  mit  ihrem 
Wunsche,  den  KOrper  zerbrochen  zu  sehen,  entsprang  ja  aus  der  „Er- 
kenntnis*' von  der  UngOttlichkeit  des  Sinnlichen  und  der  damit 
gegebenen  Unreinheit  desselben,  nicht  aber  ans  dem  Bewusstsem,  dass 
das  sinnliche  Dasein  eine  Kette  von  Leiden  sei. 

Wenngleich  nun  weder  beim  Brahmanismus,  noch  überhaupt  je, 
Pessimismus  und  Asketik  in  dem  Verhältnis  von  Grund  und  Folge 
zu  einander  stehen  und  stehen  können,  so  liegt  doch  nichts  vor,  was 

*  Zur  P'rläuterung  iuotiut  Hehatiptuucr.  «'•V"'"^  l\>ii"ze  Sittenlchrf.  welche  aus 
«iera  enntirischen  Pess imisinus  allein  herausgebildet  vvi\r<le.  lauten  iiiUsste:  ..iMi 
foilsi  <li('h  inordcn,"  hemerke  ich,  um  einem  3Ii.ssver.stän<lui.s  vorziilietiiren.  hier  UfH'h 
aasdrückhch ,  dass  diese  meine  Jkhauptunjj  nicht  so  zu  verstehen  ist,  als  ob  jede 
Weltanschauimg,  welche  den  Pessunismns,  das  ist:  die  Behauptung  von  der  Nega- 
tivitftt  der  Lnstbilance  in  der  .Welt,  ugendvie  vertritt,  in  ihrer  Sittenlehre 
den  Selbstmord  fordern  mOsste,  sondern  daas  ich  nur  behaupte:  deijenige,  welcher 
sein  Handeln  allein  na<  Ii  d-  m  empirischen  Pessimismus,  also  allein  nach  der 
empirischen  „ThaUmche'S  einrichtet,  wird,  als  verständiger  ICensch,  sich  tOdten  wollen. 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


sie  hinderte,  in  einer  Weltanschaiinnur  widerspruchslos  neben 
einander  aufzutreten.  T>er  asketisclie  IJralnnan*'  mit  seinem  Pessi- 
niisnuis  mag"  dafür  als  J^eispiel  dienen  und  zufrleicli  in  sicli  die  W  ahr- 
heit  darstellen,  wie  leicht  der  pessimistische  Asket  zum  asketischen 
Pessimisten  wird,  d.  h.  wie  leicht  die  in  den  Dienst  Brahmans  gestellt  ,* 
Askese  in  den  Dienst  des  leidenden  Individualwillens  übertritt  and 
aus  dem  der  „Sinnlichkeit  Absterben"  ein  „mit  der  Sinnlichkeit  zu- 
gleich sich  selbst  Tödten**  wird. 

Das  neben  dem  praktischen  Grundsatz  der  Askese  herlaofende 
theoretische  Wissen  von  dem  Jammerthal  konnte  nun,  wie  ersichtlich 
'  ist,  unter  den  Anhftng;em  des  Brahmanismns  in  zweierlei  Art  anf- 
kommen,  nnd  man  darf  wol  zwischen  einem  dogmatischen  und  einem 
empirischen  Pessimismus  der  brahmanischen  Inder  unterscheiden. 
^Jener,  den  ich  oben  den  bedingten  Pessimismus  nannte,  reichte  mit 
seiner  Wurzel  in  das  Dogma  des  Wesensgegensatzes  von  Gott  und 
Welt  hinein,  er  war  der  nothwendige  Schlusssiitz  aus  den  P^rämisseu. 
dass  ausser  Gott  kein  Heil  nnd  dass  das  weltliche  Dasein  ausser 
Gott  sei.  Mit  diesem  Pessimismus  verbunden,  oder  auch,  was  w<>l 
ausserhalb  der  ei^rentlic  heu  Bi-ahmanenkaste  die  Ecgel  s<  in  mochte, 
allein  fiir  sich  trat  der  emi)irisc]ie  Pessimismus  auf,  welciier  aus  der 
Erfahrnuir  von  (h-n  vor  allem  durch  die  brahmanische  Asketik  geschaf- 
fenen Zuständen  hervorging.  Je  energischer  dieser  letztere  sich  dem 
Bewusstsein  des  Inders  aufdrängte,  desto  bestimmter  musste  von  den 
Brahmanen  auf  das  Brahman,  auf  die  Unreinheit  der  Welt  und  besonders 
die  Leidfolgen  des  Ungehorsams  gegen  die  vom  Braliman  bestellte 
Sittenlehre  hingewiesen  werden,  damit  dem  ausser  der  mystischen 
Specuiation  stehenden  gemeinen  Inder,  welcher  nur  vom  empirischen 
Pessimismus  erfüllt  war,  nicht  die  Askese  in  den  Selbstmord 
umschlüge.  Wie  stark  aber  der  Hang  zu  einem  solchen  Umschlagen 
ist,  zeigt  der  Brahmanismns  selbst  in  jenen  freiwilligen  Sdbstmorden, 
sei  es  nnter  den  Rädern  des  heiligen  Wagens,  sei  es  in  dem  Bachen 
der  gottgeweihten  Flussnngehener;  unwiderstehlich  sieht  er  sich  zu 
solclien  praktischen  Ersclieinnngen  fort  geschoben,  in  welchen  die  Fäden 
asketischer  und  iicssimistischei-  Motive  kraus  durcliciuander  laufen. 

Um  nun  in  einem  Satze  das  Kesultat  dieser  l'ntersu<-lnuii:  ülit-r 
den  Brahmanismus  anzuueben.  so  ist  zu  .sagen:  Der  l'rssiniisuuis 
(auch  der  iloguiatischei  steht  hier  nicht  in  solchem  inneini  Zusam- 
menlianire  mit  der Sittenhdire  des  Brahmanismus,  dass  jener  als  (Trund 
und  diese  als  seine  Folge  anzusehen  wäre;  sie  gehen  aber  wider- 
sprucli&ios  nebeneinander  her,  und  wenn  zwischen  ihnen  ein  Verhältnis 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


—   403  — 


von  Grund  nnd  Folge  doch  ent4eckt  werden  will,  so  ist  die  Sitten- 
lehi'e  vielraelir  als  der  Grund  des  empirischen  Pessimismus  jener  Inder 
anzoselieii,  insofern  eben  der  letztere  auf  Grand  der  durch  die  befolgte 
Sittenlehre  gemfenen  realen  VerhAltnisBe  sich  einstellen  mnsste.  Unter 
allen  Umstanden  aber  ist  hier  der  Pessimismus  ohne  bestimmenden 
Einflnss  anf  die  Gestaltung  der  brahmanischen  Sittenlehre  geblieben 
Dass  dies  uneingeschränkt  wahr  ist,  liesse  sich  evident  durch  die  Probe 
bestätigen,  dass  man  anstatt  des  Pessimismus  die  Ansicht  von  der 
Positiyitftt  der  Lnstbilanee  in  der  Welt  einschöbe  In  doi  Brah- 
manismus;  weil  man  doch  dann  erkennen  würde,  dass  die  brahmanische 
Sittenlehre,  also  die  Asketik.  von  dieser  Veränderung  ganz  iinbe- 
eiiiflusst  bliel)e,  sofeni  nur  nicht  etwa  auch  das  Dogma  von  der 
Unreinheit  der  Welt  dem  Dogma  von  ihrer  Reinheit  Platz 
gemacht  hätte. 

(Fortsetzung  Iblgt.) 


Üiyilizco  by  v^üOgle 


! 

I 


Ans  den  Sclmlleben  der  Schweiz. 

Van  U,  Morf-  WinUrihur. 

Die  Schul  Verhältnisse  der  Schweiz  bieten  in  mancher  Be- 
ziehung so  viel  EigenUiümliches,  dass  ein  detaillirtes  Bild  derselben 
ans  einem  der  25  Kantone  und  Halbkantone  den  Lesern  des  Pädar 
gogiums  nicht  nn\nllkommen  sein  dürfte.  Ich  wähle  zn  diesem  Zwecke 
den  Kanton  Zftrich. 

I. 

Derselbe  zälilt  ca.  317000  Einwohner,  also  ungefähr  soviel  wie 
das  Herzogthum  Sachsen- Weimar.  Die  Staatsgewalt  beruht  alh  in  aui 
der  (xesammtheit  dos  Volkes.  Dieses  ist  der  absolute  Souverän,  bei 
ilim  ruht  die  ^lajestät  Alle  Bürger  sind  vor  dem  Gesetze  deioh  uml 
geuiessen  dieselben  staatsbürgerliclieu  Hechte.  Jeder  hmdesaugt-liriricre 
mänulielie  ]  juwuhner  von  20  Jaluen  ist  stimmberechtigt  und  zu  alleu 
Ämtern  \välil1)ar. 

Das  Volk  übt  nun  seine  Souveränität  theils  unmittelbar  durch 
die  Stinmiberecbtigten  aus,  theils  mittelbar  durch  seine  Behörden  und 
Beamten,  denen  es  das  Mandat  dazu  überträgt.  Die  Amtsdauor  dfT 
Gerichtsbehörden  beträgt  6  Jahre,  aller  übrigen  Behörden  3  Jahre. 
Nach  Ablauf  dieser  Frist  findet  fOr  alle  Behörden  GesammtemeneroBg 
statt  Deijenige,  in  dessen  Händen  das  Volk  seine  Interessen  am 
sichersten  geschätzt  glaubt,  wird  wieder  gewählt,  wer  sein  Zntranen 
verscherzt  hat,  wird  ersetzt  Der  also  Entlassene  tritt  wieder  in  den 
Privatstand  znrflck,  ohne  irgend  welche  Ansprüche  erheben  zu  können. 
Der  gesetzgebende  Rath  heisst  Kantonsrath.  Behnfe  seiner  Er- 
nennung wird  der  Kanton  in  Wahlkreise  abgetheilt;  auf  1200  Seelen 
wird  je  ein  Mitglied  gewählt.  Kr  zälilt  also  gegenwärtig  über  200 
Mitglieder.  Er  versammelt  sich  jährlich  4  ^lal  auf  je  3 — 4  Tage, 
je  nach  iiedürtuis.  Die  Mitglieder  beziehen  ein  massiges  Tagegeld  und 
eine  angemessene  IJeiseentschädigung. 

Die  oberste  Adiniuisti-ativbehörde,  der  Kegieruugsratb.  zahlt 
7  Mitglieder,  tür  deren  Krwälilung  der  ganze  Kanton  nur  einen 
Wahlkreis  bildet 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


—  405  — 


IMe  ^litfrlieder  der  liörlisten  richteiiicheu  Instanz,  des  Oberge- 
rich res,  wählt  der  Kaiitonsrath. 

Der  Kanton  ist  in  elf  Verwaltungs-  und  Gerichtsbezirke 
abgetheilt.  Die  Mitgliedei*  der  i^ezirksgerichte  werden  wie  alle  anderen 
Behörden  unmittelbar  vom  Volke  gewählt.  Die  Gemeinden  sind  in 
ihren  Yerwaltimgen  und  in  der  Bestellung  ihrer  Behörden  —  inner- 
halb der  Schranken  der  Gesetze  —  vOllig  autonom  und  selbstherrlich. 

Alle  G^tze,  die  der  Kantonsrath  entwirft  und  redactionell  fest- 
stellt, hetreffen  sie  das  Finanz- ,  das  Gerichts-,  das  Schulwesen  oder 
urgend  eine  andere  Materie,  müssen  dem  Volke  zur  Annahme  oder 
Verwerfung  vorgelegt  werden.  Sie  treten  erst  in  Kraft,  wenn  dieser 
Souverftn  sie  gutgeheissen  hat.  Jeder  einzelne  Stfanmberechtigte  kann 
überdies  den  Erlass  eines  neuen  oder  die  Abänderung  und  Beseitig^un^ 
eines  bestehenden  Gesetzes  bewirken.  Wenn  dieser  Initiant  von  einem 
Drittheil  der  Mitoflieder  des  Kantonsrathes  oder  von  bO(M)  Stiininl)e- 
rechtigen  unterstützt  wird,  so  ist  der  Volksentsclieid  über  den  frag- 
lichen Vorschlag  anzurufen.  Diese  Volksinitiative  bewährt  sich  als 
ein  rechter  Edelstein  im  zürcherischen  Staatsor^anismus;  sie  ist  das 
beste  Sicherheitsventil  gegen  jeden  Putsch  und  Umsturz. 

Steuern  und  Abgaben  können  nur  insoweit  erhoben  werden,  als 
das  Volk  sie  bewilligt  und  sich  selber  auflegt.  Es  ist  darin  weder 
karg  noch  ängstlich.  Es  gewährt  reichlich,  was  die  Wolfahrt  des 
Landes  erheischt.  Alle  Ausgaben*  geschehen  zum  Nutzen  und  kn  In- 
teresse  des  Allgemeinen;  nnprodnctiye  finden  sich  nicht:  es  gibt 
keine  stehenden  Truppen,  keinen  Beamtenstand  mit  Pendonirung, 
kernen  Hof  halt 

n. 

Die  oberste  Leitung  des  Schulwesens  steht  beim  Regierungs- 
rath.  Dasjenige  Mitglied,  dessen  specieUer  Obsorge  dieses  Departement 
zugewiesen  wird,  heisst  Erziehungsdirector.  Diesem  wird  ein  Er- 
ziehungsrath von  ß  Mitgliedern  beigeordnet,  von  dent*n  4  vom  Kuii- 
t<»nsrath  und  2  von  der  Gesammtlehrerschaft  des  Kantons  zu 
wählen  sind.  Von  diesen  letzteren  iniiss  das  eine  aus  der  Mitte  der 
Lelirer  an  )i(iiieren  Ltliranstalteu,  das  andere  aus  den  Volksschul- 
lehrern genommen  werden. 

Dieser  kantonalen  Erziehungsbehörde  liegt  ob  die  Förderung  der 
Volksbildung,  die  Oberaufsicht  über  alle  Schulanstalten,  die  Handha- 
bung der  zu  Kraft  bestehenden  Gesetze,  Verordnimgen,  Beschlüsse  und 
Keglements.  Zu  diesem  Behuf  ^tzt  sie  sich  mit  den  unteren  Behör- 
den in  die  ndthtge  Verbindung. 

Pcdagrgiiim.  4.  Jahif  .  Butt  YIL  27 


üiymzao  by  v^üOglc 


—   406  — 


Zu  diesen  gehören  zunächst  die  Bezirksschnlpflegen,  deren 
der  Kanton  oremäss  der  Anzahl  der  Verwaltuncrsbezirke  elf  hat  mit 
9 — 20  Mitgliedern,  je  nach  der  Zahl  der  Sclmlen  eines  Bezirkes. 
Drei  dieser  Mitglieder  werden  v(»n  doi-  Tjehrerschaft  des  Be- 
zirkes gewählt,  die  übrigen  von  den  Stiiiiinbereclitigten  des  Volkes, 
aus  den  nicht  dem  Lehrerstande  angehörenden  Bezirkseinwohuem. 
Diese  Bezirksschulpfleger  vertheilen  nun  die  Schulen  des  Bezirkes 
unter  sich.  Jeder  besucht  im  Laufe  des  Schuljahres  die  ihm  zuge- 
theilten  2  oder  auch  mehrere  Male,  leitet  im  Frühjahr  die  Schluss- 
piUiiiiig  und  gibt  einen  schriftlichen  Befünd  fiber  Schule  and  Lehrer 
ab,  der  sowohl  dem  kantonalen  Erziehungsrath  wie  der  Gemeinde- 
schnlbehdrde  mitgethellt  wird.  Eine  andere  Inspection  der  Sehiden 
dnrch  obere  Behörden  findet  nieht  statt;  weitere  SchuUnspeetoreD 
gibt's  nicht 

Jeder  8chnlkreis  wfthlt  sich  eine  Gemeindeschnlpflege,  deren 
Mitgliederzahl  die  Gemeinde  selbst  festsetzt,  doch  darf  sie  nicht  nnter 

5  hinabgehen.  Ihren  Sitzungen  wohnen  die  Lehrer  mit  berathender 
Stimme  bei,  können  auch  von  der  Gemeinde  zu  Mitgliedeiii  gewählt 
werden.  W  enn  in  einem  Schulkreis  die  Zahl  der  Lehrer  gai-  gross 
ist.  wie  in  den  Städten  Zürich  und  Winterthur,  so  lassen  sie  sich  dunii 
Abgeordnete  in  (ier  Beliörde  vertreten.  In  diesem  Falle  bilden  die 
Lehrer  unter  sich  einen  ("onvent  zur  Vorberathung  und  Besprechung 
verschiedener  Schulfragen  behufs  Antragstellung  an  ihre  Schulbehörden 
etc.  Sie  wählen  sich  aus  ihrer  Mitte  einen  Vorsitzenden,  Conventvor- 
steher,  dem  aber  ausser  diesem  Vorsitz  keine  weiteren  Befugnisse  zu- 
stehen. Alle  diese  Lehrer  sind  gleichgestellt  in  Rechten, 
Pflichten  und  Besoldung;  fär  seine  Mtthewaltang  als  Organ  der 
Lehrer  bei  der  Pflege  hat  der  Conventvorsteher  eine  kleine  Zulage. 

Die  Gemeindeschnlpflege  führt  die  nächste  Aufsicht  fiber 
die  Schulen  der  Gemehide  nnd  vollzieht  das  Schulgesetz,  sowie  die 
Verordnungen  und  Beschlüsse  der  oberen  Schulbehörden.  Sie  trifit 
die  nöthigen  Einleitungen  für  Besetzung  der  Lehrstellen  in  FSllen 
von  Erledigung  und  sorgt  fUr  die  Aufnahme,  den  fleissigen  Schulbesuch 
nnd  die  Entlassung  der  Schulkinder.  Sie  wacht  darüber,  dass  der 
Lehrer  alle  in  seiner  Stellung  liegenden  Ptiichten  getreu  eifülle.  Bei 
Dieustunfähigkeit  oder  schwerer  Verletzung  seiner  Herufspflicliten  hat 
sie  der  Bezirksschuli)t1ege  zu  weiteivr  Verfügung  Anzeige  zu  machen. 
Hin\vit'(ler  hat  die  (lenicindesclnilptiege  den  Lehrer  in  allen  zweck- 
nuissiL'«'!!  Bestiebungen  zu  unterstützen  und  dafür  zu  sorgen,  dass  ihm 
die  gesetzliche  und  vertragsmääsige  Besoldung  regehuässig  und  voll- 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


—   407  — 

^tändi^^  eiuüeliändigt  werde.  Die  Mittjlieder  der  Pflege  besuchen  nach 
einer  von  ihnen  selbst  zu  bestiniuienden  Kehrordnung  die  ächaleu 
ihrer  Gemeinde,  um  den  Unterricht  zu  beobachten,  die  Absenzenver- 
zeichnisse zu  durchgehen  etc.  Sie  verzeichnen  jedes  Mai  den  Tag  des 
Schulbesachs  mit  Namensuntei^chrift  im  Schulvisitationsbach.  Ihre 
Bemerkungen  über  die  bei  dem  Besuche  gemachten  Wahrnehmungen 
theilen  sie  in  der  Sitzung  der  Pflege  mit.  In  (Gegenwart  der  Schüler 
darf  kein  Visitator  den  Lehrer  tadebi  oder  ihm  Mahnungen  etc.  er- 
theilen.  Oeschähe  es,  so  ist  der  Lehrer  berechtigt,  bei  der  Schulbe- 
hftrde  Klage  zu  erheben.  Eine  andere  Localinspection  gibt  es  nicht 

Die  Gemeindeschulpflege  gibt  Jährlich  der  Bezirksschulpflege 
«inen  tabellarischen  Bericht  über  den  Stand  der  ihrer  Aufsieht 
unterstellten  Schalen,  womit  sie  allföllige  Wünsche  und  Anträge  ver- 
binclt'U  kann.  Von  drei  zu  drei  Jahren  eibtaiu  t  sie  einen  umfassen- 
den Bericht  über  den  Zustand  der  Schulen,  der  Lehrinittel,  Gel)äude  etc. 
Die  Uezirksschiilpflege  ihrerseits  leitet  das  Wesentliche  dieser  Be- 
richte und  iiirtn  eigenen  an  den  Erziehungsrath,  der  seinerseits 
ebeiit'ails  alljährlicli  dem  Rey:ierungsrath  zu  Händen  des  Kantons- 
rathes  und  der  Lehrersynode  vom  Stand  und  Gang  des  Schulwesens 
im  ganzen  Kanton  Kentnis  gibt.  Diese  Berichterstattung  ist  nicht 
das  einzis^e  Bindeglied  zwischen  den  unteren  und  oberen  Behörden. 
Alljährlich  beruft  der  Erziehungsdirector  Abgeordnete  der  elf  Bezirks- 
achulpflegen  zu  einer  Berathung  mit  dem  Erziehungsrath  über  allge- 
meine Schulfragen,  zu  welcher  auch  der  Seminardirector  beizuziehen 
ist  Die  Abgeordneten  haben  ihren  resp.  Behörden  Uber  die  Ergebnisse 
der  Berathung  Bericht  zu  erstatten. 

Aus  diesen  Darlegungen  geht  hervor,  dass  die  Geistlichen  als 
solche  keinerlei  Antheil  an  der  Schnlaufsicht  haben.  Sie 
stehen  in  gleichem  Verhältnis  zur  Schule  wie  jeder  andere 
Bürger;  sie  sind  nur  dann  Mitglied  einer  Schulbehörde,  wenn 
sie  vom  Volke  hineingewählt  werden,  was  gar  oft  gesehielir, 
wenn  der  Pfarrer  schulfreundlicli  gesinnt  ist,  wie  auch  umgekelirt 
Volksschullehrer  eben  so  häufiir  in  die  kirchlichen  Aufsichtsbe- 
hörden vom  Volke  berufen  werden.  Diese  vollständige  Trennung 
und  Nebeneinanderstellung  von  Kirche  und  Schule  trägt  ihre 
schönsten  Früchte,  schlägt  zum  Gedeihen  bei<ler  Institute 
<aas  und  bewirkt,  dass  sie  in  Frieden  und  Eintracht  ohne 
gegenseitige  Störung  an  der  Wolfahrt  des  Volkes  arbeiten. 
Am  Münster  der  Bundeshauptstadt  Bern  ist  zu  lesen:  Mach'» 
nach! 

27*  • 


Üiyitizcü  by  GoOgle 


—   406  — 


III. 

Eine  weitere  Instanz  im  Schlllo^gaIÜ^^ums  des  Kantons  Zürich  ist 
die  Schulsynode.  Sie  besteht  aus  sämmtlichen  Lehrern  des  Kantons 
vom  letzten  Dorfschulmeister  an  bis  zum  Rector  der  Hoch- 
schule hinauf.  Die  Mitj^-lieder  der  Schulbehörden  sind  berechtigt,  der 
Synode  mit  berathender  Stimme  beizuwohnen.  Der  Emehungsral^  Ifest 
sich  durch  eine  Abordnung  von  zwei  Mitgliedern  in  der  Synode  vertreten. 
Die  Synode  wfthlt  zur  Leitung  ihrer  Verhandlungen  und  zurYollziehnng 
ihrer  Beschlüsse  auf  die  Dauer  von  zwei  Jahren  einen  Vorstand,  bestehend 
aus  einem  Präsidenten,  einem  Vicepräsidenten  und  einem  Äctuar.  (Gegen- 
wärtig ist  Präsident  Herr  Arn.  Hug,  I^ehrer  an  der  Primarschtde  Win- 
terthur.)  Ordentlicher  Weise  versammelt  sie  sich  einmal  jährlich,  ansser- 
ordent lieber  Weise  auf  den  Ruf  des  Erziehungsrathes,  oder  auf  eigenen 
Besehluss,  oder  auf  das  Verlangen  der  Lehrer  in  4  Bezirken.  1  >eii  Ort 
der  Versammlung  bezeielinet  die  Synode  selbst.  Der  Synode  gellt 
immer  eine  Prosynode  voraus.  Mitp:lieder  der  Prosynode  sind  die 
V<»i  Steher  der  Synode,  je  ein  Ab<reoi  diieter  der  elf  Bezirke,  der  höhereu 
Schulen  von  Zürich  und  Wiuterthur  und  der  kantonalen  Lehi'anstalteu 
(Hochschule  und  Kantonsschule).  Die  Abgeordneten  des  Erzieliungs- 
rathes  wohnen  der  Prosynode  mit  blos  berathender  Stimme  bei.  Sie 
beräth  die  Verhandlungsgegenstände  der  Synode  vor  und  setzt  das 
Tractandencirculai'  fest.  Alle  der  Synode  zur  fierathung  vorzulegenden 
Gegenstände  sind  vorher  von  der  Prosynode  zu  begutachten. 

Der  Synode  steht,  wie  oben  berichtet,  die  Wahl  von  zwei  Mit- 
gliedern des  Erziehungsrathes  zu,  sie  empföngt  den  Jahresbericht,  den 
der  Erziehungsrath  dem  Begierungsrath  flher  den  Zustand  des  zfir- 
cherischen  Schulwesens  erstattet,  sowie  den  Generalbericht  über  die 
Thätigkeit  der  Lehrer  in  ihren  Bezirksversammlungen.  Sie  beräth  im 
allpremeinen  die  Mittel  zur  Förderunfr  des  Schulwesens,  forinulirt  ihi^e 
Wiinx'he  und  Aul  rage  zu  I  landen  der  Behörden,  hört  einen  womö<:lirli 
freien  N  ortrup:  an  über  ein*  ii  im  Einladunirsschreiben  zu  bezeiclmt'udeu 
Gegenstand  aus  dem  (ii'biiMt-  des  Schulwesens,  läs^r  twic  I  »iscussiou 
darüber  walten  und  Beschlüsse  fassen,  verninunt  aus  dem  Munde  (k> 
Präsidenten  das  l'rtheil  des  Erziehungsratlies  über  die  Arbeiten  tür  die 
(von  der  Behörde  alljährlich  j^estellteni  Preisaufgaben  und  die  Namen 
der  mit  einem  Preise  bedachten  Veiiasser.  Die  Verhandlungen  der 
Synode  sind  ötfentlich.  Dieselben  Averden  auf  Staatskosten  gedruckt, 
den  Mitgliedein  der  Synode  und  aller  Schuibehörden  zugestellt. 

Die  in  einem  Bezirk  wohnenden  Yolksschullehrer  und  Lehrerionen 
hilden  das  Schulcapitel  des  Bezirks.  Der  Besuch  der  Oapitd»- 


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—   409  — 


v<'i->^amnilimf,'en  ist  obligatorisch.  Ordentlicher  Weise  vei  samnieln  sich 
die  Capitel  viermal  des  Jahres,  ausserordentlicher  Weise  in  dring- 
liilien  Fällen.  Sie  ernennen  sich  ihren  Vorstand  selber,  ihnen  steht 
die  Wahl  von  drei  Mitgliedern  der  Bezirksschulpflege  zn,  ebenso  haben 
sie  dem  Erziehnngsrath  ihr  Gutachten  abzngeben  ttber  den  Lehrplan, 
aber  EinfiUimng  neaer  oder  wesentliche  Abftndemng  bestehender  Lehr- 
Bittd  sowie  über  Gesetze  nnd  Verordnungen,  die  der  Erziehnngsrath 
den  CapiteLi  im  Entwurf  m  geeigneter  Form  zur  Berathung  mittheilt 
Hat  diese  in  den  einzehien  Versammlungen  stattgefunden,  so  wird  von 
jelem  Capitel  ein  Abgeordneter  zu  einer  Oonferenz  bezeichnet,  durch 
welche  das  definitive  Gutachten  abzufassen  ist.  Von  der  Wahl  seines 
Abireonlneten  hat  das  Capitel  .sofort  dem  Präsidenten  der  Synode 
Kenntnis  zu  geben,  welcher  unter  Mittlieiiiiui;  an  den  Erziehnngsrath 
•lie  Konferenz  bei'uft  nnd  leitet.  Ein  Abgeordneter  des  Erziehungs- 
rathes  wohnt  der  Versammlung  mit  beratln'uder  Stimme  bei.  Im 
Femeren  suchen  die  Capitel  die  Fortbildung  ihrer  Mitglieder  zu  er- 
zielen durch: 

a.  Lehriibungen; 

b.  durch  Vorträge  und  Besprechung  Aber  Gegenstände  des 
Schulwesens  und  verwandte  Gebiete; 

c  durch  allf.  Emgaben  an  die  Staatsbehörden  oder;Antrftge  an 
die  Synode; 

d.  durch  Verbreitung  guter  Schnlschriften. 
Der  Vorstand  eines  Kapitels  ver&sst  alljährlich  fiber  dessen  Gang 
emen  Bericht»  welcher  bis  spätestens  Ende  Jannar  dem  Erziehungsrath 
emunreichen  ist  Aus  den  sämmtlichen  elf  Berichten  yerflust  der 
Vorstand  der  Synode  einen  kurzen  Generalbericht  zu  Händen  des 
Erziehungsrathes  und  der  Schulsynode. 

Jedes  Jabr  vor  Ende  März  versammeln  sich  auf  Einladnnsf  und 
unter  dem  Vorsitz  des  Synodal  Präsidenten  die  Capitelspräsideuleu 
zu  einer  Conferenz,  in  welcher  zur  Behandlung  kitnimeu: 

a.  alüallige  Erötfnungen  des  Erzieliungsratlies; 

b.  gegenseitige  Mittheilungen  über  den  Gang  der  Capitelsver- 
handlangen  im  verflossenen  Jahre; 

c  gemeinschaftliche  Beratliung  über  besonders  geeignete  Ver- 
handlungsgegenstände für  das  bevorstehende  Schuljahr; 

d.  gutachtlicher  Antrag  an  den  Erziehungsrath  rücksichtlich 
der  Stellung  der  Preisaufgabe  fUr  Volksschullehrer; 

e.  allfällige  Vorschläge  nnd  Aufschlttsse  an  den  Erziehnngsrath. 
Bas  Protokoll  dieser  Verhandlungen  ist  dem  Erziehungsrath  zuzu- 


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—   410  — 


stellen.  Nadi  Heliandiuiig  der  ausg-esproclieiien  Vorscliläg-e  macljl  der 
Kizicliiuifisiatli  beim  Beginn  des  neuen  Schuljahres  den  Capiteln  die 
Uütliigen  Mittheiliiiigen. 

Jedes  Capitel  hat  eine  Bibliothek  und  erhält  zur  Anschaffung  von. 
Büchern  in  dieselbe  alljährlich  einen  Staatsbeitrag  von  60  Franken. 

Aus  dem  Gesairten  f-rp-ibt  gich,  dass  die  Volksschullehrer  de» 
Kantons  Zürich  sich  eines  schönen  Stücks  Selfgovernnient 
erfreuen;  Massregelun^n  von  oben  haben  da  keinen  Platz.  Die  Schule 
marschirt  dabei  vortrefiflich,  wie  vir  gleich  sehen  werden.  Auch  da 
gelte:  Maeh's  nach! 

IV. 

Der  Kanton  Zürich  hat  folgende  Schulanstalten: 

1.  Die  allgemeine  Volksschule:  Primär-  und  Secundar- 
schule;  Fortbildungsschule; 

2.  das  Gymnasium  und  die  Industrieschule  in  Zürich; 

3.  eine  Hochschule  in  Zürich; 

4.  ein  Lehrerseminar  in  Eflssnacbt; 

5.  eine  Thierarzneischule  in  Zürich; 

6.  eine  landwirtschaftliche  Schule  bei  Zürich; 

7.  ein  Technicum  in  Winterthnr. 

8.  Die  Stadt  Winterthnr  unterhält,  subyentionirt  vom  Staate 

ein  Gymnasium,  eine  Industrieschule  und  eine  obere 
Mädchen  schule;  die  Stadt  Zürich,  ebenfalls  mit  Staats- 
nnterstützunof,  eine  höhere  Mädchenschule  und  ein  Leh» 
rerinnenscininar. 
Für  diese  Anstalten,  d.  Ii.  tiir  das  gesainiiitt*  Ki  zit'lninsfswesen  des  Kan- 
tons sind  im  Jahre  1880  ans  Staatsmitteln    -  die  Opfer  von  Ge- 
meiiiden  und  Privaten  nielit  inbegrifleu  -  -  Fi  k.  1  1)(K>0C)0  aufgewendet 
worden,  was        aller  Staatsausgaben  ausmacht*)    Weitaus  der 
grösste  Theil  fällt  auf  die  Volksschule. 

Bedächten  die  andem  Staaten  die  Schule,  d.  Ii.  vorzugsweise  die 
Volksschule,  in  gleichem  Yeihältnisse,  so  müssten  dafür  aufwenden: 

1.  Das  Königreich  Preussen       162  Hill.  Frk.  =  130  MilLMark. 

2.  Das  Eaiserthum  Österreich     224     „     „  =179     „  „ 

3.  Frankreich  180     „     „  =144     „  „ 

4.  Italien  168     „     „  =  134  „ 

5.  Spanien  97     „     „  =  77  „ 


*)  Die  flSmmtlichen  StaataauBgabeii  Zttriehs  besUfem  sich  anf  Frk.  5700000^ 
di^enigen  Sachsen-Weimars  (310000  Emwohoer)  betrageD  Frk.  8412fi00. 


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411  — 


6.  Sachsen- Weimar  1,85  MüL  Frk.  =  1,48  MÜL  Mark. 

7.  Das  Grossherzof,''thum  Baden  9,42    „     „    =  6,62    „  „ 

8.  Das  Königreich  Württemberg  11,82    „     „    =9,4     „  „ 
Was  nicht  ist,  kaim  werden.  „Einstens  wird  die  Zeit  kommen,^ 

meint  Diesterweg,  „in  der  man  die  Schwerter  in  Sicheln  verwan- 
deln wird,  d.  h.  eine  Zeit,  welche  allen  den  Millionen,  die  jetzt 
auf  Krieg  nnd  Kriegsmaterial  verwandt  werden,  die  Be- 
stimmung geben  wird,  die  Bildung  des  Menscken  znm  Men- 
schen zn  befördern,  nnd  wo  die  Ersten  der  Nationen,  statt  die 
Casernen  vorzugsweise  zu  lieben,  es  ihre  höchste  Sorge  werden  sein 
lassen,  dass  die  Menschen  aufliören,  mit  Worten  ihre  Nächsttin  zu 
lieben,  um  es  dann  mit  der  That  zu  thun." 

V. 

Die  Primarschule  des  Kantons'  Zürich  zerfällt  in  zwei  Stufen, 
in  die  Alltagsschnle  für  die  Kinder  vom  6.  bis  12.  Jahre,  und  in 
die  Ergänzungsschule  für  die  vom  12.  bis  15.  Jahre. 

Der  Besuch  der  Alltagsschule  ist  obligatorisch  und  unentgeltlich. 
Ein  Kind  wird  schulpflichtig  im  Frühling  des  Jahres,  in  dem  es  bis 
30.  April  das  secliste  Lebensjahr  zurückgelegt  hat.  Es  findet  im  Jahre 
nur  eine  einmalige  Anfhahme,  im  Frühjahr,  als  dem  Beginn  des  Schul- 
jahres, statt 

Von  den  34000  Kindern  des  Kantons  im  Alter  von  6  bis  12 
Jahren  haben  im  Jahre  1880:  33410  die  obligatorische  öffentliche 
Alltagsprimarscliule  besucht,  d.  L  alle  Kinder  von  Beich  nnd  Arm, 
Vornehm  nnd  G^ering,  mit  verschwindend  kleiner  Ansnahme.*) 

Es  gibt  eben  keine  Vorschulen  für  Gymnasien  etc.  Alle  diese 

höheren  Anstalten  dürfen  die  Schüler  erst  nach  dem  Anstritt  aus 
der  Alltagsprimarscliule,  also  erst  nach  zurückgelegtem  1:^. Lebens- 
jahre aufnehmen.  Seit  ön  Jahren  fiihrt  der  Kanton  Züricli  dabei  vor- 
trefflich, zum  siclitliclien  Gewinn  der  gesannnten  Erziehung  wie  der 
unteren  und  oberen  Schulen.  Darin  liegt  die  Erfüllung  der  Eorderung, 
die  Comeuius  schon  vor  mehr  als  200  Jahi-en  aufgestellt:   „Ziel  und 


*j  I»ie  weiiii^eii  Privatsc  Imkii .  die  ihr«'  P'xistenz  auf  eine  von  Staatsschule  und 
Staatskirche  abweicliemle  rt'lii^ii>.<e  Lehensansclianunf?  zurückführen  i  in  Zürich,  Winter- 
thur,  Unterstrasä,  Horgeu,  Wädeusweil  und  Uster),  zählen  nur  503  alltagsschulptlich- 
tige  Kfaider  nnter  12  Lebmn.  Ihnen  dioit  tm  Lehrerseminar  in  Unterstrass  bei 
ZBrieh.  Diese  Piiyatschulen  stehen  unter  der  nftmlichen  staatlichen  Aufticht  wie  die 
MmtKcben,  und  es  smd  ihnen  die  nftmlichen  Lehiziele  voijg^hrieben.  Einige  eigent- 
Me  nivatüistitnte  beherbergen  854  Kinder  dieses  Alters. 


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Umfang-  der  Volksscliulo  wird  sein,  dass  die  o:esaminte  Jugend  vom 
sech-steii  bis  zwüll'teu  Jahre  in  dem  unterrichtet  wird,  dessen  Ver- 
wendung sich  auf  das  ganze  Leben  erstreckt.  Nicht  die  Kinder  der 
Reichen  allein  oder  die  der  Vornehmen,  sondern  alle  in  gleicher 
Weise,  Adlige  nnd  Bürgerliche,  Reiche  und  Anne,  Knaben  und  Mäd- 
chen, in  grossen  nnd  kleinen  Städten,  in  Flecken  und  Dörfern  sind 
zur  Sdinle  heranznzieben.  Ich  füge  hinzn,  dass  die  gesammte 
Jagend  zuerst  der  Volksschule  zu  Überweisen  ist  Denn  ich  be- 
absichtige eine  allgemeine  Bildung  aUer,  welche  als  Menschen  geboren 
sind,  zu  allem,  was  menschlich  ist  Sie  mfissen  daher  zusammen  ge- 
bildet werden,  soweit  sie  zusammen  gebildet  werden  kOnnen,  damit 
sich  alle  gegenseitig  anregen,  beleben,  anstacheln.  Ich  will,  dass  alle 
zn  allen  Tugenden  gebildet  werden,  auch  zur  Bescheidenheit,  Ein- 
tracht und  gegenseitiger  Dienstfertigkeit.  Daher  dürfen  sie  nicht  so 
fi*üh  von  rillander  getrennt  werden,  auch  darf  man  einer  trewisseii 
Anzahl  nicht  (i deji-enheit  geben,  vor  den  andern  wolgefällijr 
auf  sich  zu  sehen  und  jene  veräclitlich  zu  betrachten.  Audi 
sind  nicht  ausscliHcsslicli  die  Kinder  der  Reichen,  des  Adels,  der  hohen 
Beamten  zu  ähnliclien  A\'ürden  geboren.  Der  Wind  weht,  wohin  er 
will,  und  nicht  immer  beginnt  er  ziu*  bostimmten  Zeit  zu  wehen." 

Wie  fleissig  die  33410  Kinder  diese  AUtagsschule  im  Jahr 
1880/81  besncht  hab^,  ergibt  sich  daraus,  dass  auf  den  einzebken 
Schiller  nur  zwölf  Absenzen,  d.  h.  Halbtagsabwesenheiten  kommen.  Ab- 
haltnngen  durch  Krankheiten  inbegriffen.  Nicht  genügend  gerecht- 
fertigte Abwesenheiten  kommen  auf  den  einzelnen  Schüler  nur 
0,7  Halbtage. 

Die  Ergänznngsschule  ist  keine  Alltagsschule;  es  sind  ihr 
blos  acht  wöchentliche  Unterrichtsstunden,  auf  zwei  Halbtage  Terthdlt, 
eingeräumt 

Bir  Besuch  ist  ebenfalls  obligatorisch  fllr  diejenigen,  die  nicht 
eine  ihr  parallel  gehende  Schule  frequentiren.  Ungefähr  70** aller 
Schüler  gehen  in  die  Krgänzungsschule  über.  Für  beide  Stufen 
der  Pnmarschule  besteht  ein  sehr  detaillirter  staatlicher  Lehrplau. 
Sämmtliche  Lehrmittel  s.iud  obligatorisch  vorgeschrieben  und  werden 
im  ÖtaatsN erlag  erstellt. 

Die  gesammte  Jugend  des  Kantons  ist  vom  15.  bis  IH.  Jaluv 
zum  Besuche  der  Singschule  mit  wöchentlich  1  Stunde  verpHichtet. 
Dieses  Institut  ist  zur  Förderung  des  Volks-  und  Kirchengesanges  ein- 
geführt worden,  gilt  aber  vielfach  fiii'  das  fünfte  Rad  am  Wagen. 

Der  of&cielle  Bericht  stimmt  fiir  dieses  Institut  so  ziemlich  den 


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413  — 


Gnbgesang  an:  ,J>ie  Singschule  ist  immer  ein  in  seiner  Existenz- 
berechtigimg  angefochtenes  Institut.  Bei  einer  Beorganisation  der 
Primarsehole  sollte  die8ell>e  als  besondere  Sclinlstnfe  aufgehoben  und 
der  betr^ende  Unterricht  den  obersten  Classen  der  Volksschule  zu- 
gewiesen werden.  Die  Schwierigkeiten  in  der  Führung  der  von  den 
Steigen  Schulabtheilungen  abgetrennten  Singschnle  häufen  sich.  Immer- 
Mn  gibt  es  Stimmen,  die  ihr  immer  noch  ihre  Anerkennung  zollen.** 

Die  amtlichen  Berichte  über  den  Stand  der  Primarschule,  so- 
eben vom  Erziehungsratli  aiisgcm'lx'ii,  luiitt'ii  im  allgemeinen  sehr 
günstig:  „Die  Zahl  der  als  unoeniifrend  bezeichneten  Alltagsschu- 
len nimmt  stetig  ab.  1H80  18S1  lictru^r  sie  nur  noch  0,5"  Nicht 
in  dem  Masse  befriedigend  ist  das  Resultat  der  Ergänzungsschule 
mit  ilireii  aclit  wöchentlichen  Stunden. 

Der  amtliche  Bericht  sagt:  ,.Die  Ergäuzungsscliule  leidet  au 
denselben  Mängeln,  die  ihr  schon  bisher  anhafteten,  und  das  Klagelied 
fiber  ungenügende  Unterrichtszeit  und  voluminöse  Lehrmittel,  über 
schwaches  oder  durch  das  Leben  bereits  hart  mitgenommenes  Schttler- 
mstenal  und  dne  zu  grosse  Zahl  von  Unterrichtsfächern  ertönt  in 
alten  und  neuen  YariationaL" 

„Der  Stand  der  Ergftnzungsschule  kann  gleichwol  in  'Anbetracht 
der  Umstände  im  Ganzen  nicht  als  unbefriedigend  bezeichnet 
wo^en,  da  die  Lehrer  mehr  und  mehr  sich  zu  helfen  und  den  Untere 
richtsstoff  den  Verhältnissen  gemäss  zu  beschränken,  beziehungsweise 
dem  Fassungsvermögen  der  Schüler  anzupassen  wissen.  Die  einzige 
Abhilfe  könne  die  Erweiterung  der  obligatorischen  Schulzeit, 
beziehungsweise  die  Ausdehnung  des  täglichen  Unterrichts  auf 
ein  gereilteres  Altei-  bringen.  iSämnitliclie  Berichte  tretfen  sicli  in 
(luseni  Punkte  mit  seltener  rbereinstimmung.  Die  Xothweuili-keit 
einer  Verlängerung  des  Primarschulobligatoriuins  bildet  das 
(irundthema  der  Berichte  aus  allen  Landesgegenden/' 

Gemäss  dieser  Initiative  der  unteren  und  oberen  Schulbehörden  ist 
bereits  ein  Gesetzentwurf  ausgearbeitet  für  die  Erweiterung  der  obli- 
gatorischen Alltagsschule  um  ein  siebentes  und  achtes  Scbu^ahr.  £g 
wird  derselbe  bald  der  Volksabstimmung  unterbreitet  werden. 

Folgende  Stellen  aus  dem  Berichte  mögen  hier  noch  Platz  finden: 

»Der  Gebrauch  der  Schiefertafel  ist  in  einigen  Schulen,  auch 
in  den  Elementarschulclassen,  bereits  preisgegeben  und  ausschliess- 
licher Gebrauch  von  Bleistift,  Feder  und  Tinte  durchgeführt,  in  der 
Mehrzahl  der  andern  ist  derselbe  auf  das  erste  bis  dritte  Schu^ahr 
eingeschränkt'* 


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„Die  Zahl  der  Gemeinden,  welche  ihren  Primarscliiiiern  die  Lt-lir- 
niittel  oder  weniiirstens  die  Schreilmiaterialien  unent «reltlich  veiab- 
reichen  und  die  liezii-rlichen  Ausgaben  ans  der  Schulcasse  Itestniien. 
ist  in  den  nieisrcn  l^ezirkeii  im  lanusanieii  W  achsen  begritien.  Im 
weiteren  werden  als  freiwillige  Leistunyfeii  !_M>nannt:  Eröttnung  »ler 
Separatfonds  für  Schulzwecke,  der  Jugeudbibliotheken  und  natiu- 
geschichtlichen  Sammlungen,  Unterstützung  von  Bewahranstalten.  Kin- 
dergärten und  Fortbildungsschulen,  einzelne  Legate  und  Schenkimgen, 
freiwillige  Stenern  zur  Erleichtemng  eines  bevoi'stehenden  Schsl- 
hansbanes.^ 

Die  von  den  Gemeinden  seit  4 — 5  Decennien  zusammengelegten 
Primarschulfonds  betragen  ca.  6V9  MiUionen  Franken. 

Die  höhere  Stufe  der  Volksschule  ist  die  Secundar  schule. 
Sie  ist  eine  Alltagsschule  für  die  Jugend  vom  12.  bis  15.  Jahre.  Der 
Kanton  zählt  deren  85.  Etwa  30*^/o  der  Alltagsprimarschfiler  gehen 
in  die  Secnndarschule  ttber.  Knaben  und  Mädchen  sitzen  auf  densel- 
ben Banken,  mit  Ausnahme  der  Schulen  von  Zürich  und  Winterthur 
mit  ihrer  grossen  Schülerzahl.  Von  Unzuküunnliehkeiten  um  dieser 
Mischung  willen  hat  man  nie  etwas  gehört.  Ihr  Besuch  ist  unentgelt- 
lich. Ärnieien  Schülern  werden  nicht  nur  die  Lehrmittel  gratis  ver- 
abfolgt, sondern  überdies  noch  Geldbeiträge  zur  Erleichterung  des 
Besuchs  ertheilt;  1880  \  om  Staat  Frk.  14ÜÜÜ;  von  den  Gemeinden 
wol  auch  eine  schöne  Summe. 

In  der  Secundar  seh  nie  tritt  neben  den  gewöhnlichen  Unter- 
richtsfächern der  fremdsprachliche  Ilntt  riicht  auf.  Derjenige  in  der 
französischen  Sprache  ist  obligatorisch,  der  in  der  englischen,  welcher 
in  den  meisten  Schulen  vorkommt,  facultativ.  In  einer  kleineren  Zahl 
wird  auch  die  italienische  und  lateinische  Sprache  gelehrt 

Auch  für  diese  Schule  sind  die  Lehrmittel  obligatorisch  und  der 
Unterrichtsgang  ist  durch  einen  staatlichen  Lehrplan  von  Classe  zu 
Classe  geordnet.  Die  amtlichen  Zeugnisse  vom  Jahre  1880  über  diese 
Schulstufe  kuten  n.  a.: 

,,Die  Belichte  der  Bezirksschulpflegen  geben  auch  f&r  das 
abgelaufene  Triennium  ihrer  unget heilten  Freude  Ausdruck 
über  die  Opferwilligkeit  des  Volkes,  welche  trotz  der  l'ugunst 
der  Zeitverhältnisse  dem  freiwilligen  Institut  der  Secundarschuleu  mit 
immer  steigender  Theilnaliine  entgegenkommt." 

„Die  gesanimte  Lehrerschaft  erhält  ein  durchaus  gün stires 
Zeugnis,  und  es  ist  keine  Secnndarschule  in  ihi*er  Totaileistung  aU 
ungenügend  bezeichnet  worden." 


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—   415  — 


Die  in  kurzen  Jahren  für  diese  Schulen  dui'ch  frei\nllige  Lei- 
stungen zusiimmengelegten  Schulfonds  betragen  ca.  650000  Fr. 

Die  Fortbildungsschulen  für  junge  Leute  über  15  Jahre  alt, 
die  keinen  andern  Untmiclit  gemessen,  sind  ganz  freiwillige  Institute, 
meist  TOD  den  Yolksschnliehrem  in's  Leben  gerufen,  von  den  Gemein- 
den und  dem  Staate  snbventionirt.  Im  Jahre  1880  hatte  der  Kanton 
deren  93  mit  2114  Schfilem,  darunter  51  Mädchen.  Es  handelt  sich 
danuD,  den  Besuch  dieser  Schulen  f&r  die  Jugend  genannter  Katego- 
rie obligatorisch  zu  erklären.  Die  oben  erwähnte  Gonferenz  von 
Abgeordneten  der  Bezirksschulpflegen,  welcher  die  FortbÜ- 
dnngsschulfrage  zur  Discussion  unterbreitet  wurde,  hat  in  ihrer  Ver- 
sammlung vom  28..  Februar  1881  naclüblgende  Resolutionen  ange- 
nommen: 

1.  Das  Obligatorium  der  Fortbildung'sscluile  für  die  reifere  Ju^^end 
kann  zweckniässiii^er  W  eise  nur  in  Verbindung  mit  der  Krweiterung 
der  Primai'schule,  bezw.  nach  Erreichung  der  letzteren  angestrebt 
werden. 

2.  Es  ist  wünschbar.  dass  die  staatliche  Aufsicht  über  das  Insti- 
tut der  freiwilligen  Fortbildungsschule  verscliärft  werde  und  dass  die 
Erziehungsbehörde  durch  das  Mittel  der  Bezirksschulpflegen  eine  ein- 
heitlichere Organisation  dieser  Schulen  zu  erreichen  suche,  immerhin 
unter  Berücksichtigung  der  verschiedenen  Bedürfnisse  der  einzehien 
Landesgegenden. 

3.  Für  die  Gründung  und  Unterhaltung  von  freiwilligen  Fortbil- 
dungsschulen sollen  jeweilen  die  Gemeinden  in  erster  Linie  ihre  finan- 
zielle Mttheflung  zusichern. 

4.  In  den  leicht  erreichbaren  Mittelpunkten  einzelner  Bezirke  ist 

auf  die  Eröttrmn<z:  ei<rentlicher  Handwerks-  oder  Berufsschulen  für  das 
reifere  Jugendalter  liiiizuwirkeii,  und  es  sind  diese  Institute  mit  nam- 
haften Staatsbeiträgen  zu  unterstützen  und  zu  teirdein. 

5.  Bei  der  Kinrielitnnir  freiwilliger  Eurtbildungsschulen  ist  auch 
auf  die  Madcht  11  I? iieksiclit  zu  nelimen. 

Die  Eizit'liiinü.-direction  und  der  Krzieliun.irsrath  werden  nicht 
unterlassen,  dem  (Gegenstände  in  dem  angereihten  Sinne  bei  rler  bevor- 
stehenden Deratiiung  über  die  Revision  des  l'iittn  ichtsgesetzes  weiter 
ihre  Aufmerksamkeit  zu  schenken  und  den  obeien  Instanzen  zu  geeig- 
neter Zeit  ihre  Anträge  zu  hinterbringen. 

Die  Staatsbeitrfige  an  die  Fortbildungs-,  Handwerks-  und  Ge- 
werbeschulen haben  in  den  letzten  di-ei  Jahren  je  15000—16500 
Fnnken  betragen. 


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—   416   — ' 

Anstalten  für  Kinder  unter  sechs  Jahren:  Kindergärten  etc. 
gab  es  im  Jahre  1880:  48  mit  2450  Kindeni  unter  58  Führeriuuen. 

An  der  internationahiu  Unterriclitsliga  in  Brüssel  wurde  der 
Kinderfrarteii  von  Winterthur  mit  s»'in(Mii  schönen  Gebäude  und  dem 
36  Ar  grossen  Garten  als  ein  Ideal  solehei-  Anstalten  bezeiehnet. 

Das  staatliche  Lehrerseminar  (in  Küssnacht)  schliesst  an  di«- 
Secundarschule  an.  Es  umfasst  vier  Jahrescurse  und  zählte  1880: 
181  Zöglini^e,  daninter  18  weibliche.  Es  ist  kein  Convict  mit  der 
Anstalt  verbanden.  Die  ZögUnge  wohnen  bei  Privaten.  Im  genannten 
Jalire  wurden  an  dieselben  vom  Staate  47  625  Franken  an  Stipen- 
dien vertheüt  Die  Leistungen  der  Anstalt  werden  als  vorzüglich  an- 
erkannt. 

Die  Gymnasien  und  Industrieschulen  in  Zflrich  und  Winter 
thnr  hatten  1880  392  Schüler  im  Alter  von  12—15  Jahren,  iwiallel 
mit  der  Secundarschule;  im  Ganzen  aber  ca.  1500. 

Die  Hochschale  zählte  bei  90  Docenten  392  Hörer,  die  weib- 
lichen inbc^iffen. 

Das  Technicum,  an  die  Secundarschule  sich  anschliessend, 
wij'd  von  350  -  4(X)  Zöglinacn  besuclit. 

Die  oberen  'I'öchterschuh'n  in  Zürich  und  Winterthur. 
ebenfalls  im  Anschluss  an  die  Secunda  rscliule.  also  nur  für  ^fäd- 
chen  von  iiber  lö  Jahren,  ziililen  ca.  KH)  Zöglinge;  (las  Lehi'erinueu- 
serainar  in  Zürich  weist  .ol  Schülerinnen  auf. 

Die  Arbeitsschulen  für  Mädchen,  bis  zum  12.JaUre  obligato- 
risch, weitei'  hinauf  facultativ,  entwickeln  sich  immer  besser.  Der 
amtliche  Hericht  pro  1880  lässt  sich  also  vernehmen:  ^Aus  sämmt- 
liehen  Berichten  spricht  freudige  Anerkennung  der  allseitigen  Be- 
mühungen zur  Hebung  des  Arbeitsschulwesens;  ebenso  einstimmig 
-wird  der  Erwartung  Ausdruck  verliehen,  dass  der  Arbeitsnnterricht 
der  Mädchen  auch  für  das  Erg&nzungsschulalter  durch  Gesetz  obliga- 
torisch erklärt  werde.  Die  Arbeitsschulen  in  einzelnen  Bezirken, 
namentlich  in  Zürich  und  Winterthur,  zeigen  bereits  ein  vom  früheren 
Znstand  wesentlich  verschiedenes  Bild.  An  die  Stelle  der  individaellen 
Beschftftif^ung  der  Mädchen  in  Handarbeiten,  wobei  der  Unterricht  in 
mehr  oder  weniger  geregelter  Weise  im  Vormachen  und  Xarhhelfe.u 
aufgeht,  ist  in  den  meisten  Schulen  ein  stufenweise  geordneter  L'nter- 
richt  getreten,  der  die  ganze  Classe  gleichzeitig  in  anregende  Bethä- 
tigung  zu  setzen  weiss.-' 

„Das  Arbeitslclirerinnenpersonal  bringt  der  Neuerung  im  allgemei- 
nen guten  Wülen  entgegen  und  auch  ältere  Lehrerinnen  bestreben 


Üiyitizcü  by  GoOgl( 


—   417  — 

skh,  den  gesteigerten  Anforderungen  gerecht  zu  werden.  Gleich wol 
wird  es  f&r  die  allgemeine  Durchführung  der  nen^  Methode  noth- 
vendig  werden,  dass  die  Arbeitsachnle  künftig  nicht  mehr  in  die 
Hind  der  NShterin  im  Dorfe,  sondern  unter  die  Leitung  einer  wirk- 
fiehen  Arbeitslehrerin  gelegt  werde,  die  ja  wol  auf  dem  Lande  meh- 
rere Schalen  zusammen  oder  getrennt  besorgen  könnte.  Nicht  ohne 
Schwierigkeiten  werden  sich  die  Mütter  und  Hausfrauen  Ton  der  bis- 
lier  fast  allgemein  üblichen  Anschauung  trennen,  dass  die  Arbeits- 
schule in  ei"Ster  Linie  im  Dienste  des  Hauses  stelle  und  etwa  auch 
die  Flickereieii  für  die  Familie  zu  besorgen  habe.  Es  erhebt  sich  in 
di^se-r  Beziehiinir  bereits  eine  warnende  Stimme:  „Wenn  der  Arbeits- 
scimlunterricht  einseitig  in  den  Dienst  der  Schule  gestellt  und  vom 
Hause  ab<relüst  wird,  dann  entreisst  man  Ihuiderten  von  Fraueu  einen 
Zweig  des  Schullebens,  an  dem  sie  sich  freudig  betheiligten.  Tausen- 
den von  armen  Müttern  ein  Mittel,  das,  der  Schule  unbeschadet,  den 
Pamüienbedürfnissen  vielfach  diente."  In  der  weiteren  Entwickelung 
des  Arbeitsschulunterrichtes  ist  wol  kaam  eine  gänzliche  Missachtung 
Ati  praktischen  Bedürfiiisses  zu  gewärtigen,  so  dass  die  geäusserten 
Bedenken  einstweilen  als  unbegründet  erscheinen  mfissen.  Die  rich- 
tigste Methode  wird  zwar  auch  hierin  noch  nicht  gefunden  sein,  aber 
es  wäre  schon  ein  grosser  Fortschritt  erzielt,  wenn  der  Classen- 
QDterricht  endlich  alle  sogenannten  Luzusarbeiten  aus  der  Arbeits- 
schule zu  verdrängen  vermöchte.  Allerdings  werden  auch  etwelche 
Opfer,  insbesondere  die  Beschaffung  von  Hilfe-  und  Lehrmitteln,  noth- 
vendig  werden,  um  den  Unterricht  in  der  Arbeitsschule  gedeihlicher 
zu  i^estalten;  aber  da  von  Staats  wegen  alljährlich  niclit  unerheb- 
liche Summen  für  die  Bildung  von  Arbeitslehrerinnen  aus- 
gegeben werden,  ist  auch  von  dm  (^cincindcu  ein  entfregenkomiiien- 
(les  Verhalten  in  dieser  Kiehtung  zu  erwarten.  Die  unmittelbare  Auf- 
Mfbt  der  Arbeitsschule  liegt  in  der  Hand  von  Frauen  vereinen,  die 
iiireu  freiNviliig  übeniommenen  l'tlichten  im  allgemeinen  in  geeigneter 
Weise  nachkommen.  Ausnahmen  von  dieser  Kegel  gibt  es  indessen 
ebenfalls  und  zwar  nach  der  Richtung  hin,  dass  diese  Aufsichtsorgane 
etwa  des  Guten  zu  viel  thun,  indem  sie  der  Arbeitslehrerin  überall 
glauben  helfen  zu  mfissen,  oder  dann  in  der  Kiehtung,  dass  sie  das 
Insdtat  allzu  sehr  sich  selbst  überlassen.  —  Die  Beschaffhng  des 
Aibdtsmaterials  geschieht  in  vielen  Gemeinden  gemeinschaftlich  auf 
Kosten  der  Eltern  oder  der  Gemeinde  oder  unter  theilweiser  Mitwir- 
Itung  der  Schulcasse  für  die  ärmeren  Schülerinnen. 

nBine  Anzahl  Gemeinden  (Zürich,  Niederster,  Töss  u.  a.)  haben 


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—   418  — 

freiwillige  Arbeitsscliulen  liir  die  Erfränziiii^rsschfllerinnen  eniclitet  und 
der  Besucli  ist  einstwcileu  als  ein  belriedii^'-ender  zu  bezeichnen." 

„Die  Arbeit sscliu  11  iaf,'-e  bildete  im  Berichtsjahre  Gegenstand  mehr- 
facher Beschlüsse  und  Berathungen  im  Schosse  der  Schulbehörden. 
Einmal  wurden  die  Bezirksschulpflegen  Zürich  und  Winterthur,  welche 
die  Inspection  ihrer  Arbeitsschulen  vorübergehend  in  die  Hand  weib- 
licher Experten  zu  legen  wünschten,  mit  den  nöthigen  Competenzen 
hierfür  ansgerOstet.  Ferner  legte  die  Erziehnngsdirection  dem  Ende- 
hnngsrathe  einen  Plan  vor  für  einheitlichere  methodische  Gestaltung 
desArbeitsschnlunterrichts  und  successive  Instmetion  der  Lehrerinnen, 
dessen  Ansfühmng  nunmehr  bereits  im  Gange  ist  Endlieh  fand  auch 
eine  einlässMche  Besprechung  übw  die  Frage  der  Erweiterung  des 
Obligatorioms  in  der  Oonferenz  des  Erziehnngsrathes  mit  Abgeordne- 
ten der  Bezirksschulpflegeu  statt,  welche  zu  nachfolgenden  Resolntio- 
uen  tu  Inte: 

a.  Die  Ausdehnung  des  Obligatoriums  der  Arbeitsschule  für  die 
ergänzungsschulpflichtigen  Mädchen  wird  als  allgemein  ge- 
fühltes Bedürfnis  bezeiclmet. 

b.  Bei  Anliaiidnalime  der  gesetzlichen  Kegulinmg  dieser  Frage 
ist  mit  Rücksicht  auf  die  projectirte  achtclassige  Primarschale 
die  Erweiterung  um  zwei  Jahrescurse  mit  reducirter  Stunden- 
zahl in  den  untersten  CUssen  anzustreben." 

„Die  Erziehnngsdirection  gedenkt  nach  Beendigung  der  diesjähri- 
gen Arbeitslehrerinnencnrse  in  den  Bezirken  einzelne  Yerfaältnisse  der 

Arbeitsschulen  auf  einheitliche  Art  unter  Genehmi^ng  des  Regiemngs- 
rathes  zu  ordnen  und  namentlich  auch  durch  Einrichtung  besonderer 
Curse  Vorsorge  zu  tretfen,  dass  das  Arbeitslehrerinnenpersonal  sich 
immer  mehr  aus  besonders  hiei-fiir  vorbereiteten  Personen  erneuere. 
Ebenso  werden  die  vorberatlieiiden  Behörden  zu  iiinen  geeiüiiet  schei- 
nender Zeit  den  oberen  Instanzen  eine  Gesetzesvorlage  über  dasAi'beits- 
schul Wesen  unterbreiten." 

Diese  Anstalten,  '^35  an  der  Zahl  mit  391  Lehrerinnen,  sind  im 
Jahre  1880  von  lOöO.'i  Mädchen  besucht  worden. 

Die  Besoldung  der  Arbeitslehrerinnen  ist  in  den  Städten  aus- 
reichend, 1200—1300  Mark,  Frk,  1000—1700,  auf  der  Landschaft  per 
Stunde  jährlich  ca.  Frs.  50. 

VI. 

Die  Besoldung  der  Primarlehrer  ist  durch  Volksbeschluss 
also  festgesetzt: 


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—   419  — 


„Das  Minimum  derselben  beträgt  Frk.  120(.)  iliGO  Mark)  nebst 
Wohnnnir,  zwei  Klafter  oder  sechs  Ster  Holz  und  ^/a  Jiichart 
(18  Ar)  Gemüseland.  Wo  diese  Naturalleistungen  von  der  Gemeinde 
ans  irgend  einem  Grunde  nicht  verabreicht  werden  können,  sind  die- 
fldben  durch  eine  Baarsumnie  anszogleichen.  Die  Höhe  derselben  setzt 
die  Bezirksschnipflege  fest  Von  der  Baarhesoldnng  von  Frk.  1200 
flbemimmt  der  Staat  zuerst  die  eine  Hälfte,  an  die  andere  Hälfte 
trftgt  er  nach  Uassgabe  des  Steuerfnsses  der  Gemeinde  und  der  fOr 
diese  Ausgabe  verwendbaren  Zinse  des  Schnlfonds  bei.  Keine  Ge- 
meinde soll  dabei  leer  ausgehen,  aber  auch  keine  soll  den  vollen  Be- 
trag der  zweiten  Hälfte  erhalten. 

Der  Staat  gewährt  überdies  den  Lehrern  für  das  sechste  bis 
zelmte  Dienstjalir  Frk.  100,  tiir  das  elfte  bis  fruilzihnte  Frk.  200, 
für  das  sechszehnte  bis  zwanzi(>-ste  Frk.  300  und  für  mehr  als  zwan- 
zig Dienstjahre  Frk.  400  jährliclie  Yaüivj:*^-  >^om\t  erliält  der  Lehrer 
an  der  kleinsten  Dorfschule  als  AnfangsbesDldunsj:  mindestens  Frk.  1 500 
(12(  jO  Mark),  die  Naturalleist  untren  inbegritfen  ;  nach  20  Jahren  Dienst 
mindestens  Frk.  1900  oder  1520  ^Mark.  Ja,  der  ßefrierun.c:.srath  ist 
befugt,  um  öfterem  Lehrerwechsel  vorzubeugen,  die  Besoldung  der  Leh- 
rer an  einzelnen  abgelegenen  Schulen  aus  Staatsmitteln  um  Frk.  300 
fiber  den  Nonnalsatz  zu  erhöhen. 

Nur  eine  kleine  Zahl  von  Gemeinden  lässt  die  Lehrer  bei 
der  durch  das  Ge^tz  vorgeschriebenen  Minimalbesoldung  stehen.  Die 
ttberwiegende  Zahl  zu  Stadt  und  Land  fügt  aus  eigenen  Mittehi  nam- 
hafte Zulagen  hinzu,  Frk.  100  bis  1000.  Wenn  die  Oemeinde  das 
thut,  so  betheiligt  sich  der  Staat  auch  an  dieser  Mehrausgabe.  So 
betrügt  die  Durchschnittsbesoldung  der  zfircherischen  Primarlehrer 
Frk.  2000  oder  1600  Mark;  in  äm  grosseren  Ortschaften  bedeutend 
mehr.  Winterthur  bezahlt  als  Anfangsbesoldnng  Frk.  2700,  legt  von 
fünf  zu  fünf  Jahren  wie  der  Staat  je  Frk.  100  hinzu,  so  dass  nach 
20  Dienstjahren  das  Salair  Frk.  85(M)  oder  28CK)  Mark  beträ-rt.  So 
auch  in  Ziiricli  und  andern  Orten,  ('berdies  ist  wol  zu  beach- 
ten, dass  in  einer  (Teincindc  die  Besoldung  aller  Primar- 
lehrer dieselbe  ist,  stelle  ein  solelier  an  einer  unteren  oder 
an  einer  oberen  Classe.  Alle  sind  in  Besoldung,  üaug,  ^Stellung, 
Ansehen,  in  Rechten  und  Pflichten  gleich.  Da  sucht  man  umsonst 
Unter-,  Mittel-  und  Oberlehrer  mit  einer  diesen  Titeln  entsprechenden 
Besoldungsscala.  In  Gemeinden  mit  vielgetheilten  Schulen,  wo  die 
Lehrerschaft  das  Recht  der  Stellvertretung  in  der  Pflege  durch  Dele- 
girte  ansftbt,  bei  Besetzung  amtlicher  Stellen  kennt  man  keine  Oberen 


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—    -^20  — 


und  Unteren,  keine  besser  und  minder  Bezahlten.  Daher  bleibt  unserer 
Schule  ein  Heer  von  Übelstiinden  fern,  sammt  der  ewigen 
Jaj?d  von  unteren  Classen  nach  oberen,  die  anderswo  die  Schule 
coiitinuirlich  schädigen.  Jeder  T.ehrei-  kann  unbeschadet  seiner  äusseren 
Existenz  an  der  Stelle  bleiben,  die  seiner  Neigun^^  und  Be- 
fähigung am  besten  zusagt.  Es  kann  auch  nicht  die  gewiss  ver- 
kehrte Meinung  aufkommen,  der  Unterricht  an  den  Elementar- 
classen  sei  minder  wichtig  and  schwierig  als  derjenige  an  den  oberen, 
wShrend  gerade  der  Lehrer  der  Kleinsten,  den  weniger  der  Lehrstoff 
mehr  etwa  die  Methode  geistig  anregt,  der  aber  ein  tiefes  Verstftod- 
nis  für  die  Eindesnator  und  deren  Entwickeliing  besitzen  und  warmes 
Interesse  daran  nehmen  mnss,  eines  nicht  geringen  geistigen  Fonds 
bedarf,  wenn  er  immer  frisch,  heiter,  Jnng,  lebendig,  mit  einem  Wort 
ein  guter  Lehrer  f&r  die  Jttngsten  bleiben  wül,  was  yon  allererster 
Wichtigkeit  ist,  da  von  der  Omndlage  der  Fortban  abhängt. 

Diese  Organisation  erweist  sich  fort  und  fort  als  eine  sehr 
segensreiche. 

Die  Stellung  der  Primarlelirerinnen  im  Kanton  Zürich  ist  wol 
ein  Unicum,  aber  kein  schlimmes.  Zunächst  machen  sie  denselben  Bil- 
dungsgang und  zum  Theil  auf  denselben  Schul])änken  durch  wie  die 
Lehrer;  bestehen  mit  und  unter  ihnen  gemeinsam  die  nämliclie  Staats- 
prüfung und  immer  mit  Ehren.  Dass  die  Anforderungen  nicht  gering 
sind,  beweist  der  Unterrichtsplan  der  Bildungsanstalt  lür  Lehrer  und 
Lehrerinnen.  Auch  die  letzteren  haben  z.  B.  im  mathematischeD 
Unterricht  als  Stoff 
im  3.  Jahre:  a.  Exponential-  und  logarithmische  Reihen  znr  theore- 
tischen nnd  praktischen  Kenntnis  der  Logarithmen. 

b.  Die  trigonometrischen  Reihen  und  complexen  Zahlen. 

c.  Die  Stereometrie  nnd  Ranmtiigonometrie. 

d.  Die  Anfänge  der  darsteUenden  G^metrie.  Bech- 
nungsan^ben  aus  der  physischen  und  mathemati- 
schen Geographie. 

im  4,  Jahre:  a.  Die  hauptsächlichsten  Eigenschaften  der  höheren 

Gleichungen.  Speciell  die  Auflösung  der  cubisclien 
(■rleichun^en. 

b.  ('ix'niinatengeometrie  der  Linien  des  ersten  und 
zweiten  Grades. 

c.  Fortsetzung  der  llbungen  aus  der  dai^stelleiidea 
Geometrie.  Anwendung  auf  mathematische  Geogra- 
phie und  Himmelskunde.    Praktische  Geometrie, 


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—  421  — 


Plan-Aofiaahme  und  Zeichnung.  Solche  Übungen 
können  auch  schon  vor  der  4  Classe  yorgenom- 
men  werden. 

Überdies  sind  In  jeder  Glasse  theoretische  und  praktische  An- 
wendongen  mit  dem  ünterricht  zu  verbinden.  In  den  flbrigen  Disdplir 
BSD  wird  dieselbe  Ausdehnung  und  Vertiefung  gehandhabt.  Ausser 
den  sdbstverständlichen  Unterrichtsftchem  werden  drei  fremde  Spra- 
ehen  gelehrt:  die  französische  durch  alle  viei*  Jahresclassen,  die  eng- 
Bsche  durch  die  drei  ersten,  die  lateinische  durch  die  zwei  ersten. 
L'^r  Besuch  des  französlsclien  Unten'ichts  ist  obligatorLscli,  der  der 
beiden  andern  Sprachen  facultativ. 

Das  alles  haben  die  weiblichen  Zöj^linge  mitzumachen  wie 
die  männlichen.  Und  was  sagen  dazu  diejenijüfen,  die  in  der  Ijiigi^ 
waren,  ilen  Gang  der  Dinge  beobachten  zu  können,  die  Seminarlehrer 
and  die  Mitglieder  der  Aufsichtscommission? 

Im  amtlichen  Bericht  über  das  Seminar  vom  Jahre  1876  lesen  wir: 

„Weibliche  Zöglinge  waren  am  Ende  des  Cursus  20.  Das  Zusam- 
mensein von  Zöglingen  beiderlei  Geschlechter  in  der  Anstalt  zeigte 
keinerlei  Nachtheile;  der  Emst  der  Arbeit  und  die  Prosa  des  tftg- 
liehen  Verkehrs  boten  das  Gogttigewicht  gegen  Trftumerdoi  oder  Aus- 
sehreitangen  und  hatten  eine  dttigende  Wirkung,  so  dass  die  Direction 
bedauern  würde,  wenn  die  Errichtung  der  weiblichen  Semi* 
aarien  die  Folge  hfttte,  dass  das  Seminar  inKfissnacht  seine  weib- 
lichen Zöglinge  verlöre. 

Im  Bericht  von  1877  heisst  es:  „Die  Absenzen  berechtigen  nicht 
dazu,  die  Widerstandskraft  der  weiblichen  Zöglinge  gegen  schädliche 
Eiullüs^e  als  geringer  zu  taxiren,  als  diejenige  der  männlichen." 

In  demjenigen  von  1878  findet  sich  folgende  Stelle:  ,,ln  der 
Mathematik  wurde  nunmelir  zum  «Tstennial  der  neue  Lehrphm  durch- 
geführt. Es  ist  damit  der  Beweis  geleistet,  dass  den  Anforderungen 
tlesselben  in  allen  Filchern  ein  Genüge  geliefert  werden  kann,  und  es 
ist  dieser  Beweis  wol  ein  vollgiitiger,  da  die  erstmalige  Durch- 
fiihruug  eines  Lehrplanes  je  weilen  die  grössten  Schwierigkeiten  bietet 
and  in  diesem  Falle  noch  erschwert  worden  war  durch  eine  stark  bevöl- 
kerte Classe  (40  Zöglinge),  die  im  ersten  Ours  in  zwei  Parallelabthei- 
loagea  getheilt  gewesen  und  hierauf  zosammengezogen  worden  waren." 

Also  auch  da  sind  die  weiblichen  Zöglinge  nicht  zurück  und 
stecken  geblieben.  Ja  wir  haben  von  Seminaristen  und  Seminaristin- 
nen gehört,  dass  die  letzteren  sich  gar  nicht  neben  den  ersteren  zu 
sehimen  hatten,  was  auch  die  Resultate  der  Patentpräfiing  bestätigten« 

Padagsgioia.  «.  Jalttf  .  H«ft  VIL  28 


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—   422  — 


In  der  Verwendung  der  Lehrerinnen  für  die  verschiedenen  Schiü- 
stufea  besteht  nicht  die  geringste  Beschränkung.  Sie  unterrichten  an 
Classen  mit  6jährigen,  "wie  an  Classen  mit  14-  und  löjährigen 
Knaben  nnd  Mädchen.  Überall  haben  sie  sich  ihrer  Aufgabe  voll- 
kommen gewachsen  nnd  den  Lehrern  ebenbürtig  gezeigt  Unter  Um* 
ständen  leiten  sie  gemischte  SingchGre  Erwachsener,  wie  anch  Fort- 
büdnngsschnlen  fDr  die  Jngend  vom  15.  Alter^^'^  ^  amtlichen 
Zeugnisse  Ober  ihre  Wirksamkeit  lauten  dnrdiwegs  sehr  gfinstig.  „Sie 
zeichneten  sich  bei  der  Staatsprfiftmg*',  heisst  es  in  einem  soldien, 
„ganz  besonders  dnrch  tflchtige  Leistungen  ans  nnd  legten  anfb  nene 
den  Beweis  ab,  dass  sie,  was  Leistungsfähigkeit  nnd  Wissen  betrifft, 
ihren  männlichen  Collegen  vollständig  ebenbürtig  sind.  Dass  dies  auch 
in  der  Schuh;  der  >'all  ist,  haben  die  gemachten  Erfahrungen  dar- 
gethan."  Uns  ist  daher  jener  Eifer,  der  sich  seiner  Zeit  in  einer 
Lehrerversammlung  zu  Hamburg  gegen  die  Verwendung  von  weib- 
lichen Lehrkräften  so  laut  kundgetban  hat,  völlig  unverständlich  und 
unbegreiflich. 

Da  man  den  Lehrerinnen  ganz  die  gleichen  Lasten  auflegt  wie 
den  Lehrern,  werden  sie  anch  ganz  gleich  wie  diese  bezahlt.  Die  frei- 
willigen Besoldungszulagen  von  Seite  der  Gemeinden  werden  den  Lehr 
rerinnen  mit  gleicher  Bereitwilligkeit  gewährt  wie  d^  Lehrern.  Man 
bezahlt  eben  die  Leistung^  Gleiche  Pflichten ,  gieiehe  Rechte.  In 
unserer  Demokratie  ist  die  Ansicht,  als  ob  das  weihliche  G^eschlecht 
fOr  wissenschaftliche  Bem&arten  im  Wesentlichen  nunder  hefiOugt  sei 
als  das  männliche,  so  ziemlich  abgethan.  Im  Jahre  1873  sanetio* 
nirte  das  Volk  mit  grosser  Hehrheit  die  Gesetzesbestim- 
mung, welche  dem  weiblichen  Geschlecht  den  Zugang  znm 
Hochschulstudium  ebnete.  Die  regierungsräthliche  Weisung,  die 
dem  Gesetzentwurf  beigegeben  war,  sagt  : 

„In  der  demokratischen  Republik  wird  niemals  aus  dem  Auge  zu 
verlieren  sein,  dass  eine  der  Grundbedingungen  des  Gedeihens  auf  der 
allmählichen  Ausgleichung  der  geistigen  und  moralischen  Besitzthünier 
beruht,  so  zwar,  dass  die  Wege  zur  höheren  Stufe  der  Erkenntnis 
jedem  Talent  leicht  zugänglich  sein  sollen.  Vom  Standpunkt  einer 
humanen  und  w  ahrhaft  liberalen  Zeitanschaunng  ans  ist  gegen  das 
Studium  der  Frauen  an  sich  nichts  einzuwenden;  es  ist  ntfr  darauf 
Bedacht  zu  nehmen,  dass  weibliche  Studirende  weder  zu  jung,  noch 
zn  wenig  yorbereitet  erscheinen,  am  mit  rechtem  Nntzen  dem  Hoch- 
schulnnterricht  folgen  zn  können.** 

Auch  die  Docenten  an  der  Universität  halten  eine  andere  Art 


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—  423  — 

Ansbildang  nicht  Ar  nöthig,  selbst  nicht  bei  Disciplinen,  die  eine 
«tehe  am  ehesten  rechtfertigen  konnten.  £in  vor  mir  liegendes  Zeng- 
ais  des  akademischen  Senates  von  Zflrieh  lantet:  „Die  Anwesenheit 
Ast  weibUchen  Stndirenden  in  den  theoretischen  nnd  praktischen  Cor- 
m  gab  m  keinerlei  Störungen  Veranlassung.  Die  Vortrftge  und 
Demonstrationen  werden  ohne  BQcksicht  anf  die  anwesenden  Damen 
gehalten  nnd  auch  bei  den  anatomischen  Übangen  nnd  den  klinlsehen 
Torweisimgen  wird  der  Lehrstoff  so  behandelt,  wie  wenn  nnr  mflnn- 
Uche  Zahörer  anwesend  wären.  Trotzdem  hat  sich  nie  ein  Austaud 
«geben." 

(Sehhut  fSDigt.) 


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« 


Wiener  Geschieliteii. 

Von  Dr,  J?yiedrich  Dittea, 

m 

^  och  elie  ich  auf  meine  Erklärungen  vom  1.  Februar  irgend 
eine  Antwort  erhielt,  ereijjnete  sich  ein  Zwischenfall,  welcher  die 
ohnehin  verwickelte  Situation  noch  mehr  verwirrte.  Am  14.  Februar 
zur  Mittagszeit  bekam  ich  eine  Zusclirift  folgenden  Wortlautes: 

„Ew.  HodnvolgeboronI  Aus  ganz  verUls^Hcher  Quelle  wird  mir  die  Kunde, 
dass  im  Kivi.se  der  Zü^liDge  des  stiidt.  Lelirer-Padagogiuius  Unt^'rscliriften  fiir 
eine  Petition  gesammelt  werden,  in  welcher  den  von  mir  an  der  genannten 
Anstalt  gehaltenen  Vorträgen  aus  Deutsch,  Logik,  Psychologie  und  Pädagogik 
»jene  Tiefe  und  wineneehaflliehe  OribidiicUceit"  aberkannt  ^d,  „die  der 
wurde  einer  Hochadrale  entspricht*'.  —  Schfller  atoo  sitEen  fiber  den  wiseen- 
eehafUichen  Wert  der  Leistungen  ihres  Lehrers  zu  Gericht,  —  gewiss  ein 

Ünicum!  In  Folge  dieses  Schrittes,  welchen  ich  in  gebührender  W^eise 

zu  beleuchten  mir  erspare,  bin  ich  fest  entschlossen,  den  Unterricht  am  stiidt. 
T.ehrpr-Püdarrogium  sofoit  abzubrechen  und  denselben  nur  dann  wiedp!-  aiifzn- 
nehnien,  wenn  mir  völlige  iTcnugthunng  tür  die  ])er8önliche  Beleidigung  ge- 
worden, welche  in  dieser  anniassenden  Haltung  eines  Theiles  der  Hörerschaft 
für  mich  liegt.  Hiervon  habe  ich  die  löbliche  Aufsichts-Commission  bereits 
TerttKndigt  Indem  ich  Ew.  Hochwdgeboren  von  diesem  Schritte  Hittheüimg 
mache,  bin  ich  Ihr  gehorsamer  Diener  Prof  Dr.  J.  Pommer.  Wien  13/2.  81.'^ 

Das  war  mir  eine  seltsame  Botschaft,  und  icli  wnsste  nicht,  was 

ich  von  ihr  denken  sollte.    Ich  hidt  die  Ennde,  aof  welche  sich 

Dr.  Pommer  berief,  fftr  ein  Iklsches  G«rücht  nnd  machte  mich  sofort 

auf  den  Weg,  mn  ihn  aufzusuchen,  über  den  Sachverhalt  zu  befragten 
und  wo  möglich  von  der  Ausführung  seines  Vorhabens  abzuhalten. 
In  seiner  Wohnung  erfuhr  ich  von  einem  Dienstboten,  der  Herr  Pro- 
fessor sei  sammt  Frau  ausgegangen.  Ich  gab  meine  Visitkarte  ab, 
trug  der  Maird  Knipfehlungen  auf  und  fügte  bei,  sie  möge  dem  Herrn 
Pr(tf»'ssor  sagen,  dass  ich  ihn  gern  recht  bald  sprechen  möchte.  Aber 
Dr.  Pommer  Hess  sich  nicht  sehen,  obgleich  er  recht  wol  die  Zeit  zu 
einem  dringenden  Gange  hätte  finden  können.  An  seinem  (Tymnasium 
waren  gerade  Ferien,  nnd  bezüglich  des  Pädagogiums  hatte  er  sich 
in  den  letzten  Tagen  wegen  Erkrankung  eines  Kindes  entschoidigt. 


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—  425  . — 


Als  ich  ins  Pädagogimn  zurückgekehrt  war,  erfahr  ich  bald,  dass 
Herr  Dr.  Pommer  einer  ordnungsmässigen  Schlichtung  der  Sache 
bereits  vorgegriffen  hatte.  Wie  gewöhnlich  (es  war  ein  Montag)  er- 
schienen gegen  5  Uhr  die  ersten  Zöglinge  nnd  Hörer,  nnd  als  ich 
^iesdben  ins  Directionazimmer  kommen  liesSi  wnssten  sie  bereits,  um 
was  es  sich  handle.  Dr.  Pommer  hatte  nämlidi  nicht  nur  der  Com- 
nission,  sondern  aach  der  Hörerschaft  in  m^eren  gleichlautenden 
Briefen  wörtlich  dasselbe  geschrieben  wie  mir,  nnd  so  war  der  Vor&U 
bald  in  allen  Chissen  bekannt.  Als  ich  nun  der  Sache  nachforschte, 
erfuhr  ich,  dass  allerdings  ein  grosser  Theil  der  Zöglinge  and  Hörer, 
namentlich  diejenigen,  welche  an  den  von  Dr.  Pommer  supplirten 
Fächern  ein  besonderes  Interesse  hatten,  im  Hinblick  auf  das  mit  dem 
ersten  Semester  zu  Ende  gehende  Provisuriimi  übereingekommen  waren, 
eine  Petition  an  die  Aufsichtscomiiiission  zu  richten,  damit  endlich  die 
vaciinte  Lehrerstelle,  deren  bisheri^^c  Supplirung  mangelhaft  gewesen 
sei,  definitiv,  und  zwar  mit  einer  tüchtigen  Lehrkraft  besetzt  werde. 
Die  Befragten  versicherten,  es  habe  den  Gesuchstelleni  lediglich  der 
Fortbestand  und  das  Gedeihen  der  Anstalt  am  Herzen  gelegen,  sie 
hätten  aber  keineswegs  beabsichtigt,  Herrn  Dr.  Pommer  (dessen  Namen 
sie  äbrigens  nicht  genannt)  zu  beleidigen.  Die  Anführungen  desselben 
seien  auch  nicht  der  wahre  Wortlaut  der  Petition,  in  welcher  z.  6. 
von  der  „Wfirde  einer  Hochschule"  nichts  vorkomme.  Aber  die  Sup- 
idirong  sd  thatsächlieh  eine  sehr  mangelhafte  gewesen)  so  dass  in 
den  beti«ffenden  F&chem  kein  planmässiger  und  befriedigender  Fort- 
sebritt  stattgefunden,  und  in  Folge  dessen  auch  die  Frequenz  gelitten 
habe.  Wenn  auch  im  zweiten  Semester  keine  Änderung  ehitreten 
sollte,  so  wttrde  die  ganze  Anstalt  grossen  Schaden  leiden,  und  dies 
zu  verhüten,  sei  der  einzige  Zweck  der  Petition,  deren  Inhalt,  sofern 
«r  sich  auf  Herrn  Prof.  Pommer  beziehe,  die  Unterzeichner  durch  zahl- 
reiche und  triftige  Belege  vor  jedermann  zu  vertreten  bereit  seien. 
Das  Schriftstück  selbst  konnten  mir  die  Befragten  nicht  vorlegen,  da 
es  ausser  dem  Hause  zur  Unterschrift  circulirte.'  (Den  Woi'tlaut  des- 
selben lernte  icli  einige  Tage  später  kennen,  als  es  in  einer  Comraissions- 
sitzung  auf  dem  ßathhause  verlesen  wurde.)  Ich  sagte  ilinen,  da  sich 
Dr.  Pommer,  wie  aus  seinem  Briefe  hervorgehe,  durch  die  Petition 
beleidigt  fähle,  und  da  die  fragliche  Angelegenheit  wol  ohnehin  dem- 
nichst  znr  Verhandlung  kommen  werde,  so  dürfte  es  am  besten  sein, 
den  beabsichtigten  Schritt  ganz  zu  unterlassen;  wollten  sie  sich  aber 
dennoch  an  die  C!ommis8ion  wenden,  so  möge  wenigstens  alles  weg- 
bleiben, was  Dr.  Pommer  als  eine  persönliche  Verletzung  auffiissen 


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—   426  — 


könne.  Sie  versprachen  mir,  in  dieser  Richtung  die  Sache  noch  einmal 

mit  ihren  Collegen  zu  besprechen.  Wie  ich  später  erfahren  habe,  ist 
dies  auch  geschehen,  aber  vergeblich.  Das  Schriftstück  war  schon 
mit  \ielen  Unterschriften  bedeckt  und  die  Unterzeichner  wollten  es 
nunmehr  wcdt  r  abändern,  noch  zurückhalten,  nachdem  es  Dr.  Pommer 
bereits  der  Commission  signalisirt  hatte. 

Das  Vorgehen  und  Verhalten  desselben  war  überhaupt  die  Ursache, 
dass  die  ganze  Angelegenheit  zu  einem  offenen  Conflicte  anwuchs.  Sie 
hätte  recht  wol  im  ersten  Stadium  geschlichtet  werden  können,  wenn 
Dr.  Pommer,  wie  es  loyal  und  schicklich  gewesen  wäre,  die  erste 
Kunde,  welche  er  von  der  Bewegung  seiner  Hörer  erhalten,  sofort 
mir  nnd  mir  aUein  mitgetheilt  hätte.  „Sämmtliche  Lehrer  haben  den 
Director  in  der  Anfredithaltong  der  Disdplin  sowie  in  allen  flbrigai 
Richtungen  seines  Amtes  kräftigst  zu  nnterstfltsen**  —  lautete  §  17 
unsers  Statutes,  und  da  Herr  Pommer  in  dem  Schritte  seiner  HSrer 
ein  grobes  Disciplinarvergehen  erblickte,  so  hätte  er  mir  doch  wenig- 
stens Mittheilung  von  demselben  machen  sollen,  ehe  er  in  eigen- 
mächtiger Weise  und  ohne  mein  Vorwissen  Lärm  schlug.  Femer  be- 
stimmte §  14  des  Statutes:  „Ohne  Erlaubnis  des  Directors  darf 
keine  Unterrichtsstunde  eingestellt  werden**  —  und  §  20:  „Kein  Lehrer 
kann  eigenmächtig  und  vor  Ablauf  eines  Semesters  von  der  Anstalt 
ausscheiden."  Das  Vorgclien  Pommers  war  also  ein  durchaus  ord- 
nungswidriges, und  eben  deshalb  konnte  es  nur  üble  Folgen  haben. 
Zwar  hat  dei*  Herr  Professor  nachträglich  (in  der  Conferenz  am 
3.  März)  vor  dem  ganzen  Lehrkörper  erklärt,  er  habe  nicht  eigen- 
mächtig, sondern  mit  Vorwissen  mehrerer  Commissionsmitglieder 
gehandelt;  allein  durch  diese  Erklärung  wurden  wol  Andere  beschul- 
digt, er  selbst  aber  nicht  entschuldigt 

Manchem  meiner  Leser  dflrfte  es  aufgefallen  sein,  dass  Herr 
Pommer  in  dem  angefthrten  Briefe  seine  Hörer  mit  besonderem  Nach- 
drucke ,J3ch1Uer^  nennt  Dieser  Ausdruck  erfordert  einige  Eiläute- 
rungen.  §  1  unsers  Statutes  lautete:  ,J)as  Pädagogium  ist  eine  vom 
Gemeinderathe  f&r  Volksschullehrer  (Lehrerinnen)  der  Commnoe 
Wien  errichtete  Fortbildnngsanstalt"  Nach  einer  weiteren  Bestim- 
mung des  Statutes  zerfielen  die  Besucher  der  Anstalt  in  „Zöglinge", 
welche  an  dem  ganzen  theoretischen  und  praktischen  Cursus  theil- 
nahmen  niiid  meist  Stipeiiditii  genossen),  und  in  ,. Hörer'',  welche  nur 
dem  thcorriischen  Unterrichte  und  zwar,  nach  freier  Wahl,  entweder 
in  allen  Gegenständen,  oder  nur  in  einer  P\ichgruppe,  oder  'endlich 
nui*  in  einzelnen  Fächern  beiwohnten.    Bezüglich  der  gefordeiten 


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—   427  — 

Vorbildung  war  kein  Unterschied.  Unser  ganzes  Auditorium  bestand 
als*;»  aus  ordnungsmässig  in  den  Staatsseminai-ien  vorgebildeten  und 
approbirten  Lehrern  und  Lehrerinnen,  von  denen  viele  bereits  alle 
Lehramtsexamina  (die  keineswegs  ein  Kinderspiel  sind)  und  überdies 
eine  neljährige  Thätigkeit  im  öfientlichen  Schuldienst  hinter  sich  hatten. 
Blosse  Aspiranten  konnten  überhaupt  nicht  ins  Pädagogium  aufge- 
Dommen  werden.  Es  war  hiemach  nicht  gerade  tactvoll,  dass  Ken* 
Pommer  seine  Hörer  nnd  Hörerinnen  so  nachdrücklich  „Schüler'' 
nannte,  zmnal  er  selbst  weder  an  Alter,  noch  an  Er&hmng  and  Reife 
Iber  aUe  imponirend  emporragte.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hat 
er  dnreh  diesen  Ansdmck  in  seinem  durch  eigene  Bemflhong  viel  yer- 
breiteten  Briefe  ein  sehr  störendes  Missverstftndnis  veranlasst.  Es 
wurde  nämlich  in  Gemeinderathskreisen  mit  besonderer  JSntrflstnng" 
Ton  einer  angeblich  im  Pädagogium  eingerissenen  „Disciplinlosigkeit'' 
gesprochen,  die  nnter  anderem  darin  bestehen  sollte,  dass  sich  „d'  Buom** 
/die  Buben  I  gegen  ihren  Lehrer  empört  hätten.  Ich  dachte  zuerst, 
dii^  sei  nur  eine  der  vielen  Artigkeiten,  mit  welchen  man  den  Lehrer- 
stand zu  beeliren  pflegt.  Allein  bei  genauerer  Nachfrage  merkte  ich, 
dass  viele  Geineinderäthe  wirklich  glaubten,  Herr  Pommer  habe  es  im 
Pädagogium  mit  Schulknaben  zu  thun  gehabt.  Freilich  war  ein 
solcher  Irrthum  leicht  möglich,  da  viele  Stadtväter  vom  Pädagogium 
absolut  gar  keine  wii'kliche  Kenntnis  hatten  und  nicht  einmal  vom 
ersten  §  des  Statutes  etwas  wussten.  Habe  ich  es  doch  erlebt,  dass 
mir  verschiedene  Eltern,  darunter  auch  Gemeinderäthe,  vierzehnjährige 
Sühne  nnd  Töchter  mit  dem  Verlangen  znfuhrten,  ich  möge  sie  ins 
Pidagogiom  aofhehmen,  und  dass  sie  empindUch  wurden,  wenn  ich 
Ümen  auseinandersetzte,  dass  dies  nicht  angehe.  Da  es  nun  aberdies 
Leute  gab,  welche  mit  ihren  Intentionen  um  so  besser  reussirten,  je 
mehr  Unsinn  und  Verwimmg  herrschte,  so  leistete  auch  das  Märchen 
TOD  den  sdiümmen  ,3uom''  eine  Zeit  lang  gute  Dienste;  zur  Ent- 
Strang  desselben  haben  aber  allem  Anscheine  nach,  wenn  auch  un- 
absichtlich, die  „Sdiüler*'  des  Herrn  Pommer  Veranlassung  und  Stoff 
geÜefert. 

i'ber  meine  Eingabe  vom  1.  Februar  hatten  wenige  Tage  später 
»•inigc  Wiener  Journale  Notizen  gebracht,  die  zwar,  wie  gewrdmlich. 
mit  Eutsütel hingen  versetzt  waren,  aber  doch  den  Hauptpunkt  meiner 
Erklärungen  erkennen  Hessen.  Hierdurch  wurde  die  Wiener  Lehrer- 
st  haft  alarmii-t,  und  es  begann  in  allen  Kreisen  derselben  eine  leb- 
hafte Discnssion,  aus  welcher  eine  kleine  Denluchrift  über  die  Situation 


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~   428  ~ 


des  Pfldagogiums  hervorj^inj^.  Diese  Kirndj^ebung  wurde  in  Druck 
gelegt,  damit  sie  einerseits  unter  der  Lehrerschaft  verbreitet,  ander- 
seits jedem  einzelnen  Mitgliede  des  Gemeinderathes  zugestellt  werden 
könnte.   Sie  lautete  wie  folgt: 

„MEMORANDUM 
an  den  löblichen  Clemeiii.derat]i  der  Beichshaapt-  and  Residenzstadt  Wien. 

Loblicher  Gemeinderath  der  Beiehshanpt-  ond  Beeidenzstadt  Wien! 

Von  jenem  Geiste  geleitet,  ans  welchem  anf  dem  Gebiete  des  BildongS' 
Wesens  die  oberste  staatliche  Leistung  Österreichs,  das  Reichsvolksschulgeseti, 
hervorgegangen  ist,  hat  die  Commnne  Wien  bei  Xnaagriffhahme  der  verdienst- 
vollen NpTijrostaltnng-  des  stUdtischrn  T'nterrichtswesens  das  Lehrer-PSdagoorinm 
als  eine  Schöpfung  ins  Leben  gernfen.  durch  welche  sie  sich  den  besonden-n 
Dank  der  Lehrerschaft  Wiens  für  alle  Zeiten  erworben  hat.  Die  fortschritt- 
liche Mehiheit  der  LehrtTScliaft  war  auch  stets  eifrig'  bemüht,  sich  die  dieser 
Anstalt  entfliessenden  Segnungen  zn  Nutze  zu  maeben. 

Bie  al^fthrlieh  von  der  Anftichtscompission  des  Pädagogiums  veröffent- 
lichten Berichte  sind  das  beste  Zeugnis  dafür,  da  diese  die  stattliche  Durch- 
Schnittsziffer  von  217  jährlichen  Frequentanten  für  die  letztverflossenen  acht 
Jahre  nachweisen  lassen.  Auch  die  ührige  Lehrerschaft  ÖsteiTeichs  hat  jeder- 
zeit in  Wort  und  Th.it  ihr  lebhaftes  Interesse  für  die  £r<^deihliche  Existenz 
dieser  An8t4ilt  bekundet.  T'etiren  doch  jährlich  Hunderte  von  Individuen  der 
jüngeren  Lehrergeneration  aus  der  Provinz  um  Lehrstellen  in  Wien;  nicht  der 
verm^ntlichen  materiellen  Besserstellung,  sondern  lediglich  der  Gelegenheit 
zur  Mgenen  geistigen  und  &cblichen  Vervollkommnung  halber,  welche  zu  ve^ 
raitteln  das  Pädagogium  berufBU  ist.  Von  Seite  des  Staates  ist  bte  heute  nicht 
Sorge  getragen  für  die  von  der  strebsamen  Lehrerschaft  sehnlichst  erwünschte 
Gelegenheit  znr  akademischen  und  möglichst  hohen  fachlichen  Ausbildung  des 
Lehrers:  eben  deswegen  steht  das  stUdtische  Pildagoginra.  welches  beide  ge- 
nannte L'ichtiin^^en  verfolgt,  einzig  in  seiner  Art  da.  Nicht  allein  die  Deutschen 
Österreichs  und  die  andeni  Nationalitiiten  des  Keiclu  s.  sondern  au<'h  das  Aus- 
land zollen  dem  Institute  hohe  Anerkennung.  Frecjuentiren  doch  jährlich, 
meist  subventionirt  von  der  heimatlichen  Begienmg,  den  Provinzen  Erain, 
Kroatien,  der  Grenze  Entsendete ,  dem  deutschen  Beiche  Angehörige,  Lehrer 
russischer  und  hulgariseher  Nation  das  Pädagogium,  ein  selbstredendes  Zeugufs, 
welch'  grossen  und  makellosen  Bufes  das  Pftdagoginm  sich  erfreut. 

Eine  betrübende,  den  gegenwärtig  obwaltenden  reaction^lren  Strömungen 
leider  entsprechende  Erscheinung  ist  es.  wenn  von  verschiedener  Seit*"  nicht 
nur  an  dem  Bestände  des  PUdagogiunis  gerüttelt,  sondern  geradezu  dessen  Ver- 
fall angestrebt  wird.  \'on  meist  anon3'mer  Seite  wird  das  Pildagogium  zum 
Gegenstände  von  Angriffen  gemacht,  welche  von  den  zahlreichen  Anhängern 
dieses  Institutes  mit  Bflcksicht  anf  den  inneren  Wert  desselben  bis  jetzt  kaum 
heachtet  und  Ar  machtlos  gehalten  wurden.  Doch  scheint  es,  als  wilrden  soldie 
Angriffe  auch  massgebenden  Ortes  ffir  gerechtfertigt  angesehen,  als  hätten 
solche  Anfeindungen  selV)st  bei  den  edlen  Grfindem  des  Pädagogiums  bereits 
Zweifel  an  dem  Werte  der  eigenen  Schöpftang  erregt. 


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Vorkommnisse  verschiedenster  Art  müssen  es  g-ewesen  sein,  die  den  Director 
dieses  lustitntcs,  Hpd  h  Dr.  PYiedr.  Dit  t  es.  bewogen  haben,  seine  LehrthUtig-keit 
daselbst  gänzlich  einzustellen  und  sich  blos  auf  die  vertragsmässige  Leitung 
der  Anstalt  zu  beschränken. 

Allerdings  motivirt  Herr  Dr.  Dütes  diesen  EntseUnss  mit  dem  Hinweise 
aof  seine  angegriffene  Gesondheitf  doeh  glauben  die  ergebenst  Unterzeichneten 
die  Vermuthang  aussprechen  zu  können,  dass  es  weniger  die  Anstrengnngen 
der  Lehrthiitigkeit  sind,  wekshe  die  Gesundheit  des  Directors  beeinflusst  haben, 
als  vielmehr  die  ^rissstimraung,  welche  die  Angriffe  pre^-en  die  von  ihm  preleitete 
Anstalt  in  ihm  envirtt^n.  Herr  Dr.  Dittes  war  zur  Orfranisation  des  TJida- 
goffinnis  berufen  woiden.  er  war  dessen  belebende)-  Gei-st.  die  Geschici^e  des 
Pädagogiums  sind  innig  an  seine  Person  geknüpft.  Zudem  lässt  sein  Rücktritt 
SQcli  den  Rfifiktritt  jenor  ansgeieifduieteB  Kinner  fürchten,  welche  bis  jetzt 
erfUgreich  an  seiner  Seite  gewirkt  haben. 

Kann  es  daher  Wnnder  nehmen,  wenn  diese.  Thatsaehe  die  Qemttther  der 
Lehrarsdiaft  Wiens  und  ausserhalb  Wiens  tief  erregt  hat.  wenn  man  die  Be- 
ftrchtnng  hegt,  der  Bestand  des  Pildagogiums  sei  gefährdet? 

Das  Volksschulwesen  Wiens  würde  durch  die  Auflassunfr  dieses  Institutes 
einen  grossen  Verlust  erleiden,  wie  bereits  die  derzeitigen  Zöglinge  und  Hüier 
des  Pädagogiums  durch  den  Rücktritt  seines  Directoi-s  von  der  Lehrkanzel 
ihren  Meister  verloren  haben.  Nachhaltig  sind  die  Einwirkungen,  welche 
Dr.  Dittes  dnreh  das  Pftdagoginm  insbesondere  anf  die  Lehrerschaft  Wiens 
ansfibte.  Wenn  seine  bahnbreehenden  Gedanken  auf  dem  Gebiete  des  Erziehongs- 
und  Unterrichtswesens  dnrch  seine  Schriften  in  die  gesammte  pädagogische 
Welt  getragen  wurden,  so  wirkte  sein  überzengungskräftiges  Wort  nm  so 
zündender  auf  jede  Individualitüt  seiner  Hörer.  Und  aus  dem  Hörsaale  ver- 
ptlanzte  sieh  der  empfundene  Eindruck  in  das  Stillleben  der  Schulstube,  segens- 
reich wirkend  auf  Gemüth  und  Verstand  der  Kinder.  Die  Lehrer  fühlten  sieh 
erfasst  von  jenem  Geiste  erziehlicher  Liebe,  es  duichglühte  sie  jene  Hoheit  der 
Gesinnung,  welche  allein  den  Lehrer  zor  idealen  AnfEassang  seines  Beraües 
filhrt  Die  Volksschnle  ist  eben  keine  Werkstätte  mechanischer  Arbeit»  bei 
welcher  schon  bei  Anwendung  von  Kunstgriffen  ein  gedeihlicher  Erfolg  in  Aus- 
sicht 8t«ht 

Die  ergebenst  Gefertigten  richten  an  den  löblichen  Gemeinderath  die  Hitte. 
dorn  aus  eigener  Initiative  gegründeten,  durch  die  prdssli erziere  Munificenz  dei' 
Commune  erlialtenen  Pädagogium  unter  den  obwaltenden  triilifu  Vorliilltnisseii 
jenes  Interesse  zu  widmen,  welches  dem  Verfalle  desselben  Einhalt  thun  kann, 
welches  demselben  frisches  Dasein  zu  geben  vermag.  Die  ergebenst  ünt^rzeich- 
netsn  bitten,  denPftdagoginms-Angelegenheiten  eüi  objectivesTJrtheil  angedeihen 
lassen  zn  wollen,  weil  sie  llbeneugt  sind,  dass  bei  Prflfting  der  Verhältnisse 
der  Bestand  der  Anstalt  nicht  weiter  gefährdet  erscheinen  wird.  Dieselben 
bitten  weiters,  nnter  Beiziehong  des  Directors  Hen'n  Dr.  Dittes  eine  Revision 
des  Statutes  nnd  des  Lehrplanes  vornehmen  zu  wollen,  nnnhdoiu  sich  eine  solche 
in  Folge  der  seit  dem  Bestände  tjpr  Anstalt  scmachten  Ki  i'alirungcn  als  noth- 
wendig  herausgestellt  hat.  Endlich  bitten  dit  st  lhen,  der  löbliche  Oemeinderath 
wolle  die  Ermöglichung  der  Wiedergewinnung  des  Herrn  Dr.  Dittes  für  die 
Lefarkaozel  der  pädagogisehen  RUsher  in  Betraeht  ziehen. 

Nur  wenn  die  YeriiHltniBse  sich  in  dieser  Weise  veijfingen,  halten  die 


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—   430  — 


1 


Gefertigten  das  Wol  des  PtdagoginiiiB  fOr  gesichert,  eines  Institntes,  dessen 
die  Lehrersdialt  in  Wien  im  Interesse  ihrer  jungen  Glieder  nicht  mehr  sn  ent- 
behren vennag.  Kan  beansprucht  vom  Lehrer  Intelligenz  und  fachliche  Tüch- 
tigkeit, darum  haben  die  Lehrer  die  ernste  Pflicht,  auf  Mittel  snr  Eriangnng 
beider  Eigenschaften  nicht  zn  verzichten. 

Wien,  am  13.  Februar  1881.** 

In  wenigen  Tagen  war  dieses  Memorandum  von  1059  W  iener 
Lehreni  und  Lehrerinnen  unterzeichnet,  und  so  wurde  es,  da  man 
keine  Zeit  verlieren  wollte,  schon  am  17.  Februar  von  einer  Deputation 
dem  Bürgermeister  Dr.  voE  Newald  überreicht  Gleichzeitig  übergaben 
einige  Zöglinge  des  Pädagogiums  die  oben  besprochene  Petition  be- 
zfiglich  der  vacanten  Lehrstelle.  Auf  den  Abend  desselben  Tages 
war  anch  eine  Sitzung  der  O>nuni88ion  des  PAdagoginms  angesetzt, 
wodorch  ich  denn  nach  langer  Zeit  wieder  ein  Lebenszeichen  von  der- 
selben erüielt 

Die  Gommission  hattd  sich,  ihrer  Gewohnheit  gemftss,  im  Verh&lt> 
nis  zor  Dringlichkeit  der  Sache,  nicht  gerade  beeilt  Als  ich  am 
1.  Febmar  meine  Erklänmgen  anfs  Rathhans  sendete,  waren  bis  znm 

Beginn  des  zweiten  Semesters  noch  nahezu  fünf  Wochen,  ein  Zeitraum, 
welcher  zui  Ikrathung  und  Feststellung  der  erforderliclien  Dispo- 
sitionen hinreicliend  j^ewesen  wäre,  wenn  man  ungesäumt  und  geraden 
Weges  die  Ordnuu«:  der  Verbältnisse  angestrebt  bätte.  Formelle 
Scbwierigkeiten  lagen  nicht  vor,  da  die  Commission  ausreichende  Voll- 
machten besass,  und  der  Gemeinderath  als  autonome  Körperschaft  von 
keiner  höheren  Instanz  abliängig  war.  Audi  die  materiellen  Schwierig- 
keiten waren  nicht  gross,  da  ich  gleich  anfangs  auf  ein  provisorisches 
Arrangement  Bedacht  genommen  hatte,  welches  sich  leicht  bewerk- 
stelligen liess  und  schliesslicli .  obwol  spät,  auch  von  der  Commission 
adoptirt  wurde.  Aber  die  officielle  Arbeit  nahm  eben  wieder  einen 
sehr  schleppenden  Verkuf.  Hinter  den  Coulissen  ging  es  jeden&lls 
viel  lebhafter  zu. 

Ich  für  mein  TheQ  konnte  zwar,  nach  aUem,  was  Toraasgegaag^ 
war,  nicht  gerade  mit  grossem  Vertrauen  den  bevorstehenden  Verband- 
Inngen  entgegen  sehen.  Allein  noch  hielt  ich  es  für  möglich,  wenn 
auch  nicht  für  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  Gemeinderath  sich  seiner 
Haltung  in  vergangenen  Zeiten  wieder  erinnern,  dass  er  den  obvs-al- 
tenden  Schwierigkeiten  eine  objective  Prüfung  und  die  erforderliche 
Abliilfe  niclit  versagen  werde.  Tch  dachte  mir,  dass  vor  allem  eine 
befriedigende  rompletirung  des  Lelirkrtrpers  stattfinden,  dass  demselben 
durch  eine  Kundgebung  des  (iemeiuderathes  die  gebührende  Satisfaction 


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zu  Theil  werden  müsse,  dass  ferner  durch  authentische  Antlclärungen 
von  berufener  Seite  die  ausgestreuten  Verdächtigungen  über  den  Geist 
des  Pädagogiums  zerstreut,  zugleich  aber  di<*  nnmdlinien  zu  der  von 
mir  längst  vorgeschlagenen  Vereinfachung  iKeorganisation)  gezogen 
werden  sollten,  damit  das  nächste  Schuljahr  wieder  in  geordneten 
Verhältnissen  beginnen  könne.  Ich  glaubte,  dass  diese  Angelegenheiten 
während  der  Frübjahrsmonate  zur  Erledigung  kommen  könnten,  dass 
ich  hierbei  als  Director  Arbeit  genug  haben  \irfirde,  dass  es  mir  aber 
während  des  Sommers  möglich  sein  dfirfte,  meine  Oesnndheit  wieder- 
herzastellen,  um  dann  anch  die  Lefarthätigkeit  wieder  aufoehmen  ra 
können.  Hit  diesen  Gedanken  hatte  ich  meine  Erklärungen  abge&sst, 
und  mit  ihnen  sah  ich  den  nnn  beginnenden  Verhandlungen  entgegen. 

Dieselben  erfolgten,  soweit  ich  persönlich  betheiligt  war,  in  zwei 
Conferenzen  der  Anfsichtscommission,  nämlich  am  17.  Febroar  nnd 
1.  März.   Hier  will  ich  gleich  bemerken,  dass  ich  seitdem  m  keiner 
Sitzung  (weder  der  Commission  des  Pädagogiunis  noch  einer  andern 
geineinderäthliclien  Commission)  wieder  eingeladen  worden  und  daher 
aoch  bei  keiner  mehr  zugegen  gewesen  bin.    Die  erste  der  bezeich- 
neten Conferenzen  war  sehr  stürmisch  und  blieb  olme  Resultat,  die 
andere  verlief  ruhiger  und  endete  mit  einem  positiven,  scheinbar  gün- 
stigen Bescliluss.    Abwesend  war  Weiser;  er  lag  krank  und  kam 
nicht  wieder.    (Wenige  Tage  nach  meinem  Kücktritte,  nämlich  am 
18.  Juli  1881,  schied  er  aus  dem  Leben.)    Den  Vorsitz  fiihrte  nun 
Frieb,  das  Protokoll  Landsteiner.   Als  Referent  über  meine  Ein- 
gabe fimgirte  Hoffe r.   Er  begann  mit  dem  auffallenden  Fehler,  dass 
er  die  in  meiner  Erklärung  enthaltene  Motivirnng:  „Meine  unbe- 
friedigenden GesnndheitsTerhältnisse"  u.  s.  w.,  sowie  die  Worte*,  „bis 
anf  Weiteres,''  die  doch  nach  dem  Zusammenhange  nur  bedeuten 
konnten:  bis  zur  Wiederherstellung  meiner  Gesundheit  —  ganz  igno- 
rirte,  als  ob  ich  aas  blossem  Belieben  und  überdies  für  alle  Zeit 
neiiie  Lehrthätigkeit  einstellen  wolle.   Dies  brachte  sogleich  einen 
gereizten  Ton  in  die  Verhandlungen.  Als  Hoffer  mit  der  Frage  schloss, 
ob  ich  meinem  Schreiben  keine  Ki lauterungen  beizufügen  habe,  be- 
merkte ich,  dass  dasselbe  meines  Erachtens  klar  und  genügend  motivirt 
sei.    Nun  trat  Herr  Gugler,  der  sich  überhaupt  höchst  geschäftig 
zeigte,  mit  der  verfänglichen  Frage  hervor:  ob  icli  meinen  Unti^niclit 
flnocli  für  erspriesslich  halte."    Ich  entgegnete,  dass  diese  Frage  der 
7Ai  auf  sich  beruhen  könnte,  da,  wie  man  dieselbe  auch  beantworten 
möchte,  meine  Gesundheitsverliältnisse  mich  zur  Unterbrechung  meiner 
Lehrthätigkeit  zwängen.    Da  die  Frage  aber  einmal  aufgeworfen 


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.  1 


—   432  — 

Bei,  so  müsse  ich  sie  in  interner  Hinsicht,  d.  h.  bezüglich  des  Erfolges 
bei  der  Hörerschalb,  nach  wie  vor  bejahen,  in  externer  Hinsicht 
aber  für  jetzt  yerneinen,  da  die  feindseligen  Angriffe  auf  das  Päda- 
goginm  zu  einem  guten  Theüe  sich  gerade  gegen  meine  eigene  Lehr- 
thätigkeit  richten;  die  zdtweilige  Unterbrechung  derselben,  während 
welcher  die  nothwendige  Aufklärung  erfolgen  könnte,  dflrfte  daher 
auch  dem  Frieden  und  Bestand  der  Anstalt  dienlich  sein.  Hoffentr 
lieh  würden  in  dieser  Zwischenzeit  auch  die  sonstigen  Schwierig- 
keiten, unter  denen  die  Anstalt  leide,  behoben  werden.  Da  fhtgte 
Hoff  er,  welches  denn  diese  Schwierigkeiten  seien,  indem  er,  nicht 
ohne  Pathos,  beifügte,  ich  möge  mich  ganz  unumwunden  aussprechen, 
wie  es  sich  „unter  Männern'"  gezieme.  Obwol  es  nun  der  Commission  offen- 
bar sclion  sehr  unangenehm  war,  dass  ich  sie  durch  meine  Kingabe  in 
ihrem  Stillleben  gestört  hatte,  und  idi  gern  alles  vermeiden  wollte,  was 
die  Stimmung  noch  verbittern  konnte,  so  durfte  icli  doch  diesem  Appell 
an  meine  Offenheit  nicht  ausweichen.  Ich  machte  also  zunächst  darauf 
aufmerksam,  dass  der  Concurs  bezüglich  der  vacanten  internen  Lehr- 
stelle noch  immer  nicht  erledigt  sei,  und  dass,  obwol  das  erste  Seme- 
ster demnächst  zu  Ende  gehe,  noch  niemand  wisse,  was  weiter  ge- 
schehen solle.  Hierauf  hob  ich  hervor,  was  die  Commission  seit  langer 
Zeit  verabsäumt  hatte  (s.  Nr.  V  u.  VI  dieser  Mittheüungen)  und  fügte 
hinzu,  es  handele  sich  da  um  Geschäfte,  die  keineswegs  beliebig  ge- 
than  oder  unterlassen  werden  konnten,  sondern  um  strenge  Pfliehteii, 
die  als  solche  im  Statute  ausdrücklich  vorgeschrieben  seien,  und  durch 
deren  Vemachlassignng  die  Commission  eine  grosse  Schuld  auf  sich 
geladen  habe.  Die  Unthätigkeit  derselben  müsse  den  Glauben  hervor- 
rufen, dass  das  Pädagogium  von  massgebender  Seite  verlassen  und 
aufgegeben  sei,  unct  Überdies  liege  es  auf  der  Hand,  dass  die  An- 
stalt desorganisirt  werden  müsse,  wenn  ein  so  wichtiges  Organ,  wie 
die  Commission,  nicht  mehr  fiiiutiouire.  —  Darauf  erwiderte  Herr 
Gugler,  welcher  iibcrliaupt  Ausserordentliches  leistete,  die  Unthätig- 
keit der  Commission  sei  meine  Schuld,  denn  meine  Pflicht  wäre  e^ 
gewesen,  die  Commission  zur  Thätigkeit  anzulialteii ,  und  icli  liätte 
dies  ja  eben  so  leicht  thun  können,  wie  ich  den  Weg  zum  Bürger- 
meister gefunden  hätte.  —  Ich  entgegnete,  dass  ich  bis  dahin  nicht 
gewusst  habe,  dass  ich  der  Aufseher  über  die  Aufsichtscommission 
sei;  meine  Sache  sei  es  gewesen,  derselben  die  nöthigen  Anzeigen, 
Berichte  und  Vorlagen  zu  machen,  was  ich  auch  nie  unterlassen  habe, 
aber  die  Commission  zur  Erledigung  ihrer  Geschftfte  zu  zwingen,  sei 
mir  unmöglich.  Was  die  Anspielung  auf  den  „Weg  zum  Bllrgermei- 


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—  433  — 

ster"'  betreffe,  so  müsse  ich  bemerkea,  dass  ich  Aberhaupt  nur  ein  eiu- 
ziiresinal  beim  Bürgermeister  gewesen  sei  and  zwar  auf  briefliche 
^nladiing  von  demselben;  auch  habe  es  sich  dabei  gar  nicht  um  die 
Geschftfte  der  Commissioii  gehandelt  (Herr  Gngler  sphien  m  glau- 
ben, ich  sei  beim  Bürgermeister  gewesen,  um  midi  über  die  Commis- 
9ion  za  beklagen;  meine  Leser  aber  wissen,  waa  ich  am  3.  December 
1380  mit  dem  Bürgermeister  zn  schaffen  hatten  etwas  anderes  aber  ist 
zwischen  ihm  und  mir  niemals  vorgekommen.) 

Andi  die  Affiiire  Pommer  wurde  vorgebracht,  und  mehrere  der 
Herren  von  der  Commlssion  (besonders  Gugler  und  Kühn)  wollten  auch 
hier  die  Schuld  auf  mich  laden.  Sie  meinten,  dass  ich  von  der  Agi- 
tation*' (hv  Hörerscliaft  gegen  Pommer  gewusst  haben  müsse,  und 
dass  ich  dieselbe  hätte  unterdrücken  sollen.  Es  scheine,  dass  sich  die 
Zöglinge  im  Directionszinimer  mit  mir  über  die  Saclie  besprochen  hät- 
ten; denn  es  seien  Stimmen  „herausgedrungen"  und  vernoinnien  wor- 
den, aus  denen  so  et^s•as  geschlossen  werden  kCiinie.  Ein  Coinniissions- 
mitglied  Hess  auch  die  Äusserung  fallen,  Dr.  Pommer  habe  bei  der 
Commission  vorgebracht,  dass  ich  ihm  auf  seine  Anzeige  bezugüch 
einer  wider  ihn  im  Hörsaale  vorgekommenen  Disciplinlosigkeit  keinen 
Beistand  geleistet  hätte.  —  Diesen  Anschuldigungen  gegenüber  er- 
zählte ich  den  oben  berichteten  Sachverhalt»  constatirte,  dass  mir  erst 
durch  Pommers  Brief  der  Vorgang  bekannt  geworden  war,  und  fügte, 
bei,  dass  ich  mich  gegen  dunkle  Insinuationen  mit  aller  Entschieden- 
heit verwahren  müsse.  Wol  sei  mir  bekannti  dass  eine  gewisse  Spio- 
nage geübt  werde ;  aber  zu  dem;  was  angeblich  zu  derselben  „heraus- 
gedrungen" sei,  kdnne  ich  so  langfe  nichts  sagen,  als  es  mir  nicht  von. 
dem,  der  es  gehört,  näher  bezeichnet  werde.  Mir  aber  sei  es  wahr- 
scheinlich, dass  Herr  Pommer  den  Director  nicht  in  so  anfßllligec 
Weise  übergangen  haben  würde,  wenn  er  nicht  andt  rswo  einen  Rück- 
halt gefunden  hätte  (eine  Vermuthung,  die,  wie  oben  berichtet,  sich 
dann  völlig  bestätigte).  Von  der  angeblich  von  P(jnHner  mir  ge- 
raachten Anzeige  sei  mir  nichts  bekannt.  (  Als  ich  später  Herrn  Pom- 
mer wegen  dieses  Punktes  befragte,  äusserte  er  nach  einigem  Zögern: 
er  habe  sich  geirrt,  es  sei  ein  (Tedächtnisfehler,  er  habe  den  Discipli- 
narfall  einem  Andern  erzählt.  Und  als  ich  ihn  fragte,  warum  er- 
.ihn  nicht  mir  ei-zählt  habe,  bemerkte  er,  das  sei  nicht  nötliig  gewesen, 
«r  habe  sich  selber  geholfen,  wozu  er  nach  dem  Statut  berechtigt  ge- 
wesen seL  Ob  Pommer  bei  der  CTommission  noch  andere  Beschwerden 
gegen  mich  vorgebracht  hat,  ist  mir  nicht  bekannt  geworden.) 

Der  Pommeresche  Disciplinarfall  war  in  einer  Lehrstunde  über 


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—  434  — 


Klopstock's  Messias  TorgdcommeiL  Diesen  Umstand  benutzte  Herr 
Eflhn  noch  zu  einem  andern  Vorwurf  gegen  mich.  Es  kam  nflmlich 
in  den  Conferenzen,  ftber  welche  ich  eben  berichte,  auch  die  Rede  auf 
die  von  den  TTltramontanen  Aber  mich  erhobenen  Klagen  wegen  Un- 
glaubens, Atheismus  n.  s.  w.  Nun  meinte  Herr  Kühn,  diese  Kla^n 
seien  nicht  ungegr&ndet,  da  ich  es  yerabsftume,  sie  durch  die  That  zu 
widerlegen:  ich  hätte  z.  B.  bei  dem  fraglichen  Disciplinarfalle.  der  sich 
bei  einem  so  eminent  relij^iösen  Werke,  wie  es  der  Messias  sei,  er- 
eignet habe,  in  den  betreft'enden  Hörsaal  gehen  und  dort  vor  dem  Audi- 
torium meinen  Glauben  kundgeben  sollen.  Aber  erstens  wurde  mir  der 
Vorfall  für  eine  solclie  Action  nicht  zeitig  genug  bekannt,  und  zwei- 
tens hatte  derselbe  keineswegs  einen  religiösen,  sondern  einen  rein 
persönlichen  ('harakter,  und  da  wäre  es  denn  doch  mehr  als  sonderbar 
gewesen,  wenn  ich  bei  solchem  Aolass  eine  Art  Glaubensbekenntnis 
abgelegt  hätte. 

Bezüglich  der  schon  berührten  äusseren  Schwierigkeiten,  welche 
dem  PAdagogium  und  insbesondere  meiner  Lehrthfttigkeit  entgegen- 
standen, machte  ich  der  Oommission  auf  Verlangen  ebenfSills  Mitthei- 
Inngen.  Diese  bezogen  sich  auf  die  meinen  Lesern  schon  bekannten 
Yerdftchtigmigen,  Anfeindungen  und  AnschlSge  gegen  das  P&dagogiom. 
Die  Mitglieder  der  Ck»mmission  nahmen  diese  Er5ffiiungen  im  Ganzen 
sehr  gleichgiltig  auf,  als  ob  ich  ihnen  nur/  unbedeutende  und  bekannte 
Dinge  sage  .... 

Allmählich  lenkten  die  Verhandlungen  in  eine  geordnete  Discus- 
sion  über  meine  Erklärungen  vom  I.Februar  ein.  Es  wurde  die  Frasre 
aufgeworfen,  ob  ich  berechtigt,  sei,  aus  eigenem  Entschlüsse  meine 
Lehrthiitigkeit  zu  unterbrechen.  Ich  meines  Tlieils  war  meiner  Sache 
siclier,  da  mein  Vertrag  hierüber  völliof  klar  und  endgiltig  entschied, 
wie  denn  auch  schliesslich  mein  Recht.sstandpunkt  nicht  mehr  bestrit- 
ten werden  konnte.  Dass  ich  densen)en  in  meiner  Eingabe  geltend 
gemacht  und  die  Freiwilligkeit  meiner  Lebrthätigkeit  betont  hatte, 
war  geschehen,  weil  mir  meine  ungünstigen  Gesundheitsverhältnisse 
dringend  geboten,  meine  Tb&tigkeit  dnzaschränken.  Hätte  ich  noch 
einiges  Wolwollen  gegen  mich  Toranssetzen  können,  so  wttrde  ich  midi 
nicht  auf  den  reinen  Bechtsstandpnnkt  gestellt  haben.  Wie  aber  die 
Verhältnisse  standen,  konnte  ich  die  mir  unentbehrliche  Schonung  nicht  • 
von  dem  guten  Willen  des  Gemeinderathes,  beziehentUch  von  einem 
Urlaub  abhängig  machen.  Da  hätte  ich  warten  können,  bis  mich  der 
Tod  beurlaubte,  was  mir  aber  nur  so  lange  conveniren  konnte,  als  es, 
um  mit  Herrn  Gngler  zu  reden,  ffir  das  Pädagogium  „erspriessUch" 


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J 


—  435  — 


WMT,  Schon  im  Jabre  1878  hatte  ich  um  einen  Urlaub  nachgesucht, 
welchen  ich  zur  Wiederherstellung  meiner  Gesundheit  und,  soweit  es 
nebenbei  miSglich  sein  würde,  zum  Besuche  in-  und  anslflndisdier  Schu- 
len benutzen  wollte,  weO  ich  gianbte,  es  werde  dem  Wiener  Pädap 
gogium  von  Nutzen  sein,  wenn  sein  Director  sich  yor  bleibendem 
Siechthnm  bflte  und  statt  desselben  eine  mf^grlichst  genaue  Kenntnis 
der  neuesten  Fortechritte  im  Schulwesen  eintausche.  Der  Wiener  Ge- 
meinderath  scheint  anderer  Ansicht  gewesen  zu  sein.    Mein  Urlaubs- 
gesuch wurde  ohne  Weiteres  abgelehnt,  obgleich  damals  der  Lehr- 
körper des  Pädagogiums  complet   und  die  ganze  Anstalt  in  l)ester 
Ordnung  war.    Wie  hätte  ich  also  unter  den  de^^olaten  Verhältnissen 
von  1880  und  1881  einen  Urlaub  erwarten  oder  verlangen  können?  — 
Dasä  ich  aber  anter  allen  Umständen  auch  den  letzten  Rest  meiner 
Gesundheit  aufs  Spiel  setzen  müsse,  konnte  mir  unter  den  bestehenden 
Verhfiltnissen  nicht  mehr  ais  richtig  erscheinen.  Ich  hatte  ausgeharrt, 
so  lange  es  möglich  gewesen  war.  Die  dringend  nothwendige  Erholung, 
die  ebenso  nothwendige  Auffrischung  im  Bero&leben  durch  persönliche 
Wahrnehmung  der  Bem&thfttigkeit  Anderer,  die  Theihiahme  an  päda- 
gogischen G(»igressen,  an  den  allgemeinen  deutschen  Lehrerversamm- 
longen,  an  den  Jubüften  von  Bildungsanstalten,  denen  ich  vermöge 
memer  Mheren  Berufisstellung  nahe  stand  —  das  alles  war  mir 
unmöglich;  zahlreiche  pädagogische  Vemne  in  Österreich-Ungarn,  ün 
dentsehen  Reiche  und  in  andern  Staaten  hatten  mich  zum  Ehren- 
mitgliede  ernannt,  aber  niemals  konnte  ich  mit  einem  derselben,  wenn 
er  einige  Meilen  von  Wien  entfernt  seinen  Sitz  hatte,  in  persönlichen 
Verkehr  treten.  Die  Aussenwelt,  sofern  sie  mein  pädagogisches  Inter- 
esse in  Anspruch  nahm,  war  meinen  Augen  verschlossen,  und  meine 
ganze  Situation  hatte  einen  Beigeschmack  von  Leibeigenschaft.  Und 
dabei  keine  Aussicht,  dass  die  Anstalt,  der  ich  allein  lebte,  von  mei- 
nem ferneren  mhigen  Ausharren  einen  Gewinn  haben  werde.  So 
blieb  mir  nur  übrig,  auch  einmal  von  meiner  Autonomie  Gebrauch  zu 
machen,  ohne  jedoch  Autonomie  mit  Willkür  zu  verwechseln.  Es  war 
eb  Act  der  Nothwehr,  einer  unumgänglichen,  mir  in  der  rücksichts- 
loBesten  Weise  aufgedrungenen,  aber  mit  ToUkommen  legalen  Mitteln 
gcAhrten  Nothwehr. 

Herr  Gugler  freilich  glaubte,  dass  sich  auch  hier  noch  etwas 
thnn  lasse.  Er  hatte  archivalische  Forschungen  gemacht '  und  den 
Concors  entdeckt,  welchen  der  Gemeinderath  im  Jahre  1867  zur  Ge- 
vinnmig  eines  Directors  für  das  Pädagogium  ausgeschrieben  hatte. 
Ds  waren  denn  nach  seinem  Bedüuken  meine  Verpfliclitungen  tixirt. 


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Allein  Herr  Giigler  liatte  sich  in  dein  Fnnde  getänselit.  Er  war  ein 
Neuling  in  Saclien  des  Pädagogiums  und  liatte  in  seinem  Eifer  für 
das  Wol  der  Stadt  vergessen,  die  Beweiskraft  seines  Documentes  zu 
prüfen.  Und  so  musste  ich  ihm  erklären,  dass  der  citirte  ronrurs 
sammt  allen  neunundfünfzig  Bew^erbungen,  welche  auf  denselben  ein- 
gegangen waren,  mich  gar  nickts  angehe,  weil  ich  mich  niemals  be- 
worben, weil  überhaupt  der  ganze  Concurs  keinen  Ei'fölg  gehabt,  in- 
folge dessen  der  Gemeinderath  selbstständige  Verhandlungen  mit  mir 
angeknüpft  und  dann  einen  Separatrortrag  mit  mir  abgeschlosaen  hatte, 
welcher  ganz  allein  ittr  meine  Stellang  massgebend  war.  Hiergegen 
konnte  nnn  ein  für  allemal  nichts  eingewendet  werden.  Aber  euea 
kleinen  Erfolg  wollte  Hot  Gngler  doch  haben.  Nnn  wnrden  mit 
Hilfe  eines  alten  Herrn,  dem  flbrigens  das  Schweigen  besser  gestandea 
hätte,  als  das  Reden,  nnd  mit  dem  Ich  mich  vielleicht  noch  eimnal 
speciell  beschäftigen  werde,  mündliche  Besprechungen  vorgebracht, 
mit  denen  meine  „moralische"  Verpflichtung  zur  Lehrthätigkeit  be- 
wiesen werden  sollte.  Abgesehen  jedoch  von  dem  gebrechlichen  Wesen 
dieser  angeblichen  mündlichen  Besprecliungen,  von  denen  keine  offi- 
cielle  Spur  gefunden  werden  konnte,  war  es  mehr  als  überflüssig,  mü* 
ge^icnüber  von  „moralischen"  Verptiiclitungen  zu  sprechen,  nachdem 
ich  eine  lange  Beihe  von  Jalirt*n  durch  die  That  bewiesen  hatte,  dass 
ich  in  dieser  Beziehung  einer  Belehrung  nicht  bedürfe.  Aber  jetzt 
handelte  es  sich  um  rechtliche  Verpflichtungen  und  um  den  Grund- 
satz: Ultra  posse  nemo  obligatur.  Die  Herren,  welche  das  Bedürfnis 
fühlten,  Yon  Moral  und  moralischen  Verpflichtungen  zu  sprechen,  hät- 
ten zn  ihren  erbaulichen  Betrachtungen  näher  liegende  und  passendere 
Änknttpihngspnnkte  finden  können. 

Als  die  HeiTon  Gngler  nnd  Genossen  sich  erschöpft  hatteo, 
meinte  Hoffer,  noch  das  einzige  Mitglied  der  Commission,  wdehes 
die  einschlagenden  Verhältnisse  von  Grand  ans  kannte,  dass  dem 
Pädagogium  am  besten  gedient  wäre,  wenn  dem  Director  die  Mögiidt- 
keit  geboten  würde,  seine  Gesundheit  wiederherzustellen,  damit  er  m 
nächsten  Schuljahre  auch  die  Lehrthätigkeit  wieder  aufnehmen  könne. 
Zu  diesem  Beliufe  beantrage  er.  dass  dem  Director  ein  sechMiionat- 
licher  Urlaub  ertheilt  werde,  vor  dessen  Antritt  derselbe  noch  seine 
Vorschläge  bezüfrlich  der  künftigen  Gestaltung  des  Pädagogiums  inaclit  ii 
krumf^^.  Geg«*u  diesen  Antrag  wurde  von  keiner  Seite  \\'ider>i>rucli 
erliolicn.  und  auf  BefraLioii  erklärte  auch  ich  micli  mit  demselben  ein- 
verstanden. Hierauf  wurde  mir  nahe  gelegt,  ich  mi>ge.  den  übUilien 
Formen  entsprechend,  ein  ärztliches,  vom  Stadtpbysikat  bestätigtes 


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Zeagnis  beibrinfren.    ()l)W()l  ich  mm  überzeugt  war,  dass  aus  dem 
Urlaub  niclitä  werden  würde,  wollte  ich  doch  meinerseits  nichts  unter- 
lassen, was  der  Initiative  der  Kommission  dienlich  sein  konnte,  und 
80  war  dieselbe,  weil  sie  die  Dringlichkeit  der  Sache  betonte,  binnen 
zwei  Tagen  im  Besitze  des  verlangten  Zengnim.  Ton  meiner  früher 
erwShnten  schweren  Krankheit  war  ein  chronischer  Katarrh  nnd  eine 
grosse  Reizbarkeit  der  Lnngen,  überdies  eme  Thrombose  im  linken 
Schenkel  znrftckgebliehen,  und  da  ich  im  ersten  Fruhünge  des  Jahres 
1872,  kanm  genesen  und  keineswegs  völlig  erholt,  sogleich  wieder 
nicht  nur  meine  eigene  Arbeit,  sondern  auch  noch  eine  Stellvertretung 
Qbefnehmen  mnsste,  niemals  aber  zu  einer  gründlichen  Cur  die  Zeit 
finden  konnte,  so  hatten  sich  beide  Übel  von  Jahr  zu  Jahr  gesteis^ert. 
Mein  Hausarzt,  Dr.  v.  Gunz  sen.,  neben  welchem  ich  übrig^eus  noch 
tü'ei  andere  medicinisclie  (  apacitäten  zu  Katiie  «gezogen  hatte,  bezeugte 
nun  den  angelalii'ten  Sacli verhalt  mit  dem  Beifügen,  dass  ein  minde- 
stens sechsmonatliclier  Urlaub  notliwendig  sei.    Auf  dem  Stadtphj'si- 
kate  nahm  Dr.  Kämmerer  eine  eingehende  Untersut-liuiig  vor,  infolge 
deren  er  dem  Zeugnisse  von  Dr.  Gunz  die  Bemerkung  beifügte,  dass 
er  dasselbe  vollinhaltlich  bestätigen  müsse,  und  dass  ein  mindestens 
aechsmonatlicher  Urlaub  dringend  geboten  sei.  (Den Wortlaut  des 
ganzen  Zeugnisses  kann  ich  nicht  mittheilen,  weil  mir  die  Rückgabe 
desselben  verweigert  worden  ist  Den  nachher  auch  in  dieser  Sache 
Torgehrachten  Entstellungen  gegenüber  kann  ich  aber  die  Bichtigkeit 
Toistehender  Angaben  verbärgen.) 

Als  der  AnsgAg  der  Commissionssitznng  vom  I.März  in  Lehrer- 
krasen  bekannt  wurde,  beruhigte  sich  die  Stimmung  derselben,  weil 
man  hoffte,  dass  die  Angelegenheit  im  Smne  des  emgereichten  Memo- 
randmns  zur  Entscheidung  kommen  werde;  und  ein  Schulblatt  brachte 
die  Notiz,  dass  ich  einen  sechsmonatlichen  Urlaub  erliaUen  werde,  und 
dass  die  Krisis  erledigt  sei.   Es  war  eine  Täuschung. 


i^Kogn«.  4.  Jabig.  Hea  VII. 


29 


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Ein6  Banernstiwne  Aber  die  Schule. 

MitgtthnU  von  JVan«  SehHnkert-Wien, 

Diejenigeiii  welche  im  Solde  finsterer  Mächte  gegen  die  Volksbildang  n 
Felde  ziehen,  berufen  sich  gewöhnlich  auf  den  „Willen  des  Volkes" ;  und  wenn 
sie  auf  dem  Gebiete  der  Srhnle  barbarische  Brandschat zung-en  verüben,  dann 
schützen  sie  vor,  dass  tür  die  Erfüllung  der  „gerechten  Wünsche  des 
V  olkes*'  kämpfen.  Mit  \'erhuib  zu  fragen:  was  lassen  denn  die^e  Kiimpen  als 
„Volkswillen"  gelten,  und  von  welcher  Seite  wurden  ihnen  denn  die  „Wünsche 
desVolkee''  ftberbneht?  —  Ich  denke,  wenn  ee  sich  nm  solche  Fragen  handelt, 
hat  man  sich  nur  an  die  Besten  ans  dem  Volke  za  halten,  welche  einen  weiterai 
GesichtskreiB  bedtsen  vnd  zu  einem  richtigen  Verständnisse  des  Wertes  der 
Geistesbildung  gekommen  sind.  Die  sind  aber  ganz  anderer  Ansieht,  als  Jene 
Ritter,  welche  in  schwarzer  Rüstung  kämpfen  und  mit  ihren  Speeren  das  Lieht 
der  Sonne  verdunkeln.  Zam  Beweise  hierfür  erlaube  ich  mir  nachstehende 
Mittheilungen  zu  machen. 

In  dem  mir  zugesandten  Bericht  über  die  Generalversammlung  de-s  „Ober- 
Osterreichischen  BanernYereines"  in  Linz,  abgehalten  am  27.  Dezember  i 
1881,  fhnd  ich  folgenden  Passns:  i 

„Von  Seite  Herrn  Hoppichl er's  lag  dem  Ausschusse  ein  weiterer 
Antrag  vor:  „Es  sei  eine  Petition  an  den  Landtag  um  gesetzliche 
Bestimmiuig  eines  obligatorischen  Fortbildungsunterriehtes 
in  den  Volksschulen  für  die  den  Schulen  entwachsenen  Jüng- 
linge aus  dem  Bauernstände  bis  zu  ilu'em  IS.  Lebensjahre  zu 
richten."  Herr  Hoppichler  beofründete  diesen  Antra^r,  diMi  er  in  fünf 
Einzelpunkte  gliederte,  in  ganz  sachgemässer,  überzeugender  Weise, 
wies  auf  die  Verhältnisse  und  das  allgemeine  Wissen  vor  1848  hin, 
zog  Vergleiche  zwischen  den  jetzigen  und  früheren  Schulzuständen, 
konnte  jedoch,  obwol  die  einzelnen  Punkte  von  der  ganzen  Yer- 
sammlang  als  richtig  und  zutreffend  anerkannt  wurden,  den 
Gesammtantrag  nicht  durchbringen,  da  der  Ausschnss  nnd  insbesondere 
auch  die  Mitglieder  Mallinger  nnd  Schamberger  heftig  dagegen 
opponirten.  Nachdem  auch  der  Vorsitzende  (Krenmayr)  gegen  diesen 
Antrag  das  Wort  ergriffen,  und  Ausschnss  Jungreithmayr  in  wenigen 
Worten  den  wichtigen  (Jeldpnnkt  dieser  Frage  zu  bedenken  gegeben 
hatte,  wurde  in  Folge  Antrages  Schamberger's  über  den  Antrag  Hop- 


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—  439  — 

picliler's  mit  allen  gegen  eine  Stimme  (die  des  AntragsteUers)  zur 
Tagesordnung  übergegangen.** 

Da  dieser  Antrag  eine  Frage  bertthrt,  mit  welcher  ich  mich  schon  seit 
lingerer  Zeit  .beschäftiget  konnte  ich  es  nicht  nnterlassen,  mich  brieflich  an 

Herrn  H.  Hopp  ichler,  Wirtschaftsbesitzer  und  HolsUbidler  in  der  Klingeraa 
bei  Redl  ia  Oberösterreich,  mit  der  Bitte  zn  wenden,  mir  Näheres  bezüglich 
seines  Antrages  mitzntheilen.  Herr  Hoppichler  hatte  ntm  die  Frenndlichkeit. 
mir  das  Coiiccpt  .seiner  bei  Einbringung  des  Antrages  vor  den  vei-saiiniiolten 
Bauern  gehaltfaen  Rede  zur  Verfügung  zu  stellen,  und  ich  glaube  von  dieser 
Liebenswürdigkeit  keinen  be-sseren  Gebrauch  machen  zu  können ,  als  indem  ich 
die  wichtigsten  Stellen  dieser  Bede  znr  Kenntnis  nnsers  geehrten  Leserkr^aes 
bringe.  Einige  stiliatlsche  Unebenheiten  mSgen  Entsdinldigong  finden,  da  es 
ja  nicht  auf  die  Form,  sondern  anf  den  Inhalt  ankommt  Es  ist  ein  schlichter, 
verständiger  Mann  aus  dem  Volke,  dem  wir  das  Wort  ertheilen;  er  wurde  an 
keiner  Hochschule  in  die  geheimen  Regeln  der  Rhetorik  eingeweiht,  und  hat 
(Gott  sei  Dank)  niemals  seine  Zeit  in  gpnnani^^tisohen  Seminaren  mit  gramma« 
tikalischen  und  syntaktischen  Sprt'uklaubereien  vergeudet. 

Herr  Hoppichler  wendet  sich  nach  einigen  begrüssenden  Worten  fol- 
gendennassen an  die  versammelten  oberösterreichischen  Bauern: 

„Hundert  Jahre  sind  es  bereits,  dass  der  grosse  Kaiser  Josef  II. 
fSobn  Marin  Theresia's,  der  grossen  Kaiserin)  die  Ketten  der  Leib- 
eigenschaft zerbroc.lien  hat,  w.'Iche  die  [dauern  damals  an  die  Herr- 
schafttm  und  Kbister,  an  Adel  und  Priesterätand  gleich  Kettenhunden 
gefesselt  hielten. 

Uber  dreissig  Jalire  sind  es  her,  dass  über  Antrag  des  Bauem- 
sohnes  und  Studenten  Hans  Kudlich  (gegenwärtig  Doctor  der  Medicin 
in  Amerika)  im  1848er  Reichsrathe  Robot  und  Zehent,  an  die 
Ad^herrsehaften  und  Pfarrböfe  zu  leisten,  gesetzlich  aufgehoben 
wurden  anter  der  Regierung  Kaiser  Franz  Josef  I. 

Und  Tierzebn  Jahre  sind  es  seit  der  Ergänzung  der  Yer&ssungs- 
gesetze,  dass  unser  gnädigster  Kaiser  Franz  Josef  1.  durch  die  von 
ihm  yerliehenen  „Staatsgrundgesetze**  die  Bauern  zu  ordentlichen 
Staatsbürgern  machte,  ohne  Unterschied  von  den  anderen  Ständen,  mit 
gleichen  Rechten  vor  den  Gesetzen. 

Wir  sind  also  freie  Männer  geworden  durch  die  Staatsgmnd- 
gesetze,  und  in  keinem  Baiieriihaiise  sollten  diese  Gesetze  fehlen;  in 
jeder  BiichhaTidlung  kann  man  sie  kaufen,  und  als  zweites  Evangelium 
sollten  die  Staatsgrundgesetze  bcaclifrt  und  geschätzt  werden  —  so 
ziemt  es  sich  füi"  jeden  braven  Staatsbürger,  der  weiss,  was  er  vor- 
zustellen hat!" 

Der  Redner  führt  hierauf  eingehender  ans.  wie  es  nnn  hoch  an  der  Zeit 
i?ei,  dass  der  Bauer  zum  Verstiindnisse  seinei-  Üedeutung  im  Staate  komme  und 
seine  Angelegenheiten  selber  vertreten  lerne.    Der  „Oberösterreichische 

29* 


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—   440  — 

Banern verein"  habe  die  Mittel  hierzu  za  bieten,  iind  er  (Redner)  steUe  alft 
eifriges  Mitglied  dieses  Vereines,  imi  die  Baoemschaft  flircni  Zielen  nSher  a 
bringen,  folgenden  Antrag: 

„Es  sei  eine  Petition  an  den  Landta«^  m  ncliten  uni  Herstellnng 

eines  gesetzlich  obligatorischen  Fortbildungsunterrichtes  ffir 

die  der  Volksschule  entwachsenen  Jünglinge  des  Baaern- 

Standes,  bis  zum  zurückgelegten  achtzehnten  Lebensjahre 

dauernd. 

Im  Anschlüsse  an  die  Volksschule  soll  der  Fortbüdnngsunterricht 
in  den  Volksschulen  an  Sonn-  und  Feiertagen  von  den  Lehrern 
ertheilt  werden,  und  zwar  nachmittags  von  1 — 3  Uhr,  wobei  auf  die 
kirchliche  Christenlehre  Bttcksicht  zu  nehmen  wäre. 

Der  Unterricht  soll  vorzüglich  die  Bildung  der  Jünglinge  für  das 
wirtscliaftlich-praktische  Berufslelx'ii  und  tVir  das  staatsbürgerliche  Be- 
dürliiis  zum  Gegenstande  haben,  wozu  tüclitige  Leiner  bestimmt 
werden  sollen. 

Die  (4enieindevertietungen  sind  zu  verlialten,  dass  die  n'ltliigen 
^Mittel  dem  T^elirer  zur  Verfiigimg  gestellt  werden,  besonders  Grund- 
stücke zu  Versuchszwecken. 

Die  Vereinsleitimg  wird  ersucht  und  aufg^ordert,  die  Petition  in 
der  nächsten  Landtagssession  dem  Landtage  einzubringen." 

Herr  Hoppichle r  cinptielilt  mit  warmen  Worten  die  Annahme  seines 
Antrages,  indem  er  zuerloich  dem  hOdiaften  Wnnsrlir-  Ansdnick  ^n])t.  da>s  „der 
Wert  der  Bildung  und  des  Wissens  von  den  Bauern  erluumt  werden  möge**, 
und  fährt  dann  toj  t: 

„Wenn  unsere  Kitern  und  Voreltern  stienge  und  mit  Ver- 
ständnis auf  iriiten  Scliulunterricht  und  auf  Verbreitung  nütz- 
licher Kenntnisse  im  Lande  von  jeher  einen  Wert  gelegt 
hätten,  glauben  Sie  nicht,  dass  die  Mehrzahl  der  85000  Bauern  und 
Pointler  (Häusler)  in  Oberösterreich  heute  eine  ganz  andere,  unab- 
hängige Stellung  im  Lande,  verbunden  nnt  einem  tüchtigen  WirtschafU- 
betrieb  behaupten  könnten,  als  es  d^  Fall  ist?  —  Ja  oder  nein? 

Halten  Sie  es  für  recht  gethan,  wenn  der  Bauernstand,  der  Land- 
mann,  immer  nur  auf  den  lieben  Gott  im  Himmel  verwiesen  wird,  ftr 
seine  geisdge  und  berufsgemässe  Ausbildung  aber  nichts  gesdiieht,  — 
wfthrend  er  sich  im  Schweisse  seines  Angesichts  bekümmert  plagen 
muss  nm  sein  Bestehen,  um  Rekruten  und  Steuern,  um  den  Anfofde- 
rungen des  Staates,  Landes  und  der  Gemeinde  nachkommen  zu 
können?  —  Ja  oder  nein? 

(  berall  muss  der  Landmann,  der  Bauer  dazu  zahlen.  Aber  ausser 
der  SubveutiüU  des  Ackerbauministeriums  und  des  Landtages  au  die 


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—    441  — 

Landwirtschaftsgesellschaft  tind  die  Landesackerbauschiile  in  Rietzel- 

liof,  welche  aber  der  Kosten  halber  nicht  besucht  werden  kann  — 
wird  tur  den  Bauenistand  nicht  gesorgt.  „Bete  und  arbeite  für  Regi- 
men tsbedürfnisse  —  in  deiner  EinfKltigkeit  bleiV)»«  dumm"  —  das  ist 
der  Leitfaden,  der  uns  zum  grossen  Theile  (leider  auch  unsere  Führer) 
blind  macht." 

Der  Redner  schildert  mit  einigen  Worten  das  lichtsdieue,  volksfeindliche 
Vorteilen  des  „katholischen  Volksvereins'*  in  Linz  and  setzt  dann  seine  Aas- 
führuagen  fort: 

„Wanim  entziehen  sich  die  Priester  zum  grossen  Theile  ihrer 
Pdicht  als  ordentliche  Staatsbürger  nnd  wollen  nicht  mitwirken  mit 
4en  Ortsschidräthen  zum  Heile  mid  Wole  unserer  Kinder,  ftkr  ^ten 
Sehuliinterridht?  Kam  man  das  voDcstlittmlich,  menschenfiremidlich 
nennen?  —  Ja  oder  nein?'* 

Hierauf  weist  Happiehler  auf  das  Vorgehen  des  OberOsteneichischen 
BaneniTereines  hin,  der  dnrdi  die  Annahme  des  eingebrachten  Antrages  nener- 
diigs  beweisen  werde,  dass  er  „in  der  Dommheit  kein  Glflek  finden  kann'*. 

„Ein  jnnger  Obstbaum,  wenn  er  auch  gesetzt  ist  richtig,  aber 
nicht  gepflegt  wird,  tler  wird  verkümmern  und  daher  wenig  und  keine 
guten  Früchte  bringen;  so  geht's  auch  uns  mit  unsern  vSöhnen,  wenn 
wir  uns  nicht  um  sie  bekümmern  und  als  Wildlinge  selbe  aufwachsen 
lassen!  Die  Werktagsschule  kann  nicht  für  das  Leben  hin- 
reichen, sie  leoft  nur  eine  Grundmauer  an,  mit  der  Grundmauer  ist 
aber  noch  kein  Ifaus  fertig.  Und  dennoch  hat  die  Priester-  und 
Adelspartei  zu  Wien  im  Volkshaus,  wobei  sich  auch  unsere  oberöster- 
reichischen „Bauern"- Abgeordneten  befinden,  anf  Antrag  des  Salz- 
burger  „Bauern"-Verti'eters  Hofrath  Lienbacher  —  eines  Beamten!  — 
die  Grundmauer  als  zu  fest  fürs  Haus  abreissen  wollen;  die  Voiks- 
9chnle  passt  diesen  Leuten  nieht  in  ihren  Kram.  —  Den  Bauern  aber 
aagen  sie  nieht  warum;  sie  sind  ihnen  zu  dumm,  nur  als  Wahlkameeie 
kSnnem  Bauern  etwas  leisten,  und  wenn  s'  genug  dumm  sind  —  auch 
fiobot  und  Zehent  Die  Steuern  aber  bleiben,  der  Staat  mnss  bestehen, 
wenn  Priester  und  Adel  und  was  alles  daran  hängt,  nur  zuerst  was 
haben;  —  die  Bauern  nnd  Gewerbslente  sollen  halt  Üelssig  arbeiten 
md  —  zahlen! 

Kommt  nun  ein  unsrij^^er  Bub  in  die  Fremde,  in  die  witzige  und 
findige  Welt  hinaus,  so  steht  bald  der  P^sel  am  Berge  an.  Was  er 
in  der  Werktagsschule  gelernt  hat,  ist  halb  vergessen,  und  dumme 
Leut  bringen  sich  nicht  leicht  fort  —  und  Anstünde  gibt's  bald.  Es 
kommt  die  Zeit  zur  6oldaterei  —  und  das  Get'rett  geht  erst  recht  an. 


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—   442  — 


Bleibt  er  ein  Knecht*  oder  Tagwerker,  na  so  kann  er  nicht  viel  machen 

nnd  brechen,  aber  ein  findiger  Knecht  ist  mir  auch  lieber,  als  ein 
dummer  Kerl.  Übrigens  soll  jeder  ^[('uscli  j;emäss  seiner  Geistesanlage 
ein  nützliches  Glied  der  Menschheit  vorstellen  können. 

Nehmen  wir  auch  den  Fall  an,  dass  ein  Sohn  von  uns  zu  einem 
Bauernhof  gelangt  und  dadurch  Wahlberechtigter  wird  in  der  Ge- 
meinde: was  kommt  ihm  da  nicht  alles  vor,  und  wie  noth wendig  ist 
es,  dass  sich  der  Mensch  zu  hellen  weiss,  also  in  seinem  Fach  was 
gelernt  hat  und  auch  sonst  Kenntnisse  besitzt!  Der  Mann  wird  in  den 
Gtemeindeansschuss  odei*  in  den  Ortsschulrath  gewählt,  er  soll  etwas 
Terstehen  und  reden  können,  denn  es  handelt  sich  um  das  Wol  der 
Gemeinde,  nnd  vernünftige  Männer  brauchen  wir.  Es  gibt  viel  zu 
thnn  beim  Hans,  nnd  wenn  wir  nicht  wollen  die  Meikkftbe  ftr  andere 
Interessen  sein,  so  müssen  wir  auch  nnsere  Öffentlichen  Angelegen* 
heiten  in  der  Gemeinde,  im  Landtage  nnd  im  Beichsrathe  zn  Wien 
▼ersteben  nnd  begreifen  leinen.  Und  das  soll  ein  gnter  Sonntags* 
schnlnnterricht  för  unsere  SOhne  bezwecken. 

Man  sage  mir  nicht  blödsinniger  Weise,  wie  es  so  oft  gesagt 
wird:  „Wir  Bauern  müssen  halt  gute  Arbeiter  sein,  unsere  Wirtschaft 
recht  führen  können,  auf  unsern  Herrtrott  j^läubig  hotten,  und  sonst 
braucht  sich  der  Bauer  zu  nix  anderm  einzulassen."  Diejenigen,  die 
so  seliwachsinnig  daherreden,  sind  die  Ersten,  welche  das  Lehrgeld 
zahlen  müssen,  und  bald  da  bald  dort  ums  Geld  kommen  und  w^enu 
nicht  durch  „Doctoren"*),  so  durch  andere  gute  Freunde  zu  ihrem 
Schaden  aufs  Eis  geführt  werden!  Wenn  sich  der  Bauer  weiter  iu 
nichts  einlassen  will,  als  nur  in  das,  was  unsem  Stand  und  nnsere 
nächsten  Angelegenheiten  betritft,  also  wenn  er  sich  um  die  allge- 
meine, öffentliche  Wolfahrt  in  der  Gemeinde,  im  Lande  und  im 
Staate  gar  nicht  kflmmert,  so  beweist  er  damit  nicht  nur,  dass  er  gar 
nichts  versteht  und  gelernt  bat,  sondern  er  gleicht  einem  Ochsen, 
der  auch  nichts  versteht  nnd  vom  Metzger  sich  geduldig  zur  Schlacht* 
bank  f&hren  Iftsst,  wo  er  zusammengeschlagen  wird  —  mehr  kann 
ihm  nicht  geschehen,  allerdings! 

Da  hilft  dann  der  Bauer  nicht  dem  Bauern,  sondern  solche  ein- 
ßlltige  Leute  bringen  die  Bauern  um,  in  eigennützi^^er,  dummer 
Weise,  und  in  gefühlloser,  roher  Art.  Solche  Zustände,  solcher 
Mangel  an  Gemeinsinn  und  Bildung  uiuss  den  Bauernstand 


♦)  Unter  „Doctoren"  venteht  der  Österreicher  die  Advocaten,  während  mit 
diesem  Titel  in  Deutschland  tonugsweiae  die  Ärzte  bezeichnet  werden.      D.  U. 


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—  443  — 

erbftrmlich  machen  und  als  ein  Eamed  erscheinen  hissen,  auf  dem 
znm  Entsetzen  der  einsichtigen  Wenigen  nach  Belieben  herumgeritten 
werden  kann/' 

Fttr  diese  offeueu,  mäunlichea  Worte  gebührt  dem  wackeren  Uoppichler 
der  wftnnste  Dank  eiuM  jeden  wahren  Volksfreimdes.  üneradiroekeii  und  er- 
bamongiloe  hat  er  vor  den  Bauern,  die  in  aolchen  Dhigen  aehr  empfindlich 
rind,  daa  Übel  ani^pedeckt,  daa  an  ihrem  Körper  frisst;  ea  gehOrt  die  Innigste 

Überzengung,  die  edelste  Selbstverleu^ung:  und  Willenskraft  dazu,  um  den 
Leuten  in  dieser  Weise  frank  und  frei,  „frisch  von  der  Leber  weg  die  Wahr- 
heit  unter  die  Nase  zn  saften"  —  wie  wir  Österreicher  uns  auszudrücken 
pflegen.  Und  sie  haben  still  gehalten,  —  sie  sind  niciit  aufgefalireu  und  haben 
nicht  in  wildem  Lärme  die  Stimme  des  Redners  erstickt;  denn  sie  fühlten  die 
Gerechtigkeit  der  Anklage  —  der  Hieb  ist  festgesessen.  Es  wäre  nur  zu 
wQnsdien,  daaa  auch  der  AvsBcbiua  des  „OberteterreicblBchen  BanemTereinea'' 
mit  gleicher  Offenheit  and  Entschlossenheit  für  die  wahren  Intereaaen  dea 
Banernstandes  einträte.  Aber  die  Mitglieder  dieses  Ausschusses  getrauen  sieh 
nicht  recht,  dem  eigentlichen,  versteckten  Feinde  an  den  Leib  zu  rücken; 
sie  lassen  sich  von  allerlei  Rücksichten  für  die  Empfindlichkeit  der  büuerlichen 
VereinsniltLrlieder  binden,  und  der  Vorsitzende  Krenmayr.  Gutsbesitzer  in 
G<-rrt>il()rf  in  ( )berösterreicli,  dessen  Verdienste  übrig-ens  alle  Anerkennung  ver- 
dienen, wird  selbst  nicht  müde,  die  oberösterreichische  Bauernschaft  „mündig'* 
an  erklären  —  eine  Schmeichelei,  welche  nnr  erachlaifande  Selbstgefälligkeit 
erregt  und  ganz  und  gar  nicht  der  Wirklichkeit  entspricht  IGr  persönlich 
gereicht  ea  aar  beaondem  (Jenngthnnng,  nnaem  geadhätetoi  Leaarn  daa  ürtheil 
eines  Mannes  fibermitteln  zu  können,  der  sich  zum  Stande  d«  r  Banern  zählt 
und  dieselben  aus  dem  täglichen  Verkehre  kennt,  dem  man  also  nicht  den  Vor- 
wurf machen  kann,  dass  sich  sein  Blick  in  der  Entfernung  getrübt  babo. 
Seine  Ansichten  decken  sich  vollstilndig  mit  dem,  was  Nagi  und  ich  in  diesen 
Blättern  wiederholt  auszusprechen  iJelegenheit  fanden. 

Doch  lassen  wir  nunmehr  Herrn  Hoppichler  seine  Rede  zu  Ende  führen. 

„Lassen  wir  uns  daher  durch  nichts  von  dem  (rnindsatze  ab- 
bringen: „Wissen  ist  Macht,  und  Bilduno-  macht  frei"  —  und 
arbeiten  wir  so  lange  darauf  liin,  bis  die  Regierung  sich  endlich  ent- 
schliesst,  mit  dem  Landtage  ein  Gesetz  zn  Wege  zu  bringen,  wdclies 
misem  Söhnen  fachliche  und  allgemeine  Bildung  fiir  den  Lebensberuf 
in  zweckmässiger  Weise  im  Anschlüsse  an  die  Werktagsschule  bis 
znm  achtzehnten  Lebensjahre  schafft,  und  den  Besuch  der  Sonntags- 
schule, wdche  diesen  Erziehungsnntenicht  durch  die  Volksschullehrer 
bieten  soll,  gesetzlidi  zur  Pflidit  macht  Vergraben  wir  nicht  die 
Ffiinde,  fiber  welche  wir  bezQglich  unserer  Söhne  dereinst  Bechen* 
Schaft  werden  geben  mfissenl 

.  Der  grOsste  Steuerzahler  rücksichtlidi  der  directen  Steuern  ist 
der  Bauernstand,  dessen  Kopfzahl  40 ^/o  der  Bevölkerung  ausmacht 
Und  von  dieser  uugeheuern  Steuercontribution  will  auch  die  Bauem- 


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scliat't  in  ihrer  treuen,  deutschen  Aiili;iii,?lirhkeit  an  den  Kaiser  und 
an  (las  Kaiserreich  —  und  zwar  der  einsichtigere  Theil  dei-  Bauern 
Überösterreichs      einen  Genuas  lial)en.  Wenig  ist's,  was  sie  begehren! 

Eine  sorgsame  Staatsregiening  soll  das  berechtigte  Verlangen 
gerne  erfüllen;  eine  gute  Landesadministration  aber  soll  die  Nothwen- 
digkeit  begieifen,  wenn  dem  Lande  ei-spriessliche  Dienste  geleistet 
werden  wollen;  und  dem  Landtage  sei  es  anheimgestellt,  dem  Bauem- 
stande eine  wahrhafte  Pflege  zu  verschaffen.  Zu  hochherzigen  Thaten 
für  die  geistige  Entwickelung  der  Söhne  der  Bauernschaft  des  Landes 
wfinschen  wir,  dass  die  Abgeordneten  des  Volkes  in  der  nächsten 
Landtagssession  sich  aufschwingen,  nnbekflnunert  nm  das  Bnfen  denk- 
fauler, schlechtgeföhrter,  mangelhaft  gebildeter  Bäumt  Über  dem 
Parteitreiben  erhaben  herrsche  das  Walten  fOr  die  Verbesserung  der 
Cultur  und  des  ünterrichtswesens,  zum  Heile  und  Segen  des  Landes 
und  insbesondere  des  oberdstenreiduschen  Bauernstandes.  Bas  walte 
Gott!" 

Mit  einigen  formellen  Bemerkungen  schliesät  hierauf  lieiT  Hoppich  1er 
seine  Bede.  Das  bedaaemswerte  Schicksal  sdnes  Antrages  habe  ich  bereits 
efaigaogs  mitgetfaeUt  Durch  die  heftige  Oj^Msition  hat  der  Ansschnas  bewiesen, 
dass  er  entweder  nicht  genug  Ehisicht  besitst,  am  die  letzte  ürsaehe  aller  miss- 

lichen  Verhältnisse  des  Bauernstandes  klar  zu  erkennen,  oder  nicht  über  die 
nöthig-e  Kraft  verfüg't  und  nicht  niiabhilng'ig'  fft'nug'  ist,  um  rücksichtfälos  für 
die  Wahrlieit  in  die  .Schranken  zu  treten  und  die  ÜbelstUnde  zu  beseitigen, 
welche  an  den  Bauern  selber  haften.  Man  wende  nur  nicht  ein,  dass  fs 
„unpolitisch"  gewesen  wäre,  wenn  der  Ausschuss  des  Bauernvereines  dieseu 
Antrag,  der  allerdings  in  materieller  Beziehung  eine  kleine  Belastung  des 
Banemstandes  in  sich  schliesst,  angenommen  und  auf  diese  Weise  dem  Gegner 
efaie  Waffe  in  die  Hand  gedruckt  hStte.  Ja,  wenn  die  Sache  des  Volkse  nicht 
energisch  vertreten  wird,  dann  haben  die  Volksfeinde  freilich  ein  leichtesMachen! 
Was  ist  denn  gegen  sie  gewonnen,  wenn  einige  wirtschaftli^  and  politische 
Vortheile  erzielt  werden,  so  lange  nicht  das  Wissen  vermehrt,  die 
Indolenz,  die  Abgestumpftheit  für  Staatsintt-ressen,  die  Willens- 
schwäche durch  eine  allgemeine  Bildung  behoben  werdeuV  —  Das 
Volk  bleibt  seinen  \Vidersachern  ausgeliefert  tili*  alle  Ewigkeit  „und  noch  drei 
Stand'  drSber!"  Vorsichtig,  sogar  sehr  vorsichtig  ist  es  freilich,  wenn  man 
die  Waffen  vor  der  Schlacht  streckt;  die  Siebe  bleiben  dann  gewöhnlich  ge- 
schenkt. Was  taogt  es,  wenn  man  von  der  redlichsten  Absieht  erlBUt  ist,  die- 
selbe aber  nicht  vertritt?  Hätte  Luther  seine  Thesen  nicht  öffentlich  an  die  Sdllose- 
kirche  angeschlagen,  wSre  er  freilich  nicht  mit  dem  Papst  in  Conflict  gekommen, 
aber  im  Übrigen  wäre  es  eben  auch  —  beim  Alten  geblieben.  Die  „politische 
Vorsicht"  ist  in  diesem  Falle  ganz  zwe(  klos.  (Iciiii  dem  Gegner  gebi-icht  es  nie 
an  Waffen,  da  er  nicht  sorgfältig  und  gewissenhaft  in  der  Wahl  derselben  ist: 
sollte  er  aber  doch  eiuuial  in  Verlegenheit  kuuimen,  danu  braucht  er  nicht  erst 
anf  den  „OberOsterreidiisdien  Baneravereln"  zn  warten  —  er  versdiafft  sich 
dieselben  auf  wolfeilere  Weise. 


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—  445  — 


Die  Bauern  aber  haben  durch  ihre  Abstimmung'  gezeigt,  dass  sie  nach  wie 
vor  den  jeweilig-en  Führern  mit  Leib  und  Seelp  überliefert  sind,  dass  sie  die 
Mittel  zu  ihrer  l^i'freiung:  nicht  zu  erfassen  vermög-en  und  dass  ihnen  die  Sonne 
der  Selbstt*rk»'niitnis  n<»ch  iinincr  nicht  aufgeg'angen  ist.  Darüber  wird  sicli 
allerdings  nituiaud  verwundern.  Uder  sollte  der  unerzogene  Schulbube  seinem 
Lehrer  vorschreiben,  welche  Aofgaben  er  ihm  za  stellen  hat?  Eine  eigeathiim- 
liehe»  bezddmendelllnstnning  erflUirt  das  Verhalten  derBaaem  dnrch  folgende 
Thatoache.  Bei  der  Wanderversammlmisr  des  „Oberdsterreichiachen  Banem- 
vereines'^  zu  St.  Georgen  im  Attergau  am  12.  Juni  1881  worde  von  den  Bauern 
eine  von  HeiTu  Hoppichler  vorgeschlagene  itesolation  anfrenommen,  vrelche 
folgenden  Passus  enthält: 

»11.  Öftere   Wanderversammlungea  des  „Oberösteneichischen 

Banemvereines"  femer  diircli  Lesen  gruter  Bücher  und  der  Baaem- 

Vereinszeitung  und  durch  guten  Fortbildungsunterricht  unserer 

Sohne  an  Sonn-  und  Feiertagen  durch  alle  dieseMittel  werden 

vir  Torwiürts  schreiten  können  nnd  mttesen.  Dann  werden  wir  uns 
meht  mehr  als  eine  willenlose  Herde,  die  blos  zum  Steuerzahlen  und 
Bekrutenstellen  auf  der  Welt  ist,  behandeln  zu  lassen  brauchen. 

Bildung  macht  firei  —  Wissen  ist  eine  Macht;  diese  Macht  aber 
üben  bislang  andere  Leute  ttber  uns  aus,  weil  sie  mehr  wissen,  und 
die  Unwissenheit  muss  der  Bauemstand  thener  bezahlen  ;  das  soll  und 
muss  durch  unser  Streben  nnd  verständiges,  ernstes  Zusaninienlialten 
anders  werden,  denn  wir  würden  soii.st  zu  Grunde  gehen,  obgleich, 
und  eben  deshalb,  weil  der  J^auernsUind  die  meisten  Steuern  und  Ab- 
gaben zu  leisten  Iiat  und  Rücksicht  dalier  beanspruchen  kann. 

12.  Ein  guter  Schulunterricht,  den  praktischen  Lebensberlürf- 
nissen  liesdurlers  an<4eiiie.ssen;  gute,  fleissiire  Volksscliullehrer;  strengere 
Disciplinar-Kiuders trafen ;  Abstellung  des  Organisteudienstes  im 
Lehrerstande,  der  mit  dem  Schuldienst  vollauf  beschäftigt  ist  und 
sein  Aaskommen  findet,  muss  uns  die  Volksschule  lieb  und  wert  machen. 
Sie  ist  die  einzige  Bildungsstätte  für  den  grössten  Theil  des 
Baaernstandes,  nnd  darauf  hat  die  Begierong  strenge  zu  sehen 
alle  Ursache,  —  aber  auch  wir  selbst   

Der  AaafBhnmg  des  Antrages  Hoppichler  stellen  sich  nur  zwei  Hin- 
denüsse  entgegen,  die  aber  keineswegs  nnfiberwindlich  sind:  die  notorische 

Abneigung  des  Landvolkes  gegen  Schnlnntenicht  und  die  Auslagen,  welche 
ein  Fortbildangsnnterricht  an  Sonn-  nnd  Feiertagen  erheischen  würde.  Be- 
trachten wir  diese  Hindernisse  ein  wenig. 

Wollte  man  sich  an  di^  \oi<>-nn{r  des  Volkes  halten,  dann  müsste  man 
entweder  alle  Schulen  speiren,  oder  docli  statt  des  sechs-  oder  achtjährigen 
Schulunterrichtes  einen  zwei-  oder  vierjähi'igen  einführen.  Die  Leute  haben  in 
ihrer  BeschriUdctbeit  keine  blasse  Idee  von  dem  Werte  des  Wissens  nnd  der 
Bfldnng.   Wir  kSnnen  nicht  verlangeii,  dass  sie  sich  selber  übertreffen,  aber 


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-    446  — 


wir  können  Mittel  anwenden,  nm  sie  auf  den  liehtigen  Weg  zn  bringen,  der 
allein  znm  Heile  nnd  znm  Glftcke  fBhrt.  Ist  es  erlaubt,  das  Volk  za  Abgaben 

an  den  Staat  zu  zwingen ,  mnss  es  aoch  gestattet  sein ,  dasselbe  strenge  anxa- 
halten,  dass  es  die  Nüttel  nütze,  welche  ihm  den  Erwerb  und  die  Steuer- 

leistun2:on  orleicht<^rn.  Deshalb  legt  Hoppichler  einen  so  grossen  Nachdmck 
auf  das  Wort  „obligatorisch".    Er  schreibt  mir  hierüber  folgendes: 

„Die  Volksschule  als  Werktagsschule  allein  genügt  nicht  für  die 
Landbeyölkening,  und  weil  schon  -wir  Alten  nicht  mehr  viel  gescheidter 
werden,  sollen  doch  unsere  Söhne  besser  unterrichtet  werden.  Der 
Bauer  braucht  mehr  Bildung  —  abgesehen  davon,  ob  er  es  will 
oder  nicht;  dafür  sprechen  Staatsinteressen  und  Erwerbszustände. 
Die  Sonn-  und  Feiertagsschule  für  Jünglinge  erscheint  als  das  einzige 
und  zweckmässigste  Mittel  für  den  Bauernstand,  um  eine  bessere  Zu- 
kunft anzubahnen.  Und  an  Sonn-  und  Feiertagen  versäumt  der  JOn^- 
liii^-  iiiii-  (las  \\'irtshaus  und  üblen  Umgang;  es  gibt  also  keine  begrün- 
dete Ausrede  wegen  Arbeitsvei  säumnis,  die  gegen  die  Werktagsschule 
eingewendet  wird.  —  Dem  Lienbacher  und  seinen  Stierfangern  kann 
aber  die  schlaue  Absicht  durchkreuzt  werden:  sechs  Jahre  Werktags- 
schule !  „8echs  Jahre  Feiertagsschule  obligatorisch!"  sage  ich 
darauf.'* 

Dabei  iiiiiss  man  aber,  um  dem  Unterrichte  eine  tiefe,  nachhaltige  Wir- 
kung zu  sichern,  bedacht  sein,  die  Abncij^ung  gegen  denselben  an  der  Wurzel 
zu  fassen  und  vollstündig-  ans  dem  Herzen  des  Volkes  zu  reissen.  Das  wird 
gelingen,  wenn  die  Belehrung  in  ansprechender  Form  dargeboten  wird,  wenn 
man  das  Volk  daran  gewöhnt,  sich  zu  sammeln  nnd  aofimmerken,  wenn  man  es 
aosDsagen  ffir  den  Sehnlnnterricht  erzieht  Diesen  Zweck  sollen  jene 
Unterhaltnngsabende,  wie  Nagl  nnd  ich  sie  im  Sinne  haben,  erf&Uen. 
Durch  dieselben  soll  auch  ein  gesunder  Idealismus  genährt  werden;  denn  ohne 
das  \'olk  auf  das  Schöne  und  Edle  hinzuweisen,  ohne  ihm  höhere  Zielpunkte 
klar  zu  machen  —  wird  man  es  nie  aus  der  Tiefe  emporzuheben  vt  niiö<ren. 
Durch  die  Werktagsschule  allein  kann  das  natürlich  schon  gar  nicht  erreicht 
werden.    Hoppichler  schreibt  mir: 

„Die  Krziehung,  w^elche  die  Volksschule  nur  als  Grund- 
lesrerin  betreibt,  und  gemäss  den  dermaligen,  gesetzlichen  Bestim- 
mungen nur  bis  zur  r>enk-  und  Verständnisreife,  bis  zur  Auffassungs- 
tahigkeit  beti'eiben  kann,  muss  der  wahrhafte,  ehrliche  Volks- 
freund als  ungenügend  für  den  bäuerlichen,  staatsbürger- 
lichen Beruf  erachten.^ 

Wolgemerkt,  das  schreibt  ein  Hann,  der  nicht  Pftdagoge,  also  über  den 

Anwurf,  für  seine  Sache  Propaganda  zu  machen,  erhaben  ist!  —  Wenn  die 

„Geistesthätigkeit  der  Kinder  entwickelt**,  w^enn  ihr  Auffassungsvermögen  halb- 
wegs gebildet  ist  —  weiui  sie  also  in  den  Stand  gesetzt  sind,  die  Worte  des 
Lehrers  zu  veräteheu,  und  der  Unterricht  eigentlich  erst  recht  erfolgreich  an- 


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—   447  — 

gebraclit  werden  könnte  -  -  müssen  die  Kinder  die  Schule  verlassen.  Bank 
und  erbaimnngslos  werden  sie  vor  die  Thür  gesetzt,  weil  es  herzlose  Menschen 
gibt,  welche  die  geistige  imd  materielle  Noth  des  Volkes  nicht  rfihrt  Ee  ist 
jt  nicht  genug,  wenn  der  Schuler  das  Einmaleins  auswendig  weiss  und  Buch- 
staben malen  kann;  es  muss  ihm  Gelegenheit  geboten  werden,  sich  im  logischen 
Denken  zu  ttben.  Und  an  dieser  Übung  fehlt  es;  am  besten  zeig:t  sich  dieses 
Gehrfclipn.  wenn  die  Leute  in  die  Lag^e  konimi^i,  ihre  Gedanken  schriftlich, 
also  in  priiriser  Form  und  geordneter,  übersichtlicher  Rcihenfolp:»'.  wieder  geben 
zu  sollen.  Sic  purzeln  dabei  herum,  wie  die  Katze  im  Sack;  die  dadurch  be- 
dingte Unsicherheit  und  \'erzagtheit  wird  noch  dadurch  erhöht,  dass  sie  in  der 
Schriftsprache  nicht  recht  gelenkig  sind.  Ich  könnte  als  Belege  hierfür  Stellen 
aas  Brielien  anflihren,  weldie  mir  Freunde  aus  dem  Gebiige,  die  in  femer 
Waldeinsamkeit  aufgewachsen  sind  und  nur  knappe  sechs  Jahre  die  Schule  be* 
sucht  halben,  von  Zeit  zu  Zeit  schreiben;  so  eine  Cknrrespondenc  bedeutet  fibrigens 
an  nnd  f^  sich  schon  einen  Aufschwung. 

Kann  die  Bildung,  welche  die  V<dky:pchule  bieten  soll,  selbst  dann  nicht 
genügen,  wenn  sie  an  das  ihr  vorgesteckte  Ziel  gelangt  —  wie,  wenn  .^ie  das- 
selbe nicht  einmal  erreicht?  Und  letzteres  ist  nicht  der  seltenste  Fall!  ■ — - 

Für  den  Fortbildungsunterricht  kann  das  Volk  auch  dadurch  gewonnen 
werden,  dass  er  einen  directen,  praktlsdien  Kutsen  bietet,  indem  er  ja  auch 
landwirtschaftliche  Belehrungen  elnschliesst.  Hoppichler  skizziert  den  Lehr- 
plan einer  Fortbildungsschule  in  folgender,  ganz  zutrefTender  Weise: 

„Der  Sonn-  und  Feiertagsnnterricht  f&r  die  Jünglinge  lediglich, 
welche  die  Werktagsschale  hinter  sich  haben,  hat  bis  znm  19.  Lebens- 
jahre zn  danem,  streng  obligatorisch.  Er  hat  besonders  aof  landwirt- 
schaftliche Bemfebildung  (Versndisarbeiten)  Bficksicht  zu  nehmen;  wei- 
ter aof  wahrhafte  Pflege  patriotischer  Geistesrichtung  und  Kenntnis 
der  wiclitigsteii  politischen  und  volkswirtschaftlichen  Gesetze,  der 
Pflichten  und  Rechte  der  Staatsbürger  und  ihrer  Bedeutung  im  Staate, 
im  Lande,  in  der  Gemeinde,  im  Administrationswesen  zur  Förderung 
der  Gemeinde-Wolfahrt  ganz  besonders. 

Der  wahre  religiöse  Sinn  zum  Wolthun  in  wahrer  Nächstenliebe 
und  Gottesfurcht,  im  christliclien  Lebenswandel  soll  von  den  Orts- 
pfarrem  zweckmässig^  rege  gehalten  werden;  die  Pfarrer  müssen  regel- 
mässig in  den  Ortsschnlrath  zu  kommen  bei  Strafe  verhalten  sein  — 
in  Oberösterreich  ganz  besonders,  nnd  der  Bischof  von  Linz  entweder 
versetzt  nach  der  Bocche  di  Cattaro  werden,  oder  seine  kirchlichen 
Gewohnheiten  ablegen;  denn  der  Mann  stiftet  viel  Unfrieden  nnd  Un- 
heil mit  seinen  Domherren  nnd  Anhang.** 

Was  die  Geldfrage  anbelangt,  so  muss  ich  vor  allem  bemerken,  dass  Er- 
^arungen  auf  dem  Gebiete  der  Volkslnldnng  stets  fibel  ausschlagen.  Das 
Capital,  welches  man  hier  anlegt,  wird  ja  mit  Zinses -Zinsen  znrttckbczahlt. 
übrigens  würden  die  Gemeinden  durch  dieCreirung  eines  obligatorischen  Fort- 
bUdnngsnnterrichtes  nicht  einmal  merklich  belastet.  Die  Beschafitang  der  nOthigen 


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—   448  — 

Versuchsfelder  käme  den  Gemeinden  nicht  so  schwer  an.  Für  Anstellung  vi»u 
Wanderlehrern,  für  Beteilung  mit  Geräthschaften  könnten  Landwirtschafts- 
vereine,  patriotische  ünternehmimgeii  ein  Übriges  thnn.  Sctmllocalitäten  stehen 
in  hinreichendem  Hasse  zor  Verfiignngr.  HOren  wir,  was  Hoppiehler  ttbor 
diesen  Pnnkt  sagt: 

^Nicht  die  Geldkostenfrage  allein  ist  es,  welclie  von  Fortbildungs- 
schulen absclirt'ckt.  Wir  liaben  ja  schon  in  Oberösterreich  freiwil- 
lige landwirtschaftliclie  und  fj:e werbliche  Fortbildungsschulen  in  vie- 
len Bezirken  von  Schullelirern  geleitet,  subventionirt  vom  Staate;  aber, 
lieber  Gott,  sie  können  nur  zum  Gemeingut  gemacht  werden,  wenn 
zum  Besuche  gesetzlich  gezwungen  wird.  Gerade  die  Bauern  hal- 
ten sich  ferne  zumeist,  und  das  Pfaffenunwesen  ist  nicht  die  letzte 
Ursache  —  anstatt  einzutreiben,  treiben  sie  die  Kinder  aus  der 
Schale  in  ihre  Bildnngsfeindseligkeit  —  und  Furcht  um  ihre  Exi- 
stenz in  der  Folge.  —  Das  unglückselige  Parteigezänke  im  Landtage, 
die  Mattherzigkeit  der  B^emng,  die  Verbissenheit  der  Liberalen 
sind  nicht  minder  der  ünterrichtssache  schftdlich;  hauptsächlich  auch 
die  Beunruhigung  des  Volkes  mit  Halbheiten  und  anderen  schlimmen 
Bfteksichtslosigkeiten.  Der  Sonn-  und  Feiertagsschule  wäre  am  Ende 
weniger  Renitenz  bevorstehend  von  der  Volksmasse,  selbst  bei  Schul- 
zwang, als  die  Werktagsschule  Anstände  findet;  besonders  dann  nicht, 
wenn  Tüchtiges  geleistet  wird;  ich  glaube  sogar,  dass  ein  geringes 
Schulgeld  nicht  allseits  verworfen  würde. 

Was  hat  man  für  den  Bauernstand  zu  seiner  Geistesbildung  bis- 
her gethan? —  Die  Pfatten  sagen:  „Die  christliche  Glaubensgrundlage 
genügt  —  bete  und  arbeite!"  Und  die  Liberalen  sagen:  „Die  Wissen- 
schaft verbreiten  die  Hochschulen  und  (lelelirten  —  der  Bauer  muss 
sich  anüschwingen!  Wie?  das  ist  seine  Sache!'* 

Es  ist  in  der  That  schwer,  sich  die  Volksmasse  zuzuziehen  in 
Dingen,  die  der  Geistesbildung  gelten  —  und  wfirde  nicht  den  Leuten 
im  Beichtstuhle  und  allerwegs  die  Hölle  und  leibliche  Brandmarkung 

von  den  Kirchenkanzeln  öffentlich  und  unendlich  gepredigt  —  wer 
weiss,  ob  andernfalls  die  Menschen  zu  haben  wären  zur  Belehrung  ttir 
die  Priesterschaft.  Der  Volksmasse  wird  das, Macht-  und  Kechts- 
bewusstsein  absichtlich,  böswillig  verkümmert.  Wir  haben  es  nur 
mit  sporadischen  Erscheinungen  zu  thun,  was  aus  Bauern  vereinen 
wir  sehen  und  hören.  Ja,  Schlinkert,  das  Verständnis  der  ^fensrhen- 
würde,  des  edleren  Selbstbewusstseins  und  der  ernsten  Willenskraft, 
diese  drei  Dinge,  welche  den  Menschen  vom  Vieh  eigentlich  unter- 
scheiden, muss  vor  allem  andern  der  Volksmasse  beizubringen  gesucht 


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—  449  — 


werdeo.  Die  Volksschole  am  Lande  (and  am  L  uide  ist  die  Volks- 
oasBe  baaptsächlich  zu  sncben  mid  zu  findeuj  genügt  nicht  dazu.  — 
Es  werden  nur  immer  die  Tages-  und  Notstandsfragen,  der  rein  mate- 
rielle Theil,  beleuchtet;  die  Wurzel  des  Übels,  den  Mangel  an  Wissen 
md  Büdong,  legt  man  nicht  blos.  —  Grflndlich  gebildete  Män- 
ner, nicht  vernagelte  Intelligenz  vom  hohen  Stahle  herab,  vermögen 
dfese  Aufgaben  zu  lösen;  Bauern  allein  werden  sie  nicht  zu  iGsen 
fennögen  .... 

Ein  besserer  Geist  mnss  eingreifen,  der  einem  verlotterten, 
miserablen  Parteiwesen  die  Wege  weiset,  und  mit  eisenfestem 

Willen  zum  Nutzen  und  Heile  des  herabgekommenen  Volkes  sowol  für 
die  geistige  Bildunj?  als  materielle  Wollart  seine  Macht  zw  Geltung 
n  bringen  versteht." 

Ich  habe  hier  die  Gedanken  eines  Mannes  niitgetheilt,  der  nicht  unter 
dem  verpönten  Einflüsse  von  Siluilineistern  steht,  «ler  durch  eigene,  selbststiin- 
dige  Überlegung  zu  seiner  Überzeugung  gekoinnien  ist,  und,  mitten  im  Volke 
stehend,  den  Ruf  nach  Geistesbildung  erhebt.  Er  fülüt  sich  bislang  noch  als 
»Bnfer  in  der  WOste**.  Bald  aber  wird  ,  er  Helfer  finden,  und  wenn  sieh  diese 
Stimmen  mehren,  wenn  der  Ruf  immer  lauter  erschallt  —  ob  dann  unsere 
frommen,  adeligen  „Volks" Vertreter  demselben  noch  länger  zn  widerstehen  ge- 
willt 8em  werden?  —  Wir  glauben  nicht,  sondern  hoffen  den  Anbruch  einer 
lieaerea  Zukunft. 


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/ 


ISn  Wort  fiber  die  Remrtrerlintiiisse  der  hokereH  Üdckei- 

schulen  in  Preussen. 

Vm  Bector  Xh,  JAtndmannrSdiwetx, 

£Siiie  bekannte  Thatsache  ist  es,  dass  die  höheren  Mädchenschulen  sich 
2war  das  Attribut  „hShere"  vindidren,  dämm  aber  gesetdich  dnrchans  noch 
keine  „hdheren  Lehnuutalten"  im  wahren  Sinne  des  Wortes  sindt  sondeni,  mit 

Ausnahme  von  dreien,  die  neuerdings  in  die  Reihe  der  ..höheren  Lehranstalten'* 
erhohen  worden  sind,  noch  sämmtlich  in  der  Kategorie  der  „Elementar- 
schulen" st'^lien  und  demnarli  von  den  kg\.  Reofienin^en  rpssortiren.  DaHpi 
finden  aher  nocli  g:anz  willkürliche  Verschiedenheiten  statt.  Wilhrend  die  eine 
Schule  (z.  B.  Elhiniri  direct  der  Regierunt::  untergeordnet  ist  und  nnr  dnrch 
den  Magistrat  mit  dieser  zu  verhandeln  hat,  stehen  die  allermeisten  unter  dea 
Stadtschnldepntationen,  als  den  zonftchst  vorgesetzten  Behörden.  In  den 
kleinem  Stttdten  ist  der  höheren  Hidchenschole  aneh  noch  ein  Ereisschnl- 
inspector  als  ständiger  Commissarios  der  Begierang,  ja  sogar  ein  Loeal- 
seh ulin.s pect or  übergeordnet,  wfthmnd  die  Dirigenten  grösserer  Schulen  sidi 
allerdings  schon  der  Unterstellung  unter  die  beiden  letztgenannten  Beamten 
entledigt  haben.  —  Das,  .sage  ich,  sind  bekannte  und.  füge  ich  hinzu,  tranri?** 
Th;»tsaclien.  Nicht  als  ob  ich  die  ., Elementarschulen''  geringschätzte  und  »^s 
tlir  eineScliandc  hielte,  mit  ihnen  in  einer  Linie  zu  stehen;  denn  die  Kleuientar- 
schnlen  sind  diejenigen  Institute,  denen  gerade  die  Bildung  der  niederen,  so 
sehr  der  geistigen  Hebnng  bedOrftigen  Volksdasse  obliegt,  es  shid  diejenigen 
Institute,  die  dem  Gros  des  Volkes  die  unentbehrlichsten  Kenntnisse  bei- 
bringen, die  Elemente  der  Wissenschaften,  auf  denen  die  höheren  Schulen  mit 
geringerer  Mühe  weiterbauen  können.  Niemand  kann  längnen,  dass  -j'V.'.fh 
den  Volks.schullehrem  der  schwerere  Theil  des  Unterrichts  znfllllt.  und  das« 
sie  heutzutage  noch  lange  nicht  die  geachtete  Stellung  einnehmen,  die  ihnen 
gebührt. 

Indess  —  danim  handelt  es  sich  hier  nicht.  Iramei  liin  muss  jeder  Uobe« 
fimgene  einrAnmen,  dass  die  Beesortstellnng  der  höheren  Mädchenschulen  in 
Yergleidi  su  den  höheren  Knabenschulen  eme  durchaus  ungeredite  und  nach- 
theilige  ist.   VerhaitnismSsdg  stehen  doch  die  höheren  Mädchenschulen  ihre^ 

seit>  i^enau  so  hoch  über  dem  Niveau  der  Elementarschule,  wie  die  Gymnasien 
und  Realschulen  ihrerseits.  Die  Gymnasien  und  Realschulen  werden  frequentiii 
von  den  Kindern  der  wolhabenderen  Classen;  dasiselbe  ist  aber  bei  den  litiii»  ron 
Mädchenschulen  der  Fall.  Erslere  bilden  ihre  Zöglinge  in  formaler  und  realer 
Hinsicht  zur  Universitilt  oder  zu  praktischen  Berufsarten  vor:  analoges  thun 
die  letzteren.  Was  dort  die  Universität,  ist  hier  das  Seminar;  dazu  kommt  die 


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—  451 

VorbOdmier  nm  Beruf  der  Hausfrau,  der  doch  wahrlich  wichtig  genngr  ist, 

insofern  der  Hansfrau  die  erste  Erziehung  der  Kinder  fast  allein  obliegt,  sie 
also  diesen  die  geistige  und  moralische  Richtung  fürs  ganze  Leben  zu 
geben  hat.  Dabei  kann  der  quantitative  nnd  qualitative  Unterschied  in  dem 
Unterricht  der  beiden  Geschlechter  wol  nicht  in  Betracht  kommen,  der  darin 
besteht,  dass  allerdiiif^s  bei  den  Knaben  mehr  die  Bildung-  des  Verstandes 
und  das  positive  Wissen  in  den  Vordergrund  tritt,  bei  den  Mädchen  dagegen 
mehr  die  Büdnng  des  Gemttbs  und  Henens  tos  Auge  m  tuatm  ist  Immeriiiii 
streben  beide  Institate  dasselbe  Ziel  an,  ihre  Zöglinge  in  der  Weise  heran- 
snbflden,  dass  sie  später  im  Leben  sich  als  wahrhaft  „Gebildete''  bewShren. 
AVenn  nun  aber  diese  Gleichheit  der  Zusammensetzung  und  diese  Gleichlioit 
der  Ziele  und  Bestrebungen  der  höheren  Knaben-  und  MUdchenschulen  vorhanden 
ist.  und  wenn  zu^epben  werden  muss.  dass  die  Mädchen  denselben  Anspruch 
auf  eine  tüchtige  Durchbildung  fiii-s  Leben  haben  wie  die  Knaben,  so  ist  wahr- 
lich nicht  abzusehen,  weshalb  die  einen  Anstalten  „höhere"  Schulen,  die 
anderen  „Elementarschulen*'  sein  sollen.  Noch  weniger  scheint  es  mit  der 
Billigkeit  Tereinbary  dass  einige  höhere  IfSdchensdinlen  „höhere  Lehranstalten" 
sein,  andere  ea  nidht  sein  sollen.  Da  ist  nnn  bereits  lAngere  Zeit  geplant 
worden,  dass  diejenigen  Hftdchenschulen,  an  welchen  eine  gewisse  Anzahl 
„Literaten"  unterrichten  nnd  die  dann  noch  mit  einem  Lehrerinnen- 
Seminar  versehen  sind,  den  Vorzug  gemessen  sollen,  „höhere  Lehranstalten" 
zn  werden.  In  dieser  Bestimmung  würde  doch  aber  siclierlich  keine  Gererhtig- 
krit  Herren.  Denn  wenn  eine  .Alädchensciiule  ohne  Literaten,  oder  mit  wenigeren 
genau  dasselbe  Ziel  erreicht,  wie  eine  solche  mit  einer  bestimmten  Zahl  von 
Literaten,  —  nnd  das  ist  thatsächlich  der  Fall,  —  so  ist  es  doch  ungereimt, 
sie  deshalb  geringer  zn  schätzen  nnd  etoer  niedrigeren  Kategorie  von  Schulen 
einzaTerleiben.  Anderseits  sollte  doch  das  Seminar  nicht  als  integrirender  Be- 
standtheil  einer  Mädchenschule  angesehen  werden;  das  Seminar  vermittelt  nicht, 
wie  die  Schule  selbst,  allgemeine  Bildung,  sondern  ist  seiner  Natur  nach 
wesentlich  „f'aclisehule".  gehört  also  ebensowenig  in  den  Dr^'anismas  einer 
Mädchenscliule.  als  etwa  eine  P'acnltät  in  den  eines  (iymnasinnis.  Jedenfalls 
ist  der  qualitative  Unterschied  zwischen  den  höheren  Miidchensehulen  einerseits 
und  den  Elementarschnlen  anderseits  ein  bei  weitem  grösserer  als  der  Unter- 
schied xwisehen  den  einzelnen  Uftdchenschnlen,  je  nachdem  dieselben  mit 
oder  ohne  Literaten,  mit  oder  ohne  Seminar  ihr  Werk  betreiben.  Wenn 
aber  —  was  mir  doch  noch  sehr  disputabel  erscheint  —  wirklich  der 
Unterricht  seitens  akademisch  gebildeter  Lehrer  an  den  Mädchenschulen  so 
sehr  wünschenswert  erscheint,  so  erhebe  man  doch  zuerst  diese  Sehulen 
zu  höheren  Lehranstalten,  und  man  wird  mit  leicliter  Mühe  Literaten  lierbei- 
ziehen  können;  aber  unter  den  jetzigen  Verhältnissen  niuss  jedein  Literaten 
die  Lust  vergehen,  sich  au  einer  Mädchenschule  zu  melden  und  damit  die  durch 
akademisches  Stadinm  Iraner  erworbenen  BeiAte  wieder  anfzugeben.  Denn  in 
der  That  kann  die  Stellang  eines  Literaten,  gleichviel  ob  er  Dirigent  oder 
Lehrer  an  der  lüftdchenschnle  ist,  nnr  als  eine  »nnwfirdige'*  bezeichnet  werden, 
insofern  er  vermöge  der  für  die  Elementarschnlen  geltenden  Bessortverhältnisse 
häufig  Männern  unterstellt  ist.  denen  er  seinem  Bildungsgrade  nach  bei 
weitem  überle'jren  ist.  Man  bedenke  nur.  dass  nach  den  für  „Elfmentar- 
8chulen**  bestehenden  Bestimmungen  jedes  Mitglied  der  Stadtschaldeputation, 


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I 


—   452  — 

sowie  auch  der  Kreis-  und  Localinspt^ctor  das  Recht  hat,  jederzeit  und  unan- 
gemeldet dem  Unterricht  in  den  einzelnen  Classen  beizuwohnen;  dass  ferner 
der  Localflchalinspector,  der  in  der  Ree^el  dodi  ein  Geistlicher  ist,  demnach 
also  meist  keine  besonderen  Erfiüirangen  anf  dem  Gebiete  des  If  ftdchenschnl  wesens 
aufzuweisen  hat,  dass  dieser  Loculschalinspector  mit  der  speciellen  Aufsicht 
fÜber  die  Mttdchenschale  bo tränt  nnd  ihm  das  Kecht  gegeben  wird,  etwaige 
Anordnuns^en  im  Einverstilndiiis  mit  der  Schuldepiitation  zu  treffen.  Man  bedenke 
fenier,  dass  der  Kreisschulinspector,  der  im  Anftrag-e  der  Ref^ierung  die  höhere 
Mädchenschule  zu  bestimmten  Zeiten  zu  revidii  eu  hat,  also  bei  dieser  Gelegen- 
heit als  Vorgesetzter  des  betreflfenden  Dii'igenten  lungirt,  hUutig  ein  jüngerer, 
im  HSdchenBcholwes^  yQlIig  nnbewanderter,  dem  Gymnasinm  oder  der  Besl- 
schale  entnommener  Lehrer  ist;  anch  ist  es  nicht  aosgeschloBsen,  dass  er  von 
Hanse  ans  Volksschnllehrer,  also  lUiterat  ist.  Der  Dirigent  der  Anstalt,  der 
seine  Ki'äfte  dem  ICttdchenscholwesen  gewidmet  hat,  ist  dann  als  Literat  einem 
Illiteraten  untergeordnet.  Dass  dieses  ein  bedenkliches  Missverhilltuis 
uml  wenis"  geeignet  ist.  die  Berufsfreudigkeit  des  Dirigenten  zu  erhöhen,  ii^t 
selli.stredend.  Mail  möge  nicht  glauben,  dass  ich  pei*sönlich  mich  durch  diese 
Veriiältuii^se  erheblich  beliLstigrt  tühle  und  deshalb  diesem  Klagelied  anstimme. 
Zwar  ist  mein  Verhältnis  auch  das  zuletzt  besprochene ;  indes  fühle  ich  mich 
dnrch  mehie  Vorgesetzten  in  hehier  Weise  genirt  oder  chicanirt;  aber  — 
immerhin  sind  solche  YerhlUtnisBe  doch  im  Princip  verwerflich  nnd  bedürfai 
einer  grfindlichen  Remednr. 

Dass  diese  Remednr  durch  vorstellende  Zeilen  nicht  bewirkt  wird,  dessen 
bin  ich  mir  sehr  wol  bewusst:  icli  beabsichtigte  anch  weiter  nichts,  als  eine 
für  die  segensreiche  Kntvvickeluug  der  höheren  ]\I;Ulchenschule  sehr  wichtige 
Frage  nach  meiner  Autlasbung  zu  besi)rechen,  in  der  Hoffnung,  dass  sich  ge- 
wiegtere Kräfte  dadurch  veranlagst  fühlen  möchten,  diese  Frage,  sei  es  in  za- 
stimmendem,  sei  es  in  widerlegendem  Sinne  zu  belenchten.  Anch  weiss  ich 
sehr  wol,  welche  Schritte  seit  Jahren  üi  Betreif  derBessortfrage  bereits  gethaa 
sind,  bin  indes  der  Meinung,  dass  wir  unsere  Ansichten  nnd  Antrftge  immer 
und  immer  wieder  der  Behörde  unterbreiten  nnd  die  Sache  nicht  kalt  werden 
lassen  sollen,  eingedenk  des  alten,  wahren  Wortes:  „Steter  Tropfen  höhlt 
den  Stein. 


YenuitwiortUclifr  Redaetmir:  M.  Stein.  Baebdrackeni  Jüliii«  KUnkhardtr  Lrijwtf. 

Üiyitizcü  by  GoOglc 


Der  Pessimismns  and  die  Sittenlehre. 

Von  Frof.  Dr.  Jok.  Mehntk0-^.-GaUm, 
(ForlMtxiuig.) 

B.  Im  Buddhismiis. 

So  lange  der  bedingte  oder  dogmatische  Pessimisimis  unter  den 
Indem  die  ofticielle  Grundlage  des  empirischen  bildete,  blieb  es 
unmöglich,  dass  der  letztere  selbst  den  theoretischen  Ausgangspunkt 
einer  Sittenlehre  abgab;  die  Möglichkeit,  in  solcher  Weise  vom  Pessi- 
fflismos  auszugehen,  wui'de  einer  Sittenlehre  nur  dann  gegeben,  wenn 
er  znn&cbst  nur  als  empirischer  auftrat  Im  niederen  Indervolk 
mochten  nmi  solche  Voranssetznngen  schon  lange  vor  Buddha  an- 
getroffen werden,  aber  keiner  vor  ihm  hat  mit  der  brahmanischen 
Sittenlehre  zu  brechen  und  eine  andere  an  ihre  Stelle  zu  setzen  ver- 
Doeht;  hieiza  bedurfte  es  einer  sowol  in  theoretischer  als  aneh  in 
praktischer  Hinsicht  k&hneni  titanenartigen  That,  nfimlich  des  Stonses 
der  Brahmanlehre,  ans  welcher  Jene  Sittenlehre  organisch  hervor«^ 
gewachsen  war.  Mit  der  QotÜelüe  mnsste  dann  natürlich  auch  die 
Inrabmanische  Sittenlehre  fhllen. 

Buddha  fand  den  empirischen  Pessimismus,  wie  er  unter  den 
Indem  bei  jenen  qualvollen  socialen  Zuständen  nothwendig  sich  ent- 
wickelte, in  der  That  vor.  Mit  innerer  Walirheit  erzählt  die  buddhi- 
stische Legende,  dass  er  hinaus  auf  die  Landstrasse,  d.  i.  unter  das 
Volk  gekommen  und  hier  zuerst  der  ..'i'hatsache''  des  Weltleids  sich 
bewnsst  geworden  sei.  Kr  selbst  mochte  ausserdem  als  Nicht- Brah- 
mane  von  jenem  aus  der  Brahmanenlehre  consequent  sich  ergebenden 
dogmatischen  Pessimismus  wenig  berührt  sein,  so  dass  er  nun 
mit  seiner  Speculation  nicht  bei  dem  Brahman,  sondern  bei  dem 
menschlichen  Leid  einsetzte:  und  dies  ist  fiii*  die  Auffassung  des 
buddhistischen  Pessimismus  ein  höchst  wichtiger  Umstand. 

Wflre  das  Brahmanbewnsstsem  heil  im  Mittelpunkte  seines  Denkens 
gestanden,  so  würde  Buddha  die  LOsnng  des  WelÜeidsräthsels  ohne 

Migagtaa.  4.  Jakif  .  Heft  Vm.  90 


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—    454  — 


Schwierigkeit  brahmanisch,  d.  h.  in  dem  Wider8i)ru(!he  der  Welt  zum 
Brahman  gefunden  haben;  wir  wissen  aber  zur  Genüge,  selbst  wenn 
seine  Lösung  es  uns  nicht  lelirte,  dass  Buddha  von  der  religiösen 
Brahniananschauung  durchaus  abstraliirt  hat. 

T"^nter  keinem  religiös -dogmatischen  Einfluss  stehend,  sah  sich 
Buddlia  dem  Leben  gegenübergestellt,  und  fand  sicli  bald  mitten  in 
das  ßewusstseiü  des  indischen  Volkes,  in  den  empirischen  Pessimismus, 
hineingestellt.  Er  nahm  diesen  (und  hierin  bewies  er  sich  ab;  der 
ächte  Sohn  des  schon  lange  in  seiner  stolzen  Willenskraft  gelälimten 
und  auf  duldenden  Gehorsam  eindressirten  Volkes  im  Gangeslande) 
nicht  etwa  nur  als  eine  zufftllige  Geschiehtswahrheit,  sondern  als 
nothwendige  Yernunftwahrheit  an,  welche  demzufolge,  mochten 
auch  die  gegffliwfirtigen  Yolkszustände  andern  Platz  machen,  bestehen 
bliebe.  Statt  des  Brahmanbewusstseins  trat  jetzt  ihm  das  Wissen 
vom  Leid  in  den  Mittelpunkt  der  Weltanschauung,  und  so  wurde 
Buddha,  indem  er  mit  seiner  Aufß&ssung  in  schroffen  Gegensatz  zur 
brahmanischen  trat,  der  erste  Apostel  des  unbedingten  Pes* 
simism  us. 

Von  dem  empirischen  Pessiniismns  des  braiimanisch  geleiteten 
unteren  Indervolkes  aber  unterscljied  sidi  derjenige  Buddlia's  dadurch, 
dass  er  nicht  niu'  die  „Tliatsache''  des  Leids  einfach  hinnahm,  sondern 
ihrem  Ursprung  nacliforschte;  und  dieser  Unterschied  liatte  seinen 
Grund  darin,  dass  jener  empirische  Pessimismus  der  Inder,  neben  dem 
eben  das  Brahmanbewusstsein  mit  seiner  den  Menschen  prak- 
tisch völlig  bestimmenden  Macht  stand,  nicht,  wie  der  baddlii- 
stische  Pessimismus,  auf  den  Menschen  yon  sich  aus  eine  antreibende 
Kraft,  aus  dem  Elend  zu  gelangen,  ausübte.  Diese  Kraft,  welche  der 
unbedingte  Pessimismus  seiner  Zeit  entwickelt,  begreift  sich  leicht 
b«  ihm:  es  ist  die  Kraft  des  Selbsterhaltungstriebes,  die  sich  ün 
Streben,  das  Leid  abzuwehren  und  zu  yemichten,  äussert. 

Buddha  ging  systematisch  vor  und  fragte  sich  zunächst,  was  demi 
des  Übels  letzte  Ursache  sei  Aus  seiner  Antwort  ist  ersichtlich,  dass 
er,  wie  die  Legende  sagt,  durch  die  Schule  der  Brahmanen  gegangen 
ist;  er  findet  die  Ursache  des  den  Menschen  heimsuchenden  Übels  in 
der  individuellen  Existenz,  dem  Ich.  in  welchem  der  Kralmiane 
den  Grund  der  (lOttwidrigkeit  und  d  ein  zu  folge  auch  des  i'lxds, 
das  der  Mensch  ertährt,  crkennl.  Jn  dieser  Hinsicht  lasst  sich  dem- 
nach der  brah manische  und  buddhistische  Pessimismus  zu.samnieu- 
stelleii.  da  beide  die  ,.'rhatsache"'  des  Leids  auf  die  individuelle 
Existenz  zurückführen,  und  in  diesem  Punkte  steht,  wie  man 


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—   455  — 

gehen  wird,  der  iudische  Pessimismus  in  vollem  Gegensatz  zum  euro- 
päischen der  Gegrenwart 

Mit  der  Entdeckung  der  Ursache  des  Übels  in  der  Existenz  des 
Ich  war  Buddba  an  der  Stelle  angekommen,  wo  nunmehr  die  Sitten* 
lehre  von  ihm  zu  formuliren  war.  Die  Parole  hiess:  „Erlösung  vom 
Übel**,  oder  bestimmter:  „Erlösung  von  der  indiiridnellen  Existenz, 
der  Seele.**  Auch  die  Brahmanen  hfttten  diese  Parole  anfoehmen 
kOunen,  aber  im  Munde  Bnddha's  hatte  sie  doch  einen  anderen  Sinn; 
ihr  fehlte  nämlich  bei  ihm  die  positive  Kehrseite:  „bei  Gott  sein*"; 
«.Eriösung  des  Ich**  hiess  in  Bnddha's  Sinn  nur:  Eingehen  in  die  Er- 
löschung (Nirwana),  Nichtsein  dessen,  was  Ich  war. 

Sehen  wir  nun  kurz  die  Sittenlehre  Buddha's  an.  Drei  Dog- 
men legte  er  seiner  Sittenlehre  unter:  1.  die  Vorstellung  von  Kinper 
und  Seele  als  zweiei-  mit  einander  verbundenen  selbststandigen  (ranzen, 
so  dass  nach  ihm  die  Existenz  der  Seele  nicht  mit  derjenio^en  des 
Körpers  stand  und  fiel.  2.  Die  Vorstellung  von  den  Wledei^cebiirten 
der  Seele,  und  8.  die  Vorstelhniji;^,  dass  das  Geschick  des  jedesmaligen 
Lebens  die  Folge  eines  früheren  Lebens  der  Seele  sei.  Diesem  füge 
ich  nun  kurz  auch  den  Gedankengang  an,  welcher  Buddha  auf  die 
Seele  als  Quelle  alles  Übels  führte:  ,.Was  ist  die  Ui-sache  aller 
Schmerzen?  Die  Geburt.  Was  ist  die  LTrsache  der  Geburt?  Das  Da- 
sein. Was  ist  die  Ursache  des  Daseins?  Die  AnhftngUehkdt  an  das 
Dasein.  Was  ist  die  Ursache  dieser  Anhänglichkeit?  Das  Verlangen. 
Was  ist  die  Ursache  des  Verlangens?  Die  Empfindung.  Was  ist  die 
Ursache  der  Empfindung?  Die  Bertthmng  des  Menschen  mit  den  Dingen 
bringt  diese  oder  jene  Empfindung,  die  Empfindung  überhaupt  in  ihm 
hervor.  Was  ist  die  Ursache  der  Berührung?  Die  Sinne.  Was  ist 
die  Ursache  der  Sinne?  Name  und  Gestalt,  d.  h.  die  individuelle 
Existenz.  Was  ist  die  Ursache  dieser  Existenz?  Das  Bewusstsein 
Was  ist  die  Ursache  des  Bewusstseins?  Das  existirende  Nicht- Wissen, 
d.  h.  die  intellectuelle  Anlage;  dies  erst  ist  die  Seele  selbst." 
(Duncker  ITT.  265.) 

Auf  (lieser  hier  nur  skizzirten  theoretischen  Grunfilaofe  erhob  sich 
die  Sittenlehre  Buddha's.  welche  sich  zusammenfassen  lässt  in  die 
drei  Grundsätze  des  massigen  und  leidenschaftslosen  Lebens, 
des  widerstandslosen  willigen  Ertragens  aller  T'nl)ill  und 
aller  unvermeidlichen  t'bel.  und  des  Mitleids  für  die  Lei- 
densgenossen, seien  dies  Menschen  oder  Thiere. 

Die  Forderung  eines  stillen  und  friedlichen  Lebens  ist  der  erste 
Grundsatz;  „Knhe  soll  der  Mensch  in  seine  Sinne  bringen*",  seine 

30* 


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—  456  — 

Triebe  und  lieidenschaften,  seine  Wünsche  und  Begierden  massigen, 
wenn  er  sie  niclit  vernicliten  kann;  er  soll  „dem  Gewinn,  dem  Ehr- 
geiz und  dem  Vergnügen  den  Rücken  kelu'en."  Nui*  so  befreit  sich 
der  Menscli  von  der  Berührung  mit  der  Welt,  welche  die  Haupt- 
Ursache  des  Verlangens  und  damit  der  Schmerzea  und  der  Noth  ist^ 
welche  den  >ren sehen  treffen. 

Die  Übel  aber,  die  trotz  einer  einiachen,  mässigeo,  leidenschaftslosen 
tiebensweise  miTermeidlich  sind,  muss  man  (und  dies  ist  der  zweite 
Grundsatz  der  Sittenlehre)  mit  Geduld  tragen,  denn  dann  sind  sie  am 
ertrftglichsten.  In  gleicher  Weise  hat  man  das  Unrecht,  welches  von 
anderen  zngeifllgt  wird,  in  Geduld  hinzunehmen  und  Misshandlungen  inhig 
und  ohne  Hass  gegen  die  Verfolgs  zu  ertragen:  „die  Verstfimmelnng  be- 
freit den  Menschen  von  Gliedern,  die  doch  yergäuglich  sind,  und  die 
Hinrichtung  von  diesem  schmutzigen  Körper,  der  doch  stirbt"  Hass  darf 
man  denen,  die  uns  misshandeln,  aber  deshalb  nicht  entgegentragen, 
weil 'alles,  was  uns  so  widorfahrt,  Strafe  ist  für  Handlungen, 
welche  wir  in  diesem,  oder  in  einem  früheren  Leben  begantren  haben. 

Wie  nun  jeder  tiir  sich  selbst  die  Schmerzen  des  Daseins  zu  ver- 
mindern suchen  soll,  so  soll  er  auch  (und  dies  ist  der  dritte  (Grund- 
satz der  Sittenlehre)  die  Leiden  seiner  Mitmenschen  vermindern.  Alle 
Menschen  ohne  Rücksicht  auf  Stand  und  Geburt  und  Volk  bilden  nach 
Buddha^s  Anschauung  eine  grosse  Leidensgenossenschaft;  es  ist  ihre 
Aufgabe,  dass  sie  sich  gegenseitig  nicht  noch  andere  Leiden  zu  deneOt 
welche  schon  dmch  ihre  Existenz  über  sie  verhangt  sind,  zufügen, 
dass  sie  sich  viehnehr  gegenseitig  das  Ertragen  der  unvermeidlichen 
Übel  erlekhtem.  Demnach  gebietet  Buddha,  allen  hMeoageoom». 
gegenüber  ohne  Selbstsucht  zu  sein  und  nichts  filr  sich  zo  verwen- 
den, was  f&r  andere  bestimmt  ist;  harte  Worte  zu  ihnen  zu  sprechen, 
ist  eine  Stlnde;  was  zur  Ehleichterung  des  Looses  der  Mitmenschen 
und  zur  Beförderung  ihi*er  Schmerzlosigkeit  geschehen  kann,  soll  ge- 
schehen;  keinem  lebenden  Wesen  soll  Schmerz  bereitet  werden,  und 
man  soll  auch  Mitgefühl  mit  den  Schmerzen  der  Thiere  haben,  alte 
und  kranke  Thiere  pflegen. 

Ausser  diesen  allgemeinen  sittlichen  Forderungen  legte  Buddlia 
seinen  Schülern  im  engeren  Sinne,  welche  „zur  hiichsten  Befreiung" 
gelangen  wollten,  noch  weiter  auf,  dass  sie  „der  Welt  entsagen", 
d.  h.  in  Keiiscliheit  und  Arimifh  lebten,  ,.Bikschu"  wären.  — 

Enthaltsamkeit,  (Teduld  und  Barmherzigkeit  sind  die  drei 
Cardinal  fugenden  des  Buddhisten.  Es  ist  nun  zu  erwarten,  dass  diese 
Sittenlehre  Bnddha's  sich  als  im  engen  Zusammenhang  stehend  erweisen. 


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werde  mit  seinem  Pessimismus,  so  dass  dieser  sich  als  die  theore- 
tische Grandlage  der  praktischen  Fordenmgeii  ergeben  werde  und 
ab  die  Anschmnuig,  welche  allein  den  praktischen  Lebens- 
xweek  fikr  Buddha  bestimmt 

Diese  Vermnthnng  wird  wenigstens  dadurch  schon  nnterstfitst» 
dasB  man  in  der  buddhistischen  Sittenlehre  nichts  von  Askese  findet^ 
dass  im  Gegentheil  Buddha  gerade  der  brahmanischen  Askese  völlig 
den  Abschied  gab.  Dieser  Umstand  ist  in  der  Tbat,  nm  mich  des 
Ausdrucks  zn  bedienen,  eine  ne<2fative  BestMi^inor  für  jene  Vermuthung, 
urnl  ich  lege  auf  denselben  ein  niclit  uubedeAitendes  Gewiclit.  Wie 
ich  schon  beim  Brahmanismus  hervorhob,  ist  die  Askese  die  frei- 
willige (  beniahme  von  Schmerz,  die  llbung  in  dieser  Übernahme, 
sei  es  durch  positives  Hervorrufen  von  Schmerz,  sei  es  diiicli  das 
negative  Verhalten  gegenüber  positiver  Freude,  d.  i.  durch  Euthalt- 
MDdieit.  Da  nun  aber  auch  Buddha  als  erstes  Gebot  die  Enthaitsamr 
leit  predigt,  so  wird  ja  doch  der  Seheui  erweckt,  dass  er,  wenn  auch 
nicht  die  brahmanische,  so  doch  seinerseits  auch  eine  Art  der  Askese 
gefordert  habe. 

Wenn  man  hier  nicht  um  Wortstreit  stecken  bleiben  will,  so  ist 
es  nftthig,  den  Begriff  der  Adceee  nfiher  zu  bestimmen,  wie  wir  ihn 
auf  Grund  der  historischen  Srscheinungen,  welche  den  Namen  aske- 
tische trafen,  gewonnen  haben,  indem  hierbei  vorerst  der  Buddhismus 
uatlilich  nicht  in  Frage  kommt.  Da  ergibt  sich  denn,  dass  die  As- 
kese bei  den  Brahmanen,  bei  den  Juden,  bei  den  Ägyptern  und  bei 
den  Christen  die  übungsgeraässe  Übernahme  von  Schmerz  ist  zu  dem 
positiven  Zweck,  das,  was  am  Menschen  ewig  ist,  durch  solche 
Schmerzübungen  von  dem,  was  am  Menschen  vergänglich  und  ungütt- 
hch  ist,  zu  befreien,  d.  h.  jenes  Ewige  ausser  und  über  das  Veigäng- 
hche  zu  stellen  schon  in  diesem  Leben.  Diesen  Zweck  sielit  man 
stets  mit  jener  Schmerzübunir  der  Askese  verbunden,  ja  diese  erhält 
durch  denselben  erst  ihre  rationale  Begründung,  ohne  ihn  stände 
m  unverstanden  da.  Die  Askese  tritt  bei  allen  diesen  Völkern  dem- 
nach als  der  positive  Zweck  auf,  das  Göttliche  im  Endlichen  im 
iCe&schen  auf  sich  selbst  zu  stellen. 

Will  man  nun  die  buddhistische  Enthaltsamkeit  eine  Askese 
nennen,  so  fehlt  ihr  vor  Allem  der  positive  Zweck;  denn  die  Ent» 
haltsamkeit  der  Buddhisten  ging  auf  die  Vernichtung  dessen,  was 
tberhanpt  Seele  ist,  aus.  Wenn  Duncker  meint  (EDL  269):  „Im  Grunde 
kam  es  doch  auf  dasselbe  hinaus,  ob  man  die  Seele  tOdtete,  indem 
aan  sie  ins  Brahman  versenkte,  oder  sie  durch  das  Nirvana  vernichtete^ 


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—  458  — 


ob  man  von  den  zui'  Erlösunjr  Emporstrebenden  verlangte,  HeiTen 
ihier  Sinne  za  sein,  wie  die  Brahmanen,  oder  sich  von  der  Empfin- 
dung und  vom  Körper,  vom  Dasein  loszubinden,  wie  Buddha":  90 
kann  ich  diesem  nnr  in  Hinsicht  auf  das  factische  Resultat  des  Stre- 
bens  beistimmen,  indem  nfimlich  in  beiden  FflUen  das  Individunm  aJs 
solches  TBiniehtet  und  zwar  dorch  Enthaltsamkeit  vernichtet 
wurde.  Ein  emschneidender  Unterschied  bestand  aber,  insofern  der 
Brahmane  diese  Enthaltsamkeit  ftbte,  nm  das,  im  an  ihm  als  Seele 
Brahman  war,  ans  seiner  Verbindung  mit  dem  Nicht-Brahman  zu  er- 
lösen nnd  als  reines  Brahman  in  seinem  ewigen  Sein  anf  sich  zu 
stellen,  wfthrend  der  Buddhist  enthaltsam  war.  nm  das,  was  Seele 
ist  (die  ..Form"  sowol  als  auch  die  „Materie"  derselben)  zu  ..erlösen**, 
d.  i.  zu  vernichten.  Diesem  negativen  Zweck  der  buddhistischen 
Ethik  gegenüber  hätte  aber  ihre  Enthaltsamkeit,  als  Askese  auf- 
gefasst,  gar  keinen  Sinn,  da  nicht  einzuselien  ist,  warum  man  i\k 
Seele,  welche  verniclitet  werden  muss,  sicli  nocli  ülten  lassen  öoll  in 
Ertragung  des  Schmerzes,  sich  also  in  ihrer  Kraft  noch  stäh- 
len, in  ilirem  eigenen  Sein  kräftigen  lassen  soll. 

In  der  eigentlichen  Askese  femer  wird  der  Schmei'z  gesucht, 
man  will  mit  ihm  kämpfen,  an  demselben  in  seiner  Kraft  sich  übeD. 
Nichts  von  diesem  Kampfesmuth  findet  sich  in  der  buddhistischen 
Enthaltsamkeit,  nichts  von  diesm  positiven  Streben,  mit  dem  Schmelze 
handgemein  zn  werden,  sondern  das  Gegentheü  liegt  ihr  zn  Gnade: 
die  Sehen  vor  dem  Schmerze,  das  Streben,  ihn  zu  vermeideiL 

Diese  Gründe  sind  es,  welche  mich  bestimmen,  in  dem  ersten 
Grundsatz  der  buddhistischen  Sittenlehre  nichts  von  dem,  was  in  alkn 
anderen  Ersdiehiungen  das  Wesen  der  Askese  ausmacht,  anzQe^ 
kennen,  und  daher  auch  der  Enthaltsamkeit  Bnddha^s  das  Prft* 
dicat  „asketisch"  dnrchans  vorzuenthalten.  Dabei  soll  freilich  nicht 
geleugnet  werden,  dass  in  praxi  die  asketischen  äusseren  Thateu 
der  Brahmaneu.  sofern  sie  im  Versagen  von  sinnlidien  Freuden  l>e- 
stÄuden,  durchaus  denjenigen  der  Buddhisten,  welche  Äussenmgen  des 
Grundsatzes  der  Enthaltsamkeit  waren,  glichen.  Ja  diese  äussere 
Gleichlieit  mag  dazu  beigetragen  haben,  dass  sich  in  den  Buddhismus 
später  wirklich  asketische  Übungen  einschlichen,  Übungen,  die  aber 
dem  sittlichen  Zwecke,  wie  ihn  wenigstens  Buddha  fornmlirt  hatte, 
zuwiderliefen.  Dieses  Überspringen  von  der  buddhistischen  Enthaltsam- 
keit zum  Extrem  derselben,  zur  brahmanisch- asketischen  Enthalt* 
samkeit,  war  aber  eben  erst  dann  möglich,  als  das  Nirvana  Mine 
nrsprttnglich  rein  negative  eines  Nichts  mit  einer  positiven  Bedentoog 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


—  469  ^ 


einer  biiiimlisclieii  Existenz  vertausclit  liatte,  und  als  in  den  Buddhis- 
BUS  das  (jottesbewusstsein  hereingenommen  war. 

Dass  der  Sittenlehre  Buddha's  die  asketische  Tendenz  fehlt,  ist 
ein  „ne,?atives"  Moment  zur  Bestätigung  der  Annahme,  dass  in  der 
Tbat  für  Buddha  der  Pessimismos  die  theoretische  Grund- 
lage seiner  praktischen  Forderungen  gewesen  sei.  Gesetzt  den 

nun,  diese  Annahme  hätte  sich  bewahrheitet,  so  liesse  sich 
wiedomn  ans  ihr  unschwer  deduciren,  dass  Askese  in  der  pessimisti- 
tthen  Sittenlehre  Bnddha's  keinen  Platz  gefhnden  haben  könnte,  weil 
eben  Askese  wol  Pessimismus  (wie  bei  den  brahmaaischen  Indem) 
henromfen ,  nicht  aber  Pessimismus  Askese  erzeugen  kann.  Der 
Pessimismus  wird  nie  das  Leid  suchen,  nie  das  Leid  zu  steigern 
sich  bestreben,  sondern  vielmehr  allein  auf  Verminderung  des 
Leids  bedacht  sein;  alle  Forderungen  daher,  welche  eben  als  aske- 
tisdiH  leidschaflfende  sind,  werden  vom  Standpunkt  des  Pessimismus 
aus  als  dein  praktischen  Lebenszweck  der  Leidverminderung  zuwider- 
iaultfud  erscheinen  müssen. 

Ich  habe  oben  den  Selbstmord  die  praktische  Consequenz  des 
reinen  Pessimismus  genannt;  nun  könnte  es  dem  gegenüber  inconse- 
qoent  erscheinen,  wenn  ich  die  Askese  ausser  jedem  Causalzusammen- 
hang  zum  Pessimismus  als  angeblichem  Grunde  desselben  stelle.  Man 
wird  hierin  jedoch  solche  Inconsequenz  nur  dann  finden,  wenn  man 
die  Askese  fälschlich  als  einen  langsamen  Selbstmord  anfifasst; 
denn,  mag  auch  die  Askese  sich  factiseh  herausstellen  als  ein  lang- 
samer Selbstmord,  so  ist  dieselbe  von  Seiten  des  Asketen  selbst  doch 
keineswegs  so  anfii^efiust  und  durchaus  nicht  in  solchem  Sinne  von 
ihm  praktisch  übernommen  worden,  sondern  nur  als  ein  „Absterben 
dem  Sinnlichen  und  Irdischen**. 

Nach  Erledigung  dieser  Vorfrage,  betreffend  das  Verhältnis  des 
Buddhismus  und  speziell  des  buddhistischen  Pessimismus  zur  Askese. 
p\i  es  nunnjehr,  da  der  Pessimismus  als  tlieorctische  Voraussetzung 
und  Grundlage  der  Sittenlehre  Buddlia's  noch  bestehen  geblieben  ist, 
die  Untersuchiinir  anzustellen,  ob  die  Sittenlehre  in  der  That  als  eine 
einfache  Consequenz  ans  Buddha's  Pessimismus  sich  ergebe. 

Buddlia's  Pessimismus  ist  zunächst  ein  rein  empirischer,  er 
ist  eine  „Ertah  rangst  hat  suche*',  die  von  ihm  dann  auf  das  Ich,  die 
äeele,  als  ihren  „physischen''  Grund  zorückgefUhrt  wird;  dieser  sein 
Pessimismus  iiat  demnach  in  keiner  Weise  einen  „metaphysi- 
schen'' Hintergrund,  sei  es  einen  religiösen,  sei  es  einen  abstract 
pbüosophiechen.    Um  so  mehr  mttsste  es  nun  uA  Grunde  Wunder 


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—   460  — 

nehmen,  dass  Buddha,  um  den  im  pessimistischen  Sinn  <reda(:}iteu 
Lebenszweck  des  Menschen,  nämlich  die  Befreiung  von  dem  Übel,  zu 
erreichen,  nicht  zum  Selbstmord  als  erster  und  einzig  radical  erlösen- 
der Maxime  i^^ritf.  Was  ihn  aber  hieran  hinderte,  waren  jene  obenan- 
geführten,  neben  seinem  Pessimismus  herlaiitenden ,  aber  in  keinem 
logischen  Connex  zu  demselben  stehenden  Vorstellungen  von  der  Sub- 
stanz Seele  und  von  deren  Wiedergeburten.  Indem  diese  Voi*st«llun- 
gen  sich  geltend  machten,  ergab  sich  der  Selbstmord  als  zwecklose 
und  daher  nicht  als  eine  „sittliche"  Handlung,  denn  mit  der  Ver- 
nichtung des  Körpers  erschien  dem  Buddha  die  Seele  in  ihrer  Existenz 
in  keiner  Weise  vermindert,  ihr  stand  vielmehr  nach  derselben  wieder 
in  einer  neuen  Incamation  ganz  derselbe  Znstand»  als  wie  sie  ihn  vor 
derselben  innegehabt  hatte,  in  sicherster  Aussicht,  also  sie  wSre  durch 
den  Selbstmord  auch  nicht  um  den  kleinsten  Schritt  dem  Nirvana 
näher  gekonunen. 

Das  Übel  des  Daseins  hat  nun  nach  Bnddha  seinen  Grund  in 
dem  der  Seele  anhaftenden  Triebe  nach  Dasein;  dieser  aber  wird 
vom  Menschen  erstickt  werden  müssen.  Das  beständige  Verlangen 
nach  Dasein  zieht  die  Seele,  nach  dem  Absterben  üires  Leibes,  immer 
wieder  in  das  Dasein  zurück,  treibt  sie  immer  wieder  in  die  Koi-per- 
welt,  bekleidet  sie  immer  wieder  mit  einem  neuen  Körper:  ,.aUe  Ein- 
kleidungen sind  vergänglich,  alle  Einkleidungen  sind  schmerzvoll.'' 
Hört  das  Verlangen  nach  Dasein  auf,  so  ist  das  Nirvana,  das 
Nichtsein  von  der  Seele  erreicht:  jenes  Verlangen  zu  tilgen,  ist 
daher  die  Aufgabe  des  Menschen,  und  diejenige  Handlung,  welche 
dieser  Aufgabe  entspricht,  ist  sittlich,  diejenige  aber,  welche  ihr  nicht 
entspricht,  ist  unsittlich. 

Dieser  Anschauung  gemäss  sind  Enthaltsamkeit  und  Geduld 
sittliche  Grundforderungen  des  Pessimismus,  die  ihm  ebenso  zweifellos 
allgemeine  und  noth wendige  Grundsätze  sind,  als  das  dem  Verlangen 
nach  Dasein  entspringende  Obel  des  Daseins  allgemehi  ist  Sie  er- 
geben sich  aas  dem  von  den  Vorstellungen  der  Substanz  Seele  and 
ihrer  Wiedeiigebarten  begleiteten  Pessimismos»  da  der  Selbstmordsweg 
eben  durch  jene  Vorstellungen  verbaut  worden  ist  Denn  wenn  es 
wahr  ist,  dass  die  Befriedigung  eines  jeden  Begehrens  die  Quelle 
nur  noch  grösseren  Leides  ist  und  der  sich  so  befriedigende  Mensch 
Jenem  gleicht,  welcher  seinen  quälenden  Durst  mit  Salzwasser  zu 
löschen  sucht:  so  kann  die  Befreiung  vom  Leid  nur  auf  dem  entgegen- 
gesetzten Wej^  gesucht  werden,  nämlich  in  der  Enthaltsamkeit,  welche 
den  an  den  Menschen  herankommenden  Beizen  der  Willenäbelriediguag 


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—   461  — 


nicht  Folge  gibt,  und  in  der  Geduld,  welche  dem  an  den  Menschen 
nothwendig  herankommenden  Übel  sich  nicht  \sidersetzt;  da  in  beiden 
Fällen  sonst  nur  noch  eine  VennehruDg  des  Übels  einträte.  Enthalt- 
samkeit und  Geduld  erscheinen  unter  diesen  Umständen  als  diejenigen 
sitUichen  Forderungen,  die,  selbst  noch  abgesehen  vom  letzten 
Lebenszweck,  venigstens  das  Übel  des  Daseins  am  erträglichsten 
BMchen  und  insoftni  dem  ursprikngMchsten  Streben  des  Pessimisten, 
Aufhebung  seines  Leids  zu  erreicben,  so  weit  es  möglich  ist,  gerecht 
werden  können  als  Klugheitsmassregeln.  Dieselben  gewinnen 
dsan  fireüich  eine  Tertiefhng  dadurch,  dass  der  empirische  Pessimismus 
specnlatiy  begrflndet  wird  durch  seine  Ableitung  aus  dem  Wesen 
der  Seele,  in  welcher  ,.der  Trieb  nach  Dasein  unveräusserlich  hafte". 

In  Folge  davon  erhalten  Eutli;ilt,samkeit  und  Geduld  in  Hetreti' 
des  Leids  nicht  nur  eine  relative  sittliche  Bedeutung,  insofern  sie 
dasselbe  im  Leben  des  Menschen  vermindern,  sondern  auch  eine  ab- 
solute, da  sie  durch  praktische  Verhinderung  des  Triebes  nach 
Dasein  diesen  Trieb  selbst  d.  h.  mit  anderen  Worten  die  Seele  und 
damit  das  Leid  des  Menschen  endigen  können.  In  dieser  letzteren 
Tendenz  werden  sie  nun  noch  gestützt  durch  die  speculative  Er- 
kemitnis,  dass  das  Dasein  eben  das  Übel  selbst  ist;  denn  diese  Er- 
kenntnis schwächt  schon  an  und  für  sich  das  Verlangen  nach  Dasein, 
so  dass  man  um  so  leichter  zu  der  Entsagung  geUingt,  „kerne  Vor- 
stellung, keinen  Eindruck  mehr  empfangen  und  somit  nichts  mehr 
verlangen  zu  weUen**.  Mit  dieser  Vernichtung  des  Verlangens  Ist 
dann  nach  Buddha  die  Fessel  des  Daseins  yOlüg  gebrodien. 

Was  demnach  der  empirische  Pessimismus  schon  sls  Elugheits- 
massregel  ^pfcdden  würde,  das  bestätigt  und  yertieft  der  speculative 
buddhistische  Pessimismus  zu  absolut  zwedientspreehenden  Grundsätzen, 
nämlich  die  Forderung  der  Enthaltsamkeit  und  der  Geduld.  Man 
darf  hier  aber  die  Anmerkung  nicht  vergessen,  dass  diese  Forderungen 
gleichsam  an  die  Stelle  des  Selbstmordes  treten,  beim  empiiischen 
Pessimisten,  weil  er  seinen  Pessimismus  für  das  eigene  ljel)en  doch 
noch  immer  als  eine  „zufällige  Geschichtswahrheit"  anzusehen  geneigt 
ist  und  noch  an  ein  mögliches  Ende  des  lUjersrhusses  der  Un- 
lust im  eigenen  Leben  glaubt,  bei  Buddha  aber,  weil  er  an  die 
Wiedergeburt  der  Seele  glaubt. 

Der  absolute  Zweck,  welchen  Buddha  in  Gemässheit  der  specu- 
lativen  Grundlegung  seines  Pessimismus  aufstellen  musste,  war  für 
jeden  Menschen  nun  freilich  ein  und  derselbe,  aber  dennoch  kein  ge- 
meinsamer; denn  ein  jeder  hatte  seinen  eigenen,  besonderen  Lebens^ 


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—   462  — 

zweck,  nämlich  speziell  die  VemichtUDg  seiner  Existenz.  Da  nun 
dieser  Zweck  nach  Buddha's  eig:ener  Reflexion  durch  Enthaltsamkeit 
und  Geduld  zu  erreichen  sein  sollte,  so  könnte  man  anzunehmen  be- 
rechtiget sein,  eben  jene  beiden  Forderuno:en  hätten  die  Sittenlehie 
desselben  schon  völli*--  ausofemacht,  wenn  anders  die  Sittenlelire  über- 
haupt die  Aufgabe  erfüllen  soll,  dem  Menschen  dei^emgen  Weg  zu 
zeigen,  auf  welchem  er  den  erkanntea  Selbstzweck  seines  Lebens  er- 
reichen wird. 

Ansrn  zwei  beregten  Forderungen  jedoch  verkündete  Buddha 
noch  die  Bannherzigkeit  gegenfiber  den  flbiigen  Leidensgenossen,  den 
Menschen  und  den  Thieren;  es  fragt  sich  nun,  ob  auch  diese  dritte 
Forderung  mit  dem  buddhistischen  Pessimismus  und  dem  ans  ihm 
resultirenden  ^^ttüchen**  Lebenszweck  organisch  zusammenhängt 

Gestützt  durch  die  Erkenntnis  von  der  absoluten  Nichtigkeit  des 
Daseins  hatte  die  Enthaltsamkeit  einen  doppelten  Zweck,  indem  sie 
einmal,  mit  der  Geduld  zusammen,  das  Leid  der  diese  Tugenden  Üben- 
den in  diesem  Leben  möglichst  vermindeni  und  dann  nocli  iiu-  sich 
allein  die  gänzliche  Vernichtung  der  tugentlhatten  Seele  einleiten  soll. 
Das  erstere  war  gleiclisam  der,  unwillkürlich  aus  dem  pessimistisch 
erfahrenen  Leben  hervorspringende,  nähere  Zwei-k.  das  letztere  der 
gleichsam  willkürlich,  nämlich  aus  dem  durch  eigenes  Nachdenken 
speculativ  ergründeten  Pessimismus  construirte,  entferntere  Emi- 
zweck. In  Collision  konnten  aber  diese  beiden  Zwecke  im  buddhi- 
stischen I'essimismus  deshalb  nicht  kommen,  weil  für  ihn  niemals  das 
Leid  des  Lebens  so  yerringert  wurde,  dass  das  Dasein  ihm  nicht  mehr 
ein  Übel  gewesen  wSre.  Jener  erstere  Zweck  konnte  also  nie  eine 
solche  Verminderung  des  Leids  realisirbar  yorsteUen,  so  dass  eine 
etwa  aus  seiner  Bealisirung  resultirende  Positivität  der  Lustbüance 
das  Dasein  nicht  mehr  als  Übel  erwiesen  und  damit  den  bnddhistiflcfaeii 
Endzweck  des  sittlichen  Handebs,  Vernichtung  des  Dasehu,  auf- 
gehoben hätte.  Sobald  ein  derartiger  Gedanke  sich  Bahn  brach,  muaste 
der  buddhistische  Pessimismus  selbst  geknickt  sowie  aus  dem  Mittel- 
pnnkt  der  buddhistischen  Weltanschauung  gerückt  werden,  und  muss- 
ten  die  bisher  dem  Zwecke  der  Leidvermindening  dienenden  Tugen- 
den der  Enthaltsamkeit  und  Geduld,  wenn  sie  beibehalten  wurden, 
dann  auf  ein  für  die  Seele  positives  Resultat  zielen  und  somit 
dann  allerdings  asketischen  Charakter  erlialten. 

Ich  erwähne  dies  letztere  deshalb,  weil  im  Blick  auf  den  dritten 
Grundsatz  der  buddliistischen  Sittenlehre  die  beiden  ei  steren  vielleicht 
eine  asketische  Jb'ärbung  erhalten  haben,  und  wenn  sich  dies  best&ü- 


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gen  sollte,  so  würde  dann  zugleich  schon  ein  Beweis  dessen  liegen, 
<Uss  der  Grundsatz  der  Barmherzigkeit  wenigstens  nicht  in  or- 
ganischem Zusammenhange  mit  der  pessimistischen  Weltanschammg 
Boddha's  steht,  weil  dei'selbe  eben  in  das  Handeln  des  Bnddhistai  ein 
asketisch  es  Moment  einführt 

Es  bedarf  nun  in  der  That,  nm  dies  za  zeigen,  nur  des  ein&chen 
Hinweises,  dass  in  der  Forderung  der  Barmherzigkeit  in  vielai  Fftllen 
die  Togenden  der  Enthaltsamkeit  nnd  Geduld  gleichsam  als  Kehr- 
seiten derselben  sdion  mitgefordert  werden,  nicht  aber  etwa  umgekehrt, 
VDd  dass  sie  im  Verein  mit  jener  dritten  selbst  ein  ganz  anderes 
Aussehen  bekommen.  Für  sich  allein  können  sie  freilich,  wie  ich 
ffczeisrt  habe,  pessimistische  Tagenden  sein,  welche  durch  die 
Zweckvoi"stellung  der  Leidverminderung  und  Leidveruichtung  gerufen 
sind,  in  der  engen  Verbindung  mit  der  Rarmherzigkeitstbrderung  aber 
erscheinen  sie  als  asketische  Tugenden,  in  denen  nunmehr  nicht 
das  Motiv,  das  eigene  Leid  zu  vermindern  oder  zu  vernich- 
ten, sondern  vielmehr  dasjenige,  Mühe  und  Leid  zu  Gunsten  eines 
Andern  freiwillig  auf  sich  zu  nehmen,  eintritt;  der  Zweck  ist  also 
bier  ein  positiver:  die  dem  Andern  zugefügte  Wolthat.  Man  wird 
Ineraos  begreiflich  finden,  dass  auch  im  Buddhismus  schon  von  vom- 
herem  Askese  gefimden  werden  wollte;  jemehr  nftmlich  grade  das 
Gesetz  der  Barmherzigkeit  in  den  Vordergrund  trat,  destomehr  Asketi- 
adies  kam  in  die  Forderung^  der  Enthaltsamkeit  und  der  Geduld  hinein. 

Aber  auch  abgesehen  von  diesem  indirecten  Beweis  des  Einflusses 
auf  die  zwei  ersten  Grundsätze,  lässt  sich  aus  der  Forderung  der 
Barmherzigkeit  selbst  der  Beweis  tiefem,  dass  sie  nicht  ans  dem 
buddhistischen  Pessimismus  erwachsen  sein  kann.  Ein  Anderes 
nämlich  ist  es,  der  Grund  einer  sittlichen  Forderung  sein,  und  ein 
Anderes,  auf  ein  und  dieselbe  Tliatsaclie,  wie  sie,  zurückweisen.  Die 
-Thatsache"  des  allgemeinen  Leids  nun  lag  als  empirischer  Ausgangs- 
punkt dem  speculativen  Pessimismus  Buddha's  zu  Grunde,  dieselbe 
Thatsache.  insofeni  sie  an  den  Anderen,  den  „Leidensgenossen'',  auf- 
trat, war  die  Ursache  jenes  Mitleids,  aus  dem  heraus  Buddha  seine 
Barmherzigkeitsforderung  formulirt  hatte.  Zu  dieser  war  er  aber  nicht 
gelangt  auf  Grund  seines  Pessimismus  und  dem  sich  daraus 
entwickelnden  Streben,  das  eigene  Leid  zu  heben,  und  er 
konnte  auf  diesem  Wege  auch  gar  nicht  dazu  gelangen,  weil  die 
Barmherzigkeitsforderung  dundiweg  zu  Jenem  Streben  in  di- 
recte  Opposition  tritt.  Die  QneUe  einer  solchen  Forderung  war 
viehnehr  allein  das  durch  das  Leid  der  Nebenmenschen  und  Thiere 


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im  Menschen  unmittelbar  hervorgerufene  Mitleid,  wek;lies  in  Buddha's 
Wesen  offenbar  besonders  günstige  Beactionsbedingüngen  gegenüber 
dem  fremden  Leid  vorfand. 

Nicht  das  eigene  Leid  also,  aber  auch  niclit  das  Leid  der  an- 
deren Wesen  ist  der  Grund,  sondern  nur  die  Veranlassung  zur 
Au&teilung  Jenes  Grundsatzes;  der  theoretische  Grund  des  letzteren 
ist  vielmehr  die  Behauptung  von  der  Leidensgenossenschaft  der 
lebenden  Wesen.  Nicht  weil  alle  Wesen  leiden,  soll  Barmherzigkeit 
vom  Einzehien  gettbt  werden  (dieses  „wett^  wftre  schlechterdings  niefat 
zu  begreifen),  sondern,  weil  alle  Wesen  Leidensgenossen  sind.  Diese 
Behauptung  aber  ist  derjenigen  des  Pessimismus  nicht  etwa  unter- 
geordnet und  aus  ihr  abgeleitet  ,  sondern  steht  ihr  im  buddhistischen 
System  nur  nebengeordnet  zur  Seite,  und  die  auf  ilir  gegiündete  sitt- 
liche Furdei-untr  der  Barmlierzig-keit  hat  zum  buddhit^tischen  Pessimis- 
mus als  Sülcliem  kein  organisches  Verhältnis.  Dieser  wollte  die  Ver- 
nich tunjr  der  eigenen  Seele;  aus  der  Tugend  der  liarmhei-zigkeil 
aber  resultii'te  eine  glücklichere  Lage  der  Seele  des  Anderen, 
oder,  wenn  man  lieber  will,  eine  Verminderung  ihres  Leids;  diese  letz- 
tere aber  stand  als  solche  in  keinem  Zusammenbang  mit  der  Ver- 
nichtung der  eigenen  Seele. 

Es  ist  vom  ausschliesslichen  Standpunkt  des  Pessimismus 
Buddha's  aus  in  keiner  Weise  einzusehen,  wie  die  Barmherzigkeit,  d.  L 
die  Linderung  der  Leiden  Anderer  zur  Aufhebung  der  eigenen  Lebens- 
ezistenz  beitragen  kOnnte,  und  daher  vermochte  auch  von  ihm  aus 
diese  „Tugend",  welche  aus  dem  Mitleid  entsprang  und  dann  theore- 
tisch auf  die  Lehre  von  der  Leidensgenossenschaft  der  Wesen 
gegrOudet  ward,  durchaus  nicht  als  Tugend  begiiifen  zu  werden,  weil 
sie  ihm  zwecklos  dttnken  rousste. 

Überdies  steht  das  Gebot  der  Barmherzigkeit,  wenn  auch  psy- 
chologisch im  Mitleid  gegründet,  im  Buddhismus  nicht  speculutiv  be- 
gründet; Buddha  erklärt  einfach:  ,,Den  Leidensgenossen  sollen  die 
Leiden  gemindert  werden."  Diese  Forderung  tritt  völlig  unvermittelt 
auf  und  ist  auf  keine  metaphysische  Basis  gen^riiiidet.  was  eben  frei- 
lich deshalb  nicht  geschehen  konnte,  weil  Buddha  überhaupt  keine 
Metaphysik  in  seine  Anschauung  aufgenonuuen  hatte.  Sie  ist  ein 
Macht  gebot  Buddha's,  das  allerdings  am  menschlichen  Mitleid  einen 
Anknüpfungspunkt  und  an  der  (iemeinsamkeit  des  Leids,  an  der 
Leidensgenossenschaft  der  Wesen  einen  t  hat  sächlichen  Rück- 
halt besass,  das  abei*  als  solches  sich  nicht  mit  dem  buddhistisch- 
pessimistischen Streben  organisch  verknüpfen  Iftsst 


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—  465  — 


Indes  ward  doch  daföi*.  dass  das  Machtgebot  einen  allgemeinen 
und  zwingenden  Charakter  erhielt,  Ratli  geschafft  vermittelst  jener 
Voi-stellung  von  der  Belohnung  and  Bestrafung  in  den  Wieder- 
gebarten. Barmherzigkeit  erweisen,  hiess  es  n&mlich,  hilft  der  Seele, 
dem  Nirvana  nfiher  zu  kommen,  da  die  Belohnung  in  einer  „besseren*', 
d.  i  die  gänzliche  Yemichtnng  mehr  ennOglichenden,  Wiedergeburt 
vom  Schicksal  anogezahlt  wird.  Dadorch  war  die  Forderung  nun  zn 
einer  baddhistisch-sittlichen  gestempelt,  sowol  in  dem  Sinne,  dass  sie 
allgemein  und  nothwendig  erschien,  als  auch  in  dem  andern,  dass  sie 
wenigstens  auf  ümwegen  dem  buddhistischen  Lebenszweck  diente;  und 
hatte  sie  auch  ihren  ürspning  nicht  ans  dem  Pessimismus  genommen, 
so  liess  sie  sieh  mm  mit  Hilfe  jener  Verpfeltungslehre  widci*spruchslos 
unter  den  buddhistisch-pessimistischen  Lebenszweck  stellen,  wenn  nur 
einmal  erst  peremptorisch  von  Buddha  erkläit  war,  dass  sie  in  das 
Vergeltungsressort  hineingehöre. 

Uber  das  Verhältnis  des  Pessiiiiismus  Buddha's  zu  seiner  Sitten- 
lehre lässt  sich  nun  das  Urtheil  kurz  so  zusammenfassen:  Ans  dem  in 
den  Mittelpunkt  seiner  Weltanschauung  gestellten  Pessimismus  heraus 
ist  Buddha  mit  Zuhilfenahnie  der  Vorstellung  von  den  Wiedergeburten 
der  Seele  zu  seinen  zwei  sittlichen  Forderungen  der  Enthaltsam- 
keit and  Geduld  gekommen,  während  er  die  dritte  Forderung  der  . 
Barmherzigkeit  aof  die  „Thatsache"  der  Genossenschaft  der  leidenden 
Wesen  stützte,  und  dieselbe  zum  sittlichen  Gebot  erhob,  indem  er  sie 
mit  seinem  pessimistischen  Lebensziel  in  Einklang  brachte  vermittetst 
der  Vorstellung  der  Belohnung  (Annäherung  ans  Nirvana)  und  Bestra- 
ftmg  (Entfernung  vom  Nirvana)  an  die  Erf&llung  respective  Nicht- 
etfftUnug  jener  Forderung  geknüpft  wäre.  Es  lässt  sich  nicht  leugnen, 
dass  besonders  die  drei  theoretischen  Httlfssätze  von  der  Substanz  Seele, 
von  den  Wiedergeburten  und  von  der  Vergeltung  in  denselben  der 
pessimistischen  Sittenlehre  Buddlias  erst  ihr  bestimmtes  Gepräge 
gegeben,  und  dass  der  Grundsutz  der  Barmherzigkeit  seine  theore- 
tische Grundlage  nicht  im  Pessimismus  habe.  Immerhin  muss 
aber  zugleich  zugestanden  werden,  dass  die  Sittenlehre  Buddha's, 
wie  sie  nun  einmal  vorliegt,  im  vollsten  Sinne  eine  pessimistische 
genannt  zu  werden  verdient,  da  in  der  That  alle  ihre  sittlichen  For- 
derangen, sei  es  direct  (Enthaltsamkeit  und  Geduld),  sei  es  indirect 
(Barmherzigkeit),  dem  pessimistischen  Lebenszweck,  der  Ver- 
nichtung der  Seele,  unterstellt  sind. 

(Fortaetxuag  folgt.) 


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1 


Ans  dem  Sclmllelieii  der  Sehweiz. 

Von  H,  Morf-Winterthur. 
(Schlnss.) 

vn. 

Bis  1869  var  die  AnsteUimg  der  Primariebrer  und  der  Geist- 
lichen eine  lebenslSngliche.  Die  vom  Volke  am  31.  M&rz  1869  got- 
geheissene  Landesyerfassimgf  hob  die  Lebenslftnglichkeit  für  beide 

Stände  auf  und  setzte  fest:  „Es  unterlieg^en  die  Lehrer  an  der 
Volksschule  (ebenso  die  Geistlichen)  alle  sechs  Jahre  einer  Be- 
stätigungswahl. Wenn  bei  der  diesfälligen  Abstimmung  die  ab- 
solute Mehrheit  der  stimmberechtigten  (4emeindegenossen  (männliolie 
,  Einwolmer  vom  20.  Jahre  an)  die  Bestätigung  ablelint,  so  ist  die 
Stelle  erledigt  und  neu  zu  besetzen."  Also  ergeht  jedes  sechste 
Jahr  ein  grosses  Volksgericht  über  die  Lehrerschaft.  Das 
letzte  hat  im  Frülgahr  1880  stattgefunden.  Und  wie  lautet  der 
Spruch? 

Der  Kanton  Zürich  zählt  zur  Stunde  577  Primarlehrer  und  47 
Prlmarlehrerinnen.  Von  den  sftmmtlichen  Lehrern  und  Lehrerinnen  sind 
16  nicht  wieder  bestfttigt  worden.  Von  diesen  16  sind  3  in  einer 
zweiten  erneuerten  Abstimmung  von  ihren  eigenen  Gemeinden  wieder 
gewählt  worden.  Die  Bestätigungen  erfolgten  zu  einem  guten  Thefl 
einstimmig.  Wol  ein  glänzendes  Zeugnis.  Eine  Öffentliche  Stimme 
aus  dem  Volke  Hess  sich  nach  den  Wahlen  also  vernehmen: 

„Die  grundsätzliche  Beseitigung  det  Lebenslänglichkeit  ist  T<m 
der  zürcherischen  Demokratie  1868  gefordert  und  vollzogen,  von  den 
Betroffenen  mit  grossen  Besorgnissen  eiiiptaiiui  n  worden,  ^"erhehlen 
wir  uns  das  letztere  nicht:  Manche  Lehrer,  die  sonst  tapfer  mit  dem 
deuiokratischen  Programm  marschii'ten,  hatten  in  diesem  Capitel,  laut 
oder  leise,  ihre  Scrupcl." 

..Das  heutige  Facit  lautet  unzweifelhaft  dahin,  dass  die  geheju^teii 
Besorgnisse  sich  gar  nicht  oder  nur  zum  kleinen  Theil  realisirten,  und 


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—   467  — 

• 

dass,  umgekehrt,  die  Träger  des  Amtes  nunmelir  auch  die  Lichtseit^en 
der  demokratischen  Eiurichtuug  zu  würdigen  wissen." 

„Das  hat  Tor  kurzem  ein  geaclitetes  Mitglied  der  Lehrerschaft 
bezengt,  und  zwar  in  bündigen  und  deutlichen  Worten:  die  Lehrer- 
schaft sei  zufrieden  und  bernhigt;  beruhigt  über  die  Furcht,  dass  das 
Volk  allzu  hart,  leiehtf6rt%  und  nrtheillos  mit  seinem  Wahlrecht  um- 
gehe; zofdeden  mit  der  Er&hrong,  dass  im  Grossen  imd  Ganzen  Bil- 
ligkeit nnd  Anerkennnng  redlidier  PflichterfiUlnng  waltet  und  dass  in 
dieser  Anerkennung  ein  mächtiger  Hebel  nnd  Impuls  fOr  unabhängiges 
treues  Arbdten,  ü&r  geistige  Frische  und  Freudigkeit  liegt;  zufrieden 
auch  damit»  dass  da  und  dort  unhaltbare  Vevliältnisse  ohne  viel  Feder- 
lesens gelöst,  unwürdige  Träger  des  Amtes  in  aller  Buhe  bei  Seite 
gestellt  werden." 

„Es  ist  noch  nicht  gar  lange  her,  so  wurde  ein  kleiner  Sturm 
ani^blasen  gegen  das  Seminar,  gegen  die  destructiven,  materia- 
listisclien  und  irreligiösen  Tendenzen  eines  grossen  Tlieils 
unserer  Lehrers  c  h  a  f  t .  und  wen n  dergleichen  Anklagen  zum  z  w  ö  1  f  - 
ten  Mal  repetirt  werden,  so  glaubt  schliesslich  da  und  dort  einer  an 
deren  Triftigkeit,  auch  wenn  er  selber  darüber  nichts  Genaues  weiss, 
nichts  davon  gespürt  und  erfahren  hat  Das  Bestätigungsvotum  durch 
das  Volk  hat  in  dieser  Kichtung  eine  deutliche  und  ernste 
Lection  zu  Gunsten  der  Lehrerschaft  ertheilt.  Möge  die  letz- 
tere das  Factum  nicht  unterschätzen  und  aof  die  gute  Seite  der  perio- 
discben  Wahlen  buchen.  Das  Volk  ist  Ton  all  den  NOrgeleien  und 
Zänkereien  Aber  die  Freigeisterei  der  Lehrer  wenig  afficirt  worden. 
Es  taxirt  die  Leistungen  der  Schule,  die  Lebenshaltung  und  die  Ehren- 
haftigkeit seüier  Sclmllehrer  und  trifft  darnach  seine  Wahl  Die 
Anklagen  gegen  die  ganze  Corporation  zerfallen  vor  diesem 
Yotani  in  Staub  und  Asche,  und  die  Träger  des  Lehramts  wissen, 
woi  an  sie  mit  ihrem  Volk  und  mit  der  Behauptung  einer  freien,  un- 
abhängigen ÜberzeULTung  sind." 

„Die  16  Fälle  von  Niclitbestätigung  lassen  sich  in  ihrer  Mehrzahl 
80  erklären  und  begreifen,  dass  man  sagen  muss:  Es  war  richtig  und 
begründet,  das  Verhältnis  zu  lösen.  Einige  wenige  Eälle  mögen  es 
sein,  wo  von  Härte  und  Unbill  zu  reden  ist,  und  gerade  von  diesen 
Fällen  haben  drei  (zwei  in  Ratz,  einer  in  Xeubrunn-Tui'beathai)  sofort 
üire  Correctur  und  Rehabilitation  gefunden." 

„Das  Volk  ist  mit  der  periodisclien  Wahl  zuMeden,  hält  sehn 
Becht  in  Ehren  nnd  macht  sorgfaltigen  Gebranch  davon.  Die  Lehrer 
bezeugen,  dass  sie  in  der  Ausübung  dieses  Volksrechtes  bis  jetzt  wenig 


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—   468  — 


Gtefahr  für  unabhängiges  Wirken,  wol  aber  vielfach  die  innere  Kräfti* 
guug  zum  Beruf  und  eine  berechtigte  Controle  gefunden  liaben." 

Der  staatliche  Amtsbeiicht  pro  1880  lautet  für  die  Lehrer  ebenso 
ehrenvoll : 

„In  der  Anerkennung  des  Pflichteifers  und  des  sittlichen 
Verhaltens  der  Lehrerschaft  herrscht  in  allen  Berichten  erfrea- 
liche  Übereinstimmnng.  Die  Erneuenmgswahlen  im  Frühjahr  1880, 
velche  im  Ganzen  von  über  500  W  ahlen  16  Nichtbestätlgongeii  er- 
gaben, haben  den  Primarlehrem  ein  ehrendes  Zengnis  ansgestellt 
Wenn  auch  einzelne  Ansnahmen  nicht  nnerwfthnt  bleiben  dMen,  so 
sind  doch  die  meisten  Bezirksschnlpflegen  in  der  angenehmen  Lage, 
ansdrüddich  sämmtliche  Lehrer  nnd  Lehrerinnen  in  ihrer  Pflicht- 
erfüllung als  nnklagbar  zu  bezeichnen." 

Diese  Ansnahmen  specialisirt  der  Amtsbericht  also:  „Bei  Ge- 
legenheit der  Verabscheidung  der  Jahresberichte  der  untern  Schul- 
behürden  wurde  gegenüber  fünf  Priniarlehrern  die  Erwartung  aus- 
gesprochen, dass  ihre  Leistungen  von  der  Bezirksschulpflege  nicht 
mehr  als  ungenügend  bezeichnet  werden  müssen." 

„Ein  Priniarlehrer  musste  seiner  Stelle  als  verlustig  erklärt  wer- 
den, weil  er  sich  eigenmächtig  von  derselben  entfernt  hatte." 

„Auf  die  Meldung  der  Staatsanwaltschaft,  dass  ein  Lehrer  durch 
bezirksgerichtliches  Urtheil  der  Amtspflichtverletzung  durch  Fahrläs- 
sigkeit (körperliche  Züchtigung  von  Schülern)  schuldig  befunden  und 
demselben  eine  Geldbusse  auferlegt  worden  sei,  wurde  die  betreflende 
Bezirksschulpflege  eingeladen,  der  Amtsführung  dieses  Lehrers  ihre 
besondere  Aufinerksamkeit  zuzuwenden.'* 

„Einem  andern  Lehrer  musste  wegen  mangelhafter  PflichterfttUnng 
eine  Rflge  ertheüt  werden.** 

Der  ehrenvolle  Ausgang  der  Emeuerungswahlen  stellt  auch  die 
yon  orthodoxer  Seite  so  oft  erhobene  KUge  aber  die  Religionsloeig- 
keit  der  zarcherischen  Lehrer,  ins  richtige  Lieht  In  ihrer  Hand  liegt 
der  Religionsunterricht  bis  zum  Abscfaluss  der  Alltagsprimarschule, 
also  bis  zum  12.  Jahre  (von  da  an  besorgt  denselben  der  Geistlichel 
Nun  nimmt  das  Volk  diese  Sache  überall  sehr  enist.  Dass  es  den 
Lehrern  auch  darin  seine  volle  Anerkennung  gezollt,  ist  ein  Zeugnis, 
\  das  höher  steht,  als  einige  Hetzartikel.  Die  Herbart'sche  Zeitschrift: 
„Erziehungssclnile"  enthält  in  ihrer  Nummer  vom  1.  üctober  18Ö1 
folgende  Mittlieilung: 

„Aus  der  Schweiz  bringt  das  conservative  Flugblatt  für  Sachsen 
in  der  Beilage  zu  Nr.  8  folgende,  die  Simultanschule  femerweit  ch»- 


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—  469  — 

nktouireiicle  Nachricht:  In  dem  staatlichen  Seminar  zu  Kflssnaeht 
in  Kanton  Zflrich  haben  56  Seminaristen  anf  den  Unterricht  in  der 

„Beligionsgeschichte"  verzichtet.  Ein  eigentlicher  Religionsuntemcht 

wird  überhaupt  im  Seminar  nicht  ertheilt.  Mehrere  der  Seminaristen 
trugen  sich  in  der  letzten  Volkszählung  als  Atheisten  in  die  Liste 
ein.  —  In  Bern  konnte  es  ungeahndet  geschehen,  dass  der  Lehrer  im 
Eiamen  fragt,  ob  das  Beten  etwas  nütze?  und  die  Kinder  aus  einem 
Munde  antworten:  „Nein."  Lehrer:  ,,Wem  ist  denn  ein  Mensch  zu 
vergleichen,  welcher  betet?"  Schüler  (dreist  und  ohne  Zaudeni):  „Einem 
Hnnde,  welcher  den  Mond  anbellt."  Schuldirector:  (dergleichen  gibt's 
aoch  im  Kanton  Bern  nicht)  „Sie  können  jetzt  zur  Naturgeschichte 
fibergehen." 

Nnn  ist  zonftchst  richtig,  dass  bei  uns  Niemand,  also  auch  der 
SeniBarist  nicht,  zur  Theihiahme  am  Beligionsonterrichte  gezwungen 
Herden  kann.  Auch  da  „muss  die  Liebe  ein  freies  Opfer  sein**.  Nun 
sagt  der  Amtsbericht:  »Von  der  Gesammtzahl  der  ZOglingci 
denen  der  betreffende  Unterricht  offen  steht,  Ton  106,  haben 
87  den  Religionsunterricht  besucht;**  21  nur  haben  sich  Yon  demseDben 
nicht  angezogen  gefühlt  Femer  fugt  derselbe  bei:  „Wegen  einiger 
unüberlegter  Bemerkungen  auf  dem  Volkszählungsformular,  deren 
sich  vier  Zöglinge  schuldig  gemacht  hatten  und  welche  unnöthiger- 
weise  an  die  Öffentlichkeit  gezogen  wurden,  kann  die  Leitung  der 
Anstalt  kein  Vorwurf  treften."  Dem  Fleiss  und  dem  Betragen  der 
Zöglinge  gibt  der  Bericht  gutes  Lob.  Das  ist  der  Sachverhalt,  der  von 
j^ten  Christen"  in  edler  Absicht  so  hübsch  verarbeitet  worden  ist. 

Die  zweite  Mittheüung  der  „Erziehungs schule"  aus  dem  Kan- 
ton Bern  ist  selbstverständlich  bis  auf  den  letzten  Buchstaben  eine 
fromme  —  Erfindung. 

Die  zürcherischen  Lehrer  halten  sozusagen  ohne  Ausnahme  zur 
entschiedenen  Demokratie,  betheUigen  sich  an  politischen  Vereinen 
und  Discussionen  vie  alle  andern  Bürger.  Niemand  denkt  daran,  das 
unrecht  oder  ungehörig  zu  finden. 

VIII. 

Die  Besoldung  der  Seenndarlehrer  steht  hdher,  als  die  der 

Primarlelirer.  Der  Hauptgrund  liegt  darin,  dass  man  an  ihre  Vorbil- 
dung grössere  Anforderungen  stellt.  Wer  zur  Secundarlehrerprüfung 
zugelassen  werden  will,  muss  sich  darüber  ausweisen,  dass  er 

1.  das  zürcherische  Primarlelirerexamen  mit  Erfolg  bestanden, 

2.  mindestens  ein  Jahi*  als  Phmarlehrer  gewii*kt  und 

Padacoginm.  4.  Jkhig.  Heft  VIII.  81 


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—   470  — 

3.  zur  weitern  Fortbildung  mindestens  ein  zweijähriges  Hocii- 
schulstudium  diu'cligemacht  hat. 

Die  Besoldung  beträgt  Frk.  1800  nebst  freier  Wohnung,  6  Ster 
Holz  und  18  Ar  Gemüseland.  Auch  an  diese  Besoldung  trägt  der 
Staat  die  erste  Hälfte  und  an  die  zweite  einen  Theil  bei  Er  be- 
theiligt sieb  ancb  bei  freiwilligen  Besoldangszidagen  nnd  riditet  die- 
selben Alterszolagen  ans»  wie  an  Primarlehrer. 

Diese  fieiwilligen  Besoldungszulagen  von  Seite  der  Schulkreise 
stellen  sich  tür  jede  Secuudarlehrerstelle  —  es  sind  deren  an  den  85 
Schulen  141  —  im  Durchschnitt  auf  Frk.  400.  Die  jälirliche  Durch- 
schnittsbesoldung  beziffert  sich  Frk.  8000  oder  2400  Mark.  In 
Winterthur,  Zürich  und  andern  grössem  Ortschaften  steigt  sie  bis  auf 
Frk.  4000. 

Weiter  sagt  der  Amtsbericht: 

•  „Im  Femeren  eiTeichen  die  Unterstützungen  an  ärmere  Schüler 
f&r  die  Mehrzahl  der  Scholen  nicht  unerhebliche  Beiträge.  Dieselben 
werden  in  Form  von  Stipendien  verabreicht,  oder  die  betr^enden 
Scbttler  erhalten  die  Lehrmittel  und  Schreibmaterialien  unentgeltlich, 
oder  es  wird  ihnen,  namentlich  im  Wmter,  der  Mittagstisch  an 
Schnlort  gedeckt,  oder  endlich  die  Freude  eines  Jngendfestes  oder 
eines  grosseren  Avsflnges  bereitet  Endlich  werden  anch  allerlei  Schen- 
kungen von  Privaten  zur  Vermehrung:  der  Sammlungen  (Pinakoskop, 
Telegraphenapparat),  ssnr  Anscha£fung  von  Lehrmitteln,  Vergabungen 
zu  Gunsten  des  Schulfonds  und  freiwillige  Beiträge  tiir  Untemchts- 
z wecke  verschiedener  Art  in  den  Berichten  namhaft  gemacht." 

„Das  Desiderienbuch  für  die  Verbesserung  der  Secundarschulver- 
hältnisse  ist  in  der  Regel  weniger  reichhaltig  als  dasjenige  der  obli- 
gatorischen Sehnlabtheilnngen.  Gleichwol  ist  es  noch  nie  leer  geblie- 
ben, nnd  es  sind  diesmal,  von  geäusserten  Wfinschen  etwa  zu  notiren: 
BeschaÜing  einer  entsprechenden  Sammlung  von  Modellen  fikr  das 
technische  Zeichnen,  sowie  passender  Instrumente  für  Vermessungen 
und  Planaufiialimen  nebst  Abgabe  zum  Kostenpreise;  Einführung  der 
Gesnndheitslehre  als  ünterrichts&ch  in  Secundar-  und  Fortbildnngs- 
sehulen;  intacte  Erhaltung  der  Secnndarschule  bei  der  Reorganisation 
der  obligatorischen  Schulstufe." 

Die  Secun dar  1  ehrer  unt/erliegen  ebenfalls  jedes  sechste  Jahr 
der  EiTieuerunf^swalil;  sie  stehen  beim  Volke  in  p^leiclier  Gunst  wie 
die  Primarlehrer  und  haben  das  Volksgericht  nicht  zu  fürchten. 


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—   471  — 


Über  die  Pensianirung  derVolkflsehallehrer  enthalt  das  G^esetz 
folgende  Bestunmnogen:  „Lehrer,  welche  nach  wenigstens  dreissigjfth- 
rigem  Schuldienst  ans  ilters-  oder  Oesondheitsrackslchten  mit  Zn- 
stimmnng  des  Eiziehnngmthes  in  den  Bnhestand  treten,  haben 
Aiisitrach  anf  einen  lebenslänglichen,  vom  Staat  zu  verabreichenden 
Rahegelialt,  der  wenigstens  die  Hälfte  ihrer  bisherigen  Besoldung  be- 
tragen soll  und  im  einzelnen  Falle  vom  Eiziehimgsrath  mit  Berück- 
sichtigung der  besondern  Umstände,  z.  B.  der  Zahl  der  Dienstjahre, 
der  Vermögonsverhältnisse  des  Lehrers,  der  Art  seiner  Leistungen  etc., 
festzustellen  ist." 

Die  Pensionirung  kann  jedoch  auch  vor  Erfüllung  der  di*eissig 
Dienstjahre  stattfinden,  wenn  ein  Lehrer  wegen  dauernd  gestörter 
Gesundheit  oder  andern  unverschuldeten  Ursachen  ausser  Stand  ge- 
setzt ist,  seine  Stelle  weiter  zu  versehen. 

Ans  der  Staatscasse  sind  im  Jahre  1880  an  Lelirer-Pensionen  aus- 
bezahlt worden  Frk.  94  985.  Manche  Gemeinden  geben  von  sich  aus 
noch  Zulagen  zu  den  Staatapensionen;  so  erhöhte  Winterthur  in  den 
letzten  Jahren  solche  bis  anf  Frk.  2200  und  2500,  Je  nach  den  Ver- 
mOgensrerhältnissen  der  Pensionirten. 

X. 

Die  Frage  der  Einführung  von  Schulsparcassen,  die  auch  im 
Kanton  Zürich  vielÜEich  yentilirt  worden,  ist  durch  einen  Vorgang  in 
der  Stadt  Zftrlch  wol  für  immer  und  zwar  in  ablehnendem  Sinne 
«riedigt.  Der  Bechenschaftsbericht  über  die  Ghemeindeyerwaltung  die- 
ser Stadt  pro  1880  theQt  mit:  „Anlässlich  seines  70.  Geburtstages  im 
Jahre  1878  steQte  Herr  Professor  Bluntschli  in  Heid^berg  dem  Stadt- 
rathe  600  Frk.  zur  Verfügung,  um  damit  Schulkindern  ans  der  Arbeiter- 
bevölkerung Sparbücher  auzuschaifen,  damit  dieselben  lernen,  sich  sel- 
ber durch  regelmässiges  Einlegen  kleiner  Ersparnisse  allmählich  ein 
<'apitälchen  anzusammeln.  Er  wollte  hiermit  anregen,  dass  die  in  Gent 
und  andern  belgischen  Städten  bewährte  Einrichtung  auch  bei  uns 
nachgebildet  werde." 

„Die  Sparbücher  sollten  anf  den  Namen  der  Kinder  lauten  und 
diese  monatlich  wenigstens  20  Rpn.  einlegen;  jedoch  sollten  über 
Bücher  und  Einlagen  weder  Kinder  noch  Eltern  verfügen  können  bis 
zur  Volljährigkeit  der  erstem.  Doch  sollten  sie  alljährlich  vom  Gassen- 
bestand  zur  Aufmunterung  Kenntnis  erhalten.  Stürben  die  Kinder  vor 
der  Vomährigkeit»  so  erhalten  deren  Erben  ihre  Ersparnisse.** 

81* 


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—   472  — 


„Die  Durchführung  des  Werkes  ist  jedoch  nur  möglich,  wenn 
gemeinnützige  und  gescliäftskundige  Persönlichkeiten,  vor  allem  die 
Lehrei-,  sich  der  Sache  annehmen.  Eine  Prüfung  der  anderwärts  über 
die  Schulsparcassen  gemacliten  Erfahningen  ergab  nun,  dass  die  Frage 
an  sidi  eine  sehr  bestrittene  und  noch  keineswegs  abgekläi*te  ist  und 
dass  das  Institut  eifrige  Gönner  und  Freunde,  wie  principielle  und 
consequente  Gegner  hat.  Während  die  Einführung  desselben  beispiels- 
weise in  Wien  und  Berlin  und  in  der  Schweiz  in  Genf  und  in  Thür» 
gan  abgelehnt  wnrde,  feuid  es  vor  allem  und  zumeist  in  BelgieD,  dami 
in  Frankreich  und  in  einzelnen  deutschen  Städten,  so  in  Earlsmha 
mid  Ludwigsbnrg,  gfinstige  Aufiialime  und  gedeihliche  Entwickelnng» 
Es  schien  also  nicht  nnzeitgemäss,  auch  in  Zfltich  einen  Yersnch  zu 
machen.  Hiezn  war  vor  allem  die  Hitwirkong  der  SchnlbehCrden  und 
Lehrer  erforderlich.  Gestutzt  auf  das  einmfithige  Gutachten  des  ge> 
sammten  Lehrerconvents ,  dahin  lantend:  „dass  die  Grflbidang  Ton 
Scliulsparcassen  für  die  Stadt  ZtHch  weder  ein  Bedürfnis,  noch  im 
Interesse  der  durch  dieselbe  zu  erzielenden  Tugend  der  Sparsamkeit 
liege",  erklärte  die  Stadtschulpflege  in  einlässlicher  Moti\Trung,  sie 
könne  sicli  aus  praktischen  und  princii)iellen  Bedenken  zu  einer  Ver- 
wendung des  Geschenkes  im  angedeuteten  Sinne  nicht  verstehen,  son- 
dern müsse  dem  StadtraUie  anheimstelleu,  welcher  Weg  hiefüi*  ein- 
zuschlagen sei/* 

nBei  dieser  entschiedenen  Ablehnung  seitens  der  Schule,  die  doch 
zunächst  und  hauptsächlichst  zur  Mitwirkung  in  der  fraglichen  An- 
gelegenheit bemfen  ist,  erschien  die  Ausflihmng  unthunlich." 

,,In  der  Antwort  auf  die  bezügliche  Mittheilung  des  Stadt ratlies 
spracli  Herr  Bluntschli  sein  Bedauern  aus,  dass  seine  Anregung  zur 
Einführung  von  Schulsparcassen,  die  gleiclizeitig  in  Heidelberg  freu- 
digen Anklang  gefiinden  habe,  in  seiner  Vaterstadt,  welche  nach  sei- 
nem Wunsche  den  andern  Schweizerstädten  mit  ihrem  Beispiel  hätte 
vorangehen  sollen,  erfolglos  geblieben  sei  Im  Sinne  sdner  Bestün- 
mung  wurde  dann  sdn  Geschenk  zu  Spareinlagen  für  134  Bealsehfllier 
und  76  Ergänznngsschttler  verwendet" 

„Wenn  übrigens  die  Kintührung  von  Schulsparcassen  in  unseren 
Schulen  an  besonderen  praktisclien  Schwierigkeiten  gescheitert  ist. 
so  wird  hinwieder  mit  Reclit  daran  erinnert,  dass  für  die  Ein- 
lage von  Spargeldern  in  allen,  auch  ganz  kleinen  Beträgen,  Itei 
uns  vielleicht  reichlicher  als  an  anderen  Orten  Gelegenheit  ge- 
boten ist" 


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—  473  — 


XI. 

In  der  Volksschule  des  Kantons  Ziiricli  sind  nachfolgende  all- 
gemeine Lehrmittel  und  Apparate  obligatorisch;  sie  müssen  also  in 
jeder  Schule,  sei  sie  klein  oder  gross,  vorhaudeu  sein: 

In  der  Alltagsschnle:  7.  bis  12.  Altersjahr. 

J.  H.  Ziegler,  Karte  des  Kantons  ZOrich,  in  1 : 50  000. 
J.  IL  Ziegler,  Wandkarte  der  Schweiz,  in  1:250000. 
Wonter,  Bandegger  &  Co.,  Karte  dar  Sehweis  ftr  Brglnsiings-  nnd  Seeandar- 

admlen.  Massstab  1:760000.  Winterthur,  1870. 
Keller,  Wandkarte  der  östlichen  und  westlichen  Halbkugel. 

Ausserdem  sind  obligatorisch  eine  Wandkarte  von  Europa:  für  den  Zeich- 
nungsunterricht: 25  Stück  Flachmodelle  in  präparirtem  Carton,  85  Wand- 
tabellen, 12  Blättermodelle  in  präparirtem  Gips. 

In  der  Ergftnzungsschnle:  13.  bis  15.  Altenjahr. 

Obligatorischer,  physikalisch-chemischer  Apparat  für  die 

Ergänzungsschule.  Derselbe  enthält  folgende  Stücke: 


1.  Hebelgestell. 

2.  Schalenwage  bis  auf  0,1  Gramm 
genan,  nebst  GrammgewichtaBats 
1000  bis  0,1  Gramm. 

3.  Gestell  mit  fester  und  beweglicher 
Rolle  und  mit  Seconden-  nnd  Halb- 
secundenpendel. 

4.  CJoramunicirende  Gefässe  von  Glas. 

5.  Apparat  zur  Demonstration  des 
ai'chimedischen  Princips. 

d.  AiSometer  Arleiehte  nndtdnrare 
Flfissigkeiten. 

7.  Eingetheiltes  Barometergestell 
sammt  Gefäss  und  ElUire. 

8.  Ebener  Spiegel  und  Hohlspiegel 

9.  Glasprisma. 

10.  Zwei  Sammellinsen  mit  Fassong. 

11.  Eine  Zerstreuungslinse. 

12.  Thermometer,  die  Scala  in  Glas 
eingeschloesen. 

13.  Apparat  für  den  F^pin^sehenVerw 
such. 

14.  Hufeisenmagnet. 

15.  Magnetnadel,  auch  als  Galvano- 
meter dienlich,  mit  Drahtbügel 
und  Klemmschrauben  auf  einem 
wegnehmbaren  Klötzchen. 

16.  Eleteoskop. 


17.  Elektrophor,  bestehend  aus  einer 
Ebonitplatte  nnd  einem  Deckel 
ans  Zinkblech. 

18.  Leidnerflasche. 

10.  Auslader. 

20.  Zwei  Zinkkohlenelemente  in  Ge- 
stell. 

21.  Dünner  Platindraht  zu  GlUhver- 

suchen. 

22.  Elektromagnet,derAnker  an  einem 
eisernen  Hebel,  aneh  als  Hoden  des 
Telegraphen  branebbar. 

23.  Knpferdraht 

24.  LitergefÄSB  von  Weissblech. 

25.  Stehglas   von    100  Kubikeenti- 
metern  mit  eingeätzter Eintheilung. 

26.  Meterstab. 

27.  Gestell  mit  13  Probirgläschen. 

28.  BShren  von  Glas,  '/^  Kilogramm. 

29.  B5hre  vonKantsehnk,  1  Met  lang. 

30.  Weingeistlampe  von  Glas. 

31.  Betortenhalter. 

32.  Gasentbindungsflasehe  mit  Trich- 
tereingussrohr. 

33.  20  Korkstöpsel. 

34.  Runde  Korkfeile. 

35.  Dreikantige  Feile. 

36.  Vier  EochflSsehcfaen. 


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—   474  — 


1 


37.  Dreifass  mit  Dralituetz.  39.  Gläserner  Trichter. 

38.  Retorte.  40.  Drei  Flaschen  mit  (ilasstöpseLo 

41.  Lackmnspapier. 

Diese  Apparate  werden  von  folgenden  Fabrikanten  verfertigt: 
Nr.  2,  5,  15,  16,  22  von  Mechaniker  Fr.  Meyer  in  Zürich;  Nr.  3,  10, 
11,  17,  18,  lü,  20  von  Mechaniker  Zuberbühler  in  Zürich;  2sr.  4,  6, 
7,  8,  9,  12,  13,  25—41  von  Glaskünstler  Kramer  in  Zürich. 

Obligatorisch  für  die  Ergänznngsschule  sind  ausserdem  ein 
Globus,  eine  Wandkarte  von  Europa,  die  Planigloben,  das  natnrkond- 
Mche  Wandtabellenwerk  der  Secondarschnle. 

In  der  Secundarschule:  13.  bis  1.5.  Altersjahr. 

Wettstein,  Wandtafeln  für  den  Unterricht  in  der  Naturkunde. 
104  Tafeln  (von  60  cm  Breite  und  85  cm  Hühei  in  H  Tlieilen:  Bota- 
nik, Zoologie,  Physik.   Zihich,  Verlag  der  Erziehuugsdiiection. 


Botanische  Sammlung, 
a.  NnUhOker. 


Kirschbanra. 

Esche. 

Buchsbauui. 

Birnbaum. 

Eiche. 

Wei88tanne. 

Apleibaum. 

Rothbuche. 

Rothtanne. 

Bergahorn. 

Weissbache. 

Kiefer. 

Linde. 

WalnuBsbaonu 

Leiche. 

Habagoniebaam* 

Sobwarserle. 

Eibe. 

Ebenhola. 

Pappel. 

b.  Samen  und  andere  Pflansenprodncte. 

Gartenbohnen. 

Maadeln. 

Kwt-'Wfhflk» 

Erbsen. 

Samen  von  Eeniobet. 

Zimml 

AckeibolmaL 

Gewürznelicen. 

Kampfer. 

Linse. 

Flach«;saTiien. 

Opinm. 

Kleesamt'ii. 

Ahorn  iVüclite. 

Mnskatnnss. 

Esparbt'tle.samen. 

Rosskastanien. 

Rübensamen. 

Lozeruesameu. 

Lindenblüten. 

Kümmelsamen. 

Kakaolxdinen. 

BanatwdlkDkapseln. 

Aaiaaamea. 

GhinesiMher  Tiiee. 

EamUlenbUlteii. 

Weinbeeren. 

Kflibidronie. 

SminettbtaBieanmeD. 

Beainen. 

I,o\vatsam«IL 

Früchte  der  Stiddehe. 

Gnttaperdia. 

Koptltohlsamen. 

GaUäpfel 

Oliven. 

Senfsamen. 

Kork. 

EschenfrUchte. 

Mohnkapseln. 

Früchte  der  Rothbnche. 

Krapp. 

SUssholz. 

Früchte  der  Weissbuche, 

Tfirkischroth  gefdrbL 

Indigo. 

Haselnüsse. 

Zeug. 

SennesUfttter. 

Walnilne. 

Kaflbebobnen. 

Femambnkbolz. 

TTmI-jmiIaii, 

Fiebeninde. 

Blaoholz. 

ErtoDsapfdieD. 

Fr&chte  der  Heibet- 

Samen  von  Steinobst 

Feigen. 

seiüoie. 

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476  — 


Weizen. 

Dinkel. 

Roggen. 

Gerste. 

Hafer. 

Mais. 

Reis. 

Hirse. 

Ruchgras. 

Englisches  Raygras, 
Französisches  Ha^gras. 
Bisptugras. 


Zittergras. 

Weisstanne. 

Hanfsamen. 

Hanffasem  auf  verscb. 

Stufen  der  Bearb. 
Hopfen. 
Buchweizen. 
Brnikftlmwmen. 
Schwarzer  Pfeffer. 
Weisser  Pfeffer. 
DatteLn, 
Sago. 


Seegras. 
Rothtanne. 

Lerche. 
Kiefer. 

Arve  (Zirbelnllne). 
Wachholderbeeren. 
Terpentin. 

Barlappmehl. 
Isländische  Flechte. 
Rennthierflechte. 
Brandige  AUien. 
Hefe. 


Schädel  der  Hauskatze. 
Schädel  des  Haushuhus. 
Skelet  des  FmehM. 
Sketotstfleke  eines  Fisches. 
Bienenwabe. 
Flosskrebs. 
Weinbergschnecke. 
Schädel  einer  Fledermaus. 
Schädel  des  Maulwurfs. 
Schädel  eines  Nagers. 
Schädel  eines  Wieder- 
kauen. 
Geweih  des  Behs. 
Horn  der  Enh. 
Moschus. 
Elfenbein. 
Fischbein. 


Zoologische  Sammlung. 

Walrath. 

Karton  mit  9  Pelzmuiätei-n 
von  abnehmendor  Fein- 
heit: Zobel,  Chinchilla, 
Petitgris,  Bisamratte, 

Kaninchen,  Hase,Hvnd, 

Schwein,  Igel. 
Karton  mit  Vogelfüssen; 
Sitzfuss,  Gangfuss, 
Schreitfuss,  Kletterfuss, 
Klammerfoss,  Lappen- 
ftiss  und  Schwimmfliss. 
Karton  mit  einem  Vogel- 

flfigeL 
Bettfedem. 

Schildkrötenschale  und 
Schüdpat 


Haiflschhant. 
Sepiaknochen. 
Sepiafarbe. 
HalermnscheL 
Korallenstock. 
W^isch  schwamm. 
Schafwolle  in  verschiede- 
nen Zuständen  der  Be- 
arbeitung. » 
Austern  schalen. 
Perlmutter. 
Seestem  oder  Seeigel. 
Cooons  des  Seidenspinners 
und  Seide  in  verschie- 
denen ZustSnd«n  der 
Bearbeitung. 


Mineralogische  Sammlung. 


Graphit. 

Meerscliaom. 

Kieselzink. 

Schwefel. 

Serpentin. 

Zinnstein. 

BergkrystalL 

Glimmer. 

Bleiglanz. 

Gemeiner  Quarz. 

Hornblende. 

Kupferkies. 

Asbest 

Steinkohle. 

FsQfliiteln. 

Feldspath. 

SehieüBikohle. 

Stemsalz. 

Bimstein. 

Asphalt 

Ealkspath. 

Granat 

Benist  ein. 

Gypsspath. 

Eisenglanz. 

Granit. 

Alabaster. 

Rothe  isenstein. 

Gneis. 

Gemeiner  Gyps. 

Spateisenstein. 

Glimmerschiefer. 

FlQMspath. 

Bohnerz. 

Porphyr. 

Sduniigel. 

Hagneteisenstein. 

GrOnstein. 

m 

Eisenkies. 

Lava. 

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—  476  — 


Basalt. 
Thonschiefer. 
Mergel 
Kreide. 

AlpeakaUnteiD. 

Jurakalksteia. 
Tn&teiii. 


Tropfstein. 
Weisser  Marmor, 
lithograpblesteiii. 

Nagdflnh. 

Eine  Sammlnng  von  Ci. 
35  Verateinerangen 


als  Repräsentanten 
der  wichtigsten  geo> 
logischen  Sdrichten, 
▼on  der  aUiriMlie& 
bis  rar  gUcialenFor- 
m&tion. 


Sammlniig  mikroskopischer  Präparate, 
a.  Bot 


HokseUen. 
Hanfbaer* 
Bamnwoille.!. 

Sternförmiges  Zellgewebe. 

Poröse  Zellen. 

Netzfaserzellen. 

Spiralfaserzellen. 

Stärkemehl  des  Weizens. 

Stärkemehl  des  Hafers. 

Starkemehl  der  Bohne. 

Hob  der  Stieleiche,  Qner- 
schnitt. 

Holz  der  Stieleiche,  radi- 
caler  Lüng-sschnitt. 

Holz  der  Stielfirlic  tan- 
gentialer Längsschnitt. 

Krautstengel. 


Knochen,  QoerBchnitt. 
Knochen,  Lingsachnitt 

Muskel. 

Gehirn. 
Damizütte. 

Blutkörperchen  v.  Mensch 

und  Frosch. 
Lungengewehe. 
Ihaectenaige. 
Tracheen  eines  Insects. 


Eii\|lhriger  Eichenzweig, 
Qnerscbnitt 

Kaisstengel,  Querschnitt. 
Stärkemehl  der  Kartoffel, 
ölhaltige  Zellen. 

Trepp  engefässe. 
Ricinnsstengel  im  Quer- 
schnitt. 

Ricinnsstengel  im  Längs- 
schnitt. 

Holz  der  Kiefer,  Qaer- 

srhnitt. 

Holz  der  Kiefer,  radicaier 
Längsschnitt. 

Holz  der  Kiefer,  tangen- 
tialer Schnitt. 

b.  Zoolggisehe. 
Fliegenflias. 

Schmetteriingssohnppen. 

Floh. 

Fliegenflüßfel. 
Hinterbein  der  Biene. 
Ameisenlöwe  oder  Bücher- 

scorpion. 
ttObe. 
Spinnenftiss. 
TUchine. 


SpaltOfltanngen,  Oberiumt 

einer  TJHa^MMi^ 
Blatt  im  Qnerschnitt 
Brennhaare  der  NesseL 

Blnmenstanb. 

Sporang-ium  des  Adlerfarn. 
Aitdthecinni    der  Wand- 

sehildflechte. 
Stengel  von  Eqnisetniiu 
Maisstengel,  Längsschnitt. 
SpaltSflhnngen,  Oberhaut 

des  Holondsr. 
Algenfaden. 
Lebende  Diatamaoeoi. 
Polirschiefer. 
Schimmelpilz. 


BaadwnrragUed. 

Schneckenzange. 

Kalkkörper  von  Symapta. 

Lebende  Foraininiferen. 

Fossile  Foraminiferen. 

Tertiäre  Erde. 

Polycystinen, 

Nunmnlit 

WoUe. 

Seide. 


Physikalisehe  Apparate. 


1.  HebelgesteU. 

2.  Wage  mit  Amtimng. 

3.  Gewichtssatz  von  1000—0,01  g. 

4.  Feste  nnd  bewegliche  Bolle. 

5.  Flaschenziig  mit  Tier  Bollen. 


6.  Schraube,  Entstehung  derselben, 
von  Holz  nnd  von  KairtsshBk. 

7.  SchaiiSsingige  Schranke  m  Hols 
mit  zerlegbarer  Matter. 

8.  Gestell  mit  vier  Fendetai. 


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—  477  — 


9l  SebwnngrmaschiBe. 

Dazn  gehören: 
Ab|)lattung8modell. 
Gefilss  für  Fliissißrkeiten. 
Reibangsapparat  uach  Tyndall, 

am  dnrdi  mechaniseh«  Arbeit 

Wasser  znm  Sieden  zaerfaitseiL 
Halter  IBr  Siiene  und  Failieii- 

scheiben. 

10.  Zurnckwerfang:8apparat. 

11.  Modell  der  hydraulischen  Presse 
mit  Anfzügen.  zur  Domonstration 
des  hydrostatischen  Paradoxons. 

12.  Communicirende  Röhren. 

13.  Apparat  zur  Demonstratioii  dea 
uchimediflclien  Principe. 

Ii.  Aiiometer  Ar  leichte  und  acUwere 
Flüssigkeiten. 

15.  Pneumatisches  Feuerzeug. 

16.  Gestell  mit  Barometer  u.  Mariotto'- 
scher  Röhre  nebst  dem  nöthigen 
Quecksilber. 

17.  Loftpompe  mit  comschen  Ventilen 
uid  B.MOtvmgüBg  nebit  Bed- 
pient  und  Bammeterprobe. 

18.  Fallröhre  zun  Anftchraiilien. 

19.  Magdebmger  HalUnigeb. 

20.  Ring  zum  BlasensprengeiL 

21.  Einfaches  Läutwerk. 

22.  Luttballon  von  Collodium. 

23.  Sirene. 

ChemiiGlie 

Wdngeistlampe  von  Glas. 
Betortenbalter. 

G«steU  mit  13  Probirglftschen. 
GasentUndiuigaflaaehe. 

20  KorkstSpsel. 

Hunde  Korkfeile  and  dreikantige  Feile. 
Bohren  von  Glas.  '/^  Kilogramm. 
R<)hre  von  Kautschuk,  1  Meter  lang. 
Vinr  Kochfläschehen. 
Dreifoss  mit  Drahtnetz, 
fietorte. 


24. 
25. 
26. 
27. 
28. 
29. 
30. 

31. 
32. 
33. 


34. 
35. 

36. 

37. 
38. 
39. 

40. 
41. 


42. 
43. 
44. 
45. 


Ebener  Spiegel  und  Hohlspiegel. 
Prisma  von  Flints:las  auf  Stativ. 
Zwei  Samniellinson  mit  Fassong. 
Eine  Zerstreuungslinse. 
Achromatisches  Mikroskop. 
LoigiuMiatereoikop. 
Thermometer,  die  Scala  auf  die 
Röhre  eingeitrt. 
Wasserhammer. 
Hufeisenmagnet. 

Magnetnadel,  auch  als  Galvano- 
meter dienlich,  mit  Drahtbügel  u. 
Klemmschrauben  auf  einem  weg- 
nebmbaren  Klötzchen. 
Elektroskop. 
Elektrieche  Pistole. 
Elektrophor.  Ebonitplatte  mit 
Deckel  ans  Zinkblech. 
Leidnerflaache. 
Ausladcr. 

Vier  Ziuk-Kohienelemeute  in  Ge- 
stell. 

Wasserzersetzungsapparat. 
Elektromagnet)  der  Anker  an  einem 
eisernem  Hebel,  ancfa  als  Modell  des 

Telegraphen  brauchbar. 
Elektrischer  Motor. 

Inductionsapparat . 
Themioelektrisrlies  Element. 
Klemnisnluuubin,  Draht  proben, 
galvanoplastisches  Glicht. 


Apparate. 

Keibschale  von  Porzellan. 
Abdampfechale  von  Porzellan. 
Zwei  Glaitrichter. 

GradnirterGlascylinderTon  500 Kubik- 
meter. 
LitergefUss. 

Meterstah. 

Sech.s  Flaschen  mit  Glasstöpseln. 

Lackmuspapier. 

Löthrohr. 

Platindraht. 


Ausser  diesen  obligatorischen  Veranschaulichungsmitteln  sind  von  der 
Eniehungädirection  noch  folgende  zur  allmählichen  Einführung  in  die  Secundar- 
sdnlen  en^fohlen: 


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—  478  - 


Physikalische  Apparate. 


MasBstab  mit  Nonius. 
Modell  der  Decimalwage. 
Zeigerwage. 
Bad  an  der  Welle. 
Zwei  koidsehe  Bider. 
Schiefe  Ebene. 
Schraube  ohne  Ende. 
Modell  der  Schiffsschraube. 
Gyroskop  mit  Gefi^enfj-ewiflit. 
Parallelogramm  der  Krätte. 
Stossapparat. 
BöhrenlibeUe. 


Interferenzapparat  nach  Quinke. 
Optische  Bank  mit  Linsen. 
Dunkle  Kammer. 
TenrestriBdiei  Fernrohr. 
Änsdehniuigtappamt 
Haaihygrometer. 
Dnrchschnittemodell  der  Dampf- 


maschine, nach  Frick. 

Corapass. 

Elektrisirmaschine. 
Vertheilungsapparat. 
Goldblattelektroskop  mit  Gondensatnr. 


Kartesfaniseher  Taucher  mit  C^inder.    Eine  zweite  Lddnerflasohe. 


Monochord. 

Die  Einführung  der  Sammlungen  und  Apparate  in  die  Schnkn  wurde  seit 
1870  in  folgender  Art  dnrchgefOhrt:  Dieselboi  worden  auf  Grundlage  d« 
obligatorisch  individaellen  Lehrmittels  ansgewfihlt  nnd  vom  Erdehnngsrath  Ar 
obligatorisch  erklärt  Die  Schnlpflegen  hatten  sodann  innerhalb  einer  festgesetzten 
Frist  ihre  Bestellungen  bei  der  Erziehungsdirection  einzureichen,  und  darauf 
wurden  von  dieser  den  T.ieferanten  bindende  Aufträge  jresreben.  Die  Arbeiten 
mussten  nach  einer  Mustersammlung  ansge^hrt  werden,  die  allen  bei  der  Sache 
Betheilifften  zugänglich  war. 

Um  den  richtigen  Gebrauch  der  Lehrmittel  zu  sichern,  wurde  ein  Instmc- 
tionscors  mit  Abgeordneten  ans  allen  Schnlcaplteln  in  Zürich  abgebalten  and 
ibiden  fbrtwBhrend  in  Capitehi  und  Gapitelssectionen  Besprechnngen  md  Vo^ 
trilge  statt» 


Karte  des  Kantons  Zürich  in  32  Blättern,  im  Massstab  1 : 25 000.  Nach 
den  184B — 51  ^r^niachten  Aufnahmen  von  1862 — 65  auf  Stein  grairirt  im 

topograp bischen  Ii  u  r e  a  u . 

(Wird  den  Secundarschulen  in  einzelueu  Blüttern  zu  ermässigtem  Preis 
abgegeben.) 

Femer  wird  empfohlen  die  Anschaffung'^  eines  Reliets  des  Wohnortes,  alle 
Dimensionen  im  gleichen  Massstab,  nebst  den  nüthigen  Karten  zur  Demoustra- 
tion  der  Heimalshimde  nnd  zur  EänfBlmmg  In  das  Verstftndnis  der  KaiteiL 

Als  Muster  mOgen  dienen: 
WM,  ÜBgenienr,  Belief  von  Zürich  vnd  ümgebnng,  in  1:25000,  Hmun- 

sehichten  nicht  «nsgegUehen. 


Nicholson'sche  Senkwage. 
Oohsli'sche  Mostprobe  von  Silber. 

Sep^ner'sches  Wasserrad. 
Getiissbaronicter. 
Sangpumpe  von  Glas. 
Inhalationsapparat. 
Apparat  für  Klangfiguren. 


Ein  Daniell'scfaes  Element 

Ein  Bunsen'sches  Element 
Ein  Grove'sches  Element 
Galvanoplastischer  Apparat 
Ürsted'scher  Apparat, 
Elektrischer  Telegraph. 
Magnetelektrisirmaschine. 


Empfohlen: 


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—  479  — 


Das  nämliche,  die  Höhenschichten  aaBgegUchen,  ohne  Colorit,  von  Geoplasti- 

ker  Schöll  in  St.  Gallen. 
Das  nämliche  mit  Colorit  und  Zeichnung. 

Der  entsprechende  Ausschnitt  aus  der  topographischen  Karte  des  Kaiitous 
Zarich. 

Baodegfer,  da«  nftmUche,  unter  Annahme  BehieÜBr  Bdenchtong. 
TenvriiUB  von  Hecha&iker  ZnberblUiler  in  Zilrieh. 

Ferner  sind  zur  Antdiaffiiing  empfohlen  von  den  Modellen  zur  mensch- 
liehen  Anatomie  von  ZeQler  in  Hiindien:  Oehlni,  Otur,  Ange,  Eehlkopfi  Herz. 

Als  aUgemeioe  obUgatorische  Ldmaittel  afaid  ferner  in  Annicht  genom- 
men und  in  Vorbereitung:  ein  Schulglobu8  und  ein  geographiBchesWandtabellen- 
irerk,  das  sich  zum  Schulatlas  verhält  wie  das  naturkundliche  WandtabeUen- 
werk  zu  den  f  ignren  des  individuellen  obligatorischen  Lehrmittels. 

xn. 

Der  ziirciierischen  Volksschule  klebt  noch  ein  wesentlicher 
Mangel  an:  Die  Kürze  der  obligatorischen  AUtagsschule. 
Wenn  diese  um  ein  7.  und  8.  Jahr  erweitert  sein  wird  —  was  kaum 
mehr  lange  auf  sich  warten  lässt,  da  der  Anstoss  dazu  nun  auch  von 
UDten  kommt  — ,  dann  darf  sie  sich  sehen  lassen.  Aber  auch  so 
schon,  wie  sie  ist  —  und  ihre  ordentlichen  Anfilnge  liegen  kaum  mn 
fünf  Decennien  zurück  — ,  bat  sie  wahrhaft  Grosses  gewirkt.  Wenn 
sie  100  Jahre  und  mehr  in  ausgebauter  Organisation  ihre  Arbeit  ge- 
tium,  wird  manches  Übel,  das  unsere  Gesellschaft  noch  drttckt,  ver- 
sdiwinden.  „Es  ist  noch  nicht  erschienen,  was  wir  sehn  werden." 
Aber  «ndi  heute  schon  erfreuen  wir  uns  solcher  Zustünde,  die  man 
Mk  vor  40  bis  50  Jahren  nicht  hätte  träumen  lassen.  In  jedem 
Dorfe  findet  man  IDbmer  soviel  man  will,  Sehfiler  der  neuen  Schule, 
welche  die  Sprache  in  Rede  und  Schrift  gewandt  handhaben,  im 
Rechnungswesen  von  Gemeinde  und  Staat  vollständig  daheim  sind, 
Protocolle,  Bericlite,  Gutachten  untadelhaft  abfassen.  In  den  zahl- 
reichen Vereinen  sehen  wir  sie  mit  Gewandtheit  sich  bewegen,  sie 
ordnen  landwirtschaftliche  und  andere  Ausstellungen  mit  Geschick  und 
Geschmack  an,  sie  bekleiden  Ämter  in  Gemeinde-,  Bezirks-  und  Kan- 
tonsbehörden mit  Einsicht,  Kenntnis  und  Hingebung.  W^er  mit  Land- 
gemeinden schriftlich  zu  verkehren  hat,  kann  täglich  der  Früchte 
unserer  Schulbildung  sich  erfreuen.  Ein  reiches  Gesangesleben  pulsirt 
im  ganzen  Lande,  zeitigt  schöne  Früchte.  Selbst  in  den  abgelegen- 
BteR  CFegenden  finden  sich  Gesangvereine,  die  den  Sinn  fhr  Schönes 
und  Edles  nähren  und  pflegen.  In  DoifUrchen  werden  von  den  Ge- 
meindeangehörigen Concerte  veranstaltet,  die  sich  auch  für  ein  ge- 
ftbteres  Ohr  hören  hissen.  Die  Pflege  des  Formsdiönen  bleibt  nicht 


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—  480  — 


zurück.  ^Der  Zeichnungsuiiterricht  hat  schöne  Erfolge  aufzuweisen 
und  liaben  die  Schulpnifungen  dieses  Frülijahr  den  Beweis  geleistet, 
dass  der  rationelle  Unterricht  in  diesem  Fache,  wie  er  durch  die  all- 
gpemein  pädagogischeu  Ziele  der  Volksschule  und  darch  die  Anforde- 
nmg  der  Gewerbe  vorgezeichnet  wird,  an  den  meisten  Primär-  und 
Secnndarschalen  zum  Durchbrach  gekommen  ist*'  („Bund"  pro  1880.) 

Dass  die  fortschreitende  Volksbildiing  nidit  nur  geistige,  sonden 
auch  ökonomische  Hebung  bedeutet,  beweisen  folgende  Thatsachen: 
Vor  60  Jahren  betrog  das  steuerbare  PrivatrermOgiai  auf  der  Land- 
schaft (ohne  die  Stftdte)  kaum  100  Millionen  Franken,  1872  schon 
400  Millionen,  1880  —  immer  ohne  ZMdi  und  Winterthur  —  519 
Millionen,  also  stetige  Zunahme,  trotz  den  Krisen  der  letzten  Jahre-, 
dabei  ist  nicht  zu  übersehen,  dass  diese  Ziffeni  auf  der  Selbsttaxa- 
tion der  Bürger  beruhen.  Das  Einkommen  aus  Handel,  Gewerbe  etc., 
auf  dieselbe  Weise  eruirt,  ergab  für  die  Landschaft  im  Jahre  1880 
56  Millionen  Franken.  Nimmt  man  die  Städte  Zürich  und  Winterthur 
hinzu,  so  zählt  das  Vemiögen  815  Millionen  und  das  Einkommen 
77  Millionen.  Dass  die  Selbst t.ixation  hinter  dem  wirklichen  Be- 
stand namhaft  zurückbleibt,  ist  wol  nicht  zu  bezweifeln.  Pestalozzi 
hat  solche  Hebung  des  Wolsitandes  als  Folge  durchgreifen- 
der Volksbildung  vorausgesagt.  Freilich  erlebte  er  die  Früchte 
seiner  Bestrebungen  nicht  mehr  in  diesem  Umfange.  Als  SOjäliriger 
Greis  Uagt  er:  „Meine  Ansichten  und  Grundsätze  sind  die  eimdgs 
Frucht  meiner  Lebensbestrebungen,  sie  sind  der  einzige  Trost  und  die 
einzige  Freude  meines  dahinschwindenden  Erdenlebens,  sie  sind  das 
Euizige,  was  meine  ermattete  Thatkraft  auf  Erden  noch  wie  in  md* 
nem  Jünglingsalter  mit  Feuer  und  Flamme  ergreift,  wenn  und  wo  ich 
die  Möglichkeit,  darin  einen  Schritt  weiter  zu  kommen,  vor  Augen 
sehe.  Dieses  Feuer,  diese  Flamme  wird  auch  nicht  in  mir  erlöschen, 
bis  ich  meine  Augen  schliesse  "  —  „^fnine  Hoifhnngen  sind  ge- 
wiss nicht  in  dem  Grade  aus  der  Luft  gegriöen,  als  man  es  allgemein 
wähnte  und  allgemein  wähnen  mu.ss,  so  lange  man  nicht  dahin  kommt, 
einzusehen,  dass  die  Veredlung  der  sittlichen  und  intellectuellen 
Kuiistkräfte  unserer  Natur  unser  Geschlecht  in  wirtschaftlicher, 
und  dadurch  in  häusliclier  und  bürgerlicher,  folglich  auch  in 
fitaatswirtschaftlicher  Hinsicht  unendlieh  weiter  führen  würde 
und  fähren  müsste,  als  auch  die  grösstmöglich  dankbaren  Resultate 
der  vercd,elten  Schafzucht  oder  irgend  eines  anderen  Geschöpfes 
der  Erde,  das  nicht  Mensch  ist,  je  führen  können  und  führen  werden." 

Zu  dem  schönen  Besultat  hat  allerdings  auch  der  Umstand  ganz 


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—  481  — 

wesentlich  mitgewirkt,  dass  das  Volk  von  allem  Druck,  aller 
Bevormandung  von  oben  vollständig  frei  gemacht  nnd  die 
Ordnung  aller  seiner  Angelegenheiten  in  die  eigene  Hand 
genommen  hat  „Freiheit  vervollkommnet  alles'',  sagt  der  Geeehichts- 
schrdber  Johannes  Müller.  Das  stimmt  freilich  nidit  zu  Schiller's 
Aussprach: 

„Wo  sich  die  Völker  selbst  befreien, 
Da  kann  die  WolfeOirt  nicht  gedeihU** 

Aach  Pestalozzi  theQt  nicht  die  Ansicht  Schillers. 

„DieTtSker,**  sagt  er,  „die  das  Joch  ihrer  Tyrannei  abgeworfen, 
haben  sich  allgemein,  sobald  ihre  Unabhängigkeit  anerkannt  worden, 

gar  nicht  als  die  gesetzlosen  räuberischen  und  miithwillii^en 
Bösewichter  gezeigt,  für  welche  sie  Avähreiid  ihrer  Freiheitsfehde 
erklärt  worden,  sondeni  vielmehr  als  Menschen,  die  ihr  Glück  mit  vie- 
ler Mässio-uniGr  brauchten  und  sich  mit  aller  Gutmüthigkeit  selber 
wieder  Obrij^keiteii  und  Reß:ierungeu  wählten  .  .  .  .;  sie  haben  ihren 
neuen,  sichern,  ehrenhaftem,  bürgerlichen  Stand  vorzüglich 
zur  Verbesserung  ihres  häuslichen  Wolstandes  und  ihres 
Familien  gl  ücks,  zu  vielseitiger  Vervollständigung  ihrer  Gewerbsam- 
keit  gebraucht  und  dadurch  dieselbe  zu  einer  beneidenswürdigen 
Höhe  gebracht  Die  Geschichte  sagt  laut:  Die  Freiheit  und  die  Bil- 
dung hat  der  Menschheit  allenthalhen  Gutes  gethan." 

Bei  dieser  freien  Selbstbestimmung  des  Volkes  können  auch  jene 
Krankheiten  nicht  aufkommen,  deren  nothwendige  Symptome  der 
eigentliche  Socialismus  ist,  der  uns,  obgleich  dessen  Bekenner 
völlig  ungehemmte  Bewegung  haben,  in  keiner  Art  stört  Was  daran 
gesund  nnd  zeitgemSss  ist,  wird  vom  Volk  selber  successive  in  die 
öffentlichen  Institutionen  aufgenommen;  das  Übrige  bleibt  unbeachtet» 
Parteien  ^^abt's  freilich  auch  iiu  Kanton  Zürich.  Es  gibt  noch  viele, 
die  nach  den  Fleischtöpfen  Egyptens  sich  zurücksehnen,  welche  die 
Herrlichkeit  ihrer  früheren  Herrschaft  nicht  vergessen  können.  JSie 
machen  Front  gegen  die  Vertiefung  der  allgemeinen  Volksbildung,  wie 
gegen  die  Ausdehnung  der  Volksrechte.  Sie  prophezeihen  alle 
Jahre  einige  Male  eine  schreckliche  Zukunft.  Aber  die  Zahl 
ihrer  Gläubigen  wird  von  Jahr  zu  Jalir  geringer.  Sie  treiben's  frei- 
lich auch  darnach.  Es  fielen  z.  B.  die  eidgenössischen  Wahlen  Ende 
Octobtf  zu  Gunsten  des  Fortschrittes  und  der  entschiedenen  Demo- 
kratie aus,  da  stinmite  Pestalozzi,  Pfarrhelfer  am  Grossmünster  in 
Zikiich,  im  „Evangelischen  Wochenblatt"  folgendes  Klagelied  an:  „Die 
Fremide  einer  rückhaltlosen  Parteihenschaft,  die  Demagogen,  die 


Üiyitizcü  by  GoOglc 


t 

—   482  — 


1 


Culturkämpfer,  haben  wieder  eiumal  p:esiegt.   Weit  entfernt,  dass  vAr 
einen  Fortschritt  auf  dem  Wege  der  Mässigung,  der  freuiuleidgenössi- 
schen  Bruderliebe,  der  wirtschaftlichen  Solidität  und  der  christlichen 
Gesittung  zu  verzeiclmeu  hätten,  sind  die  Meister  geworden,  denen 
alle  unsere  sittlichen  und  rechtlichen  Ideale  zuwider  sind,  und  was 
wir  gut.  böse,  die  die  Finsternis  zum  Licht  und  Licht  zur  Finsteniis 
machen,  die  das  Bittere  süss  und  das  Süsse  bitter  nennen,  die  es 
Fortschritt  heissen,  wenn  wieder  einmal  ein  gesundes  Leben  erstirbf 
Ungefähr  dieselbe  Sprache  fUhrte  man  vor  70  Jahren  von  der 
nämlichen  Stadt  Zürich  aus  gegen  ihren  andern  Mitbfiiger,  gegen 
Heinrich  Pestalozzi.  Seine  Sache  lebt  doch,  je  länger,  je  frischer 
und  yoUkräftiger.  Und  anch  der  Geist  wird  forüeben,  befreien  nud 
beglücken,  den  Pfarrhelfer  Pestalozzi  seinen  Lesern  als  den  Geist 
der  Finsteniis  signalisirL  Die  Zeit  marschirt  nnerbittlieh  vorwärts» 
wenn  auch  zeitweise  Stillstand  oder  gar  Bflckgang  eintritt  Die  neuen 
Anläufe  fähren  weit  über  die  letzten  Etappen  hinaus.  Die  erste 
Grossmacht  der  Welt  ist  der  freie  Gedanke,  fttr  den  gibt  es 
keine  Zollschranken  und  keine  Polizeiverbote,  seine  Herrschaft 
dehnt  sich  von  Tag  zu  Tag  mehr  aus. 


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über  die  Blasirtheit 

Ton  Am  W,  Qrube~  Bregenz. 

Wir  haben  das  Wort  „blasirt''  ans  dem  FranzOsiscben  herüber» 
genommen.  Gerdeht  es  ans  sonst  nicht  gerade  zum  Böhme,  dass  wir 
imsere  so  reiche  nnd  bildungsfähige  Mattersprache  mit  so  viel  Fremd- 
wörtern beladen  haben,  so  möchte  man  sich  dennoch  freoen,  dass  die- 
selbe sich  spröde  erwies,  ein  Wort  för  das  zu  bieten,  was  wir  unter 
rblasirt"  vei;steheTi,  —  wie  uns  denn  auch  ein  völlig  entsprecliendes 
Wort  für  das  begrifflich  verwandte  ^frivol"  fehlt,  das  den  Sinn  von 
leer,  nichtig,  leichtfertig  und  sogar  schlüpfrig  zusammenfasst. 

Die  lateinische  Herkunft  des  Wortes  „frivol"  ist  bekannt  genug; 
frivolus  (vielleicht  vom  alten  frio,  ich  zerreibe)  nannten  die  Römer  das 
Unnütze,  Gehaltlose  (z.  B.  einer  Rede),  aber  auch  das  Unbeständige 
(z.  B.  die  Luftströmung).  Für  das  französische  Zeitwort  blaser,  Paiü- 
eip  blase,  finden  wir  aber  weder  im  Lateinischen  noch  Griecliischen 
das  Wurzel-  oder  Stammwort;  die  Etymologie  desselben  ist  in  Dunkel 
gehallt  Verwandt  scheint  mir,  obwol  der  Stammvocal  kein  a,  sondern 
ein  ae  (gr.  a»)  ist,  doch  das  lateinische  blaesus  (blteus)  zu  sein  — 
Imgua  blaesa,  ehie  stammefaide  (gelfihmte)  Zunge,  Tom  griechischen 
ßhMog,  gelfihmt  Ein  Nerv,  durch  ftbermkssigen  Beiz  gekitzelt,  oder 
auch  Torzeitig  und  zu  lange  in  Schwingung  versetzt,  wird  vor  der 
Zeit  abgestumpft,  gelfthmt,  der  Empfindungsstftrke  beraubt  Die  Ver- 
frflhung  und  Überfalle  von  Genüssen  wirkt  schwächend  auf  die  Em- 
pfindungsorgane der  Seele,  zerrüttet  dieselbe. 

Nehmen  wir  ein  französisches  Wörterbuch  zur  Hand,  so  finden 
wir  als  Grundbedeutung  von  Maser  angegeben:  „Verderben"  von 
blase,  ee  fParticip  und  Adjectiv)  ..verd()rV)pn''.  II  a  le  gout  blase  (er 
hat  keinen  ordentlichen  gesunden  (lescliniack  nit'liiM.  Uvan  de  vie  a 
bkse  ce  jeune  honinie  (der  Branntwein  liat  diesen  .Jüngling  zu  Gninde 
gerichtet,  d.  h.  eniptiudungsschwach  und  kraftlos  gemacht).  Hat  einer 
durch  allzu  reichen  Genuss  des  Vergnügens  sich  stumpf  dagegen  ge- 
macht, so  sagt  man:  U  s'est  blase  sur  les  plaisirs.  £r  ist  in  einen 
Zustand  der  Abspannung  und  Stumpfheit  gerathen,  in  welchem  ihn 


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...  1 

—   484  — 

das,  was  ihn  sonst  reizte,  zum  Genuss  erreg^te  und  mächtig  anzog-, 
völlig  gleichgültig  lässt,  ja  vielleicht  abstösst  und  anwidert,  da  er 
desselben  überdrüssig  geworden  ist. 

Wie  überhaupt  leibliche  und  seelische  Processe  zusammenwirkeD, 
sich  in  und  mit  einander  vollziehen,  so  ist  auch  die  Blasirtheit 
immer  zugleich  eine  sinnliche  und  geistige.  Denn  aucli  ftir  die 
Acte  unseres  Erkenntnis-  und  Willensvermögens  sind  die  Empfin- 
duDgs-  und  Bewegungsnerven  als  die  organischen  yermitüer  voihan- 
den,  die,  wenn  sie  lahm  geworden  sind,  auch  die  geistigen  Func- 
tionen Ifthmen  und  wenn  auch  nicht  aufheben,  doch  sie  vermindem, 
verstimmen,  yerwiiren.  Hat  sich  der  Ünmfissige  mit  Speise  und  Trank 
den  Hagen  überladen,  so  tritt  ein  GeAhl  des  Ekels  und  Brechreiaes 
ein,  auf  das  der  sonst  so  einladende  Bratengeruch'  oder  der  liebliche 
Duft  einer  Frucht  wie  ein  Brechpulver  wirkt.  Die  Anssenwelt  ver- 
liert ihren  Reiz,  ihren  Glaiiz  und  Duft;  dem  angeekelten  Subjecte 
wird  auch  das  sonst  zum  Genuss  reizende  Object  ekelhaft.  In  der 
Seekmnkheit ,  die  vom  Gehirn  auf  den  Magen  sich  wiift  und  den 
Nervencomplex  desselben  krankhaft  erregt,  wird  der  theilnahmsvoUste 
Mensch  zum  Kiroisten,  der  alle  Symi)athie  mit  den  Leiden  des  Näch- 
sten verliert,  den^auch  das  grossartigste  Naturschauspiel  nicht  zu  rei- 
zen und  zu  ertreuen  vermag.  Auf  ein  ruhiges  Anschauen  und  rich- 
tiges Denken,  auf  jene  Thätigkeit,  die  wir  die  geistige  nennen,  muss 
in  solchen  pathologischen  Zuständen  ganz  verzichtet  werden. 
f  Wir  nennen  aber  weder  den  Unmässigen,  der  sich  bei  einem 
Gastmahle  flbemommen  und  den  Magen  verdorben  hat,  so  dass  er  sich 
am  andern  Morgen  in  einer  sehr  „katzeojämmerlichen**  Stimmung  be- 
findet, einen  Blasirten;  —  noch  sprechen  wir  bei  ehiem  Seekranken 
yon  der  Blasirtheit  desselben,  weil  wir  es  da  mit  yorübergehenden 
Störungen  des  Empfindungslebens  zu  thun  haben,  die  bald  wieder  nor« 
malen  Zustanden  Baum  geben  oder  doch  geben  kennen.  Die  Bhisnrt- 
heit  dagegen  ist  eine  Gemüthsverfassnng,  die  lange  andauern  kann, 
mitunter  eine  tranze  Lebeushälfte  beherrscht  und  die,  weil  sie  habi- 
tuell, zur  Gewohnheit  geworden,  sehr  schwer  zu  beseitigen  ist. 

Indem  ich  sie  eine  „Gemüthsverfassunof"  nenne,  habe  ich  bereits 
das  Ideelle,  das  ihr  innewohnt  und  sie  kennzeichnet,  angedeutet.  Wol 
kommt  ihr  in  gewissem  Grade  auch  der  Ekel  und  Überdruss.  die 
Interessen-  und  Thatenlosigkeit  zu,  wie  ich  sie  in  oben  angetülirten 
pathologischen  Zuständen  gescliildert  habe.  Allein  diese  sind  aus  dem 
vorübergehenden  sinnlichen  Aflfect  in  eine  Vorstellungsart,  aus  dem 
Patiiologischen  in  die  Beflezion,  gewissermassen  ins  Philosophische 


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-    —   48Ö  — 

erhoben,  haben  nicli  in  eine  W'eltauscbaunng  umgesetzt,  die,  naclulem 
sie  in  den  erstrebten  Geniisj^en  keinen  rechten  Genuss,  an  der  Frende 
keine  rechte  Freude  mehr  jrefunden  liat.  nun  aucli  die  Objecte,  denen 
sie  ent.springen,  ja  die  Welt  überhaupt  für  etwas  Nichtiges  und  Wert- 
loses und  schliesslich  alle  Ideale,  weil  sie  der  Eealität  ermangelu,  für 
Trugbilder  erklärt. 

Dass  diese  Richtung  des  Geistes-  und  Gtefilhlslebens  gleichfalls  auf 
doer  krankhaften  Stimmimg  und  Verändemiig  des  Nervenlebens  be^ 
rnht  imd  mit  ihr  in  genauem  Zusammenhange  steht,  ist  unschwer  zu 
eikennen.  Der  Blasirte  hat  sidi,  sei  es  physisch  in  den  sinnlichen 
Oeattssen,  sei  es  psychisch  in  einseitigem  I^antasielehen,  im  Schwel- 
gen in  einzeben  Ideabrorstellnngen  irgendwie  ftbernommen  nnd  damit 
aeln  Nervensystem  ttberreizt  Die  gesunde  Frisdie  desselben  ist  ge- 
schwnnden,  das  Feuer  der  Leidenschaft  gedämpft,  nicht  durch  mora- 
lische Energie,  durch  Kampf  und  Arbeit,  sondern  durch  Verminderung 
der  Lebenswiirnie  und  Lebenskraft. 

Der  Blasirte  fühlt  diesen  Mangel,  wenn  er  ihn  auch  nicht  ein- 
gestochen mag,  und  dieses  Gefühl  der  Disharmonie  zwischen  seiner 
sregenständliclien  und  zuständlichen  (objttctivcTi  und  subjectiven)  Welt 
erfüllt  sein  Gemüth  mit  Bitterkeit  und  Verdruss,  die  wie  eine  Last 
auf  dasselbe  drücken.  Von  dem  Drucke  sucht  er  sicli  dadurch  zu  be- 
freien, dass  er  nicht  da.s  eigene  Ich  und  seine  Fähigkeit,  sondern  — 
die  Welt  für  unzulänglich,  für  eine  nur  scheinbare  Grösse,  die  innere 
lieh  wertlos  sei,  erklärt.  Dies  ist  der  erste  Act  in  der  Entwickelung 
der  in  Bede  stehenden  (^emttthsstimmung,  der  aber  schnell  genug  in 
den  zweiten  ttberftfart  Da  Beales  und  Ideales  so  zusammen  gehOren, 
dass  sie  wie  zwei  Pole  einander  bedingen,  so  yerUert,  wenn  die  Bea- 
litftt  ihres  idealen  Gehaltes  verlustig  geht,  auch  das  Ideale  semen 
Halt,  es  bricht  zusammen,  erweist  sich  gleich&lls  als  nichtig,  als 
blosse  ScheingrOsse  und  so  wird  denn  auch  die  Idealwelt  als  Lug  und 
Trug  herabgesetzt  und  der  Vernichtung  preisgegeben.  Der  Blasirte 
raerkt  nicht  oder  will  sich's  nicht  eingestehen,  dass  er  damit  sich 
selber  schmäht  und  verachtet.  Er  klagt  nicht  seine  Uberreizungen, 
sein  Schwelgen  in  Phantasiebildern  an,  sondern  die  Ideale  als  Irr- 
lichter, die  ihn  vei-führt  haben.  Dafür  möclite  er  sie  strafen,  sich  an 
ihnen  rächen,  und  so  tritt  die  Xcij^ung  hervor,  die  Ideale  als  solche 
zu  verspotten  und  ins  Gemeine  herabzuziehen,  die  Idealisten  als  arme 
Verirrte,  wo  nicht  als  Narren  und  Schwindler,  die  sich  und  Andere 
betrügen  wollen,  zu  verhöhnen,  die  geschichtlichen  Grössen  zu  be- 
m&kehi  un  l  die  Schatten  in  ihrem  Charakterbilde  so  schwarz  auszn- 

IMagogiaiD.  4.  JAhrg.  Heft  VUL  32 


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•  —   486  — 

maleu,  dass  die  Lichtseite  völlig  verdunkelt  wird  und  schwändet.  Ist 
eine  sittliche  Hoheit  und  Reinheit  so  eindringlich,  dass  der  Blasirte 
ihr  nichts  anhaben  kann,  so  behandelt  ei*  sie  ironisch  und  sucht  sie 
dui'ch  den  Witz,  der  nichts  Hervorragendes  duldet,  ins  GleichmaSB 
aller  Dinge  herabzuziehen.  BeligiÖse  Andacht  und  religiöses  Herzens- 
bedfirfiiis  ist  ihm  völlig  onTerstftndlich  und  die  Kirchengeschichte 
lediglich  eine  Geschichte  des  menschlichen  Wahns.  Fast  üi  die  gleiche 
Kategorie  fiült  ihm  das  Streben  der  Philosophen,  ans  der  sinnlichea 
Welt  in  eine  übersinnliche  Gedankenwelt  vorzudringen  und  den  nn- 
ei^dlichen  „Stein  der  Weisen**  zn  finden.  Nimmt  er  einmal  ans  reiner 
LangeweDe  ehien  Baad  von  Fichte  oder  Hegel  oder  Sdielling  zur 
Hand,  so  geschieht  es  um  der  Komik  willen,  mit  welcher  der  philo- 
sopliische  Jargon  auf  ihn  wirkt.  So  eiTegen  auch  die  politischen 
Kämpfe  in  den  Redeschlachten  der  Parlamente  nur  insofern  seine 
Theiliialniie,  als  man  wie  in  einem  Drama  auf  den  Ausirang  gespannt 
wird.  Aber  es  fallt  ihm  nicht  ein,  sich  selber  am  staatlichen  Leben 
zu  betheiligen,  auch  wenn  man  ihn  zum  Abgeordneten  wählen  möchtf, 
da  er  allen  politischen  Idealen  als  blossen  "rnio-bildern  den  Ab^hied 
gegeben  hat  und  ihm  jede  Staatsverfassung  gleichgütig  ist. 

Das  Handeln  macht  einseitig,  nöthigt  den  Willen,  sich  in  eine  be- 
stimmte Bahn  zu  werfen,  auf  der  man  vordringen  muss,  ohne  nach 
rechts  und  links  auszuschauen.  Wer  einen  Beruf  zu  erfüllen  hat,  der 
seine  volle  Kraft  in  Anspruch  nimmt,  wer  thätig  ins  Leben  eingreift 
und  Pflichten  zu  erf&llen  hat,  die  ihn  zur  SelhstQherwindnng  auffor- 
dern, zum  Absehen  von  seinem  eigenen  Ich,  zum  Wirken  fSr  das 
Ganze:  der  kommt  nicht  leicht  in  den  Fall,  blasirten  Stimmungen  an- 
heimzufallen, so  wenig  wie  der  Baner,  Handwerker  und  Tagelöhner, 
dw  im  Schweisse  seines  AngesiditeB  arbeiten  muss  und  sich  dabei 
guter  Esslnst  und  eines  gesunden  Schlafes  erfreut.  Damm  treffen  wir 
die  ßlasirtheit  vorzugsweise  bei  solchen,  die  leben  können,  ohne 
arbeiten  zu  müssen,  oder  deren  Berufsarbeit  noch  Zeit  genug  übrisr 
lässt,  um  an  die  Stelle  der  That  die  blosse  Betrachtung  zu  setzen 
und  sich  so  in  einer  gewissen  gleiehs<-]iwebenden  Temperatur  zu  er- 
halten, die  alles  Aufregende,  Leidenschaftliche,  Aus-Sich-Herausgehen 
ablehnt. 

Diese  Gemüthsverfassung,  welche  eine  wesentlich  ästlietische  ist  — 
im  Anschauen  eines  Kunstwerkes  nehmen  wir  wol  Antheil  an  der 
Handlung,  die  der  Maler  oder  Dramatiker  vor  uns  liinstellt,  oder  an 
der  Empfindung  des  lyrischen  Dichters,  doch  ohne  selbst  zu  handeln 
und  in  Aufregung  zu  kommen  — ,  ist  um  so  verführerischer,  als  sie 


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den  ToUen  Beiz  der  Betrachtung  hat,  die  das  Lebcoi  und  Treiben  der 
Welt  wie  ein  Schauspiel  an  sich  Torftbergeh^  lässt,  ohne  nöthig  zn 
haben,  mh  in  die  Floth  zn  stürzen  und  selber  mitznschwimmen  und 
mit  den  Wellen  zu  kämpfen.  Damm  ist  der  Blasirte  ein  Freund  der 
schonen  KItaistei  welche  mit  dem  Emst  des  Lebens  spielen  und  so  yom 
Zwange  desselben  erlösen,  welche  das  Subject  mitVorstellnngsobjecten 
bereichern,  ohne  Opfer  des  l^lens  und  der  Denkarbeit  zn  fordem. 
Er  hat  somit  von  dieser  ästhetischen  Richtung  und  Grundstimmung 
einen  dreifachen  Gewinn:  vorzügliche  Unterhaltung,  Bereicherung  des 
Ideenkreises  und  jene  vornehme  selbstbewusste  Haltung,  die,  von  allem 
Ubermass  in  den  sinnlichen,  wie  geistigen  Trioben  und  Genüssen  sich 
fernhaltend,  auch  eine  gleichmässige  sittliche  Haltung  bewahrt. 

Der  Blasirte  weiss  die  t'reuden  der  Tafel  zu  schätzen,  allein  er 
übernimmt  sich  nicht  darin ;  ist  durchaus  kein  Trunkenbold;  er  ist 
auch  dem  Geschlechtsgenoss  nicht  abhold,  aber  von  allem  Excess  zu- 
rückgekommen, nnd  da  er  auf  sein  leibliches  Selbst  grosse  Rücksicht 
zu  nehmen  genöthigt  ist,  auch  zur  Mässigkeit  geneigt  Aber  das  ideale 
Moment  der  Liebe  ist  ihm  yOllig  abhanden  gekommen  und  so  vermag 
ihn  anch  keine  Neigung  mehr  zu  fessehL  Ebenso  fehlt  auf  geistigem 
and  schOnwissensehaftlichem  Gebiete  jede  begeisterte  und  warme  Hin- 
gahe an  einen  Denker  oder  Dichter;  er  kann  das  Geistige  nicht  ge- 
messen ohne  den  Senf  seiner  Ironie  und  Skepsis.  Darum  ist  ihm  alle 
GefUilsseligkeit  nicht  nur  fremd,  sondem  widerwärtig  geworden,  den 
naiven  Zug  des  Gefähls,  den  er  vielleicht  selber  noch  hatte,  als  er 
jung  war  und  frischerer  Nerven  sich  erfreute,  versteht  er  nicht  mehr, 
imd  wenn  er  sich  seiner  aus  dem  eigenen  Leben  erinnert,  nennt  er 
ihn  mit  Heinrich  Heine,  seinem  Lieblingsdichter,  eine  „blöde  Jugend- 
eselei". — 

'Ich  glaube,  im  Vorstehendt'ii  mit  möglichster  Kürze  die  Züge 
zum  psj^chologischen  Bilde  der  Blasirtheit  gezeichnet  zu  haben,  wie 
wir  Deutsche  sie  verstehen.  Wir  fassen  den  Begritf  tiefer  und  weiter 
als  unsere  französischen  Nachbarn,  weil  wir  subjectiver  und  idealistischer 
sind  als  die  Romanen.  Die  Ubersättigung,  die  Unlust  am  Vergnügen 
nnd  Abstumpfung  des  Gefühls  nennen  wir  noch  nicht  „blasirt",  wofent 
nicht  das  betreffende  Subject  irgend  eine  Bildung  und  £ntwickelung 
nach  dem  Idealen  hin  durchgemacht,  dann  aber  mit  diesem  seinem 
edleren  Selbst  sich  entzweit  und  gebrochen  hat  Die  ideale  Sdte  des 
Menschenlebens  kann  nur  der  verachten  nnd  schmähen,  der  sie  kennen 
gelernt  hat;  ja  der  fortdanemde  Hohn  nnd  Spott  beweist  gerade,  dass 
das  Ideale  seinem  V^ftchter  noch  immer  zu  schaffen  macht  und  der 

3«» 


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Zwiespalt  im  Grunde  (U's  (icmüths  enipfuiulen  wird.  Eine  obeiHiicli- 
liche,  von  Hans  aus  genieine,  rohe,  geistig  unentwickelte  Natur  bleibt 
vor  der  Blasirtheit  bewahrt.  Diesen  idealen  Zug  und  geistigen  Gehalt 
dürfen  wir  nicht  übei-seheu,  wenn  wir  den  Blasirten  recht  verstehen 
und  pi^chologisch  würdigen  wollen. 

Es  mnss  schon  ein  hoch  entwickeltes  Culturleben  mit  einer  Man- 
nig&ltigkeit  und  Fülle  geistiger  Interessen  yorhand^  sein,  wenn  die- 
jenige psychologische  Erscheinang  hervortreten  soll,  die  wir  Bladrtheit 
nennen.  Sie  hat  die  Verfeinera'jg  der  Sitten  nnd  ein  his  zor  Üppig- 
keit gesteigertes  Gennsslehen  znr  Voraossetznng,  ist  also  in  der  heroi- 
schen Zeit  der  VMker,  in  den  ersten  und  nuttleren  Epochen  ihres 
Ooltnrlehens  unmöglich.  Wer  mOchte  unter  unseren  gennanischen  Alt- 
vordern oder  in  der  Völkerwanderung,  oder  unt^  den  Zeitgenossen 
Karls  des  Grossen  nnd  selbst  der  Hohenstaufen  einen  Blasirten  suchen 
wollen!  Oder  bei  den  Römern  in  den  Zeiten  der  Republik?  Erst  unter 
den  C'äsaren.  als  an  die  Stelle  republikanischer  Tugend  eine  schwel- 
gerische I  ppigkeit  trat,  regten  sich  wol  Anwandelungeu  von  Blasirt- 
heit,  aber  im  allgemeinen  müssen  wii*  sagen,  dass  sie  den  Alten» 
Griechen  wie  Römern,  fremd  war. 

Die  antike  Welt  Hess  ein  Überwuchern  des  Individualgefiihls  nicht 
aufkommen,  w^eü  das  ganze  Leben  aus  einem  Gusse  und  der  Idealis- 
mus immer  realistisch  gesättigt  war.  Die  objectiven  Mächte  der  Familie 
und  des  Staates  boten  die  sittliche  Norm,  der  sich  das  Einzelwesen 
unterwarf,  in  denen  es  allein  seine  ethische  Bedeutung  hatte.  Ein 
Gegensatz  zwischen  geistlich  nnd  weltlich,  zwischen  Staat  und  Kirche, 
die  um  die  Oberherrschaft  kämpften,  war  nicht  vorhanden. 

Doch  auf  die  Dauer  konnte  sich  der  heidnische  Staat  nicht  be- 
haupten, er  artete  in  schmfihlichen  Despotismus  aus,  der  die  mensch- 
heitliche Entwickelnng  hemmte,  weil  er  alle  zarteren  Blüten  *  des 
Geistes-  und  Gemüthslebens  knickte  nnd  verdorren  liess.  Ein  Höheres 
musste  kommen,  das  die  Allgewalt  des  Staates  brechend  der  Mensch- 
heit würdigere  Ziele  ilires  Strebens  zeigte  und  demselben  einen  neuen 
Aufschwung  gab.  Im  Gegensatz  zum  länderumfasseuden  Römerreich 
verkündete  die  neue  frolie  Botschaft  ein  Gottesreich,  das,  inwendig  im 
Herzen  der  Menschheit  sicli  aufbauend,  ewig,  weil  überräumlicli  und 
überzeitlich,  die  nationalen  Schranken  und  Unterschiede  <ler  (Geburt 
durchbrechend  und  ausgleichend,  alle  Menschen  omiassen  und  zu  gleich- 
berechtigten Bürgern  machen  wollte. 

Damit  wurde  die  Sclaverei  im  Princip  aufgehoben,  die  Bedeutung 
der  menschlichen  Persönlichkeit  als  solcher  erkannt,  die  Ethik  von 


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J 


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der  nationalen  Enorlierzigkeit  befreit  und,  an  die  Gottesliebe  geknüpft 
die  sich  in  der  Näclistenliebe  zu  bewähren  hatte,  ebenso wol  der  stoi- 
schen H&rte,  wie  der  pharisäischen  Selbstgerechtigkeit  enthoben.  Es 
TO  ein  grossartiger  IdeaUsmus,  der  die  GemUther  erfasste  und  die 
Volker  des  grossen  BAmerstaats  ans  der  materialistischen  Versnnken- 
heH  und  geistigen  Knechtschaft  aoMttelte,  die  naturfirischeren,  wenn 
anch  rohen  germanischen  Stämme  mit  nenen  BÜdnngskeimen  befruch- 
tend nnd  mit  ihnen  auch  nene  politische  Entwicklungen  anbahnend. 

Wo  ein  energischer  Idealismus  waltet,  kann  keine  Blasirtheit  auf- 
kommen. Die  ersten  christlichen  Sendboten  innren  einfache  schlichte, 
von  keiner  Übercultur  angekränkelte  Männer,  Fischer  und  Handwerker, 
die  mit  ihrer  Hände  Arbeit  sich  ihren  Lebensunterhalt  zu  verschaifen 
wussten.  Der  Idealismus  des  Glaubens  hinderte  die  Bekenner  Christi 
nicht  am  realistischen  Streben,  am  praktischen  Eingreifen  in  die  welt- 
lichen Angelegenheiten  des  vStaates  und  der  (xesellschaft,  nach  dem 
Gebote,  Gott  zu  geben,  was  Gottes  und  dem  Kaiser,  was  des  Kaisers 
ist.  Die  christlichen  Soldaten  kämpften  nicht  minder  tapfer  unter  den 
Fahnen  des  heidnischen  Imperators,  wie  die  Märtyrer  mit  höchster 
Ki'aft  ausharrender  (Geduld  ihr  Blut  für  ihren  Glauben  geopfert  hat- 
ten. Das  christliche  Gemeindeleben  nahm  die  Willkür  des  Einzelnen 
in  Zucht,  nnd  als  der  grossere  Organismus  der  „Kirche**  sich  aus- 
bildete, musste  auch  da  der  Einzelne  dem  Gfanzen  sich  ftgen  und  in 
der  Selbstflberwindung  sich  üben.  Selbst  die  Extreme  der  Weltent- 
sagnng  und  WeMucht,  welche  die  ElOster  ins  Dasein  riefen,  Hessen 
ftr  Ausfaildnng  der  Blasirtheit  keinen  Baum,  weQ  die  strenge  Bogel 
sowol  die  Ausschreitungen  des  geistigen,  wie  des  sittlichen  Lebens  im 
Zanme  hielt 

Aber  es  liegt  in  der  Beschränktheit  alles  Menschlichen,  dass  Knt- 
wickelung  nicht  möglich  ist  ohne  Gegensätze  und  Übertreibuugeu,  die 
von  einem  Äusserst^n  in  das  Entgegengesetze  fallen.  Der  Subjectivis- 
niiis  war  tlie  unausbleibliche  Kehrseite  des  zwar  in  die  Tiefe  des 
Gemüthslebens  führenden,  das  Recht  der  Persünliclikeit  sichernden 
und  es  doch  durch  dogmatischen  Zwang  wieder  aufhebenden  und  ver- 
kümmernden, des  in  den  Hochmutli  der  Rechtgläubigkeit  verfallenden, 
in  Herrschsucht  und  Weltsinn,  der  da  herrsclien  wollte  „gleich  den 
Fürsten  dieser  Welt",  ausartenden  Chrißtenglaul)ens.  Der  christliche 
Spiritnalismas,  der  den  Geist  von  der  stofflichen  Bftumliclikeit,  der 
sogenannten  Materie,  trennte  und  ihn  nur  im  abstracten  Gegensatz  zu 
derselben  er&ssen  nnd  festhalten  zu  kOnnen  yerm^te,  schlug  um  in 
den  widerchristlichen  Materialismus,  der  die  Materie  Tergötterte  und 


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den  Geist  verachtete.  Beide  Richtungen  schwächten  die  'rimtkraft> 
thaten  einem  gesunden  Etlios  Abbruch,  weil  sie  das  sittliche  Gleich- 
gewicht störten.  Hingegen  steigerten  sie  die  Anspriu^he  des  über- 
spannten  Subjects  und  leisteten  der  Blasirtheit  Vorschub. 

Der  moderne  Mensch  ist  in  dem  Masse  ansprachsvoUer  geworden,, 
als  er  in  seiner  subjectiven  Bildung  freier  geworden  ist  und  grösseren 
Banm  gewonnen  hat.  Eine  Beihe  von  politischen,  kirchlichen,  ja  auch 
idssenschaftlichen  Umwälzungen  hat  das  Selbstgefühl  des  Einzelnen  si> 
gesteigert,  dass  dieser  die  Lebenskreise,  denen  er  angehört,  nur  noch 
kritisch  betrachtet  und  dem  Gkmzen  Opposition  macht»  wie  und  wo  er 
kann.  Durfte  der  absolute  K5nig  des  vorigen  Jahrhunderts  noch  sagen: 
Der  Staat,  das  bin  Ich!  so  sind  wii*  jetzt  schon  so  weit  gdcommen»' 
dass  der  Besitadose  aUen  Besitzenden  den  Fehdehandschuh  hinwirft, 
und  der  Arbeiter  spricht:  Der  Staat  und  die  Oesellschalt  bin  Ich! 
Die  parlamentarischen  Kämpfe  werden  nm*  zum  kleineren  Theil  im 
objectiven  Sinne  um  die  Bedürfnisse  des  Staats,  zum  grösseren  Theil 
aber  in  subjectiver  Eitelkeit,  Herrschsucht  und  Rechthaberei  talent- 
voller 8treber  geführt,  die  das  vorhandene  Ministerium  um  jeden  Preis 
verdrängen  möchten,  um  sich  sell)st  di<^  Heri*scliaft  zu  erringen.  Die 
Opposition,  je  kecker  und  rücksichtsloser  sie  geführt  wird,  macht  Auf- 
aßen und  erhöht  das  Ansehen  Dessen,  der  sich  darauf  versteht.  Je 
mehr  sich  aber  die  Wortkämpfe  in  den  Reichstagen  verschärfen,  je 
mehr  die  Parteisucht  sich  einfrisst  und  die  Gemüther  verbittert,  desto 
mehr  wird  das  constitutionelle  Leben  und  die  wahre  Vaterlandsliebe 
gefthrdet,  desto  mehr  wird  das  politische  Interesse  al^gestumpft  Dom 
allzu  scharf  macht  schartig!  Der  Vaterlandsfrennd  wird  von  solchem 
sogenannten  parlamentarischen  Treiben  nicht  selten  angeekelt  und  hat 
dann  MiUie,  sich  einer  blasirten  Stimmung  zn  erwehren.  Je  mehr  aber 
dass  Interesse  am  Allgemeinen  geschwftdit  wird,  desto  mehr  wird  das 
Subject  auf  sich  selbst  zurflckgeworfen,  desto  üppiger  wuchern  egoi- 
stische  Triebe  und  Uberspannungen. 

Das  kirchliche  Interesse  wiid  gegenwärtig  allerdings  in  hoher 
Spannung  erhalten,  da  es  für  das  politische  Parteitreiben,  vor  allem 
aber  für  die  Herrschaftsgelüste  des  römischen  Papstthums  aufgestachelt 
wird.  Dass  aber  das  wahrhaft  religi{")se  Leben  dabei  geschädigt  und 
abgestumpft  wird,  ganz  so,  wie  auch  die  hierarchischen  Strebun^en 
des  Altlutherthums  in  der  protestantischen  Kirche  dem  evangelischen 
Ohristenthnm  der  Gemeinde  durchaus  keinen  Segen  bringen,  liegt  o£fen 
genug  zu  Tage. 

Nehmen  wir  dazu  die  Überhebung  einer  ihre  Schranken  verken- 


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—   491  — 


nenden  Naturwissenschaft,  die  geflissentlich  in  nicht  wenigen  ihrer 
Veitreter  den  Materialismus  zu  fördern  bestrebt  ist,  eines  sich  schnell 
genus:  bis  zum  Nihilismus  steigernden  Materialismus,  der  allem,  was 
Re]igi(jn  und  Glauben  heisst,  den  Krie^  erklärt  und  die  Kluft  zwi- 
schen der  Verstandes-  und  Gemüthsbildung  des  Volkes  erweitert:  so 
düilen  wir  uns  nicht  wundern,  wenn  die  Unbotmässigkeit  und  Genuss- 
sucht,  die  mit  verfeinerter  Cultur  unausbleiblich  wächst,  schrankenlos 
wird  und  bis  in  die  untersten  Schichten  der  Gesellschaft  vordringt, 
aich  dort,  wo  man  es  am  wenigsten  erwarten  sollte,  blasirte  Menschen 
hervormft,  die,  zur  Arbeit  antüchtig,  mit  sich,  mit  Gott  und  der  Ge- 
sellschaft zerfallen,  nur  noch  zmn  Verbrechen  den  Best  ihrer  Kraft 
rerwenden  nnd  dem  Staate  zur  Last  fidlen,  indem  sie  die  Gef&ngnlfr 
Zellen  ftülen. 

Andi  d^  Ärmste  und  Niedrigstgeborene  hat  noch  seine  Ideale; 
sdn  Idealismus  ist  in  erster  Linie  ein  religiöser.  Bricht  dieser  zn- 
sammeB-,  wird  auch  der  bescheidene  und  gottergebene  Arbeiter  und 
Handwerker  so  weit  gebracht,  dass  er  schmftht  nnd  wachtet,  was 

er  früher  verehrt  und  angebetet  hatte,  dass  er  seine  Armuth  und 

Niedrigkeit  nicht  mehr  als  Gottes  Ordnung,  sondern  als  mi  von  der 
Gesellschaft  ilini  angethanes  Unrecht  betrachtet;  werden  Ansprüche 
auf  ein  Genussleben  in  ihm  erweckt,  die  nimmer  befriedigt  werden 
können  und  ihm  die  Arbeit  verleiden:  dann  ^vird  auch  in  der  arbeiten- 
den (  lasse  und  selbst  im  Tagelöhner  die  Blasirtheit  des  Prole- 
tariats grossgezogen,  das  in  stumpfer  Gleichgiltigkeit  und  starrer 
Verbissenheit  nicht  mehr  im  Schweisse  des  Angesichts  sein  Brod 
essen  mag  und  vom  allgemeinen  Umsturz  alles  Bestehenden  das  Heil 
erwartet 

Wenn  Staat  und  Kirche,  Familie  nnd  Schule  immer  einmüthig 
zusammenwirkten,  dann  könnte  manches  Unkraut  des  sittlidi-sodalen 
Lebens  schon  im  Keime  erstickt  werden,  wfthrend  es  im  andern  Falle 
ftppig  emporwnchert.  Gewisse  Erscheinungen,  wie  die  Blasirtheit,  sind 
freilich  nuyermeidlich  ndt  gewissen  Cultnrepochen,  mit  der  Freiheit 
und  Ifamiig&itigkeit  individueller  Entwickelung  des  EinzeSnen  yer- 
knttpft.  Deshalb  dürfen  die  genannten  LebensmSchte  aber  doch  nicht 
unthätig  znschanen,  auch  da  nicht,  wo  ihnen  direct  kein  Mittel  zu 
Gebote  steht,  einem  Übel  zu  stetiern,  ohne  die  Freiheit  des  Einzelnen 
anzutasten.  Hänoft  doch  von  ihrem  Wirken  und  noch  mehr  von  ihrem 
Zusanunen wirken  die  Atmosphäre  des  gesaramten  Volkslehens  ab,  die 
je  nach  ihrer  Spannung  und  Mischung  pathologische  Erscheinungen 
begünstigt  oder  niederhält. 


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4 

So  tritt  an  uns  die  Frage  heran,  was  kann  die  Eraiehnng,  be- 
sondere die  Schnlerziehnng  thun,  um  der  Blasirthelt  entgegenzutreten 
und  sie  zu  yeiiittt^? 

Vorweg  ist  zu  bemerken,  dass  (was  übrigens  schon  ans  unserer 

psychologischen  Anseinandersetzung  sich  ergeben  hat)  eine  ausgebildete, 
TOlle  Blasirtheit  in  der  Jugend  noch  nicht  hervortreten  kann,  weil 
diese  das  Leben  noch  vor  sich  hat,  an  das  sie  ihre  Wünsche  und 
Hoffnungen  knüpft.  Der  Lebensniorgen  hat  als  solcher  eine  Thau- 
fiische,  die  erst  der  lieisse,  schwüle  Mittag  aufzehren  kann.  Das 
Knaben-  und  Mädchen-,  das  Jünfrlinsrs-  und  .Tungfrauenalter  hat  die- 
sen Vorzug  vor  dem  Mannes-  und  Frauenalter  voraus,  es  hat  die  noch 
unverbrauchte  Kraft,  welche  die  Lebensknospe  schwellt;  die  ahnungs- 
volle Spannung  auf  ihre  Entfaltung  beflügelt  den  Lebensschritt  und 
lässt  auch  das  W'iderwärtige,  den  Schmerz  und  Kummer,  der  früh 
genug  in  jedes  Menschenleben  hinemgreift,  leicht  ertragen  und  über- 
winden. Die  ganze  Anssenwelt  erscheint,  der  politischen  Stimmnng 
der  Innenweilt  entsprechend,  im  Gknz  der  Schönheit,  im  Beiz  der 
Neuheit  und  des  Zanbera,  der  auf  allem  Ersten  und  Unbekannten 
ruht  Das  SInnenyermGgen  ist  noch  unverbraucht.  Sehen  und  HOren 
eine  Lust  Die  kindliche  Phantasie  ist  so  gesdiäftig  und  zugleich  so 
federkräftig,  dass  sie  aus  dn  paar  HolzklStzehen  einen  KIrditlitirra 
oder  ein  Schloss,  aus  einem  Stöckchen  im  Nu  ein  Reitpferd,  eine  Flinte, 
ein  Schwert  zu  schaffen  weiss. 

Die  deutschen  Elementarschulen  haben  in  ihrer  überwiegenden 
Mehrzald  den  <4ni(l  methodischer  Entwickelung  erreicht,  dass  sie  dem 
AnschauunjrssTriehe  des  Kindes,  der  äusseren  und  inneren  Anschauung 
ebenso  Kechnung  trajren.  wie  der  sc]iöi)ferischen  und  wiedererzeugen- 
den Einbildungskraft  desselben:  dass  Erzählungen  und  Märchen,  Fabeln 
und  Lieder  den  poetischen  Sinn  nähren  und  sittliche  Hochbilder  den 
Sinn  auf  das  edle  Menschenthum  lenken,  das  mit  seiner  idealen  Trieb- 
kraft die  jungen  Seelen  erMlt 

Unter  normalen  Verhältnissen  geht  das  Kind  gern  zur  Schule,  das 
arme  zumal,  das  dort  den  Staub  und  Schmutz  —  den  physischen  wie 
moralischen  —  der  Wohnstube  abschütteln  und  den  Blick  in  dne 
schönere  und  reinero  Welt  des  Geistes-  und  Gemftthslebens  .werfen 
kann.  Freilich  nimmt  der  Unterricht  die  Aufhierksamkett  und  den 
WXÜisDL  in  Zucht,  die  Willkür  des  planlosen  Umherschweifens  hat  ein 
Ende,  der  Emst  geistiger  Arbeit  macht  sieh  fBhlbar  und  fordwt 
Selbstüberwindung,  die  als  ein  oft  harter  Druck  empftmden  wiri. 
Das  gemeinsame  Lernen,  der  Verkehr  mit  Alters-  und  iSpielgenossen, 


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die  Ü])ung  der  Kraft  und  das  Gefüld  ihrer  fortschrittlichen  Eiitwicke- 
hing  bieten  jedocli  reichen  Ersatz  für  das  Unangenehme  —  wofern 
uur  im  Lehren  und  Lernen  Masi>^ gehalten,  nichts  übereilt  und  über- 
trieben vnrd. 

Dies  gilt  auch  für  alle  lniheren  Schulen. 

Wii'd  der  Lectionsplan  mit  Unterrichtsfächern  überladen,  die  ein 
bantes  Allerlei  bieten,  deren  innerer  Zusammenhang  völlig  geschwun- 
den ist:  so  bleibt  das  Wissen  ein  änsserliches,  mit  welchem  vielleicht 
für  die  Prüfong  geprunkt  werden  kann,  das  aber  im  Gemüth  keine 
Wurzel  schlügt  und  der  Entwickelong  des  Qeistes  nach  dem  Idealen 
hfai  keine  feste  Grundlage  bereitet  Alles  oberflächliche  Wissen,  alles 
lilos  gedflchtnismftssig  angeeignete,  nicht  mit  ToUer  Selbstthätigkeit 
oad  Theünahme  des  inneren  Menschen  erwoibene  leistet  der  Blasirt- 
hett,  welche  jede  gründliche  Geistesarbeit  hasst»  Vorschnb.  Das  bunte 
AUerM  reizt  wtA  angenblicklich  die  Neu-  nnd  Wissbegier,  erzeugt 
aber  kein  nachhaltiges  Interesse,  sondern  nui'  die  Lust  am  Naseben 
und  vorübergehender  Unterhaltung. 

In  dieser  Hinsicht  sind  auch  die  im  letzten  dahrzehnt  sehr  in 
Aufnahme  gekommenen  Prüfungen  für  die  einjährig  Freiwilligen  nicht 
unbedenklich,  da  sie  zu  jenem  treibhausartigen  Erwerb  von  Kennt- 
nissen und  Fertigkeiten  verfidireii,  die,  wenn  der  Zweck  erreicht  isti 
nicht  weiter  gepüegt  und  entwickelt»  sondern  wie  ein  unnützes  Haus- 
geräüi  lortgeschoben  werden. 

Aber  auch  übergrosse  Gründlichkeit,  die  Erklärungssucht,  die  an 
jedes  Wort  lange  nnd  breite  Erörterungen  knüpft,  die  ein  poetisches 
Sfcftck  derartig  zergliedert  und  mit  gelehrtem  Ballast  ftberschütteti 
dasB  die  schdne  Form  zerstört  wird  nnd  der  Gesammteindmck  fOr  die 
Phantasie  y  öUig  verloren  geht  — :  kann  abstnmpf end  wirken  nnd  die 
Lost  an  der  Sache  verleiden. 

Woher  mag  es  wol  kommen,  dass  bei  unseren  Gebildeten,  die  ihre 
Gynmasialstndien  durchgemacht  haben,  die  alten  dassischen  Autoren 
fast  durchweg  bei  Seite  geschoben  und  so  schnell  vergessen  werden? 
I>ie  Berutspflichten  und  vielfachen  Tagesinteressen  erklären  das  wol 
zum  Theil.  aber  doch  nicht  ganz;  denn  bei  den  ^praktischen"  Eng- 
läüdera  z.  B.  soll,  wie  deutsche  Reisende  wiederholt  hervorgehoben 
haben,  die  Liebe  zu  den  dassischen  Autoren  der  Griechen  und  Römer 
länger  vorhalten. 

Wie  ertödtend  für  die  Theilnahme  und  somit  fiir  nachhaltige 
Freudigkeit  das  Vielerlei  wirkt,  sehen  wir  schon  an  den  »Spielsachen 
onsarer  Kinder.  Werden  dieselben  damit  überschüttet,  so  entsteht  bald 


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ein  wählerisclies  ünbeliapren,  die  Tiit^be  wird  getlieilt  und  die  Kritik 
herausfifefordert,  es  entwickelt  sich  leicht  eine  anspruchsvolle  üngenüg- 
samkeit,  die,  wenn  sie  auch  nicht  sich  äussert,  doch  die  kindliche 
Spielfreudigkeit  herabstimmt  und  den  prodoctiven  Spieltrieb,  der  ans 
Wenigem  Viel  zu  machen  weiss,  lähmt. 

Dasselbe  Zuviel  und  somit  dieselbe  Ubersättigung  auch  in  der 
LectOrel  Seitdem  die  Jugendliteratur  ein  Indastriea^weig  geworden  ist, 
wird  die  liehe  Jngend  ndt  Bfichem  ond  Zeitschiiften  völlig  fiher- 
schttttet  Wenn  der  Mann  nach  anstrengender  Bemi^arbeit  zor  Zeitung 
greift,  nm  sich  za  erholen  und  mit  dem  Lauf  der  Welt  „auf  dem  Lan- 
fenden**  zn  erhalten,  so  hat  das  einen  Sinn.  Wenn  aber  Zeitschriften, 
gleichviel  ob  für  ABG-Schützen  oder  für  G3nnna8ial-  nnd  Bealschüler 
geschrieben  und  gedruckt  werden,  „zur  Erholung  nach  der  Schule**, 
wo  das  Sicbtummelii  in  Gottes  freier  Natur  die  rechte  und  wahre 
Krholung  sein  sollte;  —  wenn,  anstatt  des  kurzen,  einfachen,  kind- 
lichen und  doch  den  reichsten  Poesiegehalt  bersrenden  Volksniün'heiis, 
romanhaft  ausgefiilirte  und  pikant  gemachte  Erzählungen,  ja  auch 
wirkliche  Romane  den  Kindern  übergeben  werden,  die  auf  solche  Weisp, 
die  Genüsse  eines  späteren  Alters  vorweg  nehmen:  so  ist  das  eine 
pädagogische  Sände,  die  nicht  so  selten,  ads  Viele  meinen,  Blasirtheit 
ZOT  Folge  hat 

Als  hätte  es  unsere  Zeit  geflissentlich  darauf  abgesehen,  die  Lost 
nnd  Freude  am  Leben  vor  der  Zeit  abzostompfen,  werden,  wie  man 
die  Unterschiede  des  Standes  nnd  Vermögens  verwischen  nnd  dem 
unteren  nnd  firmeren  Volksdassen  auch  die  geistigen  Bedflrfidsse  der 
vermöglicheren,  höheren  aufiEwingen  möchte,  so  auch  die  Schranken, 
welche  die  Lebeosalter  trennen,  niedergerissen,  die  Kinder  der  nur 
einigermassen  Wolhabenden  in  Sammet  nnd  Seide  und  nach  dem  Mode- 
Journal  der  Art  „  fein "  nnd  „  elegant "  gekleidet,  als  wären  sie  für  das 
Salon-Leben  bestimmt.  Das  eiTeicht  man  schon,  dass  solche  „Toilette'* 
wie  ein  Hemmschuh  auf  die  Bewegungsspiele  wirkt.  Das  kleine  Mäd- 
chen muss  sich  schon  als  Dame,  der  dumme  Junge  als  HeiT  fühlen, 
redet  man  sie  doch  —  was  zum  guten  Ton  gehört  —  schon  lange  vor 
ihrer  Confirmation  mit  Herr  und  Fräulein  und  statt  des  traulichen 
„Du"  mit  dem  vornehmen  „Sie"  an. 

Selbst  der  Einband  der  für  die  Jugend  bestimmten  Bücher  hat  es 
zu  einer  „fürstlichen"  Pracht  —  das  Beiwort  „fürstlich"  passt  auch 
schon  nicht  mehr,  da  die  Fürsten  im  Lnxos  nichts  mehr  voraus 
haben  —  gebracht  Früher  unterschied  man  noch:  Ganz-  und  Halb- 
franz, lederne  Ecken  nnd  Bftcken  und  Pappband.  Diese  Unterschiede 


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sind  längst  liiiitallig:  geworden,  seitdem  der  Goldtitel  auf  dem  Rücken 
nicht  mehr  genügt  und  selbst  die  Deckel  Goldpressung  verlangen. 
Dazu  muss  das  Buch,  wenn  es  beachtet  werden  soll,  noch  reich  mit 
Bildern  versehen  sein!  Wenn  es  der  lUostxationen  ermangelt,  schiebt 
man  es  flugs  zur  Seite. 

So  wichtig  die  lUustration  für  unsei*e  naturkundlichen,  physika- 
Uschen,  astronomischen,  geographischen  und  geschichtlichen  Werke  ist: 
80  fiberflftsaig  ist  sie  für  unsere  poetischen,  insbesondere  für  die 
Härchen  nnd  Alles,  was  die  prodnctive  Phantasie  anregen  solL  Diese 
hat  ein  Feuer  und  Licht,  einen  Glanz  und  Schmelz,  eine  ideale  Bein- 
heit  und  Schönheit,  die  durch  jedes  Bild  nur  TerkOmmert  und  ab- 
geschwächt wird  und  deren  Begrenzthdt  und  ÜnznlfiagUchkeit  den 
Dreien  Flug  der  Phantasie  lahmt. 

Aber  auch  in  den  Illustrationen  unserer  realistischen  Lehrbücher 
geschieht  des  Guten  fast  zu  \iel,  wenn  sie  den  Text  überwuchern  und 
die  Vertiefung  in  den  Text  dadurch  hemmen,  dass  das  Auge  abge- 
zogen und  zerstrt^ut  wird.  Wie  bei  den  geometrisclien  Figureutafeln 
unserer  alten  Lelirbiiclier,  die  an  den  Schluss  geheftet  wurden,  sollten 
die  Illustrationen  zum  Tlieil  auf  den  Tafeln  des  Anhanges  vereinigt 
werden,  um  die  Druckseiten  nicht  allzusehr  zu  zerreissen.  Ks  gehört 
schon  ein  starkes  Abstractionsvermögen  dazu  und  man  kann  sich  doch 
nicht  eines  unangenehmen  Eindrucks  erwehren,  wenn  man  etwa  in 
der  Leipziger  Illastrirten  Zeitung  biographische  Züge  aus  dem  Leben 
eines  berühmten  Mannes  liest,  in  der  Mitte  aber  grinsende  Affen  und 
schiftfrjge  Faulthiere  vor  sich  hat,  zu  deren  Bahmen  nun  der  Text 
dient  Kommen  in  einem  Buche  Bilder  auf  die  frühere  Seite,  deren 
Erläuterung  erst  die  folgende  bringen  kann:  so  wird  die  Aufinerksam- 
kdt  getheilt  und  darunter  leidet  das  Sichversenken  in  den  Fluss  der 
textlichen  DarsteUnng  und  Entwickelung. 

Die  Fülle  von  Illustrationen,  die  überwiegend  die  Neugier  der 
Knaben  und  Mädchen  reizen,  wirkt  zerstreuend,  und  kommen  dazu 
noch  die  Witzblätter  mit  ihren  Cai-icaturen ,  die  so  viel  Ehrenhaftes 
und  Grosses  in  den  Staub  der  (lemeinheit  ziehen  und  dem  Gelächter 
preisgeben  —  alle  diese  Blätter,  von  den  Alten  gelesen  und  glossirt, 
liegen  meistens  aucli  den  Jungen  zur  Hand  — :  so  entsteht  einerseits 
die  Neigung  zur  Näscherei,  zum  schnellen  Vorwegkosten,  zum  Pikan- 
ten, das  die  Gesclimacksnerven  kitzelt^  und  andererseits  die  vertrühte 
Kritik,  die  mit  allen  Grössen  schnell  fertig  wird. 

Blätter  wie  der  Kladderadatsch,  Ulk,  Kikeriki  etc.  etc.  nähren 
ihren  Witz  durch  die  Travestie  und  Parodie,  für  welche  vorzugsweise 


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Goethe's,  Schillers,  Uhlands  Lieder,  Romanzen  und  Balladen  heran- 
gezon^en  werden.  Da  werden  gewissermassen  auf  classiscbe  Weise  be- 
kannte, berühmte  oder  berttcbtigte  Grössen  zu  Falle  gebracht,  durch- 
gehechelt und  lächerlich  gemacht;  Alt  und  Jung  ergötzt  sich  danui, 
der  Ck>iitra8t  wirkt  reizend  und  prickelnd.  Die  wahrhaft  grossen  Män- 
ner bleiben  dabei  —  sagt  man  wol  —  doch,  was  sie  sind  und  die 
schönen  Gedichte  unserer  Classiker  auch.  Es  gehört  aber  auch  da  em 
starkes  Abstractionsvermögen  dazu,  wie  es  weder  das  Volk,  noch  xaam 
Jngend  besitzt,  nm  das  mit  Sdmiutz  beworfene  Bild  herromgrader 
MSnner  in  der  Vorstellnng  rein  zu  erhalten.  Und  wenn  das  Pathos 
■einer  Romanze,  die  Tragik  einer  Ballade,  die  Innigkeit  eines  Liedes 
ins  Lächerliche  i^tzofren  wird,  so  leidet  darunter  auch  die  Unbefangen- 
heit und  Innigkeit  des  jugendliclien  Gemüths,  das  die  betrefiende  Dich- 
tung rein  in  uniretrübter  Schüiilieit  empfangen  hatte.  Es  wird  da  ein 
erster  Schritt  zur  ßlasirtheit  hin  jrethan.  der  mtiglicher  Weise  FolLreii 
haben  und  zu  jener  Abstuniptung  liilireu  kann,  wo  die  Leetüre  uuaie- 
rer  Classiker  ungeniessbar  geworden  ist. 

Man  sollte  es  nicht  glauben,  es  ist  aber  Tliatsache  (sie  wurde  mir  vor 
Jahren  von  einem  Zögling  des  betreffenden  Instituts  selber  erzählt  — ), 
dass  pädagogischer  iSeits  absichtlich  auf  diese  GemüthsTerfassung  der 
l^hisiilheit,  unseren  Classikern  gegenüber,  hingearbeitet  wird.  In  einem 
bekannten  und  besonders  bei  dem  katholischen  ultramontan  gesinnten 
Adel  Westfalens  nnd  des  Bheinlandes  beliebten  Jesoiten-QymnssiiiB 
worden  die  Bomanzen  Schillers  derart  Iftdierlich  gemacht,  dass  man 
z.  B.  die  Bürgschaft  fUr  eine  Faschingsposse  dramatisch  aniAihrte,  aber 
carikirt:  Möros  mit  einem  Hackemesser  in  borlesker  Weise  anf  den 
Tyrannen  einspringend  etc.,  so  dass  dieZnschaaer  nicht  ans  dem  Ladien 
herauskamen.  Dem  jesnitischen  Katholicismns  sind  freill«di  die  deiit^ 
sehen  Classiker  ein  Dom  im  Ange,  fast  ebenso  wie  der  Dr.  Martii 
Luther.  Um  der  deutschen  Jugend  auch  die  geschichtlichen  Grössen 
des  protestantisclieii  Nordens,  vor  allem  Friedrich  den  Grossen,  zu  ver- 
k'ideu,  werden  diese  in  eigens  zu  diesem  Zwecke  vertassteu  Romiuieu 
und  Geschic'litsbiiehern  angeschwäi-zt  und  verächtlich  gemacht. 

Die  strenge  Zucht  des  Familienlebens,  wie  sie  noch  das  yorki- 
Jahrhundert  kannte,  ist  dem  unserigen  abhanden  gekommen;  es  treten 
mitunter  auch  schon  bei  uns  amerikanische  Verhältnisse  hervor,  wo 
die  liebe  Jugend  ganz  ungesclieut  raisonnii-en  und  ihren  Willen  dem 
elterlichen  entgegensetzen  darf.  Bei  solcher  Weichheit  und  Schlaffheit, 
die  sich  fürchtet,  dem  Söhnchen  wehe  zu  thun,  wird  es  auch  den  Leh- 
rern, schwerer  gemacht,  die  Disdplin  in  den  Schalen  stramm  aofrecht 


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zu  erhalten.  Der  Freiheits-  und  (Tleichheitsscbwindel,  der  auch  die 
Unterschiede  der  Altersstufen  aufheben  möchte,  hat  sich  bier  und  da 
auch  in  die  GymnasieiL  und  Bealsdinlen  eingeschlichen  nnd  dort  bnrschen- 
schaltlicfae  Verl^nngen,  Clnbs  und  Vereine,  die  das  Studenten-  und 
Bttiigerleben  vorweg  kosten  wollen,  zu  grOnden  yersucht  Als  ob  der 
ünbotmtaigkeit  der  lernenden  Jugend  noch  künstlich  durch  litera* 
fische  Mittel  nachgeholfen  werden  mflsste,  hat  sich  ein  begabter  Dich- 
ter*), der  dem  Sehefferschen  Studentenhnmor  nachstrebte  (Initium 
Fidelitatis,  Exercitium  Salamandris)  und  im  humoristischen  Epos 
Rühmliches  leistete  (Schach  der  Könij^in  —  Venus  Urania),  aurh  in 
einen,  oft  recht  schalen  Gymnasial-  und  Pensions -Huiiior  verirrt,  der 
darauf  ausgeht,  den  Lehn-rstand  systematisch  lächerlich  zu  machen. 
Nocli  ist  unser  Leben  in  Staat,  Scluile  und  Familie  zu  gesund,  um 
solche  Machwerke  nicht  bald  unschädlich  maclien  zu  können.  Würden 
sie  wie  ein  Ansteckuugsstoff  sich  weiter  verbreiten,  dann  liefe  unsere 
Jugend  allerdings  Gefahr,  nicht  im  Studium,  wol  aber  in  der  Zucht- 
losigkeit  und  Blasirtheit  grosse  Fortschiitte  zu  machen. 

Mit  übergrosser  Sentimentalität,  die  spftterhin  auch  leicht  in 
Blasirtheit  umschlagen  kann,  hat  es  bei  unserer  überwiegend  kritisch 
gestimmten  Jugend  keine  Qe£fthr.  Eher  ist  zu  fOrditen,  dass  in  Folge 
Auer  Theüni^e  an  den  Genflssen  von  Bier,  Wein  und  Tabak  der 
Geschlechtstrieb  zu  frOh  gereizt  werde.  Geschlechtliche  Veriirungen 
haben  den  allemaditheiligsten  Einfluss  auf  den  ganzen  Organismus, 
tthmen  die  geistige  Energie,  ertödten  die  Arbeitslust  wie  die  Arbeits- 
kraft und  sind  Brutstätten  der  Blasirtheit  Lassen  es  aber  Eiltem, 
Lehrer  und  Erzieher  nicht  an  der  nöthigen  Aufmerksamkeit  fehlen, 
80  haben  sie  in  der  Schülerarbeit  selb«*,  die  den  ^j^anzen  Menschen  in 
Anspruch  nimmt,  im  Turnen,  des  Sommers  im  Schwimmen,  des  Winters 
im  P^islauf  und  sonstiger  Beweguugf  im  Freien,  die  nöthigenfalls  bis 
zur  Ermüdung:  p^etrieben  werden  kann,  ein  wirksames  Vorbeugungs- 
inittel, das  seine  Dienste  nicht  versagt. 

Versteckter  und  von  manchen  wolmeinenden  Lehrern  nicht  nur 
übersehen,  sondern  selbst  herbeigeführt,  liegt  die  Gefahr  einer  Ver- 
Mhung  der  geistigen  Production,  wenn  Knaben  und  Mädchen  schon 
aus  sich  heraus  AuMtze  bringen  sollen,  für  welche  ihnen  die  anschau- 
liche Unterlage,  der  concrete  Stoff  fehlt,  oder  wenn  schon  Gym- 
nasiasten in  die  Feinheiten  kritischer  Philosophie  eingeweiht,  wenn  sie 
m  der  ErlAuterung  unserer  Dichter  mehr  zum  Urtheü  über  dieselben  als 
zur  Vertiefong  in  dieselben  angeleitet  werden  und  dann  über  hervor- 

*)  Emst  Eckstein. 


ß 

Üiyitizea  by  GoOglc 


—  498  — 


ragende  Dichterwerke  Kritiken  schreiben  müssen,  wie  solche  sich  wol 
dem  gereiften  Manne  geziemen,  nicht  aber  dem  angehenden  Jüngling. 
Die  Jugend  ist  dankbar  für  die  Belehimg,  die  ihr  das  Verständnis 
alter  und  neuer  Dichtwerke  erleichtert  und  klärt.  In  der  Mittheilung- 
historisclier,  archäologischer,  sprachlicher  und  technischer  Bemerkun- 
gen ist  aber  Mass  zu  halten,  damit  ihre  Fülle  nicht  die  Anschauung 
des  Gedichts  trttbe^  den  freien  Qennss  desselhen  stOre,  das  im  Gemüth 
aoflodemde  Feuer  der  Begeisterung  mit  dem  kalten  Wasserhade  des 
kritischen  Verständnisses  auslösche. 

Das  spätere  Leben  bringt  Abkflhlung  genug;  auch  f&r  den  wärm- 
sten Idealisten  kommen,  wie  ich  das  bereits  angedeutet  habe,  Momente 
blasirter  Abspannung.  Solche  Momente  gehen  aber  vorttber  und  wer- 
den um  so  leichter  fiberwnnden,  als  wir  den  Schatz  jugendlicher  Be- 
geisterung als  ein  in  den  Tiefen  unseres  Gemüthslebens  brennendes 
Feuer  gerettet  und  auf  Zinsen  angelegt  haben. 

Man  hat,  und  nicht  mit  Unrecht,  als  das  Hauptheil-  und  Vorbeugungs- 
mittel wider  die  Blasirtheit  die  Arbeit,  angestrengte  Arbeit  empfoh- 
len. Aber  die  Arbeit  allein  thut's  doch  nicht,  wenn  es  an  der  ersten 
Hälfte  des  Gebots:  ora  et  labora!  felilt.  Beides  muss  allezeit  zusammen- 
wirken, wenn  es  Eifolg  haben  soll.  Nur  verstehe  man  unter  dem 
„Beten''  nicht  das  blosse  Herr-Herr-Sagen,  sondern  die  ideale  Rich- 
tung des  innern  Menschen,  der  es  gelernt  hat,  ans  den  lYübungen 
des  Erdenlebens  den  Blick  emporzurichten  auf  jene  alles  umfassende 
und  alles  klärende  Macht,  die  Uber  den  Wolken  thront  und  doch  nicht 
fem  ist  einem  Jeglichen  unter  uns,  sintemal  wir  in  ihr  leben,  weben 
und  sind.  Dieses  GottesgefQhl  im  Herzen  fest  zu  gründen,  dass  es  den 
sterblichen  Menschen  trOste  und  stärke,  wenn  er  kleinmflthig  verzagen 
mochte,  aber  auch  demttthig  und  bescheiden  mache,  wenn  er  in  eitler 
Überhebung  und  Myoler  Willkür  sich  gegen  das  Gesetz  des  Allgemei- 
nen aufbäumen  möchte:  dafßr  hat  ein  christlicher  Religionsunterricht 
zu  sorgen,  der  jedoch  sein  Ziel  nur  dann  erreichen  wird,  wenn  er  sich 
ebenso  fern  hält  von  unzeitigem  und  vorzeitigem  Vernüntteln,  wie  von 
unverstandenem  Herbeten  der  Katechismnsformeln,  die  nur  im  Gedächt- 
nis hatten,  das  Gemüth  aber  nicht  erwärmen  und  erbauen. 


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Wiener  Cfeschichten. 

Vm  Dr.  ITriedrich  Dütes, 

vm. 

Die  Oommission  beeilte  sich  keineswegs  mit  der  Ausfahrung  ihrer 
am  1.  M&rz  geschöpften  Sentenz.  Meine  Leser  müssen  sich  also  ein 
▼enig  gednlden,  bevor  sie  von  dem  weiteren  Fortgang  der  (schichte 
hAreiL  Inzwischen  will  ich  ihnen  einige  »Kundgebungen  Torffthren, 
weldie  wfthrend  der  Krisis  ausserhalb  der  gemeinderithlichen  Kreise 
erfolgten. 

Das  „Vaterland**,  der  Zeit  das  Journalistische  Hauptorgan  der 
UsrikalrreactionAren  Partei  in  Östendch,  entwidcelte  in  den  Tagen 
der  besprochenen  Gommissionssitzangen  eine  eiftige  Thätigkeit  Es 
definirte  das  Pädagogium  als 

,genes  seltsame  Institut,  welches  die  Stadt väter  Wiens  in  der  Sturui- 
«nd  Drangperiode  des  himmelBtfirmenden  FortsdiritteB  «im  Zwedra  der  Ent- 
diilitliehimg  unserer  Volkasohallehrer  and  damit  auch  onserer  Jugend  nnd 
toZekonft  miseres  Volkes  geachaüm  haben!'* 

An  dieses  Urtheil  knüpfte  das  Vaterland  folgende  Fragen: 

„Hat  die  Stadtyerwaltiuig  das  fiecht,  ihren  VolksMdmllehrentoiid  durch 
Henn  Dittes  in  schroffen  Widersprach  mit       christlichen  Übenengnngen 

unseres  Volkes  zu  bringen?  Hat  diese  Stadtverwaltung  das  Recht,  die 
Kinder  des  katholischen  Volkes  kraft  des  Schalzwanges  in  solche  Scholen 
zn  pressen,  die  von  dem  Dittes'schen  Geiste  iiificirt  sind?  Verträgt  sich 
di*'s»'r  Zwang  zur  Irreligiosität  unserer  Kinder  mit  dem  Rechte  der  Eltern 
auf  ihre  Kinder,  mit  dem  Rechte  der  Kirche  auf  ihre  getauften  Mitglieder, 
mit  dem  Rechte  des  Staates  auf  religiös-sittlich  gebildete  Angehörige?" 

Zur  Begründung  seiner  Anklagen  brachte  das  „Vaterland"  spalten- 
lange Citate  aus  dem  sechsten  Abschnitt  meines  ,,Grundriss  der  Hr- 
ziehungs-und  Unterrichtslehre",  woran  es  noch  folgende  Fragen  kniii)f  te: 

,,Glaubt  die  Verwaltung  der  Stadt  Wien  wirklich,  dass  sie  das  Kechi 
hat.  die  Kinder  katholischer  Eltern  in  Schulen  zu  zwingen,  die  von  solchem 
Geiste  durchdrungen  sind  ?  Glaubt  sie  das  Recht  zu  haben,  für  den  Unter- 
bit dnea  solchen  Pftdagogiamsdhrectors  von  katholiBcfaen  Chiisten  Steuern 
m  erheben?' 


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—   500  — 


Ich  muss  es  Jedermann  überlassen,  den  citirten  Abschnitt  im 
Originale  nachzulesen  und  sich  ein  Urtheil  über  denselben  und  ül>er 
die  Ergüsse  des  „Vaterland"  zu  bilden.  Als  Thatsaclien  erwähne  ich: 
dass  erstens,  wie  ich  aus  authentischer  Quelle  weiss,  das  österreichische 
Ministerium  des  Cultus  und  öftentlichen  Untemchtes  vor  meiner  An- 
stellung in  Wien  meinen  „Grundiiss''  geprüft  und  in  demselben  keinen 
Anlass  zur  Einsprache  gegen  meine  Berufung  gefunden  hatte  (  woraus 
meines  Erachtens  folgt,  dass  alle  von  meinem  religiösen  Standpunkt 
hergeleiteten  Angriffe  auf  meine  Stellung  illoyale  Recrirainationeii 
waren);  dass  zweitens  der  Religionsunterricht  in  den  katholiscfaea 
Schulen  Österreichs  gesetzlich  der  „Kirche'',  nicht  aber  den  weltlichen 
Lehrern  überwiesen  ist;  dass  drittens  von  meiner  Seite  bezüglich  des 
Religionsunterrichtes,  wie  aller  anderen  streitigen  Angelegenheiten,  der 
Hörerschaft  stets  der  Grundsatz  dngeprägt  worden  ist,  dass  gesetx- 
Uche  Bestimmimgeii,  audi  wenn  man  sie  gnmdsätdieh  nicht  büligen 
kann,  in  der  Praxis,  unbeschadet  der  persOnUchen  Oherzeugung,  so 
lange  geachtet  werden  mflssen,  als  nicht  anfgehoben  oder  abgeändert 
sind;  und  dass  viertens  die  aus  dem  Pädagogium  hervorgegangene 
Lehrerschaft  sich  niemals  stOrender  Eingriffe  in  den  Beligionsunter^ 
rieht  schuldig  gemacht  hat  (aus  welchen  drei  letzten  Punkten  meines 
Erachtens  folgt,  dass  alle  mit  Hinweis  auf  meine  Lehrthätigkeit  unter- 
nommenen Aufreizungen  der  katholischen  Eltern  und  katholischen 
Christen  ungerechtfertigt  waren). 

Dennoch  folgte  den  Weckrufen  des  „yaterland**  ein  vielftelies 
Echo.  Alle  in  Wien  und  in  den  österreichischen  Provinzen  erschei- 
nenden klerikalen  Blättchen,  ja  auch  die  in  verschiedenen  Ländern  des 
deutschen  Reiches  bestehenden  Pressorgane  gleicher  Farbe  stinmiteu 
in  den  Ton  des  „Vaterland'*  ein,  indem  sie  noch  aus  eigenen  Mitteln 
etliche  Schmiiliungen  liinzuthaten.  In  ultramontanen  Ver<nnsvei-samm- 
lungen  und  selbst  von  Kanzeln  herab  wurde  «.^'i^tMi  midi  und  das  Pä- 
datrogium  in  der  heftigsten  Weise  declamirt,  und  all  dit-st-n  lauten 
Agitationen  gingen,  wie  ich  mich  sattsam  überzeuL'-cn  konnte,  die  ge- 
hässigsten Einflüsterungen  in  stillen  Kreisen  zur  Se.iU'. 

Nieraals  hat  die  Tagespresse,  oder  die  Kommission  des  Pädag-o- 
giums,  oder  dei-  ( ienicinderath  irgend  eine  Aufklänmg  gegeben,  welche 
diesem  dunklen  Treiben  hatte  Einhalt  thun  können.  Ja  gera^le  in 
derselben  Zeit,  da  das  „Vaterland''  sammt  Heerbann  diesen  neuesten 
Feldzno:  fuisfühi-te,  trat  auch  ein  Theil  der  ,.libei  ;ilen"  Presse  mit  den 
ärgsten  Invectiven  hervor,  und  zu  derselben  Zeit  ¥nirde  im  Genieinde- 
rath  das  Schlagwort  verbreitet,  das  Pädagogium  sei  ein  „Herd  des 


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* 

—  ÖOI  — 

Atheismus".  Ausgegeben  wurde  dieses  Schlagwort  von  einem  als  rela- 
tiv sehr  freisinnig  geltenden,  dabei  persrtnlich  beliebten  und  wegen 
seiner  socialen  Stellung  in  gewisser  Hinsicht  tonangebenden  Mitgliede 
des  Gemeinderathes,  und  so  musste  der  bedenkliche  Ausspruch  schwer 
ins  Gewicht  fallen.  Der  schliessliche  Erfolg  alles  dessen  konnte  im 
Hinblick  auf  die  wieder  zur  Macht  gelangte  kircliliche  und  politische 
Reaction  nicht  zweifelhaft  sein.  Denn  wenn  auch  der  Wiener  Gemeinde- 
ratb,  welcher  ja  noch  immer  „liberal"  war,  sich  nicht  entschliessen 
konnte,  mir  direct  zu  sagen,  dass  ich  nicht  mehr  in  die  Zeit  passe, 
so  hätte  ich  doch  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  aus  eigenem 
Entschlüsse  zurücktreten  mQssen  —  nm  des  öffentlichen  Friedens  willen. 
Alles  Andere  war  Nebensache,  wie  stark  es  anch  in  den  Vordergrand 
gestellt  werden  mochte.  Wie  viele  Schwierigkeiten  und  persönliche 
Spannungen  man  aach  geflissentlich  erzengt  hatte,  wie  mannig&che 
Nebenactlonen  anch  gelegentlich  der  Hanptaction  in  Scene  gesetzt 
wurden,  welch  zahlreiche  verhaltrae*  Anliegen  nnd  Bittemisse  sich 
anch  zn  guter  Stunde  Luft  zu  machen  suchten  —  alles  diente  letzt- 
lich der  einen,  unter  allen  Wendungeu  und  Wandlungen  bestflndig 
gediehenen  StrGmung  und  war  nnr  geeignet,  den  Kernpunkt  des  Con- 
flictes  schwachen  Augen  zu  verhfiUen.  Es  wäre  sicherlidi  ein  Irrüinm, 
wenn  Jemand  meinte,  der  Wiener  Gememderath  habe  üi  seiner  Majo- 
rität wissentlich  nnd  absichtlich  der  clericalen  Partei  gedient. 
Eme  nnlengbare  Thatsache  aber  ist  es,  dass  er  dieselbe  hat  ungestört 
gewähren  lassen,  und  dass  er  ihr  in  seinem  eigenen  Schosse  eine  wiik- 
same  Action  ermöglicht  hat. 

Inzwischen  dauerte  auch  in  Lehrerkreisen  die  Bewegung  fort, 
welche  in  dem  Memorandum  vom  13.  Februar  Ausdruck  gefunden 
hatte.  Durch  zahlreiche  Briefe,  Adressen  und  persönliche  Ansprachen 
wurden  mir  die  lebhaftesten  Syinpathieen  ausgedrückt;  kleinere  und 
grössere  Vereine  fassten  Resolutionen  im  Sinne  jener  ersten  Kund- 
gebung; die  pädagogische  Presse  ging  in  gleicher  Richtung  voi-.  Ks 
ist  mir  zweifelhaft  gewesen,  ob  es  schicklich  sei.  von  den  zahlreiclien 
Artikeln,  (hucli  welche  die  Scliulzeituugen  mit  der  wäi-mst^n  An- 
erkennung tür  mich  eintraten,  einige  in  diese  Mittheilnne:en  aufzu- 
nehmen. Nach  langem  Zögern  habe  ich  mich  im  bejalienden  JSinue 
entschieden,  weil  ich  glaubt«,  meine  Geschichte  müsse  dem  Grundsatze 
Rechnung  tragen:  audiatur  et  altera  pars,  und  zugleich  für  die  Za- 
knnft  constatiren,  wie  sich  in  einer  für  die  österreichische  Lehrer- 
schaft so  wichtigen  Sache  die  österreichischen  Lehrerzeitnngen  ver- 
halten haben;  auch  wollte  ich  mehien  zahlreichen  Freunden  in  der 

FadagDgiiiBi.  i.  Jtiug.  Haft  VIU.  83 


Digitizod  by  Goüßlc 


—   502  — 


Feme  zeigen,  dass  icli  in  schweren  Zeiten  keines we^fs  verlassen  ge- 
wesen V)in.  Was  meine  personlielie  Stellung'  zu  allen  aus  Lehrerkreisen 
lit'ivurgegangenen  Kun(lgel)ungen  betrittt,  so  habe  ich  dieselben  .so 
wenig  veranlasst  oder  beeintlusst,  wie  jene  aus  dem  feindlichen  Lager; 
insbesondere  habe  ich  mich  stets  jeder  Inspiration  der  pädagogischen 
(wie  aller  anderen)  Blätter  stnnirstens  enthalten,  weil  mir  immer 
daran  gelegen  war,  aus  der  unveitalsehten  öffentlichen  Meinung  Be- 
lehrung zu  sch()pfen.  Und  so  mögen  denn  einige  Artikel  aus  öffent* 
liehen  Blättern  hier  Platz  tinden. 

Bas  Wiener  Pädairosriiim. 

Wer  die  Kiitsteluiiijjsgeschichte  des  Wiener  Pädag-og^iunis  könnt,  der  weisg, 
dass  diese  Anstalt  als  eine  Trutzbarg  betrachtet  werden  kann,  die  der  Geist 
einer  neuen  Zeit  den  reaktionären  Gewalten  im  alten  Donanreiche  sozosagen 
vor  die  Nase  hingebant  hat  Was  geschehen  konnte,  um  die  Verwiridiehiiag 
der  Wiener  Lehrerbochsdiiile  sa  hliitertrdben,  das  ist  seiner  Zeit  geschehen. 
Aber  alle  Anstrengungen  waren  vergebens;  die  gewaltigen  weltgeschichtlichen 
Ereignisse,  die  sich  im  Jahre  1866  anf  den  Gefilden  Böhmens  ahg-espielt  hat- 
ten, wirkten  zn  niilchtis:  nach,  um  jenen  Elementen,  die  ihr  Ideal  in  der  Ver- 
gangenheit haben,  den  Triumph  über  ein  freisinniges  Begiimen  der  ^\'ienpr 
Bürgerschaft  zu  ermöglichen.  Dass  mit  dem  unabwendbaren  Ent«  und  Dastehen 
des  Pftdagoginms  die  Oef&hle  bitteren  Hasses  gegen  die  Anstalt  oieht  beiwu- 
gen  und  getilgt  sein  werden,  war  voraBsrosehen.  IMeae  GefUile  haben  sieh 
denn  auch  bei  jedem  Anlass  kundgegeben,  bald  in  Iiämischen,  bald  in  brutalen 
formen,  und  die  Agitation  prepren  das  schöne  Denkmal  eintf  durch  ihre  geistige 
Bewegung  i2Tt>sseii  Zeit  hat  keinen  Augenblick  g'eruht. 

Wer  wollte  behaupten,  dass  das  Pädagog^ium  von  den  vielseitigen  und 
vielartigen  Anfechtungen,  denen  es  seit  seinem  Bestehen  ausgesetzt  gewesen 
ist,  gar  nicht  berOhrt  worden  sei?  Wer  wollte  sich  zu  einer  solchen  Behaop- 
tnng  etwa  durch  die  bis  heute  noch  günaende  Frequenz  der  Anstalt  verieites 
lassen?  Die  stillen  Wasser  haben  gewQhlt  und  gespült  und  das  Werk  de^ 
p:est;ilt  untergraben,  da??  es  stürzen  kann  über  Nacht.  Das  Pjlda^;-o^uni  ist  pf- 
fahrdet,  ernstlich  fj-enUmli  t,  es  stellt  vor  einem  Wendepunkte  seines  Geschiek*?. 
Diese  Lage  ist  in  jenem  Aii.icenblieke  eingetivten,  da  der  Directnr  l)r.  Pittos 
erklärt  liat,  auf  seine  Lein  t iiätigkeit  verzichten  und  nur  noch  die  Leitung  der 
Anstalt  behalten  zn  wollen.  Denn  das  Fttdagogium  ist,  was  es  ist,  nicht  dnrdi 
den  Leiter,  sondern  durch  den  Lehrer  Dittes.  Ein  hervomgender  GfoA 
ttussert  seine  volle  Kraft,  einen  tief-  und  dnrchirreitenden  Einflnss  nur  im 
unmittelbaren  Verkehre  mit  seinen  Sehnlein:  wo  diest-  Unmittelbarkeit  des  Ver- 
kehrs durch  das  Eintreten  von  Substituten  l)est  itigt  oder  dü<  li  aut  kui7.e  Mo- 
mente und  ziitallii^e  (ieleg-enheiten  besehriiiikt  w  ird,  wie  dit  s  bei  der  Ver>vand- 
lung  eines  Lehrers  in  einen  Institutsleiter  immer  der  iall  ist,  da  wird  die  ao 
einer  Leuchte  für  die  Schüler  prSdestinirte  geistige  Potenz  mehr  oder  minder 
kalt  gestellt 

AVie  es  gekommen  ist,  dass  Dittes,  dieser  von  allen  seinen  Schülern  »• 
hoch  verehrte  Mann,  sich  seiner  gewohnten  nnd  segensreichen  Thfttigkeit  est* 


Digitizcü  by  Cjcjo^Ic 


—   503  — 


ziehen  will?  Wir  können  uns  diese  Frage  unschwer  beantworten.  Fast  alle 
Au£^iffe  gegen  das  PSdagogiam  yerbargen  und  verbergen  sich  in  Innüten 
gegen  den  Director  der  Anstatt  Man  weiss,  dass  in  demselben  Angenblicke,  da 

der  Direotor  von  seinem  Posten  weicht,  an*  h  Ii  '  Anstalt  ihren  Glanz  und  ihre 
Bedeutung  verliert,  denn  es  g-ilbe  tlir  den  Weichenden  keinen  vollwichtigen 
Ersatz.  Zweifellos  spriln^^en  auch  in  diesem  Falle  hundert  Kleiste  aus  den 
Büschen,  aber  den  Kleist  filude  man  nicht  mehr.  Drum  muss  dem  Dittes.  dieser 
ff  exotischen  Pflanze'',  die  so  schlecht  in  den  Kram  unserer  Reactionäre  passt, 
das  Leben  saner,  das  Wandern  Ideht  gemacht  werden.  Nnn  ist  der  Sobn  des 
vogtlandischen  Bauers  wol  eine  sfthe  Natur,  die  den  einmal  betretenen  Platz 
nicht  leicht  wechselt,  aber  schliesslich  hat  doch  jeder  Mensch  das  Verlangen 
nach  ruhii^en  Augenblicken,  und  zumal  ein  ^lann,  der  seine  Aufgabe  in  der 
Arbeit  auf  dem  friedlichen  Felde  der  Pädagogik  sucht,  mus.s  es  am  Ende  pein- 
lich empfinden,  ohne  Unterlass  verd.tclitigt,  geschmäht  und  verhöhnt  zu  werden. 
Wie  soll  er  sich  in  einer  solchen  Lage  Ruhe,  Sammlung  und  Freudigkeit  für 
sein  Lehramt  bewahren? 

Ja,  wenn  nodi  wenigstens  Di^nigen,  die  ihn  auf  seinen  Posten  gestellt 
haben»  die  seine  Arbeit  kennen  und  die  vor  allem  bemfiBn  sind,  ihm  gerecht  zu 
werden,  entschieden  für  ihn  einträten!  Aber  auch  daran  scheint  leider  viel  zu 
fehlen.  Durch  eine  Reihe  von  Jaliren  hat  er  aus  freiem  Entschlüsse,  ohne  da- 
für die  geringste  Eiitscliiiditrnng  zu  fnidern  oder  zu  erhalten,  im  Pädagogium 
den  Unterricht  in  den  pädagogischeu  Disciplinen  ertheilt.  In  seiner  Berufung 
M  von  der  ErlfUlnng  dieser  An^be  Iceine  Bede,  seine  Lehrthätigkeit  war 
Ton  allem  An&ng  an  eine  durchans  fretwfllige,  sie  wurde  ihm  lediglich  Tmi 
seinem  lauteren  Intetesse  f&r  die  Ausbildnng  seiner  Zöglinge  dictirt.  Der  Ge- 
meinde Wien  ersparte  er  dadurch  bis  zar  Stande  die  Besoldung  einer  Lehrkraft. 
Trotzdem  wurde  er,  als  er,  unter  den  Narh Wirkungen  einer  schweren  Krank- 
heit leidend,  um  einen  Urlaub  zur  Ausfiihrung  einer  Erholungs-  und  Studien- 
reise ansuchte,  mit  dieser  billigen  Bitte  abgewiesen.  Solche  Erfahrungen  mögen 
ilm  gekränkt  und  wesentlich  dazu  beigetragen  haben,  ihm  seine  Lehrthätigkeit 
zu  verleiden. 

Es  fragt  sieh  nnn,  was  der  Gemeinderath  thnn  wird.  Dass  Dittes  wirklich 
entschlossen  ist,  sich  in  den  Kreis  seiner  geschriebenen  Pflicht  zurückzuziehen, 

und  dass  die  von  ihm  abgegebene  Erklärung  kein  blosser  Sehrecksehuss  ist, 
kauu  gar  nicht  in  Zweifel  gezogen  werden.  Dass  aber  ein  Päd:igogiuiii.  in  wel- 
chem er  als  Lehrer  die  belebende  Kraft,  die  eigentliche  Seele  nicht  mehr  ist, 
keine  Bedeutung  mehr  hat,  sondern  anf  das  Niveau  einer  ganz  alltägliclien 
ForthOdnngsanstalt  herabehiken  mnss,  kann  ebensowenig  in  Frage  stehen.  Die 
BesBdier  des  Pftdagoginms,  ZOglinge  wie  H9rer,  geniessen  im  Gehalte  oder  bei 
Vorrückungen  gar  keine  Von  echte ;  wenn  sie  die  Anstalt  trotzdem  frequentiren, 
und  damit  unbestreitbar  materielle  Opfer  bringen,  so  geschieht  dies  einzig  und 
allein,  weil  sie  dort  den  T.ehrer  Dittes  tinden.  Unter  diesen  Umständen  ist  es 
denn  vi'Ulig  gerechtfertigt,  wenn  wir  sagen,  dass  es  sich  jetzt  um  Sein  oder 
Nichtsein  unsei-er  pädagogischen  Hochschule  handelt.  So  fasst  auch  die  Wiener 
Lehrersdiaft  die  Frage  auf,  und  daher  ist  in  Lehrericreisen  eine  gewisse  Be- 
unrohigung  eingetreten,  die  sich  in  einem  Appel  an  die  Stadtvertretung  Wiens 
dentlich  genug  kundgibt. 

Dass  der  Gemeinderath  noch  Mittel  und  Wege  finden  werde,  seine  eigene 

33» 


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—   504  — 


Schöpfung  vor  dem  Niedergange  zu  lj<'\valireii,  möchte  man  wünschen  und  kann 
es  doch  kaum  hoffen.  Es  ist  ein  seltsam  Spiel  des  Zufalls,  dass  das  Pädago- 
gium, welches  unter  reactionären  StrOmnngen  in  Hegieningskreiäen  ins  Leben 
trat,  bei  dem  V<irliuideiueiii  eben  solcber  Strömungen  anoh  vor  seinem  End» 
angelangt  aeheint  WSre  nicht  die  Gegenwart  dazn  angethan,  den  Gemeinde- 
rath  fUr  den  Fortbestand  und  die  Neubelebung  der  Anstalt  zu  erwärmea? 
Spriclit  au*i  der  ang'ebrochenen  Nacht  der  Reaction  nicht  die  eniste  Mahnung, 
durch  eine  zeitjremiisse  Reorganisation  des  Püdaijoiriums  den  iibennütliigen  .Schnl- 
stürmem  zu  beweisen,  dass  ihr  sinnloses  Wüthen  ge^en  das  Licht  der  Bildung 
an  dem  Willen  des  Volkes  zu  Schanden  werden  muss?  Gewiss;  aber  die  Zer- 
trfimmerer  der  Nenschnle  liaben  groeees  Glfidc,  das  Siegen  wird  ihnen  auch  in 
dem  Torliegenden  Falle  wol  nnr  an  leicht  werden.  J. 

(Freie  pftdag.  Blfttter  von  Jessen.  Wien,  19.  Febroar  1881.) 

Zur  FIdftgogiiimsfhige. 

Wer  hätte  das  gedaehtl  DasPftdagogium,  eine  Anstalt,  wie  sie  nicht  bald 
wieder  geschaffen  werden  dürfte,  ein  Institut,  das  die  Wiener  Stadtrertretong 

der  Eegierung  abringen  musste,  diese  Veste,  welche,  von  allen  Seiten  iim> 
stürmt  und  umbrandet,  unerschütterlich  feststand,  den  zahlreichen  Feinden  zu 
Trotz  sich  entwickelte,  blühte  und  herrliche  Früchte  trug.  —  dieses  Institut 
«  soll  nun  mit  einem  Male  in  Nichts  zerfallen,  soll  autliören  zu  bestelu-n,  zu 
sein,  —  denn  die  Seele  dieser  LehrerhochBchule,  Dr.  Friedrich  Dittes,  hat 
erkUrt,  er  wolle  die  ganze,  volle,  ihm  rücksichtslos  anfgebfirdete  Last,  wie  sie 
flieh  im  Lanfe  der  Jahre  gestaltete,  nicht  iSnger  tragen. 

Die  Lehrerschaft  Wiens  berShrte  dies  'wie  ein  Blits;  sie  znckte  znsanh 
men,  wie  man  erbebt,  wenn  man  plötslich  vor  einem  grossen  Ereignisse,  vor 
einer  drohenden  (Gefahr  steht. 

Die  Taye.  in  denen  der  ^Vienel•  (Temeindt  ratli  die  Errichtung  de.«;  l'uda- 
gogiums  berieth,  werden  wol  allen  Denen  in  iubhulter  Lriunemug  bleiben,  die 
sie  miterlebt  Unsere  Stadtvertretong  war  damals  von  einem  hobea  Geiste  be> 
seelt,  es  fielen  Worte,  ertSnten  Beden,  die  tausendfachen  Wiedeihall  Auidea  in 
den  Herzen  deijenigen,  welche  ein  Verständnis  für  die  Schule  nnd  die  Sache 
des  Volkes  hatten.  Die  Leetüre  des  Sitzungsberichtes  aus  jener  sehr  bewegten 
Zeit  müsste  viele  der  gegenwilrtigon  Gemeinderätlie,  <lie  dem  Piidagrocrinm  feind- 
lich gegenüberstehen,  vollstiindig  umstimmen:  sie  müssten  einsehen,  das^  rs  <  in*- 
unabweisbare  Pflicht  der  gegenwärtigen  Stadtvertretung  ist,  diese  Aiiitait,  iiir 
die  sich  seineraeit  die  Besten  bemfihten,  die  einen  der  Glanzponkte  bildet  fai 
der  Beihe  der  Sch9pftmgen  der  Wiener  Commune  nnter  allen  Umstlnden  sa 
halten  und  zu  stützen. 

Mahnt  denn  die  jetzige  Zeit  nicht  an  jene,  in  welcher  der  Keim  gelegt 
wurde  zu  dem  Werke,  dem  jetzt  das  Ende  bereitet  werden  soll?  Wie  damal:? 
fUhlt  man  auch  lieute  den  Druck  auf  die  iTeister;  schwül  ist's  überall,  unheim- 
lich, Niemand  weiss,  was  werden  soll,  was  kommen  kann,  und  Jeder  tlirdiiet 
das  Schlimmste.  In  solcher  Zeit  braucht  der  Mensch  einen  Hort,  eine  ftsls 
Borg,  anf  die  er  vertraut,  die  den  StIInnen  an  trotaen  vermag!  Wird  ans  diese 
in  Zukunft  bleiben?  Werden  die  Lehrer  in  kfinftigen  Tagen  eine  Stätte  haben, 
wo  ihnen  das  Evangelium  der  Freiheit  gepredigt  werden,  der  nnverfiUachie 


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—  öOö  — 


Born  der  \Vissen>icliaft  quellen  wird?  Werden  sie  eine  Sültte  haben,  wo  sie 
Erholung  und  Trost  linden  nach  des  Tages  Mühen  und  bitteren  Lasten? 

Wer  kann  die  Frage  beantworten?  Das  Pädagogium  ist  Dr.  Dittes  — 
md  wenn  Dittes  gellt,  so  ist  das  Pädagogium  nloht  mebrl  Atier  Dittes  wird 
nicht  gehen,  kann  und  daif  es  nicht.  Dittes  ist  krank;  er  hat  seine  Kzftfte 
dnreb  Überanstrengung  aufgerieben,  er  bedarf  der  Buhe»  Erhdnng,  Sammlung. 
Man  war  im  Outen  nicht  zn  bewegen,  dem  Manne,  der  sich  vollständig'  hin- 
geopfert,  Zeit  zu  gönnen,  seine  Gesundheit  wiederherzustellen;  er  musste  den 
Schritt  thun,  seiner  selbst  und  seiner  Anstalt  willen. 

Die  Lehrer  Wiens,  die  durch  ihr  Memorandum  an  den  Gemeinderath  be- 
wiesen, dass  sie  wissen,  was  sie  an  dem  Pftdagogiom  und  an  Dittes  haben, 
BilSgen  die  yer8iclierang>  hinnehmen,  dass  ein  Mann  wie  Dittes,  der  an  Leib 
snd  Seele  Lehrer  ist,  es  auf  die  Daner  nMt  verMe^t,  seinem  Bemfe  zu  ent- 
sagen, und  es  ist  mit  Bestiniintliejt  anzunehmen,  dass  Dittes,  wenn  die  Ver- 
hältnisse geregelt,  seine  (Tosundheit  wieder  hergestellt  und  dem  Piidfig-oginm 
eine  gesunde  Basis  geschalten  sein  wird,  auch  seine  Lehithätigkeit  wiedei-  auf- 
nehmen werde. 

Hoffen  wir,  dass  im  Qemefaiderathe  noch  ein  Funke  jenes  Geistes  glimmt, 
dar  das  PSdagoginm  ins  Leben  gemfen;  hoffen  wir,  dass  die  Stadtyertretnncr 
Wiens  den  Hnth  haben  werde^  der  gegenwärtigen  Zeitströmnng  energisch  ent- 
gegenzutreten und  zn  sorgen,  dass  eine  der  grossartigsten  Schöpfungen  nicht 

ein  Opfer  der  Keactiou  werde.  F.  W. 

(Österreichs  Nenschnle  von  J.  Umlaoft  Wien,  26.  Februar  1881.) 

In  Sachen  des  Pädagog:iums. 

Zu  denkbar  ungünstigster  Zeit  haben  sich  die  stetigen  Disharmonien  zwi- 
schen dem  Leiter  des  Pildagoginms  und  dem  Gemeinderathe  zu  einem  offenen 
Confliete  zugespitzt;  in  ungünstigster  Zeit,  denn  heute  ist  die  (iefilhrdung  des 
in  Zeiten  freieren  Dranges  Geschaffenen  ein  Unglück  für  die  Sache  der  Schule 
ftberhanpt,  und  mehr  wie  je  stehen  die  Feinde  des  Fortschiittes  bereit,  jeden 
Hingiiff  oosanniltsen  nnd  jeder  Schüdignng  des  modernen  Schnlwesens  sich  zn 
erfrenen,  wenn  hierzu  von  sogenannten  liberalen  Männern  Hand  angelegt  wird. 

Dass  der  Rücktritt  Dittes'  vom  Pädagogium  oder  gar  die  Auflassung 
dieses  Institutes  soiilimmer  wilre  als  Manches,  was  die  letzten  Jahre  an  blossen 
Cnaniiilinilirlikeiten  oder  wirklirhem  Nachtheile  gebracht  haben,  steht  ausser 
Zweitel.  Nur  unverzeihlicher  Selbstdüukel  kann  Lehrer  —  und  es  gibt  deren 
—  gegen  die  Notfawendigkelt  des  Pldagogiums  sprechen  lassen.  Für  Nieman- 
den besteht  die  Wahrheit  der  Sentena:  „Stillstand  ist  Bfickschritt"  mehr  an 
Becht,  als  für  den  Lelirer  und,  wenn  man  von  einem  allgemein  gebildeten  Men- 
schen verhingt,  dass  er  mit  den  Fortschritten  auf  allen  Gebieten  menschlichen 
Wissens  und  Leistens  wenigstens  insofeni  Schritt  halten  müsse,  dass  ihm  die 
bahnbrechenden  Nt  iierungen  nicht  unbekannt  bleiben,  so  treten  wir  mit  dieser 
Anforderung  gewiss  au  den  Lehrer  in  erster  Linie  heran.  Er  hat  aber  überdies 
noch  speciell  den  amtthrlich  bei  dem  Bisneiifleisse  viel  tansender  Arbeiter  auf 
äussern  Gebiete  sich  mehrenden  HUÜmpiwrat  der  Schnle  kennen  an  lernen,  die 
Fcrtachritte  derllethodik  prüfend  zu  verfolgen  nnd  sich  eigen  zn  machen,  was 
ihm  von  Nntcen  dfinkt.  Noch  geht  aber  in  nnweiser  Forderung  voigeeetster 


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—  506  — 


Behörden  viel  zu  viel  Zeit  in  nutzloser  Schreilierei.  Ausifiillunf^-  von  Rubriken 
u.  s.  w.  verloren,  noch  sind  die  Lehrer-  und  Schulbibüothekeu  viel  zu  am  dotirt^ 
noch  gestattet  das  knapp  bemessene  Einkommen  dem  Lehrer  nicht,  einiger- 
masBen  aennenawerte  Antdiaffangm  tob  Bfiehern,  noch  zwingt  ilm  der  Kampf 
vm  die  Existenz  zn  zeitraubendem  Nebenerwerb  —  so  fehlen  der  U ehrzaJil  der 
Lehrer  Zeit  nnd  Mittel  zu  gredeihlichar  Fortbildung.  Da  ist  es  denn  Sache 
einer  Stätte,  wie  das  Pädagogium,  auf  die  wirksamste  Weise  diese 
Fortbildung  des  Lehrers  zu  vermitteln  und  in  diesem  Sinne  ist  die 
Existenz  dieser  Anstalt  eine  Noth wt  ndifrkeit. 

Ein  solches  Institut  vermag  aber  nur  zu  gedeilieu  unter  der  Leitung  eines 
aelbttbewimten  llannes,  der  weiss,  was  er  wiU,  was  er  soll  and  darf.  Kebr 
als  anf  jedem  anderen  Gebiete  ist  es  anf  dem  des  Unteniehts  bedaneniswerty 
wenn  die  leitenden  Hftnner  je  nach  Gunst  und  Wind  System  und  Richtung 
ftndern.  Muss  es  heute  noch  als  erst  in  ferner  Zukunft  erreichbares  Ideal  gel- 
ten, dass  die  obei-ste  Unterrichtsbehörde  über  den  Parteien  stehend,  von  jedem 
Wechsel  unberührt,  einerlei,  ob  die  oder  jene  Partei  ans  Ruder  kommt,  stets 
nnr  als  unverändertes  Ziel  die  geistige  Bildung  des  Volkes  vor  Augen  habe,  so 
sollte  dies  Princip  doch  für  die  dnzdnen  grossen  Lehranstalten  seine  Giltigkeit 
haben.  In  solchem  Sinne  zn  wirken,  halte  ich  nnr  Dittes  fBr  bemfen.  Seheint 
es  mir  schon  ein  anfechtbares  Zugeständnis,  wenn  ich  zugebe,  es  dflrfte  in 
Österreich  ein  oder  der  andere  Schulmann  aufzufinden  sein,  der  in  i^agogi- 
sclier  Hinsirlit  Dittes  nahe  kSrae.  so  ist  es  doch  ausg-emacht.  dass  wir  Nie- 
manden lialx  11.  der  ebenso  selbstlos,  unabhängig,  unbefangen,  in  reiner  Hin- 
gebung tür  seinen  Beruf  zu  wirken  vermöchte.  Und  darum  wäre  der 
Abgang  Dittes'  vom  Pädagogium  ein  schwerer  Verlust. 

Dr.  Friedrich  Enaner. 
(Die  Volkssehnle  von  Katschinka.  Wien,  l.MSrz  1881.) 

Nehmen  wir  niiu  den  i^aden  un.serer  (jeschichte  wieder  auf.  Der 
geneigte  Leser  erinnert  sich,  dass  mir  die  Commission  am  1.  März  aus 
eigenem  Entschluss  einen  sechsmonatliclien  Urlaub  angeboten,  und  dass 
icli  derselben  kurze  Zeit  darauf  das  verlangte  Kranklieitszeugnis  über- 
reicht hatte.  iJie  Anüvltirenlieit  hätte  nun  sofort  erledi<2rt  werden 
können,  denn  nach  unserem  Statut  gehörte  die  „Urlanbsertlieilung  an 
den  Director  und  Vorkehrung  in  Krankheitsfällen  dessell)en"  unein- 
geschränkt und  bedinguuglos  in  den  Geschäftskreis  der  Uommission. 
Über  die  Competenz  derselben  konnte  also  kein  Zweifel  sein,  und  die 
fragliche  Massnahme  selbst  war  nach  dem  ärztlichen  Zeugnisse,  wel- 
ches jeden  £inwand  ansschloss,  in  der  That  auch  niemals  angefochten 
worden  ist,  yollkommen  gerechtfertigt.  Dennoch  trat  ein  dreiwöchent- 
licher Stillstand  ein,  und  ^ter  diente  die  ganze  Angelegenheit  nur 
'wiederholt  als  Stoff  zu  nnerquicklichen  Verhandlungen,  ohne  jemals 
erledigt  zu  werden.  Warum  die  Commission  iluv  Sache  nicht  durch- 
geführt, und  was  sie  wilhrend  der  erwähnten  drei  Wochen  gethaa 
hat,  weiss  ich  nidit  zn  sagen. 


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—  .507  — 


Am  23.  März  braclite  die  Wiener  „Presse"  uiitei-  der  Überschrift: 
„Debatte  über  das  P;idagogiuiir'  einen  lan<^(Mi,  selbstverständlich  ano- 
nymen Artikel,  welcher  sich  als  Bericht  über  eine  Tag-s  zuvor  abge- 
lialtene  „vertrauliche'*  Sitzung  des  (Tcmeinderaths  ausgab.  (Die  übiigen 
Zeitungen  enthielten  nichts,  was  dem  Inhalt  dieses  Artikels  ähnlich 
gewesen  wäre.)  Nach  den  Angaben  der  Presse  hätte  Dr.  Hoff  er  als 
Referent  ein  Schreiben  von  mir  vorgelesen,  in  welchem  ich  erklärt 
liabe,  dass  ich  meine  Lehrthätigkeit  einstelle  und  wegea  Krankheit 
um  einen  Urlaub  .nachsuche.  Diese,  durch  das  Zeugnifl  zweier  Ärzte 
bestätigte,  Krankheit  sei  eine  hochgradige  Nervenerregung.  Die  Majo- 
rität der  Commission  beantrage  nun  einen  sechsmonatlichen  Urlaub.  — 
Die  Leser  kennen  den  Inhalt  der  hier  citirten  Schriftstücke  und  sehen 
sofort»  dass  sowol  meine  Eingabe  vom  1.  Februar  (eine  andere  konnte 
nicht  gemeint  sein),  als  auch  das  ftntUche  Zeugnis  entstellt  war.  Das 
diese  Ffllschungen,  wie  man  nach  der  Presse  hfttte  glauben  mflssen, 
Ton  HoiFer  herrühren  soUtoi,  kann  kelnes&Us  angenommen  werden. 
Sie  mfissen  also  da»  Werk  eines  anderen  „Beferenten^  gewesei  sein. 
—  Nach  Hoffer  habe,  wie  die  Presse  ai^iab,  Dr.  Efihn,  wol  der  Mino- 
litfttsreferent,  das  Wort  ergriffen  nnd  Folgendes  gesprochen.  Die 
Commisgion  sei  Ton  mir  der  Vemachlftssigung  ihrer  Pfdcfaten  beschnl- 
digt  worden,  hätte  dieselben  aber  stets  getreulich  erfttllt;  erst  seit 
S^tember  sei  sie  nidit  mehr  im  Pfidagogium  erschienen,  wefl  sie  ge- 
Archlet  hätte,  mit  dem  Director  in  Gonflicte  zu  gerathen.  Die  eigent- 
liche Ursache  des  Zerwfirfhisses  sei  die  Berufung  Pommers  gewesen, 
dem  ich  selbst  anfangs  das  grösste  Lob  gezollt,  an  dessen  Stelle  ich 
aber  dann  einen  meiner  Freunde  empfohlen  hätte.  Seit  der  Entschei- 
dung zu  Gunsten  Pommers  hätten  die  Conflicte  zNvisehen  der  Commis- 
sion und  dem  Director  begonnen.  Dieser  hätte  in  einer  Versamiiilung 
von  Zöglingen  erklärt,  dass  ihm  der  Gemeinderatii  ein  Provistjrium 
aufgedrängt  habe.  Auch  sei  es  nun  zu  Reibungen  zwischen  Pommer 
und  seinen  Colles^en  (den  Professoren  des  Pädagogiums)  gekommen, 
ebenso  zwischen  Pommer  und  den  ..Schülern",  die  ffejren  ihn  gehetzt 
worden  seien;  Pommer  habe  viele  Unaniieliiiiliclikeiteu  und  Intriguen 
eitraijen  müssen,  ich  aber,  der  Director,  habe  von  der  Hetze  L'-egen 
ihn  Kenntnis  gehabt,  und  dieselbe  sei  nicht  gegen  meinen  A\  illt  ii  in 
Scene  gesetzt  worden.  Nachdem  dies  in  Foljre  der  einireleiteten  Unter- 
suchung (hiermit  konnten  nur  die  Conlerenzen  vom  17.  Februar  und 
1.  März  gemeint  sein)  ronstatii-t  gewesen  wäre,  hätte  ich  plötzlich 
erklärt,  ich  sei  nicht  verpflichtet,  Vorträge  zu  halten  und  stelle  raeine 
Lehrthätigkeit  ein.  Anch  hätte  ich  erklärt,  das  Pädagogium  sei  des- 


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—   508  — 


organisirt  und  unhaltbar,  hätte  fenier  die  Professoren  des  „Schwänzt  iis - 
beschuldigt,  dann  aber,  als  ich  liätte  auf  Urlaub  gehen  wollen,  in  einem 
Briefe  erklärt,  dass  ich  midi  auf  die  Professoren  vollständig  verlassen 
könne.  Dies  alles  bestätige  in  derThat  die  hochgradige  Xervenen-egung 
des  Directors,  und  er  (Dr.  Kühn)  beantrage  daher:  1)  der  Directoi'  sei 
in  Ruhestand  zu  versetzen;  2)  es  sei  zu  untersuchen,  ob  das  Pädago- 
gium aufzuheben  <Mler  zu  reoruanisiren  sei.  —  Kndlich  sollte  nach  dem 
citirten  Artikel  der  ..Presse"  ein  drittes.  ni<'ht  zur  Kommission  des  Päda- 
gogiums geh(iriges,  Mitglied  des  (Temeinderathes  geäussert  haben,  der 
Director  habe  im  vorigen  Jahre  in  einer  Zuschrift  an  den  Gemeinde- 
rath (bezüglich  der  Remunerationsangelegenheit)  erklärt:  „Entweder 
wolle  man  seine  Lehrthätigkeit  belohnen,  dann  gebühren  ihm  800  Fl., 
oder  die  Gemeinde  sei  schon  so  tief  herabgekommen,  dass  sie  nicht 
mehr  die  2()<)  Fi.  besitze,  dann  habe  er  Mitleid  mit  der  Gemeinde  und 
schenke  ihr  den  ganzen  Betrag.**  — 

So  viel  böswillige  Entstellungen  und  Erfindungen  hatte  ich  kaum 
Je  auf  ttnem  Blatte  vereinigt  gefünden.  Dies  konnte  unmöglich  die 
momentane  Leistimg  eines  Einzelnen,  es  konnte  nnr  die  Fracht  mehr- 
wOchentlfeher  Th&tigkeit  eines  ganzen  Gonsortiums  sein.  Die  Frage 
war  nnr,  wie  man  diese  Leute  ansfindig  mach^  nnd  zor  Yerantwor- 
tnng  ziehen  kOnne.  Zu  diesem  Behufe  legte  ich  die  Angelegenheit  in 
die  Hände  eines  Bechtsanwalta,  des  Herrn  Dr.  Ennwald  in  Wim,  mit 
dem  Auftrage!  clen  Sachverhalt  zu  erforschen  und  die  eribrderiiclieD 
Sehritte  einzuleiten. 

Inzwischen  herrschte  im  Lehrkörper  nnd  in  der  Hörerschaft  des 
PAdagogiums  wegen  jener  öffientlidi  anfgesteUten  SdunShungeu  grosse 
Entrüstung  nnd  Aufregung.  Der  Lehricdrper  hatte  schon  am  3.  Ifibm 
unter  Anwesenheit  Pommers  bezüglich  des  Ck)nflictes  zwischen  diesem 
und  der  Hörerschaft  eine  Gonferenz  abgehalten  und  trat  auf  Anlass 
der  angeführten  Publication  wiederholt  zu  neuen  Berathungen  zu- 
sammen. Es  gingen  auch  Deputationen  desselben  zu  den  einzelnen 
Mitgliedern  der  Aufsichtscommission,  um  Aufklärungen  zu  verlangen 
und  zu  geben.  Insbesondere  suchte  man  von  Dr.  Kühn  bestimmte  Er- 
klänmgen,  eventuell  eine  öftentliche  Berichtigung  zu  erhalten,  welcher 
aber  ausweichend  antwortete.  Dr.  Pommer  gab  zwar  völlig  zu,  dass 
ihm  keine  Heibungen  und  überhaupt  keine  l'nannehmlichkeiten  vom 
Lehrkörper  bereitet  worden  seien,  war  aber  ebenfalls  nicht  zu  bewegen, 
der  „Presse''  eine  Berichtigung  zuzustellen.  Schliesslich  reichte  der 
Lehrkörper,  indem  er  sich  auf  die  ilin  berührenden  und  ihm  bekannten 
Punkte  bescluänkte,  folgende  Erklärung  bei  dem  Gemeinderathe  ein. 


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„PKOMEMORIA. 

Das  Morgenblatt  der  „Presse"  vom  23.  d.  M.  bringt  einen  Bericht  über 
die  vertranliclie  Sitzung  des  Gemeinderathes  vom  22.  d.  M..  in  welchem  fol- 
gende, dem  Gemeinderathe  Dr.  Kühn  in  den  Mund  gelegte  Aussernngen  den 
unterzeichneten  Lehrköi-per  veranlassen,  nachstehende  Aufklärungen  zu  geben: 

1)  -Reibungen  zwischen  Dr.  Pommer  und  seinen  Collegen'*  haben  niemals 
stattgeifmiden,  wie  sich  aas  den  eigenen  Änsserungen  des  Dr.  Pommer  ergibt, 
üe  in  mehreren  im  Bedtxe  der  löblichen  Anfttehtsoommiedon  beflndlichen  amt- 
liehen Protokollen  niedergelegt  eind. 

2)  Von  „Intrignen"  nnd  „Verbetsongen''  der  Zl^linge  gegen  Dr.  Pommer 
iit  ons  nichts  bekannt. 

3)  Dirortor  Dr.  Dittes  hat  niemals  die  Behauptung  aufgestellt,  dass  die 
Professoren  schwänzen '* ,  und  hat  auch  uiemalf?  einen  Brief,  der  die  gegen- 
theilige  Behauptung  enthielte,  geschrieben,  weil  ein  solcher  Brief  gegenstands- 
los gewesen  wäre. 

4)  Bezüglich  der  angeblichen  „Desorganisation  des  Pftdagogiums "  haben 
die  ünteneichneten  ra  bemerken,  dase  in  der  Diadplln,  der  Frequenz  nnd  den 
Lelitimgen  der  Zöglinge  nnd  Hörer  ihnen  eine  nngflnstlge  Vetflndemng  nicht 
bemerkbar  geworden  ist.  Zngleidi  erklären  sie,  dass  zwiacben  dem  Director 
vnd  dem  nntenekdineten  Lehrkörper  stets  das  vollste  Vertrauen  nnd  das  beste 
Einyemehmen  bestanden  hat  und  noch  besteht 

Wien,  am  27.  März  1881. 

Beiling,  Doablier,  Haberl,  Kaaer,  Pünuinger, 
Bieck,  Umlauft. 

Ans  der  Hörerschaft  des  Pädagogiums  trat  am  25.  März  ein 
Comite  zn  einer  Berathung  zusammen.  Erst  viel  später,  im  December 
1881,  habe  ich  hierüber  Näheres  erfahren,  indem  ich  Einsicht  in  das 
Protokoll,  über  diese  Berathung  erhielt.  Dieselbe  war,  wie  ans  dem 
Ptotokoli  ersiclifUch  ist,  gründlich  nnd  streng  objectiT  mid  führte  in 
inen  Ponkten,  welche  überhaupt  in  d^  Gesichtskreis  der  Hörersdiaft 
fietea,  za  dem  Besnltate,  dass  die  dem  Herrn  Kühn  zugeschriebenen 
Behauptungen  „  unwahr  ^  „den  ganzen  Sachverhalt  entstellend^'eme 
»gftozUch  unbegründete  Verleumdung**  seien.  Bezüglich  des  Herrn 
Pommer  wurde  auch  hier  constatirt,  dass  er  selbst,  obwol  zn  spät, 
die  angeblichen  Beibungen  in  Abrede  gestellt  habe.  In  den  nächsten 
Tagen  gingen  denn  auch  aus  der  jHörerscliaft  Deputationen  zu  den 
Mit:,diediirn  der  Coramission  und  zu  mehreren  anderen  Gemeinderäthen 
am  die  ausgestreuten  Unwalirheiten  zu  widerlegen. 

Während  dem  hatte  sich  Dr.  Kunwald  bemüht,  über  den  Ursprung 
des  fraglichem  Artikels  in  der  „Presse''  Klarheit  zu  gewinnen.  In 
der  That  war  am  22.  März  in  einer  vertraulichen  Sitzung  des  Ge- 
meinderaths  die  bewusste  Urlaubsangelegenheit  auf  der  Tagesordnung 


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—   51Ü  — 


gewesen,  und  es  hatte  eine  längere,  schliesslich  Vfitagte  Debatte  statt- 
geftinden.  auch  liatten  die  genannten  Herren,  namentlich  Herr  Kühn, 
thatsächlicli  g('si)rtjchen;  aber  der  Wortlaut  ihrer  Reden  konnte  nicht 
festgestellt  werden,  da  über  „vertrauliche"  Sitzungen  keine  steno- 
gi'aphischen  Protokolle  aufgenonnneii,  geschweige  denn  verütfenilicht 
werden.  Es  konnte  daher  auch  niclit  mit  der  für  eine  gerichtliche 
Verfolgung  noth wendigen  Siclierlieit  constatirt  werden,  ob  die  in  der 
„Presse"  verötlentlichten  Reden  ihrem  Worlaute  nach  wirklich  gehal- 
ten worden  waren,  oder  ob  die  fragliche  Publication  auf  Entstellun- 
gen bei*uhe,  fiU"  die  die  Redaction  der  „Presse"  verantwortlich  sei. 
Diese  Schwierigkeit  der  Constatirung  des  Sachverhaltes  in  derartigen 
Fällen  macht  es  auch  erkl^irlich,  dass,  während  allerdings  schon  Ge- 
meinderäthe  gerichtlich  verurtheüt  worden  sind,  weil  sie  m  öffent* 
liehen  Sitzungen  Verleumdungen  vorgebracht  hatten,  Processe  auf 
Grund  von  Zeitungsnachrichten  über  „vertrauliche"  Sitzungen  des  G^€- 
meinderathes  den  Klägern  niemals  eine  Genugthnung  brachten.  Wenn 
in  solchen  FftUen  die  als  Zeugen  aufgerufenen  Mitglieder  des  Gemeinde- 
rathes,  wie  es  als  Grundsatz  empfohlen  wird  und  thatsftdüich  vor- 
gekommen  ist,  jede  Aussage  verweigeni,  so  Ist  der  Richter  ausser 
Stande,  den  Beleidigten  eine  Satisfaction  m  gewähren.  Unter  solchen 
Verhältnissen  rieth  mir  Dr.  Ennwald,  gerichtliche  Sehritte  Yorlinfig 
zu  unterlassen,  dagegen  eine  Eingahe  an  d^  Gemeinderath  zu  richten, 
um,  unter  energischer  Verwahrung  gegen  die  in  der  fraglichen  Ver- 
öffentlichung an  sich  liegende  ebenso  unanständige  als  unzulässige 
Indiscretion,  die  in  dem  „Pressen-Artikel  enthaltenen,  dem  Dr.  Eflhn 
in  den  Mund  gelegten,  ganz  unwahren  Beschuldigungen  zu  wideri^pen 
und  eine  uni»arteüsche  Untersuchung  zu  yerlangen.  Ich  stimmte  zn, 
und  Dr.  Kunwald  fiberreichte  die  Eingabe  am  28.  März  1881  dem 
BUi'germeister  mit  einem  besonderen  Schreiben,  in  welchem  derselbe 
ersucht  wurde,  fftr  die  eingehende  Prüfung  und  Verlesung  meiner  Ein- 
gabe im  Gemein<lerathe  Sorge  zu  tragen. 

Am  80.  März  erfolgte  im  Gemeinderathe  die  Fortsetzung  der 
-  vertraulichen  Sitzung  vom  22.  .Marz.  Diesmal  brachten  sämmtliclie 
Wiener  Zeitungen  Berichte,  und  zwar  lauteten  dieselben  in  allem 
Weseiitliclien  übcreinstiniinend,  so  dass  man  sie  wul  als  ziemlich  zu- 
treffend betrachten  "kann.  Subjective  Zuthaten  lieferte,  soweit  ich  mich 
erinnere,  iini-  die  ..Presse",  indem  sie  ihre  früheren  Auslassungen 
einigeruiassen  zu  bt^srlirniigen  suchte,  ihren  neuen  Notizen  Interpreta- 
tionen und  (ilossen  beifügte,  im  Ganzen  aber  zurückhaltender  war,  als 
früher.  Aus  den  übrigen  Blättern  ergab  sich,  dass  Dr.  Hof  er  seinen 


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—  611  — 

Antrag  auf  sechsmonatlichen  Urlaub  wiederholt  und  auf  die  oben  er- 
irSbnten  Eingaben  (vom  Lebrkörper  und  yon  mir)  hingewicfioi  hatte. 
Zur  Verlesung  ednd  dieselben  aber  nicht  gekommen.  (Ein  Mitglied  des 
Gemeinderathes  hat  mir  später  erzählt,  von  weicher  Seite  die  Ver- 
lesung hintertrieben  worden  sei ... .)  Als  Hauptredner  trat  diesmal 
Frieb  au(  weldier  nach  übereinstimmenden  Zeitungsberichten  äusserte: 
Er  wolle  von  der  Person  des  Dr.  Dittes  absehen  und  nur  die  Sache 
selbst  erörtern.  Er  (Frieb)  mfisse  als  ehrlicher  Mann  offen  gestehen, 
dass  er  als  Saulus  in  das  Pädagogium  getreten  sd,  dass  er  es  aber 
als  Paulus,  nämlich  bekehrt,  yerlassen  habe.  Es  müsse  anerkannt  wer- 
den, dass  die  Stadt  Wien  dem  Pädagogium  ihre  besten  Lehrkräfte 
▼erdanke.  Dagegen  leugne  er  nicht,  dass  das  Pädagogium,  wie  es  sich 
gegenwärtig  darstelle,  nicht  weiter  fortbestehen  könne.  Die  Anstalt 
müsse  von  Grund  und  Boden  aus  reformirt  werden.  Der  Vertrag 
mit  dem  Leiter  dürfe  kein  einseitiger  sein,  der  dem  Director  alle  Vor- 
theile, der  Commune  aber  alle  Nachtheile  zuweise.  Auch  müsse  in  Zu- 
kuutt  dem  Gemeinderath  und  dem  ^lagistrat  einc^  j^rössere  Ingerenz 
bezüglich  des  Pädagogiums  zukommen.  Deshall»  beantrage  er:  der  Ge- 
meinderath  bescliliesse,  dass  das  Pädagogium  fortbestehen,  aber  rtoi^a- 
nisirt  werden  solle.  —  Diese  Präpositionen  wurden  von  keiner  Seite 
bekämpft  und  einstimmig  angenommen.  Der  Antrag  auf  Urlaub  aber 
fand  keine  Annahme,  sondern  wurde  der  Rechtssection  des  (lenu-inde- 
rathes  ziu'  Begutachtunir  überwiesen,  welche  zugkieli  die  übrigen 
schwebenden  Angelegenheiten  prüfen  und  erörtern  solle,  ob  nicht  eine 
Disciplinaruntersuchung  einzuleiten  sei. 

Ich  meinestheils  konnte,  abgesehen  von  meinen  Gesundheitsver- 
Lältnissen,  alles  Weitere  ruliig  abwarten,  insbesondere  eine  gründliche 
Untersuchung,  um  welche  ich  ja  selbst  gebeten  hatte,  nur  wünschen. 
Die  Bede  des  Herrn  Frieb  und  die  einstimmige  Annahme  seiner  An- 
träge war  zwar  überraschend,  konnte  mir  aber  nur  zur  Genugthuung 
gereichen.  Niemand  wird  durch  logisches  Denken  begreifen,  warum 
eine  Anstalt,  welche  mit  dem  rühmlichsten  Erfolge  gewirkt  nnd  sogar 
ihre  Gegner  bekehrt  hat,  nicht  etwa  von  schwierigen  Verhältnissen 
befreit,  sondern  Ton  Grund  aus  reformirt  oder  reorganisirt  werden 
milsse,  ebensowenig,  warum  der  Wiener  Gemeinderath  jetzt  auf  einmal 
die  fernere  Erhaltung  des- Pädagogiums  votirte.  Die  unvermittelt  yor- 
gebradite  Kritik  des  zwischen  dem  Gemeinderath  und  dem  Director 
bestehenden  Vertrages  konnte  um  so  weniger  diesen  Stimmungsumschlag 
erklären,  als  sie  kemeswegs  zutreffend  war.  Es  bedarf  hier  also  noch 
einiger  Aniklärungen,  die  ich  demnächst  geben  werde.  Völlig  erident 


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—   512  — 


ist  aber  bereits,  dass  Frieb  v(»inials  entschiedener  (^egner  des  Päda- 
g-o^-iunis  gewesen  war  und  trciTzdem  eine  Stellung  erhalten  und  an- 
genonnnen  hatte,  welche  ihm  ausdriieklich  (laut  Statut)  die  ,,Sorge  für 
das  allgemeine  Gedeihen  der  Anstalt,  den  Fortschritt  und  die  Ent- 
wickelung  derselben"  zur  Pflicht  machte,  und  evident  ist  auch,  dass  die 
nunmehr  von  Frieb  gehaltene  Rede  an  inneren  Widersprüchen  litt 
Natürlich;  denn  gerade  ein  von  Natur  biederer  Charakter  ist  aus^.  r 
Stande»  onTereinbare  Gegensätze  in  sich  zu  einer  Einheit  za  verschmel- 
zen, so  dass  er  etwa  zugleich  ein  treuer  Priester  der  römischen  Kirche 
und  ein  liberaler  Gemeinderath  yon  Wien  sein  könnte.  Bei  einem  solr 
chen  Versuche  wird  immer  etwas  Unmögliches  herauskommen,  etwa  ein 
liberaler  Priester  oder  ein  panlinischer  Saulna.  ,,Zwei  Seelen  wohnen, 
ach,  in  meiner  Brost!'*  — 

Beseitigt  war  nun  aber  TorlAufig  JedeniiftUs  die  Gefthr  der  Auf- 
hebung des  Pädagogiums,  und  damit  hatte,  wie  ich  glaube,  meine  Aus- 
dauer einen  gewichtigen  Erfolg  erreicht.  Ein  SYeond  schöner  Worte 
hatte  einst  das  Pädagogium  mit  einer  Festung  und  den  Director  mit 
einem  Commandanten  verglichen.  Nun  wol:  wo  dieAltenrntive  gegeben 
ist,  ob  die  Festung  oder  der  Commandaat  fUlen  soll,  da  kann  flElr  den 
letzteren,  wenn  er  ein  rechtschaffener  Mann  ist,  kein  Zweifel  bestehen. 
Genug,  wenn  er  seine  Pflicht  gethan  hat;  die  Zukunft  muss  er  Ande- 
ren überlassen. 


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Die  Gymnastik  in  der  Volksschule. 

Von  Sckulitupector  Franz  TUak-Oguiin» 

L 

(»Iksbildiini?  int  Volksbefreinngr  und  Volksbe^lückiing:,  so  heisst  die 
Parole  mistTfi*  Tairc,  und  ein  intelliirentps  V(dk  ist  auch  ein  starkes  \'olk. 
Regrieruugen  und  (Temeinden  haben  die  tiefe  W'ulu'heit  dieser  Aussprüche  erkannt 
and  deshalb  für  eine  tüchtige  Bildung  der  Jugend  beiderlei  Geschlechtes  durch 
obligatorischen  TJnterricht  gesorgt.  Die  Schule,  diese  Pflanzst&tte  alles  Guten, 
soU  aber  nicht  in  einseitiger  Weise  anf  den  Qeist  wirken  nnd  darlber  den 
K5rper  veraachlässig-en,  sondern  Geistes-  und  Kilrperbildnng  sollen  Hand  In 
Hand  gehen.  Beiderlei  KrUfte,  geistige  und  körperliche,  sind  im  harmonischen 
Einklänge  zu  entwickeln  und  zu  fördern.  Schon  die  alten  Griechen  stellten 
den  Crrundsatz  auf:  „Nur  in  einem  gesunden  Leibe  kann  ein  gesunder  (nist 
walten"  und  betrieben  demgemttss  nebst  der  Bildung  des  Geistes  aucli  die  BU- 
dang  des  Leibes.  Die  Vortheile,  welche  ans  einer  harmonischen  Entwlckelnng 
des  Geistes  nnd  des  KSrpeis  erwachsen,  sind  handgreiflich.  Der  Geist  des 
heranwachsenden  Jünglings,  berolchwt  mit  nützlichen  tmd  schönen  Kenntnissen, 
soll  auch  über  einen  frischen  und  gewandten  Körper  nach  Willkür  vertagen 
können:  dadurch  werden  dem  Staate  Bürger  erzogen,  die  in  d'  n  Zeiten  des 
Friedens  als  ganze  Männer  ihre  Stellung  im  beruflichen  Lf^lun  austlillen.  und 
die  in  den  Zeiten  der  Noth  mit  Freuden  herbeieilen,  um  dem  Vaterlande  ein 
anTerzagtes  Herz  nnd  einen  rüstigen  Arm  zor  Verfügung  zn  stdlen. 

Um  nnserem  pädagogischen  Ghrnndsatae:  „Bilde  das  Kind  znm  Henschen** 
(rerecht  zu  werden,  mlBsen  wir  uns  angelegen  sein  lass^,  die  harmonische 
Eniwickelung  des  jungen  Staatsbürgers  nach  Kräften  zu  fördern.  Ich  bin  fest 
überzeugt,  dass  die  Mehrzahl  der  Lelirer  diesem  Ziele  nachstrebt.  Leider  gibt 
es  auch  noch  solche,  von  denen  der  T'nterricht  in  der  Schule  l)los  handwcrks- 
mässig  betlieben  wird.  Aus  meinen  Jugendjahren  erinnere  ich  mich  noch  leb- 
haft, dass  ich  Tom  Lehrer  eine  harte  Strafe  zu  erwarten  hatte,  wenn  ich  mich 
mit  meinen  MitschiUem  anf  der  grttnen  Wiese  oder  anf  einem  Weideplatze  an 
einem  der  nnscbiüdigsten  Kinderspiele  (Ballspiel)  ergdtzte.  Anf  die  entlegensten 
Orte  begaben  wir  uns,  um  dieses  harmlose  Vergnügen  ungestört  gemessen  zu 
können.  Wehe  aber  einem,  wenn  er  dabei  ertnpi»t  \\nrde.  Wi.-  berpits  gesagt, 
gibt  es  leider  noch  heutigen  Tages  Lclin-r.  \v«  l(  he  vidmelii'  den  Namen  „Schul- 
tyrannen'* verdienen,  vor  denen  die  anuen  Schulkinder,  wenn  sie  seiner  ansichtig 
werden,  wieWSde  daTonkttÜ»,  Thon  das  die  Kinder  yielleicht  aus  EhrAircht? 
0  gewiss  nicht,  sondern  ans  Furcht  vor  der  Strafe,  oft  der  entehrendsten  nnd 


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—   514  r- 

empfindlichsten  I  dnrch  deren  Anwendnng  jedes  edle  GeftUil  abgestumpft  and 
vernichtet  wird. 

II. 

Die  Vortheile  der  grymiiastisrhen  tlinngren  sind  unberechenbar  und  V'in 
grosser  Träg-weite  für  dir  culturelle  Entwickelun^  eines  Volkes.  Nun  könnte 
jemand  tragen,  warum  wir  nebst  der  Bildung  des  (ieistes  auch  die  Büduug 
des  Leibes  in  der  Schule  pflegen  sollen.  Anf  diese  Frage  antwortet  uns  die 
Physiologie:  »Wefl  wir  dadurch  das  Leben  unseres  Organismus  begfinstigea, 
die  Muskeln  kräftigen,  die  Verrichtungen  der  Haut  und  der  inneren  Organe 
regelmässig  gestalten,  Heiterkeit  des  Geniüthes,  Frische  der  Nerven,  Thatkraft 
und  eine  bessere  Lebens-  und  Weltanschauung  gewinnen."  Wer  die  regel- 
miissige  T'hiinir  des  Körpei^s  nnt^'rlässt.  verlang^anjt  die  Ausscheidung  der  im 
orgauisclien  Haushalte  verbrauchten  ^Stoffe,  begründet  dadui'ch  zahllose  Leiden, 
Terdfistert  das  Gemfith,  ttbenelit  und  sdiivieht  das  Kervensystem.  Hiermit  ist 
der  edatanteste  Beweis  geliefert,  dass  die  Gymnastik  eine  unumstiSssUcheNoth- 
wendigkeit  für  die  Entwickelung  des  Menschen  ist.  Vor  allem  bedarf  der 
Mensch  leiblicher  Gesundheit,  einer  festen,  starken,  widerstandsfähigen  Consti- 
tution, eines  glücklichen,  lieiteren  Temperamentes.  Ohne  diese  Güter  fb'icht 
sein  Dasein  jenem  einer  Pflanze,  die  im  Biumentuple  und  abseits  von  frischer 
Luft  und  Sonnenschein  dahinsiecht. 

Wii'  sehen  auch  bei  den  Thieren,  dass  sie  in  ihrer  Jugendzeit  gern  qne- 
len.  Da  hüpfen  und  springen  die  LSnuner  und  FfilleOi  üben  sich  im  Lanfio, 
um  ihre  Erftfte  su  stftrken.  Und  der  Mensch,  das  vollkommenste  Wesen  der 
SchapAing,  sollte  in  Trägheit  verkflmmem?  Das  wSre  Versfindigung  an  der 
Natur. 

Die  Wolthat  harmoniscliei-  Erziehung  an  Leib  und  Geist  ist  aber  nicht 
ein  Privilegium  des  milnnlichen  Geschlechts,  sie  muss  auch  der  weiblichen 
Jugend  in  gleichem  Masse  zu  Theil  werden.  Oder  sollten  unsere  Mädchen,  be- 
sonders die  Bewohnerinnen  der  Städte,  nicht  auch  unter  dem  Einflüsse  einseiti- 
ger Geistesbildung  zu  leiden  haben?  Gewiss!  Wer  kennt  nicht  die  gesteigerten 
Anforderungen,  welche,  hervorgerufen  durch  den  gegenwJlrtigen  Culturzustand, 
heutzntasre  an  die  Au.sbildung  der  Mädchen  gestellt  werden?  Bald  sind  es 
Sprachen,  bald  schöne  Künste,  welche  neben  den  gesetzlichen  Schulfilclieni  die 
geistigen  Kiätte  der  Mädchen  in  nicht  geringem  Masse  in  Anspruch  nehmen. 
Zu  all'  dem  kommt  noch  die  irrige  Ansicht,  als  ob  ein  frisches,  frohes  Herum- 
tummeln  und  Spielen  der  weiblichen  Jugend  den  Begriflisn  you  Sittsamkeit  md 
Anstand  diametral  entgegengesetzt  wSre.  —  Auf  meiner  im  Jahre  1872  untei^ 
nommenen  Studienreise  durch  Deutschland  und  die  Schweiz  besuchte  ich  nebst 
anderen  Anstalten  auch  überall  die  Turnschulen,  um  mich  von  dem  praktischen 
Werte  dieser  erst  in  neuerer  Zeit  ins  Leben  getretenen  Hihluiifrsstätten  zn 
überzeugen.  Überall  tratf'n  mir  die  Wolthaten  entgegen,  welche  die  Gym- 
na.sLik  aU>  Erziehungsnüttel  darbietet.  Ich  wohnte  z.  13.  in  Basel  dem  Turn- 
unterrichte fOr  Mädchen  bei,  welchen  der  ausgezeichnete  Turnlehrer  Herr 
Jenny  leitete.  Hier  konnte  ich  deutlich  sehen,  welchen  wolthfttigen  Einfluss 
dieses  Erziehungsmittel  auf  die  Kinder  verschiedener  Altersdassen  übt.  In  der 
Schweiz  ist  das  Turnen  des  weiblichen  Geschlechtes  schon  längst  in  Blüte,  und 
das  Herz  lacht  einem,  wenn  man  die  jungen  Mädchen  sieht,  wie  sie  alle 


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—  516  — 

Übungen  flink,  froh  und  sicher  ausführen.  In  (lersolVion  Anstalt  sah  ich  auch 
eine  Negerin,  welche  als  Sclavin  verkauft  und  von  einer  wolhabenden  Frau  in 
Basel  an  Kindeastatt  angenommen  worden  war.  Diesem  Kinde  sah  mau  an, 
mit  wdehttr  Freude  ee  die  Frei-  und  Gerftthfibnngea  ansflihrte.  Ee  war  ge- 
wIm  nicht  in  gUleklicheii  VerliaitiiiaBeii  anfgewacheeii,  londem  als  SclaTln  aller 
Freude  beraubt  gewesen,  and  doch  fand  es  Freade  an  gymnastischen  Übungen, 
weil  ^ie  Natur  nach  ihnen  verlangt. 

m. 

Hier  drängt  sich  die  Frage  auf:  „Wie  soll  die  Gynrnastik  in  der  N'olks- 
idnle  betrieben  werden?"  Nicht  das  handwerksmtoige  Turnen,  sondern  die 
wahre  und  eigentliche  GymnastÜL,  wie  die  alten  Griechen  sie  auffassten,  diese 

TOD  aUen  Seiltänzer-  und  AthleteDstüeken  freie,  den  Gesetzen  der  Natur  und 
Kunst  folgend»'  Leibesbewegung  veredelt,  verschrmort  den  ^lenschen,  macht  ihn 
gesund  und  sittenrein,  riliobt  den  Geist  und  liintoit  das  Hei-z.  macht  kräftig 
und  zu  besonnenem  Handeln  fähig-.  Üie  Athletik  ist  vorwerflich;  in  die 
Nationalerziehung  sie  aufzuuehmeu,  wäre  nicht  nur  bedenklich,  sondern  schäd- 
lich. Die  alten  griechiiehen  Athleten  waren  Biesen  anKuskelhraft  und  Gestalt, 
aber  Zweige  am  Geiste. 

Die  wichtigste  Voraussetzung  einer  jed«i  bestimmten  gymnastischen  Aus- 
bildung ist  ausser  der  Art  der  Muskelbewegung  selbst  eine  bestimmte  Diät. 
Diese  besteht  darin,  jede  übermässige  Anhiüifunjr  von  Stoften.  insbesondere  von 
Fett,  im  Organismus  zu  verhüten,  den  Leil)  an  Strapazen  zu  gewöhnen  und 
einen  hohen  Gi-ad  physischer  Widerstandskraft  zu  entwickeln.  Die  gymnasti- 
sche Endebung  der  Jugend  darf  nicht  auf  das  eigentliche  Turnen  sieh  be- 
schranken, sondern  mnss  alle  gymnastischen  Übungen  umfassen  und  darauf 
hinauslaufen,  alle  Kräfte  des  Menschen  harmonisch  zu  entwickehn.  Das  Tmnen 
an  den  Tomgeräthen,  das  Marschiren,  Schwimmen,  Fechten,  Hingen,  Laufen, 
Tanzen.  Springen,  Reden,  Rinern.  ^Insik.  —  dies  alles  {jehört  zur  Gj'mnastik 
und  macht  erst  in  seiner  (iesaiunithfit  die  walnv  (Gymnastik  aus.  Aber  alle 
diese  Übungen  bleiben  olme  entsprechende  allgemeine  Leibespflege,  ohne  einen 
wehrhaft  vergeistigten  und  praktischen  Unterricht,  endlich  ohne  Cultur  des 
Gemfithslebens  durch  den  Elnfluss  der  Moral  —  ein  Bruchstttck.  Wenn  äe 
Jugend  tftglich  die  schwierigsten  Tnm&bungen  vollzieht,  aber  dabei  keinen 
Gebrauch  maebt  von  erfrischenden  und  reinigenden  Bädeni;  wenn  sie  in  ihren 
Wohnnns'en  vei-pe.stfte  Lnfr  athmet  und  unter  dem  Einflnsse  der  Feuchtigkeit 
wie  des  I^ichtmangels  dahin  veg-etirt;  wenn  sie  einem  trnrkenen.  Ln'isitödtenden 
Unterrichte  preisgegeben  wird  und  unter  der  HeiTschaft  einer  .sc  hlechten  Moral 
aufwächst:  dann  nützt  ihr  auch  die  beste  Gymnastik  wenig;  dann  kann  nicht 
die  Rede  davon  sein,  dass  durch  systematische  Muskelbildung  die  Bace  ver- 
bessert, verschönert,  veredelt  werde. 

IV. 

Hier  dürfte  vielleiclit  jemand  die  Frage  aufwerf»  ii:  ..Wie  soll  man  e.s  an- 
stellen, um  dem  oben  Gesagten  (Genüge  zu  leisten?"  Darüber  sind  schon  ganze 
Btlcher  geschrieben  und  die  Ansichten  verschiedener  Pädagogen  in  verschiede- 
nen Abhandlungen  kundgegeben  worden.  Meiner  nnmassgeblichen  Ansicht  nach 
>oIlte  der  Tumplatz  alle  jene  Oeriithschaften  enthalten  und  der  Raum  des- 


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I 


—   516  — 

selben  so  beschaflen  sein,  dass  alle  obangetuhrU'ii  ^^yninastisiheii  iJbuugeu  auf 
demselben  stattüuden  köimen.  Die  verschiedenen  Turugeräthe  sollten  so  viel 
wie  mOglieh  anf  freloi  Plftteen  mit  trockenem  Sandboden  und  in  freier,  friseher 
Loft  anf^peeehla^  werden.  AUe  Übungen  aind  gut,  wenn  de  in  yenillnftiger 
und  systematischer  Weise  v<n^geno!mnien  werden ,  nicht  übermässig  ennttden, 
nicht  heftig  aufregen  nnd  erhitzen.  Auch  auf  die  Bekleidung  beim  Turnen 
muss  Rücksicht  genoininen  werden:  je  leichter,  desto  besser.  Turnen  mit  vol- 
lem Magen  ist  höchst  schädlich,  weil  es  die  Function  der  Verdannng  Ii«  innit, 
also  den  Ersatz  des  verbrauchten  Körperuiaterials  hindert.  Auch  das  Wasser- 
trinken nach  vorgenommenen  Tomfibongen  ist  schädlich,  nnd  das  Essen  ist 
erst  dann  einsronefamen,  wenn  sich  der  EQrper  dnreh  Robe  erquickt  hat  Nach 
GttrSthflbvngen  ist  es  am  besten,  eine  kleine  Promenade  mit  den  jungen  Tur- 
nen zu  machen.  Marschiren  nach  dem  Tact  der  Musik  und  dem  Sclila^i:'-  der 
Trommel  ist  eine  der  vorzüerlichsten  Bewegungen,  ein  herrlicher  .'Spaziergang 
bei  klingendem  Spiel!  Er  erfri.scht  den  Geist  und  macht  das  Gemüth  heiter, 
der  Schritt  wird  leicht,  das  Herz  wann.  Und  wenn  wii*  uns  leicht  und  heiter, 
frisch  and  gehoben  fthlen,  setzen  wir  aoeh  Aber*  manches  Widerwärtige  ms 
hinweg  nnd  besiegen  krankhafte  Geffthle.  Dazu  komme  Gesang  nnd  Dedsaa- 
tion.  Sie  sind  die  beste  Gymnastik  der  Sprachwerkseoge  nnd  tttrdienen  aaeh 
in  dieser  Beeiehnng  alles  Lob. 


Vornntwortlifibar  RedMtsw:  M.  Stein.  Baohdraekeni  Jnlia«  KU«kh«rdt,  Laiprig^ 

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Der  Pesslmismns  und  die  »Sittenlehre. 

Von,  Prof.  Dr.  Joh.  lieh mke-St.- Gallen. 
(FortsetBimg.) 

n.  Der  Fesflimlgmus  und  die  nttenlehre  in  Biiropa. 

Vom  indischen  Pessimismus  scheidet  sich  scharf  der  euro- 
päiisehe.  Jener  Hesse  sich  der  mikrokosmische,  dieser  der  ma- 
krokosmische Pessimismus  nennen.  Der  erstere,  so  verschieden 
er  sich  auch  wieder  im  Brahmanismus  und  Buddhismus  zeig^t,  ist  in 
beiden  Fällen  auf  den  Mikrokosmos,  d.  i.  das  menschliche  Indivi* 
dnnm  gegründet,  das  Ich  ist  da  der  letzte  Grand  des  Leids^ 
und  mit  ihm  verschwindet  auch  dieses  Leid. 

Was  den  Brahmanismns,  dessen  pantheistischer  Charakter  sonst  dasm 
gewiss  allen  Vorschnb  geleistet  hätte,  nicht  zn  dem  makrokosmischen, 
d.  l  zu  dem  Pessimismns  kommen  Uess,  welcher  anf  das  Wesen  der 
Welt,  des  Seienden  Oberhaupt,  seine  specolatiye  Begründung  anfbant, 
das  war  seine  reUgiOse  Form,  die  G-ottesanschannng,  also  eben  das, 
WEB  den  brahmanischen  Pessimismus  als  solchen  keinen  massgeben- 
den EinHuss  anf  die  Sittenlehre  des  Brahmanismus  gewinnen  liess. 
Der  raakrokosmische  Pessimismus  blieb  unserem  Zeitalter 
vorbehalten;  wir  haben  in  Schopenhauei*  und  E.  v.  Hartmann  seine 
Vertreter  vor  uns. 

A.  Arthur  Schopenhauer  (1788—1800). 

Die  Behauptung  von  der  Negativität  der  Lustbilance,  d.  i.  also 

der  Pessimismus  ist  zum  ersten  Mal  von  Schopenhauer  auf  eine  ma- 
krokosmische  Basis  gestellt  worden,  indem  er  das  Übel  des  Daseins 
nicht  auf  die  Individualität  des  seelischen  Wesens,  sondern  auf  das 
Wesen  der  Welt,  d.  i.  auf  das  Welt  dasein  iiberhaupt  zurückführt. 

Ich  habe  der  Gnindlegung  des  bedino^ten  Pessimismus  der  Brah- 
nianen,  sowie  derjenigen  des  unbedingten  Pessimismus  Buddhas  keine 
besondere  Kritik  gewidmet;  dieselbe  wäre  für  die  zur  Behandlung 
stehende  Frage  ohne  Interesse  und  ist  daher  überflüssig.  Bei  den 
Brahmanen  bestimmt  ja  der  Pessimismus  überhaupt  nicht  die  Sittenlehre, 

Padagofiaa.  4.  Jdng.  Heft  UL  34 


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und  bei  Buddha  zeij^t  sicli  Nvcuigsteus  die  Grundleg'Tiiig'  seines  Pes- 
simismus ohne  irgend  welchen  besonderen  Einfluss  auf  die  Sitten- 
lehre, so  dass  man  demnach,  wenn  man  auch  von  jener  (Trundlt'üfung 
al)sieht,  die  pessimistische  Sitteiilelire  Buddhas  aus  dessen  em[(irischem 
Pessimismus  und  flen  drei  von  mir  iiervorfi-ehobenen  Hülfsvorstellunaren 
ohne  Rest  ableiten  kann.  Bei  Schopenhauer  ist  es  anders,  und  dies  hat  t^ben 
seinen  Grund  in  dessen  Versuch  einer  makrokosmischen  Grundlegung 
des  empirischen  Pessimismus.   Sehen  wir  diesen  Versuch  näher  an. 

Das  Leid  oder  die  Unlust  ist,  sagt  Schopenhauer,  Hemmung  des 
Willens,  Nichtbefriedigung  des  Strebens;  alles  Streben,  so  lange  es 
nicht  befriedigt  ist,  ist  Leiden;  keine  Befriedigung  ist  dauenid,  sie  ist 
stets  nur  der  Anfangspunkt  eines  neuen  Strebens,  es  gibt  kein  letztes 
Ziel  des  Strebens  und  daher  auch  kein  Mass  und  Ziel  des 
Leidens.  Wo  Wille  ist,  da  ist  Leid,  und  zwar  mcht  nur  aus  dem 
Grunde,  weil  wir  überall  das  Streben  vielfskch  gehemmt  und  uns  übei'- 
all  kämpfend  antrolfen,  sondern  auch  deshalb,  weil  alles  Streben  aus 
Mangel,  aus  LTnzufriedenheit  mit  seinem  Zustande  entspringt 
[Schopenhauers  Werke  U,  8.  365.] 

Der  Wille  nnn,  erU&rt  Schopenhauer,  ist  das  eigentliche 
Wesen  des  Menschen,  und  derselbe  ist  nur  eine  individneile  Er- 
scheinungsform des  allgememen  Willens,  welcher  eben  den  Kern 
und  das  Wesen  aller  Dinge  ausmacht:  die  Welt  in  ihrem  Ansich 
repr&sentirt  sich  als  Wille.  In  Folge  dessen  ist  das  Leid, 
welches  der  Einzelne  erf&hrt,  auf  das  allgemeine  Wesen  der  Weh, 
auf  die  Welt  als  Wille,  und  nicht  auf  die  Individualität  des 
Menschen  und  den  menschlichen  Willen  —  als  letzten  Grund 
zurflckzufÜhren. 

„Die  Welt  in  ihrem  Ansich  ist  Wille!*"  Wol  keine  Bdi- 
gionsanschanung  und  kein  philosophisches  System  hat  Ton  seineD  An- 
hängern in  so  hohem  Grade  das  Opfer  des  Intellects  gefordert,  wie 
dieser  grundlegende  Satz  Schopenliauers  es  uns  zumuthet;  ärger  hat 
wol  Keiner  je  die  denkende  Menschheit  zu  m.ystiliciren  gesucht,  als 
Schopeuluiuer  es  in  diesem  Satzi'  versucht  hat,  und  unglücklicher  als 
Schopenhauer  hat  wol  Niemand  mit  Kants  Gedanken  von  der  -Er- 
scheinung" und  dem  „Ansich"  der  Welt  weiter  gearbeitet.  Sei  dies 
hier  in  Kürze  nachzuweisen  unternommen. 

Kants  Erkenntniswelt  mIs  Erscheinuugswelt  nahm  Schopenhauer 
auf  unter  dem  Titel:  „die  Welt  als  Vorstellung";  Zeit  und  Kaum 
als  die  piincipia  indi^iduationis  sowie  die  Causalität  sind  ihm  ebenfall> 
die  Formen  des  auächauenden  und  denkenden  iSubjects.  Anstatt  aber 


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—   519  — 


nun  mit  Kant  bei  der  Vorstellungswelt  als  Krsclieinimgswelt  sreheii  zu 
bleiben,  behauptet  Schoi)enhauer,  wenigstens  sich  selbst  auch  noch  in 
einer  anderen  Weise,  „unmittelbai-",  zu  erkennen,  und  zwar  eben  als 
Wille;  er  als  Vorstellung  sei  der  Leib,  er  als  Ansich  sei 
der  W^ille.  Was  kann  aber  dies:  ,Jch  bin  Wille"  heissen?  Man 
sollte  denken,  doch  nur:  „Ich  bin  wollend",  oder  mit  anderen  Worten, 
^ch  bin  bewusst  thätig!"  Schopenhauer  fasste  jedoch  das  Wort 
^W^ille"  in  einem  anderen  Sinnei  nämlich  nicht  als  Thätigkeit  des 
bewussten  Individuums,  sondeni  als  Ding  an  sich,  als  den 
„innern  Kern"  des  Individuums.  Hätte  er  nicht  dieses  Taschen- 
spielerkonststück  sofort  im  Anfang  ausgeführt»  so  würde  er  sehi*  bald 
gesehen  haben,  dass  er  sich  selbst  als  den  bewnsst  thfttigen,  äm  wol- 
lenden, ebenfalls  nni'  als  „Vorstellang"  unter  dem  principium  indi- 
Tndnatioms  der  Zeit  vor  sich  haba 

Der  erste  Fehler,  den  Schopenbaner  beging,  ynx  also  die  Yerob- 
jeetlTinmg  des  Thfttigkeitsbegrilb  „mensdilicher  WUle^  nnd  dessen 
Versetzung  als  Ding  in  das  „Ansicht  An  diesen  schliesst  sich  der 
zweite  Fehler,  nflmlich  eine  Mystification;  sein  Lehrer  Eant  gab  ihm 
hierzu  freilich  die  Anleitung.  Eant  hatte  das  Ding  an  sich  als  das 
den  Menschen  als  erkennendes  Individuum  Afficirende  ange- 
sehen, demselben  also  eine  mystische  Wirksamkeit  zugeschrieben;  ja 
das  Einzige,  was  Eant  yom  Dmg  an  sich  ausgesagt  hatte,  war  eben 
cKeses  mystische  Wirken.  Das  schien  nun  mit  dem  vom  Schtiler 
Sdiopenhauer  entdeckte  Ding  an  sich  „Wille"  genau  fibereinzustimmen, 
denn  das  „Wesen**  dieses  nDiog  an  sich**  konnte  allein  und  aus- 
sehllessUeh  Wirksamkeit,  Thfttigkelt  sein,  wie  ^en  unser  Begriff 
„Wille**  es  besagt.  — 

Aber  Schopenhauer  ging  und  musste  noch  weiter  gehen,  nachdem 
er  zunächst  das,  was  er  von  sich  selbst  als  sein  „Ansich"  erkannt 
hatte,  per  analogiam  auf  die  Welt  überhaupt  übertragen  und  demnach 
erklärt  hatte,  das  Ansich  der  ganzen  Welt  ist  Wille.  Er  ging  weiter, 
80  dass  er  nun  nicht  etwa  bloss  erklärte,  diese  Welt  an  sich,  die  „Wille" 
ist.  wirkt  auf  uns  als  Erkennende  so  ein,  dass  wir  Voi*stellungen  er-  . 
lialten,  indem  wii-  unsere  Empfindungen  in  Raum  und  Zeit  ordnen 
und  in  der  Kategorie  der  Causalität  denken,  sondern  er  behauptete, 
die  Welt  als  „Vorstellung",  welche  wir  erkennen,  ist  die  Objec- 
tivatiun  jener  Welt  als  „Wille".  Diese  „Objectivation"  bedeutet 
aber  durchaus  etwas  anderes  als  blosse  Vorstellung-  etwa  im  Sinne 
der  Kantschen  Erscheinung,  was  eben  daraus  hervorgeht,  dass  die 
Welt  als  Wille  sich  ja  nach  Schopenhauer  schon  vor  unserem  £r- 


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—   520  — 


kennen  objectivirt  und  in  den  individuellen  Objectivationen  selbst 
tliätig  erweist,  also  bevor  überhaupt  der  mit  Intellect  begabte  Mensch 
da  ist,  welcher  doch  eigentlich  allein  vermöge  seiner  ihm  eigeiithimi- 
liclien  priücipia  individuationis  die  Welt  als  Vorstellung  nur  sollte 
haben  köniieu. 

Somit  ist  Schopenhauer  aber  ganz  aus  Kants  Schule  ausgetreten, 
da  er  nunmehr  die  imch  ilim  unabhängig  vom  erkennenden 
Menschen  daseienden  Objectivationen  des  Weltwillens  als  .solche,  und 
nicht  etwa  wiederum  nur  ihre  „Erscheinungen",  in  seiner  „Welt  als 
Vorstellung"  vor  sich  haben  will. 

Der  dritte  Fehler  endlich,  welchen  Schopenhauer  begangen  hat, 
ist  die  Bezeichnung  selbst:  diese  mystische  Welt  an  sich  sei  ,,Wille". 
Wie  im  Menschen,  so  sei  der  Wille  in  allen  „Objectivationen",  d.  i, 
Dingen  unserer  Welt,  zu  erkennen,  nämlich  als  Streben:  „weil  Streben 
des  Willens  alleiniges  Wesen  ist".  Begreiflicher  Weise  haben  wir  es 
hier  aber  nur  wieder,  mit  derselben  falschen  VerdinglichoDg  der  Thä- 
tigkeit  der  Dinge  zn  thun,  und  so  müssen  wir  denn  auch  hören; 
„die  Schwere,  welche  nicht  aufliört  za  streben"  etc.  Es  war  in 
der  That  verliängnisvoll,  dass  Schopenliaiier  dieses  sich  allerdings  in 
aJlem  offenbarende  Streben  Wille  nannte,  denn  dadurch  anthropo- 
morphosirte  er  seine  Welt  an  sich,  weil  trotz  alledem  auch 
Schopenhaaer  davor  nioht  sieh  httten  konnte,  dass  der  ttbertrageae 
Sinn  [=  Streben]  nnd  der  eigentliche  Sinn  b'ewnsstes  Streben] 
des  Wortes  Wille  ihm  in  einander  flössen.  Zn  gleicher  Zeit  vorde 
dadurch  dem  Willen  eines  seiner  integrirenden  Merkmale  zu  einem 
zuiimigen  gemacht,  nämlich  das  Merkmal  nbewnsst**,  da  doch  die  Vor- 
stellung stets  den  Inhalt  des  WiUens  bildet  Diese  Verschiebmig 
der  wirklichen  Sadüage  hat  aber  wiederum  ihren  Grund  in  der  Ver- 
dinglichung  des  Thfttigkeitsbegriffs  „Wille**,  welche  es  erst  er- 
möglichte, „WiUe**  als  ein  Ding  an  sich  gegenflberzusteUen  der  Vor- 
stellung, d.  i.  demjenigen,  was  gewollt  wird,  in  Analogie  der  Gegen- 
ttberstellung  des  Subjects  des  Wollens  und  des  Objects  als  Vor- 
gestellten. 

Näher  besehen  mflsste  auch  das  angebliche  „Ansich"  des  mensch- 
lichen Individuiuns,  welches  Schopenhauer  entdeckt  zu  haben  frlaubte. 
richtiger  bezeichnet  werden  als  „wollendes  Ich",  dieses  aber  freilich 
nicht  als  das  im  einzelnen  Willensact  erscheinende  Ich,  sondeni 
als  der  ins  Ansich  verobjectivirte  empiiische  Begriff  des  in  den  ein- 
zelnen W'illensacteu  als  Thätiges  auftretenden  Ich.  Schopenhauer  that 
aber  der  Sache  noch  weitere  Gewalt  an,  wenn  er  anstatt  „woUeudeä 


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—  521  — 


Ich"  das  "Wort  ^ Wille"  setzte,  indem  damit  der  Ichbegritf,  auf  dem 
doch  der  Be«rriflf'  der  Willenstliütigkeit ,  d.  1.  des-;  Willens  allein, 
ruht,  einfach  escaniotirt  und  der  Willensthätigkeit  ein  phantastisches 
Etwas  [in  welchem  sich  freilich  unbewusst  dennoch  das  Ich  durchrang], 
^Wille"  genannt,  untergeschoben  wurde.  Diese  Escamotage  ist  der 
höchsten  Beachtung  werth,  weil  durch  Beseitigimg  des  individuellen 
Ichbegiiffis  sowol  das  „Wollen^  des  Dinges  an  sich,  als  auch  damit 
das  Ding  an  sich  selbst  allgemeiner  gefasst  werden  konnte. 

Nun  ging  scheinbar  alles  glatt  yorwärts:  Wollen  zeigt  sich  in 
allen  Menschen,  also  ist,  wie  für  mich,  so  auch  für  die  anderen  Men- 
schen der  „Wille''  ihr  Ding  an  sich.  Dieser  Wille"  sei  nun,  heisst 
68,  wenn  man  ihn  an  sich  anschaue,  in  Allen  em  und  dasselbe,  was 
ms  sehr  verständlich  vorkommt»  wenn  wir  sehen,  dass  Jenes  mystische 
Dmg  an  sich  „Wille**  nichts  anderes  als  der  verdinglichte  ThAtigkeits- 
begriff  „Wollen*"  ist.  Denn  freilich,  dieser  Thätigkeitsbegriff  zeigt 
sich  als  solcher  in  allen  Menschen,  und  wenn  er  auf  einem  Ding 
an  sich,  des  Menschen  „Wille**  genannt,  beruht,  so  muss  ja  allerdings 
dieses  Ding  an  sich  aller  Menschen  ein  und  dasselbe  sein. 

Doch  hier  h&tte  Schopenhauer  sdion  stutzig  werden  sollen;  wenn 
das  Ansich  der  Menschen  ein  und  dasselbe  ist,  woraus  ist  dann  das 
verschiedene  Wollen  der  Menschen  abzuleiten;  wie  kann  dieses  An- 
sich, der  Wille,  sich  in  so  verschiedenen  Lebern  zur  Erscheinung 
bringen?  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  diese  Frage  einzugehen,  aber 
bekanntlich  konnte  sich  Schopenhauer  aus  den  drohenden  Widei-sprüchen 
nur  retten  dadurch,  dass  er  factisch  die  Welt  als  Vorstellung  duch  als 
eine  wirkliche  Welt  neben  der  Welt  an  sich  betrachtete  iiud  zu- 
nächst, ohne  das  Räthsel  zu  lösen,  einfach  behauptete,  der  Wille" 
liabe  sich  eben  in  verschiedenen  Individuationen  ,,objectivirt",  ver- 
wirklicht. Man  könnte  nun  einwenden,  hier  liege  doch  gewiss  kein 
Räthsel  vor,  denn  ja  schon  der  „Wille"  des  Menschen  bethätige  sich 
m  verschiedener  Weise,  also  dürfe  Schopenhauer  dies  auch  von 
seinem  metaphysischen  „Willen"  annehmen!  Indes  es  wiid  vergessen, 
dass  Schopenliauer  grade  das,  auf  Grund  dessen  der  AVille  des 
Menschen  als  verschiedener  auftritt,  nämlich  dass  dei*selbe  die 
Thatigkeit  eines  bewussten,  d.  i.  mit  verschiedenen,  durch  die  Thätig- 
keit  ..Wille"  realisirbaren  Vorstellungen  begabten  Ich  ist,  gestrichen 
Latte.  Sein  „Wille"  ist  hier  ja  in  der  That  nur  die  Verdinglichung  des 
allgemeinen  blassen  Begriffs  „Thätigkeit"  überhaupt;  weil  er 
aber  dieses  ist,  so  konnte  Schopenhauer  ihn  nun  ungezwungen  noch 
weiter  anwenden,  nicht  nur  auf  die  menschliche  bewusste,  sondern 


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—   522  — 


auf  jede  Thätigkeit  überhaupt,  der  er,  wo  er  sie  in  der 
Vorstelluiigöwelt  antraf,  sofort  sein  Monstrum  „Wille"  als  metaphysi- 
sches Ansich  unterlegte.  Da  es  ihm  aber  niclit  schwer  fallen  konnte, 
überall  in  der  „Welt  als  Vorstellung"  Thätigkeit,  „Streben",  zu 
entdecken,  so  war  ihm  damit  als  ausgemacht  gegeben,  dass  Allen  der 
„Wille''  als  Ansich,  als  Kern,  zu  Grunde  läge.  Dies  könnte  man 
nim  etwa  als  eine  bildlicli- anschauliche  Auffassang  schon  lungehei 
lassen,  aber  Schopenlianer  beanspmcht  für  seine  Darstellmig  mdir, 
nnd  so  yerfUlt  er  nur  in  noch  grösseren  Irrthmn. 

Dass  alles  in  der  Welt,  dass  jedes  Ding  eine  Thätigkeit  zeige, 
ist  gewiss  lichtag;  sollte  aber  das  der  Satz:  „die  Welt  ist  Wille"  be- 
deuten? Ich  bin  überzeugt,  dass  die  meisten  Schopenhanerianer  in 
unseren  gebildeten  Standen  es  so  aufitoen  und  die  Frage  bcfjahen. 
Schopenhauer  selbst  aber  versteht  darunter  dieses:  Unserer  Welt  liegt 
als  eigentliche  Welt,  als  Ansich,  zu  Grunde  der  Wille'',  dessen 
Äusserung  die  Thätigkeit  „Streben"  ist.  Warum  aber  wird  wol 
dieses  Schopenhauei-^sche  Monstrum  „Wille"  so  vielen  plausibel  er- 
scheinen? Weil  sie  sich  bewusst  sind,  dass  ihrer  eigenen  Thätigkeit 
ein  ,,Wille",  d.  i.  ein  wollendes  Ich,  zu  Gninde  liegt,  und  weil 
sie  nun  einfach  dieses  wollende  Ich  auch  jedem  anderen  Dinge  im- 
putiren,  dabei  jedoch  nicht  merken,  dass  Schopenhauer  grade  das,  was 
sie  bereits  zum  Verständnis  des  Schopenhauer'schen  Satzes  durcbaus 
nöthig  brauchen,  nämlich  die  Annahme  eines  dem  bewussten  Ich  ana- 
logen Etwas,  aus  seinem  mystischoi  „Willen"  officiell  ausweist,  wenn- 
gleich ihm  selbst  hiebei  die  tollsten  Widersprüche  passiren.  Der 
Schopenhauer'sche  „Wille^  ist  Oberhaupt  bis  jetzt  wol  die  höchste 
Leistung  metaphysische  Seiltftnzerei,  und  man  muss  sieh  nicht 
wundem,  wenn  der  metaphysische  Schopenhauer  lllr  das  Auge  der 
Wissenschalt  in  seiner  gifiizen  Hohlheit  erscheint  und  abgewiesen 
wird,  dagegen  bd  dem  Bildungsphilister  als  Meister  in  hohem  An- 
sehen steht 

Diese  Abschwenkung  auf  das  theoretisch-philosophische  Grebiet 
war  nöthig,  um  die  theoretische  Begründung  des  Schopenhauer'schen 
Pessimismus  in  das  rechte  Licht  stellen  zu  'können.  Das  Leid  vdrd 
also  von  Schopenhauer  zurückgefühi't  auf  den  Willen.  Ist  es  mm 
dieses  Ansich  der  Welt,  der  „Wille",  welcher  leidet?  Die  Frage  ist 
nicht  so  sinnlos,  als  man  auf  den  ersten  Blick  meinen:  könnte.  Frei- 
lich wäre  sie  gegenüber  dem  buddhistischen  Pessimismus,  welcher  ja 
auch  das  Leid  auf  das  Verlangen  zurückführt,  ohne  irgend  welchen 
Sinn,  denn  da  ist  es  natürlich  nicht  das  Verlangen,  sondern  das  Ver- 


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—   623  — 

langende,  die  .Seele,  welclie  leidet.  Bei  Schopenhauer  aber  steht 
die  Sache,  wie  ieli  zAgU\  anders,  und  liier  ist  es  wenigstens  berech- 
tijtrt,  zn  frag'pn.  ub  der  „Wille",  dieses  Ding  an  sich,  „dessen  Wesen 
Sü'eben  ist",  oder  wer  denn  überhaupt,  leide! 

Wenn  das  Leiden  im  Ansich  der  Welt  anzutreffen  sein  sollte,  so 
könnte  es  allerdings  nur  am  „Willen",  dem  einzigen  Ding  an  sich, 
als  Zustand  angetroffen  werden;  es  fragt  sich  aber  noch,  gesetzt 
auch,  ein  solches  Ansich  „Wille"  wäre  ebenso  unbestrittene  Wii-klich- 
keit,  als  es  unleugbares  Hirngespiimst  ist,  ob  dieser  Wille  wirklich 
Leiden  erfahren  könne. 

Vher  das,  was  das  Leiden  sei,  spricht  sich  Schopenhauer  so  ans; 
„Wir  haben  längst  dieses  den  Kern  nnd  das  Ansich  jedes  Dinges  aus- 
machende Streben  als  dasselbe  und  nämliche  erkannt,  was  in  uns, 
wo  es  sich  am  dentlichsten,  am  Lichte  des  vollsten  Bewnsstseins  ma- 
nifestirt,  Wille  heisst'*');  wir  nennen  dann -seine  Hemmung  durch  ein 
Hindernis,  welches  sich  zwischen  ihn  und  sein  einstweiliges  Ziel  stellt, 
'  Leiden,  hingegen  sein  Erreichen  des  Zieles  Befriedigung,  Wolsein, 
Glflck.  Wir  können  diese  Bezeichnungen  auch  auf  Jene,  dem  Grade  nach 
schwächeren,  dem  Wesen  nach  identischen  Erscheinungen  der  er- 
kenntnislosen Welt  übertragen,  diese  sehen  wir  alsdann  in  stetem 
Leiden  begiüfen  und  ohne  bleibendes  Glflck'*  [II,  365].  Leiden  ist 
hier  also  Hemmung  des  „Willens^,  und  Schopenhauer  ^tdeckt  dies 
zunächst  durch  Beobachtung  des  menschlichen  li^ens. 

Geboi  wir  ihm  einmal  zu,  di^  alles  menschliche  Leiden  Hem- 
mung des  menschlichen  Willens*  sei  Worin  aber  zeigt  sich  die 
Hemmung?  Doch  in  der  Nichterreichung  des  Zieles  seitens  des 
Willens,  d.  i.  des  wollenden  Menschen,  der  als  bewusster 
das  Ziel  seines  Willens  vor  sich  hat.  Schopenhauer  überträgt  nun 
das,  was  nur  im  Hinblick  aul  den  zielbewussten  thätigen  Menschen 
erst  einen  Sinn  erhalten  hat,  auf  den  auch  im  Menschen  als  sein  An- 
sich angenommenen  „Kem",  den  mystischen  „Willen".  Bei  Licht 
betrachtet  kann  aber  doch  von  Hemmung  der  Thätigkeit  als  sol- 
cher, deren  Pei'sonihcation  eben  nur  jener  „Schopenhauer-Wille"  ist, 
niemals  die  Rede  sein.  Wie  immei*  wir  nämlich  Thätigkeit  beti^achten. 


♦)  Hier  ist  recht  deutlich  zu  erkennen ,  wie  oberflächlich  der  Wille  des  Meu- 
tchen  von  Schopenhauer  aufgefasst  wird,  so  dass  er  diese  Th&tigkeit  von  dem  Stre- 
ben der  mnjgai  Dinge  nicht  wesentlicli  nntefBeb^det,  sondenniurdenUntencliied 
duin  rieht,  deas  der  menaehliche  Wille  ,,amLidite  des  vollrten  Bewnastseins  aieh 
manifestire",  -während  doch  der  wesentUehe  Unters«  liied  darauf  beruht ,  dass  der 
Wille  äberhaopt  nur  die  Thätigkeit  eines  Torstelleudea  bewussteu  Wesens  ist 


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—  524  — 


80  können  wir  im  Allgemeinen  uns  uiir  Zweierlei  denken  und  vuu  ikr 
aussagen,  entweder:  sie  ist,  oder:  sie  ist  nicht.  Von  einer  Hem- 
mung der  Tliiiiig-keit  als  solcher  kann  bei  gesundem  Deukeii 
nicht  die  Rede  sein.  Wenn  wir  zu  sagen  pflegen:  „Er  ist  in  seiner 
Thätigkeit  gehemmt,"  oder  auch  gar:  „seine  Thätigkeit  ist  gehemmt**, 
so  soll  tlies  nicht  sagen,  die  Thätigkeit,  als  solche  betrachtet .  ist  ge- 
hemmt: (las  wäre  baarer  Unsinn,  sondeni  \ielmehr  soll  daruiiinr  ver- 
standen werden:  der  tliätige  Mensch  sieht  sich  in  der  Erreichiuig- 
seines  Ziels,  das  er  sich  gesetzt  hat,  gehemmt;  nicht  der  Wille, 
diese  Thätigkeit,  sondern  der  wollende,  das  Ziel  ei-strebende 
Menscli  ist  gehemmt.  Dabei  kann  der  Mensch  als  gehemmter  weiter- 
hin ebenfalls  thätig  sein,  in  gleicher  Weise  also  meder  „Willen" 
zeigen  [dieser  ist  dann  also  nicht  gehemmt,  sondern  er  ist  einfach  da], 
er  kann  aber  auch  als  gehemmter  unthätig  sein,  keinen  Willen  mehr 
zeigen  [dieser  also  ist  dann  iviedenini  nicht  gehemmt»  sondern  er  ist 
nicht  mehr  daj.  Wir  sprechen  nun  wol  kurzweg  von  „Hemmung' 
des  Willens"  und  können  dieses  thun,  solange  wir  nui*  stillschweigend 
anstatt  ..Wille''  den  „wollenden  Menschen"  denken.  Diese  Redens- 
art aber  machte  sich  Schopenhauer  zu  Nutze  und  sprach  von  Hem- 
mung des  Willens,  ohne  den  wollenden  Menschen  zu  substitniren,  und 
die  F<dge  dayon  war,  dass,  da  das  menschliche  Denken  nnn  einmal 
den  ünsinn,  Hemmung  der  Thfttigkeit  als  solcher,  nicht  ertragen  kann, 
anstatt  des  „wollenden  Menschen**  das  mystische  Monstrom  „WUle^, 
das  „Ansi«sh"  des  Menschen,  als  Sulject  des  WbUens  sahstitoirt  wurde. 

Fttr  nns  wäre  es  nnn  kUur,  dass,  wenn  Leiden  Hemmong  ist,  eine 
Hemmung  aber  nur  der  Thätige,  ni«^t  die  Thätigkeit,  erfthren 
kann,  der  Zustand  „Leiden"  nur  ein  Zustand  des  Thfttigen,  des  Wol- 
lenden sein  kann;  Ar  Schopenhauer  ftbertrflgt  sich  dieses  auf  das  an 
die  Stelle  des  wollenden  Menschen  gesetzte  und  sich  als  woll^des 
bethfttigende  Ding  an  sich  „Wüle**. 

Mit  diesem  Fehler  beginnt  Schopenhauer  und  nun  folgt  demselhea 
Fehler  auf  Fehler.  Beim  Menschen  konnte  noch  mit  einigem  Recht 
«  kurzweg  der  Wille  als  „gehemmter"  bezeichnet  werden;  man  war  es 
gewohnt,  den  bewusst  Wollenden  kurzweg  „Wille"  zu  nennen,  und 
hier  dachte  man  sich  doch  stets  das  Thätige  als  ein  bewusst  es  Ziel 
erstrebendes.  Als  nun  aber  Schopenhauer  diese  engste  Verbinduna: 
des  „Willens"  mit  dem  „Bewusstsein  von  einem  Ziel"  lr»ste  umi 
im  „Willen"  das  mystische  Ansich  sah,  welches  sich  überhaui)t  t  hat  ig 
erweist  [er  nannte  diese  Thätigkeit,  indem  er  stets  fort  noch  mit 
dem  bewussten  Ziel  liebäugelte,  allerdings  lieber  Streben];  da  konnte 


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—   525  ^ 


man  doch  die  Hemmung  des  „Willens"  in  der  Natur  nur  ver- 
stehen, wenn  man  unwillkürlich  der  Thätigkeit  auch  hier  ein  mit  ihr 
engverbundeues  Ziel  zulegte,  in  dessen  Erreichung  sich  dann  das 
mystische  Ding  „Wille'',  nicht  aber  etwa  die  Thätigkeit,  gehemmt  sehen 
konnte. 

So  wui'de  es  Schoi)enlmuer  möglich,  zu  erklären:  überall,  wo  der 
„Wille",  wo  also  das  thätige  Ding  an  sich  gehemmt  wird,  ist  Leiden, 
denn  Leiden  heisst  Hemmung  des  „Willens",  dieses  Dinges  an  sich, 
dessen  alleiniges  Wesen  Streben  ist;  Leiden  ist  also  auch,  schliesst 
Schopenhauer,  „in  der  erkenntnislosen  Welt",  deren  Wesen  „Wille"  ist. 

Ich  will,  weil  es  zu  weit  führen  wttrde,  dieses  Nest  von  Wider- 
sprachen  nnd  wiUkfirlichen  Übertragungen  bei  Schopenhauer  nicht 
weiter  aufrühren,  und  wende  mich  wieder  der  Frage  zu:  Leidet  der 
„Wäle**,  kann  derselbe  leiden?  Wenn  das  gehemmte  Subject  es  ist^ 
was  da  Oberhaupt  leidet,  so  ist  die  Frage  von  dieser  Seite  her  ent- 
schieden zu  bejahen.  Nnn  aber  erhebt  sich  von  der  anderen  Seite 
grosses  Bedenken;  ich  will  dieses  nicht  yon  psychologischer  Seite  za 
begrfinden  snchen,  da  sich  das  JLnsich**,  der  mystische  „Wllb"  wol 
Aberhanpt  der  psychologischen  üntersnchnng  nicht  fügen  mOchte,  weil 
er  ja  nicht  zor  Vorstellimgswelt,  dem  alleinigen  Object  der  psycholo- 
gischen Forschnng,  gehört;  aber  der  logischen  Erdrtenmg  mnss  er 
wenigstens  zagänglidi  sein,  wenn  er  anders  ins  Gebiet  der  Wissen- 
schaft gehören  will 

Damit  der  „Wille"  leide,  mnss  er  gehemmt  werden.  Für  das 
Ansich,  welches  eben  Wüle  ist,  gelten  aber  nicht  Raum  nnd  Zeit, 
gelten  nicht  die  Formen  der  Vorstellimgswelt  überhaupt,  nicht  die 
Individuationsformen.  Alles  ist  Wille  ohne  irgend  welche  Differenzi- 
nmg,  welche  ja  nur  der  Vorstellungswelt  angehört;  Alles  ist  Eins. 
Die  \\'alirheit,  welche  in  diesem  mystischen  Helldunkel  sich  versteckt, 
ist  einfiich  diese:  Alle  Dinge  sind  thätig,  und  ins(ifern  wir  nur  ihre 
Thätigkeit  unter  dem  allgemeinen  Begrilf  der  Thätigkeit  betrachten, 
smd  sie  gleich ,  zeigen  sie  ein  und  dasselbe ,  nämlich  das  Thätigsein. 
Doch  Schopenhauer  hatte  ja  diesen  Begriff  Thätigkeit  verdinglicht  und 
als  Ding  ins  Ansich  verpflanzt.  In  Folge  dessen  sehen  wir  den 
Schopenhauerianismus  n\in  völlig  ohne  Mittel,  wie  er  die  Hemmung 
dieses  Dinges  an  sich  erkläre,  während  wii-  dagegen  von  ihm  selbst 
das  Xöthige  entlehnen  können,  um  ihm  naelizuweiseu ,  dass  sein  Ding 
au  sich,  will  man  nicht  die  Logik  ans  Kreuz  schlagen,  wenigstens  als 
gehemmtes  nicht  zu  denken  wäre.  Denn  gesetzt  auch  den  Fall, 
dieses  Ding  an  sich  „Wille"'  könnte  als  ein  nach  eüiem  Ziel  streben- 


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—   526  — 


des  gedacht  werden;  was  soll  ihm  denn  hindeiTid  in  den  Weg  treten, 
ilin  hemmen  können,  sein  Ziel  zu  erreichen?  Sicherlich  Niclits,  er  ist  ja 
allein  da.  Aber  es  ist  auch  nicht  einmal  ein  Ziel  für  diesen  „Willen" 
denkbar,  denn  jedes  Ziel  bezeichnet  eine  Begrenzung,  und  Raum  und 
Zeit,  ohne  welche  letztere  nicht  denkbar  ist,  sind  ja  nicht  im  ..An- 
sich".  So  könnte  also  der  „Wille"  weder  leiden  noch  glücklich 
sein,  weil  er  weder,  wenn  er  anck  ein  Ziel  hätte,  in  dessen  Erreichung 
dnrch  ein  Anderes  gehemmt  werden,  d.  h.  leiden,  noch  seinem  Begriff 
nach  überhaupt  ein  Ziel  haben,  also  auch  kein  Ziel  erreichen,  d.  h. 
glücklich  sein  konnte. 

Hier  zeigt  sich  wieder  deutlich,  dass  Schopenhaners  „  Wille*^  nichts 
anderes  ist,  als  der  verdingUchte  blosse  Begriff  Thätigkeit  In 
diesem  Begriff  als  solchem  liegt  in  der  That  weder  das  Merkmal  des 
Nichtthätigseins,  noch  da^enige  des  Zielstrebens  enthalten,  and 
so  erkennen  wir  den  wahren  Grand,  der  Schopenhauer  sagen  lassen 
konnte:  „es  gibt  kein  letztes  Ziel  des  Strebens";  er  hätte  deutlicher 
sagen  sollen:  „es  gibt  überhaupt  kein  Ziel  des  Strebens.  d.  i.  des 
Willens",  und  hätte  dann  die  anscliliessenden  Worte:  „also  kein  Mass 
und  Ziel  des  Leidens"  gleiclifalls  richtig  stellen  sollen .  indem  er  er- 
klärte: ,.also  auch  überhaupt  kein  Leiden  und  kein  (ilückliclisein  für 
den  Willen,  d.  i.  die  Thätigkeit." 

Wenn  nun  Hemmung  nur  in  der  Welt  der  VorsteUung  denkbar 
und  möglich  ist,  so  muss  auch  Leiden,  welches  nach  Schopenhauer 
Hemmung  ist,  nur  in  der  Welt  als  Vorstellung  angetroffen  werden 
können,  und  zwar  dies  aus  zweifachem  Grunde,  einmal  weil  das  Hem- 
mende als  solche  und  dann  weil  das  Gehemmte,  das  Leidende  als 
solches  nur  der  Welt  als  VorsteUung  angehören  kann.  Dieser  Sdüuss 
geht  evident  hervor  aus  Schopenhauers  eigenen  Au&tellungea;  dadnrdi 
aber  wird  die  metaphysische  Verknflpfimg  des  Leidens  mit  dem 
„Willen^  Schopenhauers  in  ihrer  logischen  Unhaltbarkeit 
blossgelegt  Nicht  in  diesem  Ding  an  sich  kann  also  der  letzte 
Grund  des  Leidens  der  Welt  gefunden  werden,  denn  das  Sein  dieses 
„Willens"  bedingt,  wie  gezeigt,  noch  keineswegs  das  Leiden. 

Der  makrokosmische  Pessimismus  ist  demnach  in  Schopen- 
hauers Weltanschauung  nur  ein  leeres  Aushängeschild  und  ein 
misshmgener  theoretischer  Versuch;  es  ist  auch  nicht  schwer,  zu 
beweisen,  dass  Schopenhauer  in  Wirklichkeit  nur  einen  mikrokos- 
mischen Pessimismus  vertritt. 

Wii-  haben  gesehen,  dass  Schopenhauer  in  ähnlicher  Weise,  wie 
den  Bezirk  des  Wortes  „Wille",  denjenigen  des. Wortes  „Leiden"  er- 


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—  527  — 


weitert;  letzteres  muss  ich  noch  besondei-s  bervorhebeu ,  um  daran  zu 
coDstatiren,  dass  die  ungebührliche  Erweiterung  des  W'ortumfanges 
-Leideir'  das  fatale  Kunststück  gewesen  ist,  vermittelst  dessen 
der  Inhalt  des  Begriffi»  Leiden,  welcher  doch  identisch  ist  mit 
Schmerzempfinden,  nngestOrt  auf  ßrscheinimgen  der  „erkenntnis- 
kfien  Natnr"  flbertragen  wurde,  die  doch  ohne  Vororthefl  Derartiges  nicht 
u  sich  erkennen  lassen.  Aber  wenn  wir  uns  auch  einmal  mit  diesem 
Sebopenhaner'sdien  Analogie&natismus  einverstanden  erklttrten,  so 
würde  damit  nichts  iron  der  Behauptung,  dass  Schopenhaner  in  Wahr- 
heit einem  mikrokosmisehen  Pessimismus  huldigt^  wegfallen.  Denn 
stets  findet  sich  in  all  den  zahlreichen  Beispielen,  welche  Schopen- 
hauer zum  Beleg  seines  Pessimismus  anfiUirt,  ein  ^wollendes",  d.  i. 
bewusst  thätiges  Individuum,  welches  das  Leidende  ist,  und  nie  erklärt 
er  dabei,  dass  das  Diug  an  sich  „Wille",  welches  den  ,.Kern"  des 
Imlinduums  bilden  soll,  das  eigentliche  Leidende  sei.  Dies  zu 
coustatiren,  ist  aber  tür  die  vorliegende  Aufgabe  von  höchster  Wich- 
tigkeit, denn  nun  darf  mit  Grund  behauptet  werden,  dass  Schopen- 
iuwer  die  „Thatsache"  des  Pessimismus,  die  wir  ja  zunächst  einmal 
unbeanstandet  zugeben ,  in  ilUschlicher  Weise  anf  sein  Ding  an  sich 
„Wille''  gründete,  und  dass  er  sie,  wollte  er  wirklich  Wolkenkukuks- 
heun  vermeiden,  anf  das  seelische  Individuum,  insofern  es  wollendes 
ist,  hAtte  aufbauen  milssen. 

Dann  aber  h&tte  er  eben  den  Grund  nicht  in  seinem  nWillen^ 
sondern,  wie  schon  Buddha,  in  der  seelischen  Individualität  des 
Wollenden  vor  sich  gehabt,  also  er  hätte  dem  mikrokosmischen 
Pessiinismus  so  etwa  zageschworen:  Nicht  das  Streben  flberhaupt, 
sondern  der  individuell  Strebende  ist  der  Hemmung,  d.  i.  dem 
Leidtii,  ausgesetzt,  das  will  sagen:  in  der  seelischen,  bewussten  Indi- 
vidualität steckt  der  Grund  des  Leidens. 

Die  soeben  gezeichnete  Verworrenheit  Sch()i>enhauers  in  der 
Gnmdlegung  des  Pessimismus  zeigt  sicli  begreilliclier  Weise  auch  in 
ihren  Folgen  bei  seiner  Sittenlehre.  Ich  wüsste  nicht,  welches  das 
grössere  Opfer  des  Intellects  wäre,  ob  die  Annahme  des  Schopen- 
haaer'schen  Satzes:  „die  Welt  an  sich  ist  Wille oder  die  Annahme 
seines  Sittengrundsatzes:  „Verneinung  des  Willens".  Man  muss  auch 
letzteren  erst  in  seiner  ganzen  Schopenhauerischen  Eigenthümüchkeit 
auffassen,  nm  zu  verstehen,  was  derselbe  dem  Denken  zumuthet  Es 
geht  demselben  nämlich  bei  den  sogenannten  Gebildeten  gar  nicht 
sehlecht,  und  wie  diese  in  dem  Satze:  „die  Welt  an  sich  ist  Wille«* 
etwas  sehr  Wahres  zu  haben  glauben,  indem  sie  ihn  so  verstehen: 


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jyAJle  Ding-e  sind  in  steter  Thätigkeit",  so  meinen  sie  auch  den  Sitten- 
«rnindsatz  Schopenhaaers  als  waliren  begrüssen  zu  müsseu,  da  sie  irr- 
thümlich  in  ihm  ausgesprochen  finden  die  Verneinang  des  das  In- 
dividuelle erstrebenden  Willens  des  Individuums. 

Schopenhauer  selbst  wollte  mit  der  Verneinung  des  Willens 
etwas  ganz  anderes  sagen.  Es  ist  bezeidinend  für  den  logisch  ver^ 
worrenen  Standpunkt  Schopenhaaers»  dass  er  Brahmani'smns  und  Bnd- 
dhismns,  diese  beiden  so  grundverschiedenen  Formen  des  Pessimismns, 
auf  gleicher  Stufe  behandelte  und  sie  beide  als  nächste  Verwandte 
seines  Standpunktes  betrachtete.  Schon  dies  kann  die  Vermuthung 
nahe  legen,  dass  Schopenhauer  selbst  zwei  einander  widersprechende 
Anscliauungen  in  sich  vereinigt.  Dies  bestätigt  sich  in  der  That. 
Gleich  Buddlia  war  er  Vertreter  des  unbedingten  Pessimismus, 
sah  aber  diesen  nicht  l)('<rriindet  im  wollenden  Individuum  als  sol- 
chem, sondern  im  allgemeinen  „^^'illen'^  dessen  Entdeckung  unge- 
schmälert Schopenhauers  „Ruhm"  bleiben  mag;  brahnianisclier  Pan- 
theismus und  buddhistischer  Individualismus  waren  gleichsam  von  ihm 
zu  einem  monströsen  Pantheletismus  zusammengebraut. 

Als  unbedingtem  Pessimisten  mnsste  ihm  natürlich  das  sittliche 
Streben  darauf  sich  richten,  die  Quelle  des  Leidens  zu  vernichten, 
weil  nur  dadurch  SrlSsong  möglich  gedacht  werden  konnte.  Wfth- 
rend  nun  Bnddha  diese  Erlösung  in  der  Vernichtung  der  Seele 
erblickte,  musste  Schopenhauer  ebenso  consequent  seinem  panthele- 
tistischen  Standpunkt  gemfiss  die  Vernichtung  des  „Willens  fiber* 
haupt*'  als  Ziel  des  sittlichen  Strebens  hinstellen,  musste  er  also 
die  „Vemehinng  des  Willens",  der  Welt  an  sich,  fordern.  Diese 
Forderung  anszusprecben  hat  sich  Schopenhauer  nun  auch  ebenso 
wenig  gescheut,  als  jenen  Satz:  „die  Welt  an  .sicli  ist  Wille*'  aufzu- 
stellen, indes,  gleich  wie  dieser  bei  Licht  besehen  sich  nur  auf  in- 
dividuelles Wollen  stützt,  so  bezieht  sich  auch  Jene  Forderung 
factisch  nur  auf  Verneinung  des  wollenden  Individuums. 

Dieser  Individualismus  ist  nun  wenigstens  die  richtige  Consequeiiz 
in  der  praktischen  Angelegenheit.  Denn  wie  sich  der  Pessimismus  als 
in  \\'ahrheit  auf  die  Individualität  des  Wollenden  gegiündet  erwies, 
der  Grrund  der  Hemmung  also  in  der  Individnation  der  Vorstellungs- 
welt lag,  so  könnte  die  richtige  Abhülfe  und  Erlösung  yom  Leiden 
auch  nur  in  der  Vernichtung  dieser  Individualität  gesehen  werden; 
das  Leiden  ist  ja  eben,  wenn  auch  allgemein  verbreitet,  dennoch  etwas 
durchaus  individuelles. 

Die  Vernichtung  dieser  Vorstellungsindividnalität,  d.h. also 


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—  529  — 

der  Selbstmord,  ist  daher  die  Consequenz  des  Scliopenliauersclien  Pes- 
simismus; und  so  sehr  sich  Schopenhauer  dai^eg-eii  sträubt,  es  direct 
auszusprechen,  und  so  viel  er  von  seinem  Monstrum  „Wille"  redet, 
welcher  in  seiner  Allgemeinheit  vernichtet  werden  müsse,  so  weiss  er 
(lern  menschlichen  Selbstmord  doch  nichts  Stichhaltiges  entgegenzu- 
halteu,  ja  er  weiss  denselben  sogar  unter  dem  Namen  „Askese"  zu 
preisen,  und,  sofern  er  sich  wieder  seines  pantheletistischen  Stand- 
punktes erinnert,  an  seine  Stelle  nnr  den  Weltmord  zn  setzen.  In 
dieser  Thatsache  bestätigt  sich,  was  ich  weiter  oben  von  der  Conse- 
qaenz  des  empirischen  Pessimismus  überhaupt»  die  ich  im  Selbstmord 
ausgesprochen  finde,  sagte:  Schopenhauer  ist  daftr  ein  Beleg;  und 
wie  sich  in  der  Grundlegung  seines  Systems  IndiTiduelles  und  Allge- 
meines noch  stielten,  so  ist  auch  noch  der  Selbstmord  neben  dem  Welt- 
mord in  seiner  Sittenlehre  da.  Es  war  freilich  dem  officiellen  Stand- 
punkt des  makrokosmischen  Pessimismus  entsprechend,  wenn  er  officiell 
vor  Allem  den  Weltmord  hervorhob  als  das  Ziel  des  intelligenten 
Strebens  des  Menschen,  wtthr^d  dem  gegenüber  der  mikrokosmische 
Pessimismus  Buddha's  den  Selbstmord  als  Ziel  aufstellte,  Selbstmord 
freilich  nicht  gedacht  als  Yemichtung  des  £5rpers,  wie  wir  gesehen 
haben, 'sondern  der  Seele.  Aber  im  Grunde  ist  auch  der  Weltmord 
des  pantheletistisch  denkenden  Schopenhauer  ein  Selbstmord,  da 
doch  unser  Wesen  eben  der  Wille,  der  Wille  aber  die  Welt,  und 
die  Vernichtung  des  W^illens  unser  praktisches  Ziel  sein  soll:  d.  h.  die 
Vemiclitung  uns  res  Wesens  ist  gleichbedeutend  mit  derjenigen  der 

Welt  an  sich. 
• 

Bemüht  man  sich  nun,  dieses  Hauptstück  Schopenhauer- 
scher Sittenlehre,  dieses  Programm  des  Selbstmordes,  zu  er- 
fassen, so  sieht  man  sich,  um  dasselbe  durchzudenken,  vor  etwas  Un- 
mögliches gestellt  Die  Welt  als  Wille  soll  vernichtet  werden:  wie 
kann  dies  auch  nur  möglich  gedacht  werden!? 

Der  „Wille"  ist  „Streben",  Thätigkeit;  in  seinem  Ansich  findet 
dieses  tliätige  Ding  an  sich  keine  Hemmung,  liier  ist  daher  auch  eine 
Vernichtung,^  unmüoflich;  der  „Wille"  ausser  Raum  und  Zeit  ist  ewig, 
es  müsste  ja,  da  „Wille"*  nichts  als  Thätigkeit  ist,  nocli  etwas  anderes 
da  sein,  was  denselben  vernichtete,  dieses  aber  fehlt  im  Ansich:  also 
ist  der  Weltmord  unmöglieli!  So  könnte  man  etwa  raisonniren. 
Schopenhauer  meint  aber  doch  einen  Ausweg  entdeckt  zu  hab^: 
warum  sollte  der  Wille  sich  nicht  seil  »st  verneinen,  d.  i.  vemicliten 
können?  Kann  doch  der  menschliche  Wille  sich  verneinen!  Damit 


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sclieint  in  der  Tliat  unser  l^edenken  niedergescUlageu  zu  werden;  doch 
GS  sei  der  Fall  näher  besichtigt. 

Wo  wir  sagen:  der  menschliche  Wille  vei-neiiit  sich  selbst,  da 
will  dies  heissen:  der  wollende  Mensch  venieint  sein  Wollen,  der 
Mensch  will  nicht  wollend,  will  hi  bestimmter  Weise  unthätig  sein; 
das  Nic'htwollen,  das  bestimmte  Unthätigsein,  ist  Inhalt  seines 
Willens,  ist  das  Ziel  des  wollenden  Menschen.  Dieses  Ziel  stellt  er 
sich  vor,  indem  er  seine  Thätigkeit  an  reale  Bedingungen  geknüpft 
weiss,  durch  deren  Vernichtung  auch  die  Thätigkeit  „Wollen"  selber 
aufhören  muss.  Wenn  er  also  nun  das  Nichtwollen  überhaupt  will, 
80  kann  er  diesen  Zweck  nur  durch  Vernichtung  der  Bedingnn* 
gen  des  Wollens  erreichen;  erkennt  er  diese  in  der  körperlichen 
Existenz,  so  wird  er  diuch  Selbstmord  [in  des  Wortes  gewöhnlicher 
Bedeatong]  das  Ziel  erreichen  zu  können  meinen.  Diesen  Weg  befür- 
wortet andi  Schopenbaner  in  seiner  „Askese*,  welche  die  „sdbstge» 
wühlte  bflssende  Lebensart,  die  Selbstkasteiang  znr  anhaltenden  Hor- 
tification  des  Willens"  pl,  48S]  sei  Die  TOdtimg  des  Leibes  wird 
hier  offenbar  als  die  Bedingung  fOr  das  Aufhören  des  Willens  an- 
gesdien;  daher  ist  auch.  Schopenhaners  „Askese"  keineswegs  identisch 
mit  der  brahmanischen  und  christlichen  Askese,  also  ftberhanpt  nicht 
eigentliche  Askese,  sondern  in  Wahrheit  bewnsster  langsamer 
Selbstmord. 

Eine  Thätigkeit  nun,  dies  erkennen  wir,  schwebt  nicht  so  für 
sich  in  der  Lnft,  sondern  ist  die  Thätigkeit  eines  Etwas,  welches  als 
Snbject  demnach  ani^^ehoben  werden  mnss,  wenn  man  du  Tliätigkeit 

desselben  überhaupt  vernichten  wilL  Eine  bestimmte  Thätigkeit,'  ein 
bestimmtes  Wollen  kann  nnn  aufgehoben,  vernichtet  werden  durch 

ein  andres  Wollen  desselben  Subjects,  das  Wollen  überhaupt  aber. 

welches  ja  das  Wesen  des  Subjects  ansmachen  soll,  natürlich  nur 
durch  Autliebung  des  Subjects  selbst.  Daher  scheinen  für  Schopen- 
hauer, welcher  aus  dem  \\'ollen  das  Leiden  resultiren  lässt,  nur  z^vei 
Möglichkeiten,  das  Wollen  aufgehoben  zu  sehen,  vorailiegen:  entweder 
diu-ch  Vernichtung  der  körperlichen  Existenz  des  Menschen ,  oder 
durch  diejeni<^e  des  unabhängig  vom  KTaper  existirenden  Ich,  je  nach- 
dem er  eben  jenen  oder  dieses  für  das  reale  Subject  des  Wollens  ansieht. 
Schopenhauer  erklärt  aber  bekanntlich  von  diesen  beiden  mögliclien 
Subjecten  keines  für  das  reale  Subject,  dieses  soll  vielmehr  der  ..Wille"  sein. 
Nun  habe  ich  schon  oben  entwickelt,  dass  da.sjenige,  was  wenig- 
stens in  uns  als  „Wille"*  thätig  ist,  nichts  anderes  ist,  als  das  wol- 
lende Ich  oder  der  wollende  Keusch,  und  dass  Schopenhauers  Be- 


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haoptong  eines  „Willens^  der  da  als  Sabject  will  im  Ich,  ein  reines 
Phantasma  ist;  also  käme  man  ikctisch,  wenn  bei  Schopenhauer  von 
Anfhebnng  des  Willens  seitens  des  Menschen  die  Bede  ist,  anf  die 
Anfhebnng  des  bewnssten  Menschen  oder  Ich,  welches  will« 
hinaos.  Da  nnn  Schopenhaner  der  Ansicht  ist,  dass  dieses  Ich  mit 
dem  Aufhören  des  Organismus  sein  Ende  hat,  so  würde  dem- 
nach die  Consequenz  und  das  Radicalmittel  seines  Pessindsrnns  in  der 
Anpreisung  der  Venüchtung  dieses  Organismus,  d.  i.  des  Selbstmor- 
des, bestehen  müssen.  Was  er  aber  als  Weltmord  anpreist,  ist  eine 
reine  Phantasniagorie,  eine  Nebelliiille  des  Selbstmordes,  wie  ja  aTich 
sein  makrokosmischer  Pessimismus  nur  die  phantastische  Einkleidung 
eines  iiiikritkosmischen  Pessimismus  ist. 

Buddha  liatte  die  einfache  Ponsequenz  des  mikrokosmischen  un- 
1>e<lingten  Pessimismus,  den  Selbstmord  im  gewöhnlichen  Sinne  des 
Wortes,  nur  scheinbar  umgangen  durch  Hereinnähme  des  Glaubens  an 
die  Seelenwandemng  und  des  durch  dieselbe  bedingten  langsamen, 
unter  UmstSnden  durch  viele  Gfenerationen  sich  hinziehenden  „Selbst- 
mordes". Schopenhauer  versteckte  sich  vor  ihr  hinter  dem  metaphy- 
sisehen  Phantaisma  „Wüle"  und  dem  phantastischen  Weltmord,  aber 
er  zog  die  Consequenz  dennoch  in  der  Betonung  seiner  ,A8kese%  der 
langsamen  Mortification  des  Willens,  d.  L  in  Wirklichkeit  des 
wollenden  Menschen. 

Dieses  Hauptstück,  die  Fordenmg  des,  sei  es  als  Weltmord  ver- 
kleideten, sei  es  unter  dem  Namen  „Askese'"  auftretenden  Selbstmor- 
des, macht  die  eigentliche  Sittenlehre  Schopenhauers  aus;  die 
einzige  Norm,  welche  sein  in  Wirklichkeit  miki-okosmischer  un- 
bedingter Pessimismus  dem  Einzelnen  an  die  Hand  gibt,  ist  demnach: 
^orde  dich,  dami  entiinnst  du  dem  Leid  und  erfüllst  damit  deinen 
Lebenszweck". 

Man  wüi'de  fehlgi  eifen,  wenn  man  Schopenhauei-s  bekannte  Er- 
örterung über  das  Mitleid  als  der  im  menschlichen  Wesen  liegenden 
Gnmdlage  der  uneigennützigen  Handlungen  zui*  Sittenlehre  desselben 
achlagen  wollte,  wenn  anders  die  Sittenlehre  es  sein  soll,  die  den  Weg 
zeigt,  auf  welchem  der  Mensch  seinen  persönlichen  Lebenszweck  er- 
reichen kann. 

Buddha  hatte  die  werkthfttige  Barmherzigkeit  freilich  in  seine 
pessimistilsdie  Sittenlehre  hereinnehmen  können  dadurch,  dass  er  die- 
selbe mit  Hüfe  des  Yergeltungsglaubens  als  allgemeines  Gebot  hin- 
stellte. Bei  Schopenhaner  aber  ist  das  Mitleid  die  natürHche 
Auflsenmg  des  all-einen  „Willens'*  im  lndi\  iduum  gegenüber  den  ande- 


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reu  Individuen  der  V < )r.s t eil iings weit;  für  den  Zweck  des  Lehens, 
die  Verneinung  des  „Willens",  leistet  das  Mitleid  nichts  imd  steht 
'  zu  demselben  in  gav  keinem  Zusammenhang.  Das  Mitleid  ist  für 
Schopenhauer  ein  Xaturphänomen,  das  nicht  auf  dem  sittlichen,  d.  i. 
das  Lebensziel  erstrebenden  A\'ollen,  sondern,  um  mich  in  Schopen- 
haiierscher  Sprache  auszudrücken,  auf  dem  „Willen"  des  Menschen  iiiht. 
Sobald  man  das  Mitleid  in  die  Sittenlehre  Schopenhauei*s  einzufügea 
versuchen  würde,  müsste  man  erkennen,  dass  man  damit  etwas  dem 
menschlichen  Lebenszweck  völlig  Widersprechendes  eingeführt  hätte. 
Sdtopenhauer  hat  dies  auch  nicht  gethan,  und  nur,  indem  £.  v.  Hartmann 
ihm  dies  untei-schiebt,  kann  er  behaupten,  dass  Schopenhauers  Forde- 
rung des  Mitleids  „etwas  von  Grund  aus  Verkehrtes  .  .  .  und  dem 
eigentlichen  Zweck  des  Lebens  Zuwiderlaufendes  ist."  [Phftnomeno- 
logie  d.  sittL  Bew.  44]  Schopenhauer  kann  diesem  Vorwurf  gegen- 
über vielmehr  erklären,  in  dem  Mitleid  zeige  sich  eben  einmal  wieder 
die  blinde  Natur  des  Willens,  dass  sie  so  „Zweckwidriges",  wie  das 
HiÜeid  ist,  hervorbringe;  denn  jede  mitleidige  That,  welche  das  Lei* 
den  des  Anderen  verringere,  helfe,  anstatt  diesen  zur  Verneinung  des 
Willens  zu  fOhren,  nur  dazu,  m  ihm  die  vorhandene  Bcjahnns:  des 
Willens  zum  Leben  zu  krfifdgen.  Hartmann  ist  hier  wol  durch  die 
Sdiopenhau^sche  Bezeichnung  des  lüfleids  als  der  „Grundlage  der 
Moral*'  irre  geführt  worden,  und  da  liegt  die  Schuld  allerdings  an 
Schopenhauer,  welcher  eben  „sittlich''  [moralisch]  als  identischen 
Ausdruck  für  uneigennützig  gebraucht,  und  in  seinen  Begriff  „stttlieh" 
nicht  zugleich  das  Moment  da*  auf  d^  Lebenszweck  abzielenden 
Selbstbestimmung  hereinnimmt. 

Es  ist  bezeichnend  für  den  Pliilosophen  des  all-eineu  „Willens", 
dass  er  in  seiner  pessimistischen  Weltan-sihaiuing  keinen  Platz  für 
das  „Sollen"  hat,  eine  Thatsache,  welche  zugleich  ein  Beweis  dafür 
ist,  wie  lose  sein  empirisclier  Pessimismus  mit  dessen  makrokosmischer 
Basis  verbunden,  und  wie  unklar  und  verworren  überhaupt  das  Ver- 
hältnis vom  Ansich  und  Vorstellung,  und  besonders  dasjenige  von  dem 
„Wesen"  Wille  und  dem  menschlichen  1  ndi vidualwillen  in 
Schopenhauei^s  System  entwickelt  ist.  J  )ie  Griinde ,  welche  Schopen- 
hauer das  sittliche  Sollen  abweisen  hiessen ,  kann  ich  hier  nicht  an- 
führen. Seine  Sittenlehre  (^lien  iiiusste  sich  darauf  beschränken,  den 
Tndividualwillen  auf  sich  selbst  und  damit  auf  den  Weltwillen  zn 
hetzen,  sowie  die  beiden  Wege,  den  der  Erkenntnis  und  des  Leidens, 
zu  zeigen,  auf  denen  dem  „Willeir*  angeblich  der  Krieg  gegen  sich 
selbst  im  Menschen  ei'möglicht  wird. 

(Fortsetzung  folgt.) 


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über  die  (lesundheitspflege  in  der  Schule. 


Ein  Cüiü'ereuzvortrag  von  Kector  Friesivke-FtQieüviaXde. 

als  in  fiiiherer  Zeit  richtet  sich  jetzt  die  allgemeine  Auf- 
merksamkeit auf  die  Gesuudiieit.spflegfe  in  der  Schule.  Nicht  nur 
Pädagogen  von  Fach  wenden  dieser  1^'rage  ihr  lelihaftes  Interesse  zu, 
sondern  aus  allen  Kreisen  der  (xesellschaft  werden  Stinnnen  Uber  sie 
laut;  ganz  besonders  aber  haben  die  hierzu  vor  allen  berufenen  medi- 
duischen  Autoritäten  der  Schulhygiene  ihre  Aufmerksamkeit  zuge- 
wendet und  zahlreiche  UntersuchungeD  gewidmet.  In  Faclizeitschriften, 
in  Vorträgen  ist  namentlich  über  die  zunehmende  Ikurzsichtigkeitt 
über  die  stets  stärker  aufti-etenden  Rückgratsverki'ümmnngen  des  heran- 
wachsenden Geschlechts  bittere  Klage  geführt  und  der  Schale  mit 
ihren  ungenügenden  Einrichtungen  manches  herbe  Woit  gesagt  wor- 
den. Ob  soldie  Klagen  begründet,  ob  die  den  Schuleinrichtnngen  nnd 
den  Lehrern  gemachten  Vorwürfe  berechtigt  seien,  das  wollen  wir  in 
den  nachfolgenden  Anseinandersetasnngen  m  erOrtem  soeben.  Zn  die- 
sem Zwecke  sei  es  uns  gestattet»  auf  drei  Fragen  einzogehen: 

A.  Weldies  smd  die  von  den  Staatsregieningen  in  gesnndheit- 
licher  Beziehnng  gestellten  Anforderangen  an  die  Schnlränme? 

B.  Wie  verhalten  sich  in  Wirklichkeit  die  Schnlgebande  nnd  ihre 
inneren  Einiichtongen  zn  den  gestellten  Forderungen? 

C.  Was  hat  der  Lehrer  zn  thun,  nm  nach  Müglichkeit  die  Ge- 
sondheit  der  ihm  anvertranten  Schuljugend  zu  erhalten  nnd  zn  fördern? 

A.  Bei  der  grossen  Wichtigkeit  unseres  Themas  werden  wir  etwas 
weiter  ausgi  eifen  nnd  uns  nicht  auf  das  engere  Vateriand  beschrftn- 
ken,  sondern  audi  auf  Verordnungen  und  Gesetze  unserer  Nachbai> 
Staaten  hinweisen,  wdl  wir  von  dem  Grundsatze  .uns  leiten  lassen, 
dass  man  das  Gute  nehmen  müsse,  wo  es  zu  finden  ist.  Und  dass 
viele  unserer  Nachbarn  uns  in  Preussen  in  dieser  Beziehung-  um  ein 
gutes  .Stück  Uberholt  liaben,  das  dürfte  wol  kaum  jeiuaiul  in  Abrede 
stellen  wollen,  der  die  Schulgesetjsgebung  der  Neuzeit  verfolgt  hat. 

Pxdigogim.  4.  Jahrg.  Hdl  IZ.  35 


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—   534  — 

Meines  Eracliteiis  liegt  das  eben  daran,  dass<  wir  in  Pi'eUs>t^n  noch 
immer  kein  Schulget^etz  haben,  das  in  allen  inneren  und  äusseren  An- 
gelegenheiten der  Schule  Ordnung  geschafft  hätte.  Zwar  ist  \ieles 
auf  dem  Verordnuugswege  geschehen,  aber  eine  durchgreifende  Ände- 
rung und  Besserung  ist  nur  von  einem  allgemeinen  Unterrichtsgesetze 
zu  erwarten,  und  das  ist  es  eben,  was  unsere  Nachbarn  voraus  haben. 

Was  nun  zunächst  die  Lage  der  Sdulliäuser  anbetrifft,  so  stim- 
men die  darüber  erlassenen  Verfügungen  und  die  Bestimmangen  in 
den  Unterrichtsgesetzen  der  verschiedensten  Länder  im  allgemeinen 
darin  überein,  dass  sie  folgende  Punkte  feststellen :  Der  Bauplatz  soll 
frei,  trocken,  sonnig  und  zugfrei  sein,  er  soll  fern  liegen  von  gewerb- 
lichen Anlagen,  die  entweder  durch  Lärm  und  Geräusch  den  Unter- 
richt stören  oder  durch  schädliche  Ausdflnstungrai  die  liuft  verpesten. 
Die  Lage  an  freqnenten  Strassen  und  Plätzen  ist  möglichst  zu  ver- 
meiden. Sollten  Bedenken  über  die  Wahl  des  Bauplatzes  in  gesund- 
heitlicher Beziehung  obwalten,  so  ist  das  Gutachten  des  Kreisphysicos 
einzuholen.  Die  Grösse  des  Bauplatzes  mnss  derartig  sein,  dass  das 
Schulgebäude  womöglich  nach  allen  Seiten  frei  zu  stehen  kommt,  dass 
daneben  ein  hinreichender  Raum  bleibt  für  den  nothwendigen  Spiel- 
und  Turnplatz  und  für  die  erforderliche  Anlage  von  Abtritten,  die 
jedoch  niemals  in  unmittelbarer  Nähe  des  Schulgebäudes  sich  befinden 
sollen.  Empfehlenswert  erscheint  es,  die  Schulhäuser  so  zu  bauen, 
dass  ihre  B^uptfront  nach  Osten,  resp.  Südosten  gerichtet  ist.  Soweit 
es  angänglich,  lege  man  die  Sehulclassen  in  das  Erdgeschoss,  sind 
dieselben  jedoch  über  mehrere  Stockwerke  zu  vertheilen,  so  weise  man 
den  jüngeren  Schülern  die  Räume  im  Erdgeschosse  zu.  Sind  in  einem 
Schulhause  Knaben-  und  Mädchenclassen  unterzubringen,  so  suileu  für 
dieselben  gesondeile  Eingänge  vorgesehen  werden. 

Das  zu  den  Schulbauten  verwendete  Material  sei  gut  und  dauer- 
haft. In  der  Regel  sind  die  Schulhäuser  massiv  zu  erbauen,  Fach- 
werk ist  nur  unter  ganz  besondern  Verhältnissen  statthaft.  Säniiiit- 
liche  Mauern  sind  unterhalb  der  Fussböden  des  Erdgrst  husses,  aber 
über  dem  Terrain  mit  einer  zur  Abhaltung  der  aufsteijrenden  Erd- 
feuchtigkeit geeigneten  Isolirschicht  zu  versehen.  Die  Dächer  sind 
mit  feuersicherem  Material  zu  decken,  an  den  Dachtraufen  sind  Rinnen 
mit  Abfallröhren  anzubringen.  Der  Fussboden  des  Erdge.^cliosses 
muss  mindestens  0,5  m  über  dem  Erdboden  liegen.  Rings  um  das 
Gebäude  ist  eine  Pflasterung  von  mindestens  1  m  Breite  und  mit  hin- 
reichendem Gefälle  zur  Abführung  des  Tagewassers  anzubringen. 

Die  Decken  sind  als  Windelböden  zu  construiren,  damit  das 


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—  535  — 


Dtirclulnngen  des  Schalles  von  einem  Stockwei'k  in  das  andere  ver- 
hindert wü*d. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  sich  die  Grösse  der  Schulzimmer 
nach  der  Anzahl  der  Schaler  zu  richten  hat.  Nach  einer  Verfügung 
der  königlichen  Begiening  zu  Düsseldorf,  ebenso  nach  den  Allgemeinen 
Bestinunnngen  Tom  Jahre  1872,  wie  nach  dem  (österreichischen  Unter- 
lichtQgesetze  sind  GUssemäiime  fOr  mehr  als  80  SchOler  unstatthaft, 
nnd  soUen  80  SehfQer  flbethanpt  die  MaximalMihl  bilden,  die  von 
einem  Lehrer  in  einem  Baume  zu  unterrichten  sind.  Die  Allgemeinen 
Bestfanmnngen  fordern  für  jeden  Sch&ler  einen  ilflchenranm  von' 
0,60  a  m,  wobei  die  Ginge,  der  Bamn  ftr  den  Ofen  nnd  fllr  den 
Ldirertritt  mit  einbegriffen  sind.  Die  Dttsseldorfer  Regierung  verlangt 
0,75  □  m,  das  Lübecker  Schulgesetz  0,70  Om;  das  Schulgesetz  im 
Grossherzogthum  Hessen  0,80  Qm,  in  OsteiTeicli  0,60  Dm.  Die 
Höhe  der  Zimmer  miiss  so  bemessen  werden,  dass  auf  jedes  Kind  min- 
destens 1,89  cbm  Tjuftnium  entföUt,  woraus  sich  ergibt,  dass  bei 
0,60  □  m  Grundriäche  pro  Kind  eine  Zimmerhöhe  von  3,15  m  ei*for- 
derlich  ist.  In  Östeiieicli  werden  tür  einfoclie  Schulverhältnisse  3,8  m 
Höhe,  in  grossem  Schulen,  namentlich  in  vielclassigen  Stadtschulen 
aber  4,5  m  Höhe  gefordert  und  für  jeden  Schüler  ein  Luftraum  von 
3^  resp.  4,5  cbm.  Die  Düsseldorfer  Regienmg  erklärt  Schulzimmer 
unter  4,90  m  Höhe  fär  unstatthaft.  Grundfläche  und  Höhe  müssen 
so  bemessen  sein,  dass  fhr  jedes  £ind  bei  natOrlicher  Luftemenernng 
nicht  unter  3  cbni  Banm  voriianden  sind. 

Die  zweclgiiftssigste  Gnmdform  des  Schulzimmers  ist  die  des 
Rechtecks.  Damit  Jedoch  die  vom  Lehrer  sm  entferntesten  sitzenden 
Schiller  die  auf  der  'WWdtafel  mid  den  Wandkarten  befindlichen 
Sehliftzüge  und  Zeichnungen  noch  dentlidi  erkennen  kOnnen,  darf  die 
Länge  des  Zimmers  das  Mass  von  10  m  nicht  übersteigen.  Das  ge- 
eignetste Verhältnis  der  Länge  und  Breite  ist  das  von  5 : 3.  Bei 
Bestimmung  der  Breite  ist  namentlich  zu  beachten,  dass  die  von  der 
Fensterwand  entferntesten  Plätze  noch  hinreichend  beleuchtet  werden. 

Der  Fussboden  des  Schulzimmers  muss  eben,  enp:  ^efiifft  und  mög- 
lichst dicht  sein,  und  derselbe  wird  zu  diesem  Zwecke  am  besten  mit 
Leinöl  getränkt.  Die  Dielen  sind  aus  festem  Holze  herzustellen.  Die 
Wände  und  Decken  sollen  glatt,  ein£u:big,  mit  einer  lichten,  blan- 
oder  gi'ünlichgrauen,  giftfreien  B'arbe  angestrichen  sein. 

Bei  Anlage  der  Fenster  ist  darauf  zu  achten,  dass  das  Eindiin- 
gen  Ton  directem  oder  von  nahe  liegenden  Gebäuden  reflectirtem 
Sonnenlicht  während  der  Schulzeit  möglichst  vermieden  werde;'  wenn 

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—   536  — 


(lie.s  nicht  in  allen  Fällen  zu  erreichen  ist,  so  muss  weuigsteusj  lür  die 
Fenster  völlig  deckende  Rouleaux  oder  Marquisen  von  mattgi*auem 
Stoffe  gesorgt  werden.  Das  Licht  soll  den  Schülern  ziu*  linken  Seite 
einfallen,  allenlalls  theihveise  vom  Rücken  her,  niemals  aber  dürfen 
Fenster  in  der  Kathederwand  an<;ebracht  werden.  Das  Schulzimmer 
wird  natürlich  um  so  besser  beleuchtet  sein,  je  höher  das  Licht  von 
oben  einfällt,  und  deslialb  sind  die  Fenster  so  hoch  gegen  die  Decke 
hinaufzuführen,  als  constructiv  zulässig  ist.  Der  Wandraum  zwischen 
zwei  Fenstern  darf  1.25  m  nicht  überschreiten.  Sämmtliche  Fenster 
smd  so  anzulegen,  dass  sie  vollständig  geödet  werden  können. 

Was  die  Heizung  der  Schnlzimmer  anbelangt ,  so  sollen  die  dazu 
erforderlichen  Anlagen  so  hergestellt  werden,  dass  eine  entsprechende 
ErwilnniiDg  leicht  zu  ermöglichen  ist.  Am  zweckmäasigsten  ei^scheinen 
immer  noch  gute  Kachelöfen.  Sie  sind  den  eisernen  entschieden  Yor> 
zuziehen,  welche  zwar  schnell  das  Zimmer  erwärmen,  aber  leicht  eine 
zn  starke  und  bald  verfliegende  Hitze  yerbreiten.  Gnte  Kachelöfto 
dagegen  yerbreiten,  wenn  sie  gehörig  mit  Material  yeraorgt  weiden, 
eine  angemessene,  gleidunSasige  und  aosreidieBde  W&rme,  die  auch 
wfthrend  der  SchnkeH;  yorhtit  Bereits  eine  halbe  Stunde  yor  Beginn 
des  Unterrichts  müssen  die  Schuhrftume  gehörig  dnrchwttrmt  sein,  da- 
mit die  Kinder  nicht  auf  ihren  Plfttzen  beim  StüMtzen  frieren  müssen. 
In  strengen  Wintertagen  soll  die  Heizung  zweimal  «folgen.  Der  Ofen 
wird  am  besten  an  der  der  Fensteraeite  gegenflberliegenden  Wand  an- 
zubringen sein;  Ofenrohrklappen  sind  möglichst  gänzlich  zu  yermeiden; 
sind  sie  yorhanden,  so  sollen  sie  wenigstens  so  oonstruirt  sein ,  dass 
sie  das  Ofenrohr  lüe  yoUständig  schliessen.  Für  grossere  SchulhSnser 
werden  geeignete  Caitralheizangen  empfohlen.  Als  eine  angemessene 
Temperatur  sind  15 — 16®  R.  zu  betrachten.  Um  einen  sichern  Mass- 
stab flir  die  Bestimmung  der  Temperatur  zu  haben,  ist  in  jedem 
Classenzimmer  ein  Thermometer  an  einer  Stelle  anzubrint^en ,  deren 
Teuipejatur  als  die  mittlere  des  Zimmers  anzunehmen  ist:  das  Thermo- 
meter ist  etwa  in  l.öO  m  Höhe  iiber  dem  Fnssboden  autzuhänsren. 
Genau  diese  Restimmnngen  finden  sich  in  den  Schulsresetzen  Württem- 
bergs und  Sachsens.  In  letzteren  beiden  Staaten  ist  ausserdem  noch 
festgesetzt,  dass  bei  einer  Temperatur  in  den  Schulräimien  unter  IS^^R. 
<tlnie  Rücksicht  auf  die  Jahreszeit  zu  heizen  sei.  Steigt  im  Sommer 
die  AussenteiHi»eratur  vormittags  bis  10  Uhr  aui'  20"  K.  im  iicliatten, 
so  ist  der  Nachmittagsunterricht  auszusetzen. 

Von  wesentlicliem  KiiiHusse  auf  das  Woll)etinden  und  die  (^esuml- 
heit  der  bchüler  ist  die  Erneuerung  der  Luft  in  den  Schulräumeu,  die 


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treibst  während  der  Unterriclit^^stuiideu  stattfinden  muss.  Es  ist  zu 
dem  Zwecke  Bedacht  darauf  zu  nehmen,  dass  geeignete  Ventilat ioiis- 
vom'chtungen  angebracht  werden.  Das  Wesen  der  Ventilation  besteht 
daiin,  die  schlechte  Luft  auszuführen  und  der  atmosphärischen  Luft 
den  Zutritt  zu  verschaffen.  Die  durch  das  Ausathmen  erwärmte  Luft 
steigt  nach  oben,  die  oheve  Lnftscliicht  dagegen  nach  nnten.  Je  höher 
non  ein  Schulzimmer  ist,  desto  mehr  zum  Athmen  geeignete  Luft  wird 
es  enthalten;  es  sind  daher  hohe  Schulzimmer  als  ein  Haupterfordemis 
f&r  gesunde  Luft  anzusehen.  Da  das  Öffnen  ganzer  Fenster  nicht 
Toriheilhaft  nnd  statthaft  ist,  so  sind  die  oberen  Fenster  so  einzurich- 
ten, dass  sie  um  eine  horizontale  Achse  drehbar  sind.  In  der  gegen- 
flheriiegenden  Wand  sind  in  annähemd  gldcher  Höhe  eine  entspre- 
diende  Anzahl  yerschliessharer  GegenOlIhnngen  anzubringen.  Auch 
bei  der  Anlage  der  Heizvorrichtungen  ist  auf  die  Ventilation  Bftck- 
sieht  zu  nehmen. 

Die  Gftnge  und  Treppenrftnme  eines  Schnlgeb&ndes  mttssen  hell, 
gerftumig  und  besonders  zugfrei  sein.  Die  inneren  Treppen  sind  so 
anzulegen,  dass  sie  mindestens  eine  Breite  von  1,25  m  haben;  an  der 
freien  Seite  ist  jeder  Treppenraum  mit  einem  starken  Handgeländer 
zu  yersehen,  an  der  Wandseite  mit  einfitMdiai  Handgriffen.  In  grösse- 
ren SchnDUbisem  sind  die  Treppen  masriT  herzustellen;  am  Fuisse  der 
Treppen  sind  Scharreisen  oder  Eratzen  anzubringen. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  die  Einrichtung  von  wenigstens 
einer  Lehrerwohnung  im  Schulhause;  es  sollte  kein  8eliulgebäude 
geben ,  in  dem  nicht  wenigstens  ein  Lehrer  Wohnung  hat ,  der  die 
Oberaufsicht  über  die  gesanimten  Classenräunie  führen  könnte.  Die 
Düsseldorfer  Regierung  bestimmt  darüber:  ,.Kine  im  Schulgebäude  be- 
findliche Wohnung  für  einen  verheiratheteu  Lehrer  muss  fünf  Wohn- 
resj).  Schlafräume,  ausserdem  Küche,  Vorratliskammer,  Keller  und 
Speicher  enthalten.  Für  einen  unverheiratheten  Lehrer  genügt  ein 
Wohn-  und  <'in  Schlafzimmer." 

Für  die  Reinhaltung  der  Schullocale  hat  namentlich  das  Ministe- 
rium in  Württemberg  sehr  dankenswerte  Bestimmungen  erlassen.  Dar- 
nach sollen  die  Schulzinmier,  Treppen  und  Gänge  in  der  Regel  täglich 
von  Schmutz  und  Staub  sort?fältig  gereinigt  und  während  des  Jahres 
wenigstens  viermal,  nach  Bedürfnis  auch  öfter,  gi'ündlich  aufgewaschen 
werden.  —  Durchgreifende  Reinigung  des  ganzen  Hauses»  Anstreichen 
der  Wände  u.  s.  w.  soll  in  den  Ferien  so  zeitig  vorgenommen  wer- 
den, dass  aUes  vor  dem  Wiederbeginn  des  Unterrichts  gehörig  trock- 
nen kann.  Die  Subsellien  sind  einige  Zeit  nach  dem  Auskehren  des 


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—   538  — 


Schulzimmers  abzuwischen,  Wände,  Öfen,  Gesimse  etc.  abzustäuben.  — 
Nasse  und  sclimutzige  Kleidungsstücke,  Regenschii'me  und  dergl.  sollen 
womöglich  ausserhalb  des  Schulzimmers  abgelegt  werden  können .  zu 
welcliem  Zweck  die  erforderlichen  Haken  oder  Reellen  und  Behälter 
zum  Einstelleu  der  nassen  Uegeuschirme  in  einem  besondem  Gelasse 
anzubiingen  sind. 

Ein  Waschbecken  nebst  Handtuch  zum  Keimgen  der  Hftnde  daxf 
in  keiner  Schule  fehlen. 

Ganz  besondere  Aufmerksamkeit  erfordert  die  Anlage  und  Rein- 
haltung der  Abtritte.  Nach  den  Vorschriften  mehrerer  preussischer 
Bezirksregierungen  ist  namentlich  darauf  zu  achten,  dass  die  Abtritte 
ausserhalb  des  Schulgebäudes  in  angemessener  Entfernung  von  dem- 
selUjn  für  Knaben  und  Mädchen  getrennt  angelegt  werden. 

Auf  je  80  Knaben  sind  mindestens  zwei,  auf  je  80  Mädchen  min- 
destens drei  untereinander  getrennte,  zugfreie,  helle  Sttzrfiume  zu 
rechnen;  letztere  sind  ndt  von  innen  verschlieesbaren  Thfiren  zu  ver- 
sehen. Die  Breite  eines  Sitzranmes  darf  nicht  unter  0,76  m,  die  Tiefe 
nicht  unter  1,40  m  betragen.  Die  Hohe  der  Sitze  ist  je  nach  dem 
Alter  der  Kinder  auf  0,35  bis  0,45  m  zu  bemessen.  IMe  SitdOcher 
sind  mit  Deckeln  zu  versehen.  Die  Abtrittsgruben  sind  wassere 
dicht  herzustellen,  gehörig  luftdicht  zu  decken  und  mit  einer  ge- 
nttgenden  Zahl  Uber  das  Dach  hinausfahrender  Dunstrohren  zu  ver- 
sehen. 

Für  die  Knaben  ist  ausserdem  an  einer  geeigneten  Stelle  eine 
genügende  Zahl  von  Pissrnrs  mit  getrennten  Ständen  herzustellen, 
welche  durch  eine  vor  denselben  befindliche ,  freistehende ,  etwa  1  m 
hohe  ^^'and  derart  zu  verdecken  sind,  dass  die  Schultern  von  aussen 
sichtbar  bleiben. 

Die  Sitzbretter  der  Abtritte  solloi  tfiglich  gereinigt,  der  Boden 
mindestens  einmal  in  der  Woche  aufgewaschen  werden.  Die  recht- 
zeitige Leerung,  regelmässige  Lflftung  und  zeitweilige  Desinfection  ist 
dringend  zu  empfehlen. 

Zu  jedem  Schulgebäude  gehört  auch  ein  Spiel-  und  Tunii>latz: 
derselbe  muss  in  thunlichster  Nähe  des  Schulhauses  liegen  und  vm 
demselben  aus  zu  übersehen  sein.  Der  Turnplatz  nniss  eingefriediiTt 
und  so  angelegt  sein ,  dass  das  Tagewasser  einen  raschen  Abtluss 
findet.  Die  Grenzen  können  mit  schattengebenden  l^;iumen  bepflanzt 
werden.  An  geeigneten  Stellen  sind  die  erforderlichen  Tumgeräthe 


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anzubringen.  Wo  die  Verliältnisse  es  gestatten,  ist  jrleichzeitig  auf 
die  Anlage  gedeckter  Spiel-  und  Turnplätze  Bedacht  zu  nt^bmen.*) 

,  Für  die  Gesundheit  ist  ein  gutes  Trinkwasser  von  grösster  Be- 
deutung. Es  sollte  darum  stets  darauf  Bedacht  genommen  werden, 
auf  jedem  Schulhofe  einen  Brunnen  henswichten ,  der  den  Kindern 
jederzeit  zug&nglich  ist  An  dem  Brunnen  sind  mehrere  reinliche 
Trinkgefässe  anzubringen,  die  den  Kindern  zur  Benutzung  zn  über- 
geben sind.  Wo  ein  Brunnen  nicht  angelegt  werden  kann,  sollten 
wenigstens  vom  Schuldiener  mehreremale  am  Tage  einige  Eimer  fri- 
schen Wassers  mit  den  dazn  gehörigen  Tiinkgefifassen  den  Kindern 
dargeboten  werden. 

Über  die  Bescbaffenheit  d^  Schnltische  ist  in  den  letzten  Jahren 
gar  viel  verAgt  worden;  wir  fassen  alle  hierauf  bezüglichen  Yerord- 
nongen  kurz  zusammen,  ohne  ans  anf  Sinzeinheiten  näher  einzulassen, 
Die  Generalforderung  lautet:  Die  SubseUien  mttssen  so  beschaffen  sein, 
dass  de  Jedem  Schüler  eine  gesundheitsgem&sse  Sitz-  und  Schreib- 
stettung  gewähren.  Demnächst  ist  zu  beobachten,  dass  sie  das  Stehen, 
wenigstens  flkr  kurze  Zeit,  sowie  das  Aus-  und  Eüigehen,  endlich  die 
Unterbringung  der  Bttcher  etc.,  sowie  die  Überwachung  der  Schüler 
gestatten.  Das  Hauptgewicht  Ist  auf  die  Gewährung  einer  gesund* 
heitsgemässen  Sitz-  und  Scbreibstellung  zu  legen. 

Das  sind  in  gedrängter  Zusammenstellung  die  hauptsächlichsten 
Verfügungen  der  einzelnen  Provinzial-  und  Landesregienmgen,  die  in 
prägnanter  Weise  die  Fordenmgen  enthalten,  welche  in  gesundheit- 
licher Beziehung  an  die  liuerc  ,  (irfisse.  innere  Einrichtung  der  Scluil- 
räume  etc.  gestellt  werden  müssen  und  als  durchaus  nothwendig  von 
den  Behörden  erachtet  worden  sind.  W  as  ich  bisher  niitgetheilt,  sind 
•  also  nicht  subjective  Ansichten  und  fromme  Wünsche  einzelner  Lehrer, 
sondern  es  sind  behördliche  Forderungen.  In  einer  allgemeinen  Ver- 
fugung der  Königl.  Regierung  zu  Düsseldorf  heisst  es  inbezug  auf  die 
hier  vorgeführten  Forderungen:  Es  enthalten  diese  fTrundsätze  im 
wesentlichen  nur  die  Minimalanfordenmgen ,  welche  bei  Anlage,  Ein- 
richtung und  Ausstattung  der  Schulen  nach  dem  heutigen  Stan<le  der 
bautechnischen,  ärztlichen  und  schulmännischen  p]ifahrung  gestellt 
werden  müssen.  Bessere  und  vollkommenere  Einrichtungen  sind  da- 
durch selbstverständlich  nicht  ausgeschlossen.  Den  Schulaofisichts-  und 


*)  In  Fhudüreicli  riiul  BMh  uns  TorliflgendeB  BoiehttB  boeiu  Tid&eh  die  Spiel- 
plitM  Iklieidaebt,  mdass  es  den  Kindern  mUglich  ist,  auch  bei  unglliistiger  Witterung 
hl  Ffeiai  n  verweilen. 


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Verwaltungsbehörden  wird  es  al)er  zur  Priiclit  geniaclit .  bei  Anlafre. 
Einrichtung  und  Ausstattung  der  unserer  Aufsiclit  unterstehenden 
öffentlichen  Schulen  auf  die  Befolgung  dieser  Bestimmungen  zu  halten 
und  zweckwidiigti  Abweichungen  nicht  zuzulassen.  Ebenso  haben  diese 
Bestimmungen  lieim  Umbau  und  bei  Erweiterung  von  Schulgebäuden 
Anwendung  zu  tinden,  und  es  wird  auch  bei  erheblicheren,  der  Ge- 
sundheit der  Schüler  direct  nachtheiligen  Abweichungen  und  Übel- 
ständen in  bereits  bestehenden  öffentlichen,  wie  in  Privatschulen  auf 
deren  Bescitigong  nach  llassgabe  der  erhissenen  Bestimmungen  hinzu- 
wirken sein." 

Hiermit  möge  es  genug  sein.  Wir  wenden  uns  nunmehr  dem 
zweiten  Punkte  zn. 

R  Wie  verhalten  sich  in  Wiridichkeit  die  Schulgebtode  und  ihre 
Inneren  Einrichtungen  zu  den  gestellten  Forderungen? 

Darin  sind  wir  gewiss  alle  einer  Meinung,  dass  die  von  den 
KönigL  Begierungen  gestellten  Forderungen  höchst  zweckmässige  und 
den  Bedttrfiiissen  entsprechende  sind,  und  dass  hei  ein^  gewissenhaften 
allseitigen  Ausführung  derselhen  fttr  die  Gesundheit  dw  Schuljugend, 
wie  auch  der  Lehrer,  au6  beste  gesorgt  sein  würde.  Es  wird  sich 
uns  allen  aber  bei  Erwägung  dieser  Frage  und  der  fhatsächlichen 
Verhältnisse  nur  gar  zu  bald  die  Überzeugung  aufdrängen ,  dass  wir 
jetzt  diese  Forderungen  meist  nur  als  Ideale  an&u&ssen  haben,  deren 
Eiffillung  unser  innigster  Wunsch  ist  und  sicherlieh  noch  auf  lange 
Zeit  bleiben  wird,  dass  die  Wirklichkeit  aber  noch  gar  weit  hinter 
den  gestellten  Bedingungen  zurückbleibt.  Wir  sprechen  hier  nicht  von 
speciellen  und  localen  A'ei  hältnissen,  unser  Blick  ist  vielmehr  auf  das 
Allgemeine  gerichtet.  Ausnahmen  gibt  es  ja  bereits  viele,  und  wir 
kennen  eine  ganze  Anzahl  von  Schuleinrichtungeu  und  von  Volks- 
schulgebäuden,  die  allen  berechtigten  Wünschen  vollkommen  enti>pre- 
chen.  Ich  erinnere  hier  nur  an  die  Prachtbauten  der  Berliner  C'om- 
muualschulenja  auch  in  \ielen  kleinen  Städten  sind  uns  Scluilanstalteu 
bekannt,  die  nach  Lage,  innerer  Ausstattung,  Reinhaltung  etc.  kaum 
etwas  zu  wünschen  übrig  lassen.  Von  ^^elen  Landscliulhäusem  lässt 
sich  dasselbe  sagen.  80  haben  wir  in  unmittelbarer  Nähe  in  den 
Dörfern  Alt-Küstrinchen  und  Alt-Küdnitz  Schulhäuser  k(*iiiu'n  gelernt, 
die  Sehl'  zweckmässig  angelegt  und  mit  allem  mithigen  Material  aufs 
beste  ausgestattet  sind.  Ganz  besonders  scheint  man  in  Sachsen  und 
in  Thüringen  für  zweckentsprechende  Schulanlagen  Sorge  zu  tragen. 
Wer  Gelegenheit  gehabt  hat,  diese  Länder  am  Wandei-stabe  zu  durch- 
messen, dem  wird  sich  die  Wahrnehmung  aufj^edrängt  haben  —  wenn 


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—  Ö41  — 


er  nur  Interesse  daran  hat  —  dass  die  Schulgebäude  in  Stadt  und 
Land  vor  allen  andern  sieh  yortheilhaft  durch  Lage,  Freundlichkeit 
and  Solidität  dar  AvsfÜhnmg  ansieichnen.  Das  schönste,  firenndlichste 
imd  hellste  Hans  im  Dorfe  ist  meist  das  Scbnlhaus.  In  den  Städten 
Thüringens  nnd  Sachsens  kann  man  wahre  Prachtbanten  ittr  Schnl- 
swBcke  sehoi,  die  auch  in  ihrem  Innem  mit  allem  WQnschensverten 
msehen  sind.  In  PcHnmem  nnd  in  den  ftnneren  Districten  Schlesiens 
haben  vir  aber  anch  andere  keimen  getemt,  Ja  in.  unserer  engem  Hei- 
mat haben  wir  genug  Schulhäuser,  die  den  gestellten  Forderungen 
auch  nicht  im  entferntesten  gerecht  werden.  Anstatt  aut  treien. 
trockenen,  sonnigen  Plätzen  zu  lie<;;en,  finden  wir  sie  an  sclimutzigeu. 
engen  Strassen  und  Gassen,  versteckt  z"vsischen  Wirtschaftsgebäuden 
und  f\ibrikanlafren .  wo  kaum  die  lielie  Sonne  mit  ihrem  freundlichen 
Lichte  durchzudringen  vermag.  Ein  freier,  schöner  Spiel-  und  Turn- 
platz ist  da  vergeblich  zu  suchen,  kaum  dass  ein  enger  Hofraum  vor- 
handen ist,  wo  die  Aborte  angelegt  sind,  oft  nur  allzuuahe  dem  Schul- 
hanse.  Bei  vielclassigen  Schul  anstalten  werden  noch  häufig  die 
besonderen  Eingänge  für  Knaben  und  Mädchen  vermisst,  das  zu  den 
Bauten  verwendete  Material  genügt  nicht,  nnd  die  Anlage  der  Classen- 
Tftume  ist  oft  mehr  als  mangelhaft  Die  Schnlzimmer  sollen  gesund 
und  trocken  sem,  der  Fussboden  nundestens  0,5  m  über  dem  Brdboden 
liegen,  und  doch  existiren  noch  an  Terschiedenen  Orten  Schnlzimmer, 
die  geradezu  in  Eellerräumen  untergebracht  sind,  derra  feuchte  Wände 
Yon  Filzen  bedeckt  sind,  eine  höchst  zweifelhafte  Beleuchtung  haben, 
und  aus  denen  uns  eine  dnmpfe  Luft  entgegenströmt  Wie  viele 
Schulhäuser  bestellen  nocli,  die  verfallenen  Tagelöhnerhütten  ähnlicher 
sehen,  demi  Biklungsstätten  für  (his  heranwachsende  Geschlecht!  Und 
wie  steht  es  mit  der  vorgeschriebenen  Höhe,  mit  dem  zu  gewährenden 
Flächenraum  fiir  jedes  einzelne  Kind?  Neben  vielen  den  Anforde- 
rungen nothdürftig  entsprechenden  Classenräumen  haben  wir  genug  an- 
dere, die  weit  hinter  denselben  zurückbleiben.  Da  ist  weder  die 
notliigeHöhe,  noch  ist  der  erforderliche  Flächenraum  vorhanden.  Die 
Jlaximalzahl  der  Schüler  für  nomal  angelegte  Olassen  ist  auf  80  fest- 
gesetzt Wir  finden  aber  nicht  selten  in  engen,  niedrigen,  feuchten 
Bänmen  eine  Schülerzabl,  die  90  und  100  weit  überschreitet.  Dass 
imter  solchen  Verhältnissen  auf  die  Gesundheit  der  SchfUer  und  Lehrer 
nidit  in  der  vorgeschriebenen  Weise  Bflcksicht  genommen  ist,  liegt 
klar  auf  der  Hand.  Auch  die  Dielung  lässt  in  vielen  Fällen  zu  wün- 
schen tlbrig;  häufig  genug  sind  die  Fugen  nicht  nur  gar  zu  breit,  so 
dass  sie  eine  bequeme  Ablagemngsstätte  für  Sand  nnd  Staub  bilden. 


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—   542  — 


es  zeigen  sich  j?elbst  tiefe  Löcher,  dazu  geeignet,  Hals  und  Bein  zu 
brechen.  Dass  die  Dielen  mit  Öl  getränkt  und  so  widerstandsfähiger 
gemaclit  werden,  dürfte  wol  nur  in  Ausnahmefällen  voi-komnien,  wenig- 
stens sind  uns  bisher  derartige  Einrichtungen  noch  nicht  zu  Gesicht 
gekommen.  Nacli  den  bestehenden  Bestimmungen  sollen  Wände  und 
Decke  einen  lichten  Ansü'ich  haben,  und  soll  derselbe  alle  zwei  Jahre 
einmal  erneuert  werden,  damit  die  die  (^esundlieit  gefthrdenden  Staub- 
massen  und  Filzbildnngen  verhindert  werden.  Fragen  wir  uns  aber 
nach  der  Ausftthrong  dieser  Vorschriften,  so  mflssen  wir  auch  hier 
bekennen,  dass  nur  in  den  seltensten  Fällen  diesen  gewiss  wolgemein^ 
ten  und  nothwendigen  Forderungen  nachgekommen  wird.  Betrachtoi 
wir  doch  unsere  Ckssenränme  einmal  nach  diesen  Oesichtspunkten, 
wir  werden  da  oft  kaum  feststellen  können,  wann  der  letzte  Abputx 
erfolgt  ist. 

Für  die  Schonung  der  Augen  ist  es  als  unerlässliche  Forderung 
hingestellt,  dass  die  Schulräume  hinreichende  Beleuelitung,  kein  redec- 
tirtes  oder  directes  Sonnenlicht  erhalten,  und  dass  die  F'enster  mög- 
lichst gi'oss  und  mit  den  nüthigen  Schutzvorrichtungen,  Marquisen 
oder  Kouleaux  versehen  seien.  Aber  wie  Wele  Classenzimmer  finden 
sich  noch,  die  hinreicliend  grosse  Fenster  nicht  haben  und  die  der 
nöthigen  Schutzvorrichtungen  entbehren.  Auf  den  Dürfern  namentlich 
haben  wir  vielfach  Fenster  bemerkt,  die  viel  zu  klein,  deren  Scheiben 
oft  wahre  Ochsenaugen  sind,  die  mithin  die  nöthige  Helligkeit  im 
Schulraume  nicht  verbreiten.  Selbst  an  hellen,  freundlichen  Tagen 
herrscht  ein  Dämmerlicht,  an  tr&ben  Tagen  aber  ist  es  auf  den  von 
den  Fenstern  entfernteren  Plätzen  kaum  möglich,  etwas  zu  sdien. 
Da  mOssoi  denn  freilich  die  Augen  übermässig  angestrengt  und  za 
Grunde  gerichtet  wei'den.  Abhfllfe  ist  hier  dringend  geboten. 

Von  Wichtigkeit  ist  fftr  den  Winter  auch  die  angemessene  Er- 
wärmung der  Schulräume.  Wenn  man  erwägt,  dass  die  Kinder  drei 
bis  vier  Stunden  still  sitzen  müssen,  so  ei*scheint  die  Forderung  eines 
genügend  erwärmten  Kaumes  gewiss  nicht  als  eine  unberechtigte. 
Dazu  sind  aber  nach  den  bestehenden  Verfügungen  und  Erlassen  der 
verschiedensten  Regierungen  bei  Beginn  des  Unterrichts  wenigstens 
4-  LS**  R.  erforderlich.  Nun  frage  ich,  wer  von  Ihnen  hat  iliese 
Temperatur  bei  einer  Aussentemperatur  von  nur  —  10^'  R.  beim  An- 
fange der  Schulstunden  zu  verzeichnen  gehabt?  Wir  können  hier  con- 
stÄtiren,  dass  häufig  das  Thermometer  am  Morgen  mir  -f-  9»  höchstens 
-f-  10"  R.  zeigte  und  während  desUntemchts  allenfalls  auf  -^-12^  R. 
stieg.   Der  Lehrer  hält  es  dabei  allenfalls  ans,  er  kann  sich  zur 


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~  643  — 

Noth  diu-cli  Bewegung  envärmeii;  aber  für  die  stillsitzenden  Kinder 
ist  ein  solches  Zimmer  entschieden  zu  kalt,  die  Gesundheit  muss 
darunter  leiden.  Wie  oft  sehen  wir  die  Kleinen  mit  blau  gefrornen 
Händen  und  klappernden  Zähnen  dasitzen.  Ein  Nachlegen  ist  in  den 
meisteil  Fällen  auch  nicht  Erfolg  versprechend,  weil  die  ganze  Heiz- 
anlage iucht  yorschriftsmässig  hergerichtet  ist  Ganz  besonders  ist 
Klage  zu  führen  in  solchen  Anstalten,  wo  eiserne  Öfen  ohne  Jede 
Mantelhülle  in  Anwendung  kommen.  Die  Erwärmung^  erfolgt  zwar 
sehr  sehneU,  aber  sie  ist  keine  aaehbaltige.  Dazu  kommt,  dass  die 
Lnft  durch  die  ausströmende  SprOhhitze  nnertrftglich  trocken,  in  der 
Kopfhöhe  flbermftssig  erwSnnt  wird,  am  Fassboden  dagegen  viel  zn 
kalt  bleibt  Eiserae  Öfen  müssen  als  der  Gesmidheit  schftdlich  ans 
den  Schnlrftomen  verwiesen  werden;  wo  sie  vorhanden  sind,  sollten 
ae  zmn  mindestens  mit  einer  MantelhiUle  nmgeben  sein.  Am  zweck- 
rnftssigsten  haben  sich  bisher  immer  noch  gut  angelegte  nnd  einge- 
richtete Kachelofen  erwiesen. 

Znr  Feststellnng  der  Temperator  soll  in  jeder  Glasse  an  geeig- 
neter Stelle  ein  Thermometer  aidiifehängt  sein.  In  vielen  Schnlan- 
stalten  mid  namentlich  in  grosseren  Städten  finden  wir  dieses  Instrument 
angebracht,  aber  es  gibt  noch  Schulen  genug,  in  denen  es  fehlt;  noch 
wunderbarer  aber  ist,  dass  es  selbst  Schulmänner  gibt,  die  dieselben 
aus  den  Classenräumen  verbannen,  weil  niöf^licherweise  mit  denselben 
Unfug  —  besondei-s  zur  Sommerszeit  —  getrieben  werden  könnte. 
Wie  aber  will  man  die  Temperatur  Lestimmen?  Das  Gefühl  ist  liier- 
für  ein  sehr  trügliclier  Massstab.  Und  doch  ist  eine  normale  Tem- 
l>eratiu'  für  das  ^\'olbefinden  der  Schüler  wie  der  Lehrer  von  nicht 
zu  unterschätzender  Bedeutung;  die  Regierungsveifüg-ungen  sollten 
darum  auch  in  dieser  Beziehung  von  den  Schulvorständen  mehr  be- 
rücksichtigt und  befolgt  werden. 

Dass  unsere  und  unserer  Scliüler  Gesundheit  selir  von  der  in  den 
Schulräumen  herrschenden  Luft  abhängig  ist,  haben  wir  alle  liinläng- 
lich  erfahren.  Bei  den  f«)rt währenden  starken  Ausdünstungen  der 
Kuider  und  der  Kleider  wird  die  Luft  nur  allzu  bald  schlecht  und 
bedarf  dämm  einer  Erneuerung.  Da  es  nun  —  namentlich  an  kalten 
Wintertagen  —  unzulässig  erscheint,  ganze  Fenster  zu  öffnen,  so  ist 
aof  andere  Weise  für  eine  möglichst  sclmelle  und  nachlialtige  Luft- 
emenemng  Sorge  zu  tragen.  Es  sind  darum  die  nöthigeuVentilations- 
vorrichtnngen  fiberall  in  erforderlichem  Hasse  anzubringen.  Hieran 
fehlt  es  nim  leider  anch  noch  in  so  mandien  Schnlanstalten,  nnd  doch 
Hessen  sieh  dieselben  oft  mit  einem  geringen  Kostenanfwande  her- 


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—   544  — 


stellen,  sollten  es  auch  nur  an  den  obei-en  Fenstern  aiij^braclite ,  um 
eine  horizontale  Aehse  sich  drehende  Scheiben  sein;  es  wäre  doch 
besser  als  nichts.  Bei  einer  guten  Heizanlage  ist  selbstverständlich 
die  Ventilation  schon  mit  bedacht  und  hilft  dem  Cksseuraume  frische 
Luft  zuführen. 

Sehr  beherzigenswert  sind  die  über  die  Beinhaltung  der  Schul- 
rftnme  erlassenen  Bestinimmigen.  Es  wäre  sehr  dankenswert,  wenn 
fttr  mehrdassige  Sdiulsysteme  die  Schnldiener  von  den  stfidtischen 
Behörden  beauftragt  wflrden,  tfiglich  na«h  Schlnss  des  Unterrichts  die 
Lehradmmer,  Corridore  niid  Treppen  you  Staub  und  Schmutz  zu  rei- 
nigen und  nadi  erfolgtem  Ausfegen  die  Subseilien  und  Wände  vom 
Staube  zu  sftubem..  Ebenso  sollte  Sorge  getragen  werden,  dass  die 
Schiller  ihre  nassen  Hfintel,  H&tzen  u.  a  w.  an  hierfOr  geeigneten 
Orten  ablegen  könnten  und  nicht  nöthig  hätten,  dieselben  mit  in  die 
Classen  zu  nehmen,  woselbst  sie  die  Luft  nur  zu  bald  verderben  hel- 
fen. Mit  Freuden  würde  es  sicherlich  auch  begrüsst  werden,  wenn  in 
jeder  Classe  ein  ^^'aschl »ecken  und  ein  Handtuch  zum  Reinigen  und 
Abtrocknen  der  Hände  vorlianden  wäre.  Wie  die  \'erhältnisse  aber 
jetzt  liegen,  werden  wir  wol  vorläufig  nocli  auf  den  Luxus  der  täg-- 
lichen  Reinigung  der  Schulräume,  auf  besondere  Räume  zum  AutT^e- 
wahren  der  nassen  Kleidungsstücke,  wie  auf  das  gewünschte  Wasch- 
becken nebst  Handtuch  verzichten  müssen.  Wir  werden  auch  in  Zu- 
kunft mit  unsem  Kreidefingern  unser  Frühstück  verzehren  und  eine 
Menge  Staubtheikhen  zur  bessern  Y^^unng  mit  hinunterschlucken 
müssen. 

Mehr  als  leider  bisher  geschehen  ist»  sollten  die  Schulvorstände  auf 
die  Anlage  der  Abtritte  ihr  Augenmerk  richten  und  den  Bestimmungen 
der  Begierungen  nachzukommen  suchen.  Hier  gibt  es  noch  sehr  viel 
gut  zu  machen  und  nachzuholen;  in  den  meisten  FAUen  lassen  die 
Aborte  viel  zu  wünschen  übrig.  Sie  sind  weder  in  ausreichender 
Grösse  und  Zahl  vorhanden,  noch  genügt  ihre  Einrichtung  auch  nur 
annähernd  den  notliwendigen  Anforderungen.  Es  sollen  helle,  zugfreie 
getrennte  Sitzräume  angelegt  werden;  aber  wir  finden  sie  zugig,  in 
vinw  Reihe  ohne  jegliche  Sclieidewand  fortlaufend.  Die  Sitzlücher 
sollen  mit  Deckeln  zu  verschliessen  sein,  aber  wir  haben  nur  nothdürf- 
tig  durch  Latten  liergericlitete  Sitzräume  aufzuweisen;  die  über  das 
Dach  liinausfiilu'enden  Dunströhren  suchen  wii*  ebenfalls  vergebens. 
Die  Reinigung  der  Sitzräume  soll  täglich  erfolgen,  sie  gesdiieht  aber 
wöchentlich  kaum  einmal.  Endlich  sollen  für  Knaben  und  Mädchen 
völlig  getrennte  Abtritte  vorhanden  sein,  und  wie  viele  Schulen  kennen 


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wii',  wo  dieselben  hart  au  einander  stossen.  Ja  noch  mehr.  Es  gibt 
Schulen,  wo  man  diesen  Luxus  überhaupt  nicht  kennt,  wo  weder  für 
£Daben,  noch  für  Mädchen  dergleichen  Bäume  vorgesehen  sind.  Es 
soll  eine  rechtzeitige  Leening,  eine  regehnässige  Läftimg  und  zeit- 
ureilige  Desinfection  erfolgen,  aber  auch  hiermit  hat  es  gar  vieler 
Orten  noch  gnte  Wege.  In  dieser  Beziehnng  geschieht  nodi  lange 
nicht,  was  im  Interesse  der  Gesundheit  unserer  Schfller  geschehen 
sollte. 

Bekanntlich  ist  Wasser  das  gesundeste  Getränk  für  Kinder,  und 
Kinder  trinken  es  oft  und  gem.  Darum  sollte  bei  keinem  Schnlhause 
ein  Brunnen  mit  gutem  Trinkwasser  vermisst  werden.  Wo  ein  solclier 
>icb  nicht  herstellen  lässt,  müsste  von  den  Schulbehörden  wenigstens 
dafür  gesorgt  werden,  dass  den  Kindeni  im  Schulranme  selbst  zu  den 
verschiedenen  Tageszeiten  in  dazu  geeigneten  Gefässen  frisches  Trink- 
wasser dargeboten  würde.  Es  sollten  darum  für  mehrclussi^^e  Schulen 
eine  entsi»reehende  Anzahl  Steinkrüge  mit  dazu  ^a'lniriL'-eu  Ti  inkbecheni 
vorhanden  sein,  die  vom  Schuldiener  mehrmals  am  Tage  mit  frischem 
Wasser  gefüllt  werden  müssten.  Leider  aber  gehören  derartige  für 
die  Gesundheit  dringend  wünschenswerte  Einrichtungen  nocli  immer 
an  den  Seltenheiten.  Es  sind  das  alles  nur  Kleinigkeiten,  nnd  dennoch 
tragen  sie  zu  dem  allgemehien  Wolbeflnden  unendlich  viel  bei. 

Wenn  die  Kinder  mehrere  Stunden  hinter  einander  in  straffer 
Haltung  im  Chissenzfanmer  haben  zubringen  mflss^,  so  ist  ihnen  eine 
kitoperliehe  Erholung  entschieden  noth.  In  den  Zwischenzeiten  sollte 
es  ihnen  darum  möglich  gemacht  wwden,  auf  einem  dazu  geeigneten 
Platze,  der  zum  Theil  ttberdaeht  sein  mUsste,  sieh  frei  und  ungehindert 
zu  bewegen,  um  für  die  folgenden  Stunden  sich  erfiischen  und  kräf- 
tigen zu  können.  Doch  nur  in  seltenen  Fällen  sind  bei  den  Schul- 
liäusem  solche  Plätze  vorhanden,  die  den  gestellten  Forderungen  ge- 
nügen. Oft  gleicht  ein  derartiger  Platz  mehr  einem  Sumpf,  als  einem 
Spielplatz,  so  dass  die  Kinder  genöthigt  sind,  sulort  wieder  die  Zimmer 
aufeiisuclien,  die  dann  auch  nicht  einmal  gelüftet  werden  können. 

Werfen  wir  schliesslich  noch  einen  Blick  auf  die  Subsellien,  so 
müssen  wir  gleichfaUs  beklagen,  dass  die  von  den  Regierungen  auf- 
gestellten Vorschriften  bisher  noch  so  g^r  wenig  Beachtung  gefunden 
haben.  Noch  sind  Schulen  genug  vorhanden,  in  äenea  Oberhaupt  die 
Subsellien  kaum  ausrdchende  Sitzplätze  für  die  Schfller  gewähren, 
geschweige  denn,  dass  sie  die  yorschriftsmfissige  Höhe  oder  gar  die 
geforderten  B&ckenlehnen  auftuweisen  hätten.  Man  begnttgt  sich  da^ 
mit,  auch  bei  Neubeschaffüngen,  möglichst  vielsitzige  Subsellien  herzu- 


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—  546  — ' 


stellen,  ohne  die  von  ärztlicliei*  Seite  gestellten  Hedingimgen  weiter 
'/AI  beachten.  Und  doch  ist  von  Sachverständigen  der  Nachweis  ge- 
führt worden,  dass  selbst  alte  Sclmllninke  mit  einem  ganz  unerheblichen 
Kostenaufwande  zweckentsprechend  umgeändert  werden  könnten.  Dr. 
Hippauf  gibt  die  Kasten  für  eine  so  umgeänderte  Bank  auf  3  M. 
an.  Wahrlich  eine  geringfügige  Kleinigkeit,  die  in  keinem  Verhältnis 
steht  zu  den  giossen  Yorthdlen,  die  eine  solche  Ck>nstniction  fdr  die 
Gesundheit  der  Schüler  mit  sich  bringt. 

Aus  dem  bisher  Gesagten  ergibt  sich,  dass  die  auf  die  Gesund- 
heit der  Schüler  abzielenden  Bestimmungen  dei*  Schulbehöivlen  als  sehr 
zweckmässig  anerkannt  werden  müssen,  anderseits  aber  anch,  dass 
wir  noch  weit  davon  entfernt  sind,  derartige  Einrichtongen  in  allen 
onsern  Schalen  zn  besitzen.  Wir  würden  uns  glücklich  schätzen 
können,  wenn  wir  die  als  Minimalfordemngen  bezeichneten  Bestim- 
mungen als  Mazimalausf&hrungen  aufeuweisen  hätten;  so  aber  bldbt 
die  Klage  berechtigt:  «^Trostlos  ist's  noch  allerwirts.** 

G.  Was  hat  nun  der  Lehrer  unter  den  bestehenden  YeihftltniBsen 
^  thun,  um  nach  Möglichkeit  die  Gesundheit  der  ihm  anrertrauten 
Schuljugend  zu  erhalten  und  zu  fördern? 

Der  Lehrer  muss  mit  d^  gegebnen  Verhältnisse  rechnen. 
Kann  er  auch  fUr  die-  Anlage  und  innere  Einrichtung  der  Schule  nicht 
verantwortlich  gemacht  werden,  so  bleibt  immerhin  inneihalb  seüies 
Klassenzimmers  noch  genug  zu  beachten  flbrig,  wofllr  er  allein  die 
Verantwortung  zu  tragen  hat.  Hier  heisst  es:  zeige  mir  dein  Lehr- 
;dmmer  und  ich  will  dir  sagen,  wess  Geistes  Kind  du  bist. 

Zuvürdei-st  hat  der  Lehrer  dafür  Sorge  zu  tragen,  dass  die  Luft 
im  vSchullocale  eine  möglichst  reine,  der  Gesundheit  zuträgliche  sei. 
Sind  genügende  Ventilationsvorrichtun<ren  nicht  vorhanden,  so  muss 
er  doppelt  bemüht  sein,  alles  aufzuwenden,  damit  die  Luft  rein  und 
der  Aufenthalt  im  Schulraume  ein  erträglicher  werde.  Da  gilt  es 
denn,  mit  grösster  Strenge  alles  das  fern  zu  lialten.  was  zur  Ver- 
schlechterung der  TiUft  beitragen  kann.  Es  wird  darauf  zu  achten 
sein,  dass  die  Schüler,  bevor  sie  den  Glassenraum  betreten,  die  Schuht- 
gründlich  von  Staub  und  Schmutz  reinigen,  dass  sie  im  WinttM*  den 
Schnee  von  den  Schuhen  und  Kleidungsstücken  entfenien  und  alle 
nicht  in  die  Schule  gehörigen  Sachen  draussen  lassen.  Zur  Ver- 
schlechterung der  Luft  trägt  auch  viel  die  Unreinlichkeit  bei,  die  in 
vielen  Schulen  noch  anzutreffen  ist.  Wenn  dichte  Staubmassen  die 
iBubseUien,  Tische  und  I^'enster  bedecken,  so  werden  diese  bei  jeder 
Bewegung  au^ewirbelt  und  müssen  dann  eingeathmet  werden;  nichts 


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aber  ist  den  Lungen  verderblicher,  als  diese  feinen  Staubtheilchen.  Ün- 
Terantwortlich  ist  es  auch,  wenn  der  Fussboden  mit  Papierschnitzeln, 
mit  Pflanzentheilen  oder  allerlei  Speiseresten  bedeckt  ist.  Diese 
Liederlichkeit  in  äussern  Dingen,  die  sich  leider  noch  in  gar  zu  vielen 
Schulen  findet,  ist  meistens  nach  ein  Zeichen  der  sittlichen  und  gei- 
stigen Sdüaflheit  des  Lehrers^  mit  der  er  sein  Amt  verwaltet  Wer 
wirkliche  liebe  zn  seinem  Amte  hat^  wird  mit  aller  Conseqnenz  dar- 
auf halten,  dass  er  wie  die  Sehfller  in  dem  Classenranme  sich  wol- 
läUen  können.  Das  wirksamste  Mittel,  der  Unordnung  zn  steuern 
nnd  abzuhelfen,  wird  immer  das  Beispiel  sein,  das  der  Lehrer  gibt. 
Beispiel  zieht  mehr,  als  Lelire  nnd  die  Mensdien  glauben  nun  einmal  den 
Auj^en  mehr  als  den  Ohren.  Empfehlenswert  erscheint  es  uns,  wenn 
der  Lelirer  sich  in  den  .Schülern  selbst  solche  Hilfen  heranzielit,  die 
för  die  Sauberkeit  der  Classenräume  Sorf^e  tragen,  die  die  Papier- 
und  Speisereste  sammeln  und  dieselben  gleich  aus  den  ('lassen  ent- 
fernen; andere  werden  dafür  verantwortlich  gemacht,  dass  die  Sub- 
sellien,  Katheder  und  Fenster  stets  staubfrei  erhalten  werden.  Die 
Kinder  verrichten  solche  kleine  Dienste  —  wenn  sie  gehörig  dazu 
angeleitet  werden  —  sehr  gern  und  gewöhnen  sich  dabei  von  vom- 
herein  an  Ordnung  nnd  helfen  zum  Wolbefinden  der  Gesammtheit  bei- 
tragen. 

Noch  auf  einen  andern  Punkt  möchten  wir  hier  verweisen.  In 
den  Volks»  und  Armenscbnlen  namentlich  werden  wir  gar  häufig  die 
Wahrnehmung  machen,  dass  die  Schiller  in  zerrissenen  und  schmutzigen 
Kleidern  erscheinen.  Dass  die  von  solchen  Kleidungsstficken  aus- 
strömenden Dünste  nicht  zur  Verbesserung  der  Luft  beitragen,  wird 
jeder  von  Ihnen  in  der  Praxis  hinlänglich  bestätigt  gefunden  haben. 
Sind  die  Kinder  dafür  in  erster  Linie  nicht  verantwortlich  zu  machen, 
so  glaube  ich  dennoch  dem  Lehrer  die  Pflicht  auferlegen  zu  sollen, 
dafür  einzustehen,  dass  die  Schüler  in  solchen  Anzügen  nicht  in  der 
Schule  erscheinen.  Wir  können  nicht  verlangen,  dass  uns  die  Kinder 
in  neuen,  ungetiickten  Kleidern  zugeschickt  werden,  wol  aber,  dass  sie 
reinlich  und  mit  ganzen  Sachen  kommen.  „Rein  und  ganz  gibt 
schlechtem  Kleide  Glanz*",  sagt  das  Sprichwort.  Und  so  wenigstens 
wollen  und  dürfen  wir  die  Kinder  von  den  Eltern  verlangen.  Wirkt 
der  Lehrer  in  geeigneter  Weise  auf  die  Kmder  ein,  so  werden  diese 
za  Hanse  bei  den  Eltern  das  Ihrige  thun,  um  den  gestellten  Forde- 
rangen  zn  genttgen.  Nadel,  Zwirn  nnd  Schere  finden  sich  auch  in 
dem  ännsten  Hanshalt,  nnd  das  Wasser  ist  Gott  sei  Dank  auch  nicht 
ein  solcher  l^nzusartikel,  dass  es  nicht  von  den  Ärmsten  beschafft 

* 


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werden  könnte.  In  den  meisten  Fällen  riihrt  die  Unsauberkeit  der 
Kinder  von  Nachlässigkeit  und  Faullieit  der  Mutter  her;  dieser  aber 
muss  eut.scliiedeu  entgegengetreten  werden. 

Wesentlich  für  die  Erneuerung  der  Luft  ist  das  zeitweise  Öfinen 
der  Fenster,  was  namentlich  hei  mangelnder  Ventilationsvorrichtung 
öfter  f^eschehen  sollte.  Im  Sommer  kann  dies  ohne  Gefahr  selbst 
während  der  Unteniclitsstunden  geschehen;  im  Winter,  wo  der  Gegen- 
satz zwischen  Innen-  und  Aussentemperatur  ein  gar  zu  grosser  ist.  kann 
(las  nicht  gut  gelieissen  werden,  namentlich  dann  nicht,  wenn  Zug 
entsteht.  Im  Winter  werden  aber  dazu  die  Zwischenstunden  verwandt 
werden  können,  so  dass  nach  dem  ^^■iederl)eginn  der  Lehrstunden  das 
(  "lassenzimmer  mit  frischer  Luft  gelullt  und  der  Aufenthalt  wieder  er- 
träglich gemacht  ist.  Nach  Schluss  der  Lehrstunden  sollten  die 
Fenster  jedesmal  geöffnet  werden,  um  den  Ihinst  ausströmen  zu  lassen; 
der  Schuldiener  hat  dann  nachzusehen  und  nach  geschehener  Lufter- 
neuemng  die  Fenster  wieder  zu  schliessen.  Leider  wird  hierin  von 
vielen  Lehrern  noch  viel  zu  wenig  gethan;  es  ist  uns  immer  unbe- 
greiflich gewesen,  wie  Lehrer  es  feitig  bringen  kdmien,'  den  ganzen 
Vormittag  in  solch  Teipesteter  Luft  zuzabringen.  Tritt  man  in  der- 
gleichen Käume,  wenn  man  von  draiissen  kommt,  so  möchte  man  am 
liebsten  gleich  wieder  umkehren.  Schon  dnrch  ihi'en  Geimch  maidit 
sich  die  yerdorbene  Luft  bemerkbar,  nnd  Eingenommenheit  des  Kopfes, 
lästige  Empfindung  in  der  Brnst,  sodann  Abspannmig  und  «llg^fflnffr 
Unbehagen  shid  die  Folgen.  Übt  sie  aber  solche  Einwirkungen  schon 
auf  die  kräftigeren  Orgtoe  eines  Erwachsenen  ans,  am  wie  viel  nach- 
theiliger mnss  sie  den  noch  zarten  Organen  unserer  Kinder  sein.  So- 
viel immer  möglich,  sollte  der  Lehrer  darom  bedacht  sein,  möglichst 
reine  Luft  in  seinem  Lehrzimmer  zn  haben. 

Wie  auf  die  Athmnngsorgane  Bttcksidit  zu  nehmen  ist,  so  bedarf 
auch  das  Auge  des  Kindes  der  Pflege  nnd  Schonung.  Wird  doch 
genäe  hi  unserer  Zeit  so  viel  Über  die  zunehmende  Kurzsichtigkeit 
und  Überanstrengung  der  Augen  geklagt!  Beziehen  sich  diese  Klagen 
nun  auch  meistens  auf  die  höheren  Lehranstalten  und  werden  diesen 
namentlich  Vorwürfe  wegen  der  Uberbürdmig  mit  häuslichen  Arbeiten 
gemilcht,  so  ist  doch  constatirt,  dass  das  Übel  auch  in  den  Volksschulen 
stärker  als  früher  auftritt.  Wenn  nun  auch  die  iiäuslii-hen  Beschäl- 
ligunjreu  der  Volksschüler  sehr  geringfügig  sind  und  diese  wol  kaum 
in  Betracht  gezogen  werden  kr»nnen,  so  vnrd  die  Schule  dennoch  ihr 
Augenmerk  aut  diesen  Punkt  richten  und  alles  beachten  müssen,  was 
:5chädlich  auf  das  Auge  einwirken  könnte.   Zunächst  liat  der  Lehi*er 


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—   549  — 


iluraiit'  zu  iicliteii,  dass  das  Licht  allen  Scliiilern  von  der  linken  Seite 
her  zustriimt;  es  niilssen  darum  die  Siibsellien  so  srestellt  sein,  dass 
(lies  <res(helien  kann.  Ferner  lasse  man  niclit  an  dunkeln  Tagen 
solche  liesL'hät'tiguniren  treiben,  l)ei  denen  die  Kinder  die  Augen  über- 
mässig anstrengen  niiisst  n.  wie  beim  Schreiben,  Zeichnen  und  Lesen. 
Ist  für  solche  Bescluiltigungen  das  erlbrderliche  Licht  nicht  vorhanden,  so 
lausche  man  unbedenklich  mit  den  Lectionen  und  nehme  dafür  Kn])t- 
rechnen,  Singen  u.  s.  w.  Vielfach  ist  aucli  die  zu  kleine  Scjirift  in 
den  Schulbüchern  den  Augen  verderblich  geworden;  es  sollten  darum 
die  \'erfasser  von  Schulbüchern  ernstlich  darauf  sehen,  dass  ein 
scharfer,  hini-eichend  grosser  und  kräftiger  Druck  für  dieselben  ge- 
wählt würde.  Sehr  bedenklich  leidet  das  Auge,  wenn  die  normale 
Sehweite  durch  schlechte  Körperhaltung  verkürzt,  oder  wenn  die 
Sehaxe  in  schräge  Richtung  gestellt  wird,  endlich  wenn  das  Ange 
hei  schon  eingetretener  £rmüdung  noch  angestrengt  w^rd.  £s  muss 
dämm  mit  aller  Strenge  darauf  gehalten  werden,  dass  die  Schaler  die 
Schreibutensiüen  und  die  Lesebücher  in  der  richtige  Lage  yor  sich 
haben,  und  dass  sie  selbst  gerade,  also  mit  der  nöthigen  Entfemnng 
des  Auges  von  der  Tafel  oder  dem  Schreib-  und  Zeichenheft  nnd  in 
der  Torgeschiiebenen  Haltung  sitzen.  Achtet  der  Lehrer  darauf  und 
geht  er  von  dieser  Forderung  nicht  ab,  so  wird  er  nicht  nur  dem 
Auge  die  erforderliche  Schonung  angedeihen  lassen,  sondern  er  wird 
gleichzeitig  damit  der  Yerkrfimmung  der  Rflckenwirbelsänle  an&  krftf- 
tigste  entgegenarbeiten.  Da  in  den  wenigsten  F&llen  die  Subsellien 
eine  solche  Einrichtung  besitzen,  dass  sie  die  rechte  Haltung  des 
Körpers  bedingen  oder  doch  wenigstens  unterstiitzen,  so  muss  der 
Lehrer  um  so  mehr  darauf  dringen,  dass  die  SchtUer  straif  und  gerade- 
sitzen und  durch  Gewöhnung  endlich  dahin  kommen,  dass  sie  den  aus 
Gesundheitsrücksichten  gestellten  Forderimgen  genügen. 

Nach  mehrstündiger  geistiger  Anstrentfung  und  längerem  Still- 
sitzen erscheint  es  geboten,  die  Kinder  im  i^'reien  unter  Führung  und 
Aufsicht  des  Lehrers  in  anständiger  Weise  sich  bewegen  zu  lassen, 
damit  sie  für  die  folgenden  Stunden  geistig  erfrischt  und  körperlich 
gestärkt  am  Unterriclite  sich  wieder  betheiligen  können.  Es  sollte 
(lamm  jeder  Lehrer  darauf  halten,  dass  alle  Schüler  während  der 
Pausen  den  Classenraum  —  der  ja  überdies  gelüftet  werden  soll  — 
verlassen  und  sich  in  der  frischen  Luft  ergehen:  nur  bei  ganz  un- 
günstiger Witterung,  bei  Kegen  und  strenger  Kälte  ist  davon  ab- 
zugehen. 

Ein  fernerer  Punkt  der  Gesundheitspflege  betrütt  die  Befnedigung 

P«tlttgogiuia.  i.  J«brg.  Heft  IX.  36 


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Ö50  — 

der  natürliclieii  Ht'dürtiiisse  seitens  der  Kinder.  Inl)ezu^  hierauf  sei 
der  Lehrer  sehr  vorsichtig;  lieber  lasse  er  die  Kinder  einmal  zu  oft 
als  zu  wenig  sich  aus  der  Classe  entfernen.  Xanientlich  bei  den 
jüngeren  Schülern  wird  häufiger  die  Erlaubnis  zum  Hinausgehen  ge- 
währt werden  müssen,  als  dies  bei  den  älteren  Jahrgängen,  die  nach 
und  nach  daran  gewulmt  werden  müssen,  die  dafüi*  bestimmten  Pausen 
zu  benutzen,  nothwendig  ist.  Soviel  als  möglich  halte  aber  der  Lehrer 
darauf,  dass  das  Hinausgehen  nicht  truppweise,  sondern  nur  einzeln 
erfolge.  Es  ist  nicht  gut^  wenn  viele  Kinder  mit  einem  Male  die 
Abtritte  besuchen,  es  werden  dabei  nur  gar  zu  leicht  allerlei  Allotria 
nnd  Ungehörigkeiten  getrieben;  niemals  aber  sollte  es  gestattet  werden, 
dass  Knaben  nnd  Mädchen  zn  gleicher  Zeit  die  Bed&rfiusanstalten 
betreten. 

Das  Capitel  von  den  Schulatrafen  steht  mit  dem  der  Gesond- 
heitspflege  in  engster  Beziehnng.  Noch  h&ofig  genug  mfissen  wir  be- 
rechtigte nnd  unberechtigte  Klagen  hören,  dass  der  Lehrer  das  rechte 
Mass  der  Züchtigung  Überschritten  habe.  AUjähilich  kommt  eine  An- 
zahl solcher  FfiUe  zur  richterlichen  Entscheidung,  und  in  vielen  FftUen 
muss  zugegeben  Verden,  dass  der  Lehrer  durch  allzu  grosse  Straige 
die  Gesundheit  der  ihm  anvertranten  Kinder  empfindlich  geschSdigt 
habe.  Wir  gehören  durchaus  nicht  zu  denen,  die  aus  einer  iSüsch 
verstandenen  Humanität  den  Ruf  erheben:  „Weg  mit  der  körperlichen 
Züchtigung  ans  der  Schulet  Uns  hat  sich  vielmehr  die  Überzeugimg 
aufgedrängt,  dass  es  gänzlich  ohne  den  Stab  Wehe  in  den  Schul- 
klassen nicht  geht,  weiinglpich  wir  seinen  Grebrauch  so  viel  als  mög- 
lich besiliränkt  sehen  möchten.  ,.Wer  seiner  Ruthe  schonet,  hasset 
seineu  Sohn",  sagt  die  heilige  Schrift,  und  wir  meinen  auch,  dass  eine 
zur  rechten  Zeit  und  am  rechten  Orte  angewandte  körperliche  Ziich- 
tigimg  bessere  Eifolge  aufzuweisen  hat,  als  dutzendweLse  gegebene 
Krmahnun<2ren  und  Erinnerungen.  Ja  wir  gehen  noch  weiter I  Wir 
bt'luiuplen  sogar,  dass  die  iiberliandneliniende  Roheit  und  Frechlieit  der 
heranwachsenden  Geschlechter  im  nrsäclüichen  Zusammenhange  steht 
mit  der  laxen  Disciplin  und  allzu  grossen  Zimperlichkeit  inbezus:  auf 
die  k/irperlichen  Strafen  in  den  Schulen/ j  Wenn  wir  nun  soklit-r- 
gestalt  die  Küthe  und  den  Stab  Wehe  aus  der  Schule  nicht  verbannen, 
die  körperlichen  Züchtigungen  niclit  ganzli('h  beseitigt  sehen  möchten, 
so  wünschen  wir  doch,  dass  mit  möglichster  Vorsicht  gestraft  werde, 
dass  der  Lehrer  sich  httte  vor  Verletzung  und  Schädigung  der  Oe- 


*)  Dieses  Capitel  ist  noch  streitig.  D.  H. 


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—   ööl  — 


sundlieit  seiner  Schüler;  namentlicli  bleibe  er  ruhig-  bei  Ausübung  des 
Züclitigiingsrechts  und  schlage  nicht  auf  edle  K<»rpertheile.  Ohrfeigen 
und  Schläge  nach  dem  Kopf  sind  unbedingt  zu  vermeiden;  am  un- 
schädlichsten erweisen  sich  immer  noch  einige  Schläge  auf  den  Hin- 
teren oder  einige  Streiche  mit  der  Ruthe  in  die  Handfläche. 

In  noch  einer  anderen  Beziehung  wird  der  Lehrer  auf  die  Ge- 
sundheit seiner  Schüler  Bedacht  nehmen  müssen.  Es  gehört  nicht  zu 
den  Seltenheiten,  dass  Schüler  der  Volksschulen,  obwol  mit  allerlei 
Hautkrankheiten  behaftet,  dennoch  von  den  Eltern  znr  Schule  geschickt 
werden.  Kopfausschlag,  Krätze  und  so  weiter  gehören  hierher.  Auf 
diese  ScbQler  hat  der  Lehrer  seine  besondere  Aufmerksamkeit  zn 
richten;  er  mnss  zn  Terhftten  suchen,  dass  von  den  so  erkrankten 
Elndem  eine  Übertragung  der  Erankheitsstfxife  anf  die  übrigen,  gesun- 
den Kinder  erfolge.  In  dein  seltensten  Fftllen  wird  es  genügen,  die 
kranken  Kinder  allein  zu  setzen;  das  erweist  sich  schon  deshalb  als 
nntdoe,  weil  die  Kinder  in  der  Zwischenzeit  ja  doch  zusammenkommoi. 
Es  dilifte  vielmehr  geboten  erscheinen,  diese  Schiller  so  lange  von 
der  Scbnle  fem  zn  halten,  bis  ihre  völlige  Gesundheit  nachgewiesen 
ist  Brechen  Epidemien  aus,  Pocken,  Scharlach  n.  s.  w.,  so  gilt  es 
doppelte  Wachsamkeit,  damit  diese  Unholde  nicht  in  die  Schulen  ver- 
schleppt werden.  Der  Lehrer  erkundige  sich  eingehend  nach  den 
Erkranknngsfällen,  und  fOr  den  Fall,  dass  er  eifthrt»  es  sei  eine  an- 
steckende Krankheit  in  einer  FamiBe  ausgebrochen,  dulde  er  nicht, 
dass  irgend  ein  Kind,  das  mit  dem  erkrankten  verkehrt,  die  Sehlde 
besuche,  bis  dass  die  Krankheit  vollständig  gehoben  ist.  Bei  den 
häufiger  vorkommenden  Hautkrankheiten,  Masern,  Scharlach,  lasse  der 
Lehrer  es  nicht  zu,  dass  ihm  Kinder  geschickt  werden,  die  noch  in 
der  Abhäutung  begilfFen  sind,  denn  gerade  während  dieser  Zeit  über- 
trägt sich  der  Ansteckungsstoif  am  leichtesten.  Abgesehen  aber  davon 
ziehen  sich  die  Kranken  selbst  allerlei  schlimme  Xachwiikiingen  da- 
durch zn,  dass  sie  zu  früh  ausgehen.  Dahin  gehören  Augenübel, 
Schwerhörigkeit  u.  s.  w.  Es  ist  von  Wichtigkeit,  dass  der  Lehrer 
hier  rechtzeitig  seine  W'arnungsstimme  erhebe.  —  Mit  den  Häusern, 
in  denen  Scharlach  herrscht,  sollte  der  Verkelir  womöglich  gänzlich 
aufgehoben  werden;  man  gestatte  auch  nicht,  dass  Scharlaciikranke 
ach  Hefte  von  gesunden  Scliülern  borgen,  um  etwa  das  Versäumte 
nachzuholen;  denn  es  liegt  die  Möglichkeit  vor,  dass  an  denselben  bei 
der  Rückgabe  Ansteckungsstoff  haften  bleibt. 

Wird  ein  Kind  in  der  Classe  plötzlich  unwol,  so  führe  es  der 
Lehrer  zunächst  an  die  frische  Luft;  ist  das  Unwolsein  emstlicher 

36» 


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Natur,  so  entlasse  er  es  aus  der  Stunde  und  gebe  ihm  einen  Begleiter 
mit,  der  es  nacli  Hause  briugre. 

Scliliesslic'h  wollen  wir  iiocli  darauf  verweisen ,  dass  der  Lehrer 
Gelegenheit  noiinie.  die  Kinder  mit  den  allfrenieinsteii  und  wic-litigsten 
Eefreln  der  Gesuiidheitslelu'e  bekannt  zu  iiiaclieii .  aucli  wenn  kt-iue 
liesondei'u  Stunden  dafür  auf  dem  Lectiousiilan«'  stehen.  Namentlich 
wird  der  Lehrer  in  den  Naturgeschichtsstunden  oft  geeiirnete  An- 
knlii>tuii^si)unkte  üudeu,  um  ein  kurzes  Capitel  der  Gesundlieitsleiu'e 
abzuliandeln. 

Deuten  w  endlich  noch  darauf  hin,  dass  der  Lehrer  ein  wach- 
sames Auge  auf  die  auch  vorkommenden  geschlechtlichen  VeriiTungen^ 
die  geheimen  Jugendsünden  der  Schüler  haben  muss,  um  diese  schänd- 
lichen und  schädlichen  Lüste  zu  nnterdrticken  und  die  jugendlichen 
Körper  yor  Siechthnm  und  v<.l liger  Zerrüttung  zu  bewahren,  so  dürf- 
ten wir  wol  alle  hauptsächlichen  Punkte  hervorgehoben  haben,  auf 
die  es  bei  der  Gesundheitspflege  in  den  Schulen  ankommt 

Ziehen  wir  nnn  das  Fadt  ans  unseren  Erörterungen,  so  ergibt 
sich  folgendes: 

1.  Die  von  den  Regierungen  erlassenen  Bestimmungen  und  Ver- 
fügungen inhezng  auf  die  Gesundheitspflege  in  den  Schulen  sind  im 
allgemeinen  als  zweckmässig  und  heilsam  anzuerkennen  und  verdienen 
in  allen  Schulanstalten  grOndlich  durchgefiflirt  zu  werden. 

2.  Bisher  sind  diese  Bestimmungen  in  den  meisten  Schulen  von 
den  zunflchst  betheiligten  Schul-  und  GemeindoYorstanden  leider  noch 
nicht  in  der  rechten  Weise  gewürdigt  und  zur  Ausführung  gebracht; 
sie  existiren  wol  auf  dem  Papi^,  aber  nicht  in  der  Wirklichkeit. 

3.  Der  Lebr^  hat  gewissenhaft  and  emstlich  daranf  Bedacht  zu 
nehmen,  die  Gesundheit  der  ächfiler  zu  pflegen  und  alles  das  ferti  zu 
halten,  was  störend  auf  dieselbe  einwirken  könnte.  In  vielen  Fiüen 
wird  von  ihm  noch  mehi*  in  dieser  Beziehung  verlangt  werden  müssen, 
als  er  bisher  geleistet  hat. 


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•  Wiener  fieschichten. 

Von  Dr.  Friedrich  mttes, 
IX. 

Ich  habe  noch  einige  Aufklänmgen  fiber  die  Wandlung  zn  geben, 
▼elehe  sich  EndeMftrz  1881  im  Wiener  Gemeinderath  vollzog.  Wenige 
Tage  nach  der  Gommissionssitzmig  vom  1.  Mftrz  ftnaserte  em  vermdge 
seiner  hervorragenden  Stellung  mit  den  Verhältnissen  völlig  vertrautes 
Mitglied  des  Gemeinderathes:  das  Pädagogium  sei  nicht  mehr  m  hal- 
ten, es  habe  in  der  ganzen  Körperschaft  nur  noch  drei  oder  vier 
Freunde;  unter  dem  vierten,  auch  nicht  mehr  ganz  festen,  meinte  er 
sidi  selbst  In  gleicher  Weise  wurde  mir  die  Situation  von  anderen 
eingeweihten  Männern  chaiikterisirt  Und  noch  imOctober  1881  ver- 
dcherte  ein  eben&lls  mit  den  Verhältnissen  völlig  vertrautes  Mitglied 
des  Gtemeinderathes,  dass  in  jener  kritischen  Zeit  (im  März)  von  allen 
120  Gemeinderäthen  nur  noch  drei  für  die  Erhaltung  des  Pädagogiums 
gewesen  seien,  nämlich  der  inzwischen  verstorbene  Dr.  Weiser,  ein 
anderes  Mitglied  der  Commission  und  ein  dieser  nicht  angehöriger 
Hen-.  Gerade  der  letztt^re  aber  bewirkte  die  uns  sclion  bekannte 
Wendung.  Wie  er  ^vährend  seiner  langjährigen  öffentliclieii  Wirksam- 
keit in  kritischen  Momenten  schon  so  oft  mit  seinem  praktischen  Ver- 
staufle  einen  glücklichen  (-tritl*  gethan  hatte,  so  verstand  er  auch 
diesmal  den  Hebel  am  richtigen  Punkte  anzusetzen.  Inmitten  einer 
sich  über  das  Pädafj:(»^äum  unterhaltenden  Gruppe  von  Gemeindei-atlieu 
liess  er  die  Benierkun^i;  fallen:  Wenn  wir  das  Pädagogium  aulheben, 
wird  der  ganze  Gemeinderath  als  reactionär  verrufen  wt'rden.  Das 
hatte  Wirkung.  Wer  wollte  reactionär  heissen?  Nicht  Einer.  Wer 
liberal?  Alle.  Tn  Wien  kann  Niemand  ein  ]^tandat  fiir  den  Gemeiude- 
rath  erhalten  oder  behaupten,  wenn  er  sich  nicht  liberal  nennt. 

Was  nun  folgte,  war  im  Grunde  nichts  anderes,  als  ein  Compro- 
miss.  Umsonst  durfte  der  ganze  Lärm  nicht  gewesen  sein,  einen  Sinn 
und  Zweck  sollte  er  doch  gehabt  haben;  es  konnte^ also  nicht  Alles 


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—   554  — 


beim  Alten  bleiben,  es  musste  etwas  geschehen,  und  nicht  eine  blosse 
Kleinigkeit,  oder  eine  ordnungsmässige  Schlichtimg  der  schon  lange 
schwi'benden  Verhältnisse,  sondeni  etwas  Bedeutendes  und  Ausser- 
ordentliches, das  den  voraiis<iegangenen  Aufregungen  und  Anstrenguiigen 
entsprach.  Auf  die  Aufhebung  des  Pädagogiums  freilich  duiften  die 
Unversöhnlichen  vorläufig  nicht  mehr  rechnen;  sie  mussten  sich  mit 
einer  Abschlagszahlung  begnügen.  Tnd  diese  nnisste  so  beschälten 
sein,  dass  sie  ihnen  einstweilen  l-^c  nügen  konnte,  aber  auch  mit  dem 
Liberalismus  „im  Princip''  vereinbar  war  und  überdies  die  Dinge  so 
weit  in  Schwebe  liess,  dass  Jeder,  mochte  er  innerlich  reactionär  oder 
freisinnig  sein,  noch  immer  die  Hoffnung  auf  schliessliche  Erfüllung 
seiner  Wünsche  festhalten  konnte.  All  dem  entsprach  der  Antrag  auf 
Erhaltung  und  Reorganisation  der  Anstalt,  welcher  jedem  Anliegen 
die  Bahn  offen  hielt  und  daher  einstimmige  Annahme  fand,  ein  im 
Wiener  Gemeinderath  äusserst  seltenes  Ereignis.  Indem  femer  zur 
Motivimng  des  Beform  antrags  nichts  anderes  angeführt  war,  als  dass 
der  zwischen  Commune  und  Director  bestehende  Vertrag  für  die  erstere 
höchst  nngOnstig  sei,  also  der  Ahänderong  bedürfe,  und  dass  dem  Qe- 
meinderath  sammt  dem  Ifagistrat  bezüglich  des  Pftdagoginms  eine 
grössere  Ingerenz  zustehen  müsse,  zwei  Pnnkte,  Ton  welchen  leicht 
ein  Bmch  mit  dem  gegenwärtigen  Director  ausgehen  konnte  — :  war 
überdies  die  Perspective  erOffiiet,  dass  der  Rücktritt  des  letzteren  die 
erste  Fmcht  des  Beformwerkes  sein  dürfte.  (Es  ist  interessant,  dass 
später,  als  der  Lanf  der  Dinge  wirklich  diese  Bichtnng  nahm,  die 
„Presse''  in  ihrem  Localanzeiger  vom  19.  Hai  ihr  Geheimnis  mit  der 
Bemerkung  enthüllte,  dass  nnnmehr  „die  Beorganisining  einen  wesent- 
liehen  Schritt  nach  vorwärts  gethan^  habe.) 

Diese  Umstände  machen  es  begreiflich,  wamm  die  gemeinderäth- 
lichen  Beschlüsse  vom  30.  März  seitens  der  Wiener  Lehrersdiaft  kei- 
neswegs mit  ungetrübter  Freude  aufgenommen  wurden.  Am  2.  April 
machte  z.  B.  „Österreichs  Neuschule"  folgende  Bemerkungen: 

„Die  Verhandlungen  über  das  Pädagogium  füllten  in  letzter  Zeit  die  Spal- 
ten der  politischen  Jonrnale,  und  es  paTi  einen  ganz  niedlichen  Hexensabbath 
von  Ansichten,  Meinmifj^en  und  Ausleg-unj^en.  SelbstverstUndlicli  .scliwanim 
manch  lärmende  Ente  in  dem  mit  grossem  Behagen  getrübten  GewUsser,  und 
manche  winzige  Mücke,  die  schwirrend  aus  dem  Verhandlongssaale  der  Com- 
mission  des  P&dagoginniB  in  die  Kedactionsstnben  der  yerschiedoien  Blätter 
flogr  lieas  sich  in  den  Zeitmigsspalteii  ab  geflügelter  EleiMit  nieder.  Weaa 
man  all  die  Ungelienerlichkeiten,  die  da  zu  Tage  gefördert  wurden,  las.  konnte 
man  sich  ganz  gut  in  jene  Zeit  versetzt  denken,  in  welcher  der  ,.Au8länder" 
Dittes,  der  „Antichrist'  o.  s.  w.  seine  Thätigkeit  hier  begann.  —  Doch  die 


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—  55Ö  — 


gute  Sache  blit'b  siegreich:  der  (.Teineinderath  der  Stadt  Wien  hat  den  ^fiith, 
das  Pädagogium  zu  erlialteii.  Professor  Frieb  hat  es  öffentlich  ausfftsjjruclicn, 
dass  die  Commane  Wien  dem  Pädagogiuiu  „ihre  besten  Lehrkräfte  verdanke". 
Solch  ein  Auqpmch  ans  dem  Ktmde  eines  Hannes,  der  das  Pädagogium  als 
6«gner  betrat  nnd  mit  Argnsaiigea  alles  sich  ihm  dort  Darbietende  beobach- 
tete, M'ill  etwas  sagen. 

Nun  aber  die  Reformarbeit.  Es  sei  eine  Enquete  aus  Mitf^fliedi  ni  der 
Schulsection,  der  Anfsicbtscomniission,  ans  Landesschulinspectoren  und  anderen 
Fachmännern  einzuberufen,  die  Vorschläge  wtgen  einer  Reorganisation  des 
Pädagogiums  zu  erstatten  hätt*;n.  So  beschlo.ss  der  Gemeinderath.  —  Es  klingt 
vieDelcht  pessimistisch,  wenn  wir  sagen,  es  graat  vmi  vor  dieser  „gemischten** 
Enqnlte.  Aber  es  konnte  sehr  leicht  der  Fall  eintreten,  dass  das  Pidagogimn 
n  Tode  retomirt  wlirde/* 

Als  nächste  Folge  der  gemeinderätlüicheiiBeschlasBe  vom  30.M8rz 
trat  henror  eine  gesteigerte  und  breitere  Action  zu  demZwedce,  mich 
zum  B&cktritt  vom  Amte  m  bewegen.  Diese  Action  w»r  eine  zwei- 
foche,  eine  private  nnd  eine  offideUe.  Die  erstere  wurde  ebne  Zweifel 

von  einem  Consortinm  betrieben,  das  zwar  die  Anonymität  seiner 
pnblicistischen  Leistungen  zu  wahren  und  sich  der  Verantwortlichkeit 
für  seine  miindliclien  Ausstreuungen  zu  entziehen  wusste,  auf  "svelclies 
aber  alle  Fäden  des  Gewebes  deutlich  zunickwiesen.  Die  früheren 
Verdächtigungen,  wie  sie  in  dem  Pressartikel  vom  23.  ^März  Ausdruck 
gefunden  hatten,  traten  in  den  Hinterirrund,  da  gegenüber  den  an 
officieller  Stelle  eingebrachten  Widerlegungen  sich  Niemand  fand,  der 
jene  Insulten  vertreten  wollte.  Das  Anscliwärzeii  verstanden  nicht 
Wenige  vortrefflidi;  wenn  es  aber  zu  einer  Verantwoitung-  kommen 
sollte,  so  hatten  zwar  Viele  etwas  gehört,  aber  Keiner  wollte  etwas 
gesagt  haben.  Dann  ging  das  Geschäft  mit  ungescliwächten  Mitteln 
weiter.  Die  überall  erkennbare  Absicht  war,  mich  in  den  Kreisen 
des  G^emeinderathes  und  vor  der  Öffentlichkeit  hei  abzusetzen,  verächt- 
lich zu  maclien,  Hass  und  Erbitterung  gegen  mich  zu  erzeugen.  Wenn 
ein  Stückchen  verbraucht  war,  wurde  ein  nenes  producirt.  Auf  diese 
Weise  sind,  soweit  ich  duich  Zeitungen,  mündliche  und  briefliche 
Hittheilungen  nnterricbtet  wuide,  in  dem  blütenreichen  Lenz  von  1^1 
dem  fruchtbaren  Boden  edler  Herzen  nach  und  nach  folgende  Blumen 
entsprossen:  „Die  Finanzsection  des  Gemeinderathes  beschloss,  dem 
Ansncben  des  Directors  Dittes  nm  ESrböhung  der  Remuneration  f&r 
Sapplining  an  Stelle  des  Verstorbenen  Dr.  Thnmwald  keine  Folge  za 
geben«**  Ich  hatte  niemals  ein  derartiges  Gesuch  gestellt  nnd  die 
Sache  seit  dem  hekanntoi  Gespräch  mit  dem  Bfirgenneister  (3.  Dec 
1881)  gar  nicht  mehr  berührt  „Die  Commission  des  PAdagoginms 
hat  beschlossen,  ihr  Gutachten  daldn  abzugeben,  dass  es  Itlr  die  Exi- 


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—  556  — 


Stenz  dieses  Institutes  nicht  fördersam  sei,  wenn  Dr.  Dittes  nocli  ler- 
ner Director  l)leil)e."  Wurde  auf  Befragen  in  Abrede  gestellt.  ,.  Dr.  Dittes 
zieht  das  Selbstgefühl  der  Lehrerschaft  gross  und  reizt  diese  dadurch 
zur  Selbstüberhebang  und  Auflehnung  nach  oben  an.^  Es  soll  mich 
freuen,  wenn  ich  ein  berechtigtes  ond  heiisames  Ehrgefühl  in  der 
Lehrerschaft  gross  gezogen  habe;  was  darüber  hinausgeht,  hat  bei 
mir  niemals  Nahrung  geftmden.  JBr  hat  ans  Zöglingen  des  Pädago- 
giums ein  Ck>mit^  gebildet,  welches  sich  regebnässig  anter  seinem  Vor- 
sitz zu  Terhandlnngen  über  die  Befonn  des  Pidagoginms  versammelty 
ohne  ein  Mitglied  des  Lehrkörpers  beizoziehen,  und  der  vomG^einde- 
rath  eingesetzten  Reorganisationscoromission  zuvorkommen  will."  Völlig: 
unwahr;  ich  habe  derartige  Verhandlungen  niemals  veranlasst,  oder 
beeinlliisst,  oder  angehört.  „Er  hat  in  Siebenbürgen  oder  an  die  Sie- 
benbürgen eine  aufregende  Rede  ijehalten."  Ich  bin  bis  lieiite  iiienials 
in  Siebenbürgen  gewesen  und  habe  niemals  eine  Rede  an  Siebenbürgen 
gehalten.  „Er  hat  den  Gemeinderath  beleidiget."  Die  Leser  wissen, 
"was  in  dieser  Beziehung  vorgekommen  ist.  „Er  hat  in  Sachen  seines 
Amtes  dem  Gemeinderath  nicht  die  gebührenden  Vorlagen  gemaelity 
wie  er  auch  schon  als  Schulrath  in  Gotha  dem  Ministerium  keine 
Berichte  über  abgehaltene  Inspectionen  geliefert  hat"  Völlig  unwahr; 
ich  habe  meine  Amtsschriften  stets  ordnungsmfissig  und  genau  geführt, 
insbesondere  in  Gk>tha  über  alle  meine  Inspectionen  eingehend  berich- 
tet und  in  Wien  niemals  eine  mir  obliegende  oder  sonst  erforderliche 
Eingabe  unterlassen.  —  Überdies  wurde  die  grausige  Iffir  vom  „Herde 
des  Atheismus**  fleissig  aufgefrischt  und  ausserdem  viel  davon  ge- 
munkelt,  dass  Im  Fidagogium,  wo  Lehrer  undLehrerinn^  gemeinsain 
die  Hörsäle  f^qnentiren,  Unsittlichkeiten  vorkämen,  oder  doch  mög- 
licher Weise  vorkommen  könnten.  —  Ob  ich  noch  andere  Verbrechen 
begangen  ]ial)e,  etwa  einige  Mordthaten  und  Brandstütungen,  ist  mir 
nicht  bekannt  geworden. 

Dass  ich  midi  mit  dieser  liästerhydra  nielit  in  einen  Kampf  ein- 
lassen konnte,  liegt  auf  der  Hand.  Was  nützt  es,  eine  Lii^e  zu  w  ider- 
legen,  wenn  sie  sofort  durch  zwei  neue  ersetzt  wird?  —  Nur  in  einem 
einzigen  Falle  wurde  eine  Berichtigung  gegeben,  die  aber  nicht  von 
mir  ausging.  Wogen  der  in  allen  Zeitungen  abgedruckten  Erdich- 
tungen über  meine  angeblichen  Berathnngen  mit  den  Zöglingen  näm- 
lich waren  diese  so  aufgebracht,  dass  sie  durchaus  eine  Widerlegung 
veröffentlichen  wollten.  Sie  erhielten  aber  von  der  Bedaction,  bei  der 
sie  vorsprachen,  die  Antwort^  dass  die  Widerlegung  nur  dann  auf* 
genommen  werden  könne,  wenn  sie  von  mir  unterschrieben  werde^ 


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—   557  — 


und  auf  dringendes  Verlangen  Hess  ich  mich  dazu  herbei.  Zu  ver- 
wundern ist  es  unter  solchen  VerMltaissennicht,  dass  die  alte  Maxime : 
Audacter  calmniiiare,  Semper  aliquid  haeret  —  auch  hier  sich  be- 
währte, lind  dass  einige  der  aufgestellten  Verdächtigungen  selbst  in 
Lehrerzeitungen  eindrangen.  Den  ganzen  Unfug  aber  cliarakterisirte 
ein  Schniblatt  zutrefend  mit  dem  C/itat  ans  Schillers  Teil:  „Es  rast 
der  See  und  will  sein  Opfer  haben." 

Was  nnn  die  offlcielle  Addon  betrifft,  so  blieb  dieselbe  bezflglich 
der  angeführten  Beschnldignngen  ganz  aus.  Obwol  melnBechtsanwalt 
mehrmals  schriftlich  und  noch  Öfter  mttndlich  mit  Nachdruck  betonte, 
dass  eine  Untersuchung  die  Grundlosigkeit  aUer  gegen  mich  er- 
hobenen Vorwürfe  erweisen  werde,  ist  doch  eine  solche  niemals  ange* 
ordnet  worden,  weder  in  Folge  des  Pressartikels  vom  23.  März  noch 
in  Folge  der  soeben  angeführten  und  der  später  noch  zu  erwähnenden 
Verdächtigungen.  Dagegen  wurde  meinem  Bechtsanwalt  schon  in  der 
ersten  Hälfte  des  April  wiederholt  erOfhet,  dass  die  beschlossene  „Be- 
organisation**  eine  wesentliche  Änderung  des  Pädagogiums  und  nament- 
lich der  SteUung  des  Directors  involvire,  weshalb  der  Gemeinderath 
meinen  Bflcktritt  wOnsehe,  welcher  durch  gütliches  Obereinkommen 
bewirkt  werden  möge.  Wenn  ich  zustimme,  werde  der  Gemeinderath 
meine  Pensionimng  beschliessen  und  zwar  in  der  ehrenvollsten  ^\^eise, 
da  er  meine  Verdienste  vollkommen  anerkeniu'.  Xaehdem  Dr.  Kuu- 
wald  iiiicli  hierüber  inforiuirt  und  ich  ihm  die  erforderliche  VoUniacht 
ertheilt  hatt«,  gab  er  in  meinem  Namen  die  Erklärunir  ab,  dass  ich 
in  Unterhandlungen  wegen  meiner  Pensionirmig  eiuzuLiclien  bereit  sei. 
Infolge  dessen  verbreiteten  die  Zeitungen  sofort,  ott'eiibar  mit  grosser 
Hetriedignng,  die  Nachricht,  ich  habe  um  meine  Pensionirung  ..ange- 
sucht'*, während  in  Wirklichkeit  die  Initiative  zu  dem  fragliclieu 
Übereinkommen  vom  Katlihause  ausgegangen  war.  indessen  gleicli- 
viel,  mein  Rücktritt  war  jetzt  im  höchsten  Grade  wahrsclieinlicli.  Wie 
diese  Xa<'hricht  in  Lelirerkreisen  autgenommen  wurde,  zeigt  ein  Ar- 
tikel der  „Volksschule"  vom  26.  April,  in  welchem  es  heisst: 

Uns  beschäftigt  heute  der  Verlast,  den  das  Pädagogium  doieh  den  Ab- 
gang des  Birectoro  Dr.  Dittes  erleidet.  Die  Nachricht,  dass  derselbe  um  seine 
Pensionimng  ane-osnrlit.  durchflog  dieser  Tage  die  BUlttei-.  Wenn  sich  diese 
Nachricht  t)estutig-t.  woian  kanni  zu  zweifehi  ist,  so  darf  uns  dieser  Schritt 
kaum  mehr  Wunder  nehmen.  Richtete  sicli  doch  bei  allen  AnprrilVen,  die  seit 
langem  versteckt,  seit  kurzem  olBfen  gegen  das  Pädagogium  geniaclit  werden, 
die  Spitze  derselben  auf  Director  Dittes.  Wenn  er,  der  Hann,  der  gewohnt 
iit|  mit  offenem  Vishr  zu  kSmpfen,  sich  vor  Boleher  Oegnerschaft  zurückzieht 
and  sebie  Wirksamkeit  beenden  will,  dort,  wo  man  dieselbe  onansgesetzt  ver- 


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—  558  — 

dächtjgt,  beargwöhnt  aud  verkennt,  wer  wollte  ihm  daraus  einen  Vorwurf 
'  acbiiiiedeii? 

Ist  68  nicht  bSdut  beseicluiend  für  muereZnstlndei  daBsdasFldagogiiiiii 
gerade  in  der  Zeit  seiner  höchsten  Bifite,  in  der  Zeit,  in  weldier  der  Besneli 

desselben  den  hOditten  Stand  seit  einer  Beibe  von  Jahren  erreichte,  in  Gefalir 
gerieth,  anfpelnss(*n  werden?  Frag-en  wir  nach  den  Ursachen  dieses  l'bel- 
wollens,  wir  erfahren  nichts,  was  dasselbe  irgendwie  zu  rechtfertigen  \  ei"ni«"ichte. 
Die  heftigsten  Gegner  des  Dr.  Dittes  geben  zu,  dass  er  seine  Pflichten  auft 
Gewissenhafteste  stets  erfüllt,  ja  dass  er  noch  mehr  als  dies  gethanhabe;  dass 
er  der  tttchtigste  Fftdagoge,  der  beste  LefarerbÜdner  sei.  Und  doch?  — 

„Man  sagt,  Dittes  sei  Atheist",  bemerkte  nnliagst  einer  der  VIftter  der 
Stadt.  Sie  irren,  war  die  Antwort,  gerade  Dittes  legt  auf  das  religiöse  Mo- 
ment hei  der  Erziehung  grossen  Wert  und  liat  dies  auch  in  seinen  VortrSigen 
stets  lebhaft  betont;  freilich  aber  will  er  die  r^influssnahme  der  orthodoxen 
Theolügen  auf  die  Pädagogik  ferngehalten  wissen.  ..Ja  sehen  Sie,  war  die 
Gegenrede,  das  sind  eben  solche  destructive  Tendenzen,  die  am  Pädagogium 
nicht  Wurzel  iSusen  dfitÜBn." 

Als  Diesterweg  vor  30  Jahren  vom  If  inisterinm  Eächhom  wegen  sdner 
liberalen  Auschaiinngen  (luiescirt  wurde,  konnte  doch  die  Differenz  zwischen 
seinen  Anschauungen  und  denen  der  Regiening  als  Grund  gelten.  Was  aber 
Dr.  Dittes  ausgesprochen,  was  er  lehrte,  ist  heute  bei  uns  in  Fleisch  und  Blut 
übergegangen  und  hat  in  den  österreichischen  SciiulMvsetzen,  vielfa<  h  auch  iu 
Erlässen  und  Verordnungen  der  Schulbehördeu  Ausdruck  gefunden.  Trotz  alle- 
dem will  man  eine  andere  PersSnliddceit  an  die  Spitze  des  Pftdagogiams  ge- 
stellt wissen,  mid  die  Hetze  gegen  den  Hsnn,  der  stets  ein  Köster  trenester 
PflichterfttUoDg  gewesen,  gegen  den  Mann,  den  wir  gewiss  einen  der  ersten 
Pädagogen  Deutschlands  nennen  dürfen,  wird  wieder  losgelassen.  Die  unglaub- 
lichsten Dinge  werden  in  die  Welt  hinansgeschlendert  nud  der  Wiener  Ge- 
meinde rath  —  schweigt. 

Mag  es  nun  sein!  Man  wird  aber  nur  allzubald  den  gewaltigen  Verlust 
Ahlen,  den  das  Pädagoginm  dnrch  den  Abgang  des  Dr.  Dittes  erleidet** 

Ich  habe  nun  noch  über  die  Vorgänge  zu  berichten,  welche  sich 
seit  Aufwerfung  der  Pensionsfrage  ereig^neten.  Am  20.  April  be.scliloss 
der  Gemeiiulerath  auf  Antrag  der  (.'<.>niinission  des  Pädagogiums  t  Refe- 
rent Frieb),  dass  die  seit  dem  Austritte  Pommers  unterbrochenen  Lehr- 
fächer von  Herrn  Karl  Hüttl  (der  sich  bereits  früher,  gleichzeitis: 
mit  Pommer,  beworben  hatte)  und  die  Lehrübungen  von  den  beiden 
Directoren  der  Übungs.schulen,  den  Herren  Mossbaur  und  Mayer, 
bis  zum  Sckluss  des  Schuljahres  fortgeführt  werden  sollten.  Die  letz- 
tere Massnahme  hatte  ich  der  Commission  schon  in  den  früher  be- 
sprochenen Conferenzen  proponiit;  bezüglich  der  ersteren  habe  ich 
mich  neutral  verhalten.   Die  methodologischen  Vorträge  fielen  ans. 

Am  25.  April  richtete  mein  Reclitsanwalt  in  meinem  Namen  an 
den  Bürgermeister  eine  Zuschrift,  in  welcher  nach  einem  einleitendea 
Hinweis  auf  die  seither  in  der  Fensionsfrage  gepflogenen  Besprechungen 


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—  559  — 

zwischen  den  Gemeiudevertretern  und  Dr.  Kimwald  vor  Allem  die 
gegea  mich  erhobenen  Vorwürfe  als  vollständig  nngegrttndet  bezeich- 
net und  neuerdings  betont  wurde,  dass  eine  genaue  und  unparteiische 
PHIfiing  der  Yerhfiltniase  mehie  amtliche  ThAtigkeit  als  nach  jeder 
Richtong  yoUkommen  gerechtlfortigt  und  comet  erscheinen  Uusen 
würde,  dann  aber  erklärt  wurde,  dass,  wenn  der  Oemeinderath,  wie 
aus  mfindlichen  Äusserungen  herrorgehe,  beabsichtige,  dasPftdagogium 
m  einer  solchen  Weise  umzugestalten,  dass  die  Basis,  auf  welcher  sei- 
nerzeit meine  Berufhng  erfolgte,  ganz  TerSndert  werde,  ichderDurch- 
fthrung  dieses  Planes  nicht  im  Wege  stehen  und  daher  einen  Tom 
Gemeinderath  zu  stellenden  Antrag  auf  Pensionirung  annehmen  wolle, 
jedoch  nur  unter  der  Bedingung,  dass  bei  diesem  Vorgange  meine 
Ehre  und  meine  vertragsmässigen  Rechte  vollkommen  gewahrt  würden. 

Bald  darauf  führte  ich  die  vorhin  genannten  Lehrkräfte  in  ihre 
provisorischen  Stellungen  ein,  worauf  ich  am  3.  Mai  an  den  derzei- 
tigen Obmann  der  Commission  des  Pädagogiums,  Herrn  Frieb,  folgende 
Zeilen  richtete:  „Sehr  geehrter  Herr  Gemeinderath!  Die  Herren  Hüttl, 
Mayer  und  Mossbaur  haben  die  ihnen  vom  löblichen  Gemeinderath 
abertragenen  Functionen  bereits  angetreten,  und  da  auch  im  übrigen  dei* 
Unterricht  an  der  Anstalt  in  yollkommener  Ordnung  ist,  so  steht  ein 
befriedigender  Abschluss  des  Schuljahres  zu  erwarten,  um  so  mehr, 
als  die  Tflchtigkeit,  Pflichttreue  und  collegiale  Harmonie  des  Lehr- 
körpers, wie  der  Eifer  und  die  ordnungsmftssige  Haltung  der  ZOgUnge 
and  HArer  alles  Vertrauen  verdienen.  Bei  dieser  Sachlage  und  in 
Bftcksicht  darauf,  dass  im  gegenwärtigen  Stadium  des  Schuljahres  die 
Directionsgeschäfte  naturgemäss  auf  ein  Minimum  reducirt  sind,  glaubt 
rieh  der  ergebenst  Unterzeichnete  der  Hoffnung  hingeben  zu  dürfen, 
dass  er  einmal  einen  Versuch  machen  könne,  seine  geschwächte  Ge- 
sundheit nach  Möglichkeit  wiederherzustellen,  und  dass  ihm  die  löb- 
liche Commission  des  Päda^^ogiuins  hierzu  die  Füglichkeit  zu  bieten 
geneigt  sein  werde,  um  so  mehr,  als  dieselbe  bereits  vor  Monaten 
einen  Urlaub  füi*  mich  als  geboten  erachtete,  imd  ärztliche  Zeugnisse 
diese  Massnahme  als  dringend  nötliig  bezeichneten.  Vor  Allem  ist  es 
erforderlich,  dem  chi-onischen  Lungenkatarrh,  welcher  mii*  bereits  seit 
Jahren  beschwerlich  fiUlt,  ohne  weiteren  Verzug  durch  eine  geregelte 
Cor  entgegenzutreten,  wozu  ich  bereits  ärztliche  Anweisung  besitze, 
zu  deren  erfolgreicher  Durchführung  jedoch  der  Aufenthalt  auf  dem 
Lande  und  die  Freiheit  von  GeschAften  nöthig  erscheint  Es  ist  selbst- 
verstindlich,  dass  ich  dem  löblichen  Gemeinderath  in  seinen  princi- 
^en  EntSchliessungen  in  Sachen  des  Pädagogiums  und  meiner  Person 


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—   560  — 


weder  vor<:ieiten,  noch  Scliwierigkeiteii  ])ereiteii  will;  aber  ander- 
seits kann  ich  auch  meine  Gesundheit  nicht  allzusehr  vernaclilässigen, 
möge  mir  nun  die  Fortsetzung  meiner  ))isherigen  Berufsthätigkeit  ver- 
gönnt oder  versag^t  sein.  Ich  ei-suche  daher  Euer  Wolgeboren.  dahin 
wirken  zu  Wullen,  dass  die  löbliche  Aufsich tscominission  beziiglick 
meiner  Urlaubsaagelegenlieit  so  bald  als  möglich  einen  Beschluss  £use. 
Wt  dem  Ausdruck  u.  s.  w.** 

Eine  Antwort  hierauf  erhielt  ich  nicht  Dagegen  brachten  am 
14.  Mai  die  Zeitungen  in  ihren  Berichten  über  eine  am  Vorabende, 
abgehaltene  Sitzung  des  Gemeinderathes  folgende  Hittheilung:  «6ug- 
1er  bringt  zur  Kenntnis,  dass  die  Ckimmission  des  Pädagogiums  dem 
Director  Dittes  einen  dreimonatliehen  Urlaub  gewähren  will.  Obwol 
die  Commission  nach  dem  Statut  hierzu  berechtigt  ist,  so  erhob  sich 
doch  die  ^osse  Mehrzahl  der  Versammlung  jregen  die  Bewilligung 
eines  Trlaulies  an  Director  Dr.  Dittes  und  genehmigte  einen  Antrag, 
nach  welchem  die  Angelegenheit  an  die  Rechtssectiun  zu  leiten  ist." 

Es  war  doch  gut,  dass  der\'ertrag,  nach  welchem  „dieComnmne 
alle  Lasten,  ich  aber  alle  Rechte"  hatte,  mir  gerade  so  viel  Freilieit 
liess,  dass  ich  mich  nicht  direct  ruiniren  musste.  Und  so  konnte  ich 
unter  Gebrauch  einer  Hauscur  den  Gang  der  Dinge  allenfalls  weiter 
abwarten,  indem  ich  mich  auf  die  laufenden  Geschäfte,  auf  fleissiges 
Hospitiren  in  den  Lehrsälen  und  anfBerathung  der  neuen  Lehrkräfte 
beschränkte.  Im  Pädagogium  herrschte  zwar  eine  trabe  Stimmung, 
es  kam  aber  kdnerlei  Störung  vor.  Die  Pensionsaffaire  fiberliess  idi 
meinem  Rechtsanwalt,  und  da  der  Gemeinderath  es  nicht  für  angezeigt 
hielt,  mich  persönlich  zu  hören,  so  hatte  ich  nun  Buhe.  Ab  und  zu 
verlautete,  dass  bezfiglich  des  zu  trelfenden  Übereinkommens  ehie 
Sitzung  stattgefimden  habe,  ohne  dass  etwas  Auffallendes  beigefögt  war. 

Von  sonstigen  Vorkommnissen  habe  ich  noch  anzuführen,  dass  der 
Gemeinderath  am  '^.  Juni  die  Verfügung  traf,  dass  .,in  Anbetracht  der 
derzeit  am  Pädairogium  obwaltenden  Verhältnisse"  die  die.sjährige 
,.AVanderung"  unterbleiben  solle,  ferner  am  H.  Juli  beschloss,  „mit  Rück- 
siclit  auf  die  Haltiui'?  der  Zöglinge  bei  den  diesjährigen  Vtn-gängen 
im  Pädauo^^iuiir*  di  n  im  Budget  prolBHl  festgesetzten  Studienbeitrag 
von  3(.K)0  Fl.  auf  200U  Fl.  herabzusetzen.  Ich  bemerke  hierzu,  dass 
auf  Grund  unseres  Statuts  al^'ährlicli  eine  zweitägige  Excursion  (Wan- 
derung) des  Lehrkörpers  mit  den  Zöglingen  stattfand,  welche  den 
Zweck  hatte  und  auch  stets  in  der  wirksamsten  Weise  erfüllte,  auf 
dem  Wege  unmittelbarer  Anschauung  die  Vaterlandskunde  zu  fördern, 
und  dass  für  diese  Wanderung  in  unserem  Budget  alQährUch  eme 


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—   561  — 


^'ubvention  vuii  (»nn  Fl  zur  Verlüjriiug-  stand,  ^vl'lcllL'  jedoch  niemals 
volLstäiiilig  in  Anspruch  genommen  worden  ist.  "Was  die  (statuten- 
mässigeii)  Studienbeiträge  (Stipendien)  betritit,  so  wurden  dieselben 
stets  am  Schlüsse  des  Schuljahres  d(>n  ordentlichen  Zdglingen  bewil- 
ligt, um  ihnen  einigen  Ei-satz  für  den  Entgang  von  Privatorwerb  und 
fÖr  ihren  Studienaufwand  zu  bieten.  Inwiefern  die  Haltung  der  Zög- 
linge bei  den  diesjährigen  Vorgängen  zn  einer  Geldstrafe  von  1000  FL 
Anlass  gegeben  habe,  ist  vom  Ctemeinderathe  nicht  declarirt  worden. 

Die  Pensionsverhandlungen  schritten  sehr  langsam  fort  Ob  dies 
nur  ans  dem  gewohnten  Moderato  gemeinder&thliclier  G^eschäftsffthrnng 
in  Verbindung  mit  den  retardireaden  Wirkungen  der  bereits  ange- 
brochenen Sommersaison  zn  erldSren  sei  oder  ob  noch  geheime  Motive, 
vielleicht  gar  Zweifel  gegen  die  Angemessenheit  der  ganzen  Procednr 
mi^ewirkt  haben,  kann  ich  nicht  mit  Sicherheit  sagen.  Doch  er- 
scheint die  letztere  Annahme  ans  folgenden  GrQnden  nicht  als  un- 
wahrscheinlich. Noch  als  bereits  alles  zn  Ende  war,  äusserte  ein 
sehr  bekanntes  Mitglied  des  Qemeinderathes,  er  f&rchte,  dass  man 
sich  in  der  ganzen  Sache  „aberaUt"  habe,  freilich  eine  seltsame  Über- 
eilung, zu  der  man  viele  Jahre  gebraucht  hatte.  Ferner  traten  im 
Stadium  der  Schlussverhandlungen  Anzeichen  hervor,  dass  sich  ein 
Umschlag  der  StHtmung  vorbereite.  So  brachte  eines  der  verbreitet- 
sten  Wiener  Journale,  die  „Yorstadtzeitung",  am  18.  Juni  folgende 
Beti-achtungen: 

„Als  die  Kunde  von  l'ittes'  Ab^anfr  noch  ganz  scliUchtern  und  unbestimmt 
iu  die  Ofleiilliciikeit  drang,  kunute  man  sehen,  welche  Aufregung  durch  die 
Lehrerwelt  ging,  und  als  dann  die  Kunde,  die  man  gerne  als  dunkle  K&re  ge- 
nommen hfttte,  fast  snr  Gewissheit  wurde,  mochte  man  wol  staunen  Aber  die 
enthusiastischen  Kundgebungen  für  diesen  Mann.  Worin  mag  diese  so  warm 
zum  Ausdruck  kommendo  Liebe  für  diesen  Schulmann  beg^riindet  sein?  Warum 
dnrfto  Schreiber  dieses  au  anderer  Stelle  mit  Hecht  beh;ni]iten,  wir  hiltten  in 
Österreich  keinen  Mann,  der  berufen  wäre,  an  Stelle  Hilles'  den  I'osten  eines 
ersten  Pädagogeu  au  dem  ersten  pädagogischen  Institute  der  Monarchie  einzu- 
nehmen? Ist  es  der  unbeirrt  fortsdhritUiche,  freie  Sinn,  den  dieser  Mann  so 
oft  hl  seinem  Thun  und  Lanen,  in  Wort  und  Sehriflb  n^bmlich  bekannt?  Ndn, 
denn  wir  keimen  iu  ihren  sozialen  und  politischen  Anschauungen  s>  In-  eonser^ 
vativ  angelegte  Lehrer,  die  ohne  allen  Zwang  offenmüthig  in  da.s  Lob  dieses 
Mannes  einstimmen.  Oder  ist  es  sein  oflfeuelirliches,  der  Schmeichelei  nnzu- 
{riinj.'liclies.  für  Lug  und  Trug  stets  das  wahre  Wort  tindendes,  stets  die  Sache 
im  Auge  habendes  Wesen?  Auch  dies  nicht,  denn  viele  recht  zaghafte  Päda- 
gogen finden  eich  anter  Dittes'  Verehreni. 

Der  Gmnd  liegt  ganz  anderswo.  Er  ist  eben  der  einzige  Pftdagoge  un- 
serer Lehrerwelt,  der  mit  einem  seltenen  griindlichen  Wissen,  mit  gediegener 
akademiMher  Bildnng  gewiegte  pSdagogiBche  Kenntnis  nnd  Erfahrung  vereint. 


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Nur  eiu  solcher  Mann  kaim  der  Lelirerwelt  imponiren.  Wir  besitzen  in  Öster- 
reieh  einige  im  pädag^ogisclieii  Berofe  gatbewShrte  Httoner,  die  auch  an  der 
Spitse  trefflicher  Anstalten  stehen,  aber  diesen  fehlt  die  wissensehaftUehe  Bil* 
dnng.  Wieder  and*  ro.  nns  sdiwebt  eine  Reihe  Yom  Bezirks-  und  LandSMMdHll* 

Inspectoren  vor,  sind  akademisch  gebildete  Männer  von  hohem  Wissen.  enef> 
g-ischer  Tliatkraft.  rechtlichstem  Sinne,  aber  es  fehlt  ihnen  die  Erfahrunsr  d^^s 
echten  Päda^^og-en.  Der  Mann,  der  dem  Lehrer  ein  lenchtendes  Vorbild  sein 
soll,  muss  wissenschaftlich  hochg^ebildet  sein,  muss  aber  auch  durch  and  durch 
Pädagoge  von  Fadt,  mit  dem  ganzen  Apparate  der  Sobile  auf  das  Innigste 
Tertrant  sein.  Das  kann  nur  ein  Hann  sedn,  der  yom  Anfinge  an  ans  Be- 
rdUiebe,  nicht  erst  durch  Bemftmg  in  das  Amt»  Lehrer  nnd  Lehrerbildner  ge- 
"wesen  ist. 

Tat  dem  aber  so,  und  es  dürft-en  Wenig^e  dem  niclit  beipflichten,  dann  ?ebe 
man  nur  von  vornherein  den  fruchtlosen  Versuch  auf,  jetzt  sclion  aus  Öster- 
reichs Lehrerwelt  einen  würdigen  Nachfolger  für  Dittes  zu  finden.'* 

Aber  wie  hätte  die  total  verfahrene  Aflfaire  wieder  in  Ordnung 
gebracht  werde^i  krumen?  Ich  meinestheils  konnte  liierzu  nichts  mehr 
thmi,  naclidem  ich  in  Folge  der  jüngsten  Urlaiibsgeschichte  nnd  dessen, 
was  ich  privatim  ans  znverlAssigen  Quellen  ei&hren,  auch  den  letzten 
Best  Ton  Vertranen  zum  Gemeinderath  verloren  hatte.  Und  dieser 
konnte  in  Backsicht  anf  seine  WQrde  mir  nicht  ans  eigener  Mtiative 
entgegenkommen.  So  zog  sich  die  Sache  fort»  bis  endlich  am  13.  Jnli 
die  Jonmale  berichteten,  der  Gemeinderath  habe  am  Vorabende  meine 
Pensioninmg  beschlossen.    Diese  Knnde  kam  zu  sehr  angelegener 
Zeit  nnd  brachte  deshalb  eine  ftble  Wirknng  hervor.  Die  Wiener 
Lehrerwdt  nnd  besonders  die  Hdrerschaft  des  Pädagogiums  hatte  trotz 
allem,  was  vorgekommen  war,  noch  immer  die  Hoffhung  auf  einen 
andern  Ausgang  der  Krisis  nicht  ganz  aufgegeben  und  war  Jetzt  durch 
die  erwähnte  Nachricht  nicht  wenig  aufgeregt.  Nun  war  aber  gerade 
auf  den  13.  Juli  Abends  6  Uhr  der  Schluss  des  Schuljahres  angesetzt 
welcher  denn  in  Folge  der  neuesten  Kunde  durch  einen  fatalen  Vor- 
fall {retrübt  wurde.  Der  Verlauf  des  Actus  gestaltete  sich  wie  folgt.  Au^^r^ 
dem  Lehrkörper  und  der  ILirerschaft  hatten  sich  iiucli  zahlreiche 
W  iener  Lehrer,  wol  meist  eliemalige  Frequentanten  des  Pädagogiuui>, 
eingefunden;  die  Commi-ssion  war  durch  die  Herren  Gugler,  Hotfer, 
Landsteiner  und  ]\iss  vertreten.  Kotier  liatte  es  übernommen,  Xamen.«J 
der  Commissiou,  resp.  des  (Tcnieinderatlies  zu  sprechen,  insbesondere 
den  Bescliluss  wegen  der  Studit^iibeiträge  zu  publicireu,  was  aucli 
früher  nie  dureli  mich,  sondern  stets  von  Seiten  der  Comniission  <re- 
sclielien  war.  Ich  meinestheils  war  durch  die  neue  Kunde  keinesweir> 
alterirt,  da  ich  schon  seit  Wochen  meinen  Rücktritt  nur  noch  als  eine 
Frage  der  Zeit  betrachtet  hatte.   In  meiner  Ansprache  fasste  ich 


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—  563  — 


die  wesentlichen  Momente  zusammen,  welche  sich  aus  dem  Rückblick 
auf  das  abgelaufene  Schuljahi-  ergaben,  und  drückte  die  Gedanken  aus, 
welche  mir  der  Augenblick  nahe  legte.  Auf  eine  kunstvolle  Rede 
war  ick  keinesw^  vorbereitet,  concipirt  hatte  ich  nichts.  Weuu  ich 
nun  meine  Ansprache  in  der  Form,  wie  sie  sich  eben  nach  den  Um- 
ständen gestaltete,  hier  mittheile,  so  geschieht  dies,  weil  sie  meines 
Erachtens  in  diesen  Geschichten  nicht  fehlen  darf.  Als  Quelle  dient 
mir  die  Nnnuner  der  „yolksschnle**  Tom  19.  Jnli,  welche  allem  An- 
scheine  nach  den  Wortlaut  einer  stenographischen  Niederschrift  ent- 
hielt und  die  Ansprache  in  folgender,  mir  richtig  scheinender,  Fassung 
brachte. 

Wir  stehen  heute  am  Schlnsse  des  13.  Lebensjahres  nnserer  Anstalt, 
Blicken  wir  zurück  auf  dieses  Jahr,  so  können  wir  es  leider  kein  iilUckliches 
nennen.  Eine  Reihe  unliebsamer  Uinstilnde  hat  in  der  Hörerschaft  den  festen 
Glauben  au  den  dauernden  Bestand  der  Anstalt  einigermassen  em;hüttert,  und 
ao  ist  es  gekommen,  dass  namentlich  in  den  unteren  Jahrgängen,  eui  ziemlich  er- 
heUieher  Teil  der  Hörerschaft  die  Anstalt  im  Laufe  der  zweiten  HUfte  des 
Jahres  yeriassen  hat,  yieileieht  in  der  hoffentlich  unhegrOndeten  BesoigniB,  dass 
CS  nnn  nicht  mehr  möglich  sein  werde,  die  hegonnenen  Stadien  zn  Ende  zu 
fthren.  Jedenfalls  liegt  die  Thatsache  vor,  dass  die  Zahl  derer,  welche  das 
Schuljahr  formell  zum  Abschluss  gebracht  haben,  eine  geringere  ist  als  in  einer 
ganzen  Reihe  vorausgegangener  Schuljahre.  Es  muss  allerdings  in  Betracht 
gezogen  werden,  dass  eine  ziemliche  Anzahl  von  Zöglingen  und  Hörern  noch 
bei  den  Wiederholungen  anwesend  gewesen  ist,  ohne  sich  doch  an  denselben 
aetiT  SU  betheiligeu,  mid  dass  anderseits  auch  eine  Anzahl  sioh  vorfindet, 
welche  erst  die  weiteren  Ereignisse  abzuwarten  gedenkt,  um  dann  im  Herbste 
die  statntemnSssigen  Nachtragsprttftuigen  abzulegen.  Aber  bei  alledem  steht 
die  Thatsache  fest,  dass  nur  79  Frequentanten,  meistens  ordentliche  Zöglinge 
nnd  darunter  einige  Hörer,  den  Corsas  formell  vollständig  abgeschlossen  haben. 
Allerdings  hat  die  Anstalt  schon  Jahre  erlebt,  wolrlie  ein  in  dieser  Beziehung 
noch  ungünstigeres  Schlussresultat  anfzuweisen  hatten.  Das  ungünstigste  Jahr 
der  Anstalt  war  das  dritte.  Es  absolvirten  in  diesem  dritten  Jalire,  trotzdem 
damah)  bereits  alle  Claäseu  und  Abtheilungeu  in  der  Weise  bestanden,  wie  sie 
hsnte  bestdien,  im  ganzen  nur  57  Zöglinge  und  Hörer  der  Anstalt.  Im  darauf- 
lilgenden  vierten  Jahre  zeigte  sidi  ein  Stillstand  des  Niederganges  und  bereits 
efaie  Wendung  zum  Besseren.  Das  Pädagogium  hatte  69  Angehörige  auftn- 
weisen.  Jetzt  steht  die  Zahl  nnr  nm  10  höher.  Dass  die  Situation  der  An- 
ftali  eine  nicht  günstige  ist,  wissen  Sie  alle.  Es  ist  hier  nicht  der  geeignete 
Ort  und  aufh  noch  nicht  ganz  die  geeignete  Zeit,  auf  die  T'rsach»'n  dieser  ungün- 
stigen Situation  einzntz^ehen.  Angenehmer  und  auch  deutlicher  vorliegend  sind  die 
rnsachen.  warum  trotz  der  Ungunst  der  Zeitverhältnisse  unsere  Anstalt  doch 
inimerhin  noch  am  Leben  erhalten  blieb  und  ilir  13.  Jahr  zurücklegen  konnte. 
Ich  muss  es  hier  unumwunden  aussprechen  und  werde  mich  in  dieser  Hinsicht 
niemals  einer  Correctur  unterziehen,  dass  es  die  allergrOsste  Anerkennung  ver- 
dieuti  dsss  die  ZOgllnge  der  Anstalt  auch  in  dieser  trttben  Zeit  eine  h9chst 


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—   564  — 


löbliche  —  ich  muss  isageii  rülimliclie  —  Ausdauer  au  deu  Tag  gelegt  haben. 
Es  gilt  dies  namentlich  von  dem  Utesten  Stamme  der  Anatalti  von  der  Klasse, 
welche  nunmehr  ihren  Corsns  gftnzlich  ahsolvirt  hat  nnd  mit  dem  heutigen 

Tage  wahrscheinlich  ans  dem  Verbände  der  Anstalt  scheidet,  von  der  3.  Classe. 
Nicht  gleich  an  B^ahnng,  haben  docli  alle  ohne  Ausnalnne  bis  zur  letzten 
Stunde  in  einer  jreradezn  musterhaften  Weise  ihre  Ptiieht  erfüllt  nnd  ihre 
Hinjrabe  an  die  Anstalt  thatkräftig  an  den  Tair  f^eleg^t.  Ich  g-hmbe.  sie  \VfM-d.-n 
sieh  dieser  Ausdauer  Zeit  ilires  r^ebens  treuen.  Sie  haben  damit  dit^  uesanmiTe 
Lehrerschaft  von  Wien  in  elireuvullster  Weise  vertreten,  und  ohne  Z^^eitel  hat 
ihr  Bespiel  anch  eine  bedeutende  Anzahl  der  2.  nnd  der  1.  Klasse  zu  gleicher 
Ansdaner  ermnthigt.  Ich  bhi  flberzengt,  dass  hiermit  die  Thatsache  constatirt 
ist,  dass,  fklls  die  Anstalt  in  ihrem  gedeihlichen  Fortgänge  gelfthmt  werden 
sollte,  mindestens  nicht  der  Grund  auf  die  Theilnahuilosigkeit  der  Lehrerschaft 
geschoben  werden  kann.  Die  Theihiahme  der  Lehrerschaft  ist  im  Gegeutlieil 
>tis  heute  eine  o^leieli  regsame  freliliebm.  Aucli  niUKs  ieh  constatiren.  dass  zu 
diesei-  Anhänglichkeit  an  die  Anstalt  ohne  Zweifel  keinerlei  unlauteres  Motiv 
beifretrajren  hat,  sondern  dass  nacli  wie  vor  die  Zöglinge  und  Hiner  der  An- 
stalt nur  von  deu  besten  Beweggründen  veranlasst  wurden,  hier  ilac  Musse- 
stnnden  za  verbringen«  Sie  sind  nach  allen  den  Lasten  ihres  Berufes  hierher 
gekommeui  nm  sich,  frei  von  irgendwelchen  egoistischen  Bflcksichten  —  denn 
wer  die  Verhflltnisse  der  Anstalt  kennt,  kann  an  solche  gar  nicht  denken  — 
nm  sich,  sage  Ich,  hier  in  ihrem  Berufe  weiterEubilden,  um  sich  für  die  wich- 
tige Aufgabe  za  stftrken,  die  Jugend  zn  erziehen  liir  eine  bessere  Znkonlt. 
(Beifall.) 

Als  vor  13  Jahren  der  löbliche  Gemeiuderath  von  Wien  diese  Anstalt 
ins  Leben  treten  Hess,  geschah  es  in  dem  hochherzigen  Bestreben,  einer  Ver- 
besserung des  Schulwesens  Balm  zu  brechen  und  kräftige  Stützeu  zu  einem 
tüchtigen  Lehrerstande  zu  schaffen.  Wir  haben  den  Zweck  dieser  Anstalt  imd 
den  Geist,  in  welchem  sie  gegründet  wurde,  unwandelbar  festgehalten:  eine 
tüchtige  Beruftbildung,  feste  sittliche  Charakterbildung  nnd  damit  allerdings 
auch  sociale  Hebung  des  Lelirerstandes  war  im  wesentlichen  unsrae  Aufgabe. 
Der  Geist,  in  wi  lcheni  diese  Aufgabe  gelöst  werden  sollte,  war  nach  der  In- 
T^■lltion  dt'S  löblichen  Genieinderathes  der  Geist  der  Freiheit,  selbstverständlich 
dt  r  i:t  srtzliehen  Freiheit  in  der  niensehliciien  Kntwickelung.  in  dem  wissen- 
schat fliehen  Streben,  in  der  Herausbildung  des  selbständigen  Denkens  und  der 
eigenen  Überzeugung.  Diese  Ansichten  habe  ich  geglaubt  wahren  zu  sollen. 
Es  würde  nicht  nur  gegen  meine  Grundsätze  gewesen  sein,  sondern  Ich  würde 
es  auch  als  Felonie  betrachtet  haben,  als  eine  Yerkennung  der  Intentionen  des 
löblichen  Gemeinderathes,  in  einer  andern  Richtung  zn  wirken.  Die  mensch« 
liehe  Bildung  ist  keine  Dressur,  sondern  eine  freie  Entwicklnng,  und  vor  allem 
muss  der  Lehrerstand,  welcher  sittlich  v(dlendete  Mensehen  heranbilden  soll, 
anch  selbst  feste  rberzcULMiiigrii  und  einen  eigenen  Willen  haben.  Es  koinite 
mir  nie  in  den  Sinn  kommen,  die  Freiheit  Ihrer  Uberzeugung.  Ihres  Gewissens 
irgendwie  zu  beeinträchtigen,  Ihnen  etwa  zuzumuthen,  aus  schwarz  —  weiss, 
oder  ans  sauer  —  süss  zn  machen,  oder  Ihren  Nacken  vor  dem  Hute  eines 
Landvogtes  oder  irgend  eines  Götzenbildes  zu  beugen.  Nur  was  aus  der  inne- 
ren Überzeugung  kommt,  ist  des  Menschen  würdig,  würdig  eines  Bildners  der 
Jugend.   Ich  für  mem  Theil  habe  in  meiner  Wirksamkeit  nie  einen  Zweifel 


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—   565  — 


iTflassfii  ü>>pr  das,  was  i<  li  driikr  und  fiir  fniT  nnd  reclit  lialto.  Das  wenig^stens 
wird  mii"  jedmiiaiiii  nachsagen,  dass  er  stets  gewusst  hat.  woran  er  mit  mir 
war,  Aufgeuöthigt  habe  ich  Ihnen  ineine  Meinung  niemals;  ich  habe  Timen 
meine  Gi-ünde  dafür  ausgetühit,  gegentheilige  Meinungen  erwälmt  und  Gründe 
für  diese  angegeben  nnd  Ihnen  die  W&M  selbst  ttberlassen.  In  anderer  Weise 
wQrde  idi  nie  wirken  kSnnen  und  habe  es  nie  gekonnt.  Ich  glanbe  aoeh, 
dass  dies  die  allein  zulässig«-  Weise  einer  Hdrerschaft  gegenllber  ist,  der  man 
nicht  nur  die  Achtung  schuldig  ist,  die  man  vor  der  Iklenschennatur  überhaupt, 
vor  dem  Wahrheitssrernhl  und  v<tr  dem  Rechte  des  l^Iensclien  auf  llherzeugung 
und  Wahrheit  liaben  muss.  sf»ndern  auch  die.  die  einer  Hi»rerschaft  zusteht,  die 
ja  aus  gereil'ten  rersoueu,  aus  Lehrern  und  Lehriuneu  besteht,  denen  die  .Stadl 
ihr  Bestes  anvertiant»  die  man  über  Grosses  setst  Ich  glaube  anch,  dass 
dieses  Vorgeben  weeentlich  dasn  beigetragen  hat,  die  Lnst  nnd  Liebe,  die  Be- 
geisterung für  die  Studien  zu  heben  —  und  ich  muss  jrestehen,  dass  mir  nic- 
nials  —  und  ich  habe  in  dieser  Richtung  ziemlich  viele  Beobachtungen  ge- 
macht eine  so  aufrichtige  Hingabe  an  die  Studien  begegnet  ist.  als  in 
diesem  Hause.  Selbst  an  Sonn-  und  Feiertagen  habe  ich  selten  ein  Lehrzimmer 
leer  gefunden,  sondern  immer  Gruppen  von  Studii  enden  angetrofleu,  welche  ge- 
meinschaftlich sieh  weiter  zu  arbeiten  versuchten.  Hier  habe  ich  aoeh  dem 
Xnth,  der  Kraft,  der  Trene  der  Überzeugung  in  der  schSnsten  Weise  begegnet, 
und  80  kann  iöh  Ihnen  die  Versicherong  geben,  dass  die  zshireichen  Lehrer 
und  Lehrerinnen,  welche  in  diesem  Hause  ans-  nnd  eingegangen  sind,  mir  stets 
in  der  freundlichsten  ErinnerunH-  bleiben  werden.  Was  nun  kommen  wird  — 
ich  weiss  es  nicht.  Jedenfalls  dürfen  wir  d»'nen.  die  nach  uns  kommen  wer- 
den, die«e  Räume  mit  dem  besten  Gewissen  überlassen;  wir  haben  sie  nie  ent- 
weiht durch  niedrige  Gesinnung  und  niedrige  Handlungsweise.  Uns  war  es 
immer  daran  gelegen,  dem  Lichte  der  Wahrheit  nachzogehen,  zu  denken  und 
zu  fühlen,  was  recht  nnd  gut  ist. 

Wenn  ich  nun  der  Lehrerschaft  von  Wien,  die  hier,  um  sich  fortznbilden 
aus-  nnd  eingegangen  ist,  meine  vollste  Anerkennuns-  nicht  vorenthalten  kann, 
so  muss  ich  a>)er  auch  den  wackeren  Milnnern,  die  mir  zum  Theil  lange  Jahre 
zur  Seite  gestanden  haben,  heute  oneinen  herzlichen  Dank  aussprechen.  Die 
Herren  Professoren  haben  gegen  eine  m&ssige  Entschftdigung  dieses  mühsame 
und  dornenvolle  Amt  trotz  der  ehrenrührigsten  Angriffe  in  der  hingehendsten, 
selhstlosestai  Weise  geübt,  und  wenn  ich  Neigung  hatte,  neidisch  zu  sein,  so 
müsste  ich  viele  von  ihnen  um  das  amsteriiafte  Lehrverfahren  beneiden,  welches 
ich  Gelegenheit  hatte  nn  ihnen  zu  bewundern.  Ich  werde  diese  Herren  stets 
in  bester  Erinnerunfr  bewahren  und  kann  nur  hoffen,  dass  auch  sie  mit  Freuden 
an  diese  Anstalt  zurückdenken  werden. 

Wir  werden  uns,  wo  wir  uns  begegnen,  mit  gutem  Gewissen  ins  Antlitz 
schauen  kSnnen.  Zwischen  uns  war  stets  Klarheit,  OflTenheit  und  die  Harmonie, 
die  sich  immer  Undet»  wenn  eine  grosse  Gemeinschaft  nach  einem  hlSheren 
Ziele  strebt.  FremMtodiaft  unter  Bösewichtern  hat  keinen  Bestand.  Sie  aber, 
davon  bin  ich  überzeugt,  haben  hier  Freundschaftsbande  geknüpft,  die  fürs 
Leben  danern  werden,  l'nd  so  kann  ich  nur  hutfen  und  wünschen,  dass  diese 
Anstalt,  auch  wenn  ich  nicht  mehr  an  derselben  weilen  werde,  wie  in  friiiieren 
.Jahren  blühen  und  gedeihen  möge.  Wii*  dürfen  ja  die  Hoftnung  keineswegs 
abthun,  dass  der  löbliche  Gemeinderath,  der  sdnerzeit  mit  der  rühmlichsten 

PadigogiiuB.  4.  Jahif .  H«fk  IX.  37 


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—   Ö66  — 


Hochherzigkeit  diese  Anstalt  ins  Leben  nef,  sie  auch  wahren  wird.  Er  hat  ja 
selbst  ausdrücklich  in  öffentlicher  Sitzung  anerkannt,  dass  diese  Anstalt  eine 
höchst  yerdienstUehe  sei,  dass  sie  die  besten  Erfolge  aufweise,  dass  ihr  die  Stadt 
Wien  ihre  tilehtilgsteii  Lehrkrtfte  verdanke,  und  dass  sie  vii  dessentwiUsn  e^ 
halten  werden  müsse.  Diejenigen  Männer  aber,  welche  die  Ehrenpflicht  aaf 
sich  genommea  haben,  die  für  nothwendig  gehaltene  Seorgamsation  durchzu- 
führen, werden  dieser  Pflicht  sicherlich  nachkommen.  Und  so  kann  ich  nur 
wünschen,  dass  die  Lehrerschaft  Wiens  auch  ferner  hier  eine  Quelle  finde,  aus 
welcher  sie  nicht  nur  eine  höhere  Berufsbildung-,  sondern  auch  eine  tiif?li(;he. 
nothwendige  Stärkung  der  Berofsfreudigkeit  schöpfen  möge,  ich  für  meinen 
Theil  werde  jedenfalls  den  Überzeugungen  und  Grundsätzen,  weiche  ein  nicht 
ganz  kleiner  Kreis  an  mir  seit  ISngeren  Jahren  kennt,  unvrandelbar  tren  Uei- 
ben,  *weil  ich  keine  Ursache  habe,  ihnen  untren  sn  werden.  Die  Bestrebongeo, 
denen  ich  bisher  8:edient  habe,  werden  auch  ferner  die  meiniiaren  sein,  wenn  auch  in 
veränderter  Gestalt.  Insbesondere  wird  mir  stets  die  Schule  und  namentlich  die 
wichtigste  Schulai-t,  die  Volksschule,  sowie  der  Volkssrhullehrerstand  am  Herzen 
liegen.  (Heifall.)  Ich  werde,  soweit  meine  Kräfte  noch  reichen,  auch  ferner  be- 
müht .sein,  einiges  für  die  weitere  Fortbildung  des  Lehrerstandes  zu  thim. 
wenn  auch  in  freierer  Form  als  bisher,  und  es  soll  mir  recht  sein,  auch  iü 
einem  Zustande,  den  man  mit  den  Worten  ^niemandes  Herr  niemai^eB  Enedit" 
bezdchnet»  anf  dem  bisherigen  Felde  wirken  zu  können.  Wenn,  wie  ich  helfe, 
meine  geschwftchte  Gesundheit  sich  wieder  gehoben  hat  (ich  habe  nicht  Lost 
schon  zu  sterben),  so  glaube  ich  schon  nächsten  Winter  einen  Cursus  von  Vo^ 
trägen,  welche  vielleicht  tür  die  Lehrerschaft  einiges  Interesse  haben  werden, 
abhalten  zu  können.  (Stiirmischei-  Beifall.)  Es  liegt  mir  daran,  soweit  meine 
Kraft  noch  reicht,  in  dieser  Richtung  thiltig  zu  sein,  weil  die  Lehrt hätigkeit 
jederzeit  meine  Freude,  meine  Erholung  gewesen  ist.  Es  kommt  mir  indes 
nicht  in  den  Siuu,  andern  Veranstaltungen  Concurreiiz  machen  zu  wollen;  es  ist 
aber  immerhin  mSglich,  dass  die  grossen  Schwierigkeiten,  die  mit  der  gepUn- 
ten  Beorganisation  des  Pädagogiums  yerbonden  sind,  eine  IftngereZdt  hindurch 
gewisse  Lücken  lassen  werden,  die  auszufüllen  ich  als  Lttckenbfisser  gern  be* 
reit  sein  werde.  Es  hat  die  Lehrerschaft  einer  andern  Grossstadt,  nämlich  die 
Berlins,  das  Wiener  Pädagogium  zum  Vorbild  nehmend,  versucht,  der  Lehrer- 
schaft eine  weitere  Fortbildung  zu  ermöglichen.  Allerdings  ist  das  weniger 
als  eine  von  einer  angesehenen  Stadt  ins  Leben  gciufene  Anstalt,  ininu-riiiii 
aber  ist  es  der  Anfang  zu  dem  grösseren  Werke,  das  der  Zukunft  vorbeiialteii 
bleibt  Sollten  uns  noch  unangenehmere  Erfahrungen  bevorstehen,  als  die  es 
sind,  die  wir  bereits  gemacht  haben,  wir  werden  sie  mit  Würde  tragen.  Jedeu' 
falls  aber  wird  die  Lehrerschaft  Wiens  die  Anstrengungen  des  ISblicheu 
Qemeinderathee,  die  eine  Besserung  in  den  gegebenen  VerhSltnissen  be- 
zwecken, mit  der  grössten  Dankbarkeit  und  Frradigkeit  anerkennen.  Und 
so  bin  ich  am  Ende  meiner  heutigen  Äusserung.  Es  bleibt  mir  nur  nocli 
übn<r.  Ihnen  allen  meinen  Dank  für  alle  Mühe  und  für  die  von  so  vi>*l'Mi 
Seiten  niii-  l)ewiesene  Anhänglichkeit  zu  wiederholen  und  hinzuzutü^cn. 
dass  sich  besondei-s  auch  die  Herreu  Directoren  und  die  Lehrkörper  der 
beiden  Übungsschulen  grosse  Verdienste  um  die  praktische  Fortbildung  der 
Zöglinge  erworben  haben.  Selbst  der  treue  Diener  der  Anstalt  Terdient  m 
mir  ein  Wort  der  herzlichsten  Anerkennung.   Ich  glaube  kaum,  dass  je  in 


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t'int^r  älinliclien  .Stelimig  eiu  gescixickterei',  ti-enerer,  taktvollei'er  Mauu  ge- 

fiuuleii  wurden  ist. 

Ich  sage  Ihnen  also  noch  einmal  meinen  herzlichsten  Dank,  nnd  weil  ich 
da88  wir,  wie  trtlb  die  Zeit  aneh  werden  masr,  doeh  wenigstens  im  Geiste 

immer  vereint  bleiben  werden,  sohliesae  ich  mit  den  Worten:  Auf  Wieder- 

eeh'nl  (Stfirmischer  BeifolL) 

Als  ich  geendet  hatte,  gab  ich  Hoffem  eine  freundliche  Anregung, 
das  Wort  zu  eigreUbn.  Er  lehnte  aber  ab  und  ersachte  mich,  die 
Mittheilnng  wegen  der  Stipendienangelegenheit  selbet  za  machen,  was 
ich  denn  audi  in  aller  Eflrze  that  Wamm  Hoffer,  der  sonst  nie  eine 
Abneigung  gegen  das  Sj^echen  an  den  Tag  gelegt  hatte,  diesmal 
schwieg,  weiss  ich  nicht  zu  sagen.  Im  Anditorium  wollte  man  be- 
merkt haben,  seine  CoUegen  hätten,  von  den  lebhaften  Bei&Usknnd- 
gebangen  siditlich  verstimmt,  ihn  vom  Beden  abgehalten.  Nan  erhob 
sich  einer  der  Abitorienten,  Mathias  Zdarsky,  um,  dem  Herkommen 
gemte,  Namw  derselben  ein  Abschiedswort  za  sprechen.  In  dieses 
üess  er  die  Bemerknng  einfliessen,  dass  der  neueste  Besdiloss  des 
Oemeinderaths  (bezüglich  meiner  Pensionirung)  im  Contraste  stehe  zu 
der  Haltung,  die  der  Gemeinderath  in  Betreff  der  achtjährigen  Schul- 
pflicht eingenommen  halt«.  Derselbe  hatte  nänilicli,  gleicli  vielen  an- 
deren Stadtvertietuiigeü,  eine  Resolution  zu  Gunsten  der  achtjähriüfen 
Schulptliclit  gefasst,  und  Zdarsky  wollte  nun  jedenfalls  iyci<^m,  dass. 
wer  für  die  achtjährige  Schulptliclit  stimme,  consequenter  Weise  auch 
für  eine  innn;li(  list  (jründliche  Lehrerbildung  eintreten  müsse  (damit 
die  Kinder  in  acht  .iahren  aucli  etwas  Tüchtiges  lernen  können),  dass 
aber  meine  Pensionirung  eher  die  entgegengesetzte  Deutung  zu- 
lasse. Infolge  dieser  Äusserung  verliessen  die  Heiren  von  der  Com- 
mission  sofort  den  8aal.  Als  Zdarsky  geendet  hatte,  bemerkte  icli, 
dass  ich  die  vorgebrachte  Kritik  für  unzulässig  erklären  und  dem 
Sprecher  eine  Rüge  ertlieilen  müsse.  Es  war  mii*  höchst  i)einlich,  zu 
solcher  Stunde  und  an  dieser  Stelle  noch  zu  einer  solchen  Amtshand- 
lung genötliigt  zu  sein,  besonders  gegenüber  einem  Abituiienten,  wel- 
cher nach  dem  einstimmigen  ürtheil  des  Lehrkörpei*s  in  jeder  Hin- 
«icht  stets  das  grösste  Lob  verdient  hatte.  Leider  hatte  aber  der 
am  Vorabende  gefasste  Gemeinderathsbeschluss  die  denkbar  ongQn- 
stigste  Stimmung  für  den  Jahresschluss  hervorgemfen,  imd  es  war 
gerade  kein  Wander,  dass  sie  sich  in  etwas  drastischer  Weise 
kundgab. 

Am  14.  Juli  übersandte  ich  der  Commission  meinen  letzten  Jahres- 
bericht, and  am  folgenden  Tage  ging  ich  sammt  Familie  zum  Sommer- 
aofenthalt  nach  Pressbanm  im  Wiener  Walde.  Dort  erhielt  ich  bald 

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(iif  Xacliricht,  dass  im  (-ienieiiuleratli  wieder  eine  äusserst  animose 
Stimmung  jrejren  niieli  Platz  get;riffeii  liabe,  und  zwar  wegen  der  er- 
wähnten Äusserung  Zdarsky's,  für  die  der  (Temeinderath  mich  verant- 
wortlich machen  wolle.  Herr  Gugler  hatte  nänüich  das  Märehen 
verbreitet,  ich  liabe  die  Demonstration  vorausgewusst,  ja  mit  Zdarsky 
verabredet.  Die  Wahrheit  ist,  dass  ich  keine  Ahnung  davon  gehabt 
hatte,  dass  Zdarsky  sprechen  werde,  noch  weniger  von  dem,  was  er 
sprechen  wolle.  Auch  wenn  ich  an  die  fragliche  Abiturient^nredeim  Vor- 
ans  gedacht  hätte,  was  nicht  der  Fall  war,  wttrde  ich  nicht  vermnthet 
haben,  dass  gerade  Zdarsky  von  seinen  CoHegen  znm^  Sprecher  gewählt 
werden  würde,  da  er,  bei  aller  sonstigen  Tüchtigkeit,  nicht  gerade  als 
Bedner  sich  auszeichnete.  Nachträglich  habe  ich  auch  erfohren,  dass 
bei  der  Aufregung  des  13.  Juli  über  die  fragliche  Bede  keine  Ver- 
einbarung unter  den  Abiturienten  zu  Stande  gekommen  war.  Aber 
der  wackere  Herr  Gugler  hatte  wieder  einmal  das  Gras  wachsen 
hören  und  durch  die  Verwertung  seiner  Entdeckung  em^  neuen 
Sturm  unter  den  Stadtvätem  hervorgerufen.  Ich  schrieb  nun  (am 
7.  August)  an  meinen  Bechtsvertreter,  nachdem  idi  ihm  den  Sachsa** 
halt  auseinandergesetzt  hatte:  „Nach  Allem,  was  ich  erlebt  habe, 
kann  ich  gegenwärtig  nur  den  einen  Wunsch  hegen,  so  bald  als 
möglich  jeder  Beziehung  zu  dem  löblichen  Gemeinderath  von  Wi^n 
ledig  zu  werden.'*  Mein  Rechtsvertreter  möge  also  den  Abschluss  der 
noch  immer  schwebenden  Verhandlunireu  möglichst  beschlemiigen.  und 
dauiit  endlich  Jhihe  werde,  wulle  ich  auch,  wie  es  de]-  Gemeinderath 
verlanizle,  schon  am  1.  September  meine  Amtswoluiuug  räumen  usie 
bliel)  duun  trotz  der  Eile,  die  der  Genu'iiulerath  gehabt  hatte,  ein 
paar  Monate  unbenutzt),  obwol  dies  ein  ganz  aussergewöhnlicher  Ter- 
min war,  und  ich  noch  nicht  wusste.  wo  ich  eine  andere  A\'ohnumr 
finden  ^^^lrde.  Ich  liörte  nun  noch  von  dem  und  jenem  Anliegen  ver- 
schiedener Gemeinderäthe,  z.  B.  dass  ich  in  Zukunft  keine  Vorträge 
tür  Lehrer  halten  mr>ge  (wozu  ich  sicheilich  auch  kein  Lokal  finden 
S(dle),  dass  ich  über  meine  Erlebnisse  nichts  publiciren  solle  u.  dgl.  m. 
Aber  für  mich  gab  es  jetzt  keinen  Handel  mehr  und  endlich  wurde 
mein  Pensionsvertrag  perfect  und  am  19.  August  beiderseits  unter- 
zeichnet. Der  Eingang  desselben  lautete:  „Vertrag,  welcher  zwischen 
dem  Gemeinderäthe  der  k.  k.  Keicbshaupt-  und  Residenzstadt  Namens 
dieser  Gemeinde  und  dem  Herrn  Di'.  Friedrich  Dittes.  bisherigem 
l)ire<  t!  r  des  städt.  Pädagogiums,  vereinbart  und  auf  Grund  der  Ge- 
meinderathsbeschlttsse  vom  12.  Juli  und  11.  August  1881  am  zu  Ende 
gesetzten  Tage  errichtet  worden  ist,  wie  folgt:  Da  beschlossen  ist. 


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—   569  — 

(las  .<tä(lt.  Pädairoofiiuu  zu  rporjranisiri'ii,  so  sind  der  (Teiiieinderatii  etc. 
übereiugekoinineu  ii.  s.  \v.  (tV)l^n^n  die  Pensioiisbestimmungen). 

So  weit  waren  wii-  denn  endlich  gekommen.  Das  hätte  man 
leichter  haben  können.  Leider  bin  ich  ausser  Stande,  in  dem  tiefen 
Schattin  der  langen  Operation  mildernde  Lichtstrahlen  zu  finden. 
Nor  die  vollkommene  Unanfechtbarkeit  meiner  Haltung  und  meines 
Bechtsstandpnnktes  schützten  mich  vor  einer  persönlichen  Katastrophe. 
Bezüglich  des  Abschlusses  meiner  amtlichen  Thätigkeit  aber  muss  ich 
best&tigen,  was  Jessen  am  27.  Angust  1881  in  seinen  „Pädagogischen 
Blättern"  schrieb: 

„lu  der  Schuigescliichte  Wieiis,  die  sich  uicht  künstlich  luaclieu  iässt, 
«mdern  die  nach  dem  Zeugnisse  competenter  pädagogischer  Schriftsteller  ihre 
bleibende  Gestalt  erhält,  wird  der  dem  ersten  IMrector  des  Pädagogiums  berei- 
tete amtliche  ScMffbmch  einen  sehr  schwanen  Fleeken  abgeben.  IMe  Zei- 
tungen lialirn  ihn  fort  und  fort  mit  Nadelstichen  gepeinigt  Eine  ihn  ver- 
hetzende Notiz  jagte  die  andere.  Ihm  gegenttber  entschlng  man  sich  jeder 
Achtong  vor  der  Heiligkeit  der  Wahrheit/' 

Den  waliren  Kern  der  ganzen  Action  haben  die  8chulblätt<?r  zwar 
stets  geahnt  und  wiederholt  berühit,  jedenfalls  aber  nicht  volLständig 
gekannt.  Konnten  sie  doch  Vieles  nicht  wissen,  da  ich  selbst  behan*- 
lieh  schwieg,  so  lange  ich  noch  hoffen  konnte,  dass  alle  dunkebn  Tha- 
tea  in  das  Grab  der  Vergessenheit  sinken  wQrden. 

Unserem  Zdarsky  erging  es  noch  recht  übel.  Nicht  lange  vor 
dem  fatalen  13.  Juli  hatte  der  Glemeinderath  beschlossen,  dessen  bis 
dahin  provisorische  Anstellung  in  eine  definitive  zu  verwandeln.  Nun 
machte  der  Gemeinderath,  der  sich  durch  die  erwähnte  kritische  ße- 
merkuiig  „beleidig-t"'  fühlte,  diesen  Beschluss  rückg:äugig-,  und  auch 
Ablauf  des  Scliuljahres  (Ende  August)  wurde  Zdarsky  ganz  aus  dem 
Wiener  Schuldienste  entlassen.  Da  tür  die  Besucher  des  Pädagogiums 
im  Statut  eine  besondere  Disciplinarordnung  bestand,  welche  in  die- 
^erD  Falle  hätte  zur  Anwendung  kommen  sollen,  und  da  Zdarsky  in 
i^einem  Schuldienste  nicht  das  Geringste  verschuldet,  vielmehr  stets 
oud  von  allen  Seiten  die  besten  Zeugnisse  erhalten  hatte,  so  wai* 
meines  £rachtens  das  erwähnte  Vorgehen  des  Gemeinderathes  nicht 
correct;  dasselbe  wurde  denn  auch  in  den  Lehrenseitungen,  besonders 
in  d^  „Neuschule'*  dner  scharfen  Kritik  unterzogen.  Aber  vergeb- 
lich; anch  in  diesem  Falle  wollte  dei*  See  sein  Opfer  haben.  Ein 
ttPascfaa"  liess  sich  am  Biertische  im  Kreise  seiner  Kameraden  ver> 
nehmen:  „Um's  Brot  muss  er  kommen,  und  sollt'  es  mich  den  Kopf 
kosten!**  Nun,  so  gefiUirlich  war  das  Bravourstück  nidit,  da,  wie  sich 
der  nmtliige  Held  wol  denken  konnte,  Niemand  nach  seinem  Haupte 


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—   570  — 


Yeilan<ren  tnijr.  t^biifrens  konnte  es  dodi  wnl  nirlit  zweifelhaft  sein, 
(lass  einliimdertmulzwaiizig'Geniemderäthe  ge^i^eii  einen  einziir^n  l'iiter- 
lebrer  das  Feld  behaupten  würden,  zunial  sich  dieser  gar  nicht  welirte, 
sondeiTi  ohne  Widerstand  das  Feld  räumte,  aul'  welchem  er  mit  sau- 
rem Schwdsse  jälirlich  400  Fl.  errungen  hatte.  Freilich  wurde  ihm 
dann  noch  weiter  nachgestellt,  damit  er  „das  Brot  verliere";  zum 
Glück  gab  es  aber  noch  eine  Schulbeliörde  (wol  auch  mehrere ),  welche 
den  Verfehmten  und  Verfolgten  zu  schätzen  wnsste.  Es  ist  doch  gut, 
dass  die  Macht  gewisser  „Herrgötter"  nicht  weiter  reicht,  als  ihr  Ho- 
rizont, stellenweise  nicht  einmal  so  weit 

Anch  mir  war  noch  ein  kleiner  Gennas  aufgespart  Wie  sich  die 
Leser  erinnern,  hatte  man  nur  ftöer  Dings  zngesa^,  meine  Pensio* 
nirong  solle  Jsi  der  ehrendsten  Weise**  erfolgen.  Als  nun  Im  Verlaufe 
der  Verhandlungen  beiderseits  ein  eigener  FensionsTertrag  als  die 
richtige  Form  des  ahzoscfaliessend^  Übereinkommens  erkannt  wurde» 
einigte  man  sich  dahin,  dass  anss^em  durch  den  Bfirgermeister  ein 
anerkennendes  „Amtszengnis"  amigeateUt  werden  solle.  Diese  Ange- 
'  legenheit  wurde  nun  sehr  in  die  Länge  gezogen,  und  noch  am  4.  Oet 
sah  sich  mein  Rechtsanwalt  veranlasst,  die  Eiiedigung  derselben  za 
urgiren.  Nun  brachten  am  13.  October  die  Zeitungen  in  ihren  Be* 
richten  über  die  Tags  zuvor  abgehaltene  Sitzung  des  Gem^derathe» 
folgende  Stelle:  „Gugler  empfiehlt,  dem  gewesenen  Director  de» 
städtischen  Pädagogiums,  Di*.  Dittes,  ein  „Dienstzeugnis"  des  Inhaltes 
auszustellen,  dass  sich  derselbe  das  Vertrauen  der  Zöglinge  und  d^ 
Pädagogiums- Aufsichts-Commission  erworben  habe."  —  Ein  Schulblatt 
untei'waif  diese  Notiz  einer  sehr  entschiedenen  Ki'itik,  und  mehrere 
Briete,  welche  ich  bei  dieser  Gele<2^enheit  erhielt,  äusserten  die  leb- 
hafteste Entiüsiuug.  Ich  sah  die  Sache  ruhiger  an.  Es  wurde  mir 
ja  iiier  nur  noch  ein  Tr<ipflein  jenes  Trankes  verabreicht,  an  den  man 
mich  durch  die  stärksten  Dosen  schon  längst  gewöhnt  liatte.  l>as 
letzte  Tröpflein!  Wusste  icli  doch  nun,  dass  der  Becher  völlig  geleert 
war.  l^nd  meine  Leser  können  sich  jetzt  aiicli  denken,  warum  ich 
auf  dem  zugesichei-teii  ..elirenvollen"  Amtszeuguis  be.'^taud.  Meinet- 
wegen freilich  nicht,  ich  kann  s  entbehren.  Wol  aber  des  (remeinde- 
rathes  wegen.  Ich  konnte  ihm  diesen  allerletzten  Act  nicht  ei  lassen. 
weil  ich  mit  ihm  ganz  aufs  Keine  kommen  wollte.  Vielleicht  halte 
er  doch  noch  etwas  gegen  mich  vorzubringen:  er  sollte  nichts  auf  dem 
Herzen  behalten,  und  ich  wollte  fUr  alle  Zukunft  vor  nachträglichen 
Becriminationen  Buhe  haben.  An  einer  Ehrenerweisung  lag  mir  mehts, 
gar  nichts;  aber  es  musste  constatirt  werden,  dass  alle  Anklagen  warn 


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—  571 


Schweigen  gekommen  waren,  nnd  da  nun  forderte  ich  das  Absoluto- 
rium.  Nun  werden  meine  Leser  aucli  noch  den  Wortlaut  des  bürger- 
meisterlichen  ächriltstückes  keimen  lernen  wollen.  Hier  ist  er: 

„Sr.  Wolgeboren  Herrn  Dr.  Fr.  Dittes.  Anttsslich  der  Lösung  des  mit 
Ihnen  am  8.  April  ISCtH  fjrt'schlossenen  Vertrag-es  g:ereicht  es  mir  znin  beson- 
deren Verenn^en.  Ihnen  liiermit  zu  bezeugen,  dass  Sie  das  durch  obbezeicli- 
neten  Verti  a^^  iibei  iionimene  Amt  als  Dii  ector  des  Wiener  Lehrer-PUda|E:ogiam8 
während  der  Zeit  vom  Beginn  des  Schuljahres  1868/69  bis  zum  Schluss  des 
Sehnljahies  1880/81  den  Bestbnnmngen  des  Statuts  gemSss  veraehen  haben, 
und  dass  es  Urnen  gelungen  ist,  sich  durch  Ihre  Amtsf&hnmg  das  Vertrauen 
der  Zöglinge  nnd  der  vom  Wiener  GemeindeTathe  zur  Beanftichtignng  des 
Pädagogiums  gewählten  Commiidon  zn  erwerben.  Wien,  am  14.  Oct  1881. 
Der  Bürgermeister:  Newald." 

Und  80  bin  ich  einstweilen  mit  meinen  „Wiener  Gesdüchten^  zn 
Ende.  Nutzanwendungen  ans  denselben  zn  ziehen,  Überlasse  ich  vor- 
Iftnfig  meinen  geneigten  Lesern,  deren  Anfinerksamkeit  ich  ohnehin 
lange  genng  in  Ansprach  genommen  habe.  Zu  gelegener  Zeit  gedenke 
idi  aber  auf  meinen  Bericht  zurückzukommen,  um  aus  demselben  einige 
mir  wicbtig  scheinende  Folgenmgen  bezüglich  der  Yerwaltimg  unseres 
Schulwesens  und  des  gesammtenCulturzustandesder  Gegenwart  zu  rieben, 
vielleicht  auch  um  meine  Erzählung,  wo  es  nöthig  sein  sollte,  zu  er^ 
ganzen  oder  in  anderen  Richtungen  fortzusetzen.  An  Material  hierzu 
stellt  mir  noch  weit  mehr  zu(Tebote,  als  ich  bisher  verarbeiten  konnte. 
Füi'  jetzt  wissen  meine  Leser,  was  sie  zunächst  zu  wissen  wünschten, 
und  vielleicht  schöpft  mancher  von  ihnen,  den  sein  Schicksal  nicht  auf 
Rosen  gebettet  hat,  aus  meinen  Ges(;hichten  wenigstens  den  Trost, 
dass  er  niclit  (;lnie  Leidensgelahrten  ist. 

Ich  meinestheils  blicke  auf  die  in  Wien  verlebten  Jahre  ohne 
Bitterkeit  zurück.  Ich  bedauere  nicht,  dass  ich  dem  Rufe  hierher 
«gefolgt  bin,  und  es  reut  mich  nichts,  was  ich  liier  gethan  liabe.  Müsste 
und  könnte  ich  diesen  Abschnitt  meines  Lebens  nochmals  von  vorn 
beginnen,  icli  würde  ^^tnmi  wieder  so  handeln,  wie  ich  gehandelt  habe. 
Und  mit  meinem  Schicksal  bin  ich  zufrieden.  Wenn  es  mir  versagt 
blieb,  meine  ßerufsthätigkeit  fortzusetzen,  so  wird  dies  wol  gut  ge- 
wesen sein,  da  ich  es  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  kaum  noch 
lange  vermocht  hätte.  Dass  es  mir  aber  vergönnt  war,  eine  lange 
Beihe  von  Jalu-en,  weit  länger  als  zu  hoffen  war»  auf  einem  wichtigen 
und  gefährlichen  Posten  zu  stehen,  werde  ich  stets  als  eine  Gunst  des 
>^chicksals  preisen.  Und  wenn  meine  Gegner  sich  freuen  sollten,  end- 
lich erreicht  zu  haben,  was  sie  so  lange  angestrebt  hatten,  so  sage 
ich  ihnen:  Zu  spät!    Ihr  künnt  nicht  mehr  vernichten,  was  ich  ge- 


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schaffen  lialic.  Mötce  du'  Zukunft  ent.«>cheiden,  welclie  Au.s?.aat  kräfti- 
gere Halme  treiben  wird,  die  eure  oder  die  meiniire.  Gewiss  ist, 
dass  anf  dem  Boden,  den  ich  bearbeitet  lial)e,  euer  Unkraut  s^riind- 
lich  ausgerottet  ist  und  niemals  wieder  gedeiben  wird!  ^iit  Be- 
ruhigung nehme  ich  den  \\'atfenstillstAnd  an.  Benutzen  wir  ihn,  um 
unsere  Wunden  zu  heilen  und  unsere  Sehweit^r  zu  schleileu.  Wii* 
werden  blanke  Watten  noch  bi-aucheul  — 


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Aphorismen  über  den  Lehrer. 

Vou  Professor  i*'.  Müh  r  -  Triest. 

I.  Der  Lehrer  soll  ein  Psychologe  sein. 

Das  ist  für  di'W  Lehrei-,  wenn  er  seine  Scliiilt-r  richtig  In^han- 
deln  will,  sowol  gesenülMT  «ganzen  ('hissen,  wie  aucli  pregeniiber  den 
einzehien  Individuen  iinerlässlich.  In  der  Jugend  gerade  treten  die 
natürlichen  Eigenschaften  des  Menschen  am  ottensten  zu  Tage,  und 
eine  unrichtige  Behandlung  der  Jugend  kann  für  Schüler  und  Lehrer 
von  den  ül)elsten  Folgen  sein.  W  enn  das  erstelle  der  Fall  ist,  warum 
ist  es  doch  so  schwer,  die  Jugend  richtig  zu  beurtheilen  und  zu  leiten? 
Aas  dem  Grunde,  weil  w  selbst,  der  Jugend  entwachsen,  bereits  ge- 
lernt haben,  uns  zu  verstellen,  und  weil  wir  nun  nicht  begreifen  kön- 
nen, wie  das  ein  Kind  nicht  auch  sollte  thon  können,  thnn  müssen. 
Wh*  haben  uns  bereits  entwöhnt,  angenblicklich  in  der  unserer  Natur- 
anhige  entsprechenden  Weise  m  reagiren  und  sind  erstaunt,**  empört, 
wenn  dies  der  Zögling  thut.  Wir  mttssen,  so  calculiren  wir  fälschlich, 
Bchweigeu,  uns  so  und  so  benehmen,  und  der  Bange  da  wagt  es  etc. 
^  Hat  er  ja  doch  noch  nicht  gelernt,  was  wir  gelernt  haben.  Ich 
habe  gesagt,  dass  in  der  Jugend  die  natüilichen  Eigenschaften  am 
offenbarsten  zu  Tage  treten.  Ja,  das  ist  selbst  dann  der  l'  all,  wenn 
«las  Kind,  der  Zögling  seine  Gedanken  zu  verbergen,  seine  Handlungen 
zu  bescliönigen  oder  wegzuleugnen  sucht.  Das  Kind  ist  also  leichter 
zu  dmchschauen  als  der  Erwachsene.  Gewiss,  sobald  wir  aus  uns 
selbst  lierauskommen  können  und  uns  ^lühe  nelmien,  das  Kind,  als 
Kind  anzusehen,  das  noch  nicht  durch  die  Schule  des  Lebens  hindurch- 
gegangen ist,  wie  wir.  Wenn  also  das  Kind  aufrichtiger  ist  als  das 
spätere  Alter,  wenn  es  mit  elementarerer  Kraft  auf  alle  Eindrücke 
reagirt,  so  mttssen  diese  Eigenschaften  uns  in  der  Behandlung  der 
ZO^^inge  äusserst  behutsam  und  nachdenkend  machen.  Wir  dttrfen 
die  Aufrichtigkeit  nicht  zerstören,  sondern  nun  mildem  und  mit  Vor- 
sicht paaren.  Wir  werden  die  jugendlichen  und  natürlichen  Begnügen 


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als  einen  unmittelbaren  Ausflnss  dei'  Natur  nicht  ersticken  ^vulleu, 
sondern  allmählich  dahin  ai'beiten,  dass  sie  den  richtigen,  schicklichen 
Aiis^druck  annehmen. 

Znrückdrängung  der  Natur  ist  schwer  und  sündhaft;  Einschrän- 
kun«^  und  Mässigung  derselben  für  das  gesellscliaftliche  Leben  der 
Menschen  eine  unabweisliche  Xuthwendigkeit.  i'bei-all  wo  dies  ge- 
schieht, ist  Segen  und  Gedeihen,  Cultur  und  Fortschritt.  ..Wolthätig 
ist  des  Feuers  Macht,  wenn  sie  der  Mensch  bezähmt,  bewaclit:  doch 
furchtbar  wird  die  Himmelski-aft,  wenn  sie  der  Fessel  sich  entratlt, 
einher  tritt  auf  der  eignen  Spui-  die  freie  Tochter  der  Natur."  Dies 
gilt  auch  von  dem  Feuer  des  menschlichen  Geistes.  Wo  der  Verstand 
regelnd,  mässigend,  leitend  eintiitt,  da  erst  wird  der  Natormensch  znm 
Culturmenschen. 

Wodurch  unterscheidet  sich  der  Gebildete  von  dem  Ungebildeten? 
Dadurch  wo!  am  meisten,  das3  jener  sich  belierrsclit,  während  dieser 
zügellos  ist  Die  Bildung  ist  es,  welche  den  blinden,  elementaren 
menschlichen  WiUen,  indem  sie  die  Yeminiltbegnffe  erbsst  und  zn 
Motiven  des  Handelns  «rheht,  die  richtigem  Wege  zeigt  Sie  erleuch- 
tet das  Ange  des  Verstandes,  das  vorher  kurzsichtig  und  unkritisch 
war,  und  dieser  tritt  nun  in  den  Dienst  der  sittlichen  Ideen. 

Dass  von  Eltern  und  Lehrern  gegen  die  natflrliche  Besdiaffenheit 
des  kindlichen  Wesens  häufig  gefehlt  idrd,  ist  unzweifelhaft  Der 
Vater  und  der  Lehrer  möchten  nicht  selten  dem  Kinde  den  Eifer,  den 
sie  selbst  haben,  kOnstiich  und  gewaltsam  aufdringen.  Sie  bedmiken 
nicht,  dass  ihre  Motive  ihnen  zwar  dringend  erscheinen,  das  Kind  aber 
kaum  berfihren.  In  derselben  Lage  war  der  gegenwärtige  Vater  als 
Sohn  seinem  Vater  gegenüber,  in  derselben  Lage  der  Lehrer  als  ScbSt- 
1er  seinem  frohem  Lehrer  gegenttber. 

Man  bahne  und  ebne  dem  Kinde  die  Wege  zum  Lernen,  suche 
seine  Selbstthätigkeit  besonders  durch  eigene  Anschauung,  eigenes 
Suchen  und  Kxperimentiren  anzuregen  und  missgönne  dem  kindlichen 
Elemente  nidit  den  unentbeliiliclieu  Spielraum  seiner  Bethiitigung. 

Als  Hauptsatz  gelte:  Erinnern  wir  uns  stets,  dass  wii'  selbst  Kin- 
der waren,  imd  wie  wir  als  Kinder  waren.  Mancher  ist  dieser  Er- 
innerung zwar  fähig,  möchte  aber,  dass  sein  Kind  auf  einmal  sei, 
wie  er  selbst  ist.  Das  heisst,  er  möchte,  dass  sein  Kind  kein  Kind 
sei,  sondeiTi  bereits  erfüllt  von  dem  Ernste  des  Lebens,  der  den  Mann 
durchdn'ngt.    Eitler,  vergeblicher  Wunsch! 

>rau  schränke  ein,  man  führe,  man  leite;  aber  man  dränge  nicht 
und  übereile  nicht.   Die  Natur  unter  vernünftiger  Jü  üliruug  moss  das 


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ihrige  thuii,  und  sie  wird  es  tlmn,  wenn  üir  die  nöthige  Kraft  inne- 
wohnt. Ja  fi*eilich,  wo  die  Anlage  fehlt,  wo  die  Natiu-  versagt,  da 
mfiht  sich  der  erste  Psycholog,  der  erste  Pädagog  vergeblich  ab.  Und 
der  harte  Widerstreit  der  Fordemngen  des  Lelirers  und  Erziehers 
^egen  das  Wesen  des  Kindes  kann  nur  zum  Schaden  gereichen.  Hu- 
manität und  Vernunft  mögen  uns  von  solch  nnmöglichem,  weil  un- 
natürlichem Beginnen  abhalten!  — 

II.  Wie  soll  sich  der  Lehrer  in  nationaler  und  in  kirch- 
licher Beziehung  verhalten? 

Die  KUning  und  Beantwortung  dieser  Frage  ist  in  den  gegen- 
wärtigen Zeitmnstilnden  und  Verhältnissen  eben  so  schwer,  wie  drin- 
gend. Überall  wohin  das  Auge  schweift,  lodert  der  Nationalitätenkampf 
empor;  von  allen  Seiten  umtost  uns  das  wüste  Geschrei  des  confessio- 
nellen  Haders.  Wie  soll  sich  der  Lehrer  in  diesem  Streite  benehmen? 
Es  wird  wol  wenige  geben,  die  davon  unberührt  bleiben;  sind  sie  vom 
^ationalitätenkampfe  Terschont,  so  bedrängt  sie  der  Streit  der  Cleri- 
calen  und  Liberalen.  Wie  soll  man  znr  eigenen  Ruhe  und  Sicherheit 
und  zum  Heile  der  Sdiide  Stellung  nehmen? 

Einer  oder  der  andern  Partei  muss  man  angehören;  keiner  von 
beiden  zuzugehören  ist  ftir  einen  Mann  von  bestimmten  Anschauungen 
und  festem  Cliarakter  sai"  niclit  möglich.  Wie  kann  dies  nun  ohne 
(^efälirdun;.'-  unserer  8tellun<ir,  oline  in  die  objectiven  Verhältnisse  Ver- 
wirning  hineinzubringen,  bewerkstellijrt  werden? 

Man  stehe  zu  seiner  Partei,  jedoch  so,  dass  man  nie  «rej^en  die 
andere  offensiv  vorgehe.  Die  collegialen  Beziehungen  dürfen  deshalb 
nie  nnberü(  ksichtig:t  gelassen  oder  gar  verletzt  werden.  In  derScliule 
muss  das  Benelinien  und  die  Leistung  des  Schülers  stets  das  mass- 
«rebende  Moment  sein.  Es  ist  nicht  zu  bezweifeln  —  ich  selbst  kenne 
Tliat Sachen  als  Bestätigung  hierfür  —  dass  es  Avarme  Vertreter  des 
nationalen  Princips  gibt,  welche  in  ihren  Beziehungen  zu  denOollegen 
sowol  Avie  in  jenen  zu  den  Schülern  die  unerlässliche  ]\Iilde  und  T^n- 
part^ilichkeit  zu  wahren  wissen.  Man  findet  begeisterte  Anhänger 
der  Freilieit  und  des  Fortschrittes  wie  des  Gegentheils,  die  die  gesel- 
ligen Kücksichten  nie  vernaclilässigen,  sowie  gegenüber  den  Schülern 
und  Eltern  nach  rein  saclüichen  Motiven  Urtheil  und  Vorgehen  ein- 
richten. Möchten  diese  Fälle  die  Regel,  nicht  die  Ausnahme  bilden! 
Die  Collegialität  zwischen  den  einzelnen  Lehrern,  die  Achtung  vorder 
Anstalt  und  die  Friedfertigkeit  unter  den  Schülern  würden  dadurch 
nur  zunehmen.  Wo  aber  der  Streit  sich  so  weit  ausdehnt,  dassCoUegen 


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sich  "öffentlich  und  persönlich  befeinden,  wo  die  Kampfesidce  und  die 
Streitlust  otlcu  oder  versteckt  mitten  unter  die  Schüler  getragen  wird, 
da  lebt  es  sich  unangenehm,  da  hat  jeder  schlechte  Schüler  den  Vor- 
wand, dass  jent^  Streitigkeiten  ihm  nachtheilig  gewesen  seien,  dass  er 
von  seinem  Lehrer  wegen  seiner  Gesinnung  angefeindet,  zurückgesetzt 
worden  sei. 

Also  strenge  "Wahrung  der  persönlichen  Achtung  zwischen  den 
Lehi-ern.  absolutes  Vei-zichten  darauf,  für  seine  Nation  oder  Kirche 
unter  den  Schülern  Proi)aganda  zu  machen,  das  dürften  die  einzigen 
Mittel  sein,  wenigstens  unerträtrliclie  Scenen  und  Situati(men  fern  zu 
liulten.  Aber  dadurch  düifte  audi  stets  der  Weg  otfen  und  geebnet 
bleiben,  sicli  gegenseitig  zu  verstehen  und  mit  einander  zu  vertragen. 

Ein  Hauptbinde-  und  Versöhnungsmittel  zwischen  wetteifernden 
Tendenzen  ist  aaerkanntermassen  die  Gerechtigkeit,  die  Objectivität. 
Hochachtung  gewinnt,  wer  Beweise  dieser  Eigenschaften  liefert,  wer 
durcli  Thatsachen  zeigt,  dass  ilim  die  Pflicht  höher  steht  als  seine 
subjecti7en  und  persönlichen  Neigungen.  Kampf  und  Streit  sät  der- 
jenige ans,  welchei'  auf  Kosten  der  gerechten  nnd  billigen  Sache  sei- 
ner vorgefassten  Meinung  zum  Siege  verhilft,  oder  gar  offene  Unge- 
rechtigkeiten begeht,  nm  zu  seinem  Ziele  zu  gelangen.  Verachtong 
nnd  Haas  zieht  er  anf  sich  von  Seiten  Deijenigen,  denen  er  zu  nahe 
tritt;  ja  selbst  wer  als  unparteiischer  Beobachter  seine  Ränke  wahr- 
nimmt, wird  hiervon  mit  Absehen  erf&llt.  Ausserdem  gerftth  er  auf 
eine  schiefe  Ebene;  eine  Ungerechtigkeit  verlangt  die  andere  und  das 
Ende  solchen  Gebahrens  ist  nicht  abzusehen,  während  der  Gerechte 
fest  und  sicher  seines  Weges  wandelt. 


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Cnltnr  und  Schiüe  im  Kampfe  mit  der  rothen  Rasse. 


Von  EdiMrd  TeUer-Naumhury. 

Die  Bestimmniig  des  Menschen  besteht  in  der  Entwicklang  seiner 

■körperlichen  nnd  geistigen  Anlagen,  also  in  seiner  Bildung  oder  Cultur. 
Dieselbe  verlangt  ciiif  nnansgesetzte  Arbeit  und  leidet  keinen  Stillstand,  denn 
dieser  ist  Rii(  k^:in£r.  Sie  zeifj^t  sich  sowol  an  dem  einzelnen  Menschen,  alf? 
£tiich  an  gan/i  n  NTilkern  und  am  Cieschlechte.  Die  Errungrenschaften  verj^an- 
^ener  Geueratioueu  bilden  die  Basis,  auf  welcher  die  Bildung  nachkommender 
Geschlechter  nnter  nenem  Bingen  nnd  Arbeiten  weiter  baut.  Obgleich  nnn 
die  Bildimg'  eines  Menschen  den  eigenen  Willen  mt  Gnmdkraft  hat  nnd  von 
dem  Innersten  desselben  ausgehen  muss,  woin  sie  wahre  Bildung  sein  soll,  so 
g-ewähren  doch  die  durch  die  Erziehung  von  aussen  angewandten  Nüttel  da- 
bei jsn'osse  Hilfe,  sowie  auch  noch  manche  andere  zutällig-e  Bildungsniittel.  als 
l'iiitran^  mit  gebildeten  ^teiischen,  heri-schende  gute  Sitten,  gesunde  Zustände 
in  Staat  und  Kii'che,  gebildete  Sprache,  Kunst  und  Literatur,  selbst  Klima, 
Fmefatboikeit  des  Bodens,  Natmsohdnheiten  n.  8.w.  begünstigend  nnd  ftrdernd 
anf  die  Büdmig  des  Menschen  einwirken. 

Die  Cnltnr  mit  ilirer  ernsten  Arbeit,  mit  ihrem  rastlosen  Drängen  nadi 
immer  weiterer  Entwicklang  besitzt  eine  grosse  Kraft  und  übt  eine  gewaltige 
Herrschaft  auf  alle  die  Menschen  aus,  welche  sich  in  ihrem  Bereiche  befinden; 
sie  zwingt  ant  h  den  Wilden,  den  rohen  Naturmenschen,  zur  Unterwerfung, 
oder  —  vernichtet  ihn,  wenn  er  sich  nicht  unterwerfen  will.  Arbeitsamkeit 
nnd  Trägheit,  eifriges  Streben  nnd  Stumpfheit,  Entwicklang  und  Erstanimg, 
mit  einem  Worte  Cnltnr  nnd  Wildheit  kSnnen  nicht  nebeneinander  - 
bestehen,  nnd  wo  der  Cnltnr  auch  noch  die  physische  Gewalt  zur  Seite  stehti 
da  wird  sich  die  Wandelung  oder  der  Untergang  —  je  nachdem  —  nm  so 
schneller  vollziehen.  Diese  Macht  der  Cultur  schildejt  Beneke  mit  folgenden 
"Worten:  „Die  Cultur  ist  ja  doch  keine  Ei-tinduiiir  des  büsen  Willens  oder  des 
Eigensinnes,  die  man  nach  Willkür  wieder  abschatlen  künnte,  sondern  sie  ist 
mit  Nothwendigkelt  durch  die  tiefsten  Grandlagen  der  menschlichen  Natnr  be- 
dingt. Die  menschliche  Natnr,  im  Unterschiede  von  deijenigen  der  Thiere, 
enthält  wesentlich  nieht  nnr  Cultnrfähigkeit,  sondern  anch  Cnltnrtriebe, 
welche  mit  nnwidersteidicliOT  Macht  zur  Cultur  hindrängen  nnd,  wenn  es  mög- 
lich wäre,  sich  ihrer  zu  entJinssem.  dieselbe  immer  wieder  von  nenem  erzensren 
wurden.  Verneinen  der  «  ultui"  ist  also  Verneinen  der  menschlichen  Natur 
ihrem  innersten  Wesen  nach."  • 

Cultiu'  und  Natur  oder  Wildheit  sind  aber  niclit  als  innerliche  Gegen- 
Sätze  anflEofusen,  die  Cnltnr  ist  keine  Feindin  der  Natnr,  denn  alle  Cnltnr 


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1 

—   578  — 

soll  ja  natürlich  sein;  sie  gleicht  einem  Pfropfreis,  welches  der  Natur  Wild- 
lings entsprechen  mnss,  wenn  es  wachsen  nnd  Frftchte  edlerer  Art  tragen  solL 
Der  Einflnss  nnd  die  Macht  der  Gnltor  wird  dnrch  die  Gesdüchte  der 

Völker  in  versclüedener  "Weise  deutlich  illustrirt. 

Als  im  Jahre  375  n.  Chr.  die  wilden  Horden  der  Hunnen  Europa  über- 
schwemmten, und  die  \'ülkerwanderunji:  eintrat,  drangen  die  ihr  Vaterland  vei- 
lassendeu  Germunen  in  die  Culturländer  des  benachbarten  grossen  Rönierreiches 
ein;  die  Westgothen  setzten  sich  in  Spanien,  die  Normannen  in  Frankieich,  die 
Longobarden  in  ItaUen  fest  Aber  es  dauerte  nicht  allzolangey  so  hatten  die 
germanischen  Eindringlinge  in  der  anders  gearteten  Fremde  ihre  Sprache  nnd 
Stammeseigenthümlichkeiten  verloren,  denn  die  Cultur.  die  sie  umting  und  ihren 
Einfluss  auf  sie  ausübte,  raubte  ihnen  je  länger,  je  mehr  das  Nationale,  das  si^ 
mitgebracht  hatten,  bis  es  im  Laufe  der  Zeiten  vollständig  verschwand.  Aut 
dem  Schauplatze  der  Weltgeschichte  erschienen  nun  auch  romanische  \'iilker. 

Ein  solcher  Culturkampf  vollzieht  sich  jetzt  in  Nordameiika  iu  umge- 
kehrter Weise.  Die  Einwanderer  der  angelsSdisischen  Basse  als  Gnltor- 
trftger  zwingen  die  eingebomen  wilden  Stimme,  sich  entweder  der  vonUcken- 
den  und  dargebotenen  Büdang  zu  nnterw  i  tVu  und  die  bisherigen  uncnltivirten 
Zustande  und  Gewohnheiten  ihiTS  wilden  Lebens  aufzugeben  und  mit  bessern 
zu  vertauschen,  oder  —  da  das  ausschliessliche  Walten  der  rohen  Natni-  sich 
mit  der  Cultur  civilisirter  Nationen  in  unmittelbarer  Nachl)a]-schatt  nicht  ver- 
trägt —  ganz  zu  Grunde  zu  gehen.  Schritt  für  Scliritt  erobert  die  Cultur  in 
Nordamerika  Immer  mehr  Terrain,  nnd  Immer  entschiedener  wird  den  wflden 
Volksstämmen  der  Indianer  daselbst  das  ihnen  schreckliche  Entweder  — 
Oder  zugerufen.  Im  Laufe  der  Jahre  sind  dieselben  dnrch  blosses  systema- 
tisches Vorrücken  der  Civilisation,  oft  aber  auch  unter  blutigen  Kämpfen  schon 
weit  nach  WcKtm  znrück£redi;ln?t,  und  wenn  sie  in  den  ausgedehnten  Prärien, 
wo  die  zahlreichen  Buftelherden  ihnen  die  Mittel  zu  ihrer  Existenz  gewälnvii. 
oder  in  den  Schluchten  der  Felsengebirge  und  iu  deren  Niederungen  mit  deu 
llsehreiehein  Gewisseni  eine  Znflndit  suchen,  so  erreicht  sie  anch  hier  sebr 
bald  der  warnende  Znmf  der  Enltur:  Entweder  —  oder! 

Die  Schienenstränge  der  unerbittlichen  ^BleldigeBicbter^  reichen  bereits  von 
der  Ost-  bis  zur  Westgrenze  des  Landes,  vom  Atlantischen  1  is  /um  Grossen 
Oceane  und  dur<  lischneiden  die  von  den  Rothhäuten  neu  autircsut  hten  Jagd- 
gründe und  Niederlassungen,  sowie  die  Einwandeiuiiiren  civilisirter  Mensclien 
fortwährend  im  Zunehmen  begriffen  sind.  Ein  Stück  \\'ald  nach  dem  andein 
geht  ihnen  verloren,  die  Herden  der  Prärien  werden  immer  kleiner,  der  Reich- 
thnm  der  Gewiseer  hat  sich  vor  dem  Dampftehiff  nnd  dem  Getriebe  der  vor* 
rfickenden  Industrie  geflüchtet  nnd  schwindet  je  länger  Je  mehr,  so  da»  die 
natürlichen  Hilfsquellen  des  rothen  Mannes  immer  sp^lrlicher  fliessen.  Ent- 
behrunpfcn  manchei'  Art.  ungewohnte  Strapazen  nnd  oft  bittere  Notli  sind  im 
Gefolge  dieser  Erscheinungen.  Es  ist  deshalb  leicht  einzusehen,  dass  auch  da- 
durch die  einzelnen  Stämme  nicht  unbedetitend  decinürt  werden.  Gerade  im 
Westen  Nordamerikas,  in  Californien,  ist  erät  seit  kurzer  Zeit  eine  neue,  wun- 
derbare Welt  entstanden,  weiche  auch  nicht  das  kleinste  Fleekchen  für  Wilde 
hat,  die  ihr  Leben  theils  verschlafen,  theils  ön  stumpfer  Gleiehgfatigkeit  ver- 
bringen.  Der  Ansturm  der  Cultur  auf  die  noch  vorhandenen  Stftmme  der 
Indianer  erfolgt  seitdem  von  beiden  Seiten,  von  Osten  und  Westen. 


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—   Ö79  — 

Vor  50  Jahren  hatte  Coliforiiieii  allein  noch  über  achtztlin  Taiusend 
Indianer,  luid  heate  sind  dieselben  bis  anf  ungefähr  den  zwanzigsten  Theil  zu- 
saauDengeaclimolseii;  efauelne  Stämme  sind  bereits  ganz  von  der  Erde  ver- 
schwnnden,  und  die  Zahl  der  Zogehfirigen  anderer  Stimme  vermindert  sieh 

immer  mehr.  In  den  sechziger  Jahren  wurden  die  Modocs,  ein  starker,  krie- 
gerischer Stamm  der  rotlien  Rasse,  von  der  Regiernng'  aus  ihrer  Heimat  ver- 
trieben, und  es  wurde  ihnen  als  sogenannte  Reservation  ein  Temtoriuni  ange- 
wiesen, auf  welchem  sie  die  unmittelbaren  Nachbarn  der  Mnskalnks  wurden, 
die  aber  ihre  erbittertaten  Feinde  waren.  Die  Folgen  dieser  Anordnung  waren 
leicht  abznseheii,  ond  wir  wollen  dahingestellt  sein  lassen,  ob  es  Absicht  der 
Begiemng  war  oder  nicht,  genng,  die  Feindseligkeiten  beider  Stilmme  loderten 
bald  in  hellen  Flammen  auf  und  endig^ten  nach  wenig  Jahi'en  unter  verzwei- 
feiten  Kämpfen  mit  dei-  Unterwerfung  und  fast  völligen  Vernichtung  des  ver- 
wiesenen Stainnus.  Am  Erl  River  hatte  der  mllchtige  Stamm  der  Chuamaias 
seine  Xiedt  rhissungen.  und  da  derselbe  in  keiner  Weise  den  Forderungen  der 
Regierung  sich  fügen  wollte,  so  sahen  sich  die  Pioniere  der  Cultur  geuöthigt, 
den  Krieg  gegen  diese  verbissenen  Fdnde  zn  erSflhen.  Dennoch  blieb  ihr 
"Widerstand  derselbe,  so  dass  man  zam  Änssersten  schreiten  mnsste.  IHeDSrfer 
der  Chuamaias  wurden  ^zefstSrt,  Weiber  und  Kinder  niedergemacht,  und  die 
letzten  Krieger  dieses  Stammes,  welche  sich  von  ihren  Verfolgern  eingeschlossen 
sahen,  gaben  sich  in  Verzweiflung  durch  Herabstürzen  von  einem  schroffen 
Felsen  selbst  den  Tod.  Und  so  oft  auch  »'in  Stamm  aus  der  Wildnis  seiner 
Keservatiou  wieder  einmal  hervorbricht  und  gegen  die  Coltui-  der  verhassteu 
^Bleichgesichter"  racheschnanbend  nnd  raabmürderlsch  die  bewafinete  Hand 
erhebt,  so  endet  der  Kampf  doch  regelmässig  mit  der  blutigsten  Niederlage 
der  Hothhäute. 

Somit  scheint  das  Schicksal  der  Indianer  in  den  nordamerikanischen  Frei- 
staaten, d.  h.  der  vollständige  T'ntprganir  demdben,  unabwendbar  und  nur 
noch  eine  Frage  dt*r  Zeit  zu  sein,  denn  das  Land  der  freien  Arbeit  mit  seiner 
mächtig  fortschreitenden  Cultur  hat  für  die  geschworenen  Feinde  derselben 
in  der  Gegenwart  keinen  Platz  mehr.  Schon  Im  Jahre  1840  antwortete  der 
amerikanische  SIriegsministar,  als  er  gefragt  wurde,  wamm  sich  die  Nation 
den  rothen  Bruder  nicht  erzöge:  „Den  Indianer  zn  zähmen,  haben  wir 
nns  Bf  it  lange  yergeblich  bemüht;  es  gibt  daher  kein  anderes 
iiittel,  als  ihn  zu  vertilgen."  Und  an  diesen  Gedanken  hat  man  sich  in 
den  Vereinigten  Staaten  im  grossen  und  ijfanzen  seitdem  bereits  gewöhnt  und 
bezeichnet  den  \'erlauf  als  einen  natürlichen  und  unaufhaltsamen  l'rocess,  denn 
die  Cultur  könne  nnd  werde  vor  solchen  Feinden  nicht  zurückweichen;  da 
dieee  aber  in  ihrem  Trotze  behairlich  jede  Ergebung  verweigerten,  und  eine 
Versöhnung  zwischen  Wildheit  und  Cultur  nicht  möglich  sei,  so  müsse  man 
sie  zermalmen.  Darum  haben  denn  auch  in  den  letzten  Jahrzehnten  die 
Kugeln  der  Civilisation  unter  dm  Kingebnmen  Nordamerikas  gewaltig  aufge- 
räumt, und  es  Hesse  sich  bei  difsem  \'erfahren  W(d  mit  ziemliclier  Gewissheit 
vorausberechnen,  wann  des  letzten  Stammes  letzte  Stunde  schhigen  werde. 

Anders  liegen  die  Verhältnisse  in  Mexiko  und  Südameiika,  namentlich 
in  Peru  und  den  La-Platastaaten,  wo  die  Spanier  zur  Herrschaft  gelangt 
sind,  ^ßieselben  haben  zwar  das  Land  eingenommen,  nachher  aber  gegen  die 
Indianer  sich  aller  civilisirenden  Einflüsse  enthalten;  sie  haben  nie  besondere 


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—   580  — 


Anstreiigung^fii  geiiuuht,  di"'  voi  jji^t-t'nndeiie  Wildlu  it  zu  cultivirt'U  und  dadurch  die, 
rothe  Eiisse  zu  sich  emporzuliebeu,  sondern  haben  sich  iu  ihrem  gewonnenen 
Eldorado  dem  dolce  tat  ni^nte  ergeben  und  sind  zu  ässi  'V^den  hlnniiter  gestiegen. 
Auf  diese  Weise  kann  in  solchen  Landern  der  Wilde  neben  dem  Enropfter  nnd 
Herrn  bestehen,  nnd  es  kann  deshalb  aach  nicht  befremden,  wenn  eine  aU- 
mähliehe  Verschmelzung  dieser  beiden  Rassen  eingetreten  ist.  Die  Geschichte 
zeig^  sogar,  dass  in  diesen  Staaten  nicht  bloss  Enro])äer,  sondern  andi  Indianer  in 
hohe  8tellunfj:en  g"elani<en  nnd  selltst  die  liiichste  Srufe  der  Reiri»>runir  eireichen. 

Angesichts  der  oben  gesciiilderten  traurigen  Erscheinungen  in  Xurdamerika 
nnd  des  tragischen  Unterganges  des  rothen  Menschenscbiages  daselbst  haben 
sich  in  der  Nenaeit  H&nner  von  Hens  nnd  Verstand,  getrieben  von  der  Hnma- 
nitftt,  doch  ernstlich  gefragt:  ob  sieh  denn  dieser  grsnsamen  ZeratSmng  nicht 
Einhalt  thon  liesse»  nnd  ob  es  nicht  möglich  w.'lre,  denkest  dieser  rothen  Men- 
schenrasse noch  zu  p-ewinnpii  nnd  dunli  andere  als  die  bisher  verfreblich  an- 
gewandten Nüttel  der  Cnltuj-  zu  unterwortVii.    Zn  diesen  M.'inneni  ireliürt  der 
bekannte  Karl  Schurz,  unser  Landsmann,  der  frühere  Minister  des  Innenj 
der  nordamerikanischen  Union.    Derselbe  ist  nicht  bei  dem  blossen  Gedanken 
stehen  geblieben,  sondern  hat  schon  wfthrend  seiner  Amtsthfttigkeit,  noch  mehr 
aber  in  der  nenesten  Zeit  energische  Schritte  gethan,-  mn  der  Ansrottong  der 
rothen  Rasse  ein  Ziel  m  setzen.    Zuniichst  diente  eine  Reise,  welche  er  selbst 
erst  vor  nnfreflUir  3  Jahren  in  die  Nietlerlassnngen  versrliirdener  Indianer- 
stiunme  unternahm,  seinem  Zwecke.    Die  bis  dahin  in  iliren  ursprünsrliehen 
Txechten  allerdings  benachtheiligten  und  schwer  gekrUnkten  Indianer  sollten 
nach  Möglichkeit  beruhigt  und  mit  Vertrauen  zu  den  Absichten  derBegierung 
in  Washington  erfüllt  werden.    Dann  beauftragte  er  hervorragende  Mftnner 
d^  Wissenschaft,  den  nni^ücUichen  nnd  bedanemswerten  Indianern  ihre  be- 
-ondere  Auftnerksamkeit  nnd  TTiUtigkeit  zuzuwendiNi,  denn  Karl  Schurz  hatte 
den  idealen  Gedanken  irefasst.  die  Heranbildung  der  indianischen  .lu- 
gend der  Zukunft  der  nttlien  Kasse  zu  Grunde  zu  lej^en,  also  die  kommende 
Zeit  auf  der  jungen  bildungstahig-eu  (ieneiation  diesei'  Stännne  aufzubauen, 
wie  es  in  allen  civilisirten  Ländern  als  selbstveiiständlich  schon  längst  geschieht. 
Er  beschloss  deshalb  im  Vereine  mit  seinem  Collegen  Mr.  Crary,  eine  India- 
ner sehnle  in  Garlisle  in  Pennsylvanien  anf  Staatskosten  zn  erriditen,  nndbe- 
tränte  mit  der  Organisation  zwei  sachkundige  Personen,  Herrn  Pratt  nnd 
Frltulein  Mather.  welche  sich  in  gleichem  Masse,  wie  er  selbst,  fiir  die  Ket- 
tnufir  und  Cultivirnnjr  des  rothen  Stammes  lebhatr  iuteressiiten.    Xaclidem  der 
Plan  unter  gemeinschaftlirheu  Herathimgen  entworfen  und  endgültig  festü^esetzt 
wai*,  unteruahmen  die  beiden  Letztern  eine  Heise  nach  dem  Westen  iu  die  Nie- 
derlassungen der  Indiaiier,  nm  —  was  doch  die  Hauptsache  xnr  —  Z<">glinge 
für  die  nen  gegrftndete  Anstalt  sn  gewinnen.  Daselbst  angelangt,  wandten  sie 
sich  an  die  Häuptlinge  nnd  gefurchteten  Krieger  der  IndianerstUmme  nnd  nn- 
terhandelten  mit  ihnen  im  Auftrage  der  Regierung  wegen  Überlassnug  von 
Kindern  znm  Zwecke  der  t'berführung  in  die  Eildungsanstalt  in  r'arli>le.  Grosse 
Schwierigkeiten  traten  ihnen  dabei  nicht  entgeiren.  und  ihre  BeniüluMm»-u  hatten 
einen  höchst  erfreulichen  Erfolg,  denn  die  Schule  konnte  bald  daraut  mit  mehr 
als  anderthalb  hundert  Zöglingen  von  der  rothen  Rasse  eröffnet  werden,  and 
es  sind  begrfindete  Aussichten  vorhanden,  dass  dieselbe  eine  immer  «grössere 
Ausdehnung  bekommen  wird. 


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—    581  — 


Diese  vom  liumaueu  Prindp  getragene  und  in  der  Ausfuhrung  begriffene 
Idee  ist  lo  eigenartig  und  für  die  Zukunft  der  Indianerfrage  so  bemhigend  nnd 
Mstlicky  dass  kein  hnman  denkender  Henacli  llir  seine  Ziutiminnng  and  Aner- 
ItcQBang  versagen,  vielmebr  der  Überzeugung  sein  wird,  dam  gerade  dieses 
Mittel,  wie  kein  anderes,  geeignet  ist.  den  edlen  Zwock  zu  erreichen,  fis  ist 
dieses  Unternehmen  die  in  die  Praxis  Ubertrag^cne  Wahrheit  <lt  s  bei  uns  sehon 
oft  gebraufhten  Satzes:  „Wer  die  Schule  hat,  hat  die  Zukuntt."'  Die 
Sohnle  ei-scheint  hier  nicht  blds  als  liilduiiürsiuistalt.  soiidmi  sie  liat  auch  noch 
den  humanen  Nebenzweck,  eine  im  Vci-sciuvinden  bcorriftene  Menschenrasse  von 
ihrem  vollständigen  Untergange  zu  erretten  ;  sie  ist  das  Werk  der  sich  über 
OBglieUiche  Uitbriider  erbarmenden  Nüchstenliebe,  ^e  Samariteranstalt  mit 
doppelt  hohem  Ziele.  Nicht  einem  Einzelnen,  nicht  einer  Gemeindet  sondern 
dner  ganzen  Menschenrasse  soll  nach  MSgliehkeit  für  alle  2Mten  leiblich,  geistig 
md  sittlich  ^'eholfen  werden;  ein  letzter  nnd  friedlicher  Kampf  der  Cnltnr 
gegen  die  Wildheit, 

Wie  höchst  bediiifti^^  aber  diese  Tvassc  der  griindlichcti  Aufhilfe  ist, 
zt-ijrt  schon  ein  flüchtiger  Blick  auf  ihn  n  geistigen  und  moralischen  Zustand. 
l>t  r  Indianer  ist  am  an  Voi*stellunfr<Mi  und  Iileen,  unempfänglich  tTir  übersinn- 
liche und  abstracte  Begriffe,  nicht  gt  neigt  zu  geistiger  Thätigkeit,  dem  uugen- 
Ueldichen  Sinnengennss  ergeben,  leicht-  und  aberglilabisch,  sowie  sdbstsafrieden 
faidolent,  dabei  in  hohem  Grade  egoistisch,  hartherzig,  gefBhllos  gegen  Hensdien 
and  Thiere,  grausam,  tfickisch,  d&ster  nnd  Feind  jeder  Abhängigkeit.  Anch 
die  scheinbar  guten  Eigenschaften  des  Wilden,  die  Anhänglichkeit  an  seinen 
Stamm,  die  Tapferkeit  im  Kriege,  die  Verachtung  der  Gefahr  und  des  Todes 
und  die  Firiheitsliebe  wurzeln  nur  auf  unedlem  (Trunde,  Und  wie  der  einzelne 
Indianer,  so  trägt  auch  ihr  Staninieslcben  —  wie  es  nicht  anders  sein  kann  — 
den  Stempel  der  grüssten  Uncultui*  und  Rohheit.  Ein  indianisches  Dorf  besteht 
aus  einer  Anzahl  raachgeschwftrzter,  oben  kuppelförmig  gewölbter  Hütten,  die 
«ntweder  ans  Borke  ond  Lehm  oder  ans  Erde,  mit  Basen  nnd  Hds  verdeckt, 
in  der  primitivsten  Weise  anilgrebant  sind  nnd  zun  Theil  in  der  Erde  stecken. 
Ihr  innerer  Raum  ist  sehr  beschränkt,  bietet  nicht  die  geringsten  Vorrichtongen 
sn  Bequemlichkeiten  und  muss  die  ganze  Familie  aufoehmen.  Die  in  den  mil- 
dern Strichen  lebenden  Stämme  emchten  leichte  Zelte  ans  Borke,  Reisig,  auch 
wol  aus  Fellen.  Mitten  im  Dorf«^  befindet  sich  bei  den  etwas  y:r<>ssern  Stäm- 
iiii  II  das  geräumigere  Versamnilungsliaus.  worin  die  Männer  ihre  Berathun^en 
über  Krieg  oder  andere  gemeinschaftliche  Züge  abhalten,  das  aber  nie  von  einer 
Frau  betreten  werden  darf. 

Sind  anch  Wesen  nnd  Chsrakter  der  verschiedenen  Stftmme  im  grossen 
Ganzen  fibereinstimmend,  so  zeigen  sich  doch  die  an  dengrossen  Wasserlftofen 
wohnenden  friedlicher  und  geselliger  nnd  haben  anch  eine  vocalreichere  nnd 
wolklingendere  Sprache,  als  die  in  den  Felsengebirgen  hausenden  Indianer,  deren 
Sprache  viele  GutturMltitne  enthält  und  sehr  rauh  klinirt.  Alle  aber  machen 
von  ilirer  Sprache  wenig  (Tcbraucli.  sie  sind  überall  schweigsam  und  verträu- 
men —  wenn  sie  nicht  essen,  rauclit  ii  oder  seiihift  ii  —  den  grö8.sten  Theil  ihres 
Lebens;  nur  das  Bedürfnis  nöthigt  sie,  auf  die  Jagd  oder  den  Fischfang  zu 
gehen,  wogegen  ein  beabsichtigter  Krieg  oder  ein  räuberischer  Ausfall  sie  in 
isidenschalfeUcfae  Aufregung  versetzt 

Diesen  Erscheinnngen  gegenüber  zeigt  die  indianische  Jngend  in 

PadHosiaa-  *.i»iag.  DL  Heft.  88 


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—   582  — 


ihrem  Wesen  ein  sam  Theil  abweiehendei  Bild.   Die  Kinder  wadisen  zwar 

ganz  wild  und  olme  jegliche  Unterweisung  auf  und  verbringen  den  g^rSssten 
Thoil  des  Tages  mit  spielen,  l»aden  oder  tischen,  sind  abfr  dabei  alle  heiterund 
immer  gut  gelaunt.  Bei  ihren  Spielen  sind  sie  verträglich  und  zeigen,  nament- 
lich bei  Parteispieleu,  nie  Eitersucht  oder  Neid,  sowie  auch  die  Schwachen  und 
Besiegten  von  den  Starkem  nichts  zu  leiden  haben;  keiiis  von  ihnen  verdirbt 
ein  Spiel  ans  ünntMedeaheit  oder  ISiaagjaiai,  wie  naa  das  manchmal  hei  den 
Spielea  miaerer  Kinder  zn  bemerken  Gelegenheit  hat  Und  diese  Eigenachaften 
der  indianiaehen  Jagend  berechtigen  zu  der  Hoffnung,  daaa  die  angefangenen 
Bildungsversuche  dei-selben  in  der  Schule  zu  Carlirie  keinen  grossen  Schwierig- 
keiten begegnen  werden.  Ist  es  doch  schon  ein  ansserordentlicher  Vortheil  bei 
der  Erzieiniiig  dieser  Kinder,  dass  sie  nicht  blos  den  bösen  Beispielen  der 
Alten,  die  den  Wert  ihrer  Bedeutung  nur  nach  dem  Grade  ihrer  Grausamkeit 
gegen  Mitmenschen  and  nach  der  Anzahl  der  von  ihnen  erbeuteten  Scalps  be- 
messen, sondern  auch  deren  directen  verderblichen  EinflUssen  gaos  entaogeD 
sind.  Wenn  nnn  noch  die  Anstalt  in  CarMe  anf  zwedEentqmdienden  Ebi- 
richtongen  beruht,  und  die  Aasbildung  der  Zöglinge  nach  psychologischen  Gnind- 
sützen  erfolgt,  auch  Gednld  und  Ausdauer  dabei  vorhanden  sind,  woran  wir 
nicht  zweifeln  wollen,  so  sind  ja  die  beiden  wichtigsten  Faktoren  der  Erzielumg 
beisammen,  und  die  Anstalt  kann  mit  ilii'em  besoudem  Zwecke  einer  erfreulichen 
Zukunft  entgegen  sehen. 

Weiter  müssen  wir  zur  nähern  Kennseichniing  der  Indianer  und  ihrer 
crrossen  Cnltoibedfirftigkeit  noch  Folgendes  bemerken.  Die  Alten  lieben  das 
Hazardspiel  mit  WlirfiBln,  zeigen  aber  weder  bei  Gewinn  besondere  Freude,  noch 
bei  Verlust  Aufregung  und  Schmerz,  selbst  dann  nicht,  wenn  sie  auch  das  Letzte, 
was  sie  haben,  sieh  selbst,  vt  ispielen.  Andei-s  ist  es  bei  ihren  Festen,  denn 
bei  diesen  lachen  oder  weinen  sie  oft,  wie  Kinder.  DireTodten  verbrennen  sie 
und  verbinden  damit  ein  mehrere  Tage  dauerndes  Fest,  an  welchem  sich  der 
ganze  Stamm  betheiligt  Die  dabei  stattfindenden  Ceremonien  sind  sehr  ver» 
sehiedener  Art,  geben  aber  alleZengnis  von  ihrem  krassen  Aberglasben  nndden 
barbarischen  Gefühlen,  die  ihnen  innewohnen.  Ein  ganz  besonders  anmenseh» 
licher  Zug  in  ihi-en  Sitten  ist  der  Mangel  jeglicher  Pietät  gegen  das  Alter. 
Nehmen  die  Ki  äfto  eiues  ^lannes  mit  den  Jahren  ab,  so  wii*d  auch  der  bi.s  da- 
hin aiige-sehenste  Krieger  zum  S<:laven  seiner  eigenen  Kinder,  und  arbeitsnn- 
tahig  gewordene  Frauen  werden  sogar  oft  ganz  vei-stossen  und  in  der  Wihinis 
ihrem  beklagenswerten  Schicksale  überlassen.  Von  einer  schaffenden  und  welt- 
erhaltenden Kraft  wissen  sie  nichts,  derOottesbegriff  fehlt  ihnen  gams.  Einige 
SStämme  haben  den  Glanben,  dass  mit  dem  Tode  anch  die  Kristwm  des  Menschea 
überhaupt  abschliesse,  während  andere  DOOh  ein  anderes  Leben  träumen,  ohne 
jedoch  irgend  eine  deutliche  Vorstellung  von  demselben  zn  haben,  da  sie  allen 
abstracten  Reflexiouen  abhold  sind.  Die  Nischnanis,  welche  diesem  (rlauben  am 
entschiedensten  anhängen.  gel)en  deshalb  ihren  Todten  mancherlei  Gegenstände 
mit  auf  die  Reise  nach  dem  schönen  Lande,  das  sie  sich  nach  Westen  liiu 
denken,  and  verbrennen  bei  dem  TodtenfSeste  mit  der  Leiche  anch  deren  ganze 
mitgegebene,  oft  nicht  anbedeatende  Ansstener. 

Als  ein  wichtiger  Schritt  aof  dem  Wege  der  humanen  Bestrebungen  der 
Gegenwart  in  der  Indianerfiage  in  Nordamerika  ist  noch  folgendes  m  ver- 
zeichnen. 


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—   583  — 


Der  an  der  Spitze  einer  staatlich  angeordneten  geographiiehen  and  geo- 
logischen Untemehmong  stehende  Major  Powell  hat  schätzbare  ethnologische 

Beiträge  über  die  in  den  Felsengebirgen  wohnenden  Indianer  gesammelt  and 
heimgebracht,  namentlich  eine  grosse  Anzahl  verschiedener  Gegenstände,  als 
Watfen,  Kleidungsstücke,  Jagdgeräthe,  Vorrichtungen  zum  Fischfang,  Abbil- 
dungen, Producte  und  dergl.  Und  als  man  zu  der  im  vorigen  Jahre  (1881) 
stattgefondenen  Jubelfeier  des  hundertjährigen  Bestehens  der  Union  eine  In- 
dntrieanntelliiiig  In  Pbiladdphla  yeranstaltete,  wurde  in  derselben  aoeli  eine 
raiehbaltige  AbtfaeQongr  des  Indianerlebens  hergerichtety  am  den  Besuchern  der 
AusteDong  das  Leben  und  Treiben  der  Bothhflnte  mOgUchst  jyisohanlich  vor- 
snfiihren. 

Dadurch  ist  sicherlich  das  Interesse  für  die  noch  vorhandenen  Indianer- 
stämme beim  l^ublicum  wieder  neu  belebt  und  der  Gedanke  angeregt  worden, 
sich  der  Verstossenen  und  so  hait  Bedrängten  iu  meuschen&'eundlicher  Gesin- 
nong  wieder  anzonehmen  and  —  sowdt  dieses  ttberhaopt  mOglich  —  ihre 
Lage  zu  verbessem.  Um  diese  Lidianer-Abthellong  in  genannter  Aasstellang 
hat  sich  ein  Gelehrter,  Namens  Stefen  Powers,  besonders  verdient  gemachti 
ein  Mann,  der  nicht  blos  gfrosses  Interesse  für  diese  Angelegenheit  zeigte,  son- 
dern damit  auch  umfassende  Kenntnisse  des  Indianerlebens  verband.  Er  hat 
selbst  mehi-ere  Jahre  unter  den  Indianerstänunen  des  Westens  gelebt,  ihre 
Lebensart,  Sitten  und  Gebräuche  beobachtet,  sowie  ilire  Sprache  und  Geschichte 
mit  grosser  Sorgfalt  studirt  Diese  Erfahrungen  nnd  Stadien  liat  er  In  einem 
besondem  We^e  unter  dem  Titel  Tribes  of  California  auf  Anregung  deslQni- 
Btoriuns  des  Innern  veröffentlicht,  um  ihnen  möglichste  Verbreitnng  m  ver^ 
schaffen,  und  hat  dadurch  dem  amerikanischen  VoULe  Veranlassung  gegeben, 
die  herrschenden  falschen  Vorstellnng)^  und  Meinungen  in  der  Indianerfrage 
zu  läutern  und  zu  berichtigen. 

Dieser  Mann  ist  in  seinen  Anschauungen  über  die  Indianer  vom  idealen 
Gesichtspunkte  ausgegangen  und  sieht  in  dem  Wilden  immer  den  Menschen, 
dem  er,  wie  jedem  andern,  das  Becht  einiftnmty  menschlich  zaleben.  Er  olüBn- 
hart  Ar  die  Verstossenen  nach  allen  Seiten  hin  ein  fühlendes  Herz,  ist  ihr  be* 
redter  Anwalt  und  hofft,  dass  auch  die  Nation  von  jetst  an  mehr  Sympathien 
für  die  unglücklichen  Indianer  nnd  deren  Los  zeigen  werde. 

So  liegen  zui'Zeit  die  Verhältnisse  der  Culturlrage  der  knjiferrothen  Rasse 
in  Nordamerika,  und  welcher  frililende  Mensch  sollte  nicht  von  Herzen  wün- 
schen, dass  es  edel  denkenden  Männern  gelingen  möge,  die  noch  in  ihrer 
Wildheit  trotzig  veilianeade  Menschenrasse  endlich  für  die  Cn^tnr  an  ge- 
winnen? Die  gegrfindete  Schnle,  als  Trägerin  derselben,  wird  sieh  nicht  blos 
bemniien,  ihre  rothen  Zöglinge  zu  caltivirteii  Menschen  heranzahUden,  sondern 
wird  jedenfalls  auch  Versuche  machen,  dorch  diese  eine  andere  nnd  bessere 
Lebensanschauung  zu  den  Stammesgenossen  in  die  Wildnis  hinauszutragen.  In 
wie  weit  letzteres  gelingen  werde,  lässt  sich  allerdings  nicht  voraussagen. 
Bleibt  aber  auch  dieses  Mittel  ohne  den  erwünschten  Erfolg,  so  dürfte  es  wol 
lield  mit  der  rothen  Rasse  in  der  Wildnis  ganz  aus  sein,  and  die  durch  die 
Schale  Geretteten  wBren  dann  die  einzigen  Überbleibsel,  deren  Versdunelznng 
mit  andern  Bassen  nicht  ausbleiben  konnte. 


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Ecziehttiig  rar  SelbsUliätigkeit 


Das  blosse  scholastisclie  Loi  iuni  dönt  leicht  des  Kindes  Seele  aus.  Es 
btisst  durch  (iewinii  cinor  Büchei  -Altkluirheit  an  P^nipfilnfrlichkeit  des  Gemüt  lies 
ein.  l>io  <'i;rentliL'ht'  oriirinale  Schaffenski-aft,  weh  hr  sich  in  jeder  Seele  tiudet, 
Kellt  bei  citVij^cr  Abric.htuni!:  von  aussen  her  grösstentheils  verloren.  Dutzoud- 
menscheii  treten  danu  meist  au  die  Stelle  von  Geiste«-  und  GemUthschai'aktereiL 
Die  Seelen  der  früh  und  ylel  schnlmftseig:  Lernenden  sind  aaoh  früh  schon  in 
gewisser  Art  blssirt  Wer  immer  isst,  bevor  er  noch  rechten  Appetit  liat» 
kennt  nicht  den  Hunger.  Der  geistig-c  Hunger  ist  nur  denen  bekannt,  welche 
nicht  als  Kinder  schon  mit  dün-eni  oder  aufi^eputztem  Wissen  überladen  werden. 
Eine  Frapre.  die  in  unserer  Seele  selbststiiiHÜg  erzeugt  wird,  tordert  schon  für 
sich  die  Eijjenkraft  mehr,  als  ein  antireuoniinenes  Wissen.  Ja.  ein  ^nt&neT 
Theil  des  Wissens  wiüdc  von  uns  selbststäudig  erzeugt  werden,  weun  wir  uns 
selbst  viel  fragten.  Neurath. 

In  der  Schule  werdeu  weder  Entdeckungen  oder  Ertindungen  gremacht, 
noch  auch  Entdecker  und  Erfinder  gezogen;  aber  vorgebildet  dazu  sollen  die 
Schüler  (laclnich  werden,  dass  man  si(j,  anleitet,  das  Entdeckte  zu  entdecken, 
das  i^alorsciite  zu  eri'orsclieni  das  Gefoudeue  zu  ündeu.  Lazarus. 


Zur  Fröbel-Literatur. 

Das  FrSbel-Jubiläum,  welches  am  21.April  vieler  Orten  begangen  wurde, 
hat  eine  bedeutende  Anzahl  neuer  Schriften  fiberFrSbel  und  seine  Bestrebungen 

hei  vorp  rufen.  Für  die  meisten  dei  st^llicn  dürfte  j^fenuc  g-eschehen,  um  sie  in 
Fachkreisen  bekannt  ZU  machen.  Auf  eine  abei-  wollen  wir  besonders  aufmerk- 
sam machen,  weil  sie  in  einem  Blatte  („Sächsische  Schulzeirung"  )  erschienen 
ist,  das  zwar  innerhalb  j^eint  s  Bereiches  mit  Recht  ireschätzt  und  fleissis:  ge- 
lesen wird,  aber  ausserhalb  desselben  wenig  bekannt  ist.  Wii-  meinen  die  AVt- 
haadluug  ,,Zur  Erinnerung  an  Friedrich  FrSbel**,  von  einem  der  vor- 
züglichsten Schüler  desselben,  Bruno  Marquart  in  Dresden.  Sie  geh5rt  un- 
streitig- zu  dem  Gehaltreichsten  und  (lediejrensten,  was  bisher  Über  Fröbel 
^eschriebeu  worden  i^t,  und  tiudet  sich  in  Nr.  16  des  laufenden  Jahrgtingres  dei 
,.Sä<  hsischeu  Scholzeitung**  (16.  April  1882),  Verlag  von  Julius  Klinkhardt 
in  Leipzig. 


Yenuitwortlicbcr  Red«ct«ar:  M.  ätein.  Bucbdruokeni  Juliua  Kliakhardt,  Leipsig. 


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Der  Pessunismus  und  die  Sittenlehre. 

(Fortaetsmig.) 

B.  Eduard  Ton  Hartmann. 

In  E.  V.  Hartniann  bat  sich  der  europäische  PessiiiiLsmus  erst 
gleichsam  den  europäisclien  Berechtig:nn«:sscliein  zu  liolen  jresuclit,  in- 
dem er  sowol  den  wissenschaftlichen  Anlorderungen  in  Betreff  der 
Constatirung  der  „Thatsache^,  deren  theoretisclier  Ausdruck  der  em- 
pirische Pessimismos  ist,  emstlich  gerecht  zu  werden,  als  auch  "äiesen 
Pessimismus  mit  einem  logisch  entwickelten  metaphysischen  Unterbau 
ond  mit  dem  praktischen  Ausbau  einer  Sittenlehre  zu  versehen  be- 
strebt ist  Von  diesem  Oesichtspunkte  aus  erscheint  Schopenhauer 
gegen  R  v.  Hartmann  gehalten  aJls  der  wol  geistreich  raisonnirende, 
ab«r  mit  geringer  systematischer  Ader  versehene  und  gegen  die  wissen* 
sdutfüichen  Anforderungen  vieUSetch  rücksichtslose  Pessimist  Nicht 
Sdiopenhauer  daher,  sondern  vielmehr  v.  Hartmann  ist  derjenige  Ver- 
treter des  europäischen  Pessimismns,  mit  dem  man  eine  wissenschaft- 
liche Auseinandersetzung  pflegen  kann.  —  AVas  Schopenhauer  zu  sein 
versuchte,  Hartmann  ist  es  unbestreitbai",  nämlich  ein  Vertreter  des 
Diakrokosmi sehen  Pessimismus. 

Es  würde  über  die  (Trenze  der  Aufpfabe  hinausgehen,  wenn  ich 
liie  Metaphysik  v.  Hartuianns,  auf  welclie  sein  Tessimismus  von  ihm 
zurückgeliilirt  ist,  hier  des  Breiteren  entwickeln  und  an  derselben 
philosophische  Kritik  üben  wollte;  ich  kann  aber  nicht  umhin,  in  kurzen 
Strichen  diese  Metaphysik  zu  zeichnen  und  ihren  logischen  Zusammra- 
iiang  mit  dem  von  E.  v.  Hartmann  MinductiV*  gewonnenen  Pessimismus 
zu  prüfen. 

Das  Wesen  der  Welt  ist  das  Unbewusste,  sagt  Hartmann,  dieses 
ist  „das  Eine  ahsolnte  Individuum,  das  Einzelwesen,  welches  Alles 
ist,  wahrend  die  Welt  mit  ihrer  Herrlichkeit  zur  bloßen  Erscheinung 
herabgesetzt  wird,  aber  nicht  zu  einer  subjectiv  gesetzten  Erscheinung, 
wie  bei  Kant,  Fichte  und  Schopenhauer,  sondern  zu  einer  objectiv 

Pttdago^aa.  4.  Jüug.  Heft  X.  39 


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—  Ö86  — 

gei^etzten  Erscheinung  oder,  wie  Hegel  es  ausdrückt,  zur  bloßen 
Erscheinung  ni<-ht  nur  für  uns,  soiuhirn  an  sich"".  Was  uns  als  Stuft 
erscheint,  ist  bloßer  Ausdruck  eines  Gleichgewichtes  entgegengesetzter 
Tbätigkeiten.  Die  Welt  ist  nur  eine  stetige  Reihe  von  Sammen 
eigenthümlich  combinirter  W^illensacte  des  UnbeAvussten,  denn  sie 
ist  nur,  so  lange  sie  stetig  gesetzt  wird;  das  ünbewusste  höre 
auf;  die  Welt  zu  wollen,  and  dieses  Spiel  sich  kreuzender  Thätigkeit. 
des  Unbewossten  h(trt  aiuF  zn  sein.^ 

Was  die  objectiy  gesetzte  Erscheinnngswelt  immer  bieten  mag. 
Alles  ist  Erscheinungsweise  des  Unbewussten.  Dieses  Unbewnssle 
selbst  aber  hat  als  seme  zwei  Attribute  Wille  und  Vorstellung  (das 
Logische,  die  Idee),  „es  sind  dies  nicht  zwei  Schubiltoher  im  Un* 
bewussten,  in  deren  einem  der  yemunftlose  Wille,  in  deren  anderem 
die  kraftlose  Idee  liegt,  sondern  es  sind  zwei  Pole  eines  ]\Iagiieten 
mit  entgegengesetzten  Eigenschaften,  auf  deren  Gegensatz  in  ihrer 
Einheit  die  Welt  ruht.  Es  ist  nicht  ein  Blinder,  der  den  wegweisen- 
den Lahmen  trägt,  sondern  es  ist  ein  einziger  Ganzer  und  Heiler,  der 
freilich  aber  mit  den  Beinen  nicht  sehen  kann  und  auf  den  Augen 
nicht  gehen  kann".  Dieser,  um  meinei-seits  das  Hartmannsche  Bild 
fortzusetzen,  aber  hat  sich  mit  geschlossenen  Augen  vorwärts  bewegt 
(so  hat  es  das  Ünbewusste  wenigstens  bewiesen)  und  ist  dabei  in  einen 
Sumpf  (Weltsetzung)  lüneingerathen,  aus  dem  er  nun  mit  offenen 
Augen  (mit  Hülfe  des  bewussten  Logischen)  sich  wieder  herauszu- 
arbeiten sucht  (Weltremeinung).  Diese  metaphysische  Gonstmction 
des  Unbewussten  wurde  von  Hartmann  zur  Basis  des  Pessunismus 
gemacht  Die  alte,  selbst  in  optimistischen  Zeiten  au%eworfene, 
schwer  zu  lösende  Frage  der  Theodicee  erhielte  durch  das  ünbewusste, 
wenn  man  dasselbe  nur  unbeanstandet  annehmen  kdnnte,  eine  die 
großen  Schwierigkeiten  spidend  Überwindende  Lösung.  E.  y.  Hart- 
mann  sagt:  „Wer  nach  einer  tieferen  Auffassung  über  den  Grund  des 
Übels  strebt,  wird  daher  sich  bei  der  platten  Aufstellung  von  ein  oder 
zwei  8iindenbr)(  ken  (Lucifer  und  Adam)  nicht  beruhigen  können,  son- 
dern nachforschen  müssen,  wie  ein  Scliöpfungsact  dieser  durch  und 
durch  elenden  Welt  bei  der  Allwissenheit  Uottes  möglich  sei.  Da 
ergibt  sich  dann  nur  ein  Ausweg,  dass  die  Thatsache  einer  Welt- 
setzung ein  Act  des  blinden  Willens  gewesen  seL  Dies  ist  deshalb 
möglich,  weil  die  Vorstellung  an  sich  kein  Interesse  am  Sein  hat  und 
nur  durch  die  Erhebung  des  WiUens  aus  dem  Nichtsein  ins  Sein 
gesetzt  werden  kann,  also  weder  vor  noch  während  der  Erhebung  des 
Willens  seiend  ist,  sondern  erst  durch  dieselbe  es  wird.  Gesetzt  also. 


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587  — 


die  Erhebung  des  blinden  Willens  zum  actuellen  Willen  genügte,  um 
das  „Dass"  der  Welt  za  setzen,  so  wäre  hiermit  erklärt,  wie  trotz 
der  Allwissenheit  Gottes  (während  des  Weltprocesses)  doch  der  nn- 
gllddiche  Anfong  eines  solchen  zn  Stande  kommen  konnte.  Non 
entsteht  aber  eine  nene  Frage:  warum  hat  Gk>tt  nicht  den  blind  be- 
imgenen  Fehler,  im  ersten  Moment,  wo  er  sehend  wnrde,  wieder  gut 
genscht  und  seinen  Willen  gegen  sieh  selbst  gekehrt?  So  nnbegrdflich 
und  miTerzeihlich,  wie  der  erste  Anfang  ohne  die  Annahme  einer 
blinden  Action,  so  anbegreiflich  nnd  unverzeihlich  wäre  das  laisser 
aller  dieses  Elends  mit  sehenden  Auf,^en,  wenn  die  Möglichkeit  eines 
annüttelbaren  Aufhebens  offen  stände.  Hier  hilft  uns  wiederum  die 
üntrennbarkeit  der  Vorstellung  vom  Willen  im  Unbewussten,  die  Un- 
freiheit und  Abhängigkeit  der  Idee  vom  Willen,  in  Folge  deren  diese 
wol  sein  ^Was",  sein  Ziel  und  Inhalt,  alx'r  nicht  sein  „Dass"  und 
,.0b"  zu  bestimmen  hat.  Wir  werden  sehen,  dass  der  ganze  Welt- 
process  nur  dem  einen  Zwecke  dient,  die  Vorstellung  vom  Willen  ver- 
mittelst des  ßewusstseins  zu  emancipiren,  um  durch  die  Opposition 
derselben  das  Wollen  zur  Ruhe  zu  bringen."  Dieses  Bewusstsein  aber 
entwickelt  sich  erst  im  Laufe  des  Weltprocesses  in  der  objectiv  ge- 
setzten Erscheinnngswelt;  wäre  ein  solches  schon  zn  An&ng  des  Welt- 
processes  da,  »gibe  es  also  in  Gh>tt  ein  Bewusstsein  im  Sinne  der 
Enumeration  der .  Vocstellnng  vom  WiUen,  so  wftre  das  Dasein  der 
Welt  eine  unentschuldbare  Grausamkeit  nnd  der  Weltprocess  eine 
thörichte  Zweddosigkeit  Diese  Erwftgung  ist  entscheidend  gegen 
die  Annahme  eines  Bewnsstseins  in  Gott.** 

Ich  enthalte  mich  hier  der  Kritik  in  Betrete"  der  Hartmannschen 
Metaphysik;  diese  Darstellung  aber  schon  mag  zeigen,  dass  offenbar 
der  metaphysische  Unterbau  nach  dem  Oberbau  des  empirischen  Pessi- 
misrans  zurecht  geschoben  ist,  dass  also  der  Pessimismus,  welcher  die 
Behauptung  von  der  durch  und  durch  elenden  Welt  vertrat,  das 
Directiv  bei  der  Construction  der  Metaphysik  gewesen  ist.  Die  Meta- 
physik des  Unbewussten  sollte  eben  eine  zureichende  logische  Be- 
gründung der  für  Hartmann  feststehenden  Thatsache  vom  absoluten 
Weltübel  bieten,  und  demgemäß  eine  Theodicee  liefern,  welche,  weniger 
rplatf*  als  die  bisherigen,  das  Welträthsel  löste.  Den  Grund  des  Welt- 
Übels  sieht  Hartmann  in  dem  blinden  Willen  des  Unbewussten, 
welcher  eben  als  yemunftloser  das*  Dasein  gesetzt  habe;  kein  Wunder 
dann,  dass  dieses  Dasein  sich  als  schlechtes  erweisel 

Es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  in  allen  drei  Formen  des  nn- 
bedingten  Pessimismus,  welche  die  Geschichte  zeigt,  der  Wille  znm 

89* 


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—   588  — 

gnmdlcgeudeii  Factor  der  ,,Thatsju:Iie"  des  Elendes  fremacht  wird, 
wälireud  dagegen  im  deutlichen  Unterschied  der  bedingte  Pessimis- 
mus das  ungöttliclie  Endliche  als  Erklärungsgrund  jener  „That- 
sache'*  unterschiebt. 

Gegenüber  Buddhas  mikrokosmischer  Fassung  fWille  des  Indi- 
viduums) aber  hat  Hariniann  den  „Willen",  diesen  angeblichen  Ur- 
quell des  Übels,  wie  es  ja  schon  Schopenhauer  versucht  hatte,  makro- 
kosmisch anl'gefasst,  und  zwar  konnte  ihm  dies  besser  als  Schopen- 
hauer gelingen,  weil  er  nicht  den  subjectiven  idealistischen 
Standpunkt  in  der  Erkenntnistheoiie  einnimmt,  und  daher  die  so 
zweifelhaften  „Objectivationen''  des  Schopenhaaerschen  Willens  ia 
seinem  System  als  zweifellos  objective  Elrscheiniiiigeii  des  all-einen 
Unbewussten  auftreten:  dieser  Umstand  mnss  vor  Allem  in  Ansehung 
der  Sittenlehre  eine  wichtige  Bedeutung  gewinnen. 

Anf  den  Willen  hat  also  auch  Hai'tmann  das  Übel  zurückgeführt, 
er  erklärt:  ^Das  Wollen  hat  seiner  Natur  nach  einen  Überschnss 
Yon  Unlust  zur  Folge.  Das  WoUen,  welches  das  „Dass"  der  Wdt 
setzt,  verdammt  also  die  Welt,  gleichviel  wie  sie  beschaffen  sein  ml^ 
zur  Qual  Znr  Erlösung  von  dieser  ünseligkeit  des  Wollens,  welche 
die  Allweisheit  oder  das  Logisehe  der  unbewussten  Vorstellung  direct 
nicht  herbeifOhren  kann,  weil  es  selbst  unfrei  g^gen  den  Willen  ist, 
schafft  es  die  Emancipation  der  Vorstellung  durch  das  Bewosst- 
sein,  indem  es  in  der  Individuation  den  Willen  so  zersplittert,  das» 
seine  gesonderten  Bichtnngen  sich  gegeneinander  wenden.  Das  Lo- 
gische leitet  den  Weltprocess  anf  das  Weiseste  zu  dem  Ziel  der 
möglichsten  Bewusstseinsentwickelung,  wo  anlangend  das  Bewnsstsein 
genügt,  um  das  gesammte  actuelle  Wollen  in  das  Nichts  zurflcki«- 
8ch]eudem,  womit  der  Process  und  die  Welt  anfhört,  und  zwar 
ohne  irgend  welchen  Best  aufhört,  an  welchem  sich  ein  Process  weiter^ 
spinnen  könnte.** 

Man  wird  aus  diesen  Sätzen  ersehen,  die  metaphysische  Voraus- 
setzung Hartiiianns  sei  wenigstens  eine  derartige,  dass  sie  in  Einklang 
gebracht  werden  kann  mit  der  aus  dem  Pessimismus  sich  ergebenden 
Forderung.  Bei  Schoj)enhauer  ist  das  metaphysische  All-Eine  „Wille** 
als  Giund  des  Übels  ein  Ansich,  von  dem  man  schlechterdings  die 
Möglichkeit,  vernichtet  zu  werden,  nicht  einsehen  kann;  bei  Hartmann 
dagegen  steht  der  das  Übel  hervoi'bringende  Wille  da  als  ein  Attribut 
dos  all-einen  Individuums  ..Unbewusstes-',  welches,  durch  den  Welt- 
process in  den  Individuen  gleichsam  zum  Bewnsstsein  gelangend,  sein 
Wollen  dann  gänzlich  unterdrücken,  d.  L  verneinen  wird.  Das  Un- 


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—  089  — 


be\Mi^>te  ist  liier  eben  als  ein  dem  menschlichen  Icli  analoges  In- 
dividuum gedacht,  welches  gleich  diesem  sich  zum  Niclit wollen 
bringfen  kann,  und  zwar  ia  dem  Sinne,  in  welchem  wir  es  erfahrungs- 
gemäß vom  Ich  wissen,  dass  nämlich  nicht  etwa  »cUe  Potenz  zu 
wollen",  der  „Wille^  als  Attribut  des  Unbewossten,  vernichtet  wird, 
sondern  dass  das  „actnelle  Wollen*"  aufhört. 

Wenn  einmal  das  Unbewusste,  als  das  mit  Wille  und  Vorstellnng 
begatte  absolute  „IhdiTidunm**!  unbeanstandet  als  Grundlage  des 
Pessimismus  angenommen  wird,  so  lässt  sich  ohne  logischen  Wider- 
spruch audi  dar  praktische  Ausgang  des  Pessimismus,  die  Vemichtong 
des  WoOens,  der  Quelle  des  Elends,  auf  jenen  all*einen  Grund  der 
Welt  aufl3auen,  da  in  diesem  alle  logischen  Bedingungen  vorliegen, 
welche  das  Resultat,  die  Vernichtung  des  Wollens,  wenigstens  denkbar 
erscheinen  lassen. 

Denn,  wenn  es  wahr  ist,  dass  das  Wollen,  wie  Hartmann  sagt, 
seiner  Natur  nach  einen  Überschuss  von  Unlust  für  den  Wol- 
lenden zur  Folo:e  hat,  so  wird  auch  das  wollende  Unbewusste,  so 
lange  es  wollend  ist,  d.  h.  zunächst  hier,  so  lange  die  Welt,  diese 
„Summe  von  Willensacten  des  Unbewussten",  da  ist,  einen  Überschuss 
von  Unlust  haben,  also  selbst  elend  sein,  und  daher  streben,  sich  aus 
dem  Elend  zu  erlösen.  Die  Erlösung  nun  kann  natürlich  nur  möglich 
gedacht  werden,  wenn  des  Unbewussten  Wollen  aufhört,  also  zum 
mindesten  die  ganze  Welt  gemordet  ist 

Die  Situation  hat  sich  bei  Hartmann,  wie  man  sieht,  ins  Große 
umgesetzt:  Das  Unbewusste,  AlUEine  ist  selbst  Pessimist  und 
bemUit  sldi  als  solcher  folgerichtig,  die  Quelle  seines  Elends  zu  ver- 
nichten. So  ist  V.  Hartmanns  Standpunkt  in  doppeltem  Sinne 
makrokosmischer  Pessimismus,  einmal,  insofern  der  Grund  seines 
eigenen  empirischen  Pessimismus  im  Makrokosmos,  in  dem  Wollen 
des  Unbewussten,  gefunden  ist,  und  zweitens,  insofern  der  Makro- 
kosmos selbst,  d.  i.  das  Unbewusste,  den  l'berschuss  an  Unlust,  das 
Elend  seines  Zustandes  als  Wollender  erfährt,  also  selber  ein 
Pessimist  ist. 

Eine  eigenthümliche  Entwicklungsbahn  hat  bisher,  Hartmann  mit- 
gerechnet, der  Pessimismus  durchlaufen,  und  man  ist  versucht  zu 
behaupten,  dass  schon  die  ganze  Bahn  seiner  möglichen  P^ntwicklung 
durchlaufen  sei:  vom  bedingten  mikrokosmischen  Pessimismus  der  Brah- 
mahnen  durch  den  unbedingten  mikrokosmischen  Buddhas  und  den 
Schopenhauerschen  makrokosmischeu  des  menschlichen  Individuums 
hindurch  zum  Hartmannschen  makrokosmischen  Pessimismus  des  Ab- 


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sohlten;  Hartmaniis  Lehre  speciell  scheint  dann  wol  die  eigeiithümliche 
Entwicklung^  (lurchpfeniacht  zu  haben,  dass  aus  dem  unbedingten  makin- 
kosniischen  Pcssimi.Miius  des  Icli,  welches  eben  sein  Elend  auf  den 
Makrukosniüs  gründet,  aber  im  Mikrokosmos,  also  doch  allein  in  sich, 
vorfindet,  ein  makrokosmischer  Pessimismus  des  Absoluten  heraustrat, 
nnd  nunmehr  auch  das  Elend  und  die  Unlust  in  den  Makrokosmos, 
d.  i.  in  das  Absolute  selbst  hinein  verlegt  ward.  So  lange  etwa 
dem  Hartmannschen  empirischen  Pessimismus  die  metaphysische  Gnmd- 
läge  fehlte,  war  er  natürlich  mikrokosmischer  Pessimismus,  welcher 
dann  durch  jene  Grundlage  zunächst  zum  unbedingten  makrokosmischen 
des  Ich  wurde,  um,  wenn  das  individuelle  Wollen  ins  Wollen  de» 
Unbewussten  metaphysisch  sich  aufhebt,  schließlich  als  nuüurokoa- 
mischer  Pessimismus  des  Absoluten  dazustehen. 

Vielleicht  ist  aber  doch  noch  eine  andere  Form  des  Pessimismus, 
nfimlich  der  mikrokosmisclie  Pessimismus  des  Absoluten  ttbrig, 
welches  also  den  Grund  fOr  die  Thatsache  seines  Elendes  nicht  im 
eigenen  Wollen,  sondern  im  Wollen  des  Ifikrokoemosi  des  Menschen» 
findet;  es  wflrde  dann  das  wollende  Absolute  „gehemmt"  gedacht  durch 
das  Wollen  des  menschlichen  Individuums;  solche  Form  eines  Pessi- 
mismus des  Absoluten  sehen  wir  wol^  in  der  Geschichte  des  Juden- 
thums und  Christenthums  auftreten. 

Als  Pessimist  will  nun  das  ünbewusste  nicht  etwa  seine  Ezistens 
überhaupt  yemeinen,  im  Gegenthefl  seine  positive  «Sdlgkeit'*,  welche 
es  durch  das  unselige  Wollen,  d.  L  die  Schafftmg  der  Welt  verloren 
hat,  wiedergewinnen 'eben  durch  die  Yenuchtung  dieser  Welt;  sobald 
diese,  d.  h.  mit  anderen  Worten  sein  Wollen,  nicht  mehr  ist,  hat 
das  ünbewusste  eben  seinen  Willen  befriedigt*',  und  ist  dann  in 
sein  ruhiges  ungestörtes  Sein  eingegangen. 

Wie  sich  die  älteste  und  die  jüngste  Form  des  Pessimismus  wieder 
nähern,  dies  ist  deutlich  zu  erkennen  an  der  Positivität  des  Ziels,  das 
beide  noch  aufstellen  hinter  dem  pessimistisch-negativen  der  Vernich- 
tung der  Leidquelle.  Der  brahmanische  Pessimismus  kannte  den 
,.Selbstmord"  nnr  im  relativen  Sinne  als  Vernichtung  des  Sinnliclien, 
des  Körpers,  zur  HelVi  iung  des  Brahman,  welches  in  dem  Körjter  sich 
befand.  Die  beiden  Vertreter  des  unbedingten  Pessimismus,  Buddha 
und  Schopenhauer,  dagegen  erstrebten  Vernichtung  des  Ganzen 
und  dazu  gar  nichts  Positives:  jener,  als  mikrokosmischer  Pessimist, 
wollte  die  radicale  Vernichtung  des  Individuums,  also  absoluten 
Selbstmord,  dieser,  .soweit  er  makrokosmischer  Pessimist  war.  Ver- 
nichtung des  ^All-Willens",  also  absoluten  Weltmord,  Vendchtong 


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—  691  — 


alles  Seins.  E.  v.  Hartiiiami  aber  wiederum  proclamirt  nur  den  rela- 
tiven Weltmord,  d.  i.  die  Veruiclituno:  der  „Objectivation"  des 
Unbe^vnssten,  d.  i.  nur  Aulhüreu  seines  Wollens,  \  erniclitung  gleich- 
sam des  „Körpers"*  des  Unbe\^'^lssten.  So  kennt  also  auch  wieder 
der  jüngste  der  Pessimisten  neben  dem  pessimistiscli-negativen  Zweck 
einen  positiven,  nämlich  die  Erlösung,  die  Befreiung  des  absoluten 
Individuums  zum  inihigen  positiven  Sein. 

Durch  Zugrundelegung  des  mit  Logischem,  d.  i.  mit  Veraunft 
ausgestatteten  ünbewussten  hat  v.  Hartmann  nun  die  Welt  in  ihrem 
..Was"  teleologisch  aufzufassen  vermocht  Die  Welt  in  ihi-em 
„Was"  hat  der  Pessimist  „Unbewusstcs"  zu  dem  Zwecke  geschaffen, 
um  aidi  wieder  ans  der  unseligea  Verfassung  des  Wollms  heranszu- 
bringen;  der  ganze  Weltprooess  hat  daher  zum  eüudgen  Ziel  die 
„Welterlösang",  me  t.  Hartmann  kurz  sagt,  oder,  denflicher  aus- 
gedrückt, die  Erl^snng  des  Unbewnssten  yon  der  Welt,  die 
Yermchtong  dieser  Welt.  Um  solchen  Zweck  za  erreicheii,  mnsste 
aber  das  Unbewnsste  so,  wie  es  nnn  einmal  beschaffen  ist,  gleichsam 
einen  Umweg  machen  Ober  das  Bewnsstsem;  die  Allweisheit  nSmlich 
des  Unbewnssten  ist  nach  Hartmann  an  sich  selbst  „unfrei  gegen  den 
Wülen^,  und  allein  die  „bewnsste  Erkenntnis*'  yermag  sich  vom  „Welt- 
wülen**  zu  onandphren  und  „den  negativen  Willen  zn  erregen";  daher 
heätat  der  yom  Unbewnssten  znr  Vernichtung  seines  eigenen  Welt- 
willens erstrebte  Oppositionswille  eben  des  Bewnsstseins,  das 
TOr  Allem  im  Menschen  erscheint.'^) 

Gegenüber  dem  oben  erwähnten,  in  religi()sem  Gewände  nicht 
seltenen,  mikrokosmischen  Pessimismus  des  Absoluten  (Sclimerz 
Gottes  über  die  wollenden  Menschen)  hat  der  makrokosmische 
Pessimismus  des  Unbewnssten  (Absoluten)  in  Ansehung  der  wissen- 
schaftlichen Constructi(m  der  praktischen  Philosophie  einen  Vorzug, 
nämlich  denjenigen,  dass  hier  der  Individualwille  niemals  als  in  Wider- 
spruch mit  dem  Absoluten  stehend  gedacht  werden  kann.  Das  Kreuz 
metaphysischer  Si)eculation,  das  Problem  vom  Verhältnis  des  ineiisch- 
lichen  zum  göttlichen  Willen,  ist  für  v.  Hartmann  gar  nicht  vor- 
handen :  ihm  leistet  eben  das  Unbewusste  das  Unglaubliche.  Das 
menschliche  Wollen  nämlich,  in  welchem  der  Wille  zum  Leben,  der 
„Weltwüle",  b€|jaht  wird,  ist  natürlich  nichts  anderes,  als  eine  Er- 

*)  Audi  die  principielle  psychologische  Fnge^  wie  es  sieh  widenfniehidee 
Teimen  la«e,  daas  du  ,Jiegiielie"  des  Uii1»ewiifl8teii  „uifrei'',  das  des  Bewneeten  in- 
deiHB  „ftei  gegen  den  Willen",  emand^  Ton  ihm,  lei,  mnse  hier  bei-  Sdte  ge- 
stellt weiden. 


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scheimmg  des  Allwillen.s,  steht  also  mit  diesem  in  keinem  Widerspruch, 
selbst  wenn  es  entj2:egen  dem  Zweck  des  ünbewiissten,  sich  von  der 
Welt  zu  erlösen,  sich  bethätigt:  der  Wille  des  Unbewussten  als 
solcher  dient  diesem  Zwecke  ja  auch  selber  nicht.  Ebenso  aber  steht 
selbst  dann  der  menschliche  Wille  nicht  in  Widerspruch  mit  dein 
Absoluten,  wenn  er  als  Oppositions^\ille  gegen  den  ^  Welt  willen** 
auftritt,  da  er  ja  dann  gerade  mit  dem  Zwecke  stimmt,  welchen  das 
ünbewusste  durch  den  Weltprocess  ftn-  sich  zu  erreichen  plant. 

Während  bei  v.  Hartmann  auf  diese  Weise  das  Absolute  in  seinem 
Wesen  durch  den  IndividualwiUen  in  keiner  Weise  geschmlUert  wird, 
da  dieser,  wie  er  auch  immer  auftreten  mag,  sich  stets  dem  Unbe- 
wnsstoi,  sei  es  nun  speciell  dessen  „Weltwillen**  oder  dessen  „Zwecke'S 
dienstbar  erweist,  also  stets  mit  ihm  flbereinstimmt  nnd  sich  als  Er^ 
scheinnngsweise  des  Unbewnssten  stets  erweist,  zeigt  sich  anderseits 
gegenüber  Sehopenhaner  noch  der  andere  Vorzog,  dass  di^  Welt  mit 
ihren  IndiWduen  von  v.  Hartmann  volle  Objectivitftt  zugesprochen 
erhält,  ein  Umstand,  welcher  begreiflicherweise  filr  die  praktische  Philo- 
sophie von  hohei-  Bedeutung  ist,  weil  eine  Sittenlehre  unbedingt  die 
Objectivität  des  Individuums,  die  Realität  der  Persönlichkeit,  im 
Weltprocess  zu  Grunde  legen  muss.  So  ist  der  Mensch  einerseits  als 
diese  „Summe  von  Willensacten"  eine  Erscheinung  des  Unbe- 
wussten,  anderseits  aber  als  bewusster  ist  er  Persönlichkeit. 

Was  das  Ünbewusste  im  Großen,  das  ist  der  Mensch,  als  die 
individuelle  Erscheinung  des  ünbewussten,  im  Kleinen:  nämlich  Pes- 
simist; demnach  sieht  dieser  auch  seinen  Lebenszweck  zosammenÜsUen 
mit  dem  Zweck  des  Unbewnssten,  dessen  Erscheinung  er  ja  nur  ist 

„Die  Zwecke  des  Ünbewussten  zu  Zwecken  seines  Bewnsstseins 
madien,  seine  Persönlichkeit  voll  hingeben  an  den  Weltprocess  um 
des  Zieles,  der  allgemeinen  WelterlGsung  willen,^  das  ist  nach  Hart- 
mann das  Princip  der  praktischen  Philosophie;  „nur  in  der  vollen 
Hingabe  an  das  Leben  und  seine  Schmerzen,  nicht  in  feiger,  i)er- 
sönlicher  Kutsagung  uud  ZuiUckziehung  ist  etwas  füi-  den  Weltprocess 
zu  leisten." 

„Kine  auf  diesen  Principien  errichtete  praktische  Philosophie 
kann  nicht  die  Entzweiung,  sondern  nur  die  volle  Versöhnunsr  mit 
dem  Leben  enthalten.  Es  ist  jetzt  auch  ersichtlich,  wie  nur  die  hier 
entwickelte  Einheit  von  Optimismus  und  Pessimismus,  von  der  jeder 
Mensch  ein  unklares  Abbild  als  Bichtschnur  seines  Handelns  in  sich 
trägt,  im  Stande  ist,  einen  energischen  und  zwar  den  denkbarst 
stärksten  Lnpnls  zum  thätigen  Handeln  zn  geben,  während  der  ein- 


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seilige  Pessimismus  aus  niliüistisclier  Verzweiflung,  der  einseitige  und 
wirklich  couseiiueute  Optimismus  aus  behaglicher  Sorglosigkeit  zum 
Quietismus  führen  muss." 

Dies  Princii»  der  praktisclien  Pliilosophie  des  Menschen,  die 
Zwecke  des  Unbewussten  zu  Zwecken  des  eigenen  Bewusstseins  zu 
machen,  er<ribt  sich  fiir  Hartmann  unmittelbar  aus  den  beiden  Prä- 
missen, ,.dass  erstens  das  Bewusstsein  das  Ziel  der  Welterldsung  vom 
Elend  des  WoUens  zu  seinem  Ziel  gemacht  hat,  und  dass  es  zweitens 
die  Überzengimg  von  der  Allweisheit  des  Unbe^^'ussten  hat,  in  Folge 
deren  es  alle  Tom  Unbewussten  anfj^eirendeten  Mittel  als  die  möglichst 
zweckmäßigen  anerkennt,  selbst  wenn  es  im  einzelnen  Falle  geneigt 
sein  sollte,  hieran  Zweifel  zu  hegen.** 

Der  Lebenszweck  des  Menschen  wird  demnaeb  Ton  Hartmann 
bestimmt  werden  müssen  als  das  Tkätigsein  fttr  die  Bealisirnng 
des  Zweckes,  welchen  das  Unbewnsste  in  dem  Weltprocess 
verfolgt;  und  ans  der  Theorie  von  diesem  Lebenszwecke  heraus 
mnss  nun  auch  die  Sittenlehre  Hartmanns  8i<;h  entwickeln.  Wird  aber 
dann  noch  zugegeben  werden  können,  nnd,  wenn  Ja,  wie  stellt  es  sich 
denn  heraus,  dass  sich  Hartmanns  Sittenlehre  auf  den  Pessimismus 
gründe?  Diese  Frage  bedarf  der  Überlegung. 

Es  ist  ersichtlich,  dass  in  Hartmanns  System  sich  zwei  Arten 
von  Pessimismus  Torflnden,  ein  Pessimismus  des  bewussten  Indivi- 
duums und  einer  des  unbewussten  J]ld^Tiduums^  d«L  desünbewussten; 
jenen  könnte  man  auch  den  empirischen,  diesen  den  metaphysischen 
Pessimismus  Hartmanns  nennen.  Wenn  Haitmann  nun  vom  Pessi- 
mismus spricht,  so  geschieht  es  immer  nui-  in  der  ^^'eise,  dass  der 
empirische,  also  der  des  bewussten  Indivitluums  gemeint  ist,  und  wo 
immer  Hartmann  Stützen  für  seine  pessimistische  Anschauung  bei- 
bringt, da  sind  es  stets  empirische  Belege  für  den  Pessimismus  des 
Menschen.  Aus  diesem  Pessimismus  aber  kann  er  doch  jene  Theorie 
vom  Lebenszweck  des  Menschen  selbstverständlich  nicht  gewcmnen 
haben,  und  in  Folge  dessen  kann  ^leichfalis  nicht  aus  demselbt  u  die 
jenem  Lebenszweck  entsprecliemle  Sittenlehre  hervorgegangen  sein. 

Man  wird  allerdings  zugeben  müssen,  dass  der  empirische  Pes- 
simismus für  Hartmann  eine  negative  Instanz  von  unbestreitbarem 
Wert  bei  Auffindung  des  von  ihm  aufgestellten  Lebenszweckes  des 
Menschen  gewesen  sei;  dass  aber  die  positive  Grundlage  desselben 
in  der  Lehre  vom  Unbewussten  und  im  metaphysischen  Pessimismus 
Hartmanns  zu  suchen  sei,  wird  auch  nicht  geleugnet  werden  dürfen. 
Den  Selbstmord,  die  verständige  praktische  Consequenz  des  empirischen 


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Pessimismus,  hätte  Hartmann  nicht  vermeiden  k<»nnen,  wenn  ihm  dieser 
die  Grundlage  seiner  praktischen  Lebensauffassung  gewesen  wäre;  die 
wirkliclie  Grundlage  derselben  aber  war  eben  die  monistische 
Lehre  vom  Unbcwussten,  zufolge  welcher  der  Mensch  nur  eine 
Erscheinung  des  Uubewussten  ist  und  denniacli  niclit  irgendwie  Selbst- 
zweck sein  kann,  sondern  seinen  Zweck  im  Zweck  des  Unbewussten, 
insofern  dieses  eben  in  ihm  zur  Erscheinung  gekommen  ist,  haben 
muss.  Die  näliere  Bestinimnng  des  maischlichen  Lebenszweckes  richtet 
sich  daher  nach  der  näheren  Bestimnumg  deerjenigen  Zweckes,  welchen 
das  ünbewusste  in  seinen  Erscheinmigen,  im  Weltprocess,  Terfolgt. 
Diese  nähere  Bestimmong  des  Zweckes  aber  wird  gegeben  dnrch  den 
metaphysischen  Pessimismns,  ans  welchem  nothwendig  hervorgeht, 
dass  das  Unbewnsste  durch  sein  eigenes  pessimistisches  Bewnsstsein 
zur  Vernichtung  seines  WoUens,  d.  i.  zunächst  znr  Yemichtung  der 
Welt,  welche  das  Unhewusste  ja  audi  in  sdnen  Elendznstand  yersetzt, 
angetrieben  wiid,  und  eben  diesem  Antriebe  thut  dasselbe  in  seinen 
zweckmäßigen  Erscheinungen  Genüge. 

Daraus  geht  hervor,  dass  Hartmanns  Sittenlehre,  welche  nun 
den  \\'eg  zur  Hingabe  der  Persönlichkeit  an  den  Weltprocess  zeigen 
soll,  nicht  aus  dem  empirischen  Pessimismus  des  bewussten 
Individuums  hervorgegangen  ist,  dass  sie  also  auch  in  diesem  Sinne 
nicht  eine  pessimistische  Sittenlehre  genannt  werden  darf.  In- 
sofern beiiihrt  sie  sich  also  auch  wieder  mit  der  brahmanischen  Sitten- 
lehre, welche  ja  ebenfalls  den  empirischen  Pessimismus  der  brahmani- 
schen Inder  nicht  als  bestimmenden  Factor  gehabt  hat  Immerhin 
unterscheidet  Hartmann  sich  yon  dem  Brahmanismus  in  eben  diesem 
Funkte,  da  er  doch  den  empirischen  Pessimismus  als  nothwendige 
negative  Instanz  für  Verfolgung  des  positiven  Lebenszweckes 
seitens  des  Menschen  hereinnimmt  Der  Pessimismus  besitzt  ihm 
daher  einen  festen  Wert  fttr  das  sittliche  Leben  des  Menschen, 
während  der  Brahmanismus  denselben  nur  als  die  nothwendige  Folge 
des  von  Brahman  abgekehrten  Daseins  hinnehmen  kann. 

Der  als  wahr  erkannte  und  vom  Menschen  selbst  erfahrene  Pessi- 
mismus, sagt  Hartmann,  dient  in  iiervorragender  Weise  dazu,  das 
menscliliche  Individuum  praktisch  in  die  Wahrheit  einzutlüiren,  dass 
sein  Lebenszweck  nicht  seine  individuelle  Existenz  und  deren  Wohl- 
behagen sein  könne,  sondern  dass  dieser  im  Zweck  des  ganzen  Welt- 
processes,  im  Weltzweck  des  Unbewussten  liegen  müsse,  und  je  tiefer 
die  Einsicht  in  die  Wahrheit  des  Pessimismus  gewonnen  sei,  desto 
leichter  eben  erschließe  sich  der  Mensch  seinem  eigentlichen  Lebens- 


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ZM^ecke.  „Da  die  Selbstsuclit,  der  Urquell  alles  Bösen,  welclie  theo- 
retisch bereits  durch  Anerkennuu;?  des  Monismus*'  (dass  näinlicli  der 
Einzelne  bloße  Erscheinung  des  AU-Einen  sei)  „als  nichtip:  constatirt 
ist,  praktisch  durch  nichts  anderes  w'irksamer  gebrochen  werden  kann, 
als  durch  die  Erkenntnis  von  der  illusorischen  Beschaffenheit  alles 
Strebens  nach  positiver  Glückseligkeit,  so  ist  die  geforderte  völlige 
Hingabe  der  Persönlichkeit  an  das  Ganze  auf  diesem  Standpunkt 
leichter  möglich.-'  „Wer  die  überwiegende  Unlust,  die  jedes  Indi- 
viduum mit  oder  olme  Wissen  im  Leben  erdulden  muss,  einmal  ver- 
standen hat,  wird  bald  den  Standpunkt  des  sich  selbsterhalten-  und 
genießenwolleaden,  mit  einem  Worte  des  seine  Existenz  bejahenden 
Ich  verachten  und  verschmähen." 

Es  ist  hieraus  endchtUch,  dass  bei  Hartmann  der  empirische 
Pessimismns,  wenn  aach  keineswegs  fttr  die  Fizirnng  des  Lebens- 
zweckes und  die  positive  Bestimmung  der  Sittenlehre,  so  doch  f&r 
die  praktische  Verfolgung  jenes  Zweckes  und  die  praktische  Be- 
folgung dieser  Lehre  von  hoher  Wichtigkeit  ist,  und  dass  er  nicht 
etwa  als  eine  rein  theoretische  unfruchtbare  Behauptung 
dasteht. 

Die  Sittenlehre  Hartmanns  entwickelt  sich  aus  dem 
Dogma  von  dem,  im  Zustande  der  Unseligkeit  sich  befin- 
denden, wollenden  Unbewussten,  dessen  Weltprocess  die  scfaliefi- 
liche  Verneinung  dieses  seines  Wollens  bezweckt;  diese  Sittenlehre 

ist  also  aus  dem  metaphysischen  Pessimismns  des  Unbe- 
wussten geboren.  Infolge  dessen  mag  sie  immerhin  auch  eine 
pessimistische  genannt  werden,  da  sie  ja  aut  die  Veruiclitung 
der  Welt,  also  auf  Weltmord  abzielt;  als  eine  optimistische  aber 
könnte  sie  gleichfalls  bezeichnet  werden,  weil  sie  nicht  weniger  abzielt 
auf  die  Restituirung  jenes  „ruhigen,  wnnschlosen  Seins  des  Unbewussten, 
in  dem  dieses  sich  befand  vor  seinem  „actuellen  Wollen*'.  \\'enn  dalier 
das  Ziel  auch  des  menschlichen,  sittlichen  Streluns  Welterlösung 
heißt  oder  interpretirt  wird  als  Verneinung  des  Weltwillens,  so 
ist  darunter  doch,  um  dem  Missverständnis  vorzubeugen,  genauer  zu 
vei'stehen  die  Erlösung  des  ewig  Unbewussten  von  der  Welt, 
von  seinem  Wollen,  und  nicht  etwa  die  absolute  Vernichtung  des 
Seienden;  denn  das  All-Eine  ist  ewig,  und  nur  sein  ,.actuelles  Wollen", 
wie  es  einen  Anfang  hatte,  soll  durch  den  im  sittlichen  Streben  des 
Menschen  sich  bewusst  entfaltenden  Weltprocess  ein  Ende  finden. 

Der  allgemeine  Sittengmndsatz  dieser  auf  den  metaphysischen 
Pessimismus  des  Unbewussten  anfgebauten  Sittenlehre  heißt  für  den 


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Menschen:  als  Erscheinung  des  Unbewiissten  mit  Bewusstsein  in  dem 
Zwecke  des  Unbewussten  thätig  sein;  dieser  (Triindsatz  aber  hat.  in- 
sofern der  Mensch  als  Ersclieinung  des  UnbeNvussten  doch  Persun- 
lichkeit  ist,  eine  ne<rative  und  eine  positive  Seite,  letztere  lieiüt: 
völlige  Hingabe  der  Persönlichkeit  an  den  Weltprocess.  und 
mit  ihr  ist  auch  die  negative  gegeben,  welche  lautet:  völliges 
Aufgeben  aller  persöuliclien,  individuellen  Zwecke:  und  dieses 
wird  im  Mensclien  dann  eben  nocli  besonders  unterstützt  und  empfohleu 
durch  den  empirischen  Pessimismus  des  bewussteu  Individuums. 

In  die  Bezeichnung  des  sittlichen  Princips  als  der  voUen  Hingabe 
der  Persönlichkeit  an  den  Weltprocess  konunt  aber  erst  die  bestimmte 
Uartmannsche  Färbung  hinein,  wenn  man  sich  des  von  Hartoiann 
vertretenen  Pessimismus  des  Unbewussten  bewusst  wird;  durch 
diesen  erst  erhält  ja  der  Weltprocess»  dem  der  Mensch  sich  hingeben 
soll,  seine  nähere  Bestimmung,  und  ans  demselben  mnss  nun  auch  die 
bestimmtmDirection  für  dasHandebi  des  Menschen  gewonnen  werden. 
Indem  der  Weltprocess  von  v.  Hartmaim  gedacht  wird  als  ein  £r- 
Utenngsprocess  des  Unbewussten  ans  seinem  Elend»  mttssen  aoch  die 
näheren  Bestimmnngen  der  Sittenlehre  den  Charakter  dieses  Erldsongs- 
processes  selbst  an  sich  aufweisen  und  sich  legitinnren  als  solche,  in 
denen  der  Mensch  am  ErlOsnngswerke  des  Unbewussten  zuver- 
sichtlich thätig  sein  kOnne. 

Man  möchte  nun  vielleicht  meinen»  dass  alle  diejenigen  Sätze  als 
sittliche  im  Sinne  des  metaphysischen  Pesshnismus  passiren  würden» 
welche  eine  Wülensvemeinung  vom  Menschen  fordern,  da  ja  nadi 
Hartmann  der  Weltprocess  auf  die  Vernichtung  des  WoUens  hinzielt 
Dem  gegenüber  jedoch  erhebt  sich  abweisend  der  Umstand,  dass  noch 
nicht  ohne  Weiteres  mit  der  Vemeinnng  des  Individualwillens  der 
AUwille  auch  nur  irgendwie  ,,aus  seinem  Wollen  ins  Nichts  ijfeschleu- 
dert  wird**,  denn  sonst  würde  auch  der  Quietismus  einen  sittliclien 
Charakter  haben,  und  Hartmann  hätte  diesen  nicht  als  eine  ,.Tod- 
sünde"  brandmarken  dürfen.  Die  quietistische  Willeusverneinung 
des  Indi\iduums  könnte  nur  ein  ein  zig- es  Mal  einen  sittlichen  Sinn 
haben,  nämlicli  in  jenem  von  Hartmann  als  möglich  angedeuteten 
Schlussact  der  ^^'elt,  wenn  die  Erdbevrdkeruug  in  ..gleichzeitigem  und 
g-emeinsamem  Kntschluss*'  ein  jeder  seinen  Individuahvillen  zum  Leben 
verueintf  und  dadurch  dann  das  Weitende  herbeigrefülirt  würde. 

Abgesehen  von  die.sem  Schlussacte  der  Welt  wird  aber  diejenige 
Willensverneinung  nur  eine  im  Hartmannsclu*n  Sinne  sittliche  sein 
können,  welche  zugleich  eine  Willensbejahung  ist,  das  will  heilten: 


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—  697  — 


nui*  tliejeiiige  Forderung  kann  Hartmann  sittlich  neuneu,  welche  den 
auf  persönliche  Zwecke  gehen<len  Willen  verwirft  und  zugleich 
damit  den  auf  deu  allgemeinen  Zw- eck  des  Weltprocesses  zielenden 
Willen  des  Individuums  verlangt;  denn  nicht  das  Individuelles- Wollen, 
sondern  das  All- Wollen  stellt  das  Individuum  in  die  Reihe  derer, 
welche  das  Erlösnngswerk  fördern;  und  nicht  die  Vernichtung 
des  Wollens  des  Individuums,  sondern  diejenige  deis  Wollens 
des  All-£inen  ist  die  Erlösung.  Selbstverleugnung  ist  allerdings 
die  negftliye  Forderung,  und  diese  bedeutet,  dass  das  Individuum  in 
seinem  Wollen  das  eigene  Selbst  nicht  ins  Auge  fasse,  also  verleugne, 
weshalb  schon  ans  diesem  Ginnde  der  Selbstmord  nnsittlieh  ist,  weil 
er  sieh  als  das  Gegentheil  der  Selbstverlengnung  zeigt;  diese  wird 
um  des  Ganzen  willen  das  Leben  vielmehr  bewahren:  rastloses 
Schaffen  und  Theilnahme  an  dem  Allzweck  ist  eben  die  positive  sitt- 
liehe  Forderung  der  Hartmannschen  Lehre.  Denmach  mnss  sich  auch 
jeder  Satz  der  Hartmi^nnschen  Sittodehre  auf  den  grossen  Zweck  der 
Welt  und  den  SelbsterlOsungsplan  des  Unbewussten  beziehen,  dieser 
•  Plan  und  Zweck  mnss  sich  deutlich  in  jedem  Satze  spiegeln. 

In  dem  aus  seinem  metaphysischen  Pessimismus  hervorgegangenen 
Erlösungsplan  des  Absoluten  ist  ein  sicheres  Kriterium  alles  sittlichen 
Handelns  nach  Hartmannscher  Anflkssuug  gegeben,  und  ich  will  mich 
desselben  bedienen,  um  die  Sittenlehre  Hartmanns  selbst  daran  zu 
prüfen. 

Das  Schopeiihauersche  Kriterium  der  „Sittliclikeit",  die  Uueigeu- 
nützigkeit,  könnte  für  den  Hartmannschen  Standpunkt  nur  dann  ge- 
nügren,  wenn  auch  auf  diesem  das  ganze  Schwergewicht  in  die  Selbst- 
vcrleugnunjr  gelegt  und  das  tliätige  Sichliing:eVien  an  den  Weltprocess 
nur  eine  zufiillige  Beigabe  sein  würde.  Da  dies  nun  aber  nicht  der 
Fall  ist,  sondern  gerade  Hai'tmann  den  „positiven  Standpunkt",  die 
thätige,  bewusste  Verffd^rung  des  Weltzweckes,  welche  ihrerseits  aller- 
dings die  Selbstverleugnung  in  sich  schließt,  gar  stark  betont,  so  ist 
es  angezeigt,  auch  diesen  seinen  eigenen  positiven  Standpunkt  zur 
Beuitheihmg  seiner  Sittenlehre  zu  wählen. 

Unter  einer  Voraussetzung  ließe  sich  allerdings  auch  schon  das 
Schopeuhauersche  Kriterium  der  Uneifrennützigkeit  hier  vollgültig  ver- 
wenden, wenn  nämlich  klar  auf  der  Hand  läge,  dass  „eigennützige** 
und  „dem  pessimistischen  W' eltzweck  dienende"  Handlung  contradic- 
torische  Begriffe  wären,  so  dass  also  einzig  und  allein  alle  uneigen- 
nützigen Handlungen  für  solche,  welche  dem  pessimistischen  Weltzweck 
dienen,  erklärt  werden  dürften.  £s  liegt  freilich  nahe,  ein  solches 

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—  598  — 


Verhältnis  zwischen  jenen  BegriÖ'en  anzunehmen,  besonders  da  doch 
eigennätzig  und  uneigennützig  contradictorische  Begrüfe  sind  und  jede 
dem  pessimistischen  Weltzweck  dienende  Handlung  offenbar  nneigen* 
nützig  sein  mnss.  Doch  es  steht  ja  eben  noch  in  Frage,  wie  weit 
fiartmamis  Sittealehre  seinem  »positiven  Standpunkt**  von  der  Hin- 
gabe der  Perssnlichkät  an  den  Weltprocess  entspricht,  und  es  wäre 
nicht  thnnüch,  von  yomeherein  anzunehmen,  dass  dieses  Entsprechen 
schon  eo  ipso  dann  nachgewiesen  wftre,  wenn  die  Sätze  der  Sittenlehre 
sich  als  Forderangen  der  üneigennützigkeit  heranssteUten. 

Wenn  eine  Sittenlehre  von  denjenigen,  welche  von  Vertrat^ 
des  Pessimismus  überliefert  worden  sind,  den  Namen  der  pessimi- 
stischen voll  und  ganz  verdient,  so  ist  es  diejenige  Haitmanns; 
im  Vergleich  zu  ihr  führt  selbst  die  Sittenlehre  Buddhas  noch  viel 
nicht-pessimistische  Oontrebande  mit  sich,  von  den  consequenzlosen 
Maximen  Schopenhauers  gar  nicht  zu  reden. 

Hartmaiins  Sittenlehre  erliebt  sich,  wie  aus  einem  Guss. 
voll  und  ganz  aus  dem  metaphysischen  Pessimismus  des  Ab- 
soluten, oder,  wie  Hartmann  in  seinen  ethischen  Untersuchungen  * 
gerne  sagt,  Gottes.  Ich  will  in  Küi-ze  eine  möglichst  getreue  Ent- 
wicklung dieser  Sittenlehre  an  der  Hand  von  Hartmanns  ..Philosophie 
des  Unbewossten"  nnd  seiner  „Phftnomenologie  des  sittlichen  Bewnsst- 
seins**  geben. 

Gk>tt,  dessen  Attribute  Wille  nnd  Vernunft  (Logisches,  Vor- 
stellung) sind,  hat  sich  als  traoscendentes  Wes^  schon  vor  dem 
Weltprocess  im  Zustand  der  ünseligkeit  befhnden;  denn  der  Welt» 
process  ist  die  Erscheinung  des  erfttllten  Wollens;  der  Zeit  nach 
vor  diesem  zeigte  in  Gh)tt  der  Wille,  insofern  er  eben  damals  noch 
keinen  Inhalt  hatte,  also  vorstellungslos,  blind  war,  das  Streben, 
,,aus  der  Leerheit  der  reiiieu,  uucli  nicht  seienden  Form  herauszu- 
kommen''; dies  bleibt  aber  so  lange  leeres  Wollen,  welches  ver- 
gebens nach  seiner  Verwirklichung  ringt',  als  nicht  das  Logische, 
die  Vorstellung,  hinzukommt  ;  geschieht  dieses  aber,  so  ist  dann  auch 
sofort  des  „Willens"  Verwü'klichung,  die  Welt,  da.  Vor  dem  Welt- 
process befindet  sich  demnach  Gott  allein  im  Zustande  des  leeren  un- 
eifüllten  Wollens,  welches  „ein  ewiges  Schmachten  ist  nach  einer 
•Erfüllung,  die  ihm  nur  durch  die  Vorstellung  gegeben  werden  kann**, 
d.  h.  also  Gott  ist  sich  in  solchem  Zustande  „bewnsst  der  absoluta 
ünseligkeit,  der  Qual  ohne  Lust,  selbst  ohne  Pause**.  „Dieses  Be- 
wusstsein  ist  das  einzige  außorweltliche  Bewnsstsein;  sein  einzige 
Inhalt  ist  wolgemerkt  die  absolute  Unlust**  Aber  auch  während 


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—   599  — 


deis  \Velti»rot:esses,  welcher  eben  erfülltes  Wollen  ist,  also  ,.neben 
dem  ertullten  Welt  wollen,  kommt  es  in  Gott  noch  immer  zu  einer 
außer  weltlichen  Unseligkeit.  Denn  der  Wille  ist  potentiell  unend- 
lich, und  in  demselben  Sinne  ist  seine  Initiative,  das  leere  Wollen, 
unendlich;  die  Idee  (das  Logische)  aber  ist  endlich  ihrem  Begi'iffe 
nach,  so  dass  auch  nur  ein  endlicher  Theil  des  leeren  Wollens  von 
ibr  erfällt  werden  kann."  ,.Der  Wille  ist  unersättlich,  der  Potenz 
nach  unendlich,  nnd  doch  kann  seine  Erfollnng  niemals  unendlich 
sein,  weü  eine  erfiillte  oder  vollendete  Unendlichkeit  der  realisirte 
Widersprach  wäre.  Eigentlich  ist  es  also  ganz  gleichgültig,  ob  das- 
jenige Stflck  des  leeren  Wollens,  welches  an  der  Vorstellung  eine  Er- 
füllung gefunden  hat,  groß  oder  klein  ist,  d.  h.  ob  die  Welt  grofi 
oder  klein  (im  intenslTeu  Sinne)  ist»  denn  das  edUlte  WoUen  ^wird 
sich  zum  leeren  Wollen  stets  verhalten,  'wie  etwas  Endliches  zu  einem 
Unendlichen,  vas  dann  mOglich  ist,  weQ  es  sieh  zu  ihm  wie  Actus 
zur  Potenz  verhAlt  Da  mithin  das  leere  WoUen  unendlich  ist  und 
bleibt,  so  ist  es  audi  fftr  die  unendliche  absolute  Unseligkeit  dieses 
leeren  Wollens  ganz  gleichgültig,  ob  neben  ihrer  unendlichen,  durch 
kerne  nodi  so  geringe  Lust  g^nüderten  Unseligkeit  eine  Wdt  der 
Qaal  und  Lust  (denn  in  der  Welt  ist  doch  nur  eine  relative  Unlust, 
cL  h.  em  Oberschuss  von  Unlust  Aber  Lust)  besteht  oder  nicht** 

Wenn  nun  Gk>tt  in  einer  solchen  absoluten  Unseligkeit  sich  be- 
findet, und  auch  sdion  vor  dem  Wdtprocess  sieh  beftnd,  „dann  musste 
von  selbst  der  Vernnnftzweck  Gottes  sich  darauf  richten,  diesen 
Zustand  der  Unseligkeit  zu  beseitigen  und  zu  dem  Zustand  des 
Friedens  und  der  unlustfreien  Stille  zu  gelangen.*^  „Es  ist  mm  zwar 
richtig,  (lass  der  Wille,  genauer  das  leere  Wollen,  es  ist,  welches  die 
Idee  überhaupt  aus  ihrem  an  und  fiii*  sich  Sein  in  ein  für  anderes 
Sein  versetzt,  indem  es  sie  ein  für  alle  Mal  als  seinen  Inhalt  an  sich 
reißt;  nicht  minder  richtig  aber  ist  es,  dass  die  Idee  als  Ei-fiillung 
des  Willens  sich  selbst  bestimmt  und  entwickelt  kraft  ihres 
logischen  fomuileii  ]\[<>mpntes/'  Angesichts  seiner  absoluten  Unseligkeit 
wird  es  dann  ..beü^reitlich,  dass  das  Absolute  sich  in  die  unsäglichen 
Leiden  eines  Weltprocesses  stürzt,  wofern  dieser  Process  als  das 
Mttel  zur  Beendigung  jenes  Zustandes  der  Unseligkeit  gelten  darf 
Es  ist  dabei  unerheblich,  ob  die  transcendeiite  au LWm  weltliche)  Un- 
seligkeit des  Absoluten  der  Intensität  nach  grösser  oder  kleiner  ist, 
als  sein  immanentes  Leiden  im  Weltprocess;  denn  da  erstere  ohne 
die  Beendigmig  durch  den  Weltprocess  endlos  wäre,  letzteres  aber 
ebenso  wie  der  Weltprocess  selbst,  wenn  er  Mittel  zur  Beendigmig 


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—   600  — 


der  erstereu  i^tin  soll,  als  endlich  gedacht  werden  muss,  so  winde 
die  endlose  Unseligkeit  auf  jeden  Fall  schlimmer  zu  ertragen  sein, 
als  eine  noch  so  intensive  endlii  lie  (^ual.  Das  Elend  des  Daseins  in 
der  Welt  wäre  also  gewissermaßen  wie  ein  juckender  Ausschlag  am 
Absoluten  zu  betrachten,  durch  welchen  dessen  unbe^vusst€  Heilki*aft 
sich  von  einem  inneni  pathologischen  Zustand  befreit,  oder  auch  als 
ein  schmei-zhaftes  Zugpflaster,  welches  das  all-eine  Wesen  sich  selbst 
applicirt,  um  einen  iimern  Sclmierz  zimäclist  nach  aufien  abzuleukea 
und  für  die  Folge  zu  beseitigen." 

Der  absolute  Zweck  des  in  absoluter  Unseligkeit  betindlichen 
Gottes  würde  also  »iii  dem  Zurückwerfen  des  Unlogischen  (des  WiUens) 
aus  dem  unseligen  Zustande  der  Actualität  in  den  den  Friedt  u  des 
Abs<duten  nicht  störenden  der  Potentialität  bestehen,  und  das  Mittel 
zur  Erreichung  dieses  Zweckes  wäre  der  Sieg  des  Logischen 
ftber  das  Unlogische  im  Wege  der  Vollendiuig  dei*  sittUchen  Wdt- 
ordnnng."  Der  Zweck,  den  das  Absolate  verfolgt,  „kann  nur 
die  absolute  Endämonie  sein,  da  die  Anwendung  des  Logischen 
auf  das  Unlogische,  oder  der  Vemnnft  auf  die  Willenssphftre,  gar  kein 
anderes  Eiigebms  Uefem  kann  als  die  höchstmögliche  Förderang  der 
Endjlmonie;  das  Yemflnftige  in  praktischer  Hinsicht^  das  für  ein  ab- 
solutes Leben  nicht  mehr  aniterfaalb,  sondern  nur  innerhalb  sehier 
selbst  gesucht  werden  kann,  kann  nur  die  HeibeifDhmng  des  möglichst 
günstigen  und  Tortbeflhaften  Zustandes  dieses  Wesens,  d.  h.  seine 
Eudftmonie  sem.** 

„Dieser  absolute  eudfimonistische  Zweck  des  Weltprocesses  ist 
aber  kein  positiver";  denn  die  Wahrheit  des  empüischen  eudfimo- 
nologischen  Pessimismus  des  Individuums  ist  nach  Hartmann  unum- 
stößlich, und  die  etwa  aus  dem  Weltprocess  als  solchem  sich  ergebende 
Seligkeit  des  Absoluten  könnte  nun  doch  „selbst  erst  als  Product  aus 
allen  Individualseligkeiten  des  Weltprocesses  resiiltireu".  Der 
Zweck  ist  vielmehr  ein  „negativer  eudämonistischer  absoluter  Zweck 
(d.  h.  ein  Zweck,  der  sich  in  der  Negation  eines  ne^ativ-eudämonisti- 
schen  Zustandes  erscliöpft  i**.  Immerhin  aber  ist  ofl'enbar  das  Resultat 
niclit  eine  Vernichtung  des  Absoluten,  sondern  eine  Erlösung 
desselben;  was  am  Ende  des  Weltprocesses  übrig  bleibt,  ist  nicht 
das  reine  Nichts,  sondern  das  reine  Sein,  also  etwas  Positives. 

Man  beachte  hier  wol,  welch  einen  bestimmenden  Eintluss  »ier 
empirische  Pessimismus  auf  die  Formulirung  des  Zweckes  der  ^\'elt 
ausgeübt  hat ;  denn  nicht  der  metajthysische  Pessimismus  des  Absoluten 
erfordert  es,  den  Zweck  der  Welt  Als  einen  negativen  eadämo- 


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nistischen  zu  bestimiiini.  nicht  er  als  solcher,  vde  er  aul  die  ,,Un- 
sfliirkeit  des  leeren  ^^'tlllens•'  gegründet  ist,  würde  hindern,  die  ge- 
g^tibeue  Well  als  das  ^eei^niete  Mittel  zu  einem  positiven  eudämonisti- 
schen  Zweck  anzuerkennen,  sondei-u  liier  tritt  unmittelbar  der 
empirische  ressiniismus  des  Individuums  ein,  und  nur  mittelbar  der 
ine taphysi seile  des  Absoluten,  insofern  als  angebliches  „Product  aus 
allen  Individualuuseligkeiten'*  auch  eine  Weltunseligkeit  des  Absoluten 
von  V.  Hartmann  angenommen  wird;  denn  nach  ihm  ist  das  Welt- 
wesen als  absolutes  Subjectaach  der  Träger  aller  Lust  und  Unlust  der 
Individuen  im  Weltprocesse.  Auf  dieses  Letztem  gestützt  ist  es  eben 
für  Uartmann  klar,  dass  ein  Weltprocess,  dessen  endämonologische 
(soll  natürlich  genauer  heißen:  dessen  allgemeine  endämonologische 
der  Individuen  und  deshalb  endämonologische  des  Absoluten)  Bilance 
n^tiv  ist  nnd  „sich  günstigen  Falles  dem  Nullpunkt  asymptotisch 
annähert»  dem  wie  immer  heschaffenai  Glückseligkeitsziistaiid  desselbeii 
keinen  positiven  Zuwachs  gewährt,  sondern  einen  negativen,  der  im 
brünstigsten  Falle  (wenn  alle  Ihdividnen  zur  sittlichen  und  religiösen 
VoUendnng  gelangt  sdn  werden)  verschwindend  klein  werden  könnte.** 

Lassen  wir  nnn  diesen  durch  den  empirischen  Pessünismus  in 
Ansehung  des  Weltprocesses  eigenartig  ausstaffirten  meti^thysischen 
Pesaunismus  des  Absoluten  einmal  unbeanstandet,  dann  ergeben  sich 
mit  logischer  Prftdsion  die  folgenden  von  v.  Hartanann  ftdrten  Züge 
seiner  metaphysisch-pessimistischen  Sittenlehre. 

Da  der  Selbstzweck  des  absoluten  Wesens  nur  ein  eudümoniBtischer 
sein,  die  Welt  aber  nach  Hartmann  nicht  einen  positiven  eudämo- 
nistischen,  sondern  allein  einen  negativen  eudämonistischen  absoluten 
Zweck  haben  kann,  so  ist  „das  sittliche  Bewusstsein,  welches  einen 
absoluten  Zweck  schlechthin  nicht  entbehren  kann"  und  nur  jenen  als 
den  einzigen  vor  sich  sieht,  gezwungen,  will  es  sieh  nicht  ..selbst 
tmd  seinen  ganzen  phänomenologischen  Entwicklungsjirocess  als  eine 
am  Schluss  sich  selbst  aut'hebende  Illusion"  bezeichnen,  den  nega- 
tiven eudämonistischen  absoluten  Zweck  als  unentbehrliche 
Voraussetzung  seiner  sell»st  anzuerkennen. 

Der  Lebenszweck  des  Individuums  als  einer  Erscheinung 
des  Absoluten  ist  demnach  der  dem  Weltpr.ocess  immanente 
Selbstzweck  des  Absoluten,  nämlich  die  Krlösunsr  des  Absoluten 
von  der  Welt  als  dem  ^.erfüllten''  Wollen  und  damit  von  allem  inner- 
imd  außerweltlichen  Wollen;  ist  dies  nun  der  menschliche  Lebens- 
zweck, so  besteht  die  Sittlichkeit  des  bewussten  Individuums  in 
der  ,3Iitarbeit  an  der  Abkürzung  dieses  Leidens-  und  £r- 

Padagogiom.  4.  Jftfaxg.  Heft  X.  40 


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löf>ungsweg"es  Gotti^s'\  Den  Selbstzweck  des  Absoluten  zu  ^einem 
Lebenszweck  machen  schliesj^t  aber  ein,  dass  das  Individuum  sich  in 
keiner  Weise  als  Selbstzweck  anse]u\  sich  selbst  also  in  i)i'akti>cher 
Hinsiclit  völliia:  verleuf;ne,  indem  es  ..den  Eigenwillen  ganz  ge- 
fügig: macht  zu  dem.  was  er  sein  soll,  zum  selbstlosen  aber  energischen 
sittlichen  \\erkzeug  des  absoluten  Zweckprocesses".  ..Nur  durch 
len  Aufbau  einer  sittlichen  W'eltordnung  von  Seiten  vernünftiger, 
selbstbewusster  Individuen  kann  der  Weltprocess  seinem  Ziele  ent- 
gegengeführt und  nur  durch  schließliches  Bewusstwerden  der 
negativen  absolut-eudämonistischen  Bedeutung  dieses  Zieles  kann  das- 
selbe wirklich  erreicht  werden,  daher  kann  ich  sagen:  Nur  durch 
mich  kann  Gott  von  der  Welt  erlöst  werden,  sofern  ich  nämlich 
im  Allgemeinen  den  T^'pus  einer  vemünitigen,  selbstbewussten  und 
sittlichen  Persönlichkeit,  im  Besonderen  den  Typns  eines  zum  Moral- 
princip  der  Erlösung^  vorgedrungenen  sittlichen  Bewosstseins  repri- 
sentire." 

Dieser  absolute  Zweck  ist  aber  für  das  Individuum  ein  unzweifel- 
haft  sittlicher,  einerseits»  weil  er  vom  Individuum  die  volle  Selbst- 
verleugnung fordert,  und  anderseits,  weil  das  Individuum  auf  Grund 
des  Bewusstseins  von  der  Identität  seiner  selbst  mit  Gott  den  abso- 
luten Zweck  nicht  als  „einen  dem  Individual willen  fremden^, 
sondern  „als  wesentlich  seinen  Zweck**  weift. 

Der  so  jftu%e&S8te  Weltzweck  besitzt  nach  Hartmann  nun  auch 
genOgende  Motivationskraft  zur  thätigen  Hingabe  des  von  ihm 
durchdrungenen  bewussten  Individuums  an  den  Weltprocess;  man 
könne,  meint  er,  das  durch  Bewusstwerden  des  Weltzwecks  hervor- 
gerufene Gefßhl  des  Individuums  „in  gewissem  Sinne  Mitleid  mit  Gott** 
nennen,  „nicht  aber  Liebe,  denn  zur  Liebe  gehört  ein  der  Gegenliebe 
fähiger  Gegenstand,  zum  Mitleid  aber  gehört  nichts  als  ein  Wesen, 
das  leidet,  und  letztere  Bedingung  wird  im  denkbar  höchsten  Maaße 
vom  absoluten  Subject  ((4ott)  erfiillt."  Immerhin  i.st  aber  auch  ^die 
Bezeichnung  des  Mitleids  als  eine  ni(  lit  mehr  ganz  passende  besser 
zu  vermeiden,  da  das  Mitleid  streng  genominen  voraussetzt,  dass  das 
leidende  Subject  ein  anderes  sei  als  das  Mitleid  fühlende- ;  indem 
der  Mensch  sich  ,.in  der  Beziehunir  einer  aVtsohiten  praktischen 
Solidarität  mit  dem  AlisuUiten  stehend*'  weili,  wird  das  sittlich 
motivirende  (lefühl  ,,viehiielir  einen  getühlsmäßigen  individuellen 
Wiederschein  des  tiefen  Welu'S  des  imseligen  Absoluten  darstellen, 
einen  W'iederscheiu,  den  man  im  Gegensatz  zum  Weltschmerz  den 
Gottes  seh  merz  nennen  kann,  welchei'  den  eigenen  Schmerz  wie  das 


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Leiden  Anderer  und  der  ganzen  Welt  gering  acliten  lelirt,  wie  Gott 
selbst  ihn  gering  geachtet  haben  muss,  als  er  ilm  auf  sicli  nahm." 
Wer  sich  voll  und  ganz  zur  Selbstverleugnung  emporgeschwungen, 
der  gewinnt  aus  dem  heiligen  Gottesschnierz  nicht  mehr  triigerische 
^  Weltfreude",  sondern  nur  noch  hinimlisclien  ,.  Welt  frieden"  und  jene 
^freudige  Willii(keit  der  Selbstverleugnung  und  Selbsthingebung 
welche  nur  aus  dem  verständnisvollen  Rewusstsein  des  abso- 
luten Zweckes  und  seiner  Bedeutung  entiiuellen  kann."* 

Die  teleologische  Aufgabe  der  Menschheit  ist  daher  nach  Hart- 
mann die  Erlösung  Gottes  von  der  l'nseligkeit  des  Wollens  durch 
Zurfickweifen  des  Willens  des  Absoluten  aus  der  Actualität  in  seine 
Potentialität,  und  weil  nun  die  Herstellung  der  vollendeten  sittüchen 
Weltordnung  die  nothwendige  Vorbedingung  für  die  Erfüllung  jener 
Aufgabe  ist,  so  ist  die  fortdauernde  Steigerung  des  sittlichen  Bewusst- 
seins  der  Menschheit  die  nähere  oder  erste  Aufgabe  der  Menschheit, 
um  die  Basis  för  die  absolute  Verneinung  des  Woll(;ns  zu  gewinnen- 
Bei  diesem  seinem  sittlichen  Streben  findet,  wie  Hartmann  meint,  der 
Einzelne  an  den  seinem  Wesen  eigenthflmlichen  moralischen  Tiieb- 
federn,  sowie  an  den  moralischen  Ideen  und  Institutionen  der  Welt 
eine  nothwendige  Stütze,  sowie  in  der  thatsächlichen  Entfaltung  und 
dem  unzweifeQuiften  Fortsehritt  der  snbjectiyen  und  objectiTen  sitt- 
lichen Weltordnung  in  der  Menschheit  eine  wichtige  Anfinuntemng. 
Der  Cnlturfortschritt  und  die  geistige  Entwicklung  der  Menschheit 
sind  die  Geschichte  vom  Siege  des  Logischen  über  das  Unlogische, 
ohne  welchen  Sieg  die  Erlösung  Gottes  vom  alogischen  Wollen  nicht 
denkbar  ist;  daher  gilt  es  f&r  den  Menschen,  energisch  in  die  große 
Entwicklungsarbeit  als  thätiges  Glied  des  Ganzen  sich  hineinzustellen 
und  dieselbe  zu  f5rdem,  und  zwar  mit  vollem  Verzicht  auf  eigene 
Olltekseligkeit 

Die  Hingabe  des  Eigenwillens  an  das  Ganze  ist  also  hier  das 
Kriterium  der  Sittlichkeit.  Jeder  Trieb  im  Menschen,  welcher  dahin 
zielt,  ist  ein  sittlicher,  jede  Institution,  die  das  voraussetzt,  ist  eine 
sittliche.  Die  Fordeiuuüf,  dass  „jeder  das  Wol  aller  Aii  leren  ftir- 
dere",  welche  aus  dem  „Princij)  der  \\'esL'Usidentitiit  der  liulividuen 
untereinander'*  hervorgehen  soll,  kann  das  absolute  Moralprincip 
nicht  als  eine  sittliche  anerkennten  denn  es  setzt  an  deren  Stelle 
4ie  Aufgabe,  den  Entwicklungsprocess  des  Absoluten  durch  Befestigung 
und  FortbiUlung  der  sittlichen  Weltordnung  zu  fordern.  ..wobei  das 
fremde  Wol  nur  in  so  weit  (regenstand  dei-  Ffirdei-ung  wird,  als  die 
sittliche  Weltordnung  dies  .verlangt  oder  empfiehlt,  die  Förderung  des* 

40* 


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Cnltiirfortschrittes  aber  als  ein  relativ  höheres  Ziel  der  absolnten 

Teleoloprie  erscheint,  als  die  Förderung  irgend  welchen  individuellen 
Woles.  Die  Fördeiiinf,'-  individuellen  Woles  kann  auf  diesem  Stand- 
punkt imnuT  nur  Mittel  zu  irgend  welchem  höheren  Zweck  sein;  iu 
diesem  Sinne  abtr  kann  die  Förderung  des  eigenen  Woles*)  eben- 
sowol  sittliche  Ptlicht  sein,  als  diejenige  fi-emden  Woles.  Das  Ent- 
scheidende ist  immer  nur  die  Hingebung  des  Eigenwillens  in  den 
Dienst  des  absoluten  Processes  als  der  absoluten  Teleologie."^ 

Dies  sind  in  Kurzem  die  gi'undlegenden  Züge  der  auf  den  makro- 
kosmischen Pessimismus  des  Absoluten  gegründeten  Sittenlehre;  die 
logische  Consequenz  ist  der  letzteren  nicht  abzusprechen,  und  ebenso- 
wenig eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  der  christlichen  Sittruh^hrc. 

Vor  dem  mikrokosniischen  Pessimisnms  des  Individuums  und  seiner 
durch  Buddha  vertretenen  Sittenlehre  der  Enthaltsamkeit  und  (ieduhl. 
und  ebenso  vor  dem  makrokosmischen  des  Individuums,  wie  ihn  etwa 
Schopenhauer  vertritt,  hat  der  makrokosmische  des  Absoluten,  d.  i.  der 
metaphysische  Pessimismus,  den  Hartmann  lehrt,  in  Ansehuntr  der 
Sittenlehre  das  Große  voraus,  dass  er  dem  Individuum  eine  i)ositive 
und  selbstständige  Aufgabe  verschatlt,  und  daher  nicht,  wie  jene,  eine 
Verneinung  der  individuellen  Existenz,  sondern  eine  energische  Be- 
jahung derselben  proclamirt  zum  Zwecke  der  rastlosen  Mitarbeit  an 
der  Erlösung  des  Absoluten  v(m  dessen  transcendenter  Unseligkeit 
durch  die  immanente  Qual  des  Weltjui  icesses. 

Das  individuelle  Leben  wird  vom  Standpunkt  des  metaphysisclien 
Pessimismus  Hartmanns  nicht  allen  A\'ertes  entleert,  wie  vom  mikro- 
kosmischen  Biuldhas,  sondern  gerade  erfüllt  mit  Wert;  und  nicht 
Ruhe,  wie  Schopenhauer  verkündet,  sondern  Thätigkeit  ist  .seine 
Losung.  Diese  füi*  die  Sittenlehre  hochbedeutsame  £igenart  Hartr 
manns  gegenüber  Buddha  and  Schopenhauer  hat  seine  Quelle  eben 
darin,  dass  Hartmann,  wenn  er  gleich  den  mikrokosmischen  Pessimis- 
mus des  Individuums  mit  in  sein  System  aufgenommen  hat,  doch  den 
Pessünismns  des  Absoluten  zur  Gimdlage  seines  Systems  machte, 
dass  er  also  als  das  ^\  esen  der  Welt  ein  „absolutes  Individuum, 
dessen  Attribute  Wille  und  Vernunft  sind",  annahm,  dessen  Ersdiei- 
nungen,  die  Mensclien,  mit  ihrem  Leben  unter  dem  Zwecke  des  vom 
Absoluten  gesetzten  W^eltprocesses  stehen. 

Ich  kann  hier  schon  ei*klären,  dass  Haitmanns  System  es  deshalb 


*)  Daraua  ergibt  deh  von  selbst,  dass  das  Merkmal  der  UneigeiiBlItsis^eit 
niflltt  in  allen  FKllen  den  sittlichen  Handlangen  eigen  ist  nach  Hartmann. 


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—  605  — 


zu  einer  positiven  .Sitienlelire  trotz  des  Pessimismus  zu  biiimen  ver- 
mochte, weil  dasselbe  ein  lleli^ionssystem  ist,  d.  i.  weil  es  ein  ab- 
solutes, ewiges  Wesen  proclamirt,  dessen  Kreaturen,  die  Mensclien, 
zu  einem  von  ihm  gesetzten  Zweck  in  dem  Weltj^rocess  ilire  Stellung 
anazufiUlen  haben.  Daher  erklärt  auch  Hartmaun  nicht  diesen  Welt- 
proeess  f&r  einen  unvernünftigen,  wie  Schopenhauer,  sondern  sieht  in 
ihm  einen  vernünftigen,  absolnt  zweckentsprechenden. 

Den  Vorzug  des  Positiven,  welchen  die  von  Hartmann  ange- 
stellte Sittenlehre  vor  den  äbrigen  pessimistischen  Sittenlehren  voraus 
hat,  wird  jede  Kritik  rundweg  und  rückhaltlos  anerkennen 
müssen;  es  ist  aber  überdies  ein  gewissermaßen  großer  Zug:  in  dieser 
Sittenlehre  nicht  zu  verkennen,  ein  Zug,  welchem  die  Christenheit 
vor  Allem  nicht  die  Anerkennung  versagen  wird,  und  ich  meinerseits 
kann  es  wenigstens  begreifen,  wenn  ihm  auch  nicht  zustimmen,  wenn 
fiartmann  im  zoMedenen  Vollbewusstsein  seines  wichtigen  Fundes  zu 
dem  Ansrnf  kommt:  ,,yor  der  Erhabenheit  dieser  Entwicklungsstufe 
des  sittlichen  Bewnsstseins  schwindet  jede  Möglichkeit  des  Ein- 
spruches; der  Einzelne  mag  behaupten,  dass  er  sich  zum  schwindel- 
freien ErkUmmen  einer  solchen  H5he  bislang  untüchtig  und  vielleicht 
für  immer  nnffthig  fühle;  aber  er  soll  sich  nicht  erdreisten,  das  Er- 
habenste zu  bemängehi,  weÜ  seine  Kleinheit  ihm  znflllig  die  Hoifiiung 
verwehrt,  zu  demselben  hinauf  zn  reichen.  Wess^  Magen  nicht  dazu 
gemacht  ist,  nm  von  Nektar  und  Ambrosia  zu  leben,  den  wird  niemand 
schelten,  wenn  er  sich  von  SchweinefleiBch  nnd  Sauerkohl  nährt,  nur 
soll  er  nicht  die  Speise  schlecht  nennen,  weil  seine  Constitution  zu 
untergeordneter  Art  ist** 

Ich  begreife,  wie  gesagt,  den  erhabenen  Ton  nnd  den  etwas  mas- 
siven Hohn,  welcher  sich  in  diesen  Sätzen  äußert;  nichtsdestoweniger 
werde  ich  aber  doch  auch  dieses  sittliche  Bewusstsein  kritisch  zu 
betrachten  mir  erlauben,  selbst  wenn  Hartmann  mit  recht  intensivem 
Selbstbewusstsein,  wie  es  fireilich  wol  ein  Jeder  einmal  in  Momenten 
höchster  Schaffensfreudigkeit  erfahren  hat,  behauptet,  dass  dieser  seiner 
Au&tellung  gegenüber  Jede  Möglichkeit  des  Einspruchs  schwinde". 

Die  Kritik  wird,  wenn  sie  die  Richtigkeit  prüfen  will,  ihr  jAugen- 
merk  auf  die  Grundlegung. der  Hai*tmannschen  Sittenlehre  zn  richten 
haben,  weil  ans  dem  zu  Grunde  gelegten  metaphysischen  Pessimismus 
mit  logischer  Nothwendigkeit  alle  Sätze  der  Hartmannschen  Sitten- 
lehre sich  deduciren  lassen. 

Ich  liabe  die  Positivität  des  sittlichen  Princips  Hartmanns  gegen- 
über den  andern  rein  negativen  pessimistischen  Sittenlehren  hervor- 


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gflioluii:  (liest-  letzteren  aber  scheinen  doch  auch  eiuen  Vorziitr  g"eireii- 
nhvv  der  Haitmaunscheii  Sitteulelire  aufweisen  zu  können,  nämlich 
in  Ansehiuig  der  ,.Motivationskraft"  ilires  sittliclien  Princips.  Es  un- 
terliegt wenigstens  keinem  Zweifel,  dass  die  Sittenlehre,  welche 
aus  dem  mikrokosmischeu  Pessimismus  des  Individuums  hervorgeht 
und  demnach  die  Veiiieinung  der  individuellen  Existenz  als  ihren 
Gnmdsatz  proclamii't,  im  empirischen  Pessimismus,  dessen  sj'ste- 
matischeFormulirung  doch  ja  nur  jener  miki-okosmische  des  Individuums 
ist,  eine  individuelle  Basis  besitast,  welche  mit  Nothwendigkeit 
den  Willen  des  Individuums  hier  zur  Verneinung  der  individuellen 
Existenz,  d.  i.  zum  Selbstmord  motivirt.  Einer  individuellen 
Basis  wird  in  dieser  Hinsicht  aber  überhaupt  jede  Sittenlehre,  wenn 
sie  Motivationskraft  besitzen  soll,  nicht  entrathen  können,  weil  doch 
das  Individuum  den  „sitüichen  '  Zweck  als  seinen  eignen  Zweck 
wissen  muss;  nur  dieses  individuell  gegründete  Bewusstsein 
vermag  das  ausreichende  Motiv  für  das  geforderte  „sittliche'' 
Wollen,  f&r  das  sittliche  Streben  der  Persönlichkeit  zu  liefei-u.  Es 
muss  nun  untersucht  werden,  ob  solche  Motivationskraft  dem  Hart- 
mannschen  Moralpnncip  üme  wohne. 

Aber  noch  ein  Zweites  ist  es,  was  jenen  anderen  pessimistischeri 
Sittenlehren  wenigstens  unzweiMhaft  zur  Seite  steht,  und  was  über- 
hanpt  für  eine  nicht  utopistische  Sittenlehre  die  nothwendigeBeding^ong 
ist,  nftmlich  die  mögliche  Erreichbarkeit  des  proclamirten  sitt- 
lichen Zweckes.  Wenn  nun  jene  pessimistischen  Sittenlehren  die 
Vernichtung  der  individuellen  Existenz  als  Ziel  sittlichen  Strebens 
setzen,  so  ist  dieses  zu  erreichoi  für  einen  Jeden,  ob  er  Buddhas  oder 
Schopenhauers  Anh&nger  ist,  wenigstens  denkbar.  Es  fragt  sich  nun, 
ob  die  Hartmannsche  Sittenlehre  ihre  Anhänger  in  diesem  Punkt  auch 
so  gut  zu  stellen  weiß. 

Die  beiden  Fragen  also  nach  der  Motivationskraft  und  nach 
der  Erreichbarkeit  des  aufgestellten  sittlichen  Zwecks  for- 
dein  es,  die  Basis  der  Hartmannschen  Sittenlehre,  den  metaphysischen 
Pessimismus  des  Absoluten,  und  die  eigenthümliche  Hinein- 
Verarbeitung  des  empirischen  Pessimismus  des  Individuums 
in  jenen  Pessimismus  näher  zu  prüfen. 

Die  transcendente  Unseligkeit  des  Absoluten  dedudrt  Hartmann, 
wie  gezeigt  worden  ist,  aus  dem  sogenannten  „leeren  Wollen**  des 
Absoluten.  „Leeres  Wollen**  fireflich  ist  ein  schwieriger  Begriff; 
Hartmatm  sucht  ihn  dem  Verständnis  nSher  zu  bringen,  indem  er 
£:chreibt:  „das  leere  Wollen  *ist  noch  nicht,  denn  es  liegt  noch  vor 


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jeiiei'  ActualiTHt  und  Ivt^alität,  welche  wir  allein  untei-  dem  Prädirat 
Sein  zu  belassen  gewulint  sind;  es  weset  aber  auch  nicht  mehr  blos, 
wie  der  Wille  an  sich,  als  reine  Potenz,  denn  es  ist  ja  schon  F'olge 
von  (lieser  und  verhält  sich  mithin  zu  ihr  als  Actus;  wenn  wir  das 
richtisre  i*i-ädicat  anwenden  wollen,  so  können  wir  nur  sagen,  das  leere 
Wollen  wird.  —  das  Werden  in  jenem  eminenten  Sinn  gebraucht,  wo, 
es  nicht  Ubergang  aus  einer  Form  iti  die  andere,  sondern  aus  dem 
absoluten  Nichtsein  (seinem  Wesen)  ins  Sein  bedeutet.  Das  leere 
Wollen  ist  das  Ringen  nach  dem  Sein,  welches  das  Sein  erst  erreichen 
kann,  wenn  eine  gewisse  äußere  Bedin<rung  erfüllt  ist.  Wenn  der 
Wille  an  sich  der  wolleukönnende  (folglich  auch  niclit-wdllenküniiende, 
oder  velle  et  nolle  potens)  Wille  ist,  so  ist  das  leere  Wollen  der  Wille, ' 
der  sich  zum  Wollen  entschieden  hat  (also  nicht  mehr  lüchtwollen 
kann),  der  wollen  wollende,  nun  aber  nicht  wollen  könnende,  genauer: 
wollen  nichtkönnende  (velle  volens,  sed  velle  non  potens)  W^ille,  bis 
die  Vorstellung  hinzukommt,  welche  er  wollen  kann."  Ich  habe  diese 
Worte  Hartmanns  in  extenso  hieher  gesetzt,  damit  sie  an  sieb  selbst 
den  Beweis  liefern,  ein  wie  schwieriger  Gedanke  das  „leere  Wollen" 
sei;  dabei  bemerke  ich,  dass  Hartmann  hier,  wie  es  Schopenhaaer  zu 
thun  pflegte,  den  Willen  hypostasirt,  zu  einem  „Ding",  Subject  macht» 
(„der  \Mlle,  der  sich  zum  W(dlen  entschieden  hat"),  anstatt,  dass  er 
das  Unbewnsste,  welches  das  Attribut  „Wille"  hat,  hätte  als  Subject 
hereinnehmen  sollen. 

Sehen  wii*  aber  auch  von  diesem  Fehler  der  Hypostasining  ab, 
so  ist  uns  doch  ein  solches  leeres  Wollen  gar  nicht  denkbar,  in  welchem 
der  „Wille"  „in  einem  zwischen  reiner  Potenz  und  wahrem  Actus 
gleichsam  in  der  Mitte  stehenden  Zustande  sich  befindet",  ein  solcher 
Zwischenznstand  ist  nicht  „leeres  Wollen",  sondern  vielmehr  eine  leere 
Phrase,  die  Hartmann,  soviel  er  sich  auch  darum  bemfiht,  doch  nicht 
mit  einen  widerspmchslosen  Inhalt  erfüllen  kann.  Man  wird  auch  im 
Verständnis  ebenfalls  nicht  welter  gebracht,  wenn  man  h9rt:  „das  leere 
Wollen  ist  insofern  actnell,  als  es  nach  sehier  Yerwirklichnng  ringt", 
es  ist  ein  „Streben,  ans  der  Leerheit  der  reinen,  noch  nicht  seienden 
Form  herauszukommen,  sich  als  Form  zu  verwirklichen,  seiner  selbst 
habhaft  zu  werden,  znm  Sein,  oder  was  dasselbe  ist,  znm  Wollen,  d.  h. 
zu  sich  selbst  zu  kommen."  Je  wörterreicher  die  Erklärung  wird, 
desto  dtmkler  wird  sie,  denn  jetzt  haben  wir  nicht  nur  den  „Willen", 
sondern  sogar  auch  noch  das  „leere  Wollen  desselben"  selbst  hy- 
postasirt:  „das  Streben  (Act)  des  leeren  Wollens  (Sabject)  hat 
kein  anderes  Ziel  als  das,  sich  selbst  zu  verwirklichen."  Hier  taucht 


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die  Hartmanirsche  Speculation  kopfüber  unter  in  reine  IMiauta-^ierei, 
das  „leere  Wollen",  welches  aii<(el>li(  li  nicht  Actus  ist  ,.hat  Streben" 
also  Actuulität,  und  dasselbe  „leere  Wollen",  welches  angeblich  nicht 
..bestimmtes  W^ollen''  ist,  hat  ein  Ziel,  ist  also  bestimmtes  Wollen, 
ja  ül>erhaui)t  das  leei'e  Wollen,  welclies  angeblich  ..noch  niclit  ist*',  wird 
als  seiend  ungenirt  1)ehandelt,  da  eben  auf  die  Wirklichkeit  dessel- 
ben allein  sich  die  IJchauptung  von  der  ^v^rklichen  Unseligkeit  des  Absolu- 
ten, d.  i.  die  Wahrheit  des  metaphysischen  Pessimismus  stützt. 

Kinn  leere  Plirase  also,  wie  das  ..leere  Wollen"  sich  er- 
weist, ist  die  Basis  des  von  v.  Hartmann  verkündeten  meta- 
physischen l'essimismus !*)  Das  Ict  ic  Wollen  ist  die  dem  Absoluteii 
angesteckte  Sclimachtlocke.  vermittelst  welcher  das  Au.ssehen  desselben 
..ein  ewiges  Schmachten  na<-h  einer  Ert'iÜlung"  ist;  die.ses  ewii>-e 
Schmachten  ist  dann  natürlicii  C^ual,  abs(dute  Unseligkeit,  denn  ..er- 
lülltes  Wollen"  ist,  wie  Hartmann  sagt,  Lust,  ..unertTdltes"  dagegen 
UnhLst.  Mit  dem  leereu  \\'ollen  zugleicli  Ideibt  nun  aber  auch  die 
T'iiseligkeit  des  Alisoluien  eine  unverständliche  Phrase:  und 
sie  spielt  noch  dazu  Hartmann  selbst  den  sclilimmen  Streich,  dass  er 
iu  sein  Unbewusstes  ein  Loch  stoßen  muss,  imi  demselben  doch 
diese  seine  absolute  Unseligkeit  zum  Bewusstsein  zu  bringen:  ,.die,ses 
Bewusstseiu  von  der  absoluten  Unseligkeit  ist  das  einzige  aulSerwelt- 
liche  Bewusstseiu,,  zu  dessen  Annahme  wir  Ursacke  haben**,  sagt 
HartmaiHi  selbst. 

■ 

Nehmen  wir  aber  auch  einmal  das  „vorweltliche  leere  Wollen** 
des  Absoluten  als  wirklich  an,  so  sollte  man  doch  denken,  dass  mit 
dem  Beginn  des  Weltprocesses,  wann  eben  dem  leeren  Wollen  „durch 
die  Vorstellung  eine  Erfüllung  gegeben  wird",  die  Unseligkeit  des 
Absoluten  ein  Ende  erreicht  habe,  weil  mit  der  Idee  das  „ertuUte 
Wollen**,  also  die  Lust  da  ist.  Dem  entgegen  spricht  aber  Hartmann 
noch  von  einer  ,.auß erweltlichen  Unseligkeit  leeren  Wollen«  neben 
dem  erfüllten  Weltwillen."  Die  Begründung  dieser  Behauptung  ist 
nicht  minder  phantastisch  wie  die  des  leeren  Wolleus;  sie  heißt:  „denn 
der  Wille  ist  potentiell  unendlich,  und  in  demselben  Sinne  ist  seine 
Initiative,  das  leere  Wollen,  nnendUch;  die  Idee  aber  ist  endlich,  ihrem 


*)  Zur  Dlrection  bemerke  ich,  dass  Hartmann  nicht  etwa  mit  «I-mii  leeren 
Wollen  das  „Strebcu'*  der  bcwnssf  losen  Xixtur  meint,  denn  di^sos  letztere  ist  ihm 
vielmehr  ..erfüll  l  es  Wolli  n".  Ainlcr-ieitü  alier  halte  ich  dafür,  duss  jeue,s  l>e- 
wu8ütlo.sc  .Streben  der  ^"ulul  ^laaohem  wol  das  leere  Wollen  plausibler  ersclieiuen 
lassen  wird,  gleich  als  ob  das  ,4eere  Wollen**  nur  noch  efaie  .,h5here  Potenr*  des 
„bewuflstlosen  Strebens'*  der  bewnsstloeen  Dinge  wire. 


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_   609  — 

Bf^iitl  iiiich.  so  tliis.s  auch  nur  ein  endlicher  Tlieil  <le>  leeren  WolhMis 
von  ihr  erliillt  werden  kann;  es  ))leilit  also  ein  unendlicher  Cberschuss 
des  hungrigen  leeren  Wollens."  Ohne  nun  Phantasterei  liineiuzunüschen, 
wird:  „der  Wille  ist  potentiell  unendliclr',  doch  nur  heißen:  „die  Po- 
tenz Wille  des  ünbewussten  hört  nie  auf  zu  sein",  dann  kann  aber 
unmöglich  folgen  dürfen:  ,,und  in  demselben  Sinn  ist  das  leere  Wollen 
unendlich",  denn  dieses  hört  doch  wol  auf,  zu  sein,  sobald  das  ».er- 
füllte Wollen",  indem  also  die  Vorstellung  hinzukommt,  eintritt,  und 
zwar  müsste  jenes  so  lange  wenigstens  aufliören  zu  sein,  als  ein  er- 
fülltes Wollen  des  Absoluten  da  ist;  verschwindet  dieses,  dann  erst 
könnte  wieder  „leeres  Wollen"  auf  Grund  der  ..ewigen  Potenz  W^ille*' 
entstehen.  Hartmann  aber  sieht  A\'ille  und  leeres  Wollen,  indem  er 
8ie  selbst  zu  Größen  hyi)ostasirt ,  als  unendliche  Größen  an,  deren 
einen  Theil  die  endliche  „ Größe Idee  deckt,  während  der  andere 
Theil  ungedeckt  bleibt.  Nur  mit  diesem  unberechtigten  und  fal- 
schen Bilde  eines  Größenunterschiedes  vom  „unendlichen*'  lee- 
ren Wollen  und  der  endlichen"  Idee  wird  es  Hartmann  möglichi  die 
außer  weltliche  Unseligkeit  des  Absoluten  zu  begründen. 

Wenn  es  nun  mit  der  Begiündung  der  vorweltlichen  sowol  als 
auch  der  außerweltlichen  Unseligkeit  des  Absoluten  so  bedeiiklich 
steht»  das8  die  nüchterne  Betrachtung  aus  reinem  Selbsterhaltungstriebe 
gegen  solche  gnostische  Zumuthungen,  wie  das  ,.leere  Wollen"  und 
die  „Unendlichkeit"  dieses  leeren  Wollens  es  sind,  schlechthin  abwei- 
send sich  verhalten  muss,  so  erscheint  der  ganze  metaphysische 
Pessimismus  des  Absoluten  als  eine  wissenschaftlich  anhaltbare 
Postdon  des  Hartmannschen  Systems.  —  Doch  ich  will  auch  diesen 
metaphysischen  Pessimismus  einmal  als  wissenschaftlich  gesicherte  Be- 
hauptung gelten  lassen,  insofern  er  sich  auf  jenes  „leere  Wollen"  und 
dessen  „Unendlichkeit*'  beruft  Aber  dann  komme  ich  m  der  Frage, 
ob  für  das  Absolute  denn  der  Weltprocess  ein  Grund  der  Qual  sein 
kann,  wie  Hartmann  behauptet  Man  mfisste  nämlich  doch  annehmen, 
dass  die  Welt,  „der  erfailte  Weltwi]le^  wenigstens  keine  Unlust 
dem  Absoluten  einbrSchte,  da  das  Absolute  hier  doch  sdn  Wollen 
erfflllt  hat  Ich  sage  nur:  „wenigstens  keine  Unlust**,  und  füge 
nicht  hinzu:  „sicherlich  sogar  Lust**,  um  nicht  mit  Hartmann  noch  in 
eine  andere  ColUsion  zu  gerathen,  insofern  er  nämlich  behauptet  dass 
sein  Absolutes,  das  Unbewusste,  keiner  Lust  sich  bewusst  werden 
könne,  weil  Lust  schon  Bewusstsein  ▼oranssetze."') 

♦j  Hartmanu  schieiljt  :  ,,Da>i  GefUhl  der  Lust  oder  die  Befriediguu^f  des  WilU  iw 
fcaoii  an  und  dir  sich  nicht  bemust  weiden,  denn  indem  d^  Wille  seinen  Inhalt 


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Soweit  nun,  sage  icli,  Welt  da  ist,  hat  das  Unbewusste  docli  seinen 
Willen  eifiillt  und  iH-friedi^ ;  Haitmann  selbt  nennt  ja  die  Welt 
..erfülltes  Witllen",  also  sollte  der  nietai»liysist'}ie  Pessimismus  des  Ab- 
soluten weiiig^steus  keine  Stärkung;  an  dem  Weltprocess  linden  krmnen. 
Hartmann  aber  ist  anderer  Meinung!  Kr  erklärt,  dass  das  Unbe\vu>ste, 
„das  absohlte  Sul)iect  selbst  es  ist,  welches  als  substantieller  Träü'er 
der  em|iiris(']ien  SulijtM  te,  oder  als  das  in  den  ErsclieiniiiiL''sindividueu 
empirist  li  beschränkte  Wesen  alles  denkt,  will  und  tühlt,  was  im  Welt- 
process  gedacht,  <iew(»llt  und  <j:etTüilt  wird,  dass  mit  andern  Worten 
das  Absolute  selbst  der  all-eine  metaphysisclie  Träger  aller  Lust  und 
alles  Leides  ist,  welclies  durch  den  Weltprocess  als  solchen  >lein 
eudämoiiischen  Zustande  des  Absoluten  als  transcendenten  Wesens  zu- 
wächst."  Diese  Erklärung  llartmanns  schwebt  al)er  ganz  in  dei-  Luft. 

J)a  uns  indess  hier  nur  die  Unlust  interessiren  darf,  so  betrachten 
wnr  allein  diese,  wie  sie  in  der  Welt  als  Zustand  der  Ijewnssten  In- 
flividuen  auftritt;  hier  ist,  um  mit  Hartmann  zu  reden,  unbefriedigtes 
W^ollen,  d.  h.  das  Ziel,  welches  der  wollende  Mensch  im  Auge  hatte, 
ist  von  ihm  nicht  erreicht  worden;  der  Grund  dieses  Fiasco  war  in 
allen  Fällen  ein  dem  wolletiden  i^fenschen  entgegenstrebendes  Etwas 
in  der  Welt,  dessen  „Willensstärke"  diejenige  des  .Menschen  übertraf; 
ein  W'ollendes  wurde  dnrdi  ein  anderes  Wollendes  gehemmt,  und  die 
Möglichkeit  dieser  Hemmung  ist  in  der  Individualität  und  der  da- 
durch bedingten  Gegensätzlichkeit  der  wollenden  Individuen  der  Welt 
begründet.  Nicht  das  Absolute  wurde  in  seinem  Wollen  nicht  befrie- 
digt, sondern  das  Individuum,  nicht  das  \\  olit  ii  überhaupt  in  der  Welt 
wurde  vernichtet,  sondern  höchstens  das  \\'ollen  eines  Individunins, 
nicht  also  das  „ Wesen sondern  die  „Erscheinung^',  wie  ich  nütHartp 
mann  sagen  könnte.  Daher  kann  auch  nicht  das  Absolute,  soiir 
dem  einzig  und  allein  das  Individuum  Unlust  empfinden  und, 
„TrSger^'  dieser  Unlust  sein.  Nicht  das  Wollen  überhaupt,  sondern 
das  individuelle  Wollen  blieb  ja  unbefriedigt,  das  menschliche  Snbject, 
nicht  aber  das  absolute  Subject  der  Welt  wurde  in  Erreichung 


Tttrwirklicht  und  dadurch  seine  Befriedigaug  herbeiftthrt,  ereignet  sich  nicht«,  was 
mit       Wflko  in  Opposition  kflme,  und  da  jeder  Zwang  von  aalten  fehlt  und  der 

Wilk:  nur  seinen  cii^eur-u  ri»nsequen/.en  Raum  gibt,  kann  es  zu  keinem  Bewnaat- 
sein  k-nnncn.  Aiuhrü  siellt  sieh  dio  Sache,  wo  sich  bereits  ein  liewnsstseln 
etabliri  liar.  «las  Bfobachtuugeu  und  Ert'ahruntren  sanmieh  und  vergleicht.  — 
Wir  küuutu  mit  (jewissheit  sagen,  das.-*  der  mit  Vttrstellung  erlUUte  Wille  vor 
Entstehung  des  organischen  Bewus-stseius  keine  Befriedigung  als  Lust  empfinden 
kOnne.'* 


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—  611  — 


seines  Ziels  gehemmt;  wollte  das  Letztere  Vtehauptet  werden,  so 
müsste  das  Undenkbare  geschehen  sein,  dass  nämlich  das  absolnte  Sub- 
ject  durch  ein  „empiiisches  Subjeet'*,  welches  doch  nach  Hartmann 
dessen  Erscheinung  ist,  gehemmt  und  also  dasselbe  Wollen  zu  glei- 
cher Zeit  noch  ein  anderes  Wollen  gewesen  wäre. 

Die  Unlust  also,  welche  aus  der  Nichtbefriedigung  des  Wollens 
der  Individuen  für  letztere  resoltirt,  kann  unmöglich  auch  noch  dem 
Absoluten  gebucht  werden,  ein  solches  doppeltes  Anschreiben  kann 
keineswegs  gestattet  werden.  In  dieser  Hinsicht  behält  Bnddlia  l^echt, 
dass  die  Unlust  in  der  Welt  ihre  Quelle  in  der  mensclilichen 
Individualität  als  solcher  habe,  dass  also  nicht  aus  dem  \\'ollen  als 
Thätigkeit  liberhaupt,  sondern  aus  dem  individuellen  \\  rillen  das 
Leid  abzuleiten  sei,  so  dass  demnach  auch  einzig  nnd  allein  das  Indi- 
viduum Mensch  diese  Unlust  empfinden  kann. 

Die  pantheistische  Verwischung  des  Gegensatzes  vom 
Absolnten  und  dem  Individuum  ist  Schuld  daran,  dass  bei  Hart- 
mann irrthümlicher  Weise  die  „Unsumme  von  Weh  der  Gesammtheit 
der  individuellen  Creatoren**  zur  „Ineinsfassong  im  absoluten  Subject** 
gelangt;  jene  Verwisdiong  dient  hier  dazu,  das  f&hlende  menschliche 
Sabject  mit  dem  Absolnten  zu  identificiren,  d.  L  dieses  letztere  in 
die  menschliche  Individualität  einzutanch^,  an  andern  Orten  aber 
dazUf  das  Absolnte  mit  dem  menschlichen  Subject  zu  identifidren,  d.  i. 
dieses  letztere  zum  Absoluten  anfzubanschen.*) 

Eine  Position  also  des  metaphysischen  Pessimismns  des  Absoluten 
nach  der  andern  erweist  sich  als  unhaltbar:  sowol  das  leere  Wollen, 
als  auch  die  Unendlichkeit  desselben  sind  grundlose  und  widerspmchs- 
Tolle  dogmatische  Behauptungen,  nnd  anderseits  das  Überschreiben 
des  Elends  der  Weltindividuen  anf  das  Conto  des  „absolnten  Subjects** 
ist  eine  rundweg  abzuweisende  ftetaßaütg  ets  aXXo  yivos.  Ich  könnte 
nmi  hier  schon  mit  der  Kritik  schließen  nnd  die  pessimistische  Sitten- 
lehre Hartmanns  in  Folge  meiner  kritischen  Ergebnisse  fOr  ungegrttndet 
erklliren.  Da  indes  immer  noch  behauptet  werden  möchte,  dass  jener 
metaphysische  Pessimismns  des  Absolnten  dennoch  wenigstens  mög- 
lich sei,  indem  eben  die  Einsicht  in'  jenes  metaphysische  Gebiet  höchst 
schwierig  und  daher  mehr  anf  intuitive  Divüiation  abzustellen  wfire, 
so  wird  es  angezeigt  sein,  die  praktische  Seite  dieser  Weltanschauung 

*")  Teil  ITilire  als  Beispiel  aus  Hartmann  folgenden  Satz  an:  „Uiul  das  Wesen, 
•las  all  dies  unonnes>lichi'  Leid  träLrr  und  ihirch  den  tele">litiri''<  lien  Weltprcrcss  iiafh 
Authebnn^r  dieser  nanuiiloseii  riistligkeit  trachtet,  ist  kein  andens  uls  mein  We- 
sen":  man  beachte  hier  auch  das  zweideutig  gebrauchte  Wort  „Wesen". 


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—   612  — 


selbst  ins  Au^e  zu  lassen  und  zu  prüfen,  ob  anf  der  hypothetischen 
metai)liysiNchcn  Basis,  die  dann  auf  puren  Glauben  hin  auge- 
noninien  werden  niiisste,  wenigstens  eine  Sittenlehre  uüt  realisii-bai^em 
Inlialt  zu  gewinnen  ist. 

Bevor  aber  zu  dem  Ende  die  ^lotivationski'aft  sowol  als  auch  die 
Erreichbai'keit  des  aus  dem  metaphysischen  Pessimismus  irewounenen 
sittliclien  Zwecks  zur  directen  Untertersuchnng  )L'"elang't.  gilt  es  noch 
mit  wenigen  \\  oi-ten  die  Mfipliclikeit  einer  Teleologi(^  auf  Hartmanns 
Standpunkt  zu  erörtern,  da  ja  doch  der  reale  Zweck  eine  notiiwen- 
dige  A'nraussetzunir  für  jede  gesunde  Sittenlehre  ist. 

Hart  mann  ist  es  ja  auch  gerade,  welcher  stets  als  bestimmte> 
Postulat  des  sittlichen  Bewusstseins  den  Zweck  und  seine  Realität 
betont;  es  fragt  sich  nun,  ob  er  auf  Grund  seiner  Auffassung  van 
Absoluten  als  dem  Unbewussten  einen  Zweck  annehmen  darf.  Ich  will 
liier  abseilen  von  jenen  in  der  Philos(ij)lne  des  l'nbewussten  prä>eu- 
tirten  sogenannten  iuducliven  Belegen  für  die  gi'oße  „Wahrscheinlich- 
keit der  teleologischen  Weltanschauung",  da  die  „Resultate"  weder 
durch  die  wissensciiaftliche  Methode  inducliver  For.schung  gewonnen 
sind,  noch  auch,  wenn  sie  wissenschaftlich  gesichert  wären,  einen  Beleg 
bilden  würden  für  die  Teleologie  eines  l^nbewussten,  sondern  mu* 
für  die  eines  Absoluten.  Auf  wenige  Bemerkungen  aber  muss  ich 
mich  natürlich  beschränken  und  kann  hier  meine  Bedenken  nur  an- 
deuten. 

Ist  Bewusstsein  die  nothwendige  Voraussetzung  für  die 
Möglichkeit  des  Zwecks?  Die  Beantwortung  dieser  Frage  ent- 
scheidet iiber  die  Hartmannsche  ,. Teleologie  des  Unbewussten''.  Der 
Begriif  des  Zwecks  bezieht  sich  auf  Solches,  was  ich,  indem  ich  es 
vorstelle,  yerwirklichen  will;  stets  bin  ich  mir  dessen,  was  ich 
Zweck  nenne,  bewusst,  streiclie  i'h  dieses  Bewusstsein,  so  streiche 
ich  für  mich  auch  den  Zweck.  Nicht  der  Umstand,  dass  etwas  sich 
als  „vernünftig",  „logisch"  mir  erweist,  und  ebenfalls  nicht  der  Um- 
stand, dass  dieses  Etwas  die  Folge  der  Thätigkeit  eines  Indinduums 
(sei  es  „höherer^  oder  „niederer  Ordnung",  das  bleibt  sich  gleich)  ist, 
berechtig  mich  schon,  dasselbe  als  Zweck  des  thätigen  Individnoms 
zn  behaupten,  sondern  dies  darf  nur  dann  geschehen,  wenn  dasselbe 
vom  Individuum  gewollt,  d.  L  (Hartmann  zwingt  mich  zu  diesem 
Pleonasmus)  bewusst  gewollt  ist  Da  nun  dem  Unbewussten  jedes 
Bewusstsein  einer  Vorstellung  abgesprochen  wird,  so  kann  es  als  thätiges 
picht  ein  Zwecke  verfolgendes  sehi,  wefl  das  Zwecksetzen  das  Be- 
wusstsein voraussetzt.  Hartmann  hat  sich  bekanntlich  durch  die  Be- 


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—   613  — 

hauptung  von  unbewusster  Vorstellung  und  unbewusstem  Willen  des 
„ünbewnssten-*  ans  dem  Gedrünere  ziehen  und  für  das  Unbewusste 
dadurch  den  Zweck  retten  wollen,  aber  die  nüchterne  Wissenschaft 
kann  ihm  hier  nicht  folgen,  und  die  unbewusste  Vorstellung  des 
Absohlten  ist  und  bleibt  gleichwie  das  leere  Wollen  desselben 
eine  leere  Phrase.  Dieses  Kind  Hartmannscher  Phantasie  ohne 
Rückhalt  beim  rechten  Namen  zu  nennen,  ist  um  so  mehr  geboten,  als 
Hart  mann  trotz  aller  gegründeten  wissenschaltlichen  Einwürfe  mit 
seinem  leereu  Wollen  und  seiner  unbewussten  Vorstellung  ungestört 
■weiter  zu  hausiren  wagt. 

In  Wahrheit  bricht  nicht  nur  das  „leere  Wollen*',  sondern  auch 
die  „unbewusste  Vorstellung'*  ein  Loch  ins  Unbewusste,  jenes  mit  dem 
von  Hartmann  selbst  behaupteten  Bewusstsein  des  Unbew^ussten, 
dieses  mit  dem  von  Hartmann  gleichfalls  behaupteten  W'eltzweck,  in 
Folge  dessen  Hartmanu  dem  Unbewussten  consecjuenterweise  auch  das 
Zweckbewusstsein  beilegen  müsste.  Für  Hart  mann  ist  es  auch  wol 
gleichgültig,  wie  \iel  Löcher  sein  Unbewusstes  erhält,  wenn  es  nur  an 
dem  einen  Punkt  dicht  bleibt,  der  das  Verhältnis  von  Wille  und  Vor- 
stellimg  im  Unbewussten,  nämlich  die  Unmöglichkeit  der  „Emancipation" 
der  letzteren  von  dem  ersteren,  berührt.  Wüi*de  aach  an  diesem  Punkte 
ein  Loch  durchgestoßen,  so  mfisste  der  Weltprocess  ein  unvernünf- 
tiger sein.  Nach  Hartmann  nun  ist  im  Unbewussten  die  Vor- 
«tellnng  das  „Weib*',  der  Wille  der  ,,Mann'S  jene  ist  unter  diesen  ge- 
bunden; erst  wenn  Bewusstsein  auftritt,  kann  sich,  wie  Hartmann 
sagt,  die  Vorstellimg  vom  Willen  emancipiren,  ja  denselben  sogar 
nun  Sclaven  machen.  Wäre  im  Absoluten  nicht  nur  steUenweise  Be^ 
wnsstsein,  so  würde  die  Emancipation  der  Voi^stellung  schon  vor  dem 
Weltprocess  vorhanden  sein,  das  Absolute  würde  also  das  leere  Wollen 
direct  zur  Buhe  weisen  können,  ohne  des  durch  den  Weltprocess 
faervorgemfenen  Bewusstseins  der  endlichen  Individuen  zu  bedürfen. 
Der  Weltprocess  würde  aber  dann  auch  freilich  selbst  als  nnvemfinftige, 
nnzweckmäffige,  menschenquälensche  und  selbstquälerische  Institation 
des  Unbewussten  erscheinen.  Wir  müssen,  so  fhigwürdig  uns  andi  jene 
Gebundenheit  derVorBtellnng  unter  den  Willen  im  Absoluten  ersehenen 
mag,  diese  phantastische  Darstellung  des  Verhältnisses  von  „Wille  und 
Vorstellung*^  hier  einmal  einikch  hinnehmen,  um  nun  endlich  die  zweck- 
gesetzte Welt  des  Absoluten  in  Hinblick  auf  die  Sittenlehre  betrachten 
zu  können. 

In  der  Hartmannsehen  Ethik  nimmt  das  Absolute  diejenige  Stelle 
ein,  welche  in  der  Buddhistischen  der  Mensch  inne  hat,  so  weit  es 


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nämlich  das  Wollen  nnd  dessen  Motiv  betrifft;  denn  wie  im  Buddhis- 
mus der  vom  Pessimismus  erfüllte  Mensch  zum  Wollen  motimt  wird 
durch  sein  eigenes  Leid,  so  kommt  das  Absolute  nach  Hartmann  eben- 
falls durch  das  Bewusstsein  seiner  eigenen  absoluten  Qual  zum  Wollen: 

,,Krli)simg  seiner  selbst  aus  dieser  (^iial"  ist  in  beiden  Fällen  der 
Zweck  des  vou  der  (^iial  betroffenen  Wollenden.  Ein  solches  Wollen 
des  „Subjects"  ist  für  eines  Jeden  Verständnis  (dme  Weiteres  durch 
die  Situation  des  Gequälten  hinreichend  bes-ründet,  nnd  wii'  begreifen 
daher  auch  auf  Grund  desselben  bei  Ilartiiianu  den  W'eltprocess  als 
dieses  zweckentsprechende  Wollen  des  Absoluten. 

Dieses  eudä monistische  Motiv  aber  fällt  in  der  Hartniannschen 
Sittenlehre  tVir  das  sittliche  Wollen  des  Menschen  weg.  Der 
empirische  Pessimismus  des  Individuums  soll  ja  nicht  etwa  das  Motiv 
des  W'ollens  abgeben,  sondern  derselbe  ist  nur  ein  Mittel,  um  den 
Menschen  vor  eudämonistischen  Zwecken  zu  warnen  und  von  endänvi- 
nistiscliem  Wollen  zurückzuhalten;  aus  seinem  eigenen  Elendszustaiil 
soll  eben  deshalb  das  sittlich  wollende  Individuum  kein  Motiv  her 
erhalten,  weil  dies  Wollen  nicht  auf  die  Erl(»sung  des  Individuums 
abzweckt.  Und  wenn  es  sich  auch  zeis-t.  dass  der  Einzelne  bei  dem 
von  v.  Hartmanns  Absoluti'm  «^geforderten  sittlichen  Wollen  noch  immer 
das  ».relativ  erträcrlichste  Leben  von  Allen  führt",  obwol  auch 
dieses  ,.weit  entfernt  ist  von  einer  positiven  eudämonistischen Bilanc»'-. 
so  soll  doch  stets  diese  Thatsache  nimmermehr  den  sittlich  Wollen- 
den bestimmen.  An  die  Stelle  des  eig-eneii  Leids  tritt  als  Motiv 
des  mensi'hlichen  sittlichen  Handelns  fürHartmann  der  G  ottesschmerz, 
welcher  bekanntlich  auf  Grund  der  thatsächlichen  Unseligkeit  Gottes 
in  dem  mit  Gott  sich  identisch  Wissenden  entstehen  soll.  Durch 
diese  Wesensidentität  des  Menschen  mit  dem  Unbewussten  erhält  das 
Motiv  des  sittlichen  Handelns,  welches  scheinbai*  außer  allem  Contact 
mit  dem  Individuum  war,  dennoch  die  so  nöthige  individuelle  Basis: 
der  reale  Gottesachmerz  ist  phänomenaler  Eigenschmerz,  dahei  kann 
er  das  Individuum  motiviren  und  die  Erlösung  des  göttlichen  Wesens 
ist  für  dieses  Individuum  die  Erlösung  des  eigenen  Wesens:  ^wie 
sollte  ich",  schreibt  Hartmann,  ,.da  das  Wesen,  welches  all  dies  une^ 
messliche  Leid  trägt,  kein  anderes  als  mein  eigenes  Wesen  ist,  wie 
sollte  ich  da  nicht  Alles  aufbieten,  den  Weltprocess  zu  befördern!" 

Um  diesen  (rottesschmerz  in  sich  zu  tragen,  ist  die  erste  Voraus- 
setzung der  Glaube  an  die  Wesensidentität  des  Ich  mit  (^ott. 
der  sich  zu  dem  Ausspruch  versteigt:  „sofern  ich  Wesen  bin,  bio 
ich  Er  selbst",  und  die  zweite  Voranssetznng  ist  der  Glaube  an 


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die  Unseliirkcit  Uuttes.  <lie  ich,  obwol  ich  als  WV.sen  er  selbst  bin, 
eben  doch  nicht  selbst  erfaiire.  denn  meine  Unlust  ist  nicht  Gottes 
l^nseligkeit ,  und  meine  Unlust  eiialire  ich.  ..sofern  icli  Ki-scheimm^ 
hin**,  und  niclit  sofei-n  ich  Er  selbst  bin.  Indem  icli  aber  den  (iuttes- 
schnierz  liabe,  weili  icli  mich  als  Kr  selbst,  sein  Schmerz  ist  mein 
Schmerz,  und  das  mein  ^\'olleu  Motivirende  in  diesem  Schmerz  ist 
eben  das  l^ewusstsein.  dass  derselbe  mein  Schmerz  ist:  so  kommt  hier 
schließlich  doch  wieder  der  «gleiche  motivirende  Factor  zum  Vor- 
schein, wie  in  den  andern  pessimistischen  Sittenlehren:  nämlich  das 
eis'ene  Leid.  Und  zwar  wird  dieser  Factor  nun  um  so  intensiver 
wirken,  je  persönlicher  das  J^eid  erfasst  wird,  und  um  so  schwächer, 
je  allgemeiner  es  als  Gottesleid  gedacht  wird.  In  dem  Grade  also, 
als  der  makrokosmische  Pessimismus  des  Absoluten  scharf  und 
rein  hingestellt  wird,  schwindet  die  Motivationskraft  des  sittlichen 
Princips,  das  aus  ihm  herausentwickelt  worden  ist,  für  den  Menschen, 
nnd  sie  steigert  sich,  je  mehr  jener  Pessimismus  sich  in  den  makro« 
kosmischen  Pessimismus  des  Individuums  zurückbiegt. 

Aber  noch  ein  Anderes  schwächt  die  Motivationskraft  solchen 
sitüichen  Princips  und  lässt  den  Grottesschmerz  nicht  aufkommen:  dies 
ist  der  widerspruchsvolle  Gedanke  von  der  T^nseligkeit  des  Absoluten 
selbst,  den  ich  im  Vorhergehenden  erörtert  habe.  Das  Denken  sträubt 
sieh  dagegen,  denselben  anzunehmen,  und  ohne  ihn  ist  der  G^ttes- 
schmerz,  dieser  indi>iduelle  Widerschein  des  tiefen  Wehes  des  un- 
seligen Absolnten^^  für  den  Menschen  platterdings  unmöglich. 

Ein  Umstand  aber  ist  es  vornehmlich,  welcher  mich  starke  Be- 
denken gegen  die  Motivationskraft  des  Ton  v.  Hartmann  aufgestellten 
sittlichen  Princips  hegen  liisst:  dass  nAnüich  das  motivirende  Gef&hl 
des  Gottesschmerzes  nicht  ein  unmittelbares,  allen  Menschen  ur- 
sprflngliches,  sondern  aus  wissenschaftlicher  Reflexion  herange- 
zflchtetes  ist,  welches  noch  dazu  am  Widerspruch  des  speculativen 
Phantoms  ersticken  muss.  Insofern  also  ist  das  sittliche  Prindp 
Hartmanns  weder  für  den  gemeinen,  nicht  reflectirenden  Mann  prak- 
tisch, denn  dieser  wird  sagen,  dass  ünseUgkeit  qnd  Gott  mit  einan- 
der sich  nicht  ftir  ihn  reimen  lassen,  noch  ist  dasselbe  f&r  den  wissen- 
schaftlich gebildeten  Mann  praktisch,  da  alle  Anstrengungen  Hartmanns 
nicht  den  logischen  Widerspruch,  welcher  in  der  Lehre  vom  me- 
taphysischen Pessimismus  liegt,  verwischen  können. 

Auf  die  Gebildeten  aber  stellt  ja  offenbar  Hartmann  mit  seiner 
Lehre  ab,  denn  nur  diese  werden  so  weit  in  das  Verständnis  des 
metaphysischen  Pessimismus  des  Absoluten  eindringen  können,  um 


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—   616  — 


ans  ihm  heran«?  von  dem  znr  Sittlichkeit  motivirendeii  Gottesschiiu  rz 
durchdrungen  zu  werden.  Von  dem  empirisclien  ]\^s.<iinisnins 
aber,  der,  wie  Hartmann  meint,  mit  fortschreitender  Entwickhing  immer 
breiter  in  der  Menschheit  sicli  entwickeln  werde,  ist  für  die  l^^ilisirung 
des  von  v.  Hartmann  aufgestellten  sittlichen  Zweckes  etwas  PosiTives 
nicht  zu  erwarten,  derselbe  kann  höchstens  nm*  negative  Dienste 
leisten.  Alle  positive  Hoffnung  für  Haitmanns  Sittenlehre  ist  demnach 
auf  die  Erfassung  des  von  ihm  verti-etenen  metaphysischen  Pessimismus 
des  Absoluten  gestellt;  dieser  aber  setzt  ein  gebildetes,  wissenschaft- 
liches Bewusstsein  voraus,  welches  jedoch  seinerseits  sich  geireniiber 
dem  metaphysischen  Pessimismus  stets  ablehnend  verhalten  muss, 
weil  es  schon  in  dessen  Tsidei'spruchsvollem  Tnlialt  ein  unüberwindliches 
Hindernis  erblickt,  das  praktische  Leben  auf  denselben  zu  gründen. 

Zu  dem  ablehnenden  Verhalten  der  reüectirenden  \'ernunft  gegen- 
über dem  metaphysischen  Pessimismus  und  zu  dem  daraus  resnltiren- 
den  Mangel  an  Motivationskraft  des  aus  jenem  Pessimismus  theoretisch 
entwickelten  sittlichen  Princips  kommt,  um  die  Ablehnung  der  Hart- 
mannschen  Sittenlehre  noch  bestimmter  zu  betonen,  der  Umstand  hinzu, 
dass  die  Erreichbarkeit  des  sittlichen  Zwecks,  welchen  der 
metaphysische  Pessimismus  proclamirt,  für  den  Menschen  uu- 
denkbar  ist. 

Eine  an  jede  Sittenlehre  zu  stellende  Forderung  besteht 
darin,  dass  das  von  dei*selben  ausgesteckte  Ziel  diu-ch  das  sittliche  Streben 
der  Menschheit  erreicht  werden  könne,  d.  h.  dass  es  denkbar  sei, 
den  Zweck  durch  das  menscliliche  Streben  zu  realisiren,  wenn  aach 
die  Realisiniiig  fiberhaupt  nicht  als  Erfahrungsthatsache  vor- 
liegen mag. 

Die  absolute  Trostlosigkeit,  welche  den  Anhänger  des  meta- 
physischen Pessimismus,  wenn  er  auf  das  von  dessen  pessimistischer 
Sittenlehre  dem  menschlichen  Streben  gesteckte  Ziel  schaut,  umschatteii 
wiixl,  mnss  aUe  Thatkraft  lähmen,  ireil  es  eben  undenkbar  ist, 
jenes  Ziel  zu  erreichen. 

Dieses  Ziel  ist  bekanntlich  die  Vernichtimg  des  Wollens,  das  heiAt 
aber  die  Vernichtung  nicht  des  menschlidien,  sondern  des  Wollens  des 
Absoluten.  Eine  solche  Vernichtung  ist  nun  nach  Hartmann  nur  erreich- 
bar auf  Grund  der  Emandpation  der  nVorsteUung**  vom  „WiUoi^, 
d.  h.  also  nur  durch  bewnsste  Wesen,  und  zwar  durch  solche,  walehe 
diesen  Vemichtnngszweck  als  eignen  Lebenszweck  erkannt  und  als 
den  ibrigen  praktisch  aufgenommen  haben.  Setzen  wir  nun  zanichst 
den  FaUf  die  Vernichtung  des  WoUens  des  Absoluten,  und  zwar  sow<d 


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—   Ü17  — 


diejenige  des  ^^erfüllten"  als  die  des  ^leeren**  Wollens,  könne  wirklich 

en  eiclit  werden,  wenn  alle  bewussten  Wesen  der  Welt,  wie  Hartmann 
es  plant,  in  einem  ,.gleichzeiti!ü^en  ^gemeinsamen  Entscliliiss"  der  Willens- 
veiTieinimg  obliegen  und  su  das  Wollen  des  Absoluten  iitterliaupt  in 
seine  ..reine  Potentialitäf •  zurückschleudern;  so  ist  doch  selbst  schon 
(lieser  gemeinsame  Entscliluss  als  realisii'bar  nicht  einmal  denkbar, 
abgesehen  davon,  dass  nicht  zu  begreifen  ist,  wie  „die  menschliche 
Willensverneinung,  dieser  kleine  Ausschnitt  des  Weltwollens,  auch 
niu-  den  gesammteu  actuellen  Weltwillen  ohne  Rest  verneinen'* 
konnte. 

Der  gleichzeitige  gemeinsame  Entschluss  ist  el)en  nicht  denkbar, 
weil  der  Entschluss  selbst  schon  einen  beträchtlichen  Grad  geistiger 
Entwirkluii^r  im  Individuum  voraussetzt;  aber  selbst  wenn  wir  un.s 
aucli  denken  könnten,  dass  bis  zum  letzten  Australneger  und  Eskimo 
herab  einst  die  erwachsene  Menschheit  die  Stufe  der  Entwicklung 
gleichzeitig  einnähme,  so  blieben  die  Kinder  als  ein  Rest  zurück, 
welcher  nicht  hineingerechnet  werden  dürfte,  weil  die  von  der  Ilart- 
mannschen  Sittlichkeit  geforderte  Entwicklung  des  (Teistes  die  persön- 
liche Erfahrung  veraussetzt  und  von  dieser  nicht  unabliängig  gemacht 
werden  kann,  ohne  den  Menschen  und  sein  Wesen  total  zu  ändern: 
diese  Erfahrung  aber  kann  bei  dem  Kinde  noch  nicht  vorhanden  sein. 
Es  wiii'de  also  in  den  Kindern  immer  not  h  (^in  bewusster  actueller 
Wille  an  der  Seite  des  sonstigen  von  Hartmann  angenommenen  unbe- 
wussten  actuellen  ^^'eltwillens  gegenüberstehen  der  Willensverneinung 
der  erwachsenen  „sittlichen''  Menschheit.  Und  selbst  angenommen, 
dass  in  „femer  Zukiuift  die  erwachsene  Menschheit  eine  solche  Menge 
Geist  und  Willen  in  sich  vereinigen  könne,  dass  der  in  der  übrigen 
Welt  thätige  Geist  und  Wille  durch  ersteren  bedeutend  überwogen 
wird",  so  lässt  sich  darauf  doch  nicht  der  Schluss  aufbauen,  dass  die 
Majorität  mit  ihrer  Wiliensvemeinung  die  wiliensbejahende  Minorität 
ZQ  derselbe  Willensvemeinung^)  werde  zwingen  können,  da  wenigstens 
der  unbewnsste  Weltwille  der  Naturdinge  tliesen  Zwang  nicht  er- 
fahi'en  könnte  und  auch  wol  nicht  der  bewusste  Weltwille  der  Kinder. 

Das  der  Menschheit  von  v.  Hart  mann  gesetste  Ziel  ihres  sittlichen 
Strebens  abei-  stößt  noch  auf  weit  größere  und  zwar  undenkbar  zu 
beseitigende  Scliwieiigkeiten.  Selbst  wenn  da^  bewusste  Wollen  der 
den  Willen  verneinenden  erwachsenen  Menschheit  den  gesammten 


*)  Dim  ist  wol  gemarkt  natttrlich  etwas  ganx  anderes  als  die  Veraichtong  der 
individiidleii  Existenz. 

4.  Jüag.  Heft  X.  41 


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—    618  — 


actuellen  Weltwillea  durch  gleichzeitigen  gemeinsamen  Entschluss 
vernichten  könnte,  so  ist  es  doch  undenkbar,  dass  mit  dieser  Vernich- 
timg des  „erfiUlten  Wollens"  des  Absoluten  auch  dessen  ^.leeres 
Wollen"  aufgehoben  sein  würde.  Man  kann  hier  nicht  entgegen- 
halten, dass  ja  das  Unbewusste  nach  Hartmannscher  Auffassung,  wie 
bei  den  Unlustempttudungen  der  Menschheit,  so  auch  beim  bewussten 
Wollen  der  Menschen  als  das  absuliiie  Subject  fuugire  und  daher 
als  das  eij^entliche  Subject  jener  Willensverneinuug  dajs  Wollen  iii)er- 
haupt,  also  mit  dem  erfüllten  auch  das  leei-e  Wollen,  verneine. 
Wie  ich  schon  bei  dem  ,,^^'eltleid•*  das  Unthuuliche  gezeigt  habe,  an 
Stelle  der  Gesaunntheit  der  individuellen  Träger  das  Absolute 
zum  Subject  dieses  Leides  zu  proclamiren,  so  leuchtet  dies  Unthunliche 
für  die  menschheitliche  Willensverneinung  wol  <dine  Weiteres 
ein.  Ich  hätte  schon  damals,  als  ich  das  absolute  Subject  zuriu  kwie^i 
als  möglichen  Träger  aller  Lust  und  Unlust  des  Weltprocesses". 
darauf  hinweisen  können,  dass  das  Absolute  als  I^nbewusstes  vnn 
V.  Hartmaim  gar  nicht  zum  Träger  der  Lust  gemacht  werden  kann, 
ohne  da.ss  er  gegen  seine  eigene  Auffa,ssung  des  Unbewussteii  und 
seine  ?^.rklärung,  dass  die  Lust  das  Bewusstsein  voraussetze.  Fr«»nt 
mache.  Diesen  i)rincij>iellen  Einwand,  der  wieder  recht  klar  die  pan- 
theistische  Vermischung  und  unklare  Verquickung  des  absoluten  und 
menschlichen  „Indinduums"  in  ihrer  ^-anzen  Blöße  ans  Licht  stellt, 
habe  ich  absichtlich  bis  auf  den  SchUiss  meiner  Erörterung  verspart, 
weil  er  iiier  in  seiner  vollen  Berechtigung  noch  zweifelloser  hei-ao:»- 
treten  wird. 

Wie  ich  sch(»n  andeutete,  ließe  .sich  auf  Grund  der  von  der  er- 
wachsenen, gebildeten  Menschheit  in  Scene  ge.^et;cten  bewussten  Ver- 
neinung des  actuellen  Welt  willens  die  Möglichkeit  metaphysischer 
„Willensvemeiiiung"  nur  dann  denken,  wenn  das  Unbewusste  auch  als 
„absolutes  Subject"  jener  Verneinung  angesehen  werden  dürfte.  Ließe 
dich  dieses  denken,  so  bedürfte  es  aber  nicht  einmal  des  gewaltigen^ 
von  Hartmann  heraufbeschworenen  Apparats  des  gleichzeitigen  Ent- 
schlus.ses  der  (resammtheit  der  Gebildeten,  um  die  Vernichtung  des 
WoUens  des  Absoluten  eben  durch  das  wollende  Absolute  möglich  zu 
machen,  es  würde  \ielmehr  schon  ein  einziges,  die  Wiilensvemeinung 
wollendes  bewusstes  Individuum  genfigen,  da  ja  mit  ihm  auch  zugleich 
das  Absolute  jenes  die  Wiilensvemeinung  wollende  Subject  wäre  nnd 
demzufolge  schon  auf  Grund  dieses  einen  Falls  sein  gesammtes  (..er- 
fülltes-' und  „leeres")  Wollen  vernichten  könnte;  auf  ein  Paar  wollende 
Individuen  mehr  oder  weniger  käme  es  doch  hierbei  gar  nicht  an. 


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—  619  — 


Nun  ist  es  aber,  will  anders  Hartmann  seinem  theoretischen  Princip 
des  ünbewussten  treu  bleiben,  für  ihn  i^anz  unmöglich  zu  behaupten, 
dass  das  Unbewusste  das  absolute  Subject  jenes  Wollens  sei,  wenn  das 
,.empinsche"  Subject  Ich  die  Willensverneinung  wolle,  d.  i.  bewusst 
wolle;  denn  das,  worauf  es  fUr  diese  Willeusverneinung  doch  einzig 
und  allein  ankommt,  ist  nicht,  um  Hartmannisch  zu  reden,  das  Wollen 
überhaupt,  sondeni  das  bewusste  Wollen;  das  Bewusstsein  eben 
ist  ja  nach  Hartmann  selbst  die  noth wendige  Bedingung  des  Er- 
lösungs-Wollens;  daher  kaan  also  das  Unbewasste  nicht  das  abso- 
lute Subject  dieses  Wollens  sem,  eben  weil  es  ja  kein  Bewusst- 
sein hat. 

Ist  es  aber  nur  die  Gesammtheit  der  bewussten  gebildeten  Indi- 
Tidoen,  welche  von  einem  gleichzeitigen  Entschluss  der  Willensver- 
nelnmig  erfUlt  sein  können,  und  kann  das  Unbewasste  nicht  als  das 
abaohite  Snbject  dieses  Entschlusses  gedacht  werden,  so  verschwindet 
Jede  Möglichkeit,  anzunehmen,  dass  mit  einer  etwaige  Vernichtung 
des  erffillten  Wollens  durch  die  Mbewussten*'  Menschen  auch  das 
leere  Wollen  des  Absoluten  dahin&Uen  werde. 

Damit  ist  der  volle  Blick  auch  in  die  Trostlosigkeit  der  von 
T.  Hartmann  entwickelten  Sittenlehre  des  metaphysischen 
Pessimismus  eröflhet:  Die  gehoffte  Erlösung  des  Absoluten 
Tom  Wollen  durch  das  bewusste  menschliche  Streben  ist  und 
bleibt  eine  Illusion,  somit  ist  der  Lebenszweck  des  Menschen 
eine  Illusion  und  der  Zweck  des  Weltprocesses  eine  Illusion. 
Denn  das  leere  Wollen  des  Absoluten  würde  sicli,  selbst  wenn  der 
actuelle  Weltwille  auf  die  von  v.  Hartmann  geträumte  Weise  vernichtet 
wäre,  sofort  wieder  der  Vorstellung,  die  ja  im  außerweltlichen  Tnbe- 
bewussten  nie  ^emancipirt"  werden  kann,  bemächtigen  und  ..erfülltes'* 
Wollen ,  d.  i.  W  e  1 1 ,  werden ;  alles  ,.  s  i  1 1 1  i  c  h  e"  8 1  r  e  b  e  n  de  r 
Ulieigennützigen  Menschheit  würde  also  zwecklos,  weil  um- 
Bonst  sein. 

Wenn  aber  diese  Einsicht  gewonnen  ist,  fällt  für  uns  die  ganze 
Grundlage  der  Sittenlehre  Hartmanns  zusammen.  Ich  nehme  hier 
Hartmann  selbst  beim  Wort:  ,.In  einem  Punkte  (was  das  sittliche  Be- 
wnsstsein  der  Menschheit  betrifft  )  daif  man  eine  foi*tschreitende  Klärung 
anerkennen,  in  der  zunehmenden  Deutlichkeit  des  Bewusstseins,  dass, 
wenn  überhaupt  von  einem  göttlichen  oder  absoluten  Willen  und  dessen 
Inhalt  als  metaphysischer  Voraussetzung  des  sittlichen  Bewusstseins 
soll  die  Bede  sein  können,  dass  dann  der  Inhalt  dieses  Willens 
als  ein  logischer,  rationeller,  vernfinftiger  verstanden  weiden 

41* 


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—   620  — 


mttsse,  dass  aber  ein  Wille  mit  veruünltigein  Inhalt  oder  eine  i»rak- 
tisch  sich  äiißei'nde  logische  Idee  nur  als  Zweck  betrachtet  werden 
müsse."  Ich  neliiue  Hartmaim  beim  \\'ort  und  erkläre,  dass,  da  jener 
W'eltzweck,  welcher  die  absolute  Willensvenieinung  im  Auge  hat,  sidi 
als  baare  Illusion  dem  logischen  Denken  erweist,  nicht  vom  \\'illen 
des  Absoluten  gesetzt  sein  kann,  %veil  eben  jener  Zweck  unveinünf- 
tig,  alogisch,  irrationell  ist,  und  dass,  wenn  anders  das  Absolute 
das  Attribut  des  Logischen  soll  behalten  können,  die  Welt  und  ihr 
Process  einen  anderen  Zweck  und  demgemäß  auch  der  Mensch 
einen  anderen  Lebenszweck  als  denjenigen  dei*  Erlösung  des  Ab- 
soluten vom  \^'ollen,  zuerkannt  bekonunen  muss. 

\\'ii-  sind  mit  der  Untersuchung  der  Grundlegung  der  Hartmann- 
schen  Sittenlehre  zu  Ende;  das  Wahre  und  Bleibende,  welches  in  ihr 
enthalten  ist,  liegt  in  der  Begründung  des  Lebenszwecks  des 
Meu seilen  im  Absoluten,  in  Gott,  eine  Begründung,  die  es  eben 
Hartmann  trotz  allem  Pessimismus  dennoch  möglich  machte,  ein 
positives  ethisches  Princip  aufzustellen.  Wenn  sich  aber  tüi' 
Hartmann  trotzdem,  dass  dieses  Positive  nun  dem  Menschen  jeden  Ge- 
danken an  Selbst  Verneinung,  an  Selbstmord,  wie  er  aus  dem 
begleitenden  empirischen  Pessimismus  resiiltiren  könnte,  rundweg 
abschneidet,  als  Ziel  des  rastlosen  Strebens  der  ^len.'^cliheit  der 
Weltmord  aiit'tlmt,  so  hat  dies  wiedemm  seinen  Grund  in  jenem,  dem 
Absoluten  selbst  angedichteten  Pessimismus,  welcher  letztere 
jedoch  freilich  der  wissenschaftlichen  Kritik  keinen  Berechtigungs- 
schein vorzuweisen  vermag.  —  Die  Verwerthung  des  empirischen  Pes- 
simismns  aber  durch  Hartmann  in  der  Sittenlehre  wird  im  ITolgeudeu 
noch  zu  näherer  Untersttchung  kommen. 

(FortsetBung  folgt.) 


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Eine  geHeinsave  Mittelsclmle. 

Vm  Th,  Vemaieken-€has. 

In  der  Berathungscommission  für  Älittelschulen,  die  in  Wien  tagt, 
wird  es  sich  wol  nicht  blos  dsmm  bandeln,  dem  einen  Fache  weniger, 
dem  andern  mehr  Stunden  znznweisen.  Unsere  Zeit  yerlmigt  eine 
gründliche  Umgestaltung  beidei*  Mittelschoien  (Gymnasiam  und  Real- 
schule); sie  verlangt,  kurz  gesagt,  Vereinigung  beider  Anstalten 
in  Eine  (schon  ans  öconomischen  Gründen),  und  A.ussc1ieidung  alles 
dessen,  was  die  Schüler  minöthigerweise  belastet  Schon  die  neuen 
technischen  Hochschulen  ^veisen  darauf  hin,  dass  das  Verhältnis  der 
Stände  ein  anderes  geworden.  A\'ir  wissen  anch,  dass  Naturwissen- 
schaft und  Volkswirtschaft  die  Signatur  nnserer  Zeit  ist,  und  diese 
muss  auch  von  der  Schule  beachtet  werden,  aber  ohne  Benachtheili- 
fung  der  allgemein  menschheitUchen  Bildungselemente. 

Es  sind  darüber  in  den  letzten  Jahren  viele  Zeitungsartikel  und 
ganze  Broschfiren  geschrieben  worden.  Namentlich  erinnere  ich  an 
die  Fragen  ftber  Zulassung  der  BealschQler  zum  medicinischenStudinnit 
über  die  Art  und  Weise  der  ReifeprOfängen  und  ftber  die  zu  lehrenden 
Sprachen.  Wir  wollen  das  alles  hier  nicht  wiederholen;  die  darüber 
zu  Bathe  sitzen,  werden  es  gelesen  haben,  namentlich  die  Broschüre 
von  Emil  Du  Bois-Beymond  über  ,,Onlturgeschichte  und  Naturwissen- 
schaft^. Dieser  Mann  geht  historisch  "zu  Werke  und  beweist,  dass 
der  Geist  des  Gymnasiums  nicht  gehörig  Schritt  gehalten  mit  der 
Entwicklung  des  modernen  Geistes  der  Menschheit  Dies  veranlasste 
die  Errichtung  von  Realschulen,  die  wiederum  eine  andere  Gklhhr  in 
sich  bergen  und  hie  und  da  im  Abnehmen  begriffen  süid.  „Sobald 
das  Gymnasium  —  sagt  Beymond  mit  neuem  Geiste  sich  tränkt 
und  geeignete  Vorbildung  auch  solchen  gewährt,  welche  andern  als 
Gelsteswissensdiaften  fsich  widmen,  wird  jene  Nebenbuhlerschaft  von 
selber  aufhören.  Die  viel  erörterte  Frage  nach  Zulassung  der  Beal- 
«chul-Abiturienten  zu  Facnltätsstudien  wäre  dadurch  aus  der  Welt 
geschafft,  dass  die  Realschule  auf  das  ursprünglich  ihr  zugedachte 


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—   622  — 

• 

Maß  eiller  in  ihrem  Kreise  selir  nützliclien  Gewerbe.scliule  zui-tick- 
giuge.''  Keymond  ^vinlscllt  auch,  (hiss  die  furniale  Beschält ijuimi,^  mit 
(lern  (Triecliisclieii  eingeschränkt  werde,  ebenso  die  unersi)neßliche 
BeliaiuUuiig  der  bürgerlichen  Parteikämpfe  in  der  (Teschichte.  Auch 
sa«:eii  liundei  le  von  Schlümännern  mit  ihm:  ..Kein  e:nechisclies  Scriptum 
meiirl"  aber  Eintiiliriing  in  den  Geist  des  Altertliums  und  iiielir  Leetüre, 
auch  größere  Berücksichtigung  der  Culturgeschichte  und  weniger  natur- 
wissensdiat'tliche  Specialitäten,  die  der  Hochschule  und  den  Fachschulen 
vorgreifen.  Übergreifende  Fachprofessoren  haben  der  ünterrichts- 
harmonie  am  meisten  geschadet,  dakei*  die  „ÜberbürduBg'*  oud  geistige 
Abschwächung. 

Es  ist  wol  des  Versuclies  wert,  die  Gnmdzüge  zu  zeichnen  zu 
einer  ungetrennten  Mittelschule,  zu  einer  solclien  Anstalt,  die  für 
alle  Arten  der  Hochschule  vorbereitet.  Daneben  müssen  natürlich 
bestehen:  Berufsschulen,  namentlicli  Lehrerbiklungsanstalten,  höhere 
Gewerbe-,  Handels-  und  Kunstgewerbescliulen  (vergl.  Dumreichers 
Schrift  ..Über  die  üntemchtspolitik")»  Letztere  Anstalt^  wären 
äbei^all  den  localen  Bedürfiiissen  anzupassen  und  nicht  —  wie  das  bei 
den  österr.  Bealscholen  geschehen  ist  —  über  einen  Leisten  zn 
schlagen. 

1.  In  einem  solchen  Sclassigen  Kealgynuiasilim  gehen  Deutsch 
und  Latein,  Mathematik  and  Zeichnen  stufenweise  dnrch  alle 

Olassen. 

2.  In  den  unteren  (  lassen  Naturbeschreibung,  Geographie 
nnd  Erzählungen  aus  der  Geschichte;  in  den  mittleren  und  oberen 
Classen  allgemeine  Erdkunde  in  der  organischen  Zusamroen&ssimg 
wie  in  dem  I^eitfaden  von  Hann,  Hochstetter  und  Pokomy  (astrono- 
mische und  physikalische  Geographie,  Greologie,  Biologie). 

In  den  beiden  obem  CUssen:  Cnltnrgeschichte  mit  EinscMoss  der 
ReUgionsgeschichte.  Ein  confessioneller  Beligionsonterricht  ist  Frirat- 
sache  der  betreffenden  Kirchengemehiden,  dagegen  mnss  für  Gesangs- 
unterricht Gelegenheit  in  der  Anstalt  geboten  werden,  wie  auch  f&r 
körperliche  Übungen. 

3.  Deutsche  LectQre:  In  den  untern  Classai  Episches  ans  der 
deutschen  und  griechischen  Dichtung.  Vortragaftbungen.  In  den  mitt- 
lem und  obem  Classen  Übersetzte  Proben  ans  griechischen  und  latei- 
nischen CUssikem,  mittelhoehdeutsche  Dichtungen  mit  ErUämngen, 
neuhochdeutsche  OUssiker,  endlich  eine  Übersicht  Über  den  Ent- 
wicklungsgang der  deutschen  Literatur  und  das  Wiclitigste  ans  der 
griechischen  und  germanischen  Mythologie 


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—   623  — 


Lateinische  Lectüie:  Ausgewählte  Stiicke  aus  dtu  Classikern 
der  Römer;  Schulausgaben  lateinisclier  Scliriftsteller. 

Als  Seiteustück  eine  deutsche  und  eine  lateinische  Grammatik 
für  die  ganze  Anstalt,  mit  möglichst  gleicher  Terminologie. 

4  Stilttbttngeii:  Für  die  untem  Classen  Ubersetzungen  aus  dem 
Latein,  in  den  mittlem  Referate  über  Hauslectüre  u.  a.;  in  den  obem 
Classen  selbständigere  Aufsätze  concreter  Art.  In  Betreff  der  latei- 
nischen Stilübungen  adhuc  sab  judice  Iis  est. 

5.  Während  der  Eintritt  in  die  Berufsschulen  erst  nach  den 
Volkssdumahren  stattfindet,  gescMdit  die  Aufiiahme  in  unsere  Mittel- 
sehale  nach  vollendetem  10.  LebeniEjahre,  und  die  Knaben  haben  noch 
2  Jahre  hindurch  nur  Chissenlehrer,  nicht  Fachldirer.  Nach  Ahsol- 
Tinmg  von  4  Classen  wird  sich  eine  Anzahl  den  genannten  Bemfe- 
fldnden  zuwendoi,  bei  andern  zeigt  sich  die  Neigung  entweder  f&r  die 
sogenannte  humanistische  oder  ihr  die  technisch-industrielle  Laufbahn, 
und  diesem  Umstände  soll  das  Bealgymnaamm  Bechnung  tragen.  Hier 
mögen  sich  die  Wege  scheiden,  aber  nur  bezüglich  der  sprachlichen 
Vorbereitung  Üb*  die  zwd  verschiedenen  Hochschulen:  die  technische 
und  die  humanistisch-gelehrte.  Demgemäß  wählen  die  Schüler  in  den 
4  obern  Classen  bezüglich  der  Sprachen  den  einen  oder  den  andern 
Weg.  Der  lateinische  und  der  vorbereitende  Sachunterricht  bleibt 
allen  iremeinsam.  Wir  haben  alsdann  eine  Schülerabtheilung  fiir  die 
griechi.sche  Sprache  und  eine  andere  für  eine  der  neuern  Cultur- 
sprachen,  d.  h.  entweder  Franzüsiscli,  oder  Englisch,  oder  Italienisch, 
alter  mit  einer  so  ausgibigen  Stundenzalil,  dass  in  den  4  Jahren  der 
.Spraclizweck  erreicht  wii*d.  Stndirende  der  Pliilulogie  und  Theologie, 
auch  wol  Historiker  müssen  das  Grieeliische  an  der  Universität  fort- 
setzen, wie  auch  künftige  Lehrer  der  modernen  Sprachen  weitere 
Fachstudien  zu  machen  haben.  Die  Mittelschule  hat  nur  voi-zubereiten, 
and  im  letzten  Semester  sollte  statt  der  problematischen  Propädeutik 
«ine  encyklopädische  Übersicht  über  alle  Gebiete  der  Wissen scliaften 
gegeben  werden,  damit  die  Jünglinge  nicht  rathlos  die  Hochschulen 
betreten. 

6.  Es  handelt  sich  nun  noch  um  die  Legitimation  zum  Eintritt 
in  die  akademischen  Hallen,  um  die  Beifeprüfung.  Man  sollte 
denken,  wer  in  die  7.  und  8.  Classe  vorbereitet  aufgestiegen  ist,  könne 
anch  mit  genOgendem  Abgangszeugnisse  aus  der  letzten  Classe  ohne 
weiteres  zum  Facnltätsstudium  zugelassen  werden.  Die  Staatsbehörde 
sdiemt  aber  einer  Art  Controle  f&r  die  Leistungen  der  Anstalt  zu 
bedtbrfen,  und  zu  dem  Zwecke  wird  ein  Damoklesschwert  aufgeh&ngt, 


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—   624  — 


welches  den  Schiilern  mehr  drohet  als  den  Lehrern.  Seit  Jahren  ist 
darüber  geschrieben  worden,  und  wii*  wollen  auch  unsere  unmaßgeb- 
liche Meinung  nicht  zurückhalten. 

Wie  prüft  man  die  Reife?  Darauf  kommt  alles  an.  Wiv  niiisseii 
sagen:  Die  Beantwortung  liegt  guteiithfils  sehnn  in  den  Lei>tiuigeu 
der  letzten  Scluiljalire,  und  will  man  das  Urtheil  über  die  Reife  ver- 
vollständigen, so  möge  man  die  bereits  ins  Auge  gefassten  Wege  der 
Abiturienten  berücksichtigen,  da  2  Monate  vorher  jeder  schon  sich 
für  irgend  eine  Richtung  entschlossen  hat.  Man  kann  doch  nicht  den 
kiiutligen  Juristen  und  den  künftigen  rhemiker  oder  Ingenieur  über 
den  gleichen  Kamm  scheeren.  Die  allgemeine  Vorbildung  haben  sie 
gewonnen  und  nun  soll  die  Ix- sondere  Befähigung  für  diesi-n  oder 
jenen  BtTuf  endgültig  bezeugt  werden.  Darum  treten  die  Abitui'it^nTen 
grnpiieiiweise  an  den  giiim-n  Tisdi.  Es  wäre  aber  eine  wahre  Tortui-. 
wollte  man  blos  auf  das  Gedächtniswerk  ein  (rewicht  legen,  wie  es 
zu  einer  Zeit  «reschah.  da  fast  alle  Fäciier  aluiepiiift  wurden.  Das 
richtigste  ist:  P'ach-]\Iaturität.  Fiii-  den  künttii^en  Mediciner  z.  B. 
nur  Naturwissenschaftliches,  Mathematik,  Latein;  für  den  künftigen 
Juristen  Latein  und  Geschichte,  für  den  Philoloiren  die  alten  S]ira<"hen 
und  Geschichte.  In  iihnli(-her  Weise  Beschränkuni^  auf  gewisse  Prüfungs- 
fächer auch  für  die  technischen  Richtungen.  Das  Nähere  wäre  Auf- 
gabe einer  Maturitätsverordnung,  \\elche  die  bisherige  ergänzt. 

7.  Schließlich  noch  Folgendes. 

Wii*  haben  bei  obigen  Bemerkungen  nur  diejenigen  Mittelschulen 
im  Auge  gehabt,  wo  eine  Cultursprache  zugleich  Unterrichtssprache  ist. 
In  polyglotten  Staaten  kann  eine  zweite  Volkssprache  wol  in  der  all- 
gemeinen Volksschule  in  Anwendung  kommen,  selbst  wenn  das  Idiom 
noch  unentwickelt  ist,  nicht  aber  an  ^klittel-  und  Hochschulen,  wo  es 
sich  nm  wissenschaftliche  Ausbildung  handelt.  Wo  die  Wrnunft 
populflr  geworden  ist,  da  hat  eine  zweite  Unterrichtssprache  keinen 
Platz,  es  sei  denn,  dass  sie  eine  Sprache  mit  reicher  wissenschaftlicher 
und  poetischer  Literatur  ist.  Unentwickelte  Sprachen  oder  Volks- 
(lialecte.  wie  z.  B.  schwäbisch,  friaulisch,  slovemsch  nnd  selbst  tsche- 
chisch haben  keine  Berechtigung  für  einen  höheren  wissenschaftlichen 
Unterricht,  wie  ja  auch  nicht  jede  Holzart  zu  allen  Arbeiten  geeignet  ist 

Diese  nnvorgreiflichen  Gedanken  eines  alten  Schulmannes  dürften 
wol  manchem  nicht  zusagen.  Ich  werde  indes  mit  niemandem  darüber 
rechten  nnd  ihn  nicht  aufhalten  auf  seinem  betretenen  Pfade.  Vielleicht 
habe  ich  manches  im  Namen  gebildeter  Nicbtschulmänner  gesprochen, 
deren  Wttnsche  man  bei  Beformen  in  der  Regel  gänzlich  ignorirt 


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Wie  wir  unsere  Schulkinder  zum  Lesen  der  Landkarten 

anleiten  ni$chten. 

Von  Johann  JFreibefget^WeUerrfdd, 

So  mancher  fremidliehe  Leaer  dieser  Zeilen  erinnert  sich  vielleicht 
noch  ans  semer  Studienzeit  an  die  schweren  Sorgen,  welche  ihm  da- 
Duds  Glehns  nnd  Landkarte  yerursachten.  ünd  doch  hatte  er  wol 
einen  liebevollen,  methodisch  geschulten  Lehrer.  Heute  wird  Geo- 
graphie bekanntlich  nicht  blos  sn  lOttel-  nnd  Hochschulen,  sondern 
auch  an  Volks-  nnd  Bfirgersehnlen  gelehrt  Sind  nunmehr  jene  Sorgen 
überwunden,  ist  hente  die  Einf&hrung  eines  Kindes  in  das  VerstündTiis 
einer  fertigren  Landkarte  eine  pädag-ocnsche  Spielerei  oder  ein  Pr(»l)l( m? 
Fragen  wir  hierüber  erfahrene  Schuliiiaiiner  in  Stadt  und  Land,  priilen 
wii*  gelej^'entlicli  die  Unterrichtsergebnisse  in  diesem  Genre  bei  einem 
Lehrer,  der  für  Geogi-aphie  eine  gewisse  Vorliebe  hegt,  prüfen  wir 
nach  redlicher  Arbeit  den  eigenen  Unterrichtsettect !  Wir  werden 
Schüler  treffen,  welche  sich  nacli  längerer  Untemchtszeit  noch  wenig 
oder  gar  nicht  auf  der  Landkarte  orientii'en  krmnen.  und  andere 
Werden  uns  auf  unsere  Fragen  guten  Bescheid  geben.  Doch  wir  sind 
damit  nicht  zufrieden.  Wir  wollen  einmal  sehen,  was  denn  den  geo- 
graphischen Antworten  unserer  bestunterrichteten  Kinder  in  tiefster 
Seele  für  Vorsteilungen  zu  Grunde  liegen,  welche  psychischen  Kräfte 
diese  Vorstellungen  repräsentiren.  Eine  solche  Wissbegierde  ist  Recht 
nnd  Pflicht  fiir  jeden  Lehrer,  der  nicht  auf  äußern  Glanzetfect,  sondern 
auf  innerliche  Erziehung  seiner  Schüler  lossteuert.  Ein  Beispiel  möge 
onsere  Intentionen  verdeutlichen.  Es  steht  ein  Schulkind  an  der 
Karte  von  Österreich-Ungarn.  Dasselbe  zeigt  uns  auf  unsere  Fragen 
KiederOsterreich,  sein  Heimatland.  Es  findet  mit  Leiditigkeit  die 
Donau,  den  Ifanharteberg,  den  Wiener  Wald,  sowie  die  wichtigsten 
Orte  in  Niederiteterreich.  Nun  interessirt  uns  noch  zu  erfthren,  was 
task  das  Kind  denn  eigentlich  unter  dem  kleinen  Stftckchen  Leinwand, 
das  da  fiurbig  begrenzt  ist  nnd  Niederdsterreich  heißt,  denkt,  wir 
wollen  hOren,  welches  BUd  in  der  kindlichen  Seele  von  der  Donan, 


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—   626  — 


von  der  Stadt  W  ieii  und  vun  andern  Orten  vorhanden  ist.  Was  be- 
kommen wir  vom  kleinen  Dor^eographen  für  eine  Antwort?  In  vielen 
Fällen  keine,  in  andern  Fällen  hören  wir,  die  Donau  ist  ein  Fluß 
und  Wien  ist  eine  <,n-oße  Stüdt^  ist  die  Hauptstadt  des  Landes.  Wenn 
nur  der  kleine  Dorffreopri-aph  schon  je  in  seinem  Leben  einen  Fluß 
oder  eine  große  Stadt  gesehen  hätte!  Er  hat  aber  davon  weder  etwa« 
in  natura,  noch  im  Bilde  gesehen.  Ein  Vergleich  in  Worten  durch 
den  Lehrer  ktinnte  allerdings  manclies  ersetzen,  aber  was  ist  z.  B. 
ein  kleiner  Schulort  mit  öU  Strohhütten  und  die  Großstadt  Wien,  was 
ist  der  im  Sommer  vertrocknete  Bach  der  Heimat  und  der  mächtige 
Donaustrom  mit  seinen  Dampf-  und  Kauffahrteischiffen!  Jeder  Lehrer 
tüldt  hier  eine  Lücke  in  den  geographischen  Lehrmitteln  und  er  fühlt 
dieselbe  doppelt,  wenn  sich  im  fortschreitenden  Unterrichte  immer 
mehr  herausstellt,  wie  sehr  die  Schüler  dazu  indiniren,  das  Lesen 
einer  Landkarte  zu  mechanisii-en  und  statt  menschlicher  Wohnorte 
inhaltleere  Ringelchen  oder  Namen,  statt  belebter  Handelsstraßen  far- 
bige Linien,  statt  Ländern  bunt  bemalte  Papier-  odei'  Leinwandstreifen 
von  der  Karte  herunter  zu  lesen. 

Und  ein  Weiteres  kommt  hinzu.  Wenn  auch  der  Lelirer  an  einer 
Dorfschule  zuerst  mit  seinen  Kindern  den  heimischen  Schnlort  und 
dessen  Umgebung  in  Wii'klichkeit  betrachtet  hat,  wenn  er  auch  diesen 
Schnloit  und  seine  Umgebung  durch  einfache  Mittel  graphisch  dar* 
gestellt  und  die  SchiUer  darstellen  gelehrt  hat,  wenn  er  femer  im 
Geiste  mit  Ihnen  Ausflüge  in  die  entferntere  Umgebung  des  Schul- 
ortes unternommen  hat,  so  stehen  sie  doch  vor  der  ersten,  fertigen 
Landkai  te,  etwa  vor  der  Bezirkskarte,  rathlos  und  wissen  sich  lange 
darauf  nicht  zurecht  zu  finden.  Der  Vorwurf^  manche  unserer  Schul- 
wandkai'ten  seien  zn  detaillirt  tur  Mementarschüler,  trifft  nicht  alle; 
denn  wir  haben  heute  wirklich  gute,  brauchbare  Wandkai-ten.  Wir 
geben  zu,  dass  es  nothwendig  sei,  Kindern  kleine  Bilder  der  wiiklidien 
Welt  zuerst  vorzufahren,  ihre  AntheOnahme  Ittr  dieselben  zu  wedcen 
und  sie  dann  diese  geographischen  Bilder  graphisch  darstellen  und 
auf  einer  fertigen  Landkarte  anfSmchen  zn  lehren.  Der  Lehrer  kann 
nicht  laut  genug  betonen,  dass  die  Landkarte  nur  ein  Abklatedi  der 
Wirklichkeit  sei,  nur  eSm  Photographie,  die  Erde  im  verkleineorten 
Hafistabe.  Das  Alles  abei'  sind  Vorstellungen,  die  dem  kindlichen 
Geiste  mehr  autgedrungen  werden,  als  natOrUch  entkefanen,  und  die 
Eindesseele  reagirt  dagegen  und  sieht  dann  leider  nur  zn  hftofig  in 
der  Landkarte  —  Papier  nnd  Farben,  schön  zwar  auf  den  ersten 
Anblick,  aber  widerwärtig  wegen  so  mancher  schwer  zu  meritender 


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Namen,  die  dabei  stehen.  Und  mag  auch  das  bestritten  werden,  so 
steht  doch  Eines  fest:  die  erste  Einlülirung  in  das  Verständnis  einer 
fertigen  Landkarte  macht  dem  Lelirer  wie  den  Scliiilern  enorme  Schwie- 
rigkeiten. Es  vergehen  ^^'ocllen  und  Monate,  bis  die  rudimentärsten 
Dinge  begriffen  werden,  und  es  herrscht  hiebei  nicht  jene  warme, 
freudige  Antheihiahme  am  Unterrichte,  wie  man  sie  sonst  oft  findet. 
Das  allein  ist  uns  Fingerzeig  genug,  um  in  unserm  Bemühen 
etwas  Unvollkommenes  zu  finden.  Lieg^  diese  Unvollkomraenheit  in 
der  subjectiven  Methode,  oder  in  den  objectiven  Lehrmitteln?  Als 
subjective  Methode  liaben  wir  jene  angedeutet,  welche  unter  dem 
Namen  Heimatkunde  längst  erprobt  und  gesetzlich  eingeführt  ist 
Wir  konnten  hier  nnr  von  größeren  Lehrera  lernen,  an  deren  Ver- 
fahren es  nichts  zu  bemäkeln  gibt.  Das  Unvollkommene  unseres 
Unterrichtseffectes  kann  daher  nur  in  den  Lehrmitteln  liegen  und  in 
ihrem  Verhältnisse  zur  natürlichen  Geistesart  des  Kindes. 

Die  moderae  Landkai*te  fällt  einem  Kinde  lange  Zeit  zn  lesen 
schwer.  Wer  wollte  diese  Thatsache  leugnen!  So  fiUlt  es  einem 
modernen  Gelehrten  schwer,  die  mannigfiichen  Abkürzungen  der  demo- 
tischen  oder  phonetischen  Hieroglyphenschrift  Altilgyptens  zn  lesen, 
wfihrend  die  nodi  weit  ältere  Bilderschrift  desselben  Volkes  yerständ- 
Meher  erscheint  Ein  mäßig  gebildeter  Hensdi,  dessen  EriSgdimngen 
reich,  aber  mehr  auf  bestimmte  oonerete  Dinge  gerichtet  sind,  liest 
sich  nnr  schwer  in  die  abstracte  Sprache  der  Philosophen  hinein,  die 
mit  ihrer  Ausdincksweise  oft  eine  Reihe  von  Denkproceasen  um- 
spannen, welche  sich  in  jenem  minder  gebildeten  Menschen  noch  nicht 
vollzogen  haben.  Ganz  ähnlich  verhält  mk  die  moderne  Landkarte 
zum  kindlichen  Denken.  Die  moderne  Landkarte  versinnlicht  Wohn- 
orte durch  kleme  Kreise  oder  Bingelchen.  Besteht  zwischen  diesen 
Bingelchen  und  dem  wirklichen  Wohnorte  eine,  auch  für  das  Kindes- 
auge wahrnehmbare  Ähnlichkeit?  Wenn  eine  Ähnlichkeit  aber  nicht 
emmal  mikroskopisch  wahrgenommen  werden  kann,  warum  wählte  man 
-  zur  Darstellung  von  Orten  gerade  diese  Zeichen?  Die  Wahl  beruht 
auf  der  Beobachtung  der  Wissenschaft,  dass  die  meisten,  ja  alle 
menschlichen  Ansiedlungen  sich  um  einen  realen  oder  idealen  Mittel- 
punkt gl  uppiren,  mag  dieser  nnn  dne  Burg,  ein  Berg  oder  was  immer 
sein.  Um  einen  solchen  Mittelpunkt  lagern  sich  die  Häuser  aller 
Ortschaften,  wie  die  Peripherie  oder  Fläche  eines  Kreises  sich  um  den 
Kreismittdpunkt  ausbreitet  Die  geographische  Wissenschaft  wählte 
daher  sdur  bezeichnend  f&r  Ortschaftsdarstellungen  kleine  Ringe.  Ein 
8— 10 jähriges  Küid  aber  hat  jene  Beobachtung,  Vergleichung  und 


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Schlnssfolqreruiig  nocli  nicht  machen  können.  Es  kann  ihm  nur  das 
Endergebnis  niitgetheilt  werden.  Damit  dieses  aber  nicht  den  psy- 
cliohjgischen  Charakter,  respective  Unwert  eines  aufgednin^enen 
Dogmas  erhält,  sollte  man  dem  Kinde  das  abstracte  Symbol  der  Land- 
karte zuvor  kindlich  nahe  legen. 

Ein  Weiteres  kommt  hinzu.  Die  moderne  Landkarte  stellt  die 
Bodenplastik  eines  Landes  mit  wunderbarer  Genauigkeit  dar.  Die 
Gtebirgsländei'  sind  zwar  grau  in  grau  schattirt,  allein  der  geübte 
Leser  weiß  genau  aus  der  Zeichnung  die  Form  der  Gebirgszüge,  ihre 
Kämme,  Abdachung,  Thäler,  Gipfel,  Höhe  u.  dgl.  zu  bestimmen.  Und 
doch  finden  Kinder  gerade  auf  orographischen  Karten  sich  so  schwer 
znrecht,  selbst  dann,  wenn  die  Schnlkarte  möglichst  wenig  ins  Detaü 
geht  und  flhersichtHcfa  gehalten  ist  Woher  kommt  das?  Kinder  sehen 
im  Leben  ein  Terrain  selten  ans  der  Vogelperspectiye,  wie  der  Oeo- 
gn^h,  sondern  meist  vom  engen  Kreise  ihres  kindlichen  Lebens  ans. 
Kinder  sehen  an  einem  Bodenrelief  weniger  die  Form,  als  den  ober- 
flftchlichen  Inhalt,  sie  sehen  Wald  nnd  Feld  mit  ihren  bunten  Bhunen 
und  Schmetterlingen,  den  Flnss  oder  Bach  mit  der  klappernden  Mflhle, 
oder  den  Fische  nnd  Vögeln  daselbst  All  das  ist  für  ein  Kind 
wesentlich,  für  den  Geographen  zuiftUig.  Man  begreift  die  Kluft 
zwischen  dem  Vorstellen  eines  Kindes  und  jenem  eines  modenien  Land- 
kartenzeichnei-s.  Das  Kind  ist  Kind,  der  Kartenzeichner  Philosoph. 
Damit  beide  sich  leicht  nnd  freudig  verständigen  können,  müssen  sich 
für  den  Anfang  wenigstens  beide  in  ihrem  Denken  entgegen  gehen: 
mit  andern  Worten,  nuiss  ein  Lelirmittel  geschaffen  werden,  das  die 
geschilderte  Kluft  überbrückt. 

Welches  dies  sei,  darüber  kann  man  verschiedener  Meinung  sein. 
Dass  Anschauungstafeln,  geographisclie  Bilderalben  bei  Kindern  sehr 
instructiv  seien,  ist  bekannt.  Für  unsere  Zwecke  aber  scheint  ein 
Ausweg  sehr  empfehlenswert.  .\uf  vielen  älteren  Landkarten  sind 
die  Berge  so  gezeichnet,  dass  sie  jedes  Kind  auf  den  ersten  Blick  als 
Berge  erkennt.  Auf  denselben  sieht -man  Bäume,  Felder  u.  a.  m. 
Auf  dem  Flusse  schwimmt  der  Kahn,  am  Bache  steht  die  Mühle,  die 
Ortschaften  sind  auf  älteren  Landkarten  nach  ihrer  Lage  zu  einander 
einge  tragen,  aber  nicht  durch  abstracte  Bingelchen,  sondern  als  kleine 
Bildchen  mit  ein  paar  Häusern,  einem  Schlosse  oder  Kirchlein  in 
der  Mitte. 

Diese  Kartenbilder  sind  natflrlich  sehr  en  miniatnre  gehalteOt 
enthalten  yieles  nicht,  was  auf  unsem  modernen  Landkarten  sich 
findet  und  haben  noch  andere  Schwächen.  Ein  grdBeres  Terrain  Iftsst 


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sich  in  Form  einer  Sc-liulwandkaite  schwer  in  diesem  ^Faßstabe  aiif- 
trajren.  Allein  dies  lliut  nichts  zur  Suche.  r)ie  Fehler  konnten  zum 
Tljeile  verniie<len  werden;  ist  ein  größeres  Terrain  niclit  zeiclipn))ar 
für  Schulzwecke,  gut,  so  begnüge  mau  sich  mit  kleineren  Abschnitten. 
Wir  Wüllen  ja  nicht  alle  Scjuükarten  in  diesem  Genre  eingeriditet, 
sondern  nur  die  ei-ste,  lertige  Landkarte,  die  nicht  von  Lehrers-, 
sondern  von  fremder  Hand  einem  Kinde  vorgelegt  wird,  und  die  es 
zur  baldifren  T^cctiire  einer  modernen  Landkarte  befähigen  soll.  Eine 
Kalte,  wie  sie  uns  vorschwebt,  hätte  für  ein  Kind  folgenden  Wert: 
die  kleinen  Ortschaftsbilder  mit  den  dazwischen  gezeichneten  Bergen, 
Bächen  u.  dgl.  würden  dem  Kinde  in  natürlicher,  ungezwungener 
Weise  nahe  legen:  die  Landkarte  ist  ein  Bild  der  wirklichen  Erd- 
oberfläche. Des  Kindes  Phantasie  würde  durch  die  kleinen  Ortschafte- 
bildcheu  mit  den  Schlössern  oder  Kirchen  in  der  Mitte  freudig  an- 
geregt werden  und  so  gewiss  vom  Bilde  ans  an  die  Wirklichkeit 
denken.  Die  Entfemung  dieser  Ortsbilder  von  einander,  ihre  gegen** 
seitige  Lage  würde  das  Kind  leicht  mit  dem  Gedanken  befreunden, 
das  bedeute  die  Entfernung  und  Lage  derselben  Orte  in  Wii-klichkeit 
zu  einander.  Ähnlich  verhielte  es  sich  mit  dem  Bodenrelief  and  den 
oro-hydi*ographi.schen  oder  den  Verkehrs- Verhältnissen.  Dass  der 
Maßstab  der  Karte  im  Vergleiche  zur  wirklichen  Walt  ein  veijüngter 
sei,  diese  Voi*stellung  läge  auf  der  Hand.  Eine  kleine,  weitere  Ver- 
jOngong  des  MaiJstabes  würde  dahin  führen,  die  Ortschaften  nicht 
mehr  dnrch  Miniaturbilder,  sondern  durch  die  geographischen  Binge 
emzntragen,  wie  sie  auf  modernen  Landkarten  sich  finden.  Und  hfttte 
man  inzwischen  einzelne  Bergfonnen  mit  den  Kindern  genauer  be- 
trachtet, ihre  Umrisse  gezeichneti  so  kannte  das  Kind  leicht  von  dem 
zufälligen  Aufputz  des  Bodenreli^s  durch  Wald  und  Feld  abstrahiren 
und  Berg  und  Ebene  im  modern  geographischen  Sinne  zeichnen,  respec- 
tive  auf  einer  modernen  Landkarte,  etwa  auf  jener  des  heimischen 
Schulbezirkes  lesen  lernen.  Damit  stflnden  wir  natttrlich  und  unge- 
zwungen bei  der  modemoi  Landkarte  und  ihrer  Lectflre,  und  es  wäre 
keine  Ge&hr  mdir,  des  Kindes  Freude  und  Antheilnahme  fttr  die 
Heimat-  und  Erdkunde  gerade  an  der  ersten  Landkarte  abzustumpfen, 
es  wäre  keine  Gefiüur,  das  geographische  Vorstellen  des  Eindes  im 
Keime  zu  ersticken  oder  den  ganzen  Unterricht  glanzvoll  zu  meehani- 
sven.  Das  Kind  wäre  lernend  Kind  geblieben  und  hätte  doch  einen 
bedeutsamen  Schritt  zum  Manne,  zum  Geographen  gemacht  Dies 
unsere  Überzeugung;  ob  und  in  wie  weit  sie  richtig  sei,  mag  die 
Pädagogik  und  die  Zeit  beurtheilen. 


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Das  Pädagogiom  zu  Budapest. 

Von  Dr,  Eknertanf-Iffld, 

Das  ungarische  Volksschulgesetz  vom  Jahre  1868  regelt  außer 
den  Augelegenlieiten  der  Volksschulen  im  engeren  Smne  zugleich  auch 
die  der  Lehrerbildungsanstalten.  Infolge  dessen  entwickelte  sich 
seither  auch  auf  dem  Gebiete  der  Lehrerbildung  ein  regeres  Leben 
als  je  zavor.  —  Ja  man  kann  sagen:  eigentliche  LehrerbUdimgs- 
anstalten  entstanden  in  Ungarn  erst  nach  dem  Jahre  1868,  insofern 
die  vor  dem  angezogenen  Jahre  vorhandenen  dorehweg  oonfessiondlen 
Seminarien  tiiatsftchlich  Nebenanstalten,  so  zu  sagen  Anhängsel 
anderer  Lehranstalten  waren.  Das  Oeseta  von  1868  veifligte  nftmlich 
anch  die  Errichtang  auf  eigene  Fftfie  gestellter  interconfessionelkr 
Staats-Lehrerbildnngsanstalten,  nnd  unter  der  Pression  dieser 
snccessire  ins  Leben  gerufenen  Staatsseminarien  mnssten  auch  die 
Confessionen  sich  bequemen,  ihre  Anstalten  zu  erweitem,  sie  unab- 
hängig zu  stellen,  oder  doch  der  Selbständigkeit  entgegen  za  führen. 
Diese  ist  wol  dermalen  noch  nicht  durchgeführt,  jedoch  wird  sie  in 
Bälde  eintreten,  indem  die  Confessionen  auch  in  Ungarn  gegenwärtig 
weniger  als  je  gewillt  sind,  ihre  Volksschulen  aus  den  Händen  zu 
geben;  darum  hauen  sie  niclit  nur  ihre  vorhandenen  Seminarien  aus, 
sondern  sie  gründen  deren  aucli  noch  neue. 

Gegenwärtig  zäldt  Ungarn  70  Lehrer-  und  Lehrerinnen-Bilduntrs- 
anstalten,  T):^  ersterer,  17  letzterer  Kategorie.  Von  der  Ge.sammtzahl 
sind  24  Stuatsaustalten,  die  übrigen  confessionell.  —  Unter  den  24 
8t-aatsanstalten  bestehen  18  fiir  Lehrer,  6  für  Lehrerinnen,  Jn  beiden 
Kategorien  sorgt  je  Eine  für  die  Bedürfnisse  der  Bürgei'schulen,  die 
übrigen  bilden  Lehrkräfte  für  Elementarschulen  heran.  Die  Gesammt- 
zahl  der  Seminarlehrer  beläuft  sich  auf  617,  die  aller  Schuler 
auf  4838. 

Auf  die  Hauptstadt  Budapest  entfallen  7  Seminarien:  davon 
4  Staatsanstalten,  2  katholische,  1  israelitische.  Z-wei  von  den  haupt- 
städtischen Staatsseminarien  büdenr  männliche,  zwei  weibliche  Lehr- 


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kräfte  heran;  und  zwar  sind  davon  2  Elementar-,  2  Bürgerscliul- 

1  ehre r- Seminare.  Die  beiden  Lelirerinnen-Seniinarien  bestehen  unab- 
hängig neben  einander;  die  beiden  tür  Lehrer  jedoch  bilden  ein 
organisches  Ganze.  Diese  Doppelanstalt  ist  es,  welche  ich  mit  der 
in)ersclirift  „Pädagogium  zu  Budapest"  bezeichnete.  —  Sie  wurde 
im  Jahre  18B9  gegründet,  hat  also  das  erste  Jahrdutzend  ihres  Be- 
stehens liinter  sich.  Der  gegenwärtige  Dirertor  derselben  i.st  Stefan 
Cryertyänffy,  einer  der  angesehensten  Pädagogen  Ungarns,  dessen 
Name  auch  in  (Österreich  und  Deutschland  nicht  unbekannt  ist.  Der- 
selbe ließ  dieser  Tage  einen  umfänglichen  Bericht  (528  S.  8**)  unter 
dem  Titel:  „Vergangenheit  und  (Tegenwart  des  Budapester 
Staats-Elementar-  und  Biirgerschullehrer-Seminars"  er- 
scheinen, auf  Grund  dessen  wir  den  W^erdeprocess  der  fraglichen 
Anstalt  wiedererzählen  wollen.  Wir  ließen  uns  dazu  erstens  durch 
<len  Umstand  bewegen,  dass  eben  Entstehen  und  Wachsen  überhaupt 
interessant,  zweitens  aber  auch,  weil  die  Geschichte  dieser  hervor- 
ragenden Lehrerbildungsanstalt  uns  wie  in  einem  Spiegel  das  Leben 
und  Streben  allei*  ähnlichen  ungarischen  Lehranstalten  erkennen  lässt. 

Das  Budapester  Pädagogium  wurde  im  Jahre  18H9  durch  den 
ersten  ungarischen  Unterrichtsminister  Br.  Eötvös  gegi-ündet.  Die 
Direction  wurde  dem  bekannten  ungarischen  Pädagogen  und  Schrift- 
steller J.  H.  Sch wicker  übertragen.     Von  diesem  ging  sie  nach 

2  Jahren  auf  S.  Kozma  über,  an  dessen  Stelle  1873  Stefan  Gver- 
tyänft'y  berufen  wurde.    Bis  zu  diesem  Jahi-e  zählte  die  Anstalt 

3  Jahrgänge,  hatte  eine  nngetheüte  Übnngsschtiie,  alle  Schüler  hörten 
alle  üntemchtsgegenstande,  —  sie  glich  also  allen  andem  Staats- 
Lehrerseminarien.  Da  jedoch  das  Volksschulgesetz  für  größere  Stttdte 
die  Ven)flichtung  der  Erhaltung  von  Bürgerschulen  ausgesprochen 
hatte  und  derartige  Anstalten  nach  und  nach  auch  wirklich  ins  Leben 
traten  (gegenwärtig  zählt  Ungarn  101  Bürgerschulen  mit  622  Lehrern), 
«0  war  68  dringend  geboten,  auch  an  die  Creirung  von  Bildungs- 
anstalten für  Bürgerschul-Lehrkräfte  zu  schreiten.  Das  Volksschul- 
gesetz  traf  in  dieser  Hinsicht  keine  speciellen  Vei-fugungen;  das 

inisterium  für  Cultus  und  Untemcht  entschied  sich  dahin,  ein  Bürger- 
schnllehrer-Seminar  im  Anschlnss  an  daa  Badapester  Elementarlehrer- 
Seminar  zu  errichten. 

Znm  Beginn  des  Schu^ahres  1873/4  wurden  drei  Lehrkräfte 
dieser  Anstalt  nach  anderen  Anstalten  versetzt»  nnd  an  die  drei  frei- 
gewordenen Stellen  neue  berufen,  unter  diesen  der  Director  Gyer 
iyänitjr.   Zu  gleicher  Zeit  wurde  das  Bflrgerschullehrer^Seminai*  er- 


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öffiiet  und  gleichfalls  untei*  die  Direction  Gyertyänfifys  gestellt.  Der 
Ciusiis  im  letzteren  erstreckte  sicli  über  2  Jahrgänge;  die  Lehr- 
gegenstünde  wm-deii  nach  Fächern  giiippirt. 

Die  erste  Gruppe,  für  alle  Zöglinge  oblig-atorisch,  wurde  von  den 
pädag-ugischen  Gegenständen  gebildet;  die  übrigen  waren:  sprach- 
wissenschaftliche und  historische,  —  mathematisch-natur- 
wissenschaftliche, —  artistisclie  (Zeichnen,  Schönschreiben,  Musik, 
Gesangslehre).  Als  Lehrer  fungirten  zum  Theil  die  Mitglieder  des- 
selben Lehrkörpers,  welcher  den  Unterricht  in  dem  Elementarlehrer- 
Seminare  versah,  zum  Theil  Gymnasial-  und  RealschuUehi  er  als  Stunden- 
geber. Eine  selbstständige  Lbungsschule  hatte  das  Sohullehrer-Seminai" 
im  Anfange  seines  Bestehens  nicht,  sondern  die  Zöglinge  besuchten 
eine  städtische  Bürgerschule.  Auch  im  Scluiljahr  1874  o  nuisste  eine 
nicht  geringe  Anzahl  von  Lehrgegenständen  an  Stundengeber  ülfer- 
tiajieii  werden  —  selbstverständlich  auf  Kosten  der  Einheitliclikeit 
des  Unterrichts.  Dieser  Umstand  veranlasste  die  Aufsicht sVtehörde 
erster  Instanz,  den  sogenannten  Directionsrath,  die  Frage  zu  er- 
wägen: „Wäre  es  nicht  möglich,  das  Bürgei*schullehrer-Senünar  mit 
dem  für  Elementarlehrer  derart  in  engere  Verbindung  zu  briniren, 
dass  zu  den  vorhandenen  ordentliclien  Lehrern  im  Elementarschul lelirer- 
Seminar  noch  so  viel  ordentliche  Lelirer  ernannt  wiu'den.  als  nöthig 
wären,  damit  jedes  einzelne  Fach  von  je  einem  Lehrer  sowol 
im  Elementar-,  als  auch  im  Bürgerschullehrer-Seminar  versehen 
werden  könnteV'*  Der  Directionsrath  fand,  dass  die  bejahende  Lösung 
der  Frage  beiden  Anstalten  zum  gröüt^n  Vortheile  gereichen  würde; 
er  machte  also  in  diesem  Sinne  seine  Eingabe  an  das  Ministerium. 
Durch  dieses  wurde  dann  der  Directionsrath  und  Lelu'körper  aufge- 
fordert, die  Vorarbeiten  im  Sinne  der  £ingabe  vorzunehmen.  Schon 
im  folgenden  Schuljahre  (1875/6)  wurde  mit  der  Dnrchfühiimg  der 
Aufgabe  begonnen  und  zu  gleicher  Zeit  die  Aufräomong  der  Stunden- 
geberei  in  Angriff  genommen.  Als  Fachlehrer  wurden  anerkannte 
Kräfte  ernannt,  wie  Dr.  Aron  Kiss,  Theodor  Kozocsa.  Paul 
Kiräly  und  derDirector  des  Kettungshauses  in  Balaton-fured,  Eduard 
Weber.  Bis  zum  Schuljahr  1880/1  dauerte  die  Ergänzung  des  Lehr> 
körpers  durch  Fachlehrkräfte,  in  welchem  Jahre  zugl^ch  eine  neue 
Fachgruppe  im  Bürgerschulleiirer-Seminar  hinzukam,  nämlich  die 
Gnippe  flir  Industrieschullehrer.  Der  Unterricht  in  den  Hand- 
arbeiten wurde  nämlich  nach  nnd  nach  in  allen  Staatsseminarien 
Ungarns  obligat,  damit  er  dann  anch  in  die  Elementarschule  mit 
Erfolg  eingeführt  werden  könne.  Weil  nun  aber  die  BOrgerschole 


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nichts  weiter  ist  und  sein  soll,  als  eine  höher  entwickelte  Elementar- 
schule, so  muss  conse(iuentei-  \\'eise  das  Biirgerschullehrer-Seniinar 
auch  dafür  sorgen,  dass  die  Biirgtirschullelii-er  als  Industrielehrer  zu 
wiiken  befähigt  werden.  In  dieser  Weise  erweiterte  sich  die  Aufgabe 
des  Bilrgersciiulleiirer-Seiiiiuars  nielir  und  melir,  infolge  dessen  auch 
der  Lehrplan  zeitweilig  ehie  entsprechende  stufenweise  Umgestaltung 
erfuhr.  Im  letzten  Jahre  wurde  vom  Unterrichtsministerium  der  vom 
Schuljahr  1882/3  ab  gültige  Lehrplan  herausgegebeu,  nach  welcliem 
der  Cursus  am  Büi'gerschullehrer-Seminar  auf  drei  Jahre  festgesetzt 
wurde.  (  Der  Cursus  fiir  das  ElementarschuUehrer-S^eminar  wurde  schon 
im  Schuljahr  1880/1  von  3  auf  4  Jahrgänge  erhöht,)  So  umfasst  das 
ganze  Pädagogium  gegenwärtig  7  Jahrgänge.  Im  ElementarschuUehrer- 
Seminar  ist  der  Gruppenunterricht  nach  Fächern  überhaupt  nicht  ein- 
geführt; das  Bfirgerschuliehre^Seminar  wird  in  Zukunft  nehen  den 
für  alle  ZOglinge  obligatorischen  pädagogischen  Lehrgegenstftnden 
noch  vier  Fachgruppen  umfassen:  a)  sprachwissenschaftliche  und 
historische  Fachgruppe;  b)  mathematisch-naturwissensdiaftliche  Fach- 
gruppe; c)  Fachgruppe  fOr  Musiker;  d)  Fachgruppe  fttr  Industrielehrer. 

An  die  Seuunaiien  schlieften  sich  zwei  Obungsschulen:  eine  unge- 
theilte  Elementarschule  und  eine  im  Ausbau  begriffene  Bürger- 
schule. Das  Elementar  Seminar  wurde  während  der  acht  Schuljahre 
Yon  1873/4—1880/1  von  539  Schülern  besucht.  Die  Aufnahme  in  die 
erste  Classe  erfolgte  zumeist  auf  Grund  von  Zeugnissen  aus  den  ent- 
sprechenden Classen  der  Mittelschule.  —  Proseniinarien  existiren  in 
Ungarn  überhaupt  nicht;  das  Gesetz  schreibt  als  Aufnahmsbedingung 
da>  al»solvirte  lö.  Lebensjahr  nnd  den  Nachweis  vor,  dass  der  Aspii*ant 
das  Lehrziel  der  vier  untern  Classen  der  Mittelschule  erreicht  habe.  — 
Das  mittlere  Lebensalter  der  Zr>glinge  im  Elementarlehrer-Seminar 
war  18  Jahre.  Von  dea  Absolvirten  legten  53  die  Lehrbe&higungs- 
prüfung  ab. 

In  das  Bürgerschullehrer-Seminar  wurden  während  des  be- 
2eichneten  Zeitraumes  von  8  Jahren  392  Zöglinge  aufgenommen.  Die 
Aa&ahme  in  diese  Anstalt  geschieht  zumeist  auf  Grund  eines  Abi- 
turienten-Zeugnisses aus  einem  Elementarlehrer -Seminar  oder  eines 
Etonentarlehrer-Diploms  (90%),  in  wenigen  Fällen  (10'^  ,,)  auf  Grund 
«Ines  Mittelschul-Beifezeugnisses.  Das  mittlere  Alter  der  Zöglinge 
betrug  21  Jahre.  Der  Lehramtspräfhng  unterwarfen  sich  91%  der 
Absolvirten.  

Der  nmiäbigliche  Rechenschaftsbericht  GyertyAnf^,  aus  wel- 
chem wir  die  mitgetheüten  Daten  schöpft^!,  ist  das  gewissen- 

PaiafQfiui.  4.  Jabig .  X.  Heft.  48 


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hafte,  aller  Anerkenniuig  werte  Werk  eines  theoretiBch  imd  praktisch 
wohrersirten  Pftdagogen,  das  einerseits  als  reiche  Fnndgrabe  iür  den 
Geschichtsforscher  auf  dem  Qebiete  der  Erztehmig  und  des  UnterrichtSr 
wie  diese  sich  in  Ungarn  gestalteten,  —  anderseits  Dank  der  ein- 
gehenden Behandlong  vieler  sich  darbietender  Streitfragen  (Internat, 
Selbstbildimgsvereine  im  Seminar,  Bildung  der  Seminarlehrer  n.  s.  w.) 
als  eine  tüchtige  Arbeit  von  bleibendem  Werte  bezeichnet  werden 
kann.  —  Was  die  Organisation  des  Budapester  Pädagogiums  selber 
anbelangt,  muss  es  als  eine  überaus  glückliche  Idee  bezeichnet  werden, 
eine  organische  Verbindung  zwisclien  dem  Elementar-  und  Bürger- 
schiillehrer-Seininar  durch  die  Identität  des  Lehrkörpers  der  beiden 
Bildungsanstalten  herzustellen.  Denn  es  fehlt  ebenso  in  l  ni:;ijii  wie 
auch  anderwärts  in  der  Methode  der  Erzieliung  und  des  Unterrichts 
das  Mittelglied,  das  den  i'bergang  in  der  Behandlung  von  den 
Elementar-  zu  den  fortgeschritteneren  Schillern  herzustellen  berufen 
wäre.  Ein  Hiatus  klafft  dermalen  zwischen  der  Elementar-  und  Mittel- 
schuliiädagogik,  zu  dessen  Ubeibriickung  die  Organisation  deü  Buda- 
pester Pädagogiums  uns  vortrertlicJi  geeignet  erscheint. 

Was  aber  die  mit  dem  Schuljahr  :>  ins  Eeben  zu  l  ufende 
Gnii»i'iriuig  der  Fächer  im  Bürgersrhullehrer-Senünai-  anbelani:t.  s<> 
ersclieint  uns  die  Errichtung  ])eson(h'rer  Gniiijum  für  Musiker  und 
Industrielehrer  als  eine  }Iyi»ertrophie.  Auch  das  Bürgerschullehrer- 
Seminar  muss  vor  allem  Lehrei-,  Pädagogen  bilden;  für  Industrielle 
und  Musiker  gibt  es  Industrieschulen  und  Conservatorien.  Sollen 
die  beiden  Gruppen  für  Industrie  und  ^[usik  höheren  Anforderimgen 
genügen,  so  müssen  sie  eben  zur  Industrieschule  und  zum  ('onser\'&- 
torium  sich  umwandeln;  daim  abei'  passen  sie  nicht  mehr  in  den 
Rahmen  eines  Pädagogiums. 

Dabei  steht  es  jedoch  außer  Frage,  dass  der  Bttrgerschullehrer 
auch  beßlhigt  sein  muss,  Musikunterricht  sowie  auch  Unterricht  in 
einschlägigen  Industriezweigen  zu  ertheilen,  respective  zn  leiten.  Die 
Bewilligung  hierzu  kann  er  jedoch  ganz  wol  erwerben,  ohne  Musiker 
oder  Industrieller  von  Fach  zu  sein.  Deshalb  halten  wir  dafür,  die 
beiden  Fachgruppen  für  Musik  und  Indostiie  werden  früher  oder  später 
wieder  verschwinden  uud  das  daraus  für  jeden  Bürgerschallehrer 
Nothwendige  wird  zu  den  für  alle  Zöglinge  obligaten  Eehrgegenständen 
geschlagen  werden.  Auch  dann  ist  und  bleibt  die  Anstalt  noch  immer, 
was  sie  ihrer  Idee  nach  sein  will  —  eine  Hochschule  für  die  nnga- 
rischen  Yolksschullehi-er,  berufen,  die  an  den  Universitäten  noch  immer 
fehlende  pädagogische  Facultät  zu  ersetzen. 


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Lehrerpröi'iiiigen  in  Frankreich« 

n. 

In  einem  froheren  Hefte  dieser  Zeitschrift  (in,  2,  NoYember  1880) 
haben  wir  eine  Znsammenstellnng  des  Wichtigsten  fiber  die  französi- 
sche LehrerprOfdng  zur  Erlangung  des  certiflcat  d'aptitnde  ä  Tenseigne- 
ment  des  langnes  Vivantes  gebracht  Wir  bemerkten  damals»  dass  die 
französischen  StaatsprOfiingen,  welche  zor  Anstellung  als  ordentlicher 
Lehrer  an  einer  höheren  Lehranstalt  (lyc6e  oder  coll^e)  berechtigen, 
unter  dem  Namen  agr^gation  des  lycöes  zosammengeftisst  werden  nnd 
in  9  Sectionen  zer&llen:  1)  agr^gation  de  Philosophie,  2)  a.  des  lettres, 
3)  a.  dliistoire  et  de  g^ographie,  4)  a.  de  grammaire,  5)  a.  des  langnes 
TiYantes,  6)  a.  des  seiences  math^matiqaes,  7)  a.  des  sdences  physiques, 
8)  a.  des  sdoicss  naturelles,  9)  a.  de  Tenseignement  secondaire  spe- 
cial —  Diese  Lehrerprfifuiigen  sind  wol  zn  unterscheiden  von  der 
agiegation  des  facultas  und  von  den  akademischen  Prfkfongeu:  bacca- 
laur^at,  Ücence  und  doctorat 

Die  Prüfunp:  für  die  agr^gation  des  lycees,  deren  verschiedene 
Sectionen  säniuitliche  Unterriclitsgegenstände  der  lyctes  umfassen,  kann 
in  jeder  einzelnen  Abtheilung  bestanden  werden  und  entspricht  etwa 
dem  deutsclien  Examen  pro  facultate  docendi. 

Unter  den  9  Sectionen  der  agregation  des  Ij'cees  greifen  wir  noch 
einiual  die  agr6gation  des  langues  Wvantes  heraus.  Die  Vorstufe  zu 
derselben  bildet  das  Examen  für  das  certiflcat  d  aptitude.  welches  wir 
bereits  früher  besprochen  haben.  Wir  wenden  uns  nun  zui*  agregation 
des  langues  Vivantes  im  eigentlichen  Sinne. 

Diese  agre^j^ation  ist,  wie  die  übrigen,  ein  concours,  bei  dem  es 
nicht  gilt,  nur  iiberhaupt  irgend  eine  beliebige  Censur  zu  erlangen, 
sondern  darauf  ankommt,  das  Beste  zu  leisten  und  in  der  am  Schluss 
der  Prüfung  von  den  Examinatoren  nach  den  Leistungen  der  Candi- 
daten  aufgestellten  Rangordnung  zu  der  geringen  Anzahl  zu  gelieren, 
die  jedes  Jahr  nm-h  der  Bestimmung  des  Ministeriums  des  öffentlichen 

Unterrichts  angenommen  werden  kann.  Dui'ch  dieses  Verfahren  redu- 

42* 

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—   636  — 


cirt  sicli  die  Zahl  der  urspHinglich  Angemeldeten  anf  ein  Fünftel  (Hier 
gar  ein  Siel)entel;  auf  diese  Weise  wird  aber  auch  dem  in  Deutschland 
immer  melir  hervortretenden  Übelstande  vorgebeujrt.  dass  das  Angebot 
die  Xachft*age  weit  tibei*steigt,  d.  h.  dass  die  Zahl  der  stelienlosen 
Candidaten  bedeutend  gi()ßer  ist  als  die  der  Vakanzen.  Deijenige, 
welcher  mehrere  Male  ohne  Eifolg  an  einem  conconrs  Theil  genom- 
men hat^  überzeugt  sich  schließlich  von  selbst^  dass  seine  wissenschaft- 
lichen Kenntnisse  nnd  sein  Lehrgeschick  nicht  den  gestellten  Anfor- 
demngen  genflgen,  und  wird  durch  wiederholten  Ifisseifolg  von  weiteren 
Versuchen  abgeschreckt  Es  liegt  in  der  Natur  des  concours,  das» 
Candidaten  ohne  großen  Fleifi  und  wirkliche  Beffihigung  für  die  T<m 
ihnen  gewählten  XTnterrichtsfiUrher  schlechterdings  keine  Aussichten  auf 
Erfolg  haben,  nnd  dass  der  französische  Lehrerstand  sich  also  aus  der 
EUte  der  alljährlich  an  das  Examen  Herantretenden  recrutirt 

Erste  Vorbedingung  zur  Theihiahme  an  dem  conconrs  für  die 
agrßgation  des  hingues  Vivantes  ist  eine  mehijfthrige  Th&tigkeit  im 
Schulunterricht,  und  zwar  entweder  3  Jahre  im  Staatsdienst  oder  4 
Jahre  in  Frivatschnlen.  Nur  die  Schfiler  dar  "teole  normale  supMeure, 
welche  den  ganzen  Cursus  derselben  durchgemacht  haben,  werden  ohne 
vorhergegangene  Wirksamkeit  im  Sehnldienst  zugelassen.  Bei  den 
Schülern  der  'kcole  normale  in  Cluny  werden  die  dort  zugebrachtmi  2 
Jahre  als  ebenso  viele  Unterricht^ahre  in  Anrechnung  gebracht;  auch 
bei  den  Doetoren  der  Philosophie  (doctenrs  lettres)  zieht  man  2 
Jahre  von  der  im  allgemeinen  geforderten  Zeit  ab. 

Die  zweite  Vorbedingung  für  die  agr^tion  ist»  dass  der  Güididat 
das  certiflcat  d'aptitude  k  Fenseignement  des  langnes  Vivantes  oder 
die  licence  lettres  besitzt —  Ans  dem  Gesagten  gdit  hervor,  dass 
für  die  agr^gation  keine  bestimmte,  z.  B.  akademische  Vorbildung  vor- 
geschrieben ist. 

Die  Anmeldung  zum  concoui*s  niuss  bis  spätestens  2  Monate  vor 
Eröfinung  d(?sselben  stattfinden.  Bei  der  Anmeldung  sind,  wie  oben 
schon  erwähnt,  beizubringen:  1)  das  diplonie  de  licencie  es  lettres  od«  r 
das  certiticat  d'aptitude;  2)  Zeugnisse  zum  Nachweise  der  im  Schul- 
imterriclit  verbracliten  Zeit;  8)  ein  cnrriculum  vitae.  —  Der  Tag  der 
Eröifnung  des  concours  wii-d  dem  Candida teu  wenigstens  14  Tage  vor- 
her mitgetlieilt. 

Den  ersten  Theil  des  coucours  bildet  die  epreuve  prei»araf<'ir»^, 
welche  4  Arbeiten  umfasst:  1)  eine  Übersetzung  aus  dem  Französix  heu 
ins  Deutsclie,  Englische,  Italienische  oder  Spanische,  2)  eine  iT)er- 
setzong  aus  einer  der  4  fremden  Sprachen  ins  Französische,  3)  einen 


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—  637  — 


Autsatz  in  fremder  Spraclie  über  emen  gegebenen  Gegenstand,  4)  einen 
Aufsatz  in  französischer  Sprache. 

Für  die  Übersetzungen  werden  4,  für  die  anderen  Arbeiten  7 
Stunden  Zeit  gelassen  ;  als  Hilfsmittel  dürfen  nur  Wörterbücher  ge- 
braucht werden.  —  Dieser  eprenve  pr^paratoire,  welche  unter  Clansur 
stattfindet,  kann  man  sicli  in  Paris  oder  in  dem  Mittelpunkte  jedes 
akademischen  Bezirks  (chef-lieu  acad^miqne)  unterziehen. 

Die  Cajididaten,  deren  Arbeiten  die  Examinatoren  befriedigt  haben, 
werden  als  zu  dem  zweiten  Thefle  dee  ooncours  znUbasig  erkl&rt.  Die- 
ser zweite  Thefl  (6preuye  definitive)  wird  in  Paris  abgehalten  und 
besteht:  1)  in  der  Übersetzung  und  Erklärung  einer  durch  das  Looe 
bestimmten  SteUe  aus  einem  der  yon  dem  Ministerium  aQjfthrlidi  vor- 
geschriebenen und  wenigstens  .6  Honate  vorher  bekannt  gemachten 
anslfindischen  classisdien  Werke;  2)  in  zwei  Vorträgen,  einem  ihui- 
zösischen  und  einem  in  fremder  Sprache  Aber  ein  grammatisches  oder 
titeratnrgeschichtliches  Thema,  nach  248tündiger  Vorbereitung.  — 
Jeder  Vortrag  soll  eüie  Stunde  dauern. 

Nach  Schluss  des  concours  wird  die  Zahl  der  agr^4s  und  die 
liiste  derselben  nach  dem  Verdienste  festgesteUt. 

Am  bedeutendsten  ist.  in  der  neuesten  Zeit  gewöhnlich  die  Zahl 
der  Candidaten  ftr  das  Deutsche  gewesen;  nur  halb  so  viele  melden 
sich  für  das  Englische,  und  für  das  Italienische  und  Spanische  finden 
sich  nur  wenige  Bewerber.  Dass  der  Andrang  zur  agregation  geringer 
ist  als  zum  certificat  d'aptitude,  ist  begreiflich  und  beruht  auf  der 
größeren  Schwierigkeit  des  ersteren  Examens. 

Die  PrOfiingscommission  setzt  sich  aus  3  vom  Minister  ernannten 
Examinatoren,  gewöhnlich  Professoren  einer  philosophischen  Facultät, 
zusammen. 

Die  im  Jahre  1878  bei  der  agregation  des  Englischen  für  die  die 
erste  epreiive  definitive  bildende  Übersetzung  benutzten  Werke  waren: 
Shakespeare,  Merchant  of  Venice;  Bacou,  Kssays;  ]\Iilton,  L'Allegro 
und  11  Penseroso;  S.  .Tolinson,  Lives  of  tlie  Poets;  Cowper,  Poeins. 

Im  Jahre  1H79  lagen  zu  Grunde:  Sliakespeare,  Measure  for  Measure; 
Bacon,  Essays;  Milton,  Paradise  Lost,  V — VI;  Dryden,  Essay  oii  T)ra- 
matic  Poetry;  S.  Jolmson,  Lives  of  thc  Poet.s.  1880:  iShakespeare, 
Sonnets;  Bacon,  Essays;  Miltou  Paradise  Lost,  XI — XU;  S.  Jolmson, 
Lives  of  llie  Poets;  Wordswortli,  Poems, 

Für  die  deutsche  agregation  waren  im  Jahre  1880  folgende  Werke 
vorgeschrieben:  Klopstock. Oden;  Lessing,  Briefe  antiquarischen  InlialTs; 
Goethe,  Faust,  II;  Schiller,  Die  Braut  von  Messina;  Das  Lied  von  der 


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—  638  — 

(ilocke;  Schiller  und  Goethe:  Briet  Wechsel  j  J.  (irimm,  Geschichte  der 
deutschen  Sprache,  Cap.  1 — 2. 

Auf  Grund  des  besprochenen  Examens  der  agrefration  des  langues 
Vivantes  findet  man  Anstellung-  als  ordentlicher  Lehrer.  Als  solcher 
bezieht  man  HUGO— 7500  ü\  Gehalt,  wähi'end  die  charges  de  coars 
24ÜÜ— 481M)  fr.  erhalten. 

Zum  Scliluss  vei-zeichnen  wir  eine  Reihe  von  l'bersetzungsstückeii 
und  Aufsatzthemen,  welche  bei  der  epreuve  pr6paratoii-e  f^egeben  wor- 
den  sind:  Deutsch,  1875:  Fenelon,  Education  des  filles;  Hei*der,  Ideen 
zui-  Geschichte  der  Menschheit  lY,  4;  Französischer  Aoüsatz:  „L'6cole 
r^aliste  moderne  peut-elle  l^gitimement  compter  Goethe  parmi  ses  an- 
c6tres  et  s'appuyer  de  Fautorit^  de  son  nom?  (^u*etait-ce,  dans  La 
pens^e  de  Goethe,  que  FimitAtion  de  la  nature  et  le  culte  da  r6dl?*' 
Deutscher  Aufsatz:  „Goethe  als  epischer  Dichter  in  seinen  verschie- 
denen Werken."  1874:  Sainte-Beuve,  Clement  ^larot  (aus  Tableau  de 
la  poesie  fran(;aise  au  XVI''  siecle);  Jean-Paul  Richter,  Betrachtungen 
Über  die  Köpfe  auf  den  Münzen.  Franz.  Aufsatz:  „Que  faut-il  entendre 
dans  llüstoire  de  la  littdrature  allemande  par  Fteole  romantique  ?  Le 
mot  de  romantisme  a-t-fl  ea,  dans  les  qnerelles  litt^raires  an  deUi  da 
Rhin,  le  m6me  sems,  la  m^me  portöe  qae  nous  loi  arons  donnis  en 
France?  Caractörisez  les  denx  töidanoes  en  dtant  qaelques  ezempteft, 
et  en  esquissant  ä  gnmds  tndts  lliistoire  de  T^le  romantiqae  e& 
Allemagne."  Deutscher  An&atz:  „Dichtung  und  Wahrheit  in  der  Wallen- 
steinschen  Trilogie  von  Schiller."  —  1873:  Bossnet,  Denzitoe  senmm 
ponr  le  jonr  de  laPnrification  de  ]$.  Sainte-Yierge;  Niebuhr,  BSmische  Ge- 
schichte, L  Franz.  An&atz:  „^aii^ü  fitire,  dans  les  idta  et  les  doctrines 
littöraires  de  Lessing,  nne  part  k  llninence  fran^^aiBe?**  —  Deutscher 
Au&atz:  „Goethe  als  Nachahmer  der  Griechen  in  seinen  Tragödien.**  — 
Englisch,  1875:  Bossnet,  Denx  maniöres  de  düstrer  la  rtformation  de 
r^glise  (ans  Histoire  des  Variations);  Gay,  The  Fan.  Franz.  Anfsatz: 
„Qne  &ut-il  penser  du  jugement  que  porte  S.  Johnson  snr  Ifüton?** 
Englischer  An£satz:  Otway.  —  1874:  La  Fontaine;  Govper.  Frans. 
An&atz:  Du  caract^  de  Jules  Cäsar  dans  Shakespeare.  Engl  Auf- 
satz: The  Vicar  of  Wakefield.  —  1873:  Andr6  Chönier,  Walter  Scott, 
The  BatÜe  (aus  Marmion).  Franz.  Anftatz:  Du  style  po^tique  de 
Byron.  Engl  Aufsatz:  The  origins  of  the  English  langnage.  —  1872: 
La  Fontaine,  Les  compagnons  dUlysse;  Moore,  Shall  the  harp  Ünat 
be  silent?  (aus  den  Melodies).  Franz.  Ansatz:  Da  caractto  de  Satan 
dans  le  Paradis  perdu  de  Milton.  Engl  An&atz:  King  Lear. 


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Ehre,  dem  Ehre  gebührt. 

Von  WiiUbald  Nagl-Wien. 

'S»  gehört  mit  zur  Anlisabe  ^ner  fiulmiftiiiiiiclieii  Zeitidirift,  her^oi^ 
ragende  einschlSgige  Leistungeii  krftftig  zu  betonen  und  in  weitesten  Kreisen 
bekannt  so  geben,  einereeits  am  jene  Persönlichkeiten,  welche  dnreh  eolehe 
Leiitnngen  die  Anerkennung  der  BerufiBgenossen  verdienen,  znm  mathigen  Fort- 
schreiten, zur  ferneren  Vervollkomninnng  in  der  eingeschlagenen  Richtung  an- 
zueifern,  anderseits,  um  vielleicht  weitere  Ki  llfte  zur  Verfolgung  gleicher  Ziele, 
ZOT  Entwicklung  einer  ähnlichen  Thätigkeit  zu  bewegen. 

Wir  sprechen  heute  von  der  Wirksamkeit  des  wackeren  Kreisschulinspec- 
toit  Ton  Geldern  am  Niederrhein,  B.  Klein. 

Besngs  seiner  persönlichen  VerhUtniBse  hesehrlnken  wir  nns  hier  anf  die 
korze  Erwähnung,  dass  er  philulogisch-akademische  Büdoag  genossen  hat,  sich 
nichtsdestoweniger  mit  voller  Sicherheit  in  seiner  ge^-eiiwärtigen  Lebensstellung 
als  Kreis-  und  Localschulinspector  bewegt  und.  wie  die  „Preußische  Leliroi- 
Zeitang"  (6.  Januar  1882)  von  ihm  zu  sagen  weiß,  mit  den  Volksschnllelnern 
inner*  und  außerhalb  seines  Sprengeis  im  besten  Einvernehmen  steht,  ja  allent- 
halben „als  warmer  Freund  te  Volksschnllehrer  bekannt  igf*. 

Neben  seinen  Bemftgeschftften  findet  Klein  noch  Zeit  zn  einer  fhicht- 
baien  literarischen  Thfttigkeit,  die  nns  hier  besonders  interesslrt,  weil  sie  im 
Ginnde  dieselben  Prineipien  vertritt,  die  wir  in  diesen  Bl&ttem  wlederiiolt  ans- 
gesprochen  und  der  Lehrerwelt  ans  Herz  gelegt  haben. 

Wir  können  diese  von  Klein  verfochtenen  Principifii  in  y-edrängter  Kürze 
vielleicht  in  folgende  drei  Sätze  zusammenstellen:  L  Der  Lehrer  begnüge  sich 
nicht  mit  dem  im  Öemiiuu'  Augeleruten,  sondei'n  suche  sich  seiu  ganzes  Lebeu 
hbdareh  wissenschaftlidi  immer  mehr  za  vervollkommnen.  2.  Der  Lehrer  be- 
gnüge sich  nicht,  Mos  den  Kindern  in  der  Schale  die  vorgeschriebenen 
Kenntnisse  und  Fertigkeiten  beizubringen,  sondern  er  sei  „ein  Apostel  des 
Volkes-,  in  dessen  Mitte  er  hineingestellt  ist.  3.  Die  Lehrer  an  den  Volks- 
schulen sollen  sich  nicht  in  sich  abschließen,  sondern  sollen  in  stetem  Oontacte 
Biit  der  höheren  ünteiTichtswelt  bleiben,  und  .so  umgekehrt  diese  mit  jenen. 

Wir  besprechen  nun  nacheinander  diese  diei  Prineipien  an  der  Hand  der 
Klefaisehen  Aufsätze,  und  es  wird  dabei  von  selber  klar  werden,  wie  vielfach 
letitete  mit  nnseren  im  „Piedagogiam'*  bereits  theilweise  veröffentlichten 
TenehlSgen  iibereinstimmen. 

Der  erste  Grundsatz  hat  Klein  geleitet  beim  Niederschreiben  seiner 
Abhandlung  „Sprachliche  Sünden",  welche  in  0  Fortsetzungen  in  der 
kPreoAischen  Lehrerzeitang"  (Monat  Mai  18Ö0)  erschien.  Klein  dringt 


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in  dieser  Abliandlmie-  —  „Plnndereieu"  nennt  er  sie  —  auf  Tv^^inlialtun?  der 
dentsohon  Sprachf.  w  niaclit  das  Hernm werfen  mit  franzöRisi  lien  Fremdwürterii 
läclieriicli,  indem  er  dartliut,  dass  diese  Fremdwörter  oft  nur  gallisirte  deutsche 
Wörter  rind.  Dadurch  schärft  er  zugleich  den  etymologischen  Sinn  der 
Lehrer  nnd  leitet  sie  zu  sprachliehen  Stadien  an.  In  dem  Anftatae:  ^Fort- 
bildnu^;:  des  Lehrers  im  Amte"  („Pmißischf  Lehrerztg."  10  und  11 
Nov.  1881)  bescln  iliikt  sich  Klein  niclit  mehr  darauf,  die  Lehrer  blos  zu  philo- 
logischen "neobachruiiü-tMi  anzuregen;  er  citirt  frleich  in  der  Einleitung  die  Rede 
eines  Seminartlirectors,  weiclier  von  den  Lehrern  veHangl,  dass  sie  ,.gi-üudlich 
das  Leben,  Handeln  und  Wandeln  des  Volkes,  dessen  Dialect  studiren,  dessen 
S^chwttrter  sammeln,  sich  in  dar  engeren  Heimatsknnde  orientiren  nnd 
überhaupt  —  cmn  grano  salls  —  Historiker,  Geographen,  Natnrfoawto  seia 
sollen".  Klein  betont  hiezu  noch  besonders  die  Sprach-,  speciell  die  Dialect- 
forschung  als  einen  wichtig'en  Geg-enstand  für  di»^  Weiterbildung-  der  Lehrer, 
und  führt  sodann  ans.  dass  der  Kreiss«  liuliiispector  denselben  hierbei 
rathend  und  ermunternd  an  die  Hand  gehen  müsse. 

Ist  dieser  erste,  eben  abgehandelte  Grondsatz  schon  so  YieUheh  ansge- 
sprochen  nnd  m  praktischen  Verwertung  empfohlen  worden,  dass  er  unserer 
Anerkennung  und  Betonung  kaum  noch  bedarf,  so  müssen  wir  desto  mehr  den 
zweiten  Grundsatz  Kleins  hervorheben,  dass  der  Lehrer  nicht  blos  Schul- 
meister, sondeni  dass  er  wie  ..ein  Apostel  des  Volkes"  sein  soll,  in  dessen 
Mitte  er  steht,  —  wie  Klein  sich  ausdrückt.  Er  will,  dass  der  rntemchl  iu 
der  Schule  ein  lebfrischer,  nicht  iu  der  hergebrachten  Weise  allenthalben  casti- 
glrter  nnd  yentOmmelter  sei;  der  Lehrer  soll  die  Jugend  nicht  bloa  unter- 
rlditen,  er  soll  sie  erziehen,  nidit  zu  woldressirten  scheinheiligen  Hanier- 
menschen,  sondern  zu  naturj^etrenen,  lebendigen,  frohen  Charakteren.  Er  wBnseht^ 
dass  der  Poesie  und  der  Poetik  in  der  Schule  ein  g-rölU-res  Ang-ennierk  mp-e- 
wendet  werde  (vg'l.  seinen  Aufsatz  in  der  „PreuBischen  Lehrerzt»-.' :  „Das 
Wichtigste  aus  der  poetischen  Formenlehre  gehört  in  die  Volks- 
schule"): die  faule  Ausrede,  dergleichen  wSLre  zu  schwierig  fOr  Kinder,  sei 
ganz  fhlsch  und  unberechtigt,  vielmehr  erleichtere  gerade  das  Lebendige, 
Naturfrische  dieser  Methode  den  Untenieht.  Besonderen  Wert  legt 
Klein  auf  die  Beachtung  der  Mundart.  Die  Mundart  sei  der  Schlüssel 
zum  Verständnis  der  kindlichen  Herzen,  aber  auch  das  l^Iittel.  ein  Volk  im 
ganzen  zu  beurtheilen,  seine  Charaktereigenschaften  zu  erkennen  und  zu  beein- 
flussen. „Achtet  die  Mundart!''  ruft  er  in  einer  Ileihe  von  interessanten 
Auftfttzen  („PreuAlsche  Lehierztg.",  zwischen  10.  HSrz  und  29.  Kor.  1881) 
der  gesummten  Lehrerwelt  zu,  und  sogar  eine  stAndige  Rubrik  wusste  er  im 
Sonntagsblatte  derselben  Zeitung  für  die  Sache  der  Mundart  durchzusetzen. 

Es  freut  sich  unser  deutsches  Herz,  dass  innerhalb  d^-r  deutschen  Lehrer- 
schaft seiher  schon  Stimmen  laut  werden  über  den  Beruf  der  Lehrer  als 
„Apostel  des  Volkes''.  Die  Lehrer  sollen  in  ähnlieher  Weise  die  weltliche 
Ausbildung  des  gemeinen  Mannes,  seine  Brauchbarkeit  fürs  Leben,  überwachen, 
starken,  nShien,  wie  der  Geistliche  schon  seit  undenklicher  Zelt  das  religiSee 
Moment  zu  hegen  nnd  zu  piegen  hat  Es  wird  in  uns  die  Hoflhung  immer 
lebendiger,  dMS  die  deutsche  Lehrerschaft  endlich  einmal  den  skeptischen 
Widerstand  gegen  jede  höhere,  erhabenere  Autt'assung  ihres  Berufes  aufgeben 
und  zu  guter  Letzt  doch  den  ihr  durch  die  Natur  der  menschlichen  Verhältnisse 


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—  641  — 


■vorgezeichneten  Posten  zum  Wole  der  Menschheit,  zur  Hebnnp:  <les 
Volkes  und  hesonders  des  von  den  größoron  Cnltnrstllt t en  lernen 
Bauernstandes  pinneliincn  wird!  —  Und  dass  ein  solcher  wcltliclier 
,,Apostel'*  viel,  viel  autzuräumen  hätte  in  den  verschiedenen  Schichten  des  ge- 
meinen Volkes,  yielleiolit  mehr,  als  der  geistliche,  das  wird  durch  ein  reich- 
haitiges,  Tom  Schreiber  dieser  Zeilen  in  seiner  Heimatsgegend  gesammeltes 
Materiale  nilchstens  in  d<  ii  geg-enwärtigen  Blättern  dargothan  werden. 

Klein  fiihlt  es,  dass  der  Lehrerstand  diesem  Ideale  seiner  Wirksamkeit 
noch  tenie  steht;  dass  derselbe,  um  es  zu  erreichen,  des  Znsammenwirkens 
vieler,  außer  seinem  Bereiche  liegender,  homogener  Kräfte  bedürfe.  Und  darum 
hält  er  emsig  Umschau  nach  allen  Freunden  des  Volkes,  und  wo  er  einen 
solchen  gefunden,  sncht  er  die  Sffentliclie  Anfhnerhaamkdt  ond  Achtung  anf 
denselben  zn  lenlten.  In  dieson  Bestreben  hat  er  wiederholt  biographische  und 
sonstige  Notizen  über  verschiedene  volksfreundlich  wirkende  Manner  in  das 
„National-Worhenblatt  fiir  Stadt  und  Land"  in  Düsseldorf  eingereiht  unter  dem 
Titel:  ..Achtet  des  Volkes  Vertreter"  (z.  B.  12.  März  1882).  Auch 
auderwäi'ts,  so  in  einem  Sonntagsblatte  der  „Preufliscbeu  Lebrerztg.''  (26.  Fe- 
hmar  1882),  fand  ich  eine  ähnliche  Skizze  unter  dem  Titel  „Dfirener  V olks- 
thnm".  Überall  benutzt  Klein  dabei  die  Gelegenheit,  anregend  nnd  anflnvntemd 
auf  seine  Leser  einzanvirken  nnd  sie  zn  volksthümlichen  Bestrebnngen  zn  be- 
geistem. 

Einen  dritten  Grundsatz,  dem  wir  unsere  Zustimmung  ebenfalls  von 
vorneherein  ertheilen  müssen,  hat  Klein  verfoclilen  in  seinem  Aufsatz  „Der 
moderne  Unterrichtsbe trieb'* („Preuß.Lehreiztg.*^,  6.,  7.,  8.  Januar  1882; 
„NatienalesWocheDblatt^S  Febroar  nnd  Ullrz  1882).  Der  angesehene  PSdagog 
DOrpfeld  hatte  nSmlich  dieSdiSden  wahrgenommen,  welche  dnrch  pedantische 
Gelehrte  und  gelahrte  Akademiker  dem  Volksnnterrichte  beigebracht  werden, 
•wo  solche  in  Schulangelegenlieiten  mitzureden  haben;  und  in  seinem  ünmnthe 
liierüber  ging  Döi-pfeld  so  weit ,  dass  er  nm-  eigentliche  Elementarlehrer  zu 
Schulinspectoren  will  avanciren  lassen,  liingegen  über  alle  akademisch  gebil- 
deten Inspectoren  den  Stab  bricht.    Gegen  dieses  Generalisiren  Ddrpfdds 
erhebt  Kldn  gerechte  Einsprache.   Man  darf  in  der  That  keine  so  durch- 
greifende Sdieidmig  zwischen  den  Volkslehrem  elnerteits  nnd  den  Professoren 
nnd  Gelehrten  anderseits  heihdfllhrra,  da  ein  Znsammen  wirken  und  Ineinander- 
greifen beiderStände  zur  gegenseitigen  Correotur  höchst  wichtig  ist.  Der 
Volkslehrer  vertritt  das  Einfache,  Natürliche,  Volksthümliche .    der  Humanist 
das  Ideale  und  nationalistische;  soll  jener  nicht  üde  oder  tiiviul,  dieser  nicht 
zn  abstract  oder  sophistisch  werden,  so  müssen  sich  beide  fortwährend  an 
einander  messen.   Dann  wird  der  Gelehrte  wissen,  was  im  weiten  labyrinthi- 
sehen  Bereiche  des  Könnens  nnd  Kennens  zunächst  und  eigentlich  ein  wllldJges 
und  lohnendes  Object  seiner  Forschunjr  sei;  und  der  Lehrer  wird  gerne  von 
ihm  lernen  und  sicli  nicht  im  Alltagsleben  verlieren.    Wir  müssen  daher  mit 
Klein  es  fiir  angemessen  eracliten,  dass  auch  akademisch- wissenschaftliche 
Kräfte  in  die  \'ülkslehi'erschaft  als  Factoren  aufgenommen  werden  können.  — 
Datt  eine  erschreckende  Anzahl  von  „Gelehrten''  hentzntage  zn  dner  wie  immer 
heißenden  ernsten  Lebensani^abe  nnfUiiff  ist,  lengnen  wir  nicht;  aber  dieser 
Umstand  kann  nur  zur  Verbesserung  und  Umgestaltung  der  akademischen 
Stadien  antreiben,  nicht  aber  znr  Beschrilnknng  der  Gelehrten  auf  sich  selbst 


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—  642  — 


nnd  7A\r  allmählichen  AuHschließang'  derselben  von  allen  Titalen  Angelegen- 
heiten ilor  CTCsellschaft  l)e'rechtig'en. 

Wir  konimeu  auch  auf  dieses  Kapitel,  das  Zusammenwirken  der  Lehrer 
und  richtiger  Oelehrten  im  nächsten  Ao&atz  zu  sprechen  und  werden  nach 
uuem  schwachen  Kräften  den  Boden  zn  ebnen  sncheo,  auf  dem  sich  dieselben 
zn  gemeinsamer  erspriefilicher  Thfttigkeit  zosanunenfinden  kOnnen. 

FUr  diesmal  genügt  es  uns,  einem  wackeren  Gesinnungsgenoesen,  der  schon 
so  lanee  Zeit  allein  sein  Feld  behauptet  hat,  unsere  Anerkennnng:  gezollt  zn 
haben,    Vielleieht  beseelt  es  ihn  mit  neuem  Eifer,  wenn  er  sieht,  dass  seine 
Ideen  und  i'iäue  liier  an  der  Dunau  mitgedacht  und  mitgefühlt  werden. 
Seinem  Wirken  ein  hersliekes  „Olttek  aiifl'* 


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Zur  Überbürdangsfrage. 


dem  Uizten  Laudtaf^e  des  Königreichs  Sachsen  wiii'deii  erusle  und 
eiiuuüüiige  Klagen  über  zu  groüe  Belastung  der  Gynmasiasten  und  Bealschüler 
«rhoben,  mid  das  ünterriohtsmiiiisteriiim  fiund  diese  Klagen  im  Wesentlichen 
fenchftfflrfeigt  In  Folge  dessen  hat  Hinister  ?on  Gerher  imHtas  dieses  Jahres 

an  die  Directoren  sänimtlicher  Gymnasien  und  l?ealschaleii  Verordnimgen  tat- 
lassen,  deren  Hauptinhalt  wir  hier  mittheilen,  da  walirsclieinlich  einem  erroßen 
Theile  unserer  Leser  diese  amtlichen  Vertlipnngeii  uirlit  bekannt  geworden  sind. 

In  der  Verordnung  au  die  Kectoreu  der  (j^mna^ien  wird  darauf  hinge- 
wiesen, dass  infidge  der  in  denselben  entstandenen  Übelstände  ein  Theil  der 
Gebildeten  üinen  die  Mhere  Gunst  zn  entaiehen  droht.  Es  sei  nun  vor  allem, 
darauf  zn  sehra,  „dass  der  dnrch  eine  große  Menge  von  Unterrichtsstunden 
schon  sehr  ermüdete  Schüler  nicht  durch  das  Übermaß  der  Memoriraufgaben 
und  der  schriftliclieu  Arbeiten  erdrückt,  dass  ihm  nicht  die  Zeit  der  nothwen- 
digen  Erholung  und  nicht  die  Frische  genumiiieu  werde,  die  schließlich  doch 
die  Voraussetzung  eines  wirklichen  Erfolgs  des  Unterrichts  ist/*  Fenier  wird 
bemerkt:  i,Jedem,  der  den  filteren  Znstand  des  pldlologisch^iStndinms  anf  den 
UniversitSten  kennt,  mnss  die  Versehiedenheit  der  frflheren  nnd  der  jetzigen 
Behandlung  desselben,  wie  es  sich  im  Anschlüsse  an  den  allgemeinen  Gang  der 
Ent  Wickel  an  L''  <ler  Wissenschaften  in  Deutschland  ausgebildet  liat.  entgegen- 
treten. Er  wird  erkennen,  dass  die  jetzige  Philologie  mit  ihrer  Art  der  Be- 
handlung der  Altcrthuniswissenschaften  und  der  Sprachen,  mit  ihrer  Sprachver- 
gleichung, mit  ihrer  außerordentlichen  Verzweigung  in  eine  Menge  von  selbst- 
stftndigen  Einzeldisciplinen,  den  Gedanken  der  Specialfaehteehnik  bis  znr  voUen 
Conseqnenz  geführt  hat  Fttr  die  GTmnasien  sind  aber  liierans  Erscheinungen 
hervorgegangen,  welche  nun  zu  Angriffeponkten  der  oben  angedenteten  Art 
werden  mussten.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  manche  unserer,  namentlich 
jüngeren  Gymnasialiihilologen  die  Gesiclits{»unkte  dieses  auf  der  Universität 
gewonnenen  specialistischen  Fachstudiums  unvermittelt  auf  die  Gymnasien  über- 
tragen, und  dass  sie  die  Gynmasialbedentung  des  Studiums  der  antiken  Spraehen 
und  Literatur  weniger  in  der  Endelnng  einer  allgemeuien  geistigen  Ausbildung, 
als  in  der  Erstrebnng  der  Ausbildung  für  die  fachmännische  Philologie  suchen. 
Daraus  erklilrt  sich  besonders  das  Übennaß  der  dogmatischen  Syntax,  mit  wel- 
cher schon  die  mittleren  Ulassen  beschwert  werden.  Die  jetzt  gebriiuchlichen 
Grammatiken  sind  ganz  von  jener  Eichtung  l»elierrsiht:  in  jeder  neuen  Auflage 
bieten  sie  neue,  zum  Theil  höchst  zweifelhafte  syntaktische  Subtilitäten,  deren 
praktische  Applicabilitftt  oft  völlig  unsicher  und  deren  Erlernung  in  der  Form 
abstrakter  Dogmen  für  die  Gymnasialzwecke  unfruchtbar  ist.  Vielfach  wirken 
diese  Grammatiken  sodann  auf  die  Art  und  Einrichtung  der  Scripta  ein,  die. 


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—   644  — 


statt  die  GrandlAgen  zu  einfkchen  and  natfirlichen  Yenndieii  der  Übertvagung' 

in  das  fremde  Idiom  zu  sein,  bisweilen  den  Eindruck  von  künstlichen  Samm- 
Inn^en  syntaktisclier  Fallen  machen  und  statt  im  Schüler  das  frohe  Gefühl  iIhs 
Könnens  die  äng-stliche  Empfindung:  geiinillter  Arbeit  erzeugen.  Hier  ist  der 
Punkt,  an  dem  die  Arbeit  der  Rectoreii  vorzugsweise  einzusetzen  hat.  indem 
sie  den  humanistischen  (iesichtspunkt  der  Gymnasien  gegenüber  dem  der  fach- 
nUbmischen  Pliflologie  wieder  sor  Oehong  m  bringen  liaben.**  —  Endlich  wird 
daranf  hingewiesen,  dass  andi  hesttgliGh  der  Hathematik,  der  Natorwissen» 
Schäften  und  der  Geschichte  „bisweilen  eine  nngesnnde  Steigerung  der  Ansprfiche 
über  das  der  Sdiul»^  zukommende  Maß  zu  beobachten  ist,  und  dass  man  nur  zu 
hilutig;  dem  V  ersuche  von  Anticipationen  be^cirnet,  neben  welchen  der  Univer- 
sität kaum  noch  etwas  Erhebliches  übrig  bleibt.  Und  doch  kann  die  Einheit- 
lichkeit derGymnasialbildnng  nnr  gewahrt  werdm,  wmn  dleaeünterriditartoffe 
innerhalb  der  Grenzen  bleiben,  Ton  deren  Einhidtnng  allein  ein  harmoniidier 
Erfolg  ihrer  Verbindung  mit  den  klassischen  Stadien  bedingt  ist,  ganz  abgeiehen 
davon,  dass  solche  Anticipationen  oft  statt  einer  gesunden  ^ogendbildong  nnr 
eine  kränkliche  und  unfruchtbai'e  Frühreife  zeitigen." 

Den  Dircctoreu  der  Realschulen  werden  namentlich  fidgend»"  Erinnerungen 
gemacht;  „Dei-  Hauptgrund  dei-  Klagen  wird  immer  in  der  Häulung  dei-  häus- 
licihen  Aufgaben  liegen,  welche,  wenn  sie  eine  fibermilfiige  ist,  den  dnreh  sahi- 
reiche Sehttbtnnden  schon  ennfideten  Schflitf  an  einer  seinem  Lebensalter  nnd 
seinem  Kräftezustand  völlig  widersprechenden  Hausarbeit  bis  in  die  tiefen 
Nachtstunden  festhält,  ihm  die  ziu'  körperlichen  Erholung  nothwendigen  Stunden 
entzieht  und  schließlich  seine  geistigen  Kräfte  bis  zur  Lernmüdigkeit  abstumpfen 
muss.  Eine  besondere  Aufmerksamkeit  ist  ferner  auf  die  Art  der  Aufgal>en  zu 
riditen.  Es  handelt  sich  besonders  nm  die  Überwachung  der  Memoriranfgaben 
nnd  die  Wahl  der  Themata  der  AnfMUse,  mathematischen  Arbeiten  nnd  Scripta. 
Endlich  möge  noch  der  ernsten  ErwSgang  anheimgestellt  werden,  da»  auch  die 
Realschulen  1.  Ordnong  der  Gefahr  akademischer  Anticipationen  ausgesetzt  sind, 
und  dass  die  Directoren  eifrigst  dem  Bestreben  einzelner  Lehrer  entgenzutreten 
haben,  die  Si  hiiler  ]»ereits  mit  wis.senschaftlichen  i'roblenien  zu  beschäftigen, 
welche  iiusschlieülich  der  Hochschule  vorbehalten  werden  müssen." 


Y«iBiitwoitUohor  BedMtoar!  M.  8t«iB.  BttcMrnekent  Jaliai  Kliakkardt,  Lüpiif. 


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Der  Pessimismus  nnd  die  Sittenlehre. 

Ym  Frof.  Dr.  Joh.  MehmkeSL-QiUlm, 
(Fofftiotiiiiig.) 

m.  Der  empirisohe  FeaAimifliiiufl  und  die  Sittenlehre. 

Die  bisherige  Üntersnchang:  hat  gezeigt^  dass  der  empirische 
Pessimismus  oder,  um  im  Hartmannschen  Stil  zu  schreiben,  der  Pessimis- 
mus des  empirischen  Subjects,  wo  immer  der  Versuch  gemaclit  wurde, 
aus  ilim  eine  Sitteiilehie  zu  entwickeln,  sich  nicht  taliig"  erwies,  das 
Subject  zur  positiven  Selbstthätigkeit  anzuleiten,  sondern  er  wies 
den  Menschen  vielmehr,  entweder,  sei  es  in  directer,  sei  es  in  indirecter 
Weise,  auf  den  Selbstmord,  oder,  w<>  im  fTiimde  schon  das  ei}i:ent- 
liche  Princip  j^eknickt  wurde,  auf  ein  untliätiges  quietistisches  Leben 
hin.  Mit  Sittenlehren  von  solch  nef,^ativem  Charakter  kann  die 
Menschheit  sich  aber  unmöglich  zufrieden  geben,  und  Hartniann  hat 
Recht  in  seiner  Behauptung:  „Die  piaktische  Philosophie  und  das 
Leben  brauchen  einen  positiven  Standpunkt." 

Die  Untersuchung  hat  uns  jedoch  aucli  ferner  gelehrt,  dass  der 
metaphysische  Pessimismus  oder  der  Pessimismus  des  Absoluten 
(«des  absoluten  Subjects"),  auf  welchem  Hartmann  eine  Sittenlehre  auf- 
zabaaen  versucht  hat,  wol  einen  positiven  Standpunkt  zu  beschaffen 
vennag,  weil  derselbe  das  „empirische  Subject""  dem  Absoluten  anter- 
steUt,  dass  aber  gerade  der  Pessimismus  des  Absoluten  den  eben  aus 
ihm  deducirten  Lebenszweck  des  empirischen  Subjects  zu  einem  rein 
illosorischen  macht.  Deshalb  erweist  sich  ebenÜEÜls  diese  Sittenlehre, 
wenn  auch  scheinbar  als  positiT,  so  doch  schließlich  als  negativ»  welche 
ihren  Anhänger  nur  so  lange,  als  die  Illusion  von  der  Erreichbarkeit 
des  prodamirten  Lebenszwedces  ihn  gefimgen  hftlt^  in  positiver  Thätig- 
keit  erhftlt,  nach  Zerstörung  der  Illusion  aber  auf  den  rein  negativen 
Standpunkt  der  Sittenlehre  des  empirischen  Pessimismus,  welcher  ja 
ein  steter  Appendix  des  metaphysischen  Pessimismus  ist,  zurück- 
sinken  Ifisst. 

4.Jabig.  B«ftXL  43 


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—   674  — 


Aus  diesem  Resultat  unserer  Untersuchung  ziehen  wii*  nun  das 
allgemeine  Urtheil,  dass  die  Sittenlehre,  da  sie  ja  einen  unantastbaren 
positiven  Cliarakter  liaben  nmss,  keine  von  den  möglichen  Formen  des 
Pessimismus,  weder  einen  miki  okosmischen,  noch  einen  maki'okosmischeii 
Pessimismus  des  Individuums,  noch  auch  einen  makrokosniischen  Pes- 
siniisimis  des  Absolnlen  (metaphysischen  Pessimismus)  zu  ihrer  Basis 
haben  kann,  will  sie  anders  iiußerlich  und  innerlich  positiven  Charakter 
behauptcu,  d.  Ii.  wirklich  Sittenlehre  sein.  — 

Die  Formen  des  systematischen  Pessimismus  haben  allesanimt 
einen  empirischen  Ausgangspunkt,  nämlich  den  von  mir  den  empirischen 
genannten  Pessimismus,  d.  i.  jene  „inductiv"  auf  Gruud  der  Erlahrung 
gewonnene  allgemeine  Behauptung,  dass  die  Lustbilance  der  ^\'elt 
eine  negative  sei.  Man  muss  sich  non,  schon  um  der  Wissenschaft 
viUen,  hüten,  zugleich  niit  der  Abweisung  des  systematischen  Pessimis- 
mus überhaupt  als  einer  möglichen  Basis  der  Sittenlehre  den  em- 
pirisdien  Pessimisrnns  außer  aller  Beziehung  zur  Sittenlehre  za  stellen; 
wenn  derselbe  anch  nicht  der  Quellpnnkt  sittlichen  Lebens,  sei  es  in 
welcher  Form  man  es  anch  versachen  möge,  sein  Icann,  so  darf  doch 
die  Mög^eldceit  noch  nicht  ausgeschlossen  werden,  dass  er  f&r  das 
sittliche  Leben  yon  irgend  welcher  wesentlichen  praktischen  Be- 
deutung sei;  und  wenn  man  dieses  behauptet,  so  ist  man  doch  trotzdem 
noch  weit  entfernt  von  der  Anerkennung  einer  pessümstischen,  sei 
es  auf  das  Indiyidnum,  sei  es  auf  das  Absolute  gegründeten  Ethik.*) 


*)  Hartmann  bemerkt  in  der  Vorrede  „Zar  Geschichte  und  Begründung  des 
PeariminnuB'*:  „Wenn  die  bnten  unter  diesen  (den  gegneriachen)  Arbeiten  die  enh 
Pinache  Wahrheit  des  Pessuninniu  dnrKnmen,  «o  treffen  eie  doch  atte  hi  dem  Hanpt' 

Vorwurfe  zusammen,  dass  der  Pessimismus  als  solcher  keine  Ethik  suhMse,  und  dass 
deslialb  auch  meine  l^hilosophio,  weil  sie  pessimistisch  sei,  nicht  etwa  blos  zuf&llig, 
sondern  nothwcuditj  und  wesentlich  othiklos  sein  und  bleiben  müsse.  Als  nun  meine 
„Phänomenolcirie  des  siftlichen  Ikwusstseins'-  erschien,  konnte  dieser  Vonvurf  von 
den  Kritikern  nicht  mehr  aufrecht  erhalten  werden,  denn  nun  lag  ja  die  Ethik  de^ 
Fessimismus  tot  ihnen.  Konnten  sie  nun  nicht  mehr  behaupten,  dass  derPeasmusmns 
nichts  tauge,  weil  er  ethiklos  sei,  so  kehrten  sie  nunmehr  denSpieS  um  und  fimdenr 
dass  meine  Ethik  oidits  tauge,  weil  sie,  um  auf  besagten ibtmmel  xurttokmilEommea, 
„die  Ethik  des  Pessimismus"  sei."  Wir  wollen  Hartmann  die  im  FrohgeftM  tliätigen 
Schaflens  geäußerten  Worte  zu  (Jute  halten,  kr.nnen  aber  nicht  umhin,  zu  constatiren. 
dass  Hartnuiun  sieh  in  einer  Selbsttäuschung  betiuih  t:  I  j  liält  er  nicht  aus  einander 
den  empirischen  und  den  metaphysischen  Pessimismus;  jeuer  lässt  iu  der  That  keine 
Ethik  zu,  d.  i.  auf  ihm  lässt  sich  keine  Ethik  erbauen,  dies  ist  über  allen 
Zweifel  eriiaben.  Der  metai^iysisehe  Pesnmismus  des  AbsolntNi  dagegen  ttsst  eiae 
Ethik  infloHBm  an,  als  auf  Grand,  nicht  des  Pessimisrnns  sondern,  des  Absoluten 
ein  positiTer  Standpunkt  trota  des  Pessimismus  desAbsoInten  Ar.  dasLd>eade8 


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—   676  — 

r)as  sittliche  Bewusstseiii  kann  sich  in  drei  verschiedenen  Weisen 
zu  dem  Pessimismus  überhaupt  stellen:  1)  entweder  es  gründet  sich 
auf  ihn,  sei  es  individuell  dJuddha),  sei  es  metaphysisch  (Hartmann), 
und  hat  demzufolge  entweder  einen  negativen  Inhalt  (Buddha),  oder 
sein  etwaiger  positiver  Zweck  ist  illust irisch  (Hartmann");  2)  oder  das 
sittliche  Bewnsstsein  lässt  den  Pessimismus  nehen  sich  herlaufen,  ohne 
von  iiim  geradezu  bpriihrt  zu  werden  (Brahmanismus);  3)  oder  endlich, 
es  gewinnt  an  ihm  in  der  Praxis  eine  Stütze  und  hat  nach  einer  he- 
stinimten  Seite  hin  an  ilim  einen  RückhaJt  (  Hartmann).  In  den  beiden 
letzten  Fällen  ist  der  beregte  Pessimismus  der  empirische  Pessi- 
mismus, und  weil  Hartmann  in  seinem  System  mit  zwei  Arten,  mit 
dem  metaphysischen  und  dem  empirischen  Pessimismus,  aufmarschirt, 
konnte  ich  ihn  sowol  im  ersten  als  auch  im  dritten  Gliede  als  Bei- 
spiel anführen.  Das  zweite  Glied  lässt  sich  auch  mit  dem  dritten  vei*^ 
einen,  insofern  in  ihm  das  sittliche  Bewusstsein,  wenn  auch  von  einem 
metaphysischen  oder  religiösen  Standpunkt  ausgehend,  gegen  die  Welt 
praktisch  in  gleicher  Weise  sich  änßeit,  und  insofern  die  negative 
Anschauung  von  der  Welt  in  gleicher  Weise  das  sittUdie  Bewusstsein 
Ar  die  Praxis  bildet,  wie  es  das  dritte  Glied  zeigt. 

So  hätten  wir  im  Gimde  also  doch  nur  zwei  Verhältnisse,  in 
welche  sich  das  sittliche  Bewusstsein  zum  Pessimismus  (der  als  em- 
pirische ^V'ahrbeit  hier  natürlich  vorausgesetzt  wird)  gestellt  sehen 
kann,  indem  es  nämlich  entweder  ans  dem  Pessimismus  entspringt,  oder 
in  der  ReaUsirung  des  sittlichen  Zweckes  irgendwie  auf  ihn  sich  stützt, 
ihn  als  Schatzwehr  gebrancht  Dies  Letztere  ist  es,  was  nunmehr  der 
nftherenUntersachnng  unterzogen  werden  soll,  ob  nämlich  der  empirische 
Pessimismns»  da  er,  wie  ich  gezeigt  habe,  nicht  Begrttnder  der  Sitten* 


Uraaehen  sagewUmen  ist:  dies  bat  Hartmaim  mitAiifrtdliiiig  sdner  Ethik  bewiesen; 
biegegen  dnf  Niemand  Fkont  machen,  wol  aber  gegen  die  Uöglidhkeit,  den  em- 

p irischen  Pe^simisrnns  den  Individnnms  aur  BasiB  einer  Ethik  zn  machen;  2)  als 
Hartinann  die  Ethik  seines  metaphysischen  Pes^^imismus  vorlecfte,  da  war  freUich  nur 
natürlich,  ila.s.s  man  zu  dem  Schluss  kam,  die  Ethik  tauge  uichtn,  d.  h.  >ii  ^ei,  wie  ich 
oben  nachgewiesen  habe,  in  dem  von  ihr  verkündeten  Zweck  des  sittlichen  Siiebeus 
^e  lUnsion;  sie  tauge  eben  deshalb  nichts^  weü  sie  die  „Ethik  des  Fessünismiis**, 
d.L  die  Ethik,  hier  nicht  des  onpiiiseheiisoiideni,  des  Pessimismvs  das  Absoluten 
id.  Nur  das  Verkennen  der  absolvten  Verschiedenheit  des  empirischen  Peisimis- 
mus  des  Individuums  und  des  metaphysischen  des  Absoluten  konnte  Ilartmann  auf 
die  Meinung  bringen,  dassman  in  der  Verwerfung  seiner  Ethik  auf  den  „besagten 
Hammel"  der  Verwertung  des  empirischen  Pessimismus  zurückgekommen  sei; 
man  kann  jene  Ethik  Hartmanns  für  untauglich  erklären,  ohne  diesen  Pessimismus 
glnsUeh  rerweifiNi  au  mflssen. 

48* 


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lebre  sein  kann,  doch  ein  nothwendiger  Begleiter  und  Fftrdmr  des  sitt- 
lichen Lebens  sei,  und  wie  weit  sich  derselbe  in  Beti'eff  der  RealisiruDg 
des  sittlichen  Lebenszweckes  geltend  machen  könne  und  machen  müsse. 

Um  zunächst  den  allgemeinen  Begriff  des  sittlichen  Handelns  zu 
fixireii,  so  wird,  wenn  wir  alle  in  der  Gescliichte  vorliegenden  Sitten- 
lehren ver(rl('i<*h(Mid  heranziehen,  gesagt  werden  können,  dasjenige 
Handeln  sei  sittlich,  welches  dem  Lebenszweck  des  Menschen 
entsprech(\  An  diese  formale  Bestimmung  des  Sittlichen  sclilieüt 
sich  dann  die  materiah'  einer  jeden  Sittenlehre  entsprechend ihier  eigen- 
thümlichen  Auffassung  des  Lebenszweckes  an. 

Sittlichkeit  heißt  demnach  die  Arbeit  des  Menschen  an 
seinem  Lebenszweck. 

Mit  dieser  Definition  werden,  wie  ich  meine,  alle  Sittenlehren 
einverstanden  sein  ktinuen  ;  die  bestimmte  Sittlichkeit  einer  jeden  Sitten- 
lehre wird  sich  dann  in  der  durch  den  ihr  eigenthümlichen  Lebens- 
zweck bestimmt  lixirten  Arbeit  ihres  Anhängers  darstellen.  Nun  steht 
es  außer  Frage,  dass  der  empirische  Pessimismus*)  sich  nicht  mit 
jedem  Lebenszweck  wird  vereinigen,  also  auch  nicht  mit  jeder  Sittlichkeit 
wird  zusammen  bestehen  können;  insofeni  wird  er  daher,  wenn  ci-  auch 
für  untahig  erklärt  ist,  aus  sich  heraus  eine  Sittenlehre  zu  «zebäreu, 
einerseits  einen  negativen  P^influss  bei  der  HcsTimnumir  des  Lebens- 
zwecks ausüben,  indem  alle  mit  ihm  in  Widersprucli  stellenden  Lebens- 
zwecke von  vorneherein  durch  ilni  abgewiesen  werden,  und  anderei*seits 
als  Schutz  und  Brustwehr  sich  (irweisen  für  die  piaktisclie  Beliauptung 
eines  bestimmten  sittlichen  Standpunkts,  wenn  nämlich  etwa  '{'riebe 
und  Neigungen  noch  im  Menschen  bestehen,  weldie  jenen  dui*cli  den 
Pessimismus  ausgeschlossenen  Lebenszwecken  das  Wort  reden. 

Wenn  der  Pessimismus  also  eine  Walirheit  ist,  so  wird  man 
ihm  für  die  Sittenlehre  das  Verdienst  zuzusciireiben  haben,  dass  unter 
den  möglichen  Lebenszwecken  schon  auf  Grund  dieser  Wahrheit  die 
ihr  widersprechenden  als  nicht-sittliche,  d.  h.  als  solche,  welche  nicht 
Lebenszwecke  des  vernünftig  handelnden  Menschen  sein  können,  aus- 
geschieden wei-den  mttssen,  denn  der  vernQnfltige  Mensch  wird  nicht 
einen  wahrheits-  oder  vemonftwidrigen  Lebenszweck  als  den  seinigea 
anerkennen  können. 

^fan  wird  diesem  Pessimismus  aber,  wenn  er  sich  einmal  als 
eina  solche  Wahrheit  erweist,  welche  die  Ziele  bestimmter  mensch- 


*)  Ich  werde  den  Memphischen  Pettimiimiis**  fan  Fcdgenden  fOat  gewQkDfidi 


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—  677  — 


jicher  Neig-uiiffeii  als  absurd*'  und  illusorische  brandmarkt,  aucli  iiocli 
das  andere  größere  Verdienst  beizulegen  bereit  sein,  dass  er  derjenigen 
Sittenlehre,  welcher  er,  was  den  von  ihr  aufgestellten  Lebenszweck 
angeht,  gleichsam  die  Existenz  nicht  streitig  macht,  durch  ein  gewisses 
Niederhalten  und  Dämpfen  der  einen  ihr  widersprechenden  Lebens- 
zweck verfolgenden  Neigungen  im  Menschen  zu  ungehemmterer  prak- 
tischer Wirksamkeit  verhilft.  Hierbei  ist  ohne  Weiteres  klar,  dass 
diejenigen  Neigungen,  welche  in  ihrem  Ziel  mit  der  W^ahrheit  des 
Pessimismus  im  Widerspnich  stehen,  ebenfalls  von  derjenigen  Sitten- 
lehre, deren  Princip  trotz  des  Pessimismas  bestehen  bleiben  kann,  als 
nnsittliche  verworfen  werden. 

Somit  würde  der  Pessimismus  für  die  letztgenannte  Sittenlehre, 
falls  sich  das  soeben  Hervergehobene  an  ihr  zeigt,  ein  sehr  geschätzter, 
-wenn  nicht  sogar  nothwendiger,  praktischer  Factor  sein. 

üm  aber  zu  erfahren,  ob  der  Pessimismus  eine  Wahrheit  sei,  ver- 
langt zuerst  die  Bestimmung  des  Begriffs  Pessimismus  ihre  Abwandlung. 
Es  ist  angezeigt,  dass  sich  die  heutige  Sittenlehre  Uber  diesen  Begriff 
bei  dem  neuesten  Vertreter  des  Pessimismus,  E.  t.  Hartmann,  zu 
Orientiren  suche.  Niemandem  wird  entgehen,  dass  diese  neueste  Form 
des  Pessimismus  alle  Voigftnger  an  sanfter  Fassung  flbertrilft,  denn 
Pessimismus  nennt  Hartmann  „die  Behauptung  von  der  Negativität  der 
Lustbilance  in  der  Wdt^:  das  klingt  wie  stilles  Auslfiuten  des  Vesper- 
glOekleins  gegenüber  dem  wilden  Geheul  der  Schopenhauerschen  Sturm- 
glocke; ließe  sieh  doch  sogar  aus  jener  Behauptung  etwa  noch  f&r 
diesen  oder  jenen  der  Mensdien  eine  private  Positivität  der  Lustbilance 
herausklQgeln,  wenn  nur  das  GesammtresultAt  aus  menschlicher  Lust  und 
menschlicher  Unlust  die  Negatiyit&t  ergftbe;  doch  würde  freilich  solche 
Interpretation  nicht  in  Hartmannschem  Sinn  geschehen,  da  dieser  viel- 
mehr die  Negativität  der  Lustbilance  dem  Leben  eines  jeden 
Menschen  znmisst  3^tive  Unlust,  d.  h.  einen  Überschuss  von 
Unlust  Aber  die  Lust",  sagt  der  Pessimismus,  zeigt  das  Leben  des 
Menschen  überhaupt,  die  Differenz  der  einzelnen  Leben  zeigt  sich  nur 
in  dem  grösseren  oder  geringeren  Überfluss  der  Unlust. 

Unter  welchem  Gesichtspunkt  ist  nun  das  Leben  des  Menschen 
1)etracfatet  nnd  abgeweidet  worden,  so  dass  es  den  Ertrag,  welcher 
uns  im  Pessimismus  vorliegt,  hat  liefern  kOnnen?*)  Es  ist  von  grOfiter 

*)  HtTtmaim  (Ph.d.s.B.S.  850)  schreibt  mit  Recht:    die  neuerlichen  literarischen 

I>i9cussionen  ühor  den  Pessimismus  haben  den  zweifellosen  Gewinn  gebracht,  das« 
der  triviale  (  )|jtimismu.s  als  ein  vnn  allen  denkenden  Deutschen  au%egobener  Posten 
zu  betrachten  ist,  dass  die  empirische  Berechtigung  den  Pessimismus  nachgerade  als 


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W'icliligki'it,  sich  diese  Fragte  g^enau  zu  beantworten  nnd  vor  Allem 
sich  klar  zu  machen,  dass  in  der  That  nur  von  einem  ganz  bestimrateu 
Standpunkt  aus  das  pessimistische  Lebensbild  gewonnen  wird,  und  dass 
niclit  etwa  die  Lebensbetrachtung  überhaui)t,  von  w^elchem  St<indpunkt 
aus  sie  immer  gescliehe,  den  Pessimismus  zum  Resultat  habe;  denn 
sonst  niüssten  wnr  die  Sehwerkzeuge  und  die  Denkorgane  aller  der 
Jahrhunderte  und  aller  der  Menschen  herzlich  bedauern,  welche  die 
Wahrheit  des  Pessimismus,  obwolauch  sie  das  Leben  betrachteten,  nicht 
Luiden.  Wir  wollen  uns  auch  einstweilen  in  unserer  guten  Meinung 
Uber  die  gesunden  Organe  der  nicht  pessimistischen  Menschen  nicht 
Irre  machen  lassen  durch  die  Vertreter  des  Pessimismus  k  tout  piix 
welche  allerdings  der  Meinung  sind^  dass  es  nur  der  Betrachtung  über- 
haupt, und  nicht  etwa  einer  besonderen  Betrachtung  des  Lebens 
bedfirfe,  um  die  Wahrheit  des  Pessimismus  herausspringen  zu  sehen^ 
und  dass  eben  Alle,  welche  dieselbe  in  dem  Leben  des  Menschen  nicht 
entdecken,  von  Illusionen  geblendet  und  am  klaren  Schauen  dem- 
zufolge gehindert  seien.  Dabei  wfll  ich  freOich  nicht  verkeunen,  dass 
die  Pessunisten,  obgleich  sie  mit  dieser  Ihrer  Bemerkung,  so  wie  die- 
selbe eben  ganz  allgemein  hingestellt  ist,  im  Unrecht  sind,  dennoch 
wol  Becht  haben  können  gegenüber  einer  großen  Anzahl  von  Gegnern, 
was  sich  bald  herausstellen  wird. 

Welclies  ist  nun  der  Standpunkt,  von  dem  aus  das  Leben  be- 
trachtet werden  muss,  um  die  ^^'allrhe^t  des  Pessimismus  zu  demonstriren? 
Die  Hartmannsche  Definition  des  Pessimismus  scheint  schon  genügende 
Antwort  zu  geben:  der  Standpunkt  ist  die  Lust!  Indes  ist  die-s 
docli  eine  nur  ungenügende  Bezeichnung  der  Sache,  denn  diesen  Stand- 
punkt haben  gleichfalls  Alle  diejenigen,  welche  sich  zu  Gegnern  des  Pes- 
simismus aufwerfen,  inne,  und  man  muss,  will  man  nicht  gerade  die 
Gegner  des  Pessimismus  einfaeli  zu  dummen,  in  Tlhisionen  befangenen 
Menschen  stempeln,  die  Definition  Hartmanns,  wenn  anders  von  der 
Wahrheit  des  Pessimismus  soll  geredet  werden  können,  zu  weit  nennen. 

Wie  die  richtige  Definition,  selbst  im  Hartmannschen  Sinn,  lauten 
mässte,  darauf  kann  uns  ein  Ausspruch  Hartmanns  selbst  föhren, 


eine  nur  noch  von  vorurtheilsvollen  und  beschränkten  Köpfen  angefochtene  Wahrheit 
gelten  kann,  und  da.^s  sich  die  Vertheidigung  des  end&monologischen  Optimismus  tob 

jefzt  an  lediirlich  auf  die  Vertlieidiguni,'  des  ethischen  und  religiösen  Optimismus 
unter  vnUer  Aiierkcimiini,^  des  empirischen  Pessimismus  zu  beschränken  hat.  Dieser 
Stand  der  I'essimismustrage,  welcher  luiuptisächlieh  durch  die  Si^hrifien  von  A.  Tau- 
bert, £.  Pfleiderer  und  J.  Rehmke  herbeigeftihrt  ist,  überhebt  mich  der  Bemühung, 
an  dieser  Stelle  Uber  den  trivialeii  OptimiBiiiiis  noch  mehr  su  sageii.** 


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—    679  — 


welcher  lautet:  „So  war  es  in  der  Tbat  die  Reaction  des  sich  gegen 
die  Zumuthung  einer  definitiven  Abdankung  empörenden  Egoismus, 
was  sich  gegen  die  Annahme  des  Pessimismus  bisher  so  heftig  sträubte" 
la.  a.  0.  S.  58).  Es  ist  der  Standpunkt  des  Egoismus,  welcher  das 
Leben  in  die  „Wahrheit''  des  Pessimismus  eingetaucht  erkennt,  des 
Egoismus,  welcher  die  Lust  nur  als  die  Folge  des  erfüllten  und 
zwar  auf  das  Eigene  gerichteten  Willens  kennt,  und  für  welchen 
Unlust  die  Folge  des  nicht  erfüllten  Eigenwillens  ist.*) 

Wenn  Lust  überliaupt  die  Folge  des  befriedigten  Willens  ist,  so 
kann  man  sagen:  dem  Pessimisten  steht  das  Leben  im  Blickpunkt  der 
aus  dem  befriedigten  Eigenwillen  resultirenden  Lust,  nicht  aber  der 
IjUst  überhaupt.  Gegen  die  Einschränkung  der  Definition  des  Pessimis- 
mus, welche  ich  nunmehr  vorzunehmen  im  Begrift'  bin,  wird  Hai  tmann 
angesichts  seiner  Darstellung  des  Pessimismus  nichts  einwenden  düi-fen; 
meine  Definition  lautet  nun:  Pessimisimis  ist  die  Behauptung  von  der 
Negativität  der  auf  den Kigenwill en  und  seine  Befriedigung  ge- 
gründeten Lust  in  der  Welt.  Icli  werde  diese  Lust  kurz  Eigen- 
Inst  nennen!  Dass  nun  in  der  That  diese,  und  nicht  die  Lust  über- 
haupt den  Blick) iinikt  abgibt,  aus  dem  man  den  Pessimismus  erhält, 
beweist  jeder  (rrüi  in  das  volle  Menschenleben,  in  welches  auch  Hart- 
mann hineingegriffen  hat  zum  Zwecke  der  Demonstration  der  Wahrheit 
des  Pessimismus.  ^Man  sehe  z.  B.  die  Ehe  an,  ein  Kapitel,  welches  ja 
ein  beliebtes  Bravourstück  des  Pessimisten  bildet;  die  Leiden  nnd 
Freuden  der  Ehe  werden  von  Hartmann  untersucht  vom  Standpunkt 
des  Bügenwillens  nnd  in  den  BUckponkt  d(  i-  Eigenlast  gestellt,  und 
nini  marschirt  natürlich  das  Trauerspiel  der  Ehe  vor  unsem  Augen 
über  die  Tiebensbühne.  Der  Pessimist  hat  darin  ganz  Becht»  dass  der- 
jenige, welcher  die  Ehe  als  ein  Institut  ansieht,  um  seinem  Eigenwillen 
in  ihr  genug  zu  thun,  sich  in  dieser  Hoffnung  getäuscht  sieht  und 
einen  Unlust-Überschuss,  wenn  er  die  Zeche  macht,  in  der  Lebens- 
Kasse  der  Eigeninst  zu  constatiren  haben  wird. 

Mag  nun  Hartmann  dieser  genetischen  Definition  des  Pessimismus 
zustimmen  oder  nicht,  ich  will  doch  nicht  unterlassen,  darauf  noch  be- 
sonders hinzuweisen,  dass  in  der  verschiedenen  Auffassung  des  „Pes- 
simismus*', ob  nibnlich  sein  Unlnst-Überschuss  das  Gebiet  des  Willens 
und  die  Lust  ttberhaupt,  oder  nur  das  Gebiet  des  Eigenwillens 
nnd  die  Eigenlust  betrifft,  nicht  nur  ein  Unterschied  des  einfiichen 

*)  Der  Kiir/.c  hullior  lirauche  ich  den  Ausdruck  „Eigenwille"  für  lUn  ..auf 
«las  Eigene  gerichteteu  Willen  de.s  IndiTiduums",  Eigeuwille  heiitöt  aläo  kurz  so  viel 
als  „das  sdn  IiidiTidiielles  wollende  ibidiTidomn**. 


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—   680  — 


Mehr  oder  Weniger,  sondern  ein  principieller  Unterschied  gelegen 
ist,  da  nämlich  in  ersterem  Fall  der  Grund  des  Pessimismus  im  wollen- 
den Individuum  überhaupt,  in  letzterem  in  dem  sein  lndi^iduelles 
wollenden  Individuum  zu  suchen,  dort  also  der  Wille  überhaupt,  hier 
aber  der  Eigenwille  anzuklagen  wäre.  Diese  von  mir  betonte  DiÖerenz 
würde  .sich  als  der  sachlichen  Begründung  entbehrend  herausstellen, 
wenn  der  eigene  Wille  des  Menschen  stets  ein  Eigenwille  wäre,  d.  h. 
wenn  der  Mensch  nichts  frei  wollen  könnte,  ausgenommen  das  Eigene, 
das  Individuelle:  dieses  letztere  erweist  sich  aber  gegenüber  der  That- 
saclic  der  gerade  von  Pessimisten  hervorgeliobenen  uneigennützigen 
Handlunü:en  als  falsch,  weshalb  jene  Differenz  mit  ßecht  festgehalten 
werden  darf. 

Die  beiden  also  wiiklich  zu  scheidenden  Standpunkte  aber  be- 
gegnen sich  trotz  ihres  priiiciiiiellen  üntenschiedes  in  der  Behauptung, 
dass  die  Wahiiieit  desjenigen  Pessimismus,  welcher  erklärt,  dass  aus 
dem  Eigenwillen  stets  Unlust -tl)erschuss  resultire,  also  eirois- 
tisches  Handeln  eine  NeKativiriit  der  Lustbilance  zeigen  weiile.  un- 
antastbar sei.  Dieser  Eigenliisl-rt  ssiinismus  ist  das,  was  Hart- 
mann in  der  vorher  annierkungsweise  iiotirten  Stelle  „empirischer 
Pessimismus"  nennt,  und  ich  muss  der  Wahrheit  desselben  unbedingt 
beipflichten,  ^\'enn  ich  aber  den  Pessimismus  eine  Wahrheit  nenne,  so 
zeigt  er  mir  doch  immerhin  nur  eine  relative  Wirklichkeit,  nemlich 
für  denjenigen,  welcher  das  Leben  mit  dem  ^laüstab  der  Eigeninst 
misst.  Bekannt  ist  es  nun,  dass  Hartmann  nicht  nur  diesen,  von  ihm 
den  empirischen  genannten  Pessimismus,  sondern  den  Pessimisnnis 
überhaupt  vertritt  und  im  Pessimismus  also  eine  absolute  Wahrheit 
erkennen  will,  der  zufolge  der  Mensch,  welchen  Standpunkt  der- 
selbe auch  einnehme,  stets  in  seinem  zur  theoretischen  Prüfung  in 
den  Blickpunkt  der  Lust  überhaupt  gestellten  Leben  die  Negativit&t 
der  Lnstbilance  vor  sich  haben  werde. 

Lassen  wir  die  Prüfung  der  absoluten  Wahrheit  des  Pessimismus 
überhaupt  zunächst  dahingestellt  sein  und  betrachten  wir  vorerst  den 
Eigenlust-Pessimismus  in  seiner  Bedeutung  für  die  Sittenlehre.  Dass 
derselbe  wahr  sei,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Hartmann  hat  in  Bezog 
auf  ihn  das  Kichtige  gesprochen,  wenn  er  behauptet,  dass  es  auf  den 
sich  gegen  die  ZumuÜiung  einer  definitiven  Abdankung  empörenden 
Egoismus  zurückzuführen  m,  wenn  man  sich  noch  gegen  die  Annahme 
des  JBigenlust- Pessimismus  sträubt,  und  Hartmann  hat  femer  Recht, 
wenn  er  dieses  Sich-Sträuhen  auf  Illusionen,  die  vor  der  klaren  Be- 
tracfatong  der  Thatsachen  zerfließen  mOasen,  zurfickftthrt  Soweit  also 


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die  Geguer  des  Pessimismus  den  Standpunkt  des  Eifjenliist-Optimismus, 
oder,  wie  Hartmann  ihn  uemit.  des  trivialen  Optimismus  einnehmen, 
ist  ihre  Gegnerschaft  in  der  That  auf  llhisionen  gegründet.*) 

Es  ist  ein  niclit  zu  unterschätzendes  Verdienst  Hartuianns,  die 
Haltlosigkeit  des  Kigenlust-Optiniismus  nachgewiesen  zu  haben;  nicht 
minder  aber  zu  werten  hat  man  die  Bedeutung  seiner  Untersuchung 
über  „Die  egoistische  Pseudomoral  oder  die  indi\idiial-eudämonistischen 
Moralprincipien",  welche  den  ersten  Abschnitt  der  ersten  Abtheilung 
seiner  „Phaenomenologie  des  sittlichen  Bewusstseins"  bildet.  In  dieser 
üntei-suchung  -wird  die  Wahrheit  des  Eigenlust -Pessimismus  erhärtet 
und  gezeigt,  dass  sich  alle  auf  Eigenlust  gegründeten  Moralprincipien 
als  unzulänglich  und  unhaltbar  für  jeden  Denkenden  und  jeden  das 
Besultat  seines  Lebens  in  Hinsicht  auf  den  hingestellten  Lel)enszweck 
prüfenden  Menschen  erweisen  müssen,  und  dass  der  ehrliche  Egoismus 
gezwungen  wird,  sich  bankerott  zu  erklären,  und  infolge  dessen  dann 
den  Standpunkt  des  Eigenlnst-Pessimismus  zn  dem  seinigen  machen 
mnss  an  Stelle  des  bisher  vertretenen  Eigenlust-Optimismus. 

Die  egoistische  Sittenlehre  fährt  ihren  denkenden  und  prüfenden 
Anhänger  demnach  praktisch  zur  Verneinung  des  von  ihr  selbst  auf- 
gestellten Lebenszweckes,  welcher  letztere  sich  ja  im  Widerspruche 
beindst  mit  dem  Eigenlust-Pessimisrnns;  dass  aber  die  egoistische 
Sittenlehre  praktisch  den  Einzelnen  zn  demselben  negativen  Besultat 
Ahrt,  welches  jener  PessinusmusTerktlndet,  ist  f&r  dieEntwickltmg  des 
aittlicfaen  Lebens  des  Menschen  hoch  wichtig.  Denn  der  erwähnte 
Eigenlnst-Pessinüsmns  als  theoretisch  angenommene  Wahrheit  hatselbst- 
yerständlich  noch  nicht  di^'enige  zwingende  Macht,  welche  nOthig  ist, 
praktisch  Egoistisches  abzuweisen  zn  Gunsten  des  sich  wahrhaft  sitt- 
lich bestimmenden  Handehis,  „denn  der  Egokmus  verhält  sich  zum 
positiv  Ethischen  wie  ein  urwfichsiger  Riesenbaum  der  üppigen  Tropen« 
weit  zn  einem  zarten  Eeimpflänzchen,  das  den  Schnee  durchbricht;  ein 
Wettkampf  zwischen  beiden  erscheint  hoffiiungslos  tSac  letzteres,  so 
lange  der  erstere  in  voller  Kraft  steht,  und  die  tägliche  Erfahrung 
kann  uns  bestätigen,  wie  ohnmächtig  das  Ethische  der  ungebändigten 
Selbstsucht  des  Menschenherzens  gegenüber  ist,  wenn  es  die  Selbst- 
verleugnung erst  erkämpfen  soll,  anstatt  sie  vorzufinden.**  (Hartmann, 
Phaenomologie,  S.  51.)  Daher  ist  es  nöthig,  dass  diese  herbe  Wahr- 
heit des  Pessimismus  wenigstens  vom  Individuum  durch  gelebt,  im 

*)  Den  unomstOfilichen  Nachweis  hierfi'ir  Imt  Hartmann  und  sein  Anhang  in 
vielen  Schriften  geliefert:  Uber  diesen  Paukt  sollte  unter  den  ebrlicben  Leuten  kein 
Streit  mehr  sein. 


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eigenen  Leben  ci  fahren,  durch  Selbsterfalirimg  zu  eigen  jreinacht  \\  erde: 
der  (roethesrhe  Spruch  ist  für  diesen  Fall  walir:  „Was  du  ererl)T  von 
deinen  Vätern  hast,  erwirb  es,  um  es  zu  besitzen."  Immerhin  aber 
wird  diese  Erfahrung  erleichtert  und  beschleunigt,  wenn  jeder  ?jgenhist- 
Pessiniismus  oöen  und  frühzeitig  dem  Indinduum  als  theoretisclie  Wahr- 
heit eingeimpft  wird,  nnd  in  diesem  Sinne  stimme  ich  Hartmann  bei, 
dass  die  Ei'ziehung  ihre  Aufgabe  riditig  erfasst,  wenn  die  Paedagogik 
den  Pessimismus  in  ihre  Basis  mit  hereinnimmt. 

Hieraus  erhellt  nun,  dass  eimnal  die  theoretische  Wahrheit  des 
Eigenlust-Pessimismus  für  die  Constmction  der  Sittenlehre  von  Wichtig- 
keit ist,  indem  durch  denselben  alle  egoistischen  Lebenszwecke 
als  mögliche  sittHchePrincipien  definitiv  abgewiesen  werden, 
und  die  Wahrheit  von  ihm  vertreten  wird,  dass  jedes  System,  welchem 
ein  egoistisches  Princip  zu  Grunde  liegt,  keine  Sittenlehre  sein  könne, 
dass  also  das  sittliche  Princip  des  Menschen  stets  ein  nicht- 
egoistisches  sein  müsse. 

Es  erhellt  femer,  dass  die  praktische  Wahrheit  dieses  Eigenlast* 
Pessimismus  (das  will  heißen:  wenn  er  erlebt  ist)  für  die  Wirksam- 
keit eines  von  ihm  gänzlich  unbeanstandeten  sittlichen  Princii)s  an- 
gesichts des  „Riesenbaums"  Egoismus  im  Menschen  ein  unentbehrliches 
Postulat  ist,  um  die  unsitUidien  egoistischen  Triebe  mit  mehr  Nach- 
drnck  bekämpfen  zu  krmnen. 

Wenn  ich  nnn  diesem  Pessimismus  eine  derai^tige  Stellung  sowol 
in  der  Sittenlehre  überhaupt,  als  auch  für  die  praktische  Wirksamkeit 
jeder  bestimmten  Sittenldire  ohne  Zwang  zugestehe,  so  Termag  ich 
dodi  selbst  ihm  nicht  die  Stellung  einzuräumen,  welche  Hartmann 
sogar  für  seinen  angeblich  absolut  wahren  empirischen  Pessimismus 
in  der  Sittenlehre  fordert  Dieser  letztere  soll  nach  Hartmann  nicht 
nur  den  egoistischen  Lebenszweck  als  unhaltbaren  erkennen  lassen 
und  nicht  nur  eine  Schutzwehr  gegen  die  Verlockungen  des  Egoismus 
bilden,  sondern  sogar  die  Selbstverleugnung  aus  sich  gebären. 
Hätte  Hartmann  in  diesem  Punkte  Recht  (denn  was  hier  von  seinem 
Pessimismus  gilt,  wird  auch  vom  Eigenlust-Pesaimismus  im  Besonderen 
gelten),  dann  nähme  der  Pessimismus  eine  noch  bei  Weitem  wichtigere 
Stellung  in  Ansehung  der  Sittlichkeit  ein.  Dieses  sei  deshalb  näher 
geprüft;  ich  führe  zu  dem  Ende  zunächst  Hartmanns  Darstellung  tot 
an  der  Hand  semer  „Phaenomenologie  des  sittlichen  Bewusstseins". 

„An  der  Nichtigkeit  des  rein  egoistisch  geführten  Lebens,  aus 
der  Hohlheit  und  der  empörenden  Pi^llerei  aller  Hlnsionai,  wenn  sie 
blos  auf  den  Egoismus  bezogen  werdra,  an  der  ganzen  in  sich  zer- 


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fallenden  und  zerbröckelnden  Misere  aller  individual-eudämonistischen 
Systeme  der  praktischen  Philosophie  erkennen  w  nnn  auch  mit  Klar- 
heit, dass  alle  Modiflcationen  mid  Formnlinrngen  dieses  Prindps  in 
Wahrheit  keinen  Anspruch  anf  irgend  welche  ethische  Bedentnng  haben 
kSnnen,  sondern  dass  das  Ethische,  wenn  es  eni  solches  flberhanpt 
gibt,  frühestens  da  anfangt,  wo  Jenes  anfhOrt»  Es  ist  somit  nicht 
blos  ein  negativer  Gewinn,  den  wir  ans  den  Betrachtangen  des 
IndiTidnal-Endämonismos  gezogen  haben,  es  ist  nicht  blos  die  yer- 
neinende  Erkenntnis,  dass  dies  ein  Ethisches  nicht  sein  kann,  sondern 
es  ist  dnreh  die  begritfene  Selbstaufhebung  des  egoistischen  Prindps 
mit  dem  Ende  des  einen  zugleich  der  Anfang  des  anderen  ge- 
wonnen. Wie  bei  geologischen  Gesteinschichten  die  obere  Grenze  der 
tieferen  Schicht  zugleich  die  untere  Grenze  der  höheren  bildet,  so  ist 
das,  was  den  letzten  Abschhiss  in  der  KntwickliiiiLr  des  egoistischen 
Princips  bildet,  zugleich  das  unentbehrliche  Fundament  für  alles 
JIthische,  —  icli  meine  die  Selbstverleugnung,  das  praktische  für 
Wertloshalten  des  Ich  und  seiner  Selbstsucht,  welches  allein  im  Stande 
ist,  in  der  Seele  tabula  rasa  zn  machen  mit  dem  unendlichen  Kram 
der  wichtijrthnerischen  egoistischen  Zwecke  und  Bestrebungen,  die  jede 
etwaige  Entfaltung  des  Ethischen  wie  das  Unkraut  den  AV'eizen  zu 
überwuchern  pflegen.  —  Die  Selbstverleugnung  ist  Anfang  und  Grund- 
lage alles  Ethischen;  freilich  ist  sie  blos  Anfang  oder  untere  Grenze, 
also  noch  nicht  selbst  für  sich  allein  etwas,  sondern  nur  als 
Grundlage  eines  Positiven,  dem  sie  reinen  Tisch  gemacht.  Schon  im 
Namen  liegt  es,  das  die  Selbstverleugnung  der  Thätigkeit  und  Leistung 
nach  etwas  Negatives  ist,  das  erst  der  Ergfinzung  dnrch  ein  Positives 
bedarf;  aber  dieses  Positive,  welcher  Art  es  auch  gefiust  und  ver- 
standen werden  mOge,  bedarf  nnter  allen  Umständen  der  ne- 
gativen Kehrseite  znr  Vervollständigung  des  Gepräges,  ohne 
wekhe  die  Mflnze  nngOltig  wäre.  In  allen  ethischen  Systemen  ist 
letzteres  mehr  oder  minder  deutlich  anerkannt,  aber  fast  ftberall  soll 
das  positiv  Ethische  aus  sich  selber  die  Kraft  schöpfen,  den 
BIgoismns  zn  besiegen  und  die  Sdbstverlengnung  zn  erkämpfen,  während 
hier  das  Bevers  der  Medaüle  zuerst  geschlagen  wird  und  erst  auf 
dem  Boden  der  Selbstverleugnung  das  Ethische  freie  Bahn  zur  un- 
gehinderten Entfaltung  gewinnen  soll"  (a.  a.  0.  S.  50  f.). 

In  diesen  Sätzen  liegt  eine  Wahrheit,  die  aber  von  Hartmatin  zu 
weit  ausgebeutet  ist.  Wenn  die  übrigen  ethisclien  Systeme  niciuti  n, 
in  ihrem  sittlichen  Princip  schon  durchschlagend  dem  Menschen  die 
Ki'ätt  zui'  Besiegung  des  Egoismus  bieten  zu  können,  so  war  es  doch 


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factiscli  der  an  ein  sittliches  Princip  stets  sich  iinliänirende  Eig^enlusi- 
Passimismus,  welcher  zur  Besietrung  des  Egoismus  mithalf.  Hartmann 
majr  deshalb  Hecht  haben,  ^re wisse  Systeme  zu  tadeln,  dass  si»^  diesen 
Pessimismus  wenigstens  nicht  deutlich  genug  ans  Licht  gestellt  haben, 
dass  sie  tiber  dem  Avers  das  Revers  zu  zeigen  vergaßen,  sich  über- 
haupt des  letzteren  vielfach  selbst  nicht  klar  genug  bewusst  wurden: 
und  Hartmann  hat  sicherlich  Recht,  dass  manche  Sittenieliren  d;i> 
pessimistische  Kevei's  in  der  That  zu  prägen  vergaßen.  Die  Knl<re 
davon  war  dann,  dass  diese  Sittenlehren  in  ihrer  praktischen  Wirksam- 
keit sicli  (ift  gezwungen  sahen,  mit  dem  nicht  durch  sie  gebrochenen 
P^goisnnis  und  mit  der  Eigenlust  irgenwie  zu  pactiren,  um  nicht  selbst 
von  diesen  bei  Seite  geschoben  zu  werden.  Kine  jede  Sittenlehi-e*l 
aber  verlangt  in  der  That  Selbstverleugnung,  daher  muss  sie 
auch  unweigerlich  den  Eigenlust-Pessimismus  in  sich  auf- 
nehmen, ohne  welchen  jene  J^'orderimgen  stets  praktisch  machtlos 
sein  würden. 

Während  Hartmanns  Tadel  gegen  die  andern  ethischen  Systeme 
wegen  Nichtbeachtung  des  Pessimismus  in  Ansehung  der  Selbst- 
verleugnung von  mir  als  ein  begründeter  angesehen  ist,  scheint  mir 
indessen  Hartmann  seine  diesfallsige  Überlegenheit  dort  zu  Gunsten 
des  Pessinusmns  zu  weit  auszunutzen,  indem  er  den  Pessiinisnins  schon 
allein  für  ausreicliend  erkläit,  die  Selbstverleugnung  zn  erzielen.  Es 
lieirt  etwas  Verführerisches  in  dem  schr>nklingenden  Ausdrucke  ,.die 
Selbstverleugnung  ist  das  unentbehrliche  Fundament  alles  Ethischen", 
wenn  man  nämlich  in  das  Bild  sich  weiter  verliert  uml  dann  den 
Sinn  jenes  Satzes  so  fasst,  dass  sie  als  die  Grundlage  da  sein  mttsse, 
bevor  überhaupt  das  Ethische  kommen  und  sich  aufbauen  könne. 
Hartmann  will  dies  in  der  That  behaupten,  und  erklärt  deshalb,  dass 
nicht  das  sittliche  Frincipi  sondern  vielmehr  der  Pessimismus  dieses 
„Fundament^  erstelle.  Ich  bezweifle  dieses. 

Die  y^Selbstverlengnung^,  schreibt  Hartmann,  „ist*  das  prak- 
tische fttr  wertlos  Halten  des  Ich  und  seiner  Selbstsucht^;  der  Pes- 
simismus andererseits  ist  nach  ihm  die  Behauptung  von  der  Negativit&t 
der  LnstbUance;  es  ist  jetzt  die  Frage:  kann  die  Erfahrung  von 
diesem  Pessimismus  allein  f&r  sich  in  der  That  die  Selbstverleug- 
nung zur  Folge  haben?  Dieses  ist  nun  nur  in  dem  einen  Fall  denkbar, 
wenn  die  Nogativität  der  Lustbilance  eine  absolute  und  das  Conto 


*)  Da«  Wort  Sittenlehre  gilt  hier  jetzt  natürlich  nur  noch  Ton  den  berechtigten, 
d.  i.  nichtegoistischen  ethiacben  Systraien. 


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der  Lust  durch  das  ganze  Leben  hindurcli  ein  unbeschriebenes  Blatt 
wäre:  dann  nur  allein  Nvürde  die  Selbstverleuirnnn?  eben  als  die  aus 
dem  blossen  Pessimismus  natürlichei'w  eise  resultirende  Selbst  Verneinung^, 
d.  i.  Selbstmord,  die  zwingende  Folire  sein.  Sobald  abei-  der  Pessimismus, 
wie  g:erade  derjenige  Hartmanns,  noch  irgendweldie  Eigenlast  als 
wirklich,  als  nichtillusorisch  anerkennt,  tritt  niclit  einmal  theoretisch, 
geschweige  denn  praktisch  das  absolute  „für  wertlos  Halten  des  Ich 
und  seiner  Selbstsucht*"  ein;  das  Kriterium  des  Lebens  bildet  ja  für 
solchen  Pessimismus  die  Eigenlust,  so  dass  bei  ihm  also,  sobald  der 
Überschnss  der  Unlust  constatirt  ist,  wol  eine  geringere  Wertschätzung 
als  es  früher  der  Fall  war,  nicht  aber  ein  gänzliches  fiir  wertlos 
Halten  der  Eigensucht  auftreten  kann. 

Niemals  wird  daher  allein  ans  der  negativen  Lustbilance  des 
Pessimismus  die  Selbstverleugnung  des  Pessimisten  hervorwachsen, 
auQgenommen  den  Fall,  da  jene  Bilance  eine  absolute  ist  und  dann 
eben  zum  Selbstmord  führt.  Auch  im  letzteren  Fall  aber  würde  die 
sich  ergebende  Selbstverleugnung  nicht  das  Fundament  fÖr  etwas 
„Positives'S  Ethisches  bilden,  sondern  vielmehr  nur  die  negative  ,4^hr- 
seite'  eines  Negativen,  des  Selbstmordes,  sein,  denn  die  rein  pessi- 
mistische Selbstverleugnung  ist  stets  absolute  Selbstvemeinung.  Sobald 
aber  nur  eine  relative  Xegativität  der  Lustbilance  constatirt  ist  von 
dem  Individuum,  wird  dieses,  als  immerhin  noch  vom  Eigenwillen 
erffillt,  an  dem  kleineren  positiven  Posten  des  Lustcontos  sich  in 
seinem  praktischen  Verhalten  festsaugen  und,  ohne  je  zur  Selbst* 
Verleugnung  zu  kommen,  sidi  anstatt  des  leider  irrthfliulich  erhofften 
aberrdchlichen  Mahls  eben  mit  der  geringen  Kost  der  wenigen  Eigen- 
lust, die  in  der  Bechnung  stehen  blieb,  zu  begnfigen  wissen. 

Sobald  nun  das  Leben  einzig  mit  der  Eigenlust-EUe  gemessen 
wird,  kann  in  der  That»  wenn  auch  Negativität,  so  doch  nie  absolute 
Negativität  der  Lustbilance  das  wissenschaftliche  Facit  sein,  und  vor 
allem  wird  deshalb  das  absolute  „f&r  wertlos  Halten  der  Selbstsucht'* 
als  Biditschnur  f&r  das  praktische,  d.  L  das  in  positiver  ThäUgkeit 
das  Leben  fortsetzende  Individuum,  so  lange  der  Pessimismus  allein  als 
das  Bestimmende  hingestellt  wfirde,  unmöglich  im  Bewusstsein  dieses 
Individuums  sich  finden.  — 

Die  absolute  Wertlosigkeit  der  Selbstsucht  ergibt  sich  erst 
fttr  den  positiv  praktischen,  nicht  dem  Selbstmord  vei£dlenden 
Menschen,  und  sogar  ohne  allen  vorhergehenden  Pessimismus,  freilich 
nur  erst  als  rein  theoretische  Annahme,  aus  jedem  sittlichen, 
d.  h.  nichtegoistischen  Princip,  weil  dieses,  sofern  es  als  Mafi- 


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Stab  des  Weites  des  eigensüchtigen  Lebens  genommen  wiid,  das 
letztere  begreiflicher  Weise  für  absolut  wertlos  erklären  und  in- 
folge tlesstii  aueh  die  Selbs Verleugnung  als  Forderung  aufstellen 
wird.  Indes,  wenn  das  sittliche  Princip  auch  die  Theorie  der  Selbst- 
verleugnung aus  sich  gebären  kann,  so  ist  dasselbe  mit  der  Praxis 
der  Selbstverleugnung  nicht  ebenso  glücklich,  da  das  praktische 
für  wertlos  Halten  der  Selbstsucht  ja  nicht  die  logisch  sittliche 
Berechtigung  des  Egoismus,  sondern,  was  etwas  ganz  andei-es  ist,  die 
Existenz  desselben  verneinen,  d.  i.  den  Egoismus  vernichten  soll.  — 

Dass  nun  das  im  Individuum  lebendige  sittliche  Princip  die 
Existenz  des  Egoismus  praktisch  verneinen,  also  die  Selbstverleugnung 
an  diesem  Individuum  rein  von  sich  aus  auch  praktisch  bestellen 
könnte,  wird  Niemand  leugnen,  und  man  muss  den  von  v.  Hartmann 
angezogenen  ethischen  Systemen  Kecht  geben,  wenn  sie  in  der  That 
in  ihrem  sittlichen  Princii)  selbst  schon  die  Kraft  zu  besitzen  glauben, 
den  p]goismus  zu  brechen.  Aber  freilich  bedarf  es  immerhin  einer 
Vorarbeit,  um  diese  Kraft  im  Individuum  zur  Geltung  zu  briniren. 
und  eines  Mittels,  das  die  Iiindernis.se  aus  dem  Wege  räume  tVir  die 
Entfaltung  der  dem  sittlichen  Princip  selbst  innewohnenden  Knift. 
Dieses,  sozusagen  itropädeutische  Sittlichkeitsmittel  ist  der 
Eigenlust  -  Pessimismus;  er  selbst  kann  die  Selbstverleugnung: 
allerdings  nicht  als  seine  ^\'irkung  aufweisen,  er  ist  aber  das  probate 
Mittel,  durch  welches  das  sittliche  Princip  sich  geltend  und  in  Folge 
dessen  seinerseits  nun  die  Selbstverleugnung  möglich  macht. 

Die  Selbstverleugnung  aber  ist  nie  eine  „Thätigkeit  oder  Leistung^' 
für  sich  neben  der  sittlichen  Thätigkeit,  wie  Hartmann  meint, 
so  dass  jene  dieser  etwa  voranginge,  sondern  sie  ist  -eben  die 
sittliche  Thätigkeit  in  ihrem  Verhältnis  zum  Eigenwillen  des 
Individuums  betrachtet.  Daher  hat  es  auch  keinen  Sinn,  wenn  Hart- 
mann  schreibt,  dass  „erst  auf  dem  Boden  der  Selbstverleagnung 
das  Ethische  freie  Bahn  zur  ungehinderten  Entfaltung  gewinnen  soll**, 
denn  mit  dem  „Ethischen"  gewinnt  natürlich  auch  erst  die  Selbst* 
yerlengnung  ihre  Entdedtung,  welche  ja  eben  dieses  selbe  Ethische 
nur  unter  dem  soeben  erwähnten  speciellen  Gesichtspunkte  darstellt. 

Dei*  Pessimismus  mag  mir  noch  so  sehr  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen sein,  so  werde  ich  doch  erst,  wenn  ich  in  dem  positiven 
sittlichen  Prininp  einen,  die  Eigensucht  absolut  für  wertlos  erklären- 
den Maßstab  besitze,  zur  Selbstverleugnung,  d.  h.  eben  mit  andeni 
Worten  zum  sittlichen  Handehi  kommen  könn^  denn  nnr  das  Bewnsst- 
sein  der  totalen  Wertlosigkeit  der  Eigensncht  ermöglicht  die 


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Selbstverleugnung',  und  ein  solches  Bewiisstsein  kann,  wie  ich  gezeigt 
hahe,  der  Pessimismus,  sofern  er  die  Beliauptiing  von  der  relativen 
Negativität  der  Lustbilance  ist,  nun  und  nimmer  liefern,  sondern 
das  ist  die  Leistung  des  im  Menschen  lebendig  gewordenen  sitt- 
liehen  Princips. 

Dalier  ist  die  Sache  stark  verschoben  und  präsentirt  sich  scluef, 
wenn  es  bei  Hartmann  heißt:  ,.die  Selbstverleugnung  ist  Anfang  und 
Grundlage  alles  Etliischen''  (Hartmann  a.  a.  0.  S.  51),  sie  ist  viel- 
mehr ein  bestimmtes  Moment  des  Ethischen  selbst,  daher  auch  nicht 
vor  diesem  da,  und  aus  eben  demselben  Grunde  nicht  aus  einer 
anderen  Quelle  entsprungen  als  das  Ethische,  welches  seinerseits  ja 
aus  dem  lebendig  gewordenen  sittlicben  Princip  des  ludividaums 
hervortritt  im  Leben  des  Menschen. 

Die  zugestandene  Unentbehrlichkeit  des  Pessimismus  nun  für 
alles  Sittliche,  insofern  dieses  ja  stets  auch  als  Selbstverleugnung  auf- 
tritt, muss  augenscheinlich  in  einem  anderen  Punkte  seine  Begründung 
finden;  als  solcher  bietet  sich  die  praktische  Entfaltung,  d.  i.  die 
Darstellung  des  Sittlichen  im  Leben  des  Individuum».  Nie  würde 
wol  das  sittliche  Princip  als  das  Princip  der  Selbstverleugnung  festen 
Boden  im  Menschen  als  wollendem  finden,  wenn  nicht  der  Pessimismus 
die  aus  dem  Gesichtspunkt  der  Eigenlust  vorgenommene  Wertung  des 
Lebens  unter  dem  Nullpunkte  fixirte  und  dadurch  dem  Individuum 
es  praktisch  möglich  machte,  auf  Grund  des  sittlichen  Princips 
zu  sittlichen  Thaten,  d.  i.  zur  Selbstverleugnung  zu  kommen. 

Dieses  Bündnis  des  Pessimismus  mit  dem  sittlichen  Princip  ist 
aber  nur  anter  einer  Voraussetzung  denkbar,  dass  nämlich  der  Mensch, 
velcher  das  eigensüchtige  Leben  mit  dem  MaAstab  dar  Eigeninst 
gemessen  und  auf  Grand  der  Messnng  den  Eigenlnst-Pessimismas 
gewonnen  hat»  mit  einem  wesentlich  gleichen  Maßstab  anch  das  sitt- 
liche Leben  prüfte.  Wir  können  ntolich  von  yorneherein  die  Über-, 
legimg  machen,  dass  das  Individanm  bei  dieser  seiner  totalen  Yer^ 
ändernng,  bei  dem  Übergang  von  der  rnnprOngüchen  Selbstsucht  zur 
Selbstverleugnnng,  vom  ursprünglichen  Egoistischen  zum  Sittlichen, 
gewisse  in  seuiem  eigenen  Innersten  liegende  Motive  wol  hat  wirken 
lassen  mflssen,  und  wie  es  nun  die  Lust  war,  welche  er  aus  dem  „zu 
erfUlenden**  Eigenwillen  sich  vorspiegelte,  so  wird  es  auch  Lust 
gewesen  sein,  welche  ihm  in  seiner  Lage  als  „sittUchen**  Menschen 
entgegengetreten  ist  So  kann  Lust  gegen  Lust  sich  stellen  und  dem- 
nach eigensüchtiges  und  sittliches  Leben  unter  einen  gleichen  Mallstab 
gebracht  und  gegen  einander  abgewogen  werden.   So  auch  konunt 


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in  der  That  erst  der  Wert  des  Pessimismiis  ftkr  die  Senntverlengnung, 
d.  1  also  für  das  Sittliche  überhaupt  znr  Geltung,  indem  erkannt  wird, 
dass  die  von  ihm  herrorgerafene  Zertrümmerung  des  ursprünglich  in 
den  Augen  des  Individunrns  absoluten  Wertes  des  Egoistischen 
Ranm  schafft,  um  dem  sittlichen  Princip  dadurcli  die  praktische  Wii-k- 
samkeit  zu  ermöglichen,  dass  sich  nun  der  Wert  des  sittlichen  Lebens 
für  (las  Individuum  erweist  als  einer,  welcher  wenigstens  denjenigen 
des  efroistischeu  Lebens  überwieofe.  Wie  dieses  aber  näher  zu  ver- 
stehen sei,  dass  der  Sittliche  mehr  Lust  und  zwar  sogar  „Lustüber- 
schnss"  erfahre,  und  wo  namentlich  die  (Quelle  dieser  Lust  des  sitt- 
lichen Lidividuiuns  zu  suchen  sei,  wird  erst  weiter  unten  gezeigt 
werden  können.  — 

In  jeder  P^thik,  deren  einzelne  Forderungen  also  mit  dem  positiven 
Inhalt  als  dessen  Kehrseite  die  Selbstverleugnung  enthalten,  wird 
neben  dem  Pessimismus  als  seine  Kehrseite  der  Optimismus  auftreten, 
insofern  die  Ethik  ü))erhaupt  dem  Menschen  einen  i»(»sitiven  Lebens- 
zweck stellt.  Diese  oi)timistische  Kehrseite  fehlt  den  pessimistischen 
Sittenlehren,  welche  daher,  um  Hartmanns  Ausdruck  hier  zu  jrebiuuchen, 
nn^ültig^e  Münzen  ausgeben,  weil  diesen  eben  zu  ihrer  Gidiigkeit 
unter  allen  Umständen  die  Ergänzung  ihres  pessimistischen  Avei*s 
durch  das  optimistische  Revers  ntithig  wäre.  Ohne  ethischen  Optimismus  "  i 
ist  Sittlichkeit  in  der  Welt  geradezu  etwas  Unmögliches;  kein  Mensch 
würde  für  einen  Lebenszweck  frei  tliätig  sein,  wenn  diese  seine 
Arbeit  niclit  unter  „Positivität  der  Lustbilance"  vor  sich  ginge,  und 
ohne  solchen  Optimismus  wäre  auch  die  Selbstverleugnung, 
d.  i.  also  das  Ethische  überhaupt,  eine  Unmöglichkeit.  Die 
Wahrheit  des  Eigenlust -Pessimismus  nuiss  begleitet  sein  von  der 
Wahrheit  des  ethischen  Optimismus:  denn  nur  der  letztere  kann  über 
die  Eigensucht,  die  freilich  in  ihrem  geringen  positiven  Resultat  schon 
•durch  jenen  Pessimismus  gezeichnet  ist,  ei"st  wirklich  hinweghelfen. 

Es  ist  ein  großer  Irrthum  Hartmanns,  dass  er  die  Selbstverleug- 
nung, die  ja  ein  integrirender  Theil  wirklicher  Sittlichkeit  ist,  nicht  nur 
alseine  rein  negative  Leistung  nur  allein  für  sich  möglich  erkl&rt» 
während  sie  ja  doch  nur  das  negative  Moment  neben  dem.  positireaaB 
Einer  sittlichen  Leistung  oder  Thätigkeit  ist,  sondern  dass  er  sie  auch 
insbesondere  als  durch  den  Pessünismos  allein  schon  gegeben  behai^itet 


*)  Ethischer  Optimismas  hei^t  nicht:  Optindmiiis,  welcher  au  das  sittliche 
Handeln,  sondern  an  dot  eittlich  Haadeladen  aaknftplt:  dfe  Ideiüi  liegende 
Di£fereiUE  wird  der  Vcriavf  der  Vntenachuiig  klarlegen. 


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In  die.^eii  In  tlmm  ist  Hartniann  wol  dadurch  verfallen,  dass  er  in 
solchen  „sittlichen"  Systemen,  \velclie  als  ix'ssiniistische  nichts  Positives 
hatten  und  keinerlei  Optimismus  vertraten,  die  Selbstverleugnung  vor- 
fand. Bei  Licht  besehen  aber  war  doch  in  dieser  die  Selbstverleug- 
nung nur  das  eine  negative  Moment  der  rein  negativen  That  der 
Selbst  Verneinung,  des  Selbstmordes,  welche  in  dem  Bewusstsein 
geschah,  besser  sei  es,  nicht  zu  sein  als  zu  sein;  d.  h.  also,  wir 
haben  es  hier  mit  einem  Paradoxon,  mit  einer  eigensüchtigen 
Selbstverleugnung  oder,  was  dasselbe  sagt,  mit  einer  sich  selbst 
verneinenden  Selbstsucht,  dem  Selbstmord,  zu  thun. 

Ist  es  aber  aucii  der  Fall,  dass  solche  Selbst verneinungs-That  ein 
reiner  Pessimismus- Act  genannt  werden  muss,  dass  also  hier  das 
Moment  der  Selbstverleugnung  aus  dem  Pessimismus  allein  erklärt 
werden  kann,  so  ist  damit  noch  in  keiner  Weise  gegeben,  dass  nun 
stets  die  Selbstverleugnung  dem  Pessimismus  ihr  Dasein  zu  ver- 
danken habe.  Denn  in  dem  vorliegenden  Falle  ist  sie  solchen  Ur- 
si)nings  einfach  aus  dem  Grunde,  weil  die  Leistung,  der  Selbstmord, 
einem  PessimismiLS  der  absoluten  Negatlvität  der  Lustbilance  ent- 
stammt. 

Es  muss  auf  alle  Fälle  die  in  der  positiven  Sittenlehre  ent- 
haltene Selbstverleugnung  auf  das  positiv- sittliche,  als  das 
alleinige  Princip  und  auf  den  mit  diesem  zusammenh&ngenden 
Optimismus  zurUckgefdhrt  werden,  während  sie  im  Eigenlust- 
Pessimismus  dann  ihre  praktische  Stütze  erhält. 

Mit  der  Behauptung,  dass  der  etliische  Optimismus  nothwendig 
sei  fiir  die  Wii*ksamkeit  der  Sittenlehre  und  zwar  jedenfalls  ebenso 
nothwendig,  wie  der  mit  ihm  verknüpfte  Eigenlust-Pessimismus,  mit 
dieser  Behauptung  trete  ich  in  schneidenden  W  iderspruch  zu  Hartmann, 
welcher  seinem  Pessimismus  allein  diejenige  Stellung  in  der  Sitten- 
lehre angewiesen  wissen  will,  welche  ich  den  vereinigten  Anschauungen, 
dem  EigenluBt-Pessimismns  und  dem  ethischen  Optimismus,  einräumen 
wollte. 

Ich  habe  schon  im  Obigen  darauf  hingewiesen,  dass  die  Selbst- 
verlengnung  nur  die  unabtrennbare  Kehrseite  der  positiven  Seite  der 
sittlichen  That  sei,  dass  aber  die  idttUche  That  als  solche  natürlich 
ihren  Ursprung  im  sittlichen  Princip  habe.  Ich  bin  femer  bedacht 
gewesen,  zu  zeigen,  dass  das  sich  selbstverleugnende  sittliche,  das 
ist  Positives  bezweckende  Individuum  zu  dieser  seiner  Thätigkeit  nur 
dann  kommen  kdnne,  wenn  es  praktisch  die  Eigensucht  f&r  wertlos 
hält,  und  dass  es  zu  diesem  fDr  wertlos  Halt«i  wiederum  nur  ge- 

Padafogian.  4.  Jabfg.  XL  Heft  44 

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I 


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langen  werde,  wenn  es  an  sein  Leben  einen  andern  Wertmesser,  als 
den  der  Eig^enhist  zu  legen  im  Stande  ist.  Ich  habe  endlicli  darauf 
hingewiesen,  dass  dieser  andere  Wertmesser  nur  dann  jjraktiselie 
Dienste  leisten  und  die  Eigensucht  wirklich  verneinen,  wirklich  also 
Selbstverleugnung  ei*zielen  werde,  wenn  er  die  Eigensucht  auf  ihrem 
eigenen  Boden  aufsuchen  und  mit  der  Lust  gegen  die  Eigenlust  auf- 
treten, wenn  er  also  mit  der  absoluten  Verurtheilung  des  ^\'ertes  der 
Eigensucht  zu  gleicher  Zeit  den  ethischen  Optimismus,  d.  i  die 
Behauptung  von  der  Positivität  der  Lustbüance  des  Lebens  dem 
sittlichen  Individuum  demonstriren  könne. 

Indem  nun  aber  Hartmann  dem  Eigenlust-Pessimismus  fälschliclier 
Weise  die  Kraft,  den  Egoismus  niederzukämpfen,  zuschreibt,  eine 
Kraft,  die  mit  vollem  Recht  nur  dem  sittlichen  Princip  und  dem 
mit  ihm  zusammenhängenden  Optimismus  des  sittlichen  Individunms 
beigelegt  werden  kann,  eröffnet  er  sich  die  Möglichkeit,  für  seine 
Sittenlehre  des  ethischen  Optimismiis  entbehren  za  können.  Denn  das 
ist  ja  die  einzige  Verwendung,  welche  eine  Sittenlehre  von 
ihrem  Optimismus  machen  wird  und  will,  dass  derselbe  die  trotz 
des  Pessimismus  noch  immer  gleichsam  neben  diesem  au&chieAende 
Eigensucht  als  absolut  wertlos  dargestellt  und  infolge  dessen  für 
das  Individuum  auch  reizlos  zu  machen  sucht,  was  der  Pessimismus 
allein  fOr  sich  ohne  aUe  Aussicht  auf  Erfolg  anstellen  wQrde. 

Hartmann  aber  will  innerhalb  des  Pessimismus  selbst  das  NSthlge 
zur  Vemichtnng  des  Egoismus  vorfinden,  durch  welches  das  sittliche 
Leben  des  Individuums  emöglicht  werde.  Es  kann  nun  den  Schein 
erwecken,  als  ob  ich  hier  ein  schon  Erörtertes  nur  wiederhole,  während 
ich  doch  factisch  eine  neue  Seite  des  Hartmannschen  Systems  der 
Betrachtung  unterstellte.  ^^  ir  wissen  schon,  dass  nach  Hartmann  der 
Egoismus  vernichtet  und  die  Selbstverleugnung  gewonnen  werde 
durch  den  Pessimismus  allein,  sodass  zugleich  die  Selbstverleugnung 
als  ein  für  sich  vorgenommener  Act  der  ..positiv*  sittlichen  That 
selbst  vorangehe.  Da  \yir  aber  die  Trennung  der  zwei  Momente 
eines  jeden  sittlichen  Actes  in  zwei  aufeinander  folgende  Acte  unbe- 
dingt verurtheilen  müssen,  so  werden  wir  noch  einmal,  wenn  wir  uns 
nun  die  Möglichkeit  des  von  Hartmann  gezeichneten  sittlichen 
Lebens  klarstellen  wollen,  auf  den  Hartmannschen  empirischen 
Pessimismus  zurückgewiesen,  weil  selbstverständlich  die  Möglichkeit 
des  „positiven"  sittlichen  Lebens,  welches  Ja  nur  die  Kehrseite  des 
„negativen**,  d,  h.  der  Selbstverleugnung  ist,  auf  eben  dasselb«'  ge- 
gründet sein  muss,  auf  welches  nach  ihm  diese  gegründet  sein  solL 


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Ist  die  Selbstverleugnung  im  einpiristi?ichen  Pessimismus  groß- 
gezogen, so  muss  auch  das  sogenannte  „positiv  Etliisclie"  Hartmanns 
in  diesem  Pessimismus  die  Bedingung  seiner  Möglichkeit  haben.  Das 
Nöthige  findet  sich  hiefür  nun  in  der  That  bei  Hartmann  vor,  aber 
OS  wird  sich  der  interessante  Umstand  herausstellen,  dass  auch  Hart- 
manii  nicht  umhin  gekonnt  hat,  in  diesem  Fall  mit  der  Lust  gegen, 
die  Lust  zur  Ermöglichung  seiner  Sittlichkeit  zu  operiren,  was  eben 
die  Wahrheit  des  allgemeinen  Satzes,  welchen  ich  vorhin  anführte, 
wiedemm  bestätigt,  dass  die  Eigensucht  nur  mit  einem  Mittel,  das 
auch  zugleich  auf  ihrem  Boden  heimisch  sei,  bek&mpft  werden  könne 
wie  Sinnoza  richtig  sagte:  Affect  lässt  sich  nur  durch  Afiect  be- 
kämpfen und  vemichtenl  Idi  bin  mir  aber  bewnsst,  trotz  der  Herein- 
nahme der  Lust  ins  Sittliche  und  der  Gegenstellung  der  Lust  des 
ethischen  Individuums  gegen  die  Eigenlust»  nicht  etwa  Unsittliches 
ins  sittlidie  Gebiet  hereingeschmuggelt  zu  haben  und  nicht  in  An- 
betracht der  Vertreibung  der  Bigensucbt  durch  d«i  ethischen  Optimis- 
mus den  Vorwurf  zu  verdienen,  dass  ich  Belial  durch  Beelzebub  aus- 
treiben wolle. 

JDass  das  sittliche  Leben^  erklfirt  Hartmann  (a.  a.  0.  S.  851  £), 

in  individueller,  wie  in  collectiver  Hinsicht  das  relativ  erträglichste 
werden  musstc,  war  teleologisch  nothwendig,  wenn  die  Menschheit 
überhaupt  psycliologisch  in  den  Stand  gesetzt  werden  sollte,  ihre 
ethische  Aufgabe  im  Weltprocess  zu  erfüllen,  deren  Lösung  andernfalls 
völlig  unmöglich  wäre;"  „die  Sittlichkeit  zu  einer  die  Kräfte  des 
Menschen  nicht  geradezu  übersteigenden  Aufgabe  zu  machen,  ^^ird 
eben  durch  das  Zugeständnis  erreicht,  dass  das  sittliche  Leben  das 
relativ  erträglichste  sei."  Hieraus  geht  deutlich  hervor,  dass  auch 
der  Hartmannsche  Mensch  die  Kraft,  den  sittlichen  Forderungen  zu 
genügen  und  die  Selbstverleugnung  praktisch  durch  Überwindung  der 
„natüi-lichen  Triebfedeni  der  Selbstsucht"  auszuführen,  aus  dem  Be- 
wusstsein  schöpfe,  dass  das  sittliche  Leben  erträglicher  sei,  d.  i. 
weniger  Unlust  und  mehr  Lust  als  das  selbstsüchtige  Leben  aufweise, 
wenngleich  immer  die  Lustbilance  noch  negativ  bleibe;  das  relative 
Überwiegen  der  Lust  auf  dem  sittlichen  Standpunkt  gegenüber  der 
des  egoistischen  ist  es  also,  welches  auch  nach  Hartmann  die  Sittlich- 
keit zu  einer  praktisch  möglichen  Aufgabe  macht.  Es  wird  nun  aber 
hierbei  von  Hartmann,  damit  doch  im  Allgemeinen  der  pessimistische 
Standpunkt  gewahrt  bleibe,  stets  betont,  dass  deijenige,  welcher  seinen 
Willen  ganz  und  gar  in  den  Dienst  des  sittlichen  Principe  stellt, 
immerhin  nur  „das  erträglichste  Leben  von  Allen**  f&hre;  dieses  Zu- 

44* 


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—   692  — 


geständnis  sei  noch  weit  entfernt  von  d^v  Behauptung,  dass  „die 
eudäinonologische  Bilance  eines  solchen  Lebens  positiv  sei  oder  dass 
ein  solches  Leben  dem  Xichtleben  vorzuziehen  sei"  (a.  a.  0.  S.  851). 

Also  niclit  der  Umstand,  dass  der  ethische  Optimismus  dorn 
Individuum  nielir  Lust  im  Gegensatz  zu  dessen  Eigensuchtlebcn 
zutlieilt,  lässt  Hartmann  solclien  Optimismus  verneinen,  denn  auch 
Hartmunns  „relativ  erträglichstes  Leben"  weist  dies  „mehr  Lust'*  auf, 
sondern  dass  jener  Oj^timismus  eben  die  Ansicht  vertritt,  es  werde 
dem  sittlichen  Individuum  „ein  positiver  Lustüberscliuss  in  der 
eudämonologischen  Bilance  des  Individuallebens"  zuzuschreiben  sein. 
Diesen  angeblich  illus<trischen  Status  des  „positiven  Lustüber- 
schusses" nennt  Hartniaun  „positive  Gl iickseligkeit". 

Bevor  ich  nun  die  Untersuchung  anhebe,  ob  der  ethische  Optimis- 
mus, wie  Hartmann  meint,  an  und  für  sich  eine,  Illusion  und  auch  in 
Ansehung  des  Sittlichen  überhaupt  zu  verwerfen  sei,  gilt  es  noch  zu 
untersuchen,  ob  denn  in  der  That  dasjenige,  was  derethisclie  Optimismus 
für  die  Selbstverleugnung  leistet,  gleiclifalls  als  jiraktische  t^llge  aus 
der  Ansicht  resultire,  welche  das  nach  sittlicliem  Princip  geleitete 
Leben  freilich  das  relativ  erträsrlichste  nennt,  aber  demselben  immer- 
hiü  noch  „unzweifelhaft  Xegativität  der  Lustbilance"  zuschreibt. 

Ich  hoflfe  den  Nachweis  geliefert  zu  haben,  dass  wenigstens  die 
sittliche  Selbstverleugnung  nicht  aus  dem  Eigenlust-Pessimis- 
mus hervorgehen  kann,  was  sich  auf  den  allgemeineren  Satz,  welchen 
ich  in  den  vorhergehenden  Abschnitten  erläutert  habe,  wiederum 
znräckfüliren  lässt,  dass  der  Pessimismus  für  sich  überhaupt  nur  Acte 
reiner  Vernichtung,  d.  i.  nur  reinen  Mord  zur  praktischen  Folge 
haben  kann.  Wenn  also  die  sittliche  Selbstverleugnung  allerdings 
nicht  ans  dem  Hartmannschen  Eigenlust -Pessimismus  hervorgehen 
kann,  so  wftre  vielleicht  immer  noch  die  Möglichkeit  vorhanden,  dass 
sie  sich  ans  dessen  „ethischem"  Pessimismus  heransai'beiten  ließe, 
welcl^er  letztci*e  bekanntlich  nach  Hartmann  an  Lust  den  andern 
überwiegt.  Indes  diese  ^Möglichkeit  schwindet  sofort,  wenn  man 
sich  erinnert,  dass  dasjenige,  auf  welches  sie  sich  gestützt,  eben  doch 
Pessimismus  ist.  Es  Iftsst  sich  in  keiner  Wei>se  absehen,  wie  es 
selbst  bei  einem  Hartmannschen  „ethischen**  Pessimismus  zur  sitt- 
lichen Selbstverleugnung  soll  kommen  können;  das  Einzige,  was  hier 
etwa  als  möglieh  zu  denken  wäre,  bliebe  allein  wieder  die  eigen- 
süchtige Selbstverleugnung,  d.  L  der  Selbstmord. 

Wir  sind  dieser  letzteren  Form  der  Selbstverleugnung  begegnet 
bei  jenem  Pessimismus,  welcher  die  absolute  Negativität  der  Lust> 


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—   693  — 


bflance,  d.  i.  das  absolute  Elend  des  Daseins  proclamirt  und  inf(il<^e 
dessen  zur  That  des  Selbstmordes  führt  Dass  sich  nun  eben  dasselbe 
anchf  und  zwar  anter  wesentlich  veränderten  Umständen,  beijn 
„ethischen**  Pessimismns,  d.  h.  bei  der  Behauptung  yon  der  relativen 
Negatiyität  der  Lustbilance  des  sittlichen  Lebens,  ergeben  kann,  hat 
seinen  Qrund  eben  in  der  Relativität  jener  negativen  Lustbilance, 
d.  h.  in  dem  Umstände,  dass  hier  noch  Lust  ftberhaupt  und  zwar 
mehr  Lust,  als  auf  dem  Standpunkt  des  Eigenlust-Pessimismus,  wo 
ja  freilich  auch  noch  Lust  neben  der  allerdings  Überwiegenden  Unlust 
angenommen  wird,  behauptet  wird. 

Wir  wissen  nun  schim,  dass  Hartnuums  empiiisdier  Eigenlnst- 
Pessimismas  mit  seiner  relativen  (nicht  aber  absoluten,  d.  i.  aus- 
schließlichen) Unlust  in  sich  keineswej^s  das  Zeug  hat,  die  Eigensuclit 
praktiscli  zu  verneinen,  da  der  in  diesem  Pessiinisnius  stellende,  aber 
des  sittlichen  positiven  Princips  bare  Menseli  trotz  alledem  nur  noch 
inniger  an  den  geringen  Bruchtheil  der  Eigenlust  sicli  anklammeim 
und  an  ihm  in  toller  Wuth  saugen  wird,  bis  ilin  etwa  in  einem  Augen- 
blick I  nicht  das  Bewusstsein  des  lielativitäts-Pessimisnms,  s(mdern)  das 
Bewusstsein  des  absoluten  Elends  packt  und  er  dann  in  eigen- 
süchtiger Selbstverleugnung  den  großen  Sprung  aus  dem  Leben 
heraus  thut.  Dieser  selbe  Mensch  nun,  wenn  er  vor  solcher  letzten 
That  etwa  noch  vom  ethischen  Pessimismus  durchdrungen,  d.  i.  sich 
bewusst  geworden  wäre,  dass  diejenigen,  welche  sittlich  streben, 
freilich  ebenfalls  mehr  Unlust  als  Lust,  aber  doch  im  Verhältnis  zum 
eigen^villigen  Leben  mehr  Lust  aufweisen,  und  dass,  wie  er  wenigstens 
meint,  dieses  „mehr  Lust"  aus  der  sittlichen  That  als  ihre  Folge 
resnltirt,  —  dieser  Mensch  würde  sich  dann  wol  zur  Befolgung  der 
sittlichen  Gebote  gezwungen  haben,  um  wenigstens  noch  etwas  mehr 
Lust  als  vorher  zu  gewinnen.  Dasselbe  wäre  daher  auch  hier,  wie 
bei  jenem  legten  Sprung  in  den  Tod,  zu  eigensüchtiger  Selbst- 
verl^ignung  gekommen,  nur  dass  er  sich  zu  Gunsten  der  Lust,  an  die 
er  sich  trotz  ihrer  Unterbilance  mit  semem  ganzen  Sein  herangedrängt 
haben  würde,  noch  bis  auf  Weiteres  am  Leben  erhalten  hätte.  Aber 
auch  diese  Selbstverleugnung  k5nnte,  wie  ohne  Weiteres  miehtlich 
ist,  nie  eine  sittliche  gewesen  sein,  sondern  ist  stets  eine  die  sitt- 
lich geforderten  „Thaten"  nur  benutzende,  selbstsüchtige,  so  dass 
die  Behauptung  richtig  ist,  dass  auch  der  „ethische'*  Pessimismus 
mit  seinem  „relativ  erträglichen  Leben"  als  solcher  für  die  Sittlich- 
keit ein  unbrauchbares  Werkzeug  ist. 

Dieses  Letztere  aber  ist  der  „ethische^*  Pessimismus  auch  daun, 


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—   694  — 


wenn  er,  niclit  etwa  in  einem  soeben  geseliildejien,  auf  dem  Stand- 
punkt des  Ejroismns  stellenden,  sondern  in  einem  vom  sitrlirli<Mi 
Tiebenszweck  diirclidrungenen  und  auf  ilm  hin  freithätigen  Menschen 
lebendig  sein  könnte;  denn  selbst  diesen  Fall  gesetzt,  so  \\ürde  ein 
solcher  Mensch  zu  der  in  seinem  Lelien  sich  darstellenden  sittlichen 
Selbstverleugnung  niclit  etwa  aus  dem  Grunde  kdiiiinen,  weil  er  ein- 
sieht, dass  der  sittliche  Mensch  mehr  Unlust  als  Lust  hat  (eine  Mög- 
lichkeit, die  ja  ein  geradezu  hirnverbrannter  Gedanke  ist),  soadem 
weil  das  ethische  positive  Princip  in  ihm  lebendig  ist. 

Wenn  ich  aber  den  Eigenlust-Pessimismus  und  den  prolilema- 
tischen  ethischen  Pessimismus  in  ihrem  Wert  fiir  die  Sittenlehre 
gegtMieinander  abwäge,  so  ergibt  sicli  als  Resultat,  dass  der  erstere 
immerliin  die  praktisclie  Wirksamkeit  iiirer  Grundsätze  im  Individuum 
nachdrücklich  unterstützt  durch  die  Erkenntnis,  wie  in  sich  zwecklos* 
in  Ansehung  der  Lust,  die  der  Eigensucht  dienenden  Handlungen 
sind;  während  für  den  letzteren  anscheinend  keine  praktisch  wirk- 
same Stellung  in  der  Sittenlehre  auszufinden  ist.  Die  einzige  Wii-k- 
samkeit  des  „ethischen"  Pessimismos,  welche  etwa  znr  Erscheinung* 
kommen  kann,  ist  diejenige,  dASS  aaf  Grund  derselben  der  Mensch 
zur  eigensüchtigen  Selbstverlengnnng  im  Selbstmord  fortschreitet, 
ja  in  Wirklichkeit  der  „ethische**  Pessimismus  sich  auch  nur  auf 
dem  Standpunkt  des  Egoismus  zeigen  wird,  während  aaf  dem- 
jenigen der  Sittlichkeit  stets  der  ethische  Optimismus  sich 
vorfinden  mnss.  Hiermit  aber  ist  nun  die  Forderung  an  mich 
herangetreten^  den  positiven  Nachweis  für  letztere  Behauptung  zn 
liefern;  ich  will  denselben  aber  einleiten  durch  eine  Belenchtnng  der 
diametral  meiner  Behauptungr  entgegengesetzten  Anfstellang,  dass  der 
ethisdie  Pessimismns  stets  mit  der  Sittlichkeit  zusammen  sei  und  dass 
der  ethische  Optimismus  nie  anf  dem  Standpunkt  der  Sittlichkeit 
angetroffen  vrerden  kOnne,  sondern  immer  nur  anf  demjenigen  des 
Egoismus  sich  vorfinde. 

Ich  habe  im  Vorhergehenden  schon  erörtert,  dass  der  Quell 
alles  Sittlichen  und  damit  natürlich  auch  des  sittUchen  Momente» 
„Selbstverleugnung"  das  sittliche  Princip  im  Menschen  sei,  dass 
ferner  dies  bewusste  sittliche  Prindp  es  sei,  welches  den  Menschen 
zur  theoretischen  Selbstverleugnung,  d.  i.  zom  sittlichen  Pflicht- 
bewnsstsein,  und,  unterstützt  vom  erlebten  Eigenlust-Pessimis- 
mus, zur  praktischen  Selbstverleugnung,  d.  i  zur  Sittlichkeit 
gelangen  lasse,  und  dass  der  mit  dem  bewussten  sittlichen  Princip 
stets  zusammenhängende  Optimismus  das  bestimmte  theoretische 


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Geschäft  ausübt,  das  Egoistische  als  absolut  wertlös  hinzu- 
stellen.   Eigenlast-Pessimismus  und  ethischer  Optimisiniis 

erscheinen  somit  als  zwei  neben  einander  hergehende  theo- 
retische Behauptungen,  welche  zusammen  zur  praktischen 
Durchführung  des  sittlichen  Priiuips  nothwendig  sind.  Es 
gilt  nun  dem  etliischen  Optimismus  seine  Stelle  im  Leben  des  sitt- 
liclien  Individuums  anzuweisen. 

Gegen  den  ethischen  Optimismus  liberliaupt  streitet  Hartmann 
mit  den  schärfsten  \\"ortcii  der  Entrüstung,  und  es  wird  angezeigt 
sein,  iluu  noch  hier  etwas  nachzugehen,  um  etwaige  ^lissvei'ständnisse, 
auf  denen  sein  Widerspruch  bcrulien  könnte,  aufzuklären  und  etwaige 
falsche  Behauptungen  zurückzuweisen. 

Hartmann  schreibt :  ..Dass  das  sittliche  Leben  in  individueller 
wie  in  collect iver  Hinsicht  eine  positive  Glückseligkeit  nach  sich  zöge, 
war  schon  dadurch  ausofeschlossen,  dass  alsdann  sofort  die  Reinlieit 
und  Uneigeiinützigkeit  der  sittlichen  Bestrebungen  zur  psycholoo-isdieu 
Unmöglichkeit  geworden  wäre,  weil  die  accidentielle  Folfre  zuiu  jirak- 
tisch  maßgebenden  Motiv  «^cwiirden  wäre.  Wer  die  Sittlichkeit  mit 
der  Glückseligkeit  zu  prlnHim  wälint,  der  ist  ihr  sclilininister  Feind, 
indem  er  sie  durch  Umwandlung  in  eine  vf  ittinerte  Sorte  von 
egoistischer  Pseudomoral  zunächst  erniedrigt  und  im  Falle  dauernder 
Geltung  dieser  Lehre  untergräbt  und  vernichtet"  (a.  a.  O.  S.  8öl  f.). 
Man  wird  sich  erinnern,  dass  die  Annahme,  es  gebe  „positive  Glück- 
seligkeit** (cf.  S.  692  in  dieser  Abhandlung),  für  Hai-tmann  sagen  will, 
es  gebe  einen  „positiven  Lustuberschuss  in  der  eudämonologischen 
Bilance  des  Individuallt  bens"  (a.  a.  0.  S.  850).  Es  ist  von  Wichtig- 
keit, diese  Deänition  sich  einzuprägen,  damit  nicht  etwa  dem  Worte 
Glückseligkeit  ein  anderer  Sinn  untergeschoben  und  unter  dem  Worte 
verstanden  werde  der  Zustand  der  absoluten  Befriedigung  des 
eigenen,  sei  es  egoistischen,  sei  es  etliischen  Willens,  oder  wie  man 
auch  sagen  könnte,  der  Zustand  der  Wunsch losigk ei t.  Mit  wenigen 
Bemerkungen  will  ich  die  Wichtigkeit  der  Fixirong  des  Wortes  Gldck- 
seligkeit  noch  in  helleres  Licht  rflcken. 

(Schluss  folgt.) 


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Zur  Psyebotogie  der  GaseUeehtsdifferenz.*) 

Von  Dr.  Emü  Stherfig-Tjnptig. 

„Nach  Freiheit  strebt  der  Ifann, 
daa  Weib  nach  Sitte." 

Goethe. 

Zu  den  bedeutendsten  und  beziehungsreiclisten  Fragen,  welche 
sich  der  Pädagogik  im  allgemeinen  und  der  Didaktik  im  besonderen 
zur  Beachtung  darbieten  und  zu  einer  wenn  auch  nur  annähernden 
Beantwortung  drängen,  sobald  eine  tiefere  Erfassung  mancher  eigen- 
thümlicher  Jtocheinangen,  die  sich  im  Verlaufe  erziehlicher  Maßnahmen 
ergeben,  nöthig  erscheint,  gehört  unstreitig  diejenige  nach  der  In- 
dividnalität  des  Zöglings,  Ja  des  Mensehen  ak  eines  Gliedes  des  socialen 
Oiganismns  überhaupt  Sobald  man  sich  derselben  niUiert  und  den  ein- 
zelnen Momenten  nachspflrt«  welche  die  Eigenthfimlichkeit  eines  jeden 
menschlichen  Einzelwesens  bedingen,  so  gewahrt  man  zu  seinem  nicht 
geringen  Erstannen,  dass  es  eine  sehr  große,  ja,  &8t  könnte  man  sagen, 
eine  unendliche  Anzahl  yon  Factoren  gibt,  ans  deren  momentanem  oder 
constanton  Zusammenwirken  die  Indiyidnalit&t  des  Einzelnen  als  Be- 
snltat  herrorgeht  Kann  es  demnach  auch  nicht  die  Anij^be  eines 
kurz  bemessenen  Vortrages  sein,  diese  reiche  Mannig&ltigkeit  des 
Nftheren  zu  beleuchten,  so  glaube  ich  doch,  dass  schon  der  eine  Unter- 
schied der  Menschen,  derjenige  zwischen  männlichem  und  weiblichem 
Geblechte,  dessen  in  wissenschaftlichen  Werken  entweder  gar  nicht» 
oder  nur  in  der  allgememsten  Weise  gedacht  wird,  wichtig  genug  ist, 
um  im  Interesse  Terschiedener  pädagogischer  Erscheinungen  einer  be- 
sonderen, wenn  auch  kehieswegs  ergründenden  Erörterung  unterworfen 
zu  werden.  Dass  idi  bei  der  Wahl  eines  Themas  aus  der  großen  An- 
zahl von  höchst  fraglichen  Sätzen  in  der  Pädagogik  gerade  diesen 

*)  Vortiag,  gehalten' am  18.  Februar  d.  J.  hi  der  „pftdagi^giMliea  QewUaehaft** 
SU  Lei]iiig. 


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Gegenstand  gewälüt  habe,  bat  seinen  Grund  einestheils  in  der  eigenen, 
freilich  nui*  kui-zen  Erfahrung,  die  mir  Gelegenheit  bot,  im  Unterrichte 
von  größerea  Mädchen  und  Knaben  Beobachtungen  anzustellen,  anderen- 
theils  aber  in  dem,  fast  möchte  ich  sagen,  egoistischen  Literesse  im 
Kreise  Yon  Männern  der  Wis.senscliaft  und  praktischen  Pädagogen 
entweder  eine  Correctur  oder  eine  Bestätigung  der  gewonnenen  An- 
sichten über  diese  Angelegraiheit  zu  erhalten. 

Betrachten  vir  die  beiden  Geschlechter  vom  Beginne  des  Lebens 
bis  zum  hohen  Alter,  so  gewahren  wür,  dass  sich  in  der  frühesten  Zeit 
beide,  sowol  körperlich  wie  seelisch,  nicht  wesentlich  von  einander 
unterscheiden,  dass  vielleicht  erst  vom  8.  Lebens|jahre  ab  eine  auf- 
Mende  Differenz  sich  zeigt,  indem  sich  das  Madchen  des  Besitzes 
vollerer  Formen  und  einer  schnelleren  psychischen  Entwickelung  er- 
tmat,  während  der  Knabe  mit  der  festeren  und  muskulöseren  äufieren 
Gestaltung  seines  Organismus  eine  anfanglich  zwar  langsamere,  aber 
solidere  Vervollkommnung  der  Seele  bekundet,  dass  sicli  beide  mit  dem 
Eintritte  der  Pubertät  physisch  wie  psychisch  cluirakteristisch  von 
einandeT  entfenien  und  auf  Grund  der  geNvouiicnen  Eigentliümlichkeit 
sich  weiter  entwickeln,  bis  endlich  im  liolien  Alter  infolge  des  phy- 
sischen Rückgang-es  die  Differenz  abnimmt,  so  dass  die  seitdem  H.Jahre 
bemerkliai-e  Divergenz  in  eine  Convergenz  übergeht,  die  beide  Ge- 
scliUn  hter  physiscii  wie  psychiseli  einander  wieder  näher  führt.  Tritt 
aber  auch  diese  eigenthümliche  Erscheinung  noch  so  auffallend  in  die 
Augen,  dass  man  meinen  sollte,  von  derjenigen  Wissenschaft,  welche 
sich  die  f^rklärung  der  Lebens  Vorgänge  zur  Aufgabe  gestellt  hat,  Auf- 
schluss  über  die  causa len  Verhältnisse  derselben  zu  erhalten,  so  sieht 
man  sich  doch  in  den  physiologischen  Werken  vergeblich  nach  einer 
Losung  beregter  Fragen  um.  ^^'enden  wir  uns  deshalb,  da  wir  von 
dieser  Seite  keine  genügende  Auskunft  erhalten,  an  die  £rfohrung, 
80  zeigt  uns  das  weibliche  Geschlecht  in  demjenigen  Zeit  des  Lebens, 
in  welcher  es  eine  Differenz  vom  männlichen  bekundet,  eine  größere, 
d.  h.  eine  gesteigertere  Beizbarkeit  der  Nerven,  deroi  Ursache  in  ver- 
schiedenen Verhältnissen  liegen  kann,  deren  Geltendmachung  aber  die 
physischen  wie  psychischen Eligenthflmlichkeiten,  d.h.  die  Lidividualität 
bedmgen  muss.  Physiologie  und  Psychologie  sind  also  die  beiden 
D^saenschallen,  die  auf  die  Frage,  wie  die  gesteigerte  Beizbarkeit 
desNervensystemes  beim  weiblichen  Geschlechte  die  physische  und  psy- 
chische Eigenthnmlichkeit  desselben  bedingen,  eine  Antwort  zu  geben 
bemiiht  sein  müssen.  Was  nun  die  erstere  anlangt,  so  haben  wir  bereits 
oben  bemerkt,  dass  sie  bis  jetzt  außer  Stande  sich  befindet,  die  cau- 


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salen  Verhältnisse  mwh  dieser  Seite  hin  endgiltig  aufzuweisen,  dass  sie 
sicli  vielmelir  iiiu^  in  liypotlietischer  Weise  darüber  auszuspreclieu  ver- 
mag; höchst  walirsclieinlicli  kommt  dabei  unter  vielen  anderen  Eintiiissen 
dem  Blute  und  der  frrtWu'ieTi  (»der  geringeren  Disposition  zur  Fett- 
bildung eine  bedeutende  Rolle  zu,  da  eii>teres  seiner  Schwere, 
wie  seiner  Zusammensetzung  nach  und  deshalb  auch  in  seiner  Be- 
wegung bei  beiden  Geschlechtern  sich  nicht  unwesentlich  imterscheidet, 
letztere  aber  besonders  beim  Weibe  prävalirt  und  sow(d  zu  der  Mei- 
nung Anhuss  geben  könnte,  dass  dadurch  mit  der  größeren  Kohleu- 
liydratbildung  auch  der  deprimirende  Einfluss  der  Kohlensäure  auf  die 
Reizbarkeit  <ler  Nerven  gemindert  wei'de.*)  Vermögen  aber  auch  die 
Physiologen  in  dieser  Beziehung  sich  nur  in  hypothetisclier  Weise 
ansznsprechen,  so  sind  sie  doch  mehr  oder  minder  darin  einig,  dass 
die  Bdzbarkeit  des  Nervensystemes  bei  dem  Weibe  eine  Terh&ltnis- 
mäftig  größere  sei  als  beim  Manne. 

Legen  wir  uns  nun  im  Interesse  der  Psychologie  und  der  mit  der- 
selben nothwendig  gegebenen  Pädagogik  die  Frage  vor: 

Inwiefern  ist  mit  der  größeren  oder  geringeren  Reizbar- 
keit oder,  um  ein  von  Beneke  sehr  oft  gebrauchtes  Wort 
anzuwenden,  mit  einer  größeren  oder  geringeren  Reizempföng- 
lichkeit  oder  Receptivität  ein  besonders  psychisch  bemerk- 
barer Unterschied  der  beiden  Geschlechter  gegeben? 
Treten  wir  dieser  Frage  näher,  indem  wir  sie  zu  beantworten  suchen 
bezfigUch  der  intellectuellen,  der  ästhetisch-religiösen  und  der  moralisch- 
praktischen  Sdte  des  weiblichen  wie  des  männlichen  Geschlechtes. 
Welches  ist  also 

L 

der  durch  die  verschiedene  Reizempfänglichkeit  bedingte 
intellectuelle  Oeschlechtsnnterschied? 

Anatomie  wie  Physiologie  zeigen  uns,  dass  es  kaum  einen  Theil 
des  thierischen,  mithin  auch  menschlichen  Organismus  gibt,  der  nicht 
von  der  feinen  Verzweigung  und  Verästelung  der  Nerven  durchzogen 
und  somit  direct  oder  indirect  mit  dem  cerebro-spinalen  (  entruni  und 
dessen  wichtigstem  Theile.  dem  (leliirne.  in  Verbindung  gesetzt  wäre. 
Da  nun  inf(dge  des  Stotl'weclisels  thermische,  cheniische  und  mechanische 
Veränderungen  in  den  einzelneu  Organen  gegeben  sind,  so  leuchtet 

♦)  0.  Funke:  Lehrbuch  der  Physiologie,  LBd.,  S.  ü81.  —  J.  fiaake:  Lebens- 
bedüigvogen  der  Nerren,  S.  131. 


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ein,  dass  auch  die  Gesaninitlieit  der  Geliirnzellen,  suniit  auch  das  Be- 
wusstsein,  die  Seele,  keineswegs  unberührt  von  derselben  bleiben  kann, 
sondern  durch  diese  ebenfalls  zuständlich  verändert  und  mit  einem 
Inhalte  vei-sehen  werden  mnss,  der,  als  „Vitalempfindung"  in  der  Wissen- 
schaft bekannt,  jederzeit  ein  Abbild  der  Lebensverhältnisse  und  -zustände 
darstellen  kann  und  mnss.   Kann  es  nun  aach  nicht  meine  Absicht 
sein,  anf  diesen  Gegenstand,  der  einer  der  wichtigsten,  leider  aber 
auch  einer  der  schwierigsten  und  daher  dunkelsten  der  Psychologie, 
Physiologie  und  Descendenztheorie  ist,  nälier  einzugehen,  so  glaube 
ich  doch  mit  Beziehung  auf  die  oben  erwälinte  und  wol  allseitig  an- 
genommene und  zugestandene  größere  Beizbai'keit  des'  weiblichen  Ge» 
sehlechtes  das  Eine  als  sicheren  Schluss  aussprechen  za  dttrfen,  dass 
auch  bei  dem  Weibe  dieser  „vitale  Heflex"  im  Bewusstsein  ein  be- 
deutenderer und  einflussreicherer  als  bei  dem  Manne  sein  wird,  wie 
dies  denn  auch  ein  jeder  wird  zu  beobachten  Gelegenheit  gehabt  haben. 
Sind  diese  vitalen  Empfindongra  andi  nicht  immer  einzeln  wegen  ihrer 
großen  Anzahl,  in  welcher  sie  in  einem  Zeitmomente  auftreten,  klar 
bewnsst,  so  müssen  wir  doch  auch  f&r  sie  das  Gesetz  der  Beharrung 
und  das  mit  diesem  gegebene  der  Association  In  Ansprach  nehmen, 
demzufolge  sie  sich  ebenfiUls  zu  Gruppen  und  Beihen  ordnen,  die  erst 
dami  zu  einer  gewissen  Klarheit  im  Bewusstsein  gehmgen,  wenn  durch 
abnorme  Beize  im  Organismus  contrastirende  Elemente  unter  ihnen 
sich  geltend  machen.  Im  gesunden  wie  Im  kranken  Zustande  springt 
die  ThatsäehUchkeit  dieser  an  sich  kaum  bemeritbaren  Erscheinung 
einem  jeden  in  die  Augen.  Diese  vitalen  Empfindungscompleze,  welche 
infolge  ihrer  Gleichzeitigkeit  den  Charakter  einer  gewissen  Spannung 
an  sich  tragen,  sind  es,  die  den  Empfindungen,  welche  sogenannten 
objectiven,  d.  h.  Sinnesreizen  correspondiren,  gleichsam  als  Hintergrund 
dienen,  und  von  dem  sich  diese  mehr  oder  minder,  je  nach  ihrer  In- 
tensität und  Qualität,  abheben  werden.  Da  nun  beim  wdblichen  Ge- 
sddechte  dieser  vitale  Hintergrund  der  gesteigerten  Beizbarkeit  halber 
das  Gepräge  größerer  Lebhaftigkeit  tragen  muss,  so  kQnnen  «ich  des- 
halb jene  sogenannten  Sinnesempflndungen  keineswegs  so  klar  von 
demselben  abheben,  wie  dies  bei  dem  mannlichen  Geschlechte  im  großen 
und  ganzen  der  Fall  sein  wird,  müssen  vielmehr,  da  auch  ihnen  infolge 
der  Reizung  der  äußeren  Sinnesorgane  vitale  Elemente  beigegeben  sind, 
wie  dies  die  sogenannten  „Lokalzeichen"  Lotzes  beweisen,  durch  diese 
dem  constaiiten,  des  Lebensprocesses  wegen  aber  variabeln  vitalen 
Niederschlage  im  Bewusstsein,  wenn  dieses  Wort  gestattet  ist,  mehr 
angenähert  erscheinen,  als  in  der  Seele  des  Mannes,  in  welcher  sich 


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—   700  — 


diese  Verhältnisse  in  y^eringcrer  Stärke  frehcnd  ina<iien.  Von  dies.Mn 
Gesiclitsi»unkte  aus  sclieinen  sicli  einip:e  eif^entlunnlichc  Ersrheinung-en. 
die  beim  weibliclien  Geschleelite  des  üt'teren  bemerkt  werden  können 
und  sogar  (*nltiir-histi»riscli  von  einer  gewissen  Bedrutung  geworden 
sind,  von  selbst  zu  erklären.  Da  nändieli  die  Sinnesemplindungen  durch 
ihre  vitalen  Reiniischungen  beim  Weibe  S(  hmdler  als  beim  Manne  dem 
mehrfach  erwähnten  ('(imi)lexe  der  Vitalempfindungen  angenähert  werden, 
so  liegt  es  nahe,  dass  infolge  dessen  auch  andere  Seeleninhalle  gelöst 
werden,  in  ihren  Keihen  zwar  wegen  der  Schnelligkeit  des  Ablaufes 
mit  einem  minimalen  Klarheitsgrade  dem  Jiewusstsein  sich  daibieten, 
aber  doch  als  Hilfen  einen  Bewusstseinsinhalt  zu  bedeutender  Klarheit 
heben  können,  welcher  sich  alsdann,  da  die  Mittelglieder  der  Reihe 
unbemerkt  geblieben  sind,  als  ein  deus  ex  machina  der  Seele  darstellt 
und  so  dem  \\'eibe  d€ii  Ruhm  eines  prophetischen  Blickes  verleihen 
kann,  wie  uns  dies  nicht  nur  die  Geschichte  unserer  Vorfahren  in  den 
Gestalten  sogenannter  „weisen  Frauen'*,  von  denen  uns  Tacitus  l)e- 
richtet,  sondern  auch  die  Gegenwart  mit  den  vielbesprochenen  hell- 
sehenden Weibern  und  Mädchen  beweist.  Ist  es  ja  überhaupt  das 
Weib,  das  infolge  der  grOfieren  Erregtheit  des  psychischen  Lebens 
hervorragenden  Vorstellungen  sehi*  leicht  das  Moment  der  ursprüng- 
lichen Lebhaftigkeit  und  mit  diesem  den  Schein  objectiver  Wirklichkeit 
verleihen  kann,  mithin  mehr  zu  Hallucinationen  neigt  und  unerwarteten 
Naturei'scheinungen  weit  eher  mit  Illusionen  entgegenkommt  als  der 
Mann,  der,  wie  sich  nachher  zeigen  wird,  in  Verständigkeit  den  natür- 
lichen Zosammenhang  aufzufinden  sich  bemüht  Da  ferner  bei  dem 
schwachen  Geschlechte  die  vitalen  Momente  eine  gewisse  Prävalenz 
zeigen,  so  dass  sich  der  eigentliche  Inhalt  der  Sinnesempfindung  und 
mit  dieser  deijenige  der  Wahrnehmung  keineswegs  so  vollständig  dem 
Bewnsstsein  darHeten  kann,  so  erklärt  sieh  daraus  anch  die  Tbat- 
Sache,  die  beim  Unterrichte  der  Mädchen  beobachtet  werden  kann,  dass 
nämlich  diese  nur  selten  einem  Gegenstande  eine  gleichmäßige  Auf- 
merksamkeit zn  widmen,  ihn  also  längere  Zeit  anhaltend  zn  betrachten 
vermögen,  dass  sie  zwar  leichter  fassen,  aber  das  Erfosste,  weil  es 
nur  durch  physiologische  und  nicht  durch  logische  Hilfen  gestützt  wird, 
nicht  immer  präsent  haben  können,  idso  mit  einem  relativ  schwächeren 
Gedächtnisse  ausgestattet  schehien.  Zeigt  nämlich  das  Mädchen  infolge 
dieser  Prävalenz  der  vitalen  Elemente  der  Sinnesempfindmig  gern  die 
Neigung,  den  äußeren  Eindruck  in  sdner  Wirkung  auf  das  Innere  zu 
verfolgen,  ihn  aber  keineswegs  nach  außen  zu  projiciren  und  so  die 
Empfindung  zur  Wahrnehmung  und  durch  deren  Klärung  zur  An- 


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—   701  — 


scliauiiii;^  zu  erlieben,  so  kostet  es  ilim  auch  eine  i^ewisse  Anstrengun<j;-, 
den  an  sich  dunklen  Inhalt  zu  zerleofen  und  ihn  seinen  einzelnen  Theilen 
entsprechend  anderen  vorhandenen  Vorstellungsgruppen  einzuordnen, 
zu  appercipiren,  was  doch  nöthig  ist,  wenn  von  einem  Interesse,  also 
von  einer  Aufmerksamkeit  die  Rede  sein  soll.    Aus  diesem  Grunde 
ist  es  daher  höchst  wünschenswert,  dass  das  Mädchen  beim  Unter- 
richte veranlasst  werde,  nicht  nor  Eindiücke  zu  erlialten,  sondern  die* 
selben  auch  ^vieder  nach  außen  zu  versetzen,  um  sie  an  der  Hand  des 
Objectes  zu  Wahrnehmungen  und  diese  durch  Zerlegen  und  objective 
Ordnung  der  Elemente  zu  Anschauungen  zu  erheben,  weil  nur  dann 
der  psychische  Proeess  der  Einordnung  des  Neuen  in  das  Alte,  alsd 
die  Apperception  stattflndai  und  auf  diese  Weise  ein  Interesse,  eine 
Aufinerksamkeit  erzielt  werden  kann,  dass  sich  demnach  bei  Mftddien 
die  sogenannte  akroamatische  Lehrweise,  die  bei  Knaben  zum  Zwecke 
imierer  Selbsttbfttigkeit  wol  mitunter  angewendet  werden  kann,  eigent- 
lich Ton  selbst  yerbietet  und  die  erotematische  die  allein  naturgemäße 
ist  Infolge  des  ausgeprägteren  vitalen  Hintergrundes  mag  wol  auch 
die  IcbYorstellung  und  mit  dieser  das  Selbstbewnsstsein,  ja,  eine  ge- 
wisse Spreclifähigkeit  ieher  als  bei  dem  Enabm  begrOndet  werden,  wie 
dies  eine  genauere  Beobachtung  der  Kleinen  in  den  ersten  Lebens- 
jaliren  zu  bestätigen  scheint;  in  ihm  niht  aber  auch  die  Ursache  einer 
beweglicheren  und  reiclieren  Phantasiethätigkeit,  deren  sich  die  Knaben 
weniger  zu  erlVeuen  haben.    Die  Erfahrung  bestätigt  auch  diesen 
Schluss  in  mehr  denn  einem  Falle.  —  Da  das  psychische  Leben  der 
Mädchen  ein  relativ  regeres  ist,  so  darf  es  uns  nicht  Wunder  nehmen, 
dass  man  bei  dem  weiblichen  Geschlechte  weit  seltener  als  bei  dem 
männlichen  denjenigen  Bewusstseinsznstand  antretten  wird,  <len  wir  mit 
dem  Ausdrucke  der  Langeweile  bezeichnen  und  der  darin  besteht,  dass 
die  continuirlich  ablaufende  Zeitreihe  au  verhältnismäßig  wenigen  Vor- 
stellungen, die  das  Interesse  erregen,  zur  Abfolge  gelangt.  Wiederholt 
habe  ich  in  dieser  Bichtung  Versuche  und  Beobachtungen  angestellt 
und  des  öfteren  gefunden,  dass  sich  Mädchen  —  selbst  ohne  irgend 
welche  äußere  Beschäftigung  —  stundenlang  allein  unterhalten  können, 
ohne  einer  zweiten  Person  zu  bedürfen,  eine  Erscheinung,  die  man  bei 
KnsbeUt  die  infolge  einer  geringerercn  psychischen  Lebhaftigkeit  mehr 
anf  die  obJectiTen  Elemente  ihrer  Wahrnehmungen,  mithm  wegen  deren 
Constanz  auf  etwas  Neues  hingewiesen  sind,  nur  selten  wird  finden 
können.  Infolge  dieser  lebhafteren  Phantasiethätigkeit  interessirt  sich 
das  Mädchen  bei  den  Objecten  der  Anschauung  im  grofien  und  ganzen 
mehr  f&r  die  Personen,  die  durch  ihre  theils  willkttrlichen,  theils  nn- 


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—   702  — 


Avillkürlichen  Handlungen  eher  dem  ganzen  lebhaften  Charakter  des 
weiblielieii  J^ewusstseins  entsprechen,  als  liir  die  sogenannten  Sachen, 
welche  in  ihrer  Abgeschlossenheit  und  Ruhe  ein  Liehlingsgegenstand 
der  Knaben  sind,  da  sie  l)ez liglich  dieser  ihrer  berührten  Kigenschaften 
mehr  dem  männlichen  Bewusstsein  standhalten  und  auf  diese  Weise 
in  ihre  Theile  zerlegt  und  dementsprechend  in  den  i)sychischen  Vor- 
rath eingeordnet  werden  können.  Daher  ist  es  auch  einleuchtend,  dass 
sich  Frauen  mehr  im  geschwätzigen  Gespräche  über  Personen  und 
deren  Eigenschaften,  Männer  dagegen  in  wolerwogener  Rede  über 
Sachen,  deren  Verhältnisse  und  causale  Zusammenhänge  unterhalten^ 
dass  die  Frau  die  überlieferte  Sprache  und  den  Wortschatz  des  Um- 
ganges handhabt,  während  sich  der  Mann  bei  seiner  sachlichen  und 
logischen  f^rwägung  sehr  oft  veranlasst  sieht,  im  Interesse  der  Deutlich- 
keit und  gegenseitigen  Verständigung  neue  sprachliche  Combinationen, 
ja,  neue  sprachliche  Eh mente  zu  suchen  und  so,  wenn  auch  unbewusst, 
die  Sprache  zu  bereichern.  Ebenso  geht  daraus  hervor,  dass  das 
Mädchen,  welches  dem  unmittelbaren  Eindrucke  und  der  durch  den- 
selben eingeleiteten  Rei)rnduction  folgt,  ohne  den  inneren,  also  logischen 
Klärungsprocess  der  Einzelvoi-stellung  zum  Abschlüsse  gelangen  zu 
lassen,  lieber  der  synthetischen  Urtheilsbildung  Folge  gibt  und  so  wol 
auch  mitunter  —  geführt  vom  psychischen  Mechanismus  —  sofort, 
wenn  gleichfalls  des  öfteren  unbewusst,  das  Richtige  treffen  wii*d 
während  der  Knabe  auf  Grund  der  logischen  Verwandtschaft  seiner 
Vorstellungen  und  Begrilfe  sich  entscheidet,  das  Ganze  in  seine  Theile 
zerlegt,  diese  nach  ihrem  eigentlichen  Inhalte  verbindet  und  so  seine 
ürtheile  in  mehr  analytischer  Weise  entstehen  lässt.  Gibt  sich  dem- 
nach das  Mädchen  meist  mit  deni  .Was^  des  f^druckes  zuMedea 
so  geht  der  Knabe  sehr  gern  von  diesem  zu  dem  „Warum"  desselben 
über,  bildet  seine  Cansalreihen  und  überrascht  sehr  oft  —  besond^ 
in  dem  physikalischen  und  chemischen  Unterrichte,  wie  ich  mich  dessen 
ans  meinem  früheren  Wirkungskreise  noch  deutlich  zu  erinnern 
mag  —  den  Lehrer  durch  die  seltsamsten  nnd  firappantesten  Fragen. 
Kann  es  also  demnach  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  sich  das  Mädchen 
vor  scharf  und  streng  formulirten  Begriffen,  zu  denen  die  ganze  in* 
tellectnelle  Entwickelung  des  Knaben  nach  dem  £}rwähnten  von  selbst 
drängt,  absteht  und  lieber  in  der  Form  der  AllgemeinYorstellnng  zu 
verharren  sncht,  wie  dies  besonders  die  schriftlichen  Arbeiten  zn  be- 
weisen imstande  sind,  nm  so  weniger  darf  es  znm  Anstoße  gereichen, 
wenn  das  weibliche  Geschlecht  bei  der  Krone  aller  inteUectnellen 
Bildung,  bei  der  (Gestaltung  yon  Idealen,  von  hervorragenden  Personen- 


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—  703  — 


Vorstellungen  geleitet  wii-d,  deslialb  zu  einseitigen,  weil  allzu  indivi- 
duellen Formen  gelangt,  die  wegen  des  Maii<rels  an  Univei*salität  ihrer 
einzelnen  Momente  bei  Veränderung  der  Saclilage  und  Umgebung  eine 
Einordnung  des  Neuen  niclit  gestatten  und  deshalb  oft  höchst  variabler 
und  nachtheiliger  Natur  werden,  wie  ja  auch  die  Überspanntheit  und 
Unbeständigkeit  der  weiblichen  Ideale  fast  sprichwörtlich  und  schon 
sehr  oft  in  den  Erzeugnissen  der  Belletristik  zur  Anschauung  gebracht 
worden  ist.  Im  Gegensatze  hieran  gelangen  die  Ideale  des  Knaben 
auf  viel  breiterer,  weil  allgemeinerer  Basis  zur  Existenz,  und  hin- 
reichend ist  es  bekannt,  dass  der  Mann  nur  selten  und  dann,  weil 
sein  ganzes  Innere  alterirt  w'ii'd,  unter  schweren  Kämpfen  dieselben 
ändert,  zu  welcher  Thatsache  ein  jeder  den  besten  Beweis  der  Wahr- 
heit aus  seiner  eigenen  Erfahrung  hinzubnngen  kann. 

Angesichts  dieser  letzten  Erwägungen  ergeben  sich  die  päda- 
gogischen Consequenzen  fast  von  selbst;  es  mag  deshalb  bei  einigen 
Andeutimgen  sein  Bewenden  haben! 

Wenn  bedeutende  Pädagogen,  unter  denen  besonders  Plato,  Aristo- 
teles, Herbart,  Schleiermacher  und  Beneke  genannt  sein  mögen,  der 
Heinnng  sind,  dass  die  Erziehung  und  mit  dieser  auch  der  Unterricht 
des  weiblichen  Geschlechtes  in  die  Familie  gehöre  und  dass  dieser 
letztere  eigentlich  nnr  infolge  eines  socialen  Übelstandes  zu  einem 
öffentlichen  geworden  sei,  dass  nur  die  Knaben  wegen  ihrer  späteren 
öffentlichen  Bestimmung  in  Gesellschaft  erzogen  und  unterrichtet  werden 
möchten,  so  können  wir,  gestützt  auf  obige  Eesultate,  keineswegs  der- 
selben Meinung  huldigen,  müssen  vielmehr,  da  die  sich  selbst  ttber- 
lassene  Entfaltung  des  weiblichen  Bewusstseins  eine  einseitige,  weil 
nicht  den  objectiven  Verhältnissen  entsprechende  und  eben  darum  für 
die  fr&heste  Erziehnng  des  heranwachsenden  Geschlechtes,  die  sich 
doch  natnrgemftfi  znnfiehst  und  zumeist  unter  der  mfltterlichen  Ägide 
vollzieht^  nicht  gerade  die  geeignetste  seinwürde,  auch  fUr  das  Mädchen 
wenigstens  einen  öffentlichen  Unterricht  beanspruchen,  da  bei  diesem, 
wie  dies  hier  nidit  niilier  erörtert  werden  kann,  eme  gegenseitige 
psychische  Berichtigung  und  Ergänzung  von  seihst  gegeben  ist. 

Was  nun  die  einzdnen  ünteirichtsdisdplinen  anlangt,  so  glauben 
wir  uns  nach  obigen  Erwägungen  und  Besultaten  daUn  aussprechen 
zu  dMen,  dass  vor  allem  der  Sprachunterricht  bei  dem  Mädchen  eui 
tiefes  Sprachverständnis,  bei  dem  £naben  eine  mit  diesem  verbundene 
Sprachgewandtheit  bezwecke,  dass  die  Unterweisung  in  der  Geographie 
und  den  beschreibenden  Naturwissenschaften  die  Phantasie  der  Mädchen 
zu  einer  abstrahirenden  und  determinirenden,  diejenige  der  Knaben 


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—   704  — 


aber  zu  einer  rv^en  und  lebhaften  mache,  die  auch  das  einzelne 
beachte,  dass  die  Geschichte  bei  den  Mädchen  so  ertheilt  werde,  dass 
liiaii  (liircli  Yorfühnuig'  traiizer  Persönlichkeiten  mit  ihren  Licht-  und 
iSrhattcnscitcn  feste  und  klare  Ideale  schalfe,  durch  ihre  Beziehung 
auf  einander  aber  auch  den  Gesetzen  der  historischen  Causalität  zum 
Hewusstsein  verhelfe,  dass  man  dagegen  bei  den  Knaben  zwar  zu- 
nächst den  Zusaunnenhang  beachte,  aber  in  denselben  auch  dei' 
Pers(inlichkeit  als  solcher  Rechnung  trage,  um  dadurch  einer  richtigen 
Beurtlieihmg  den  Weg  zu  balmen.  — 

Wenden  wir  uns  nun  zu  dem  zweiten  Theile  unserer  Betrachtung, 
so  drängt  sich  hier  die  Frage  ins  Bewusstseiu:  Inwiefern  vermag 
eine  größere  oder  geringere  Eeizbarkeit  auch 

n. 

einen  ästhetisch-religiösen  (7 eschlechtsunterschied  zu 

bedingen"? 

Wenn  wir  hier  von  einer  Difterenz  der  beiden  Geschlechter 
sprechen,  die  ästhetisch  wie  religiös  zur  Erscheinung  gelange,  so  sei, 
um  etwaigen  Irithümern  zu  begegnen,  darauf  hingewiesen,  dass  wir 
diese  zwei  Ausdrücke  in  einem  weiteren  Sinne  brauchen  und  mit 
denselben  die  eigentliche  Gefuhlsseite  und  deren  Ent  Wickelung  be- 
zeichnen. Wollen  wir  hier  der  l'ntersuchung  ebenfalls  eine  sichere 
Basis  verleihen,  so  ist  es  nöthig,  dass  wir  der  Frage  nach  dem 
Wesen,  d.  h.  nach  der  Genesis  des  Gefühles  näher  treten. 

Über  keinen  Gegenstand  der  Psychologie  gehen  die  Ansichten 
wol  mehr  auseinander,  als  gerade  über  diesen.  Mag  man  nun  das 
Gefühl  mehr  der  psychischen  oder  mehr  der  physischen  Seite  des 
Menschen  angenähert  haben,  so  ghiuben  wir,  dass  auch  hier  die  Wahr- 
heit in  der  Mitte  der  Extreme  liegen  und  dass  das  Gefühl  dann  ent- 
stehen werde,  wenn  ein  Eindnick  auf  das  Be^^'usstsein  nicht  nach 
seinen  objectiven  Elementen,  sondern  nach  seinen  Beziehungen  auf  das 
seelische  Leben  und  dessen  momentane  Gestaltung  in  Betracht  gezogen 
wird.  Daraus  geht  aber  sofort  hervor,  wie  dies  auch  die  Erfahrung 
deutlich  genug  beweist,  dass  b«  sonders  diejenigen  Empfindungen,  deren 
vitale  Beimischung  eine  gewisse  Prävalenz  zeigt,  um  derenwillen  sie 
dem  vitalen  Gesammthintergrunde  der  Seele  melir  und  mehr  angen&hert 
werden,  einen  bedeutenden  Gefilhlston  besitzen  oder  hervormfoi  mUsBeiL 
Weil  nun,  wie  bereits  oben  des  näheren  daigethan  worden  ist,  diese 
vitalen  Elemente  beim  weiblichen  Geschlechte  infolge  einer  gesteigerten 
Reizbarkeit  des  Gesammtnervensystemes  eine  gewisse  Stärke  besitzen. 


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—   705  — 


so  ist  es  klar,  dass  auch  bei  iliiii  die  (TetTilile  iiiclit  nur  zahlreiclier 
und  iiittMisiver,  sondern  ^ve^(en  ilirer  dadurcli  l)edingten  schnelleren 
Griippirimg  auch  tiefer,  erregbarer  und  damit  wärmer  sein  müssen, 
als  dies  bei  dem  Knaben  und  dem  ^Nfanne,  bei  welchem  nach  dem 
Bisherij^en  diese  Verhältnisse  minder  stark  auftreten,  der  Fall  sein 
kann.  Zeigt  also  das  Weib  eine  größere  Getühlswärme  und  mit  dieser 
eine  ge\nsse  natürliche  Disposition  zur  Theilnahme  und  zum  Mitleide, 
wie  dies  das  Leben  in  den  Tenchiedensten  Lagen  und  Verhältnissen 
nur  allzu  deutlich  zu  beweisen  yennag,  so  tritt  uns  bei  dem  letzteren 
wegen  des  Mangels  an  starken  GtefÖii]sai»perceptionen  eine  mitunter 
hst  anfßülige  GeföhUcfligkeit  entgegen,  die  eineraeits  eine  oft  girflgte 
Kälte,  anderseits  aber  infolge  langsamerer  und  deshalb  gleichmftBigerer 
Ordnung  der  Elemente  eine  tdac  die  objective  Benrtheünng  nothwendige 
Reinheit  der  Oddhle  bedingen  mnss.  Somit  ergibt  sich  hieraus  von 
selbst,  dass  das  Mädchen  mehr  zur  Sentimentalität  und  im  Alter  der 
Pubertät  zur  Schwärmerei,  der  Knabe  dagegen  eher  zu  einer  gewissen 
Blasirtheit  ndgt»  dass  ersteres  gar  manches  mit  der  Bezeichnung  des 
Schönen  belegt,  für  das  der  letztere  den  Ausdruck  des  Bichtigen  und 
Zweckmäßigen  anwendet  und  so  die  logische  an  Stelle  der  ästhetischen 
Causalität  in  Anspruch  nimmt.  Eine  aufmerksame  Beobachtung  beider 
Geschlechter  im  Theater,  in  der  Gemäldegallerie,  eine  -renaue  Lectiire 
männlicher  und  weiblicher  literarischer  Producte  vermag  die  Walirheit 
dieses  vorstehenden  Schlusses  zu  erhärten. 

Während  das  sofrenannte  scliwaclie  Geschlecht  infolge  der  jre- 
steigeilen  Gefühlss])häre  bei  der  Beurtheilunff  von  Personen  und 
i>achen  bezüglich  ihres  Wertes  dem  unmittelbaren  Eindrucke  derselben 
auf  sein  Bewusstsein  ohne  eine  Klärung  der  betreffenden  Vorstellungs- 
{HTippen  nach  der  logischen  wie  nach  der  Gefühlsseite  abzuwarten, 
nachgeht  und  so,  durch  hervorragende  Eigenschaften  und  deren 
sttbjective  V^'irkung  geleitet,  wol  auch  mitunter  das  Richtige  trelfen 
kann,  wie  dies  besonders  auffallend  bei  der  mütterlichen  Auswahl  des 
Umganges  der  Kinder  zu  Tage  tritt,  ist  der  ^lann  in  betreff  dieser 
Angelegenheit  mit  seinem  Urtheile  zurückhaltender,  indem  er  erst 
durch  einen  längeren  Verkehr  die  Personenyorstellungsgmppen  zur 
Klarheit  und  Durchsichtigkeit  zu  bringen  sucht,  um  sich  dann  auf 
Grund  der  erhaltenen  Gefühlselemente  zu  entscheiden.  Gibt  sich 
demnach  dn  Weib  zu  schnell  dem  ersten  Eindrucke  hin,  so  liegt  es 
auch  nahe,  dass  es  den  Wert  eines  Ofejectes  mehr  nach  dessen  Er- 
scheinen benrtheilen  und  auf  diese  Weise  sehr  oft  in  die  Lage  ver- 
setzt werden  wird,  sich  einer  gewissen  Überschätzimg  schuldig  zu 

Psdafogima.  4.  Jiktg.  Hefk  XL  45 


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—    706  — 


machen.  Im  Gegensätze  hierzu  geht  der  Mann  gewöhnlich  Aber  die 
hlose  Erscheinang  hinaus,  am  dem  Wesen  der  zu  henrthdlenden 
Objecte  nahe  zu  kommen,  achtet  deshalb  mehr  anf  die  Handlungen 
der  Personen  und  legt  an  diese  den  Hafistab  seiner  subjectiven  Wert- 
urtheile  an;  daher  leuchtet  es  auch  ein,  dass  bei  ihm  eher  eine 
Unterschätzung,  denn  eine  Überschätzung  zu  eiTeichen  sein  wird. 
Angesichts  dieser  Ergebnisse  ist  es  deshalb  von  großer  Wichtigkeit 
und  nielir  als  Wunsch,  wenn  verlangt  wird,  dass  die  Erziehung^  und 
vor  allem  der  Unterricht  bestrebt  sein  nir»ge,  auf  der  einen  Seite  eint  i 
allzu  großen  CTefiihlssentimciitalität  der  Mädchen,  auf  der  anderen 
einer  zu  auffallenden  Gefiilils Verständigkeit  und  -nüchternlieit  der 
Knaben  vorzubeugen,  dass  aber  auch  dahin  gewirkt  werde,  dass  mau 
durch  eine  allseitige  und  wolerwogene  Beurlheilung  der  Objecte  der 
Außenwelt,  vor  allem  der  Personen  —  eine  zwar  sorgfältige,  aber 
doch  zusfleich  auch  schnelle  und  siclK-re  l^eurtlieilunii:  uud  Wert- 
schätzunji:  begründe,  damit  auf  Grund  derselben  das  Inilividuuni  sein 
Verhältnis  zur  näheren  wie  fernerni  Umgebung  theils  erkennen,  theils 
bestimmen  und  sich  dem  entsprechend  entscheiden  könne.  Aus  iliesem 
Grunde  ist  es  also  nothwendig,  dass  besonders  der  Unterricht  in  der 
Naturkunde,  in  der  Geschichte  und  Literatur  die  diesen  Disriplinen 
eigenen  Bildnngskeiiiip  des  Gefühles  zur  Entfaltung  bringe  und  durch 
Pflege  in  gekennzeichneter  Weise  einer  reichen  Ernte  entgegenführe. 

Da  bei  dem  weiblichen  Geschlechte  nach  dem  Bisheriiren  das 
(Tefiihl  ein  reges  und  warmes  ist,  so  ei'klärt  es  sich  auch,  dass  äuüere 
Eindrücke,  die  auf  dasselbe  einwirken,  von  relativ  bedeutendem  ICin- 
tlusse  auf  das  ganze  Gemütlis-  und  Gefühlsleben  sein  müssen.  da>.s 
d<'mnach  eine  gewisse  (Tieich mäßigkeit  iu  der  (4emüthsverfassung.  die 
man  wol  des  öfteren  als  Gemüthsruhe  bezeichnet  hat,  bei  den  Frauen 
seltener  als  bei  den  Männern  zu  finden  sein  wird,  dass  also  auch  bei 
den  ersteren  eine  Störung  dieses  Gemüthsniveaus  weit  leichter,  die 
Affecte  mithin  viel  häußger,  intensiver,  aber  auch  viel  kürzer  an  Dauer 
sein  werden,  als  bei  den  letzteren,  die  infolge  einer  schon  oben  be- 
rähi'ten  einheitlichen  Ordnung  der  an  sich  minder  lebhaften  Gefulils- 
elemente  der  Erregung  schwieriger  zugänglich  sind  und  deshalb  Aft'ecte 
zeigen,  welche  sich  zwar  zunächst  gering  an  Intensität,  aber  bedeutend 
an  Zeitdauer  erweiseOi  wie  dies  die  Geschichte,  das  gewöhnliche  Leben 
an  vielen  Beispielen  zu  veranschaulichen  im  Stande  ist.  — 

Wenn  nach  den  obigen  Darlegungen  die  Titalen  Empfindungs- 
complexe,  welche  sich  infolge  des  Gesammtlebensprocesses  in  der  Seele 
bilden,  die  Basis  abgeben,  auf  welcher  sich  die  IchvorsteUnng  und 


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—   707  — 

durch  deren  Entgegensetznn?  zu  den  Vorstellungen  der  Außenwelt 
das  Selbst bewusstsein  uutbaut,  so  darf  es  uns,  da  sich  diese  Ver- 
hältnisse bi'iin  Mädchen  mit  einer  l)esiiii(leren  Stärke  und  Intensität 
geltend  niaclien,  nicht  wunder  nehmen,  wenn  wir  sehen,  dass  sich  diese 
Ichvorstelhmg  des  Weibes  keineswegs  so  klar  und  lichtvoll,  wie  es 
beim  Manne  freschielit.  darstellt,  dass  sie  vielmehr  sehr  häntl;^  mit 
Gefühlselementen  (InrcliHix-liten  erscheint  und  so  jenen  charakteristi- 
schen Zug  des  weiblichen  l^ewusstseins  begründet,  den  wir  in  seiner 
Bezieliung  auf  die  Außenwelt  als  natürliche  Anmuth,  in  seiner 
subjectiveu  Vertiefung  aber  als  das  Schamgefühl  bezeichnen.  Aus 
der  Natur  und  Kntstehung  dieses  letzteren  geht  aber  hervor,  dass 
das  Mädchen  infolge  dieser  erregteren  Gefühlsbeimischungen  der  Ich- 
Yorstellung  weit  zarter  erscheint  und  viel  eher  durch  eine  Äußerung 
wegen  des  damit  gegebenen  Kontrastes  sich  verletzt  fidilt,  ja  im  Falle 
der  Wiederholung  wol  sogar  eher  eine  gewisse  Stumpfheit  und  Scham- 
losigkeit zeigt,  als  der  Knabe,  bei  dem  sich  das  Selbstbewusstsein  an 
der  Hand  der  klarerkannten  Unterscheidung  von  der  Außenwelt  voll- 
zieht, sich  deshalb  weniger  reich  an  Grefühlselementen  darstellt,  und 
infolge  dessen  sich  lichtvoller  vom  psychischen  Hintergmnde  abhebt, 
80  dass  wo!  einer  Äußerong  des  Tadels  mit  einer  scheinbaren  Kälte 
und  Boheit  begegnet  werden  kann.  Welche  Bedeutung  dieses  gc»- 
wonncne  Resultat  besonders  für  die  Verhängung  von  Strafen  hat, 
lieg^  auf  der  Hand  und  braucht  nicht  erst  des  näheren  dargethan  zu 
werden.  —  Dieser  Punkt  ist  es  auch,  von  dem  aus  manche  andere 
Eigenthümlichkeit  der  Geschlechter  erklärt  werden  kann.  Da  sich 
nämlich  das  Mädchen  gerne  den  unmittelbaren  Eindrücken  hingibt, 
in  denselben  und  ihrer  Wirkung  auf  das  ßewusstsein  zu  verharren 
sucht,  so  erhellt  auch,  wie  es  möglich  sein  kann,  dass  das  Weib  mehr 
ein  Gefühl  für  die  engere  Heimat,  also  auch  ein  tieferes  National- 
gefÜM  besitzt,  während  der  Mann  seinoi  Blick  gern  über  die  Heimat 
hinausschweifen  lässt,  an  Stelle  der  AnhSngliehkeit  an  den  heimischen 
Boden  eine  gewisse  HeimatflüchtigkeLt,  an  Stelle  eines  tieferen  Nationäl- 
gefOhles  ein  kräftiges  Nationalbewusstsein  bekundet,  in  welchem  sich 
die  Eägenihümlichkeiten  des  eigenen  Volkes  im  Gegensatze  zu  den- 
jenigen eines  änderet  in  Klarheit  darbieten,  aber  doch  in  diesem 
scheinbaren  (Gegensätze  auf  Grund  des  erkannten  Gemeinsamen  die- 
jenige Lebensansicht  erhält,  die  wir  den  Kosmopolitismus  nennen. 
Um  auch  hier  Einseitigkeiten  in  der  psychischen  Entwickelnng 
▼orzubeugen,  ist  es  besonders  die  Au{ig;abe  der  Geschichte  und 
Geographie,  theils  berichtigend,  theils  ergänzend  in  die  Entfaltung 

46* 


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—   708  — 

des  Bewusstseiiis  bei  beiden  Geschlechtern  nach  dieser  Seite  hin 
einzugreifen. 

Ein  ähnlicher,  ja  gleicher  Unterschied  macht  sich  aach  bezüglich 
der  religiösen  Gefühle  geltend.  Eignet  es  dem  Weibe,  dem  unmittel- 
baren Eindrucke  nachzugeben,  so  liegt  es  auch  auf  der  Hand,  dass  es 
bei  seiner  religiösen  Entwickelung  hauptsächlich  den  in  der  Xatnr 
und  im  Menschenleben  sich  ergebenden  sogenannten  ästhetischen  und 
praktisL'lien  Motiven  folgt,  auf  Grund  diiselben  seine  religiöse  Gefühls- 
welt zu  entwickeln  sucht  und  sich  so  mehr  den  pietistischen,  ja 
schwärmerischen  Ansicliten  öffnet,  während  dagegen  der  Mann  haupt- 
silclilich  durch  intellectuelle  Erscheinungen  veranlasst  wird,  etwas 
Uberirdisches  anzunehmen  und  dem  entspii'chend  sein  religiöses  Be- 
dürfnis zu  befriedigen.  Hieraus  ergibt  sich,  dass  der  Keligions- 
unterricht  der  Mädchen  unter  Benutzung  der  vorhandenen  religiösen 
Stimmungen  feste  Stützen  in  der  Yorstellungswelt,  derjenige  der 
Knaben  aber  Anknüpfungspunkte  im  Gemntlie  als  Gesammtheit  der  vor- 
handenen Stimmungen  und  Gefiilile  anstreben  und  so  auf  der  einen 
Seite  der  Schwärmerei,  auf  der  andern  dagegen  dem  religiösen  In- 
diti'erentismus  vorzul)eu!2'en  surlien  muss.  — 

Aber  nicht  blos  intellectuell  und  ästhetisdi-religiös  ist  eine  Differenz 
zwisclien  den  beiden  Geschlechtern  zu  verzeichnen,  nein,  auch  rück- 
sichtlich der  praktischen  Seite  des  Bewusstseins  macht  sich  ein  solcher 
bemerkbar.  Legen  wir  uns  deshalb  auch  liier  die  Fi-age  vor:  Inwie- 
feiii  bedingt  die  größere  oder  geringere  Reizbarkeit  auch 

III. 

einen  moralisch  - praktischen  Geschlechtsunterschied? 
Da,  wie  bereits  mehrfach  erwähnt,  beim  weiblichen  Geschlechte 
infolge  einer  gesteigerten  Reizbarkeit  der  Nerven  die  vitalen  Empfin* 
düngen  in  einer  jrewissen  Weise  prävaliren  und  so  ein  reges,  reiches 
nnd  tiefes  Gefühls-  und  Gemüthsleben  bedingen,  so  liegt  es  nahe^ 
anzunehmen,  dass  bei  ihm  auch  das  Triebleben,  welches  in  jenem  seine 
Wurzel  besitzt,  in  seinen  niederen,  wie  in  seinen  höheren  Ent- 
wickelungsformen  ein  relativ  stärkeres  sei,  als  bei  den  männlichen 
Individuen,  bei  denen  dasselbe  minder  stark  zui*  Erscheinung  gelangt. 
Unter  anderen  sei  hier  besonders  darauf  hingewiesen,  dass,  da  die 
Ichvorstellung  bei  dem  Mädchen  mehr  von  dem  Gefühle  beeinflosst 
nnd  so  anf  die  Vorstellung  des  eigenen  Körpers  und  dessen  finftere 
Erscheinung  bezogen  wird,  vor  allem  diejenigen  Triebe,  welche  auf 
diese  äußere  Erscheinung  des  Ichs,  also  des  Körpers  gerichtet  sind, 


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—   709  — 


(loniiniren  und  zur  Entfaltung  kommen,  wie  dies  mehr  als  zu  deutlich 
bei  dem  Nachahmungstriebe  auf  dem  Gebiete  der  Mode  zum  sicht- 
baren Ausdrucke  gelangt  Beachtet  der  Knabe,  dessen  Ichvorstellung 
in  mehr  objectiver  Weise  sich  entfaUt  t,  also  weniger  auf  dem 
psychischen  Bilde  des  eigenen  Körpers  basirt»  bezüglich  dieses  Gegen- 
standes einen  gewissen  Conservatismns,  der  nur  hin  und  wieder  der 
tyrannischen  Sitte  halber  verlassen  wird,  so  erscheint  das  Mädchen, 
das  Weib  nach  dieser  Seite  nur  allzu  liberal,  ja  revolutionftr,  eine 
Thatsache,  die  ein  auch  nur  flüchtiger  Blick  auf  unsere  Damenwelt 
mit  ihren  eigenthttmlichen  Kleiderformen  und  mitunter  grellen  Farben- 
combinationen  klar  vor  die  Angen  stellt  Wird  demnach  die  Frau 
mehr  dnrch  die  ftnßere  Erscheinung  einer  Pei'son  infolge  des  Contrastes 
znm  eigenen  Ich  znr  Nachahmnng  gereizt,  so  sucht  der  Mann  haupt- 
sächlich die  ihm  imponirende  Handlung  an^  um  sie  in  gleicher  Weise 
auszuführen  und  so  dem  Momente  der  Kraft  in  seiner  eig«ien  Ichvor- 
stellung eine  Stärkung  zu  verleihen. 

Ist  schon  nach  dem  Obigen  in  B&cksicht  auf  die  Gefühlswelt  eine 
nicht  zu  untersdiätzende  Differenz  der  Geschlechter  zu  verzeichnen, 
so  wird  diese,  sobald  eme  Gruppe  gleichartiger  Gefühle  des  Öfteren 
erzeugt,  damit  aber  verstärkt  und  so  zu  einer  gewissen  Herrschaft 
geführt  wird,  noch  charakteristischer,  da  die  entstandenen  Neigungen 
bei  dem  Weibe  zaUreicher,  lebhafter,  aber  auch  viel  variabler 
auftreten,  als  dies  bei  dem  Manne  der  Fall  zu  sein  pflegt,  bei 
welchem,  wie  bereits  erl&utert,  die  Gefühle  langsam  sich  bilden, 
ordnen  und  deshalb  auch  festere  Complexe  eingehen,  welche  das 
Neue  zu  appercipiren  und  dem  allzu  schneUen  Wechsel  zu  trotzen 
vermögen. 

In  Bftcksicht  auf  dieses  Ergebnis  der  Untersuchung  erklärt  es 
sieh  auch,  dass  die  Leidenschaften,  wdche  sich  ans  der  Constanz  der 
Neigungen  entwickeln,  bei  weiblichen  Individuen  zwar  feuriger  und 
momentan  entschiedener  sich  geltend  machen,  dabei  aber  sehr  bald 

erlahmen  und  erkalten,  dass  dagegen  bei  männlichen  Personen  die 
Entwickelung  dei-selben  langsamer,  aber  um  so  sicherer  und  fester 
sich  vollzieht,  so  dass  eine  Beherrschung  oder  Beseitigung  dieser 
psycliisclien  Anomalien  nur  mit  Anstrengung  und  Mühe  zu  gelinj^en 
vermag.  Auch  hierzu  liefert  die  tagtägliche  Erfahrung  der  Beispiele 
verschiedene.  — 

Die  bisherigen  Erwägunirt  ii  liaben  aber  den  moralisch-praktisclien 
Geschleclitsunterschied  noch  keineswegs  erschöpft,  fiiliren  \ielmehr  auf 
eine  der  augentalligsten  Ditlerenzen  zwischen  Manu  und  Weib  lün, 


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—    710  — 


auf  (liejenigei  die  sich  iu  betreif  der  Willensftufieruug  und  -motiviroiig 

herausstellt. 

Da  nach  den  obigen  Bemerkungen  das  Vorstellungsleben  des 
Weibes  den  Charakter  der  Lebhaftigkeit,  aber  auch  einer  gewissen 
Verschwommenheit,  dasjenige  des  Mannes  hingegen  das  Gepräge  der 
Ruhe  und  Klarheit  zeigt,  da  ferner  bei  dem  Wollen  einer  Handlung- 
infolge  der  Zweckvorstellung  verschiedene  psychische  Keihen  als 
Hilfen,  hier  Motive  genannt,  ins  Bewosstsein  ^ngen  nnd  eine  g^ane 
Abwflgong  nach  ihrem  Inhalte  erfordern,  wenn  der  Zustand  der  Über- 
legung durch  die  Entscheidung  für  eine  derselben  seinen  Abschluss 
finden  soll,  so  leuchtet  es  ein,  dass  sich  das  schwache  Gteschlecht  yiel 
eher  und  schneller,  durch  hervorragende  Vorstellungselemente  ver- 
anlasst, zu  einer  Entscheidung  und  so  zum  Handeln  wird  entschliefien 
können,  als  das  sogenannte  starke,  dem  sich  der  VorsteJlungsinhalt 
klarer  darbietet  und  dem  deshalb  andi  die  Auswahl  unter  den  ver- 
schiedenen im  Bewusstsein  vorhandenen  Motiven  schwerer  fiiUen  und 
eine  längere  Zeit  kosten  wird.  Daraus  erhellt  also,  dass  sich  das 
Weib  schneller  entscheidet  und  deshalb  auch  schneller  zur  Handlung- 
vorschreitet,  sich  aber  auch  leichter  von  außen,  sei  es  durch  Personen, 
sei  es  durch  das  in  der  Sitte  ausgeprägte  Herkommen,  bestimmen 
lässt  und  somit  seltener  zu  strengen  und  allgemeinen  Maximen  seiner 
Willensäußerungen  gelangen  wird,  als  der  Mann,  bei  welchem  sich 
infolge  ruhiger  Überlegung  aus  den  gleichartigen  Entscheidungen 
Grundsätze  bilden  und  einem  sittliclien  Charakter  das  Dasein  geben, 
unter  dessen  selbstgegebenen  besetzen  sich  das  Gefühl  der  t'reiheit 
zu  entfalten  vermag.  Deshalb  hat  Goethe,  dieser  P.sycholog  untei- 
den  Dichtern,  ganz  recht,  wenn  er  in  seinem  Tasso  spricht:  „Nach 
Freiheit  strebt  der  ;^^ann,  das  Weib  nach  Sitte!"  Aus  dieser  Dar- 
legung ergibt  sich  aucli,  dass  das  Weib  wegen  des  ^fangels  an  einem 
consequenten  und  universellen  Charakter  eine  auffallende  Unselbständig- 
keit und  Wankelmüthigkeit  zeigt  und  sich  gerne  einer  Stütze  ver- 
sichert, an  welcher  es  sich  festhalten,  emporranken  nnd  so  den 
mannigfachen  Anlässen  zum  Handehi,  die  das  Leben  nahelegt»  be- 
gegnen kann,  dass  im  Gegensatze  hierzu  der  Mann  euie  Sicherheit» 
Entschiedenheit  nnd  Selbständigkeit  an  den  Tag  legt,  die  von  einem 
ausgebildeten  QeftUüe  persönlicher  Freiheit  und  VerantwortungspiUcht 
spricht  und  von  dem  Adel  echter  Männlichkeit  begrOndet,  wie  er  in 
der  Autorität  des  Vaters  inmitten  der  Familie  am  besten  zum  Aus- 
drucke gelangt  — 

Da  das  Mädchen,  das  Weib  bei  der  Erscheinung  verharrt  und 


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—   711  — 


nicht,  wie  der  Mann  es  liebt,  aiif  Grund  derselben  in  analytischer 
"Weise  zu  Causalreihen  zu  kommen  sucht,  so  liegt  es  auch  auf  der 
Hand,  dass  rs  nur  nahelie<>ende  Zwecke  zu  verwirklichen,  im  engeren 
Kreise  der  Familie  zu  liandcln  sich  besti'ebt,  wählend  der  ]\Iann,  ja 
schon  der  Knal)e  lerne  Ziele  ins  Auge  fasst,  zu  deren  Erreichung 
woldurchda<  hte  Plane  entwirft,  um  dereinvillen  sogar  die  Gegenwart 
im  Liclite  der  unbekannten  Zukunft  betrachtet  und  seinen  eigentlichen 
Wirkungskreis  in  dii^  große  Gesellschaft  verlegt,  um  in  derselben  in- 
mitten des  Kampfes  um  das  Dasein  sein  letztes  Ziel,  das  sich  als 
Zweckvorstellimg  seinem  Bewusätsein  in  besonderer  Stärke  darbietet, 
zu  erstreben. 

So  scheint  schon  die  natüilich-psychische  Entwickelung  darauf 
hinzudeuten,  dass  das  Weib  für  das  Haus,  der  Mann  für  das  öffentliche 
Leben  bestimmt  sei,  wie  dies  Scliüler,  der  Pldlosoph  unter  den  Dichtern, 
in  seiner  „Glocke"  in  so  meisterhafter  Weise  zur  Dai*stellung  gebracht 
hat,  dass  das  erstere  bei  seinen  Äußerungen  mehr  das  Kleinliche 
beachtet,  über  welches  der  letztere  mit  einer  gewissen  Sorglosigkeit 
hinwegschreitet,  indem  er  dasselbe  ins  Verhältnis  zu  höheren  Zweken 
setzt  nnd  so  seine  Wertlosigkeit  erkennt. 

t''berl)licken  wir  nnn  die  gewonnenen  Resultate  unserer  psycho- 
logischen Analyse,  so  werden  wir  sagen  können,  dass  das  weibliche 
Geschlecht  mehr  zur  Passivität  nnd  infolge  dessen  anch  zam  Sichyeiv 
senken  in  das  eigene  Innere,  das  männliche  dagegen  mehr  zur 
Außenwelt  disponirt  ist,  dass  das  Weib  durchschnittlich  mehr  das 
sanguinische  oder  melancholische,  dei'  Mann  aber  meist  das  cholerische 
oder  phlegmatische  Temperament  zeigt.  Außerdem  ergibt  sich,  dass, 
wie  die  statistischen  Angaben  der  Psychiatrie  darlegen,  das  schwache 
Geschlecht  infolge  der  relativ  größeren  Lebhaftigkeit  des  seelischen 
Lebens  eher  psychischen  Krankheiten  ausgesetzt  ist,  als  das  sogenannte 
starke,  dass  es  aber  auch  im  Barchschnitte  leiditer  ist^  das  Weib 
seiner  geistigen  Gesundheit  zorttckzogeben,  als  den  Mann,  bei  welchem 
eine  Yerrackong  des  Selbstbewnsstseins  zu  tief  in  den  psychischen 
Organismus  eingreift  nnd  um  deswillen  schwieriger  ausgeglichen  und 
beseitigt  werden  kann. 

Ist  es  also  nach  allem,  was  sich  ergeben  hat,  keineswegs  abzu- 
leugnen, dass  sowol  intellectnell,  wie  auch  ästhetisch -religids  und 
moralisch-praktisch  eine  wesentliche  Geschlechtsdifferenz  besteht^  so 
darf  dies  Jedoch  nicht  m  der  Weise  ge&sst  werden,  als  ob  das  nächst- 
beste Didividuum  ein  Beleg  für  die  Wahrheit  der  gefundenen  Besultate 
sein  mflsste;  gibt  es  doch  zwischen  der  echten  Weiblichkeit  und  der 


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—    712  — 


wahren  Kännlichkeit  unendlich  viele  Grade  der  Annäherung,  wie  dies 

ja  deutlich  das  gewöhnliche  Leben  beweist,  indem  es  uns  nicht  nur 
Frauen  zeigt,  die  sowol  physisch  als  auch  psychisch  den  Mann  dar- 
stellen und  die  Sprache  mit  dem  Worte  der  Mannweiber"  bereichei-t 
haben,  sondern  uns  aucli  Männer  voitiilirt,  deren  g-anze  Erscheinung 
eine  weibische  ist  und  die  um  deswillen  sehr  oft  die  Zielscheibe  des 
Spottes  und  Hohnes  abgeben  müssen.  Außerdem  kann  diese  natür- 
liche Ditleienz  durch  verscliiedene  Einflüsse  in  [»ositiver  oder  negativer 
Weise  Andeningen  erleiden,  wie  denn  l)esonders  die  Bildung  den 
Unterschied  zwischen  männlichem  und  weibliclieiu  Geschlechte  zu  ver- 
wischen, aber  auch  zu  vergrößeni  im  Stande  ist. 

Sehen  wir  von  solchen  Einflüssen  und  den  vorhin  erwähnttii 
doppelsinnigen  Gestalten  der  Geschlechter,  die  ja  nur  als  Ausnahmen 
betrachtet  werden  können,  ab,  so  müssen  wii-  uns  auf  (Tinnd  obiger 
Auseinandersetzungen  dahin  aussprechen,  dass  die  beregte  Ditlerenz 
in  ihrer  Bedeutung  für  die  menschliche  Individualität  >\ichtig  geinig 
ist,  um  einer  eingehenderen  praktischen  Beachtung  W(n-t  erachtet  zu 
werden,  dass  besonders  die  Erziehung  und  der  Unterricht  Veran- 
lassung haben,  dieselbe  vor  einer  gewissen  Einseitigkeit  der  Ent- 
Wickelung,  zu  welcher  das  Leben  und  die  Stellung  des  Mannes  und 
des  Weibes  in  demselben  drängen,  zu  bewahren,  um  dadurch  eine 
naturgemäße  individuelle  wie  sociale-  Entfaltung  des  künftigen  Ge- 
schlechtes, die  ja  dem  Vater  wie  der  Mutter  obliegt,  zu  begründen 
und  zu  ei'möglicheiL 


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über  den  (iebraiicli  von  Lehrbüiliern  in  den  Volksschulen.*) 

Vortrag,  gduüten  am  23.  März  JSS:'  i»i  Lchren-rrein  zu  H&-nal»  bei  Wien, 

iH)n  Dr.  Friedrich  IHttes. 

Ich  liabe  mii-  vorgenommen,  Ihre  Aufmerksamkeit  heute  aiif  eine 
Schulfrage  zu  richten,  die  in  erster  Linie  nicht  der  Schulpolitik,  son- 
dern der  Schulpädagogik  zugehört,  nämlicli  auf  die  Frage  der  Scluil- 
bücher.  Dieses  Thema  habe  ich  deshalb  gewählt,  weil  ich  hinsichtlich 
desselben  einen  Standpunkt  vertrete,  den  gegenwärtig  bei  uns  nur 
die  Minorität  der  Schuhnänner  theilt,  also  einen  von  der  vorherrschen- 
den Ansicht  und  der  üblichen  Praxis  abweichenden  Standpunkt;  da 
ich  nun  sehe,  dass  die  Schulbücherfrage  mehr  und  mehr  in  deijenigen 
Richtung,  die  ich  als  verfehlt  betrachte  und  daher  bekämpfen  muss, 
der  Entscheidung  zugeführt  wird,  will  ich  Ihnen  meine  Bedenken 
offen  darlegen.  Um  sogleich  mein  Thema  näher  zu  bezeichnen,  be- 
merke ich,  dass  ich  keineswegs  beabsichtige,  die  vorhandenen  Schnl- 
bficher  einer  Kritik  zu  unterziehen;  ich  will  viehnehr  vom  Gebrauch 
der  Sdinlbücher  sprechen,  aber  nicht  von  der  Art  und  Weise,  sondern 
von  der  Zulfissigkeit  dieses  Gebrauches,  also  nicht  von  der  methodischen 
Benutzung,  sondern  von  der  prindpiellen  Berechtignng  Von  Lehr- 
bttchem  in  der  Vblksschula  Die  Frage  stellt  sich  nun  so:  Sollen 
in  Volksschulen  Lehrbücher  überhaupt  in  Verwendung  kommen?  — 
Erst  wenn  diese  Frage  entschieden  ist,  kann  eventuell  erörtert  werden 
wie  diese  Verwendung  zu  gestalten  sä. 

Ich  bin  nun  der  Meinung,  dass  die  Mehrzahl  der  Schulbücher, 
welche  gegenwärtig  im  Gebrauche  stehen,  überhaupt  gar  nicht 
verwendet  werden  sollen  (auch  wenn  sie  an  sich  fehlerlos  abge&sst 
wären),  dass  sie  nicht  nützlich,  sondern  schädlich  sind,  sofem  sie 
nämlich  den  Schulkindern  als  Leitfäd^  des  Unterrichtes  dienen  sollen. 
In  den  Händen  der  Lehrer  können  sie  gute  Dienste  thun,  freilich  nicht 
im  Schubdmmer  während  des  Unterrichtes,  sondern  zu  Hause  bei  der 
Vorbereitung.  Aber  für  den  Gebrauch  der  Schulkinder  eignen  sich 
solche  Bücher  nicht  Dennoch  werden  deren  seit  einiger  Zeit  immer 
mehr  angefertigt  und  in  die  Schulen  eingeführt  In  Deutschland,  nament- 

*)  Zwar  ist  dieses  Thema  scliou  einmal  in  dieser  Zeitschrift  behandelt  worden 
(Jahrj?.  II.  S.  001),  nht'r  da  d!issell)e  streitig  und  wichtig  ist,  auch  mehr  und  mehr 
in  die  Schulpraxis  eingreift,  hielt  ich  eine  uuchnialige  Erörterung  desselben  für 
gerechtfertigt.  D'. 


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—   714  — 


licli  in  Preußen,  kt  unter  den  Titeln  -Leittaden'',  .,Wiederb(duns:sbucli~, 
..  K'ealienbucli",  . Er;n;ebnisse  des  Unterrichtes"  u.  s.  \v.  bereits  eine  ganze 
Literatur  von  Abiissen  der  VolkssdiuldiM'iplinen  entstanden,  und  iu 
Österreich  ist  man  niclit  zurück<]:eblieben,  hat  man  vielmehr  den  fiir 
Sehulkinder  bestimmten  Handbüchern  den  grüßten  Umfang  gegeben. 
Hier  ^vie  dort  waren  Acte  der  (4esetzgebung  die  Veranlassunsr  zu 
dieser  literarischen  Prodiictiou.  Als  nämlicli  die  neueren  ScliuliresetZH 
und  Schulregulative  den  Kealien  mehr  Raum  gewahrten  und  überhaupt 
eine  erliülite  Volksbildung  vorschrieben,  tauchte  ])ald  die  Meinunir  auf, 
man  müsse  tür  die  Hand  der  Kinder  .. Leitfaden"  abfassen,  welche 
das  „Wissenswürdigste"*  und  „Unentbehrlichste",  den  ..Tnbegriflf"  u.  s.  w. 
der  vorgeschriebenen  Disciplinen  schwarz  auf  weiß  tixiren  sollten,  und 
so  entwickelte  sich  gar  bald  eine  recht  lebhafte  Schulbücherindustrie. 
Tn  Preußen  datirt  diese  Erscheinung  von  den  ^Allgemeinen  Be- 
stiunnungen",  welche  der  Minister  Falk  im  Jahre  1872  erlassen  hat, 
in  Österreich  von  dem  Schulgesetze  aus  dem  Jahre  18C9  und  den  aaf 
Grund  dieses  Gesetzes  erlassenen  Verordnungen  und  Lehrplänen. 
Dabei  ist  nur  der  Unterschied,  dass  in  Osterreich  die  Lehrbücher  für 
Volksschulen  durchschnittlich  breiter  und  complicirter  angelegt  sind, 
als  in  Preußen.  In  dem  letzteren  Staate  ist  meines  Wissens  kein 
solches  Werk  erschienen,  das  nicht  in  einem  Bande  Alles  enthielte, 
was  man  äer  wissbegierigen  Jugend  aus  dem  Schatze  der  Gelehrsam- 
keit gedruckt  in  die  Hand  geben  will.  Die  preußischen  Leitfaden 
sind  Gesammtlehrbücher  für  Naturgeschichte,  Physik,  Chemie, 
Geographie  nnd  Weltgeschichte,  znm  Theil  auch  für  deutsche  Sprach- 
lehre nebst  Zubehör,  ausnahmsweise  auch  für  Geometrie,  und  diese 
Handbücher  haben  meist  einen  mäßigen  Umfang.  In  Osterreich  hin- 
gegen haben  wir  eigene  Lehrbttchei-  für  jede  der  genannten  Disciplinen 
und  da  wieder  für  jeden  Zweig  derselben,  so  dreibändige  Lei^lden, 
der  Naturgeschichte,  der  Weltgeschichte,  der  Physik.  Und  wenn 
etwa  ein  Familienvater  nach  und  nach  drei  oder  mehr  Kinder  zur 
Schule  schickt  und  jedem  derselben  die  eingeführten  Bfteher  kaoft^  so 
kann  er  allmählich  eine  kleine  Bibliothek  vor  seüien  Augen  entstehen 
sehen. 

Es  steht  für  mich  fest,  dass  Bücher  dieser  Art  zu  eüier  Über- 
hänfimg  der  Kinder  mit  Lehrstoffen  führen  nnd  dass  es  unmdgUch 
ist,  die  eingeführten  dreibändigen  Naturgeschichten,  Weltgeschichten 
n.  s.  w.  in  einer  achtdassigen  Volks-  oder  Bürgerschule  auch  nur 
einigermaßen  gründlich  zu  absolviren.  Die  Kinder  mögen  wol  große 
Partien  ihrer  Leitfilden  behn  Abfragen  hersagen;  ein  lebendiges  Ver- 


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ständnis  und  sicheres  Belialten  des  gebotenen  Lehrstoffes  aber  ist  auch 
bei  den  talentvoUsten  Schillern,  selbst  die  allergeschicktesten  Lehr- 
kräfte Yoransgesetzt,  nicht  erreichbar.  Ich  beschränke  mich  bei 
meinen  gegenwärtigen  Erörtemngen  Uber  das  Lehrbilchervesen  anf 
die  Volks-  (mid  BQrger-)  Schulen,  da  in  den  höheren  Schulen,  wo 
zwar  auch  Missbränche  der  fraglichen  Art  Torkommen,  doch  andere 
Verhältnisse  und  Voraossetzongen  bestehen.  Bezfiglich  der  Volks- 
schulen dürfen,  wir  nicht  vergessen,  dass  zum  Besuch  derselben  eine 
staatliche  Verpflichtung  besteht,  dass  also  die  Kinder  gezwungen  sind, 
dem  Bildungsgang  derselben  sich  zu  unterwerfen,  und  dass  wir  daher 
um  so  weniger  Anforderungen  an  sie  stdl^  sollen,  welche  nicht  als 
nothwendig  und  erreichbar,  ja  nicht  einmal  als  zweckmäßig  erscheinen. 
Es  kommt  weiter  in  Betracht,  dass  wir  in  den  Volksschulen  auch  zalil- 
reiche  Kinder  von  minder  bemittelten  und  guiiz  armen  Eltern  liaben, 
und  aucli  aus  diesem  Grunde  können  wii*  die  Frage:  Sind  Lehibüelier 
nothwendig?  niolit  leicht  nelnnen. 

Ich  sage:  die  meisten  der  gel)räu<'lili('hen  Bücher  sind,  nicht 
etwa  blos  nach  ihrer  speciellen  Beschaffenheit,  sondern  ilirer  ganzen 
Art  nach,  überflüssig  und  unnütz.  Und  worauf  stütze  icli  meine 
Ansieht?  —  Zunächst  fra<rt  es  sich:  wie  stellt  sicli  die  Suclie  nach 
Maßgabe  {1er  gesetzlichen  Bestimmungen?  AVenn  unser  Schulgesetz  die 
Forderung  enthielte:  Es  müssen  Lehrbücher  in  den  Händen  der 
Schulkinder  sein,  so  müsste  man  dem  nachkommen,  so  lange  nicht 
eine  günstige  Zeit  zur  Abänderung  des  Gesetzes  erschiene.  Nach 
unserem  Schulgesetze  ist  es  aber  nicht  nothwendig,  dass  in  den 
Volks-  (und  Bürger-)  Schulen  Lehrbüchei-  gebraucht  werden.  Dasselbe 
enthält  nur  Bestimmungen  über  die  Zulässigkcit  von  Lehr-  und 
Lesebüchern  und  über  die  Wahl  der  für  zulässig  erklärten  Lehr-  und 
Lesebücher;  aber  der  Gebrauch  von  Lehrbüchern  ist  weder  positiv 
geboten,  noch  positiv  verboten.  So  ist  es  auch  in  anderen  Ländern. 
Die  Fr«ge  ist  eine  offene.  Von  den  Pflichten  der  Eltern  heißt  es  in 
unserem  Gesetze  u.  a.:  Sie  sind  gehalten,  die  erforderlichen  „Schul- 
bücher" und  andere  Lernmittel  anzuschaffen,  während  an  den  früher 
erwähnten  Stellen  der  Ausdruck  „Lehr-  und  Lesebücher"  steht  Das 
„ErfoiUerliche"  nun  wird  durch  das  Ermessen  der  Schulbehdrden  und 
das  Gutachten  des  Lehrstandes  zu  bestimmen  sein.  Was  ist  denn 
nun  eigentUcfa  zu  emem  erfolgreichen  Betrieb  des  allgemeinen  Schul- 
unterrichtes erforderlich?  Um  dies  genau  zu  definiren,  muss  man, 
glaube  ich,  vorerst  die  allgemeinere  Frage  stellen:  Welche  Factoren 
gehören  überhaupt  zu  einer  Schule?  Was  muss  vorhanden  sein,  damit 


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eine  Schule  bestehen  und  gedeihen  könne?  Abgeselien  von  den  äuUerea 
(räumliclien  und  zeitlielien)  Bedingungen,  geliriren  dazu  nothwendig 
Schider  und  Lehrer,  ferner  eine  Lelirsubstanz,  ein  Lehr.stoft",  und  hier- 
mit rücken  wii*  unserem  Thema  näher.  Es  fragt  sich  nämlich:  wo 
und  me  soll  diese  Lehrsabstanz,  dieser  Lehrstoff  zur  Erscheinung 
kommen,  so  dass  ilm  die  Einder  erfassen  köanen?  —  Ohne  Zweifel 
muss  das  den  Schülern  zu  übermittelnde  Wissen  und  Können  vorerst 
im  Lehrer  vorhanden  sein:  der  Lehrer  mnss  die  Lehrsabstanz  in  sich 
tragen  imd  behenrschen.  Sie  ist  der  Bfldiingsschatz,  welcher  im 
Lehrer  leibt  nnd  lebt  nnd  den  er  von  Qdst  zu  Gteist  ftbertragen  soll, 
nämlich  sein  Wissen  und  Können,  seine  Einsicht,  seine  moralischen  Gmnd- 
sätze  n.  s.  w.  Und  so  brauchen  wir  in  der  Schule  znnAchst  nicht  mehr 
nnd  nicht  weniger  als  Schüler  nnd  Lehrer,  in  deren  Wechselwirknng 
sich  der  Schnlzweck  realisirt  Nnn  aber  Usst  sich  der  Lehrstoff 
seinen  Elementen  nach  nicht  direct  von  Geist  zn  Greist  Übertragen, 
weil  der  ganze  Entwickelnngsgang  des  Menschen,  spedell  des  Kindes, 
anf  einer  realen  Basis  beruht,  die  in  der  Anschauung,  nicht  aber 
im  Worte  liegt.  Daher  ist  es  in  sehr  vielen  Fällen  nothwendig,  dass 
man  Tiehrobjecte  in  die  Schule  bringt,  also  Pflanzen,  Thiere.  Mineralien, 
odei-  auch  Apparate,  die  das  eigentliche  Lehrobjeet  möglichst  genau 
darstellen,  [)hysikalisc]ie  Instrumente  zur  Hervorbringung  von  Natur- 
erscheinungen u.  s.  w.,  kurz  Lehrmittel.  Jedenfalls  müssen  wir  zu- 
g<'ben.  dass  neben  der  i»ersönlichen,  hauptsächlich  durcli  die  Sprache 
statttindenden  Einwirkung  des  Lehrers  auf  den  Schüler  auch  Sachen, 
Gegenstände,  Lehrobjecte,  Bildungsniittel  nöthig  sind.  Gehören  nun 
hierzu  aucli  l^iicher,  und  sind  sie  unentbehrlich?  Innerhalb  gewisser 
Grenzen:  ja!  Alle  Bücher  können  wii-  nicht  entbehren,  weil  unsere 
Bildung  nicht  mehr  so  primitiv  ist,  wie  etwa  die  der  alten  Perser 
und  Spartaner  war,  bei  denen  Schulen  bestanden  ohne  Schrift,  ohne 
Buch,  nur  auf  persönlicher  Wechselwirkung  zwischen  Lehrenden  und 
Lernenden  beruhend.  Unsere  heutige  Cultur  ist  einem  wesentlichen 
Thefle  nach  eine  literarische:  wir  können  der  Schrift  nnd  des  Buch- 
druckes nicht  entbehren.  Einen  Theil  ihrer  Lehrsubstanz  mnss  auch 
die  Volksschule  aus  Bttdiem  entlehnen:  Lesen  und  Schrdben  smd 
unentbehrliche  Bestandtheile  der  modernen  Bildung.  Sollen  aber  die 
Kinder  lesen  lernen^  dann  im  Lesen  sich  Üben  und  durch  Lesen  sich 
bilden  lernen,  so  muss  man  ihnen  nothwendiger  Weise  Bflcher  in  die 
Hand  geben,  und  so  zeigt  sich  das  Lesebuch  als  ein  nicht  nur 
gerechtfertigtes,  sondern  als  ein  ganz  unenbehrliches  Lernmittel  der 
modernen  Volksschule;  man  kann  es  geradezu  einen  Lehrgegenstand, 


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ein  wirkliches  Object  der  Lehr-  und  I^erntliätigkeit  nuiinen.  Dies  gilt 
zuerst  vom  Äußeren,  von  den  Zeiclien  der  Sprachlaute,  von  der  Schrift 
selbst,  dann  aber  besonders  auch  und  für  viel  längere  Zeit  vom 
Inneren,  vom  Gelialt  und  Sinn  der  Schrift.  Ein  Lesestiick  ist  eben- 
s<AVül  Lehrgeg:enstand,  wie  eine  Pllanze  oder  ein  g'eometrisclier  Körper. 
Es  soll  einerseits  nach  seinem  Inlialte,  anderseits  nach  seiner  sprach- 
lichen Form  aulgofasst  werden,  und  <la  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  es 
den  Schülern  vorliegen  müsse.  Leseluiclier  sind  also  vollkommen 
berechtigte,  ja  unentbelirliche  Hilfsmittel  unserer  N'olksschulen.  —  Wenn 
wir  femer  Singunterricht  ertheilen  wollen,  so  muss  etwas  da  sein,  das 
gesungen  werden  soll:  ein  Text  und  eine  Melodie.  Nun  kann  zwar 
beides  direct  und  ausschließlich  dem  Gehör  der  Schüler  überliefert 
werden;  aber  es  kann  auch  sichtbar,  schriftlich  dargestellt  werden, 
und  es  kann  geradezu  Unterriclitsaufgabe  sein,  dass  die  Schüler  einen 
Text  auch  lesen  und  eine  Melodie  auch  in  Noten  auffassen  lernen. 
Gegen  den  Gebrauch  eines  zweckmäßigen  Singbüchleins,  das  mindestens 
zur  Erleichterung  des  Unterrichtes  dient,  ist  also  principiell  nichts 
einzuwenden.  —  Zweifelhafter  ist  die  Zulässigkeit  von  Behelfen  für 
den  Bechemmterricht.  Soll  man  den  Kindern  nicht  wenigstens  Auf- 
gabensammlungen in  die  Hände  geben?  Wenn  ein  Lehrer  gleichzeitig 
mehrere  Abtheilungen,  vielleicht  acht  Jahrgänge  von  Schülern,  m 
unterrichten  hat,  wird  es  für  ihn  eine  Erleichterung  sein,  wenn  er 
flie  auf  ihre  Aufgabenhefte  verweisen  kann;  und  es  lässt  sich  hier- 
gegen ein  grundsätzlicher  Einwand  nicht  erheben,  da  Rechenaufgaben 
wirkliche  Bildungsmittel  sind.  Doch  sind  gedruckte  Exempelbücher 
für  die  Hand  der  Kinder  nicht  nothwendig,  da  si  li  Rechenaufgaben, 
namentlich  in  nngetheilten  Classen,  ohne  viel  Zeitaufwand  mittheilen 
lassen;  zudem  hat  der  Gebranch  von  stehenden  Sammlungen  den  Nach- 
thei],  dass  die  Kinder  leicht  anf  unredliche  Weise  zn  den  Auflösungen 
der  Aufgaben  zu  gelangen  snch^ 

SelbstverstSndUch  brauchen  die  SchuUdnder  solche  Lenunittelt 
ohne  deren  Benutzung  die  Schulzweke  gar  nicht  erreicht  werden 
können,  also  Schreibmaterialien,  Hefte  zum  Schreiben,  Zeichnen, 
Bechnen,  zu  geometrischen  und  sprachlichen  Übungen,  sowie  alle  sonst 
zur  Schularbeit  erforderlichen  Behelfe. 

Fttr  Uberflfissig  und  nachtheilig  aber  halte  ich  alle  eigentUchen 
Lehrbücher,  sofern  sie  in  den  Händen  der  Schulkinder  sein  und 
als  Leitfäden  f&r  den  Volksschuluntemcht  dienen  sollen,  als  da  sind 
Abrisse  der  muttersprachlichen  Grammatik,  der  Literaturgeschidite, 
Metrik,  Poetik,  Stylistik,  Orthographie,  femer  der  Geographie,  der 


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Naturkunde  aller  Zweige,  ebenso  der  Weltgeschichte,  der  Arithmetik, 

Geometrie,  natürlich  auch  der  Theorie  des  Gesang^es,  des  Turnens, 
der  weiblichen  Handarbeiten,  des  Zeichnens,  Schreibens  u.  s.  w.  Und 
Avarum  bin  ich  ge^ren  solche  Behelfe?  Kurz  gesagt  deshalb:  weil  der 
Scliul^^ebrauch  derselben,  also  die  Anknüpfung  des  Unterrichtes  an 
sie,  mit  der  gesammten  Didaktik  und  Meilividik  im  Widersi)ruch  steht. 
Wenn  wir  das  mehr  und  mehr  um  sich  greifende  lüicherunwesen 
l)lle,!;en  wollen,  dann  dürfen  wir  uns  nicht  mehr  auf  Coinenius,  oder 
Rousseau,  odi-r  Pestalozzi  berufen;  dann  sind  alle  Grundsätze  der 
naturgemäÜen,  entwickelnden  und  geistbildenden  Lehrkun>t  auLier 
Kraft  gesetzt.  Vergegenwärtigen  wir  uns  durli  diese  (Grundsätze  ein 
wenig.  Da  begegnen  wir  zuerst  dem  der  Anschaulichkeit.  Wie 
kann  man  von  Anschaulichkeit  reden,  wenn  man  den  Reahinteiricht 
an  ein  Buch  anschließt?  Fridier  sagte  man:  der  Sachunterricht  soll 
an  das  Lesebuch  angeschlossen  werden.  Mit  Kecht  hat  uian  diese 
Idaxime  verworfen.  Die  Behandlung  eines  Lesestückes  kann  sich  an 
die  wirkliche  Betrachtung  eines  (Gegenstandes  anschließen;  man  kauu, 
nachdem  man  Realien  anschaulich  behandelt  hat,  mit  Kindern  auch 
lesen,  was  das  Buch  darüber  entliält.  Aber  nicht  umgekehrt.  Denn 
die  Sprache  als  sr>lche,  also  auch  ein  Lesestück,  gibt  keine  Sachvor- 
stellungen, weil  Sprache  und  Schrift  ihrem  Wesen  nach  abstract  und 
nur  Zeichen  (Ausdruck)  von  Vorstellungen  sind.  Daraus  ergibt  sich 
die  Beschränktheit  und  Bedingtheit  des  Nutzens  aller  sprachlichen 
Darstellungen,  also  auch  aller  Bücher.  Ersetzen  können  sie  das 
anschauliclii',  directe,  selbstthätige  Lernen  niemals.  Sie  wirken  nur 
insoweit  wahrhaft  bildend,  als  der  Leser  im  Stande  ist,  ihren  Gehalt 
sich  zu  yeranscliaaiiclien,  was  er  nni*  dann  vermag,  wenn  er  die 
erforderlichen  concreten  Vorstellungen  lebendig  in  sich  trägt,  um  sie 
dem  Worttexte  imterlegen  zu  kdnnen.  Daher  können  Bücher  bei 
geköriger  Vorbildimg  allerdings  zur  Fortbildung  sehr  nützlich  sein; 
wo  aber  die  entsprechende  Vorbildung  fehlt,  da  bleiben  sie  nnver- 
standen,  wenn  sie  nicht  gar  Confusion  erzeugen.  Man  darf  nicht 
glauben,  dass  das  Lernen  ihres  Wortlautes  auch  schon  die  Aneignung 
ilnes  Gehaltes  bedeute.  Unsere  Schulbücher  nnn  enthalte  deu 
Extract  der  betreffenden  Wissenschaften,  ein  Gerippe  von  Lehrsätzen, 
Übersichten,  Systemen.  Das  ist  aber  naturgemäß  das  Letzte  in  der 
intellectnellen  Entwickelung,  also  das  Ziel,  der  Schlnss,  nicht  der  Anfang 
der  Bildnngsarbeit.  Den  natürlichen  Anfang  bilden  die  einzelnen  An- 
schauungen, nnd  diese  vor  Allem  muss  man  dem  Kinde  zuführen.  Unsere 
Lehrbücher  aber  &ngen  mit  dem  Ende  an.  Von  ihnen  ausgehen  heiftt 


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den  natürlichen  Bilduno"s<?anj^  nmkehren.  Wo  sie  heimisch  sind,  da 
soll  die  Schularbeit  ilineu  dienen,  sie  ausU-f^en,  erklären  und  einüben. 
Das  ist  nicht  das  Richtige:  nicht  vom  Lelntext  zum  Lehrobject.  son- 
dern von  diesem  zu  jenem  geht  der  natürliche  Wei^-.  Nicht  von  Worten, 
sondern  von  Sachen  ist  auszugehen:  der  Avirkliclie  Lehrgeg-enstand, 
sei  es  eine  Ptlanze,  ein  Thier,  ein  Modell,  eine  g-eometrische  Fiüfur. 
eine  physikalische  Krsdieinung,  eine  geof^Taphisclic  Karte,  oder  was 
immer  vom  Kinde  aul'getasst  werden  soll,  der  -wiikliche  Lelirgegen- 
stand  muss  immer  vorgeführt,  betrachtet,  beobachtet,  zergliedert,  be- 
sjMochen,  beschrieben,  charakteiisirt  werden.  So  wird  aus  dem  Lehr- 
object derLehrtext  gewonnen,  was  naturgemäß  ist,  während  das  Verfahren, 
aus  dem  Lehrtext  das  Lehrol)ject  zu  construireu,  unnatürlich  ist.  Ilichten 
wir  noch  einen  I3lick  auf  den  Sprachunterricht.  Da  sind  nicht  die 
Paradigmen  und  Kegeln  des  Lehrbuches  der  natürliche  Ansgangsjtunkt 
sondern  die  lebendige  Sprache,  wie  sie  geredet  und  geschrieben  wird, 
wie  sie  sich  dem  Ohr  und  dem  Auge  darstellt;  sie  ist  das  concrete, 
anschauliche  Object,  welches  aufzufassen  uud  zu  betrachten  ist.  Aus 
der  Sprache  kann  man  die  Grammatik  ableiten,  nicht  aber  kann  man 
Sprache,  wirkliche  Fähigkeit  und  Gewandtheit  in  Handhabung  von  Rede 
und  Schi'ift  aus  der  Grammatik  erzeugen.  Auch  da  stellt  man  die  na- 
türliche Ordnung  auf  den  Kopf,  wenn  man  vom  Lehrbuch,  also  vom 
Abstracten,  statt  von  dem  eigentlichen  Lehrobject,  d.  i.  von  dem  Con- 
creten,  nändich  von  der  Sprache  selbst  ausgeht.  Das  Büchernnwesen 
verleitet  überall  dazu,  dass  man  die  Lehre  an  die  Stelle  der  Sache 
setzt  Dieses  Übel  beruht  auf  dem  altherkömmlichen  Autoritätsglauben. 
Die  ersten  Lehrbücher  in  den  Volksschulen  waren  Katechismen.  Ihr 
Text  galt  als  heilig,  als  absolut  wahr,  bedurfte  keines  Vernunftbeweises, 
war  theilweise  gar  nicht  begreiflich.  Alles  kam  auf  den  Wortlaut  an. 
Mit  ihm  in  der  Hand  gab  man  den  Kindern  ßeligionslehre,  ob  auch 
Beligion,  das  ist  eine  andere  Frage.  Es  ist  nicht  wahr,  dass  di^enigen, 
welche  die  Religionslehre  auswendig  wissen  und  hersagen  können, 
deshalb  anch  Bdigion  haben.  So  ist  es  auch  nicht  wahr,  dass  alle  Leute, 
wddie  die  Sittenlehre  kennen,  anch  gate  Gesinnungen  und  Sitten  haben. 
Es  kann  Jemand  alle  zehn  Gebote  answendig  wissen  und  sie  doch  alle 
ttbertreten.  JBbenso  muss  ein  Bechtsgelehrter,  der  alle  Gesetze  kennt, 
deshalb  nicht  ein  rechtschaffener  Mann  sein.  Pie  bloße  Lehre  ist  überall 
ein  Wechsdbalg,  ein  Bastard,  ein  untei^schobenes  Kind;  sie  ist  an 
sich  nicht  wirkliche  Sachkenntnis,  nicht  lebendige  Einsicht,  nicht  wahre 
Intelligenz,  nicht  Bestimmnngsgnmd  des  menschlichen  Denkens  und 
Wollens.  Dies  gilt  anch  von  der  Naturlehre,  Sprachlehre  nnd  jeder 


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andei'en  Lehre.  Es  ist  iiiclit  wahr,  dass  dc'rjenij,^e,  welclier  die  Sprach- 
lelire  liersageii  kaiin.  aiicli  die  Sprache  in  seiner  (^ewalt  halie;  wol 
aber  kann  jemand  ein  Meister  der  Sprache  sein,  ohne  ein  Lehrbncli  der 
Graiiniiatik  inne  zu  liaben.  Ich  bin  übei-zengt,  dass,  wenn  Goetlie, 
Schillei',  Lessing-  von  den  Tudten  auferstünden  und  vor  unsere  Prüfungs- 
conimissionon  gehideii  würden,  sie  durchfallen  würden,  näuilicli  im  Fach 
der  deutschen  Sprache.  Denn  von  vielen  Dingen,  die  in  unseren  Spracli- 
büchern  stehen,  wussten  sie  in  der  That  nichts.  Die  geistige  Tüclitig- 
keit  ist  nicht  an  ein  Lehrsystem  gebnnden,  nnd  die  Koutine  in  einem 
Lehrsystem  ist  kein  Beweis  von  geistiLcer  Tüclitigkeit.  Wer  eine  Physik 
hersagen  kann,  gibt  damit  keine  Hürgschaft,  dass  er  die  Natur  kenne 
und  verstehe.  Aber  gerade  hierauf  kommt  es  an.  Auch  die  Geograpliie. 
wie  sie  in  Büchern  steht,  ist  an  sich  eine  abstraete  Lehre.  Wer  sie 
hersagt,  beweist  damit  noch  nicht,  ilass  er  ihr  Object,  die  Erde,  be- 
gi'itfen  hat.  Aber  gerad«;  hierauf  kommt  es  an.  Und  was  wird  mit 
dem  Lernen  eines  Abrisses  der  Weltgeschichte  erzielt?  —  Kurz:  wir 
kehren  in  der  1'hat.  wenn  wir  die  Büclier  und  mit  ihnen  die  Lehre 
in  den  Vordergrund  der  Schulthätigkeit  stellen,  den  natürlichen  Lehr- 
gang um:  wir  fangen  mit  dem  Abstracteu  au  und  erzeugen  taubes 
Wortwesen  statt  lebendiger  Einsicht. 

Es  hängt  hiermit  zusammen,  dass  bei  solchem  Unterrichte  die 
Selbstthätigkeit  der  Schüler  nicht  gehörig  entwickelt  wird.  Die 
Anleitung  des  Kindes,  sich  selbst  einen  Begrifl'  zu  bilden,  ist  nicht 
möglich,  wenn  wir  ihm  den  fertigen  Lehrtext  geben.  Wozu  reden  wir 
denn  so\nel  davon,  dass  "wir  die  Jugend  nicht  blos  material,  sondern 
auch  formal  bilden  sollen,  wenn  wir  ihr  gleich  das  Fertige  geben?  Das 
Gedächtnis  überwuchert,  das  Auswendiglernen  drängt  sich  vor,  das 
Denken  nnd  Inwendiglernen  tritt  in  den  Hintergrund.  Die  f'olge  ist 
eine  ganz  vom  Buche  abhängige  Meinung.  In  unserem  papiernen  Zeit- 
alter spielt  das  Gedruckte  eine  ungebührlich  große  Holle.  Darf  ich 
noch  meinen  Augen  und  Ohren  trauen,  mich  auf  meine  eigene,  wol- 
envorbene  Einsicht  verlassen?  So  fragt  sich  der  Papierglänbige,  der 
den  Glauben  an  sich  selbst  verliert.  Wo  eigene  Begriffe  fehlen,  da  ver> 
iSsst  man  sich  auf  fremde  Worte,  und  die  Folge  ist  geistige  Unselb« 
ständigkeit  und  Phrasenthum.  Was  man  schwarz  auf  weiß  besitzt,  kann 
man  getrost  nach  Hanse  tragen.  Ja  freilich,  aber  besser  ist  es,  man 
trägt  etwas  Ordentliches  im  Kopfe.  Der  Lehrtext  kann  und  darf  nicht 
zum  Lehrobject  gemacht  werden,  wenn  wir  uns  nicht  alles  bildenden 
Unterrichtes  entschlagen  und  in  den  todten  Verbalismns  zorückfidlen 
wollen.  Unter  dem  Lehrbüchemnwesen  leidet  die  lebendige  Weeh sei- 


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Wirkung  zwi.sclieii  Lehrer  und  Schüler,  also  das  Wesen  der  Schule 
selbst.  In  einer  guten  Schule  leitet  der  Lehrer  seihst  die  Schüler, 
dass  sie  sich  selhstthätig,  stetig  und  lückenlos  entwickeln.  Er  verliert 
aber  seine  wahre  Stellung,  wenn  sich  das  Lehrbuch  als  ein  fremdes 
Wesen  zwischen  ihn  und  den  Schüler  stellt.  Beide  werden  c^ebunden, 
es  ist  keine  freie  Bewegung  mehr,  keine  Entwickelnng  durch  Rede 
nnd  Gegenrede,  kein  heuristisches  Fragen  und  Antworten,  keine 
sokratische  Methode.  Übrigens  wd  die  Sprache  der  Lehrbücher  von 
den  Kindern  nicht  leicht  verstanden,  es  ist  die  Sprache  der  Schule,  der 
Wissenschaft,  nicht  die  Sprache  des  Lebens,  des  Volkes.  Stellt  sich 
aber  der  Lehrer  auf  den  geistigen  und  sprachlichen  Standpunkt  der 
Kinder,  so  kann  er  sie  organisch  weiter  Idten.  Jeder  I  nti  i-richt  soll 
der  Fassungskraft  der  SchiUer  angemessen  sein.  Wo  sich  aber  ein 
fremder  Apparat  zwischen  Lehrer  und  Schüler  aufpflanzt,  da  ist  der 
unmittelbare  Verkehr,  das  Eingehen  des  Lehrers  in  den  Erfahrungs- 
kreis der  Kinder  wesentlich  beschränkt.  Denn,  meine  Herren,  wie 
Sie  selbst  wissen,  werden  Sie  nicht  einmal  mit  den  Bttchem  fertig:  was 
können  Sie  noch  weiter  thnn?  Da  die  Bflcher  einmal  eingef&hrt  sind: 
wie  soll  man  sie  durcharbeiten  und  dabei  auch  einen  entwickehiden 
Unterricht  ertheilen?  —  Schon  der  Name  „Leitfilden'*  weist  auf  das 
Bedenkliche  des  Bflcherwesens  hin;  wir  haben  da  also  eine  äußerliche 
Leitung  des  Unterrichtes.  Woher  kann  aber  die  rechte,  die  den  Ver- 
hältnissen entsprechende  Leitung  des  Lehrganges  kommen?  Offenbar 
nur  vom  Lehrer.  Dieser  muss  den  allgemeinen  Entwickelungsgang  des 
kindlichen  Geistes  kennen,  dazu  aber  auch  den  besonderen  Gesichts- 
kreis seiner  Schüler,  ihre  Sprache  und  sonstigen  Eigenheiten,  die  Zu- 
stände und  Verhältnisse  seines  Ortes,  seiner  Gemeinde,  und  auf  Grund 
dessen  kann  er  feste  Ausgangspunkte  und  einen  angemessenen  Weg 
seiner  Wirksamkeit  gewinnen.  Aber  ein  abstractes  Lehrbuch  drängt 
alle  Besonderheiten  zur  Seite  und  schablonisirt  den  Unterricht,  wo- 
durch es  demselben  auch  die  Frische  und  Freudigkeit  entzieht. 
Es  ist  eben  der  „Leitfaden"  fftr  Lehrer  und  SchiUer,  beide  bereiten 
sich  aus  ihm  vor,  es  wird  abg^agt^  aufgegeben,  fiberhört.  Der  ganze 
Unterricht  wird  langweilig  und  ledern,  oder  eigentlich  papieren,  statt 
sachlich.  Natfirlich  leidet  dabei  auch  die  Aufmerksamkeit  der 
Schfller,  da  das  rechte  Interesse  und  damit  die  lebendige  Hingabe  fehlt» 
nnd  die  Kinder  leicht  auf  die  Maxime  kommen:  mehr  als  im  Buche 
steht,  habe  ich  nicht  zu  leisten,  folglich  bin  ich  geborgen,  wenn  ich 
nur  zu  Hanse  mein  Pensum  lerne.  Um  noch  einige  Nebenmomente  an- 
zuführen, weise  ich  auch  auf  die  sanitäre  Seite  des  Bücherwesens  hin. 

Pvdacogiun.  4.  Jtlkrg.  H«ft  XL  46 


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Es  ist  eine  allfromeine  Klage,  dass  o;egeiiw;irti<^  die  Scliulkranklieilen 
mehr  und  melir  um  üch  greifen,  dass  uamentlich  die  Kurzsieht igkeit 
überhand  ninunt,  ebenso  übermäßige  Reizbarkeit  des  Nervensystems. 
Kopfschmerz,  St/irungen  in  der  Blutbildnng  und  Blutcirculation.  Bleich- 
suclit,  Kiu'kgratsverkrUiimumgen  u.  s.  w.  Diese  Übel  werden  gewiss 
mit  begründet  ^\\m^\l  das  zuviele  Sitzen  bei  den  Büchern  in  und  außer 
der  Schule,  ^^'enn  dei-  ganze  I.'nterricht  überwiegenil  eine  Bücher- 
arbeit ist.  so  werden  natürlich  die  Augeu  ^'iel  mehr  leiden,  als  wenn 
er  sich  an  wirkliche  oltjecte  anschließt,  ein  wahrer  Sachunterricht  ist. 
Und  was  die  scliultreie  Zeit  betrittt,  so  wäre  es  den  Kindern  jeden- 
falls heilsamer,  dann  und  wann  ins  Freie  zu  gehen,  um  Xaturobjecte 
und  Naturerscheinungen  zu  betrachten,  statt  etwas  Gedrucktes  übei" 
sie  zu  lernen  oder  sonst  noch  stundenlang  über  Büchern  zu  sitzen.  — 
Auch  disciplinare  t'l)elstände  stellen  sich  beün  Gel>rauch  von  Lehr- 
büchern ein.  Ks  kommt  voi*.  dass  ein  Kind  sein  Hudi  vergis.st,  ver- 
liert, zerreiLU,  oder  dass  ilim  die  Elteni  keins  kaufen  können  oder 
wollen:  da  gibt  es  nun  allerlei  kleine  Störungen  und  Zwischenfölle.  Je 
complicirter  ein  Apparat  ist,  desto  mehr  Mühe  macht  er,  und  man  sollte 
sich  daher  alles  Unnöthigen  entsciüagen.  Was  insbesondere  die  armen 
Kinder  betrittt,  so  soll  denselben  zwar  durch  die  Ortiischulräthe  das 
Erforderliche  beschattt  werden.  Aber  welche  Kinder,  resp.  Eltern  sind 
arm?  Da  gibt  es  oft  weitläufige  und  verdrießliche  Recherchen,  dann 
Verliaiidlimgen  mit  den  Verlegern  wegen  unentgeltlicher  Armen- 
exemplare  u.  s.  w.  Und  das  Alles  umsonst,  nicht  zu  Gunsten,  sondern 
zum  Schaden  eines  waln-haft  bildenden  Jugendunterrichtes.  Kurz:  die 
ganze  Betrachtung  führt  zu  dem  Endergebnis,  dass  das  Lehrbücher- 
wesen  in  den  Volksschulen  unnütz  und  vielfach  schädlich  ist 

Jetzt  könnte  man  sagen:  das  sei  in  der  Theorie  richtig,  aber  in 
der  Praxis  müsse  man  es  doch  mit  den  Lehrbüchern  halten.  Nun,  ich 
habe  auch  eine  langjährige  und  \ielseitige  Praxis  lünter  mir,  und  es 
ist  nicht  meine  Art,  unpraktische  Ziele  zu  verfolgen.  Ich  weiß,  dass 
es  ohne  Lehi'l)iu!her  recht  gut  geht.  Wenn  Sie  eine  Schule  zu  sehen 
verlangen,  wo  dies  thatsächlich  erwiesen  ist,  so  verweise  ich  auf  die 
beiden  achtklassigen  Burgerscliulen,  die  mit  dem  Wiener  Pädagogium 
verbunden  sind,  und  wo  man  seit  langen  Jahren  in  meinem  Sinne  vor- 
geht Ich  habe  den  daselbst  wirkenden  Lehrern  meine  Ansichten  nie- 
mals aufgedrängt;  unsere  Lehrgrundsätze  wurden  durch  £r£ifanni^, 
ruhige  Überlegung,  allseitige  Prüfung,  freie  Bede  und  Gegenrede  fest- 
gestellt Auf  diesem  Wege  sind  alle  Lehrer  einhellig  zu  der  Über- 
zeugung gelangt,  dass  sich  ohne  Lehrbttcher  Besseres  leisten  lasse,  als 


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—   723  — 


mit  Lelirl)Uchern ,  und  eine  langjährige  Praxis  hat  diesen  Grundsatz 
bestätigt.  Ich  liahe  nach  allen  Leliriibungen  in  allen  Fächern  und 
allen  Classen  immer  wieder  die  Frage  gestellt:  \\iire  es  gut  gewesen, 
wenn  wir  ein  Lehrbuch  gehabt  hätten?  Und  immer  lautete  die  ein- 
stimmige Antwort:  Das  L^bucb  hätte  nicht  genützt,  sondern  geschadet. 
Das  von  mir  empfohlene  und  in  den  genannten  Schulen  eingeführte 
Verfahren  ist  folgendes:  der  Unterricht  wird  immer  frei  ertheilt,  Nie- 
mand bat  ein  Lehrbuch  in  der  Hand;  nur  auf  das  Lehrobject  richtet 
sich  die  Anfinerksamkeit  Alier,  dieses  wird  beti*achtet  und  methodisch 
behandelt;  wfthrend  der  Lection  sdireibt  der  Lehrer,  wo  es  ihm  er- 
forderlich seheint,  das  Ergebnis  des  Unterrichtes  äußerlich  zn  fixiren, 
die  nothwendigsten  Merkwörter  an  die  Wandtafel,  was  ohne  allen 
Aufenthalt  Tor  sich  geht;  dadurch  entsteht  im  Laufe  der  Stnnde  nach 
und  nach  eine  kurze  Skizze  der  ganzen  Lection;  wenn  die  Stunde 
ziemlich  zu  Ende  und  das  Pensum  erledigt  ist,  haben  die  Kinder  den 
Inbegriff  des  behandelten  Pensums  vor  Augen,  eine  Skizze  von  etwa 
4,  5  Zeilen,  manchmal  nur  etliche  schwere  WOrter,  Namen,  Jahres- 
zahlen, Knnstausdrflcke;  einige  Minuten  vorSchluss  der  Stunde  nehmen 
die  Kinder  ihre  Hefte  zur  Hand  und  schreiben  diese  Skizze  ab,  was 
durchschnittlich  2 — 3  Minuten  dauert,  ist  das  Pensum  besonders  schwie- 
rig, so  schließt  man  etwas  früher  und  wiederholt;  die  \Viederli(»lung 
gescliieht  von  Seiten  der  Kinder  am  Leitfaden  der  an  der  \\'andtat'el 
stehenden  Skizze.  Da  haben  die  Kinder  (Telegenheit,  die  Sache  sich 
noch  einmal  ins  (redächtnis  zurückzurufen  und  zu  überdenken.  Dieses 
\'erfaliren  hat  noch  den  Neben  vortheil,  dass  die  Orthographie  der 
schwierigsten  Wörter  zugleich  mit  eingeübt  wird.  Wahrend  des  Unter- 
richtes dürfen  die  Kinder  gar  nichts  nachschreiben,  weil  sonst  ihre 
Aufmerksamkeit  gethcilt,  oft  auch  Fehlerhaftes  zn  Papier  gebracht 
werden  würde;  das  beliebige  Nachschreiben  von  Seiten  der  Kinder  ist 
an  sich  dem  Unterrichtszwecke  abträglich  und  hat  noch  den  Neben- 
nacbtbeil,  dass  oft  den  Lehrern  zur  Last  gelegt  wird,  was  die  Kinder 
Fehlerhaftes  nach  Hanse  bringen. 

Man  wird  hoffentlich  nicht  einwenden,  dass  das  hier  empfohlene 
Yerfiibren  dem  Gebrauch  Ton  Lehrbttchem  fthnlich  sei,  insofern  ja 
schließlich  auch  eine  Art  Lehrtezt  zu  Stande  komme.  Aber  das  eben 
Ist  der  wesentliche  Unterschied,  dass  unser  Lehrtext  das  Ergebnis 
des  Untemchtes  ist,  welches  organisch  entwickelt  und  schließlich  fest- 
gehalten wird,  und  dass  unsere  Lehrskizze  sich  vollständig  deckt  mit 
dem,  was  methodisch  entwickelt  und  den  Kindern  zum  Verstftndnis  ge- 
bracht worden  ist,  wfthrend  der  Unterricht  am  Leitfaden  eines  im 

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—      124:  — 


voraus  festgestellton  uniformen  Lefartextes  allen  metbodischen  Grund- 
sätze widerspricht 

Nun  behauptet  man  aber:  die  Lehrbücher  bieten  doch  grofie  Tor- 
theüe.  Erstais  kann  man  mit  ihnen  mehr  leisten,  mehr  durchnehmen, 
mehr  Stoff  bewältigen,  als  ohne  sie.  Ja  wol,  aber  es  ist  auch  danach! 
—  Im  freien  Unterricht  hingegen  sieht  man  immer,  was  die  Kinder 
fessen  können,  wie  viel  man  ihnen  bieten  darf,  er  ist  ein  sicherer 
Gradmesser  für  das  Ausmaß  des  Lehrstoffes.  Man  sagt  weiter,  dass 
die  Lelirbücher  für  den  Fall  von  Scliulversäumnissen  einen  Ki-satz 
bieten;  man  könne  da  dem  Kinde  leiclit  zeigen,  was  vorgekounnen  sei, 
was  es  nachzulioh-n  haV>e.  Das  hat  aber  den  Xachtheil,  dass  manche 
Kin(b'r  um  so  soi'gloser  die  Scliule  vei-säumen  werden,  je  melir  sie  sich 
auf  das  Lehrbuch  verlassen  können,  und,  was  die  Haui>tsache  ist:  wie 
kann  man  denn  verlangen,  dass  unsere  Schulkinder,  welche  oimeliin 
genugsam  in  Anspruch  genommen  sind  und  oft  unter  selir  schwieligen 
Verhältnissen  ihre  Bildungszeit  durchlaufen,  zu  Zeiten  ein  r)oi>iudtes 
leisten,  das  Alte  und  das  Neue?  Für  alle  Fälle  aber  würden  die  bei 
unserem  Verfahren  sich  ergebenden  l^ehrskizzen  doch  dasselbe  leisten, 
was  die  Lehrbücher  leisten,  ^^'^'iter  kann  man  sagen:  wichtiu-  i>t  es 
doch  jedenfalls,  dass  die  Kinder  durch  den  (.Tebrauch  von  Hüchern  sich 
für  ihre  spätere  Fortlnldung  vorbereiten:  diese  niuss  docli  outen  Theils 
durch  Bücher  cresclichen,  und  Avenn  die  Kinder  im  Gebrauch  der.selben 
schon  geübt  sind,  su  wird  ihnen  das  später  zu  Statten  kommen.  Das 
ist  ein  ziendich  wichtigei*  Einwurf.  Aber  auch  ohne  Lehrbücher  kann 
ihm  Rechnung  getragen  werden.  Wir  liaben  ja  Tiesebücher  in  unseren 
Schulen,  meist  sehr  umfängliche,  aus  vielen  Bänden  bestehende.  In 
ihnen  finden  sich  auch  Abschnitte  über  Realien,  Naturkunde,  Geographie, 
\\'eltoeschichte  u.  s.  w.  Wenn  man  diese  Abschnitte  mit  den  Kindern 
durchnimmt,  vorausgesetzt,  dass  die  bezüglichen  Materien  vorher  im 
freien  Unterrichte  anschaulich  liehandelt  worden  sind,  so  gewöhnen  isich 
die  Kinder  im  Laufe  ihrer  acht  Schuljahre  genug  an  Bücher  ;  und  wenn 
sie  ihr  Lesebuch  ordentlich  lesen  und  verstehen  lernen,  so  üben  sie 
sich  auch  in  der  Benutzung  von  Fortbildungsschriften.  Endlich  sagt 
man,  und  das  ist  ein  Einwand,  den  ich  oft  von  ofßcieller  Seite  gehört 
habe,  was  ich  verlange,  setze  so  tüchtige  Lehrer  voraus,  wie  wir  ihrer 
nui*  wenige  hätten.  Soviel  Icönne  man  den  Lehrei-n  nicht  zutrauen, 
wie  ich  von  ihnen  verlange:  erstens  hätten  die  Lehrer  nicht  geaag 
Kenntnisse,  um  ihren  Lehi'stoff  genügend  beherrschen  zu  können:  zwei- 
tens seien  sie  der  Sprache  nicht  genügend  mächtig,  um  den  lichrstoff 
correct  formuliren  zu  können;  drittens  könnten  sie  ohneLeit&den  leicht 


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—   725  — 


allerlei  Irrlt^lnvii  einsclimufj:t:«'lu.  während  sirli  mittels  approMi  tt-r  Li'lir- 
biicher  der  rnten-iclit  besser  re^ulireii  lasse.  TUese  Einwürl'e  ent- 
springen aus  dem  alten  Misstratien  gegen  den  Lehrerstand  und  aus 
dem  alten  Gängelungs-  und  Bevormundungssystem.  Ist  das  Alles  noch 
heute  gerechtfertigt?  —  Ich  glaube  nicht;  der  Staat  miisste  schlecht 
für  Lehrerbildung  gesorgt  haben,  der  noch  bei  solchen  Maximen  zu 
beharren  Gnind  hätte.  Wo  aber  dies  am  Platze  ist,  da  geht  der  Unter- 
richt und  die  ganze  Schule  schlecht  mit  und  ohne  Ijehrbüther. 

Ich  sage:  die  Volksschole  bedarf  keiner  Lehrbücher,  und  sie  fährt 
ohne  diese  Bebelfe  besser  als  mit  ihnen.  Hiermit  empfehle  ich  Ihnen 
aber  nicht,  meine  Herren,  dass  sie  gleich  morgen  den  eingeführten 
Lehrbüchern  den  Abschied  geben.  Jeder  Lelirer  ist  gehalten,  sich  den 
Beschlüssen  zu  fügen,  die  in  seinem  Wirkungskreise  in  Kraft  stehen, 
80  lange  sie  nicht  in  aller  Form  aufgehoben  sind.  Aber  das  Recht 
za  opponiren  hat  Jeder.  Jede  bestehende  Satzung  kann  der  Kritik 
unterzogen  werden,  damit  fehlerhafte  Einrichtungen  beseitigt  und  Fort- 
schritte eingeleitet  werden.  Praktisch  befolgt  müssen  aber  bestehende 
Ordnungen  werden,  weil  sonst  Zwietracht  und  Anarchie  einreißen  würden. 
Durch  meine  Meinungsäußerung  wollte  ich  Anregung  geben,  dass  ich 
widerlegt  würde,  wenn  ich  irre.  Wenn  Sie  aber  meiner  Ansicht  sein 
sollten,  so  könnte  gelegentlich  dahin  gewirkt  werden,  dass  nach  dnem 
gemeinsamen  Beschluss  der  Gebranch  von  Lehrbüchern  in  Volksschulen 
ün^ehoben  würde.  Ich  wollte  durch  meinen  Vortrag  eine  Discnssion 
anregen,  und  es  wäre  mir  sehr  erwünscht,  wenn  in  freier  Bede  und 
Gegenrede  Ihre  Ansichten  zum  Ausdruck  kämen.  Wenn  der  von  mir 
bekämpfte  Gebranch  als  nöthig  oder  doch  als  nützlich  erwiesen  wird, 
so  werde  ich  gern  meme  Opposition  einstellen  und  die  Freunde  und 
Gönner  unseres  Bücherwesens  in  Buhe  lassen.  Wo  nicht,  so  werde 
ich  dasselbe  bekämpfen,  bis  man  es  aus  unseren  Schnlen  yerweist  und 
durch  einen  freien,  lebendigen  und  firuchtbaren  UnteiTicht  ersetzt! 

Naehtrag. 

I>if  Von  inii- L'-iMvini<rlite  Pi^cussion  hat  am  25.  Miii  in  cinfr  ziililrrii  h  bc-nn-hten 
Ver.saniiuhing  tUä  ubeu  ;u;euauuteu  Vereins  stattgetimdeu.  Die  Erürteruug  war  erust, 
lebhaft,  gründlich,  ausftthrlich,  brachte  aber  keine  neoen  Argrumente,  so  dass  ieb  Ter* 
nintln  ii  flail".  in  v()i%relienilem  Vortratr«^  das  Wcsentliclie  der  Sai-li.-  cr<r]ir,j.ft  zu 
haben.  Mehrere  Keduer  hüben  zwar  hervor,  dass  unter  den  bestehenden  Ver- 
hSltnissen  und  vom  Standpunkte  der  offieiellen  PSdagogik  aus  das  Lebibttcber» 
wesen  eine  ?owissf  relative  Berechtiirunü:  habe;  aber  auch  sie  stimmten  mit  der 
ganzen  Ver^nimiuug  darin  Uberem,  dass  nach  den  GrundsKtzen  der  freien,  lediglich 
auf  dos  Gedeihen  der  Volksbildung  (gerichteten  Pädagogik  der  Unterricht  ohne 
LelirblUher  anzustreben  sei,  uml  ilas^  j^cgeu  die  vorstehenden  AusflUumngen  pria- 
i^ipielle  Einwendungen  nicht  erhoben  werden  könnten.  D. 


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Der  jnnge  Yolkssclmllelirer. 

Von  J,  Jit'uits-Vard. 

-Wa«  du  bist,  das  wolli-  «.  in, 
Süd  Diehti  wolle  liober.'- 

Schols. 

«GroUlob,  dass  wir  so  weit  sind!^  athmet  der  Sminarist  eiielchtert  anf, 
wenn  er  das  Abgaofaezamen  glficklich  bestanden  hat  Hat  er  ein  Becht  daza? 

Nur  bedinfaing^s weise  können  wir  „ja**  oder  „nein"  antworten.  Ein  Nein  ge- 
bülirt  dem,  der  da  meint,  dass  jetzt  die  Zeit  des  Arbeitens  vorbei  sei  und  die 
Zeit  dt's  Genießens  folge.  Wenn  wir  aber  die  Frage  bejahen  wollen,  so  miisst^n 
wir  mit  dem  Ausrufe  «'inen  andern  Sinn  verbinden.  Was  hinter  dem  St-miiia- 
risten  liegt,  ist  eine  Stufe  auf  der  Bahn  Heiner  Entwickelung.  Wer  eine 
solche  Ubenchritten  hat,  darf  befHedigt  and  erleichtert  znrUcksehanen;  denn 
wer  die  Leiter  hinauf  will,  ist  nicht  mit  einem  Spränge  oben,  sondern  mnss 
Stnfe  für  Stufe  hinansteigen. 

Nach  Absolvirung  des  Seminars  wird  der  Seminarist  Lelirer.  Als  «solcher 
rauss  er  nun  ein  Amt  verwalten,  das  ihm  eine  Menge  von  Pflichten  und  Arbeiten 
auferlegt,  von  denen  er  vorher  keine  Ahnung  hatte.  So  langf^  tr  noch  im 
Seminar  war,  konnte  er  sich  lathfragend  an  seine  Lehrer  wenden:  aut  jeden 
Fehler,  jede  Tactlosigkeit  wurde  er  aufmerksam  gemacht,  und  er  wusste  genau, 
wie  weit  er  gehen  durfte,  ohne  gegen 'die  Seminargesetze  zu  verstoBen.  Das 
macht  sich,  wenn  er  als  Lehrer  auftritt,  ganz  anders.  Maeht  er  Fehler,  begeht 
er  Tactlosigkeiten,  so  hat  er  wol  daför  zu  büßen;  aber  nicht  leicht  wird  jemand 
sie  ihm  sagen,  damit  er  sie  vermeide.  I'ber  manches  möchte  er  gerne  Auf- 
schlnss  haben;  aber  die  Theorien,  die  ihm  im  Seminar  eingeimpft  wnrden.  nnd 
seine  Bücher  lassen  ihn  im  Stich:  in  manchen  Stücken  hält  er  sein  Handeln 
fdr  vollkommen  richtig  und  erst  später  erfährt  er  durch  Schaden  das  Gegen- 
theil.  Einige  von  den  Schwierigkeiten  nun,  weldie  an  dieXdirzahl  der  jungen 
Volksschnllehrer  berantreten  und  auch  mir  in  meiner  Praxis  au^^toSen  sind, 
wiU  ich  in  diesen  Blättern  besprechen,  Ton  spedeller  Methodik  mich  aber  voll- 
ständig fernhalten. 

VergegenwJlrtigen  wir  uns  zunächst  die  Stellung  des  jungen  Lehrers  in 
der  Schule,  seine  Berufsthätigkeit  also,  und  darnach  seine  Stellung  außerhalb 
der  Schule. 

Da  der  junge  Lehrer  gewöhnlicli  als  Unter-  (Neben-,  Hülfs-j  lehrer  ange- 
stellt wird  und  einen  filteren  Collegen,  den  Hanptlehrer  (Oberlehrer,  Schnl- 
vorsteher,  Reetor),  Aber  sich  hat,  so  sei  es  erlaubt,  auch  schon  an  dieser  Stelle 

von  demselben  zu  sprechen.  Glücklich  kann  sich  deijenige  schätzen,  der  einen 
Hanptlehrer  trifft,  der  nicht  nur  in  seinem  Berufe  tüchtig  ist,  sondern  auch  m 
naclisiehtiger  und  freundlicher  Weise  mit  dem  Nebenlehrer  zu  verkehren  ver- 
steht, ihm  in  zweifelhaften  Fällen  berathend  zur  Seite  tritt,  ihm  na*  hslchti;;" 
die  Fehler  zeigt  und  ihn  auf  die  rechten  Bahnen  weist  und  dadurch  das  Feuer 
der  Begeisterung  wieder  in  ihm  entfacht,  wenn  es  zn  verlöschen  droht;  kurz, 


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—   727  — 


wer  einen  solchen  Vorgeseteten  gefiuid^  hat,  der  ist  wol  berathen,  und  Idcht 
wird  er  auf  seiner  Bahn  fortschreiten.  Wenn  nur  ein  gnter  Kern  in  ihm  steckt, 
80  wird  er  sich  zu  einem  tüclitif^en  Lehrer  lieranbilden.  —  Es  ist  aber  auch 
der  enty'ej^ent^esetzte  Fall  denkbar,  dass  nilmlich  der  Haupt i<'lirer  trej^en  die 
.Schule  und  das  Thun  des  Nebenlehrers  gleichgültig  ist,  da  die  Laudwii  tschat't, 
deren  Ertrag  einen  anaehnUohen  TheO  seiner  Einnahme  bildet,  nicht  nnr  seine 
EOrperioralt  beansprucht,  sondern  anch  die  Gedanken  tut  ansscfalieftlich  anf 
sich  zieht.  Ebenso  können  Vereine,  das  Stndlnm  eines  Liebling-sfaches  n.  a. 
den  Hau^)tl^^llrpr  von  der  Schule  ablenken.  Der  junsje  Lehrer  ist  alsdann  tjänz- 
lich  auf  seine  eig-ene  Kraft  ani?ewiesen  und  luuss  sehen,  wie  er  sich  dai'cli  Irr- 
thümer  zur  Walirheit  und  zu  gedeihlichem  Wirken  empor  arbeitet. 

Voller  Begeisterung  tritt  der  Candidat  das  Amt  an,  welches  verlangt,  die 
erwcnrbenen  Kenntnisse  an  verwerten;  anf  die  Theorie  folgt  die  Praxis,  Aber 
ach!  wie  mandie  Erwartung,  anf  deren  ErfiUlung  niaa  mit  Sicherheit  rechnete, 
wird  zu  Schanden.  Man  hätte  schwören  mögen,  dass  man  mit  den  Kindern 
das  Ziel,  das  man  sich  gesteckt,  erreichen  würde,  und  muss  sich  am  Ende  doch 
zu  der  Einsicht  >)e(iuemen,  dass  man  sich  trar  ^ewalti^  fretiluscht  hat.  Das  ist 
ein  Fall  ganz  dazu  angethan,  die  hell  auflodernde  Begeisternng  zu  dämpfen, 
und  sohshe  FUle  werden  viele  vorkommen.  Da  gilt  es  dann,  die  ganze  Kraft 
zusammenxunehmen,  damit  die  Lust  zum  BemüB  nicht  gleich  im  Anfange 
verloren  gelie;  denn  dann  hätte  man  den  Grundstein  zur  Gleidigftltigkeit  und 
schließlichen  Unbranchbarkeit  gelegt.  Mit  rahigem  Blute  muss  man  den  ge- 
machten Fehler  erkennen,  gerade  liierbei  sich  aber  vor  einem  neuen,  schlimmeren 
Fehler  hüten,  nilmlich  in  selbsti^^etUlliger  und  be([nemer  Weise  die  Schuld  des 
Misslingens  auf  die  Beschränktheit  der  Kinder  zu  schieben,  während  sie  docli 
in  dßr  Regel  auf  Seltm  des  jungen  Lehrers  zu  suchen  ist;  sei  es,  dass  er  zu 
sehnen  vorgeschritten  ist,  sd  es,  dass  er  nicht  anschaulich  genug  verfshren 
oder  einen  anderen  methodischen  Fehler  beg'angen  hat.  ,,Mensch,  ärgere  dich 
nicht!''  mag  er  pretrost  über  seiue  Thür  sdireiben  und  sich  dann  den  Spruch 
Jean  Pauls  zum  (Mundsatz  erwählen: 

„Verzage  nur  nicht,  wenn  du  einmal  fehlest,  und  deine  ganze 
Reue  sei  eine  schönere  Thatl^ 

Zu  den  Missgrüfon,  welche  von  dem  jungen  Lehrer  Ideht  begangen  werden, 
gehört  der,  dass  er  zu  grofles  Gewicht  auf  das  schnelle  Lernen  legt  Da  ihm 
das  Ziel,  das  er  zu  erreichen  hat,  bekannt  ist,  so  will  er  diesem  auch  gerecht 
werden.  In  der  Furcht  nun.  dnss  er  «las  Voi^eschriebene  niciit  erreiclie,  fängt 
er  an  zu  eilen,  und  zwar  auf  Kosten  der  (Tründliclikeit.  Das  hat  leider  nicht 
nur  das  Böse  im  Gefolge,  dass  er  nachher  um  soviel  langsamer  fortächreiteu 
muss,  sondern  namentUeh,  dass  die  Kinder  systematisch  zur  Oberflftchliehkeit 
eaogea.  werdm,  zu  einem  Fehler,  an  dem  sie  ihr  ganzes  Leben  zu  leiden  haben. 
Damm:  Eile  mit  Weile.  Zum  gründlichen  Lernen  gehört  besonders  auch  das 
Wiederholen.  Für  den  Lehrer  aber,  der  den  Unterricht  mechanisch,  ohne  gründ- 
liche Anschaulichkeit  betreibt,  wird  das  Wiederholen  langweilig  sein,  weil  er 
alles  nur  schabloueumäßig  wiederholen  kann;  er  vermeidet  darum  ^ern  die 
Wiederholnng.  Ist  aber  der  Unterricht  anschaulich  betrieben  und  sind  alle 
Geisteskrttfte  der  Kinder  ausgebildet  worden,  so  wird  die  Wiederholung  ihren 
langweiligen  Charakter  für  Lehrer  und  Schiller  verlieren  und  zu  freudiger 
Thätigkeit  werden. 


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—   728  — 


Ztun  Unterrichten,  und  besonders  znm  Unterrichten  der  A-B-C-Schfitzen, 
die  meistens  —  olj  mit  Kecht  oder  I'nn  «  ht  —  dem  jungen  Lehrer  zugrew lesen 
Verden,  gehört  vor  allen  Dineren  (inliiM.  An  (ielegenheit,  sich  in  di^-s^r  für 
den  Lrlirer  m  nneiithelii  lii  lit  ii  Tiiyend  zu  iiln-n.  fehlt  es  nicht.  Selbst  dus  nach 
unseren  Begritien  Kiufaih.stt'  vt  isteln  ii  die  Kleinen  nicht.  Für  einen  Erwacli- 
senen  ist  es  recht  schwer,  sich  aut  die  Stute  der  Kinder  zu  stellen,  in  iluei' 
Weise  zu  denken.  UnwÜlkttrlich  schätzt  man  ihre  geistigen  Fähigkeiten  n 
hoch  nnd  mnthet  ihnen  zo,  mit  uns,  in  unserer  Weise  zu  denken  nnd  —  wird 
nicht  verstanden.  Dieses  Denken  lUsst  sich  mit  dem  Ti .  i  ju  nsteis-en  vergleichen, 
wobei  man  sich,  falls  man  kleine  Kinder  an  der  Hand  liat,  den  SoliritttMi  der- 
selben anbt'(iuenien  miifis.  Wfthrend  wir  über  jt-de  Sfiiff  einmal  zutreten,  ist 
dasKiud  genüthigt,  zweimal  zuzutreten.  Geduldig  mubt;  iitan  zum  zweiten  nnd 
dritte  Male  dasselbe  Pensam  darchndimen  und  sidi  dem  geistigen  Standpunkte 
'  der  Kleinen  mehr  zu  nähern  suchen.  Wird  man  hitzig  dabei,  so  ist  alles  Ter^ 
dorben,  weil  man  dann  selber  nicht  ruhig,  nicht  stnfenmäAig  mehr  denkt,  die 
Kinder  also  noch  w.  iii^itT  zu  folc-en  fähig-  sind. 

Der  .junge  Lehrer  verfällt  fcrnei-  liilntig:  den»  Irrtiinme,  dass  er  reforniiren 
zu  mü.ssen  glaubt.  Alte,  bewährte  M«  tlicdt-n  gefallen  ihm  nicht,  und  er  ver- 
meint auf  selUstgeschafteuen  AN'egeu  schneller  und  sicherer  zum  Ziele  zu  ge- 
langen. So  habe  ich  von  einem  bewährten  Lehrer  gehört,  dass  er  sich  anfangs 
nicht  mit  einem  Bechenbuche  für  Unter-  und  Mitteldassen  befreunden  konnte 
und  skh  selber  einen  Plan  für  den  Ke<  lu  nunterriclit  entwarf.  Anfangs  gelang 
ihm  auch  allt-N  rt-cht  irnt;  aber  naehher  konnte  er  sich  dmch  seinen  eig-nnen 
Plan  nicht  mehr  liindurchlinden.  da  .sich  ihm  allenthalben  bei  den  Kindi-rn  un- 
gealmte  Lücken  zeigten.  Au  die  Stelle  des  ersten  Eifers  trat  nun  die  Besouuen- 
heiti  welche  ih  u  auf  gebahnte  Wege  leitete 

Hiermit  will  ich  aber  nicht  den  Standpunkt  vertreten,  dass  der  Junge 
Lehrer  sich  sclavisch  an  das  Althergebrachte  binden  solle:  aber  er  m<%e  nicht 
vorechnell  das  Gebräuchliche  unistoßen,  da  es  in  der  Kegel  seine  gute  Berech- 
tignnir  hat.  Erst  soll  man  i»rnfen  und  dann  das  Beste  erwiihbMi.  Zum  sach- 
lichen l'riifcn  ist  aber  dci-  Jung^c  Lt'hrt*r.  der  häutig'  nueh  v^n  \'orurth»-i!^*n 
beherrscht  wird,  nicht  gleich  fähig;  dazu  kommt  noch,  dass  vieles,  was  iiiin 
mimgelhaft  erscheint,  nur  durdi  seine  mangelhafte  Behandlung  fehlerhaft  wird. 

In  vielen  unserer  mehrdassigen  Schulen  bat  der  junge  Lehrer  einige 
Stunden  in  den  oberen  Classen  zu  unterrichten.  Er  thut  es  gern,  ol^leich  es 
ihm  in  der  ersten  Zeit  häufig-,  was  die  Disciplin  betrifft,  mancherlei  Schwierig- 
keiten bereitet.  Die  trrr.Heren  Kinder,  besonders  die  Mäddien,  suchen  in 
schlauer  \\ Cise  die  Schwächen  des  jungen  Lehrers  zu  erforschen,  Welche  ihnen 
Gelegenheit  zu  allerlei  Kui'zweil  bieten  können;  sei  es,  dass  sie  über  dumme 
Antworten  hiut  auf  Uchen,  sei  es,  dass  sie  oft  hinauszugehen  verlangen  u.  s.  w. 
Von  Anfiing  an  muss  da  der  junge  Lehrer  sehr  conseqnent  auftreten  nnd  keine 
Unordnungen  aufkommen  lassen;  denn  sind  sie  unter  seinem  Kegime  einmal 
eingerissen,  so  wird  es  ihm  schwer  fallen,  sie  zu  dämiifen.  Hei  den  kleinen 
Schülern  der  rnterclasse  kann  man  ohne  Scha<len  den  Krn>t  »le-^  I  iiterrichts 
durch  einen  kleinen  Scherz  uuterbrecheu;  das  gibt  den  Kleinen  fristheu  Muth, 
wenn  sie  erschhiffen,  nnd  erweckt  in  ihnen  Lust  zur  Schule.  Aber  alles  mit 
Italien,  wie  das  Sprichwort  sagt. 

So  wie  die  jnngen  Lehrer  oft  durch  methodische  Miasgrüfe  der  Schule 


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—   729  — 


beiladen,  so  schaden  die  iiieisteii  sich  selbst  und  aiich  dt-r  Schule  durch  zu  vieles 
und  zu  lautes  Sprechen,  und  es  dauert  oft  lauge,  bis  sie  sich  das-selbe  abgewöhnen. 
Selber  wird  man  nicht  leicht  erkennen,  dass  das  laute  und  viele  Spredien  zum 
Schaden  ist,  bis  man  andere  Lehrer  in  WirkBamkeit  sieht  und  sich  über  die 
lautlose  Stille  der  Classe  und  über  das  laute  Spi-echen  der  Kinder  wundert. 
Möge  das  Geschick  aber  jeden  Itt  wahren.  dass  er  nicht  erst  durch  Schaden  an 
seiner  (itsundheit  diesen  Fehler  erkenne! 

^'or  allen  ]>iii2'en  niuss  sieh  (h'r  juni»e  Lt-hier  davor  hiittii.  jeder  Ge- 
legenheit luit  dem  Stocke  in  der  Hand  als  Kächer  autzutreten;  nur  zu  leicht 
wird  er  dann  zun  Schultjrannen,  an  den  die  Kinder  nnr  mit  Zittern  denken. 
Leicht  kommt  der  Junge  Lehrer  daza,  wenn  er,  wie  schon  oben  dargethan,  die 
rrsache  eines  Fehlers  dnrchans  bei  den  Kindern  finden  will,  und  wenn  es  ihm 
an  Gedold  fehlt 


Foljjren  wir  jetzt  dem  juimeii  Lehrer  aus  der  Schulstube  in  sein  Ziiuiiier, 
tscin  zweites  Aibeitsfeld.  Ein  solches  niuss  sein  Zimmer  sein,  nicht  der  Ort, 
wo  er  sich  dem  Müßiggange  hin^^eben  darf;  denn  er  ist  kein  fertiger  Lehrer. 
Kann  tiberliaupt  jemand  sich  sagen,  dass  er  fertig  sei?  Hier  im  Zimmer  gOt  es 
weiter  zn  arbeiten  an  dem  Ban,  zn  dem  im  Seminar  das  Fundament  gelegt  ist. 
Zwar  wirken  bei  der  Fortbildung  noch  andere  Faktoren  mit^  z.  B.  die  Con- 
ferenzen,  auf  die  ich  weiter  unten  noch  zn  sprechen  kommen  werde:  doch  ist 
zunächst  dem  Privatstudiuni  ein  irroßcs  Feld  zu^-ewiesen.  Natürlich  iimss  für 
den  jungen  Lelnvi'  >ein  Hcruf  der  iMittelpunkt  der  Fortbildunir  sein,  doch  suche 
er  sich  eine  möglichst  allseitige  Bildung  zu  eigen  zu  machen.  Zunächst  will 
ich  hier  nnr  Ton  der  wissenschafUicben  Fortbildung  sprechen.  Dass  diese  nfithig 
ist,  fühlt  der  junge  Lehrer  meistens  selbst,  und  wenn  die  eigene  Vernunft  es 
nicht  schon  sagte,  so  würde  doch  der  Gedanke  an  die  bevorstehende  zweite 
Prfifnnff  ein  eindringlicher  Mahner  sein. 

Weh^lies  Fach  soll  er  ansrreifen?  Wenn  das  vorhin  Oesaste  wahr  i!«t.  (la>s 
der  juiia»'  Lehrer  weiter  l>aueii  muss.  so  steht  fest,  dass  er,  um  den  Hau  zu 
\  nllenden,  nicht  beliebig  das  eine  l  etreiben  und  das  an<lere  iranz  vernachlässi-^en 
daif;  es  darf  um  so  weniger  geschehen,  als  dei-  Lehrer  in  der  Schule  in  den 
▼erschiedensten  Fftcheni  zu  nntenichten  hat 

Um  nun  ehie  gründliche  Bildung  zu  erreichen,  empfiehlt  sich  nach  meiner 
Erfohning  neben  dem  rein  individuellen  Studium  das  gemeinschaftliche  Arbeiten 
einiirer  junger,  nahe  zusammen  wohnender  CoUegen.  In  Städten  wird  das  Zu- 
standekommen einer  solchen  Vereinigung  keine  Sehwieriffkeiten  bereiten,  weniirer 
leicht  ist  es  auf  dem  Lande  zu  erreichen.  In  einer  solchen  Furtbildun^^si^oelt- 
schaft.  die  vielleicht  wöchentlich  eine  Sitzung  hält,  werden  Themata  aus  den 
verschiedenen  Gebieten  des  Wissens  behandelt,  worauf  sich  Jeder  vorbereitet. 
Einer  tritt  in  freiem  Vortrage  als  Beferent  auf  und  jeder  ftnfiert  bei  der  Be- 
sprechung seine  Ansicht  Ein  solches  Arbeiten  hat  nicht  blos  den  Vorzug  der 
Gründlic  hkeit,  sondern  auch  den,  dass  es  zum  Privntstudium  stark  anregt. 

Wenn  man  auch  der  Forderung-,  auf  allen  Gebieten  zu  Hause  zu  sein, 
möglichst  gerecht  zu  werden  strebt,  wii  'l  <1'm  h  rlle  Xeignne:  des  einzelnen  dies 
oder  jenes  Fach  in  den  Vordergrund  difm^eu.  Krlanirt  diese  Neii^nn^  nur  nicht 
die  ausschließliche  Herrschaft,  so  kamt  man  ihr  ohne  Schaden  eine  Zeitlang 
folgen.  Es  erscheint  mir  sogar  sehr  n&tzlich,  dass  ein  Fach  mit  besonderem 


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Fleifie  bearbeitet,  wirklich  stodirt  wird.  Nor  niiiss  man  beim  Studium  nicbt 
bloB  an  den  augenblicklichen  Genuts  denken,  wie  ihn  eine  «pedelle  Liebhaberei 

bereiten  kann,  sondern  auch  daran,  ob  es  für  die  Znknnft  in  B.'zug  auf  den 
Bemf  nutzbriiij^end  sei.  Ans  verschiedenen  Gründen,  die  ich  weiter  nnten  dar* 
legen  werde,  möchte  ich  fremde  Sprachen  für  das  Stndium  des  junsren  \'(»lks- 
schullelirers  empfehlen.  Jetzt  besteht  an  vielen  Seniinarien  die  segensieiche 
Einrichtung,  dass  die  Zöglinge  in  einer  fremden  Sprache  unterrichtet  werden. 
Biese  haben  es  spftter  Mcht,  sie  kSnnen  auf  den  voriiandenen6mndlafi;en  weiter 
arbeiten.  Sehr  vid  schwieriger  stellt  sich  die  Sache  für  den,  dem  diese  Grund- 
lagen fehlen.  Indessen  frisch  gewagt  ist  halb  gewonnen. 

Viele  soniinaristisch  gebildete  T.ehrer  haben  an  Mittelschulen,  höheren  Bür- 
gerschulen »  tr.  zu  unterrichten.  Es  müs.ste  beschämend  fiir  sie  sein,  wenn  sie 
sich  hinsichtlich  ihrer  sprachlichen  Bildung  nicht  mit  den  Schülern  der  betref» 
fenden  Anstalten  messen  kannten.  Sodann  ezhilt  man  durdi  die  fremde  Sprache 
ein  tieferes  Verständnis  fttr  die  Uuttersprache  und  verschafllt  sidi  einen  noien 
Zugang  zu  kostbaren  literarischen  Schfttzen.  ..Wer  fremde  Sprachen  nicht 
kmnt,  weiß  nichts  von  seiner  eignen,"  sagt  Goethe. 

Bei  der  Wahl  der  fremden  S|trache  koniinen  bei  nns  besonders  Enirlisch 
und  Französisch  in  Betracht.  Da  in  den  Seminarien  —  falls  überhaupt  fremd- 
sprachlicher Unterricht  ertlieilt  wird  —  wol  meistens  das  Französische  Berück- 
sichtigung findet,  so  wird  der  abgehende  Seminarist  zunächst  das  Studium  des 
Französischen  fortsetzen.  Ans  praktischen  Gründen  wäre  fftr  die  KflstenlSader 
das  Englische  wol  mehr  zn  empfehlen.  Wer  fibrigens  in  den  Geist  einer  frem* 
.  den  Spraclie  eingedrungen  ist,  der  wird  von  seinem  Arbeitstriebe,  der  gei-ade 
durch  das  Studium  eine  heilsame  StJlrkung  erfahren  hat,  bald  zum  Studiniu  einer 
zweiten  fremden  Sprache  getrieben  werden.   Kückert  sagt  sehr  bezeichnend: 

„Mit  jeder  Sprache  mehr,  die  du  erlerast,  befreist 
Du  einen  bis  dah^  in  dir  gebundene  Qeiit.** 

Unter  den  Mitteln  für  die  praktische  Fortbildung  stelle  ich  die  Theilnahme 

an  Conferen/en  oben  an.  Weun  der  Lehrer  sich  nicht  an  Collegen  anschließen, 
sondern  allein  für  sich  stehen  will,  so  beraubt  er  sich  dadurch  einer  (Quelle  der 
so  nöthigeu  Anregung,  olm«-  welche  er  gar  leicht  d<'m  Sclilt-ndrian  vertallt.  Mag 
auch  der  junge  Lehrer  mit  dem  Prädikat  „sehr  gut"  aus  dem  Seminar  entlassen 
sein,  so  wird  er  doch  sehr  bald  anerkennen  müssen,  dass  die  Erfüimng  und 
praktische  TSd^kdt  des  älteren  Collegen  ebenso  hoch  zn  Teranschlagen  ist, 
als  sein  Vorrath  an  Kenntnissen. 

T>er  junge  Lehrer  sieht  auf  den  Conferenzen,  wie  Jlltere  Collegen  den  Lehr- 
stoft'  nu  thodisch  behandeln,  wie  sie  die  Kinder  anzuregen  vei-stcheu.  wie  sie 
ernst  und  doch  liebevoll  mit  ihnen  umgehen.  Da  sieht  er  dann  den  Uutei-schied 
und  verschiedenartigen  Erfolg  dieser  methodischen  und  seiner  manchmal  on- 
methodischen  Behandlung,  und  was  er  nicht  sieht,  das  hSrt  er  in  der  darauf 
felg^den  Debatte.  Er  hört  auch  an  solchen  Lectionen  Fehler  aufdecken,  die 
ihm  junstcrgültig  erschienen.  Da  lernt  er  denn  beobachten,  sich  selbst  beobach- 
ten.  er  lernt,  woran  es  ihm  fehlt  Da  fühlt  er,  dass  Schillers  Wort  auch  in 
dieser  Beziehung  wahr  ist: 

„Willst  du  dich  selber  erkeuuen, 
So  sieh,  wie  die  andern  es  treiben.*' 

In  der  Debatte  halte  er  nicht  aus  Mscher  Bescheidenheit  mit  sefaier  Mei- 


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nong  zurück,  sonderu  sage  sie  frei  heraus  und  begründe  sie  nach  seinem  besten 
Können,  Wim  alier  auch  die  ÄmtteUnngen  der  Collegen  ohne  Empfindlkhlcelt 
oder  Gereiztheit  an,  widerlege  sie,  wenn  er  kann,  oder  ffige  efdi  der  beeaem 

EinBicht.  Anf  diese  Weise  sammelt  sich  der  angehende  Lehrer  einen  SchataE 
von  Ei-tahnmj^en,  der  ihm  füi*  seine  praktiache  Tbtttigkeit  mindeatena  ebenao 
viel  nützt  als  die  Theorie. 

Auch  lasse  er  es  nie  an  einer  gewissenhaften  \  orbereitung  auf  den  Unter- 
richt fehlen,  bereite  sich  immer  so  vor,  als  wenn  er  vor  einem  Zuhörer  eine 
Ftobeleetitm  zn  geben  hfttte.  Daaa  er  aicb  jede  Lection  ToUatftndig  achriftlich 
aoaarbeite,  yerlangen  wir  dnrchaua  nicht,  halten  es  sogar  für  nachtheüig,  well 
das  üin  erstlich  ganz  von  seiner  wissenschaftlichen  Fortbildung  abzieht  und  ihn 
zweitens  nnr  y.n  Mcht  y.mn  Pedanten  macht,  weil  von  dem  einmal  Ausgearbei- 
teten unter  keinen  riii>t;uiilfn  abgewielien  werden  soll.  Aber  von  Zeit  zu  Zeit 
thue  er  es,  um  sich  zu  überzeugen,  wie  weit  er  im  Stande  ist,  das  vorher  Aus- 
gedachte zn  bewfiltigen.  Zn  jeder  Lection  mnaa  er  aich  aber  unbedingt  die 
Diapoeition  machen  and  das  Ziel  derselben  bestimmt  ins  Ange  fosaen. 

Jemehr  der  junge  T.ehrer  sich  außerdem  in  der  Schule  selbst  beobachtet 
und  sich  narli  den  Schulstunden  ohne  Ein^iildnngr  und  Vornrtheile  I'echenschaft 
über  sein  ^'e|•fab!•t•n  aliletrt,  desto  prrößer  wird  der  Scliatz  seiner  lilinsicht  und 
desto  segensi  ei*  her  sein  Wirken  werden. 

Es  bleibt  mir  nun  noch  übrig,  die  Stellung  des  jungen  Lehrei-s  in  der  Ge- 
aellachafb  zn  betrachten.  Der  nftdiste  sich  ihm  darbietende  gesellschaftliche 
Kreis  iat  der  Hanptlehrer  mit  aeiner  Familie,  da  der  Jnnge  Lehrer  anf  dem 
Lande  wenigstau  mit  dem  Hanptlehrer,  in  dem  er  nicht  blos  seinen  nächsten 
Voigesetzten,  sondern  aneh  seinen  Hauswirt  zu  betrachten  hat,  unter  einem 
Dache  wohnt.*')  Das  (Irsetz  kann  unmöglich  das  \'erhalten  in  allen  einzelnen 
Fällen  regeln;  es  kann  nur  die  Kechte  imd  riliciiten  jeden  Theiles  im  Allge- 
meinen beatimmen.  Doch  wenn  nnr  der  Hanptlehrer  sich  stets  bemüht,  seinem 
Nebenlehrer  nicht  nnr  als  Votgesetzter  zo  erscheinen,  sondern  ala  berathender^ 
väterlicher  Freund;  wenn  nur  der  Nebenldirer  in  dem  Hanptlehrer  den  Frennd 
und  Rathgeber  sucht  und  ihm  mit  Achtung  und  Vertrauen  naht;  wenn  er  nur 
in  anständiger  und  freundlieher  Weise  den  Familienmitgliedern  des  HanptleU- 
rers  begegnet:  dann  wird  ein  gutes  Veriiiiltnis  die  natürli<he  FnlLn  s.  iii. 

In  der  Regel  heri-scht  auch  wol  ein  solch  gutes  \\'rhiiltuis.  Doch  wie 
wUnschenswert  und  nothwendig  es  fOr  ein  gedeihliches  ZnaammenwiriLon  anch 
iat,  80  will  es  leider  nicht  allerorten  zn  Stande  kommen,  woran  vielleidit  bald 

*)  Das  oldeuburgii)che  Schulgesetz  bestnuiut:  „Die  Nebeulehrer  und  liilfslehrer 
haben  in  dem  Hanpuehrer  ihren  nichsten  Vorgeseteten  au  erkennen.  Der  Hanpt- 
lehrer ist  verpflichtet,  seiiipm  Neben-  oder  TTifslehrcr  i-'m<'  mit  "Retr  niel  <1i  n  notli- 
wendigen  Möbeln  versehene  Wohnung  im  Schulhause  einzuräumen.  Der  üauptlehrer 
iat  Terpflicbtet,  den  im  Sehnlhause  wohnenden  Lehrern  für  eine  j&hriich  bestimmte  Svmme 
,.^0')  Oller  340  M.)  K(»sf.  Wäsche,  Feuerung.  Lidit  ninl  Aufwartung  zn  leisten.  Die 
UtUslehrer  sind  verpflichtet,  ihre  Kost  bei  dem  liauptlehrer  zu  nehmen,  es  sei  denn, 
dasa  daa  OberschnlcoUeginm  eine  Ananahme  gestattet.  Bhie  eigene  Wnhnstnbe  kann 
der  Xeben-  oder  Hilfsk-hrer  nnr  da  verlangen,  wo  solche  in  dem  Schulhause  für  iliu 
eingeiiehtet  und  bestimmt  ist.  Jedenfalls  aber  iat  ihm  außer  den  Schulstunden  ein 
passendes  nnd  anständiges  Local  anzuweisen,  worin  er  seine  Privatarbeiten  machen 
und  auf  seine  Lectioneu  .sich  unge.stört  vorhereiten  kann.  Dies  Local  ist  im  Winter 
zu  heizen  nnd  abends  Licht  zu  geben,  bis  10  Uhr  wenigstens.  Die  Kost  genießt  der 
Neben-  oder  Hilfslehrer  am  Faniilientische." 


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der  eine,  bald  der  andere  Theil  die  Schuld  triigl.  oder  auch  \n-h\v:  diMin  ..es 
kann  der  Frün)iu:>te  nicht  in  Frieden  bleiben,  wenn  es  dem  bösen  Nachbar  nicht 
gefiUIt.^'  Zwar  heifit  es  so,  doch  suche  der  jnnge  Lehrer,  so  viel  an  ihm  liegt, 
den  Frieden  zn  wahren  und  bedenke,  dass  er  der  jüngere  ist 

Mit  den  Eltei-n  seiner  Schüler  surhe  d.-r  junge  Lelirer  einen  freundlichen 
Verkehr  zu  unterhalten.  Er  ü-ewinut  dadurch  einen  Einblick  in  die  hllusli-dieu 
Wihältnii^sc,  unt<i-  welchen  die  Schiilei-  autwaclisen:  er  sieht,  wie  weit  das 
Hau«  daä  Streben  der  Schule  unterstütz:  etc.  Die  Leistungen  und  das  Betragen 
der  Schüler  wird  er  dann  manchmal  ganz  anders  benrtheilen,  als  er  es  ohne 
Kenntnis  der  häuslichen  Verhftltnisse  thnn  würde. 

I  St' llnnüT.  die  der  junge  Volkssehullehrer  in  der  Gesellschaft  einnimmt, 
wird  durch  sein  eig:ene8  Auftreten  1iedin>;t.  Achtung"  und  Ausehen  fällt  ihm 
nicht  Von  selbst  y.w.  sondern  will  durch  wiirdii,*-e  Lebensweise  tmd  treue  Beruf«;- 
thätig-keit  erwurlte-n  sein.  Dass  er  nichts  thun  darf,  was  g-eiien  das  sitt;i<  lie 
Bewusstsein  verstößt,  versteht  sich  von  selbst.  Der  \'erkchr  mit  llöher.Htehen- 
den  ist  dem  jungen  Volksschullehrer  zu  empfehlen;  wo  er  kann,  suche  er  ihn 
auf,  doch  ohne  sich  au&udrftngen.  Damit  er  aber  nicht  dem  Volksleben  ent- 
fremdet werde,  muss  er  mit  allen  Oi  tseinwiduiein  verkehren,  auch  mit  denen, 
die  hinsichtlich  ihrer  Bilduntr  untei  ihm  stehen.  Doch  sei  er  vorsichti»-  und 
hüte  sich  vor  zu  vertraulichem  rniiianj^e  mit  letzteivn.  weil  sie  nicht  auf  seine 
Ideen  eingehen  können  und  ihn,  falls  er  fast  ausschlieülich  mit  ihnen  verkelu-te. 
Ton  seiner  Bildungsstufe  herunterziehen  würden.  Aber  er  sei  franndlich  gegen 
jedermann,  damit  die  Leute  ihn  nicht  (fir  hochmflthig  und  dünkelhaft  halten, 
was  seiner  erziehlichen  Wirksamkeit  sehr  schaden  würde.  Ganz  ausgezeichnet 
schildert  Auerbach  den  Verkehr  des  jung-en  \  «ilksschuUehrers  mit  den  Ortsein- 
gesessenen im  ..Lauterbnclter  *.  Seine  Schilderumr  verdient  von  allen  juntren 
Lehrern  jrelesen  und  beherzigt  zu  werden.  El)enso  .sehr  mö(  hte  [eh  allen  Leh- 
rern, und  besonders  allen  jungen,  zur  Leetüre  empfehlen:  Fritz  lieiuhardt.  Er- 
lebnisse und  Erfiihmugen  eines  Schullehrers  von  Heinrich  Schaumberger.  (Wol- 
fenbüttel, Zwissler.) 

Erfüllt  der  jung:e  Lehrer  dann  auch  in  der  Si  hule  seine  Pflicht,  indem  er 
Geist  und  Gemüth  der  ihm  anvertrauten  Juirend  liildet.  soweit  es  in  seinen 
Kräften  steht,  vereinigt  sich  also  mit  der  würdigen  Lebensweise  treue  Berufs- 
thäligkeit:  dauu  wird  er  der  Achtung  nicht  entbehren. 

Besteht  im  Orte  ein  Turnverein,  so  trete  der  junge  Lehrer  als  Mitglied 
ein,  einmal  zur  Forderung  der  Sache,  dann  aber  auch  seiner  selbst  willen  zur 
harmonischen  Ausbildung  seines  Körpei-s  und  zur  Erhaltung  seiner  Gesundheit. 
Aber  er  prüfe  \  oi  her  wol,  ob  der  Verkehr  mit  den  Vereinsmitgliedem  vielleicht 
seiner  Achtunir  seh;iden  könne.  Elienso  betheiljtye  er  sich  au  einem  etwa  be- 
stehenden Ge.s;uii?vereine.  in.sofern  dieser  edle  Zweeke  veitöigt.  Doch  tret^  er 
nicht  zu  vieleu  \  ereiuen  bei,  da  sie  ihm  l'tiichten  auferlegen,  die  mit  den  An- 
forderungen seines  Berufes  sdilecht  harmoniren. 

Bemüht  sich  der  jnnge  Lehrer  in  dieser  Weise,  seinen  Schülern  stets  und 
in  allen  Dingen  ein  musterhaftes  Vorbild  zu  sein,  so  wird  ntao,  wenn  er  d^ 
einst  aus  seinem  .\mte  scheidet,  auch  von  ihm.  wie  Ko(  how  von  seinem  Mit- 
arbeiter nud  Freunde  sagen  können:  „Ei-  war  ein  Lelirer." 


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Zur  Lehrerfortbildung. 

Fon  Andreas  Mayer-Wim. 

..Die  tOchtip'  l'iTÄÖiilirlik«  it  <li  H  I.i'lirtTs  ist  uiul 
blfibt  Ute  znverliUsigHle  Uaraiitiü  für  lUs  Gelingen 
pUagogftehn  Bettrebniigeii."  Q.  Buir. 

X)a8  Ssterreichische  Volkfischnlgesetz  vom  14.  Jfai  1869  hat  sich  im 
Ganzen  als  ein  gelungenes  Werk  bewährt.  Trotz  einer  mehr  als  zehiyfthrig^ 
Praxis  —  in  der  sich  zumeist  Vieles  anders  stellt,  als  es  am  grünen  Tische 

vorauso;eselipn  ^\  iid  —  kömu'ii  selbst  die  Gf'tnier  diesp.s  Gcst  fzcs  keinen  we.sent- 
hVhen  Ftlilgrirt'  in  deiiiselbeii  iiaeliweiseii.  Es  stellte  Foi  dci  uiii^en,  die  /.wav 
uiisen  r  leaeiionilreu  Stiinnunf?  unangeuehm  geworden  sind,  deren  NotUwendig- 
keit  sicli  aber  nicht  liinwegleugnen  lässt. 

Dies  gilt  insbesondere  auch  hinrachtlich  einer  Angelegenheit,  die  wir  im 
Folgenden  näher  ins  Auge  fagseu  wollen:  wir  meinen  die  Fortbildung  der 
Lehrer.  Der  auf  dieselbe  bezügliche  Abschnitt  unseres  Gesetzes  scheint  nns 
von  £z-i"*ßter  IVdt^utnriir:  denn  der  Lehrer  ist  der  ontsrheidende  Factr.i-  alles 
})äda«-o2is(lien  Wirkens,  der  Mittelpunkt  der  gesamten  Scimlerzieliuiig-.  .Man 
dürfte  warhaftig  nicht  von  .Selbstüberhebung  sprechen,  wenn  der  Lehrer  den 
Ausspruch  thäte:  l'^le  c'est  moi.  „Die  Kunst  bläht  oder  verfilUt  dunsh  die 
Kunstler  und  die  Schule  durch  die  Lehrer.  Jede  Schule  ist  —  normale 
Verhaltnisse  vorausgesetzt  —  stets  so,  wie  der  Lehrer  der  Schule;  sie  ist 
seine  geistige  Photograidiie.'*  (Kehr.)  Es  herr^dit  Lebendigkeit,  Freude  und 
Eifer,  wenn  d« m  Lelirer  die  nöthige  Frische  und  Jiegeisternng  nicht  mangelt; 
die  Schule  versinkt  aber  in  Mechanismus,  wenn  der  Lehrer  zum  IlandlaiiL'<  r 
wird  —  d.  h.  wenn  ihm  Geist  und  Leben,  Liebe  und  Eifer  fehlen.  Dies  kann 
leicht  dort  eintreten,  wo  das  Streben  nach  Fortbildung  mangelt 

Die  Fortbildung  ist  fiir  Jedermann,  er  mag  hoch  oder  nieder  gestellt  sein, 
eine  unbedingte  Xothwmdigkeit,  wenn  er  nicht  rückwärts  s<  breiten  will;  ein 
Stehenbleiben  gibt  es  nicht.  Die  Zeit  hält  nicht  inne  in  ihrem  Gang;  wer 
für  seine  l'ersoii  dem  F'ortsehritt  i  iitsairt,  an  dem  schreitet  sie  vorübei"  und 
]«l8St  ihn  hinter  sich  zurück.  Dieses  Sciiicksal  würde  eine  ganze  Generation 
treffen,  wenn  den  Lehrerstand  das  Streben  nach  Fortbildung  verlieBe.  Wer 
auf  den  Oeist  eines  Anderen  belebend  einwirken  will,  dessen  Geist  mnss  selbst 
voll  Lebenskraft  und  Frische  sein,  dem  muss  die  Sache,  welche  er  interessant 
machen  will,  selbst  interessant  sein;  er  darf  kein  verdrossener  Arbeiter  auf 
dem  Felde  der  Bildung  sein,  er  mn.s.s  das,  was  er  thnt,  mit  Lust  und  Liebe, 
mit  jfiier  lUr^ei-teriing  verrichten,  welche  auch  den  Trügen,  den  Schlaffen 
mit  >kh  fortreißt.  F.  W.  Wander  sagt:  „Die  Frische  betrachte  ich  als  die 
erste  Bedingung  einer  erfolgreichen  pädagogischen  Wirksamkeit  Todte  können 
keine  Todten  erwecken;  wer  zur  Auferstehung  blasen  soll,  mnss  selber  frischen 
Odem  haben."    Woher  aber  soll  das  Feuer  der  Begeisterung  kompen,  wenn 


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der  Lehrer  imuierturt  dieselben  Bahnen  geht,  auf  und  ab,  hin  und  her,  ohne 
jemalB  den  Bl^  illier  seinen  engen  Kreis  hinaus  sn  riditen;  wenn  er  meBhanfsch, 
wie  ein  Pendel  sein  „tik  tak**  erschallen  Iftsst,  immer  dasselbe  wiederkäuend; 
wenn  er  dei'selben  Sache  nicht  ininuM'  neue  Seiten  abzngewinneiit  sie  nicht 
immer  wieder  in  ein  neues,  wonioji-licli  helleres  Liclit  zu  stellen  vermag?  Man 
tf)dtHt  den  eigt  ntlielien  Lehrer  und  mit  ihm  jeden  erfolgreichen  Unterricht, 
wenn  man  ihn  dnrcli  Voischriften.  die  Alles  bis  aufs  Geringste  bestimmen, 
einengt,  wenn  man  ihm  die  Methode  raubt  und  seine  individuelle  Ansicht  ganz 
in  den  Hlntergrand  drängt;  man  bringt  dadorch  den  Lehrer  um  seine 
Bemftlk«ade,  um  die  Begeisterong  ond  damit  nm  Alles.  Wir  waren  daher 
von  jeher  gegen  alles  Maschinenmiißigc  in  der  Schule,  gegen  detaiUirte 
Lehrgilng-e.  die  Alles  bis  auf  die  einzelnen  Minuten  festsetzen  wollen.  Der 
Lehrer  braueht  nur  Markstt'inf;  innerhalb  dieser  muss  er  sich  frei  be- 
wegen können.  Jede  Classe  muss  das  Gepräge  das  Lehrers,  aber  nicht  alle 
Classen  mfissen  das  Gepräge  des  Inspectors  tragen;  nnr  der  Freiheit,  die 
ehedem  anf  dem  Gebiete  der  Schule  herrschte,  verdanken  wir  ihre  grollen 
Fortschritte.  Sie  ist  es,  welche  dem  Lelirer  Lust  zur  geistigen  Arbeit  schafft, 
die  ihn  anregt  ,  in  eine  Sache  immer  tiefer  einzudringen.  Dadurch  gt'winnt 
jeder  Gegenstand  —  und  wilre  er  der  einfachste  —  an  Interesse,  und  dfr 
strebsame  Lflner  an  Tüehtitrki  it.  (Gerade  unsere  Zeit  aber  braucht  tüchtige 
Männer,  und  wir  sollen  alle  Mittel  anwenden,  unsere  geistige  Fiische  zu  be- 
wahren. Sie  ist  es,  welche  den  Lehrer  leistungsfähig  erhiUt  und  noch  den 
Greis  zum  Jflnglinge  macht.  Diese  geistige  Jugend  und  Kraft  bewahrt  man 
sich  aber  hauptsächlich  durch  geistige  Arbeit,  durch  Fortbildung.  Leider 
mangelt  vielen  jungen  Lehrern,  welche  ihr  Priifnngszeugnis  in  der  Taseli>^ 
haben,  die  Theilnahme  am  geistigen  Fortschritte.  Wauder  charakterisirt 
dieselben  mit  folgenden  Worten:  „Die  im  Seminar  oder  in  irgend  einer 
Prfifong  „fertig  gemachten''  Lehrer  haben  keine  Zukunft;  sie  kennen  nicht 
d^  Hochgennss  des  Strebens;  sie  haben  sich  mit  dem  SaugrSssel  des  Genusses, 
der  Bequemlichkeit  und  Rnhe  in  ihr  philisterhaftes  Dasein  eingebissen;  sie 
haben  den  ünßeren  ^[echanismus  des  Lebens  umklammert;  jede  Bewegung  ist 
ihnen  liistlir  nnd  störend,  ihr  höchstes  Ideal  ist  das  der  Ziegelstreicher  Oosens. 
der  Fleist  ii[iii>tV  Ki;^yiiTens:  nnd  wenn  sie  den  Blick  einmal  ei-heben,  so  geschieht 
es  nnr,  um  einen  Mannuregen  zu  entdecken  oder  —  aufzufiuigeu.  So  wenig 
aber  jene  gosener  Ziegelbrenner  ins  gelobte  Land  kamen,  ebensowenig  werdm 
unsere  „fertigen"  Schulmeister,  denen  die  Schule  nichts  ist  als  die  milchende 
Kuh,  die  sie  mit  Butter  versorgt,  die  Organe  .  in  i  irehubenen  Volksbildung 
und  eines  gesunden  Lehrk"»rpers  werden,  in  dem  der  heilii^e  G eist  jugendliche 
Frisciie.  Cillei-  Gesinnnn<r  und  thatkräftigen  Strebens  wulmT." 

Obwol  das  österreichische  Schulgesetz  mehrere  i'nnkt«  zur  Fortbildung 
der  Leluer  anführt,  so  steht  es  doch  noch  ziemlich  misslicli  mit  der  DurcU- 
fohrung  der  Sache.  §  43  lautet:  „Die  pädagogische  und  wissenschaftliche 
Fortbildung  der  Lehrer  soll  durch  Schulzeitschriften,  Lehrerbibliotheken, 
periodische  Conferenzen  und  Fortbildungscurse  gefördert  werden.**  Die 
ofliciellen  Conferenzen  halten  aber  für  uns  nicht  den  Wert,  den  eine  freie^'e^- 
sammlung  hat.  Zum  üesuche  der  ersteren  werden  die  Lehrer  gezwungen,  und 
wiihrend  derselben  werden  sie  zuviel  beaufsichtigt  und  regiert;  auch  nimmt 
man  ssuweilen  ihre  Ansichten  sehr  ftbel  anf.  Im  Laufe  der  Zeit  zeigte  aidi  femer, 


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—   735  - 

dass  die  in  den  t'i«ut'ereiizen  aus^^esprocheiien  Ke.sohniouen  der  Lehrer  kaum  je 
berücksiditigt  wuideu.  Solche  Ei'fahruiigen  entmuthigteii  die  Lelu-er,  und  die 
mefiB^  sprechen  nmi  gar  nichts  mdirniid  kommen  nur  zorConferonz,  weil  sie 
müssen.  Dadurch  ist  das  Interesse  an  der  Sache  Terloren  gegangen,  nnd  die 
Conferenzen  tragen  in  ihrer  jetzigen  Form  zur  Hebnng  des  Ldirerstandes  nichts 
bei.  Sollen  sie  ein  fruchtbringendes  Mittel  zur  Fortbildunsr  wprden  —  und  das 
können  sie  —  so  müssen  .sie  aus  dem  oatergeordueteu  VeiMltoisse  heraosti'eten 
und  mehr  Selbständigkeit  erlangen. 

Die  hervorragendsten  nndbestenMittel  unserer Fortbildang  sind:  1.  Lehrer- 
vereine,  2..  Zeitschriften  nnd  Bficher. 

Üher  den  Wert  der  Lehrerrereine  sagt  Diesterweg:  „Wer  es  mit  einer 
Sache  wolmeint.  ihr  dient  nnd  dienen  will,  meint  es  anchwol  mit  den  Personen, 
die  ihr  gleieht'alls  dienen,  d.  h.  mit  seinen  Standesgenossen.  Er  tühlt  sirli  zu 
ihnen  hingezogen,  er  kann  nicht  von  ihnen  lassen,  nicht  (iliiie  sie  leben.  Der 
tiefste  Drang  zur  Mittheilung  seiner  Ansichten  und  Erlahruugeu  wie  zum  Em- 
pfange der  ihrigen,  die  Sehnsncht  nadi  weiterer  Belehrung  und  nadi  Erweitemng 
seines  Horizontes  fiberhanpt  treibt  ihn  zn  seinen  Amtshrfidem.  Die  Lehrer- 
vereine  sind  der  iUißere  An.sdruck,  die  leibliche  Erscheinung  dieses  treibenden 
Geistes,  sind  ein  Beweis  der  Lebendigkeit  jenes  TrieVies,  sind  ein  Organ,  welches 
dieser  sich  schafft,  sind  ein  Mittel  zur  Befriedigung  seines  innersten  Bediirfni.sses, 
sind  organische  Erzeugnisse  eines  lebendig  gewordenen  pädagogischen  Sinnes. 
Hinterher  erkennt  man  sie  auch  als  ein  uothwendiges ,  in  seiner  Heilsamkeit, 
Nachwirknnif  nnd  Tiefe  dnrch  nichts  zn  ersetzendes  Mittel  der  Anregung,  Be- 
lebnngt  ErIHschnng  nnd  Fortbildmig  der  Lehrer.'* 

Was  den  Wert  der  Zeitschriften  anbelangt,  so  gilt  ja  das  Meiste  von  dem 
früher  liesau^ten  ancli  hier.  Die  Facliblätter  enthalten  Mittheiinngen  von  An- 
sichten und  Erfahruniren  der  ( 'ollegeu.  Abhandlungen  über  wichtige  pädiigo»  ische 
Zeitfragen,  Anzeigen  neuer  Lehnnittel,  Hilfsbücher  etc.  Der  Lelirer  soll  aber 
nicht  nnr  Fachblätter,  sondern  anch  politische  Tagesbfittter  lesen.  Er  istStaats- 
bfirger  nnd  hat  als  solcher  das  Becht,  aber  anch  die  Pflicht,  sich  mit  den 
politischen  Tagesfragen  zu  bescliäftigen.  Nichts  setzt  den  Lehrer  so  herab  (zur 
bekannten  Schulmeisterfigur)  als  der  Abschluss  vom  geistigen  nnd  politischen 
Leben.  Die  Tagesblätter  enthalten  die  Gesrhichte  der  Geirenwarr.  und  wer 
für  dieselbe  kein  Interesse  zeigt,  dei-  kann  uiumiii'lieh  ein  Interesse  haben  an 
der  Geschichte  der  alten  Griechen  und  Körner.  \\  eiter  sind  aber  auch  die  Zeit- 
schriften Träger  des  Fortschrittes;  sie  bringen  die  neuesten  Entdeckungen  nnd 
Eitindnngen  anf  allen  Gebieten,  Staatseinrichtnngen  etc.  etc.  Der  Lehrer  kann 
ans  denselben  nngmein  viel  lernen  und  praktisch  verwenden. 

Hierzu  kommen  endlieh  die  I?iicher  als  besonders  wichtige  Fortbildungs- 
mittel. Dass  hier  nur  wertvolle  Bücher  gemeint  sind  und  nicht  jene  geistlosen 
Producle,  mit  denen  unser  heuliger  Büchermarkt  überschwemmt  ist,  die  aber 
viel  eher  geeignet  sind,  den  Geist  zn  tSdten  als  zu  üben,  ist  klar.  Leider 
können  aber  wertvolle  Bücher,  weil  sie  zngleidi  anch  thener  sind,  von  dem 
Einzelnen  meist  nicht  angeschafft  werden,  ein  Umstand,  der  ihre  Benutzung  sehr 
beschi-ilnken  würde,  wenn  —  es  keine  Bibliotheken  gäbe.  Diese  sind  die  Magazine 
der  geistigen  Nahrung;  in  ihnen  liegen  die  kostbarsten  Seliätze  aufgespeichert. 

Halten  wir  nun  rnischau.  wie  die  Lehier  diese  (Quelle  der  Fortbildung 
benützen.  Ich  kann  hier  nur  von  dem  Orte  meines  Wii'kens  erzählen,  von  der 


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Reichshauptt-tadt  Wien.  Hier  hat  jeder  der  zehn  Bezirke  eine  eigene  Lelnvr- 
bibliothek  (sog.  Bezirkslehrerbibliotkek),  welche  eine  große  Anzahl  bedeutender 
und  wertvoller  Bücher  enth&lt  Diese  werden  aber,  trotz  der  oftmaligen  Auf- 
fordemng,  an  reich  beladenen  Tiscli  heranzukommen  nndkrtlfti;  raungreiliNi, 
tast  nicht  benutzt.  Ferner  hat  jeder  einzelne  Lehrerverein  seine  eigene  Biblio- 
tln'k.  welclie  aWr  elicnso  wriiiir  ;\nsfr»'li<>iitet  wird  als  die  früher  genannte.  Xnn 
Ira^ft'ii  wii-,  woran  lieat  ila  dii'  Schuldy  Lie^t  nie  an  den  Lt^hrern  oder  an  d»'r 
sclil(chti-n  Kinrichiuug  der  Bibliotheken V  Wii*  müssen  sagen,  dass  die  grüßte 
AnzaM  der  Wiener  Lehrer  keinesfalls  indolent  sei,  daas  ihnen  das  Streben  nach 
Fortbildung,  trotz  ihrer  schlechten  materiellen  Stellung,  nicht  mangelt,  dass 
aber  die  Zeit  zur  Bücheranshehnng  zu  besi  Iii  inkt  sei.  Da  hört  man  fortwährend 
die  Klage,  dio  IJibliothek  stehe  wöchentlich  nhnchin  nur  einmal  zur  Verfücrnng 
und  selbst  an  diesem  Tai?e  komme  niemand,  (iei-ade  darin  linden  wir  einen 
Hauptgrund  der  sclüechten  Ausnützung.  Denken  wir  uns,  der  Lelu-er  eines 
Bezirkes  wünsche  etwa  am  Montag  ein  bestimmtes  Buch;  dieses  ist  ao  diesem 
Tage  nicht  zu  haben,  weü  die  Bibliothek  nur  Samstags  von  7 — 8  Uhr  abends 
zur  Verfügung  steht,  oder  weil  sieh  das  Buch  in  der  LehrerbiMii»thek  eines 
anderen  Bezirkt  s  l  ietindet.  Ein  andermal  ist  das  Buch  zur  bestimmten  ..Bibliotheks- 
stnnde'*  nicht  zuhalten,  weil  jener  College,  welcher  die  Bücher  ausznsreben  hätte, 
durch  Krankheit  oder  Familieuverhiiltnisse  verhindert  Kurz,  der  Lehrer 
kann  ein  Werk  lüelic  iiaben,  waim  er  dasselbe  wünsclit  oder  braucht.  Solche 
Hindenisse  sbid  es,  wel(Ae  die  Benützung  der  Bibliotheken  so  erkleddich 
sehidigem.  Um  diese  Übelstftnde  zu  bes^tigen  nnd  die  Bibliotheken  znm  wirk- 
lichen Fortbildnngsmittel  zn  gestalten,  wünschten  wir  in  jeder  größeren  Stadt 
eine  reichlialtige  und  gediegene  Lehreiliii/liothek,  welche  von  einem  eigens  be- 
stellten Bibliotliekar  verwaltet  nnd  zu  jeder  Zeit  zugünglich  ist.  Die  Bücher 
sollen  in  einem  möglichst  großen  und  lichten  Saale  aul'gestellt  sein,  luid  dieser  Saal 
BoU  zugleich  als  Lesehalle  dienen.  Hier  müssten nicht  nnr  die  bedeutendsten 
Fachblfttter  des  In-  und  Auslandes  aufliegen,  sondern  auch  ein  gediegenes  po- 
litisches Tagesblatt  und  einige  illustiirte  Zeitungen.  Hier  soll  aocb  einSammel- 
pnnkt  der  Lehrer  sein,  und  über  manches  Gelesene  mag  hier  zur  bestimmten 
Zeit  debattirt  werden.  Wir  sind  überzeugt ,  dass  sich  die  meisten  Lelirer 
wöchentlich  ein-  oder  zweimal  eintinden  werden,  um  die  aut liegenden  Zeit- 
schriften durchzusehen;  der  Eine  heute,  der  Andere  morgen,  so  wie  es  eben 
die  Zeit  gestattet 

Ehn  kleiner  Kreis  von  Wiener  Lehrern  (Zöglinge  des  Pädagogiums)  haben. 

eine  solche  Lesehalle  unter  Director  Dr.  Dittes  gegründet.  Diese  entsitricht 
allen  Erwartungen:  niit  Ausnahme  der  Schulzeit  ist  die  Lesehalle  selten  l.tr, 
nnd  i's  ist  interessant  /.ii  sehen,  welches  Leben,  welcliei' Eiler  und  welche  Streb- 
samkeit hier  zutage  tritt. 

Könnte  eine  derartige  Lesehalle  nicht  für  die  gesammte  Lefaremhaft  er- 
richtet werden?  Oewissl  Wir  erblicken  in  der  Eiriehtung  Ton  Lesehallen  ia 
allen  größeren  Orten  das  beste  Mittel,  den  Lehrer  geistig  fnsch  und  lebendiit  m 
erhalten,  ihm  seine  Jugend  zn  wahren,  so  dass  er  stets  empfänglich  bleibt  für 
alles  Gute  nnd  Edle.  Wahre  nnd  Schöne,  dass  er  nie  erlahmt  in  dem  Streben,  stets 
weiter  zu  bauen  an  der  begonnenen  Arbeit  ziu*  Hebung  und  Veredlung  des  Volkes. 


ycniitw«)iflidicr  Bedutenr:  M.  Stein.  BaobdniolnKi  Jnliat  Klinkbardt, 


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Der  Pessimismus  und  die  Sittenlehre. 

Von  Prof.  Dr.  Joh.  Rehmke-St-Galkn. 
(Schiuss.) 

AVird  Glückseligkeit  als  absolute  Befriedignng  oder  Wunsch- 
losigkeit  des  Menschen  anfgefasst,  so  mnss  es  einleuchten,  dass  Glück- 
seligkeit und  Sittlichkeit  nicht  neben  einander  bestel|^n  k<»nnen.  Ein 
solcher  glückseliger  Mensch  wäre  wiinschlos^iifrieden  und  daher  nn- 
th&tig,  denn  die  Tliätigkeit  des  Menschen  setzt  stets  einen  Wunsch 
voraus,  und  so  lange  dieser  da  ist,  fehlt  eben  die  Wunschlosigkeit  d.  i. 
die  Glückseligkeit;  sobald  diese  aber  einträte,  würde  alle  Thätigkeit^ 
also  auch  die  sittliche  Thätigkeit,  aufliören.  Sittliche  Thätigkeit  oder 
Sittlichkeit  also  und  diese  ,.Glückselig-keit"  scliließen  sich  aus.  Wenn 
nmi  Leben  Thätigkeit  und  daher  sittliclu  s  Leben  sittliche  Thätigkeit 
ist,  so  erscheint  es  als  eine  selbstverständliche  Behaaptnng,  dass  solche 
„Glückseligkeit^  während  des  menschlichen  Lebens  unmöglich  sei. 
Nach  Glückseligkeit  streben  hätte  dann  den  Sinn:  zur  „Verneinung 
des  Lebens"  oder  zum  „Nirvana"  zu  gelangen  streben,  denn  diese 
„Glflckseligkeit"  und  Nichtleben  sind  Wechselbegriffe,  und  Hartmann 
hätte  somit  ganz  Recht,  dass  deijenige  der  schlimmste  Feind  der  Sitt- 
lichkeit genannt  werden  mttsse,  welcher  sie  „durch  Verkuppelung  mit 
der  Gifickseligkeit  zu  erhöhen  wShut**.  Wo  immer  man  ins  sittliche 
Lehen  hineingreifen  mag,  nirgends  wird  man,  so  lange  noch  Leben  da 
ist,  den  Widersacher  des  Lebens,  diese  „Glttckseligkeit**,  antreffen,  und 
hofihnngslos  und  ewig  erfolglos  mflsste  ein  solcher  Glfickseligkeits- 
jfiger,  hnngrig  im  reichen  Lehen,  umherirren,  bis  er  durch  anhaltende 
Enttäuschung  veranlasst  würde,  von  dem  vergeblichen  widerspruchs- 
vollen Bemühen,  den  Tod  mitten  im  Leben,  die  Wunschlosigkeit 
mitten  in  der  Thätigkeit  zu  besitzen,  abzusehen. 

Denn  die  Er£iihmng  liefert  ihm  die  Einsicht,  dass  er,  so  lange 
er  lebt,  auf  solche  Glflckseligkeit  eo  ipso  zu  verzichten  habe  und 
somit  vor  die  Alt/emative  gestellt  sei:  entweder  ein  Leben  ohne  Glfick- 

PMdRgoginm.  i.  Jahig.  Heft  XIL  47 


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Seligkeit,  oder  eine  (TliK-kselig-keit  ohne  Lflx-n.  Xacli  einer  solchen 
Glückseligkeit  steuert  in  Wirklichkeit  nnl»e\vnsst  dasStreben  desEo-oislen, 
und  daher  ist.  wenn  derselbe  sich  erst  einmal  recht  besonnen  hat.  auch 
der  (^iiietisnius.  d.  i.  die  absolute  Unthätigkeit.  seiiu*  Willensmaxime; 
das  T^elien  aber  bietet  ihm  schon  aus  diesem  (irunde.  weil  es  selbst- 
verständlich als  solches  jene  ..(Glückseligkeit"  verwehrt,  Elend,  d.  i. 
absoluter  ]\[angrel  der  ,.Glückselig-keit",  und  daher  wird  stets  der 
nüchterne  und  besonnene  Egoist  den  Pessimismus  als  Grundan- 
schaiiung  für  sein  Dasein  gewinnen. 

Der  ausschließende  Gegensatz  aber,  in  welchem  die  als  absolute 
W'illensbefriedigung  aufgetasste  „Gliu  kseligkeit"  zur  Sittlichkeit  steht, 
hat  seinen  logischen  Grund  nicht  in  der  sittlichen  Thätigkeit,  sofeni  sie 
eben  eine  sittliche,  sondern  sofern  sie  überhaupt  Thätigkeit  ist;  würde 
in  diesem  Sinne  das  Wort  Glückseligkeit  aufzufassen  sein,  so  müsste 
Hartmanns  Pessimismus  fiu'  das  Leben  des  ^lensclien  überhaupt  (ob 
dieser  es  egoistisch  oder  ethisch  führte,  das  bliebe  sich  gleich)  als 
Wahrheit  anerkannt  werden,  denn  eine  solche  Glückseligkeit  kann  es, 
wir  mögen  ans  hinwenden  oder  einrichten,  wie  wir  wollen,  auf  der 
Welt  und  so  lange  wir  leben,  nicht  geben. 

Wenn  nun  aber  auch  schon  die  Thätigkeit  überhaupt  und  diese 
„Glückseligkeit**  nicht  bei  und  miteinander  im  Menschen  sich  zeigen 
können,  so  bleibt  doch  die  Möglichkeit  ihrer  causalen  und  teleologischen 
Verknüpfung  damit  noch  unangefochten,  so  dass  also  der  Mensch  als 
durch  seine  Thätigkeit  das  Ziel  der  Glückseligkeit  erreichend  gedacht 
werden  könnte,  wie  wir  ja  das  Ende  des  Lebensleids  in  der 
That  selbst  von  den  pessimistischen  Sittenlehren  eines  Buddha  oder 
eines  Schopenhauer  zum  reinen  Zweck  des  Lebens  und  Strebens  gemacht 
sehen;  denn  das  Aufhören  des  Wollens,  d.  i.  des  bewussten  Thätigseins, 
ist  die  Wunschlosigkeit,  und  diese  Glückseligkeit  ist  das  Nichtleben. 
In  solchem  Sinne  ließen  sich  also  wirklich  die  Widersprüche  „mensch* 
liehe  Thätigkeit  überhaupt**  und  jeue  „Glückseligkeit"  miteinander 
„verkuppeln";  es  muss  jedoch  schon  eine  andere  Bewandtnis  haben, 
wenn  Hartmann  die  „Gluckseligkeit"  wol  mit  der  e-oi-tischen 
Thätigkeit  in  einen,  wenn  auch  erfolglosen,  teleologischen  Zu^auinu-ii- 
hang  bringen  kann,  dies  dagegen  bei  der  Sittlichkeit  lur  unmög- 
lich erkliirt. 

„Glückseligkeit"  ist  nun  im  Hartmannschen  Sinne  ..Lustubt-r- 
schuss  im  Leben'';  wir  werden  somit  also  auf  einen  ganz  anderen 
Boden  gestellt,  nämlich  in  das  Lelien  hinein,  wahrend  im  soeben 
besprochenen  Falle  die  „Glückseligkeit"  lactisch  in  das  Mchtlebeu 


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liiiiein-  oder  mit  (leiiiselUen  sogar  zusammenfällt.  Die  M<)glichkeit  eines 
Lustübeisilius.<es  im  Lebt-ii  bestreitet  Hartmann  und  behaui>tet  zu- 
irleicli.  dass  die  Annahme  desselben  mit  der  Sittlichkeit  sieh  nicht 
vertraLfe.  dass  vielnieln'  sclion  uin  der  ^Hisrlichkeit  der  letzteren  \villeu 
die  W'alirlit'it  vom  Unliistiibei'sclniss  feststellen  müsse.  Man  halte  hier 
nun  wül  fest,  dass  Hartmann  seine  iTlückseligkeit  nicht  etwa  als 
möglichen,  respective  unmöglichen  Endzweck  menschlicheu  Strebens. 
sondern  als  einen  durch  das  Lel)en  sich  hindiu-chziehenclen,  im  Leben 
also  selbst  zu  verwirklichenden  Zweck,  also  als  einen  wenigstens  denk- 
baren Zustand  während  des  Lebeus  aiiffasst.  Seine  Behauptung 
geht  dahin,  dass  Jemand,  welcher  diesen  Lustüberschusszastand  für 
vereinbar  halte  mit  der  Sittlichkeit  oder  überhaupt  nur  annehme, 
dass  derselbe  eine  Folge  des  sittlichen  Handelns  sei,  infolge  eben 
dieser  Annahme  schon  nnmdglich  ein  sittlicher  sein  oder  bleiben 
könne;  der  Optimismus,  nach  welchem  das  sittliche  Leben  einen 
Lustüberschnss  atifweist,  wird  demnach  von  Hartmann  geradezu  als 
Mörder  der  SittHchkeit  angesehen. 

Die  Sittlichkeit  trägt  nach  Hartmann  sswei  Merkmale  an  sich, 
das  nichtegoistische  und  das  autonome;  die  Motive  des  sittlichen 
Handdns  sollen  sich  als  nichtegoistische  und  doch  als  eigene  prft- 
aentiren,  sie  sollen  aus  mir  entsprungen  sein  (autonom),  jedoch  das 
Wollen  nicht  auf  mich  (nichtegoistisch)  richten.  Gesetzt  nun  den  Fall, 
eine  soldie  Sittlichkeit  hätte  dasjenige  zur  Folge,  dessen  Ausdruck 
der  ethische  Optimismus  sein  will,  so  firagt  sich  nun,  ob  das  Bewnsst- 
sein  vom  letzteren  die  „Reinheit  und  Uneigennfttzigkeit  der  sittlichen 
Bestrebungen**  unter  keinen  Umständen  bestehen  lasse. 

Wenn  Hartmann  die  Gorrumpunng  der  Sittlichkeit  durch  den 
«thisdien  Optimismus  behauptet,  so  geht  er  von  der  Meinung  aus,  dass 
der  Mensch  zu  einer  sittlichen  Lebensföhrung  niemals  gelangen  werde, 
wenn  nicht  der  Pessimismus  Ihm  vorher  schon  den  Gedanken  an  die 
Olfickseligkeit,  d.  i  den  Lustttberschuss  des  Lebens,  grflndliclist  ge- 
genommen habe. 

Die  (xlückseligkeit  gilt  als  das  Ziel  des  Eigenwillens:  dies  ist 
wahr;  die  Sittlichkeit  ist  Selbstverleugnung:  auch  dieses  sei  zugegeben; 
aber  dann  resultirt  trotzdem  nocli  keineswegs,  dass  die  Selbstverleug- 
nung zugleich  Verziclit  auf  die  (Tlückseligkeit.  d.  i.  absolute  Ab- 
weisung der  Glückseligkeit,  in  sich  schliefe.  Dies  wiinle  sich  nur 
dann  ergeben,  wenn  (ilückseligkeit.  wie  sie  das  stete  Ziel  des  Eigen- 
willens ist.  zugleich  nur  aus  der  Befriedigung  des  Eigenwillens 
hervorgehen  könnte.  Dies  aber  winl  Hartmann  selbst  nicht  behaupten 

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—   740  — 


-wollen,  da  er  ja  die  Last  nicht  als  Befriedigung  des  Eigenwillens, 
sondern  als  Befriedigung  des  Willens  fil)erhaapt  definirt  und  neben 
dem  Eigenwillen  doch  anch  einen  sittlichen  Willen  des  Menschen  an- 
erkennt. Wo  demnach  Wille  auftritt,  mag  derselbe  nun  die  Lust 
selbst  zu  seinem  Ziele  haben,  wie  der  egoistische,  oder  nicht,  wie  der 
sittliche,  und  wo  dieser  Wille  befriedigt  wird,  da  muss  also  nach 
Hartniann  Lust  vorhanden  sein,  und  wo  immer  im  Leben  die 
Betrie(li<jriuig  des  Willens  die  Nichtbefriedigung  überwöge,  da  mü)>ste 
demnach  Glückseligkeit  (Lustüberschuss)  vorlianden  sein. 

Der  al)solute  Verzicht*^  auf  Glückselifjkeit,  scheint  mir,  ergäbe 
auch  tiir  Hartnianns  Ansehaiiiuig-  iiiclit  nur  die  absolute  Selbstverleug- 
nung, die  ,.g:;inzlirhe  Hinfral)e  des  Eiucnwillens",  sondern  überhauiU 
den  Verzicht  aul  alles  Wollen,  alle  bewusste  Tliäti<:keit,  da  jeg- 
liche Befriedigung  des  Willens  eben  ja  nach  Hartmann  eine  Lust 
ist.  Mir  scheint  es  daher  durchaus  nicht  consequent,  dass  Hartraann 
von  der  Annahme  des  Lustüberschusses  die  Corrumpirung  der  SittUeh- 
keit  türchtet  und  doch  nicht  dieselbe  Furcht  äußert  gegenüber  jeder 
Lust,  d.  i.  jeder  Befriedifi-nng  des  Willens  überliaiipt.  AVeun  decli  die 
Reinheit  sittlichen  Strebens  ihm  schon  getrübt  wird  durch  den  Ge- 
danken, dass  Lustüberscliuss  die  Folge  des  Strebens  sei,  so  nniss 
diese  Trübung  nicht  minder  für  ihn  geschehen,  sobald  er  sieb  V»e\vusst 
wird,  dass  die  Befriedigung  jedes  Wollens  eine  Lust  ist.  Hartmann 
mü.ssTe  demnacli  niclit  nur  allen  Lustübersclmss,  sondern  alle  Lust 
überliaupt  aus  dem  sittlichen  Leben  abweisen;  th;ite  <^r  aber  dieses. 
s<»  mü>ste  er  zuirleicli  alle  sittliche  Thatiukeit  verneinen,  da  d"ch 
eine  jede  irL-'endwie  eine  liefiiedigung  des  W  illens,  d.  i.  nach  Hart- 
mann Lust  eiitlialten  wird.  Auf  diesem  Wege  würde  der  Philosoiili 
des  Unbewnssten  also  mit  der  Verneinung  der  Glückseligkeit 
und  der  Lust  zugleich  die  Verneinung  der  Sittlichkeit  pn^- 
damiren  müssen,  und  wir  unsrerseits  wären  hier  dann  bei  dem  Satze 
angekommen,  dass  Glückseligkeit  und  Sittlichkeit,  oder  wenigstens 
Lust  und  sittliches  Hanchdn  zusammengehören,  da  Sittlichkeit  ohne 
Lust  nicht  denkbar  sein  würde. 

1  »aiiiit  aber  wäre  das  irerade  tiegentheil  von  demjenigen,  was  Hart- 
mann in  jenen  Sätzen  behani»tet,  lieransgelunden.  A\äbrend  die  mit 
der  al>soluten  Willensbefriediguug  ideutiticirte  ..Glückseligkeit"*  in  der 
That  in  absoluten  (iegensatz  gestellt  wui-de  zur  Sittlichkeit,  weil 
letztere  eben  Thätigkeit  i.st,  müsste  im  Gegentheil  diejenige  Glück- 
seligkeit, welche  von  v.  Hartmann  als  Lustüberschuss  im  Leben  aul- 
gefasst  wird,  mit  dei*  Sittlichkeit,  und  zwar  eben,  weil  diese  Thätig- 


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—   741  — 


keit  ist,  enj?  verkniipft  erscheinen,  indem  jeue  dann  die  notU- 
weudige  Folgfe  der  Sittlichkeit  zu  sein  scheint. 

Die  Behauptung?  dieser  anj^eblichen  nothwendigen  Folge  von 
(jliickseliirkeit.  die  T^ehre  vom  etliisdien  Optimismus,  soll  verderbend 
auf  die  Sittliclikeit  wii'ken,  beliauptet  llartmauu:  dies  klingt,  wie  ich 
schon  alldeutele,  plausibel,  wenn  Glückseligkeit  und  Eigenwille  in 
einem  solchen  Verhältnis  zu  einander  ständen,  dass  die  erstere  nur 
das  Resultat  und  das  Ziel  des  iletzteren  sein  könnte,  wenn  also  der 
Gedanke  au  Glückseligkeit  unmittelbar  die  egoistischen  Neigungen  des 
Menschen  wach  riefe  und  stärkte.  Unter  andern  Verhältnissen  als 
diesem  aber  ist  nicht  einzusehen,  warum  Sittlichkeit  in  sich  gefährdet 
Sein  sdlle,  wenn  der  sittlich  Handelnde  (-i lückseligkeit  genösse; 
hiermit  ist  ja  doch  noch  nicht  sofort  die  Versuchung  nahe  gelegt,  „tlie 
Sittlichkeit  durch  die  GlückseÜL'-keit  zu  erhöhen",  denn  die  Sittlichkeit 
steht  für  den  Sittlichen  hoch  genug!  Wer  sittlich  ist,  wird  durch 
das  Bewusstsein,  glückselig  zu  sein,  in  .seiner  Sittlichkeit  nicht 
gehemmt  werden,  und  der  begleitende  Eigenlust-Pessimismus  wird 
ihm  weiter  helfen,  diejenigen  egoistischen  Neigungen,  welche  dem 
Menschen  als  Lohn  und  Folge  der  Arbeit  Glückseligkeit  vor- 
täuschen, zu  bannen.  —  Wer  aber  nicht  sittlich  ist,  wird  anderseits 
auch  durch  den  „ethischen'*  Pessimismus  in  keiner  Weise  der  Sitt- 
lichkeit näher  geführt,  wol  aber  durch  den  ethischen  Optimismus, 
wie  ihn  unter  dem  Namen  des  „relativ  erträglichsten  Zustandes''  selbst 
Hart  mann  verwendet  So  erscheint  auch  hier  der  ethische  Optimismus 
dem  ethischen  Pessimismus  als  in  dem  Wert  für  das  sittliche  Leben 
überlegen;  während  sie  beide  freilich  von  keiner  directen  Bedeutung 
für  die  Sittenlehre  werden  kOnnen,  ist  der  erstere  doch  noch  voa 
erzieherischem  Wert  für  den  zur  Sittlichkeit  sich  entwickelndeE 
Menschen. 

Der  Irrthum  in  der  Hartmannschen  Auffassung  der  Unerträglich- 
keit  von  Optimismus  und  Sittenlehre,  von  Glückseligkeit  und  Sittlich- 
keit liegt  also  offenbar  dann,  dass  Ifartmann  Glückseligkeit  nur 
mit  Erfüllung  des  egoistischen  Willens  zusammen  denkt;  bei 
einer  solchen  Einschränkung  des  Gebietes  der  Glückseligkeit  ergibt 
sich  dann  Ton  selbst  die  Gegenüberstellung,  welche  den  Optimismas 
ans  dem  Bewasstsein  des  sittlichen  Menschen  fem  halten  muss.  Diese 
Einschränkung  hängt  aber  eng  zusammen  mit  dem  Umstände,  dass  von 
v.  Hartmann  aller  eigene  Wille  als  Eigenwille,  alles  Wollen  des 
Individuums  als  ein  das  eigene  Individuelle  ollen  ge£ässt  wird,  und 
daher  eben  auch  alle  Lust,  welche  aus  der  Befriedigung  des  Wollens 


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—   742  — 


lierv(trgelit,  sich  für  Ilcirtmann  als  Ei^-cnlnst  laäsentirt.  Di»*  Kin- 
sc'liränkunj?  der  Lust  auf  die  Ei*i(  iilust  aber  sreni]ielte  natürlich  auch 
<lcn  ( )itTiuiisnuis  zu  einer  der  Sittlichkeit  widt-rsiireclieuden  Lehre,  deun 
die  Sittliclikeit  sucht  ja  nicht  das  Eigene,  sie  kr.nnte  daher  auch  iJi 
allen  Acten,  welclie  den  Handelnden  als  Lustertiillten  zeif;en.  niclit 
vorhanden  sein.  Diese  letztere,  schon  oben  hervoi-;:fliol»ene  ('onse(iucnz 
hat  Hartniann  freilich  ni<-lit  i:ezo;j:-en.  da  er  in  milderer  \\'eise  nur  eiueu 
Lust- L' berschuss  des  >itnichen  Lelicus  des  Menschen  bestreitet. 

Die  beschränkte  Auffassung;  der  iieürit^V  Lust  und  W  ille  als  Kigeidu-t 
und  KiLrenwille  und  die  dadurch  bediug-le  Einschränkung'  des  Begritls- 
p:ebietes  der  (^liickscdifrkeit  ist  nun  auch  zum  Theil  Schuld,  das^  Hart- 
maim  gegenüber  der  im  sittlichen  Lel)eu  facti.sch  liegenden  (Glückselig- 
keit blind  ist;  das  sittliche  Leben  und  seinen  AVert  für  das  Individuum 
sucht  er  iiiuiier  nur  von  dem  gleichen  Standpunkte  des  im  Eigenwillen 
lebenden  Individuums  zu  beurtheilen,  und  inlblge  dessen  sinkt  natür- 
lich der  Wert  des  erstereu  so  erheblich  und  steigert  sich  die  Unlust 
des  Lebens  überhaupt  auch  für  das  sittliche  Individuum  in  den  Augen 
des  mit  der  Eigenlustbrille  Hewatfneten  so  bedeutend,  dass  für  diesen 
von  einer  Berechtigung  des  Optimismus  nicht  tlie  Kede  sein  kann. 
Es  wird  hier  aber  eben  der  Umstand  vergessen,  dass  der  sittliche 
Mensch  einen  ganz  andern  Maßstab,  nämlich  denjenigen  der  sittlichen 
Lust  im  Gegensatz  zur  Eigenlust,  an  die  Wertschätzung  des  Lebens 
überhaupt  legt,  und  dass  daher  das  Facit  auch  ein  ganz  anderes  sein 
wird.  Ein  ethischer  Optimist  i.st  derjenige,  welcher  behauptet,  dass 
das  sittliche  Leben  ihm  Glückseligkeit  biete,  eine  sittliche  Lust, 
die  freilich  vom  Standpunkt  des  Egoismus  nicht  einmal  gesehen, 
geschweige  denn  begriffen  werden  kann. 

Würde  sich  der  Staudpunkt  des  Menschen  und  seiner  Wert- 
schätzung des  Lebens  nicht  mit  dem  Übergang  vom  egoistischen  zum 
sittlichen  Leben  verschieben,  so  hätte  Hartmann  Recht,  dass  das  sitt- 
liehe  Leben  ebenso  wenig  wie  das  egoistische  eine  Glückseligkeit  zeige. 
Weil  aber  eine  ganz  bedeutende  Verschiebung  eintritt,  so  ist  die 
Beurtheilung  des  sittlichen  Lebens  vom  Standpunkte  des  Eigenwillens 
und  der  Eigenlust,  wie  sie  Hartniann  \'"ruimmt,  sogar  eine  völlig 
nichtige,  welche  ja  begreiflicherweise  keineswegs  die  richtige  Bilance 
von  Lust  und  Unlust  im  Leben  des  Sittlichen  zu  ziehen  vermag. 

Alles  dieses  Fehlerhafte  an  der  Hartmannschen  Sittenlehre  und 
ihre  Abweisung  selbst  des  ethischen  Optimismus  lässt  sich  aber  aut 
Hartmanns  metaphysischen  Standpunkt  zurückführen,  demzufolge  der 
sittliche  Mensch  nur  Erscheinungsweise  des  unseligen  Unbewussten  ist; 


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—   743  — 


daher  denn  die  Verneinong  des  Eigenen  bis  zum  Äußersten  und  die 
sittliche  Entwertung  alles  dessen,  was  den  Menschen  za  sich  selbst 
als  Indindnnm  znrückf&hren  könnte.  Hartmann  kennt  hier  nicht  die 
Gegenüberstellimg  des  egoistischen  ond  des  sittlichen  Ich,  sondern  nur 
die  des  Ich  nnd  des  Absoluten.  — 

Der  empirische  Pessimismns  drängte  zur  „  Selbstverleugnung 
d.  i  zum  Selbstmorde;  Hartmann  setzte  nun  an  dessen  Stelle  nicht  die 
sittliche  Selbstverleugnung,  sondern  vielmehr  die  metaphysische 
Selbstverleugnung,  und  infolge  dessen  schnitt  er,  trotzdem  er  die 
Ph&nomenalität  des  Individuums  in  objectiver  realer  Weise  auf&sste, 
aus  dem  sittlichen  Individuum  doch  gerade  das  Eigenste  heraus,  welches 
den  Kern  dessen  für  die  Sittlichkeit  ausmacht,  nämlich  die  Persön- 
lichkeit Das  Bewnsstsein  der  Solidarität  des  Individuums  mit  dem 
Unbewussten  ttberwucherte  das  sittliche  Selbstbewnsstsem,  so  dass 
dieses  letztere  verkfimmerte,  von  oben  her  durch  das  Absolute  erdrückt, 
von  unten  her  durch  den  absoluten  Pessimismus  angefressen. 

Das  Individuum  aber  als  ein  Sittliches  muss  nach  beiden  Seiten 
hin  freie  Bewegung  haben,  nnd  ohne  ein  freudiges  Herz  ist  diese 
nicht  möglich.  Auch  Hartmann  leistet  dieser  Forderung  trotz  seines 
Pessimismus  einigen  Tribut,  wenn  er  von  dem  Weltfrieden  spricht, 
den  der  Hartmannsche  sittliche  Mensch  besitze  und  von  dessen  freu- 
diger Willigkeit  zur  Sittlichkeit  (a.  a.  0.  S.  870).  Woher  aber 
diese  freudige  Arbeit?  Sie  kann  doch  sicherlich  nicht  aus  dem 
Pessimismus  hervorbrechen  und  ist  doch  unzweifelhaft  ein  Zeichen  von 
Glückseligkeit,  ein  Beweis,  dass  die  sittliche  Arbeit  mit  Lust  für  den 
Menschen  verknüpft  ist!  Diese  Freude  ist  anscheinend  ein  dopiielt 
gefthrücher  Eindringling  in  Hartmanns  Sittenlehre,  einmal,  weil  sie 
den  Pessimismus  zu  vernichten  droht,  und  dann,  wefl  sie  aus  dem 
Bewnsstsein  der  Zusammeugehürigkeit  mit  dem  Absoluten, 
nicht  aber  ans  einer  Willensbefriedigung  zu  entspringen  scheint. 
An  diesem  Punkte  hätte  Hartmann  Anlass  finden  sollen,  seine  eigene 
Ansicht,  dass  die  Lust  des  Menschen  überhaupt  stets  auf  Befriedigung 
eines  Willens  zurückgeführt  werden  müsse,  zu  corrigiren,  denn  die 
Freude  an  der  sogenannten  Mitwirkung  zur  Erlösung  des  Absoluten 
kann  unmöglicli  einer  Willensbefriedigung  LUtstaumien,  da  jene  Freude 
sehen  vorhanden  ist,  bevor  das  Wollen  beginnt. 

Hartmanns  Abweisung  des  Optimismus,  di»-  hergeleitet  wird  aus 
dem  Grunde,  weil  derselbe  nicht  mit  der  Sittlirlikt  it  vt  itni^^lich  sei, 
muss  als  ungei^q-iindet  angesehen  werden;  sie  ist,  wennjrleicli  sie  ver- 
wauute  Züge  zeigt,  iiichl  zu  verwechseln  mit  der  von  Kaut  behaupteten 


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Unverträglichkeit  des  Glückselio:k('itvSStrebens  und  der  Sittlichkeit;  wenu 
es  nämlich  aiK'li  unzweifelhatt  ist,  dass  der  Mensch  niclit  zugleich  nach 
A'erwirklichuug  seiner  sittlichen  Aufgabe  und  seiner  Glückseligkeit 
streben  icünue,  da  docli  immer  nur  Ein  Ziel  auf  einmal  für  den 
Menschen  nitiglich  ist,  so  ist  damit  noch  keineswegs  die  Unvereinbar- 
keit des  Optimismus  und  der  Sittlichkeit  ausgesprochen. 

Es  ist  klar,  dass  Hartmann  stets  nur  von  einer  ihm  alkin  mög- 
lich erscheinenden  Combination  des  menschlichen  Strebens  und  der 
Glückseligkeit  ausgeht,  dass  nämlich  die  Glückseligkeit  eine  Folge 
des  Strebens  sei.  Wenn  man  ausscliließlich  diesen  Standpunkt  ein- 
liinmit,  so  wird  man  nicht  wol  anders  können,  als  der  Glückseli<rkeit 
zu  Gunsten  der  Sittlichkeit  den  Rücken  kehren.  Auf  diesem  Stand- 
punkte stehen  nun  auch  alle  diejenigen,  welche  mit  Kant  jedes  jrlück- 
selige  sittliche  Handeln  i)erhorresciren  und  welche  sich  dalier  el)enso, 
wie  Hartmann,  vor  der  Möglichkeit  des  Optimismus  bekreuzen  und  die 
absolute  A\'alirheit  des  Pesaimismus  für  das  Bestehen  der  bittliclkeit 
herbeiwünschen  m üssen. 

Man  könnte  sich  wol  wundern,  dass  noch  Niemand  versucht  hat, 
auch  das  umgekehrte  Verhältnis  zwischen  Glückseligkeit  und  Sitt- 
lichkeit als  ein  mögliches  hinzustellen,  also,  dass  die  Sittlichkeit  wenig- 
stens eine  zeitliche  Folge  jener  wäre,  die  Glückseligkeit  ihr 
also  voranginge,  so  dass  der  sittlich  handelnde  Mensch  schon  vor 
und  abgesehen  von  dieser  seiner  Thätigkeit  als  solcher  im 
glückseligen  Zustande,  oder,  wie  Hartmaim  sagt,  im  „Lustüber- 
Bchuss"  sich  befände. 

Freilich  ist  es  begreiflich,  dass  man  an  diese  Umkehrung  des 
Verhältnisses,  um  jenen  schwierigen  Fall  vom  Zusammenbestehen  des 
Optimismus  und  der  Sittlichkeit,  ohne  die  Uneigennutadgkeit  der  ktz- 
teren  anzutasten,  zu  positivem  Austrag  zu  bringen,  nicht  dachte  — 
dies  ist  begreiflich,  weil  man  stets  die  Untersuchung  anhob  mit  jecem 
Theil  des  mensclilichen  Sti'ebens,  welchen  wir  den  egoistischen  nenaen 
und  welcher  seine  Handlungen  auf  die  Glückseligkeit  als  deren  erhoffte 
Folgeei-scheiiunifT  niid  als  deren  Ziel  anlegt;  so  ist  ja  auch  die  ur- 
sprüngliche Meinung  des  Menschen,  die  Glückseligkeit  könne  durch 
die  Thaten  des  Eigenwillens  erreicht  werden.  Wenn  dann  aber  die 
Erfahrung  die  Unfruchtbarkeit  des  J3eginnen8  lehrt  und  die  Wahilieit 
des  Eigenlust-Pessimismus  anerkannt  werden  muss,  hält  man  dock  an 
der  überkommenen  Schablone  fest  und  sucht  nur  einen  anderen,  den 
„sittlichen"  Thaten -Weg  zur  Glückseligkeit,  einen  Weg,  der  iller- 
dings  dnrch  jene  Wahrheit  selbst  wieder  angehoben  wird,  unc  der 


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—    745  — 


ftberiumpt  in  sich  selbst  schon  nicht  die  Glückseligkeit»  venn  sie  nicht 
vorher  da  ist,  als  Folge  garantiren  kann. 

Darin  hat  Hartmann  durchaus  Recht,  wenn  er  behauptet,  dass 
das  sittliche  Streben  die  Glflckseligkeit  nicht  als  Ziel 
habe;  er  schiefit  aber  ttber  das  Ziel  hinaus«  wenn  er  deshalb  die 
Glftckseligkeit  auch  ffir  das  sittliche  Individuum  verneint  und  die 
Wahrheit  des  ethischen  Optimismus  leugnet.  Dieser  Optimismus 
kann  wahr  sein,  ohne  dass  die  Glückseligkeit  das  Besultat 
des  sittlichen  Wollens  sein  müsste,  und  der  sittlich  Handelnde 
kann  in  sich  diese  Glückseligkeit  tragen,  ohne  dass  er  als 
Zweck  das  Glückseligsein  in  sein  Handeln  aufnehmen  müsst«,  wie 
ja  das  „sittliche"  Handeln  dann  überhaupt  nicht  mehr  sittlich 
sein  würde. 

In  dieser  Umkehrungf  des  Folf^^everhältnisses  von  Glück- 
seligkeit und  sittliclieiu  Haiuleln  scheint  mir  luiu  iu  der 
That  die  Lösung-  für  jenes  große  Problem  zu  liegen,  wie  Olück- 
seligkeit,  also  ,,Lustiiberschuss",  und  Sittlichkeit  zusammen  bestehen 
können,  ohne  dass  doch  der  Gedanke  an  die  Glückseligkeit,  oder  dsm 
Bewusstsein  von  der  Glückseligkeit  auf  die  „Sittlichkeit"  des 
Handelnden  einen  bestimmenden  und  corrumpirenden  Einfluss  übe,  und 
damit  dann  die  Sittlichkeit  unbestreitbar  vernichte.  Ich  bin  über- 
zeugt, dass  durch  jene  Veränderung  des  Verhältnisses  der  ethische 
Optimismus  zwanglos  sich  dem  sittlichen  Leben  einfügen  lasse  und 
doch  zugleich  das  sittliche  Princip  trotz  dieses  Optimismus  in  voller 
Reinheit  und  Ausschlieiiiichkeit  der  bestimmende  Factor  des 
Handelnden  bleilte. 

Es  genügt  nun  nach  den  hier  ausgeführten  polemisclien  Vorarbeiten, 
in  kurzen  Zügen  die  Untersuchunir  thetisch  zu  Ende  zu  tülncn,  iiin 
dem  Pessimismus  in  der  Sittenlelire  seine  feste  Stellung  anziisveisen. 

Eine  der  grtUUen  Verirrungen,  weiclie  die  Geschichte  der  Sitten- 
lehre zeigt,  ist  das  Bestreben,  die  Glückseligkeit  aus  der  Sittenlehre 
iiberliaupt  auszuschließen:  dieses  irrige  Vorgehen  entsprang  aus  dem 
an  und  für  sich  richtigen  Grundsatze,  dass  der  sittlich  Strebende 
niemals  eine  zu  erreichende  Glückseligkeit  im  Augt^  hat  und  dass  es 
nur  ein  Versteckspielrii  des  Menschen  mit  seinem  ral'tinirten  Egoismus 
ist,  wenn  dei-sellje  ejklart,  allerdings  denke  er  während  des  sittlichen 
Strebens  nicht  an  die  folgende  Glückseligkeit,  aber  diese  sei  eben 
doch  die  natürliche  P^ilge  der  Sittlichkeit. 

Die  Sittenlehrer  aber  gehen  dai'in  zu  weit,  dass  sie  jegliche  Ver- 
bindung von  Glückseligkeit  und  Sittlichkeit  verneinen  und  nicht  eiu- 


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mal  die  Möglichkeit  erwägen»  ob  die  Sittlichkeit  ihrerseits  die 
Folge  der  Gifickseligkeit  sein  könne.  Was  jene  Männer  anf  der 
einen  Seite  für  die  echte  Sittenlehre  gewinnen,  das  brechen  sie  ihr 
durch  Blindheit  auf  der  andern  Seite  wieder  ab;  wie  sie  die  Sittlich- 
keit ganz  richtig  durch  Abweisung  der  Glückseligkeit  als  deren 
Folgeerscheinung  ttberhaupt  erst  als  reine  gewinnen,  so  machen 
sie  im  gleichen  Athemzuge  eben  diese  Sittlichkeit  zu  einer  unmög> 
liehen  durch  die  Leugnnng  der  Glückseligkeit  des  sittlich 
Handelnden. 

Ich  hoffe  im  Folgenden  den  Nachweis  kurz  und  bündig  liefern  zu 
können,  dass  Glückseligkeit  und  Sittlichkeit  nothwendige 
Genossen  sind,  und  durch  diesen  Nadiweis  dann  auch  vielleicht  einen 
annehmbaren  Frieden  in  dem  Streit  zwischen  Pessimismus  und  Opti- 
mismus und  ihrer  Bezi^ung  zur  Sittenlehre  angebahnt  zu  hab^ 

Glückseligkeit  und  Wollen  gehören  untrennbar  zusam- 
men für  den  Menschen,  nnd  zwar  in  dem  Sinne,  dass  ein  Wollen, 
d.  1  eine  freie  Thätigkeit  des  Menschen,  nicht  möglich  ist  ohne  eben 
die  Glückseligkeit  als  Bewusstseinsinhalt  des  thätigen  Menschen, 
sei  es,  dass  dieser  Bewusstseinsinhalt  als  Vorstellung  von  einem  zu 
gewinnenden  Zustande  der  l^ersönlichkeit  den  Inhalt  des  Wollens, 
also  den  Zweck  des  freien  T]iäti<rseins,  sei  es,  dass  er  als  be- 
wusster  Zustand  der  Persr.nlichkt'it  oder,  wie  man  aiicli  sae-.-n 
kann,  als  Gefühl,  die  inTsünliclic  Basis  des  freien  Tliät iirs'  iiis 
bilde:  in  beiden  Fällen  aber  steht  otit^nbar  «Tliickseliokeit  zu  d»'ui 
Wollen  in  euLreni  \'erlialtuis,  wenn  auch  uatiirlich  dieses  Verhaltiiis  in 
jedem  Mensrhen  ein  durchaus  ei.irenartijres  ist:  iiu  ersteren  Falle  ist  die 
Glückseligkeit  das  Ziel,  im  zweiten  dagegen  die  Basis  des  Wulleu- 
den,  d.  i.  des  frei  haudeiuden  ^leusclien. 

l'm  aber  die  unausweichbare  Verkniii)fnng  von  (Tliickseliskeit  und 
Wollen  ganz  zu  verstehen,  gilt  es  nocli,  einen  raschen  Bück  auf  diiö 
nienscldiclie  Individuum  id)er!iaui»t  zu  werfen. 

Der  Wunsch  nach  (i lückselijzkeit  ist  für  die  zum  Be^vu^st- 
sein  gekommene  Meiisclilieit  nicht  ein  zutalligerweise  allgemeiner. 
Sondern  er  ist  ein  uoth wendiurer,  im  Wesen  des  Menschen  betrriin- 
deter;  er  ist  eine  notliweudiire  Foltie  des  zum  Bewusstsein  der  Existenz- 
berecht  iirunir  seiner  selbst  als  einer  PersTtnlichkeit  gekonuneneu 
Menschen:  die  volle  EntwickluuL'"  und  Darst ellunii:  seiner  Per- 
sönlichkeit, das  ist  tiir  «las  menschliche  Imlivitbium  der  Inbegriff 
der  (i  liicksel  il:  keit.  Zertrümmert  man  ihm  tli<'  Möglichkeit 
dieser  Glückseligkeit,  so  vernichtet  mau  den  Menschen  zugleich 


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als  Persönlichkeit,  d.  b.  man  niaciit  ihm  (his  Wollen,  die  freie 
Tliäti<i:keit  unmöglich,  denn  des  Wollens  Sultject  ist  das  Individuum, 
insofern  es  selbstbewusste  und  sich  seihst  bestimmende  Per- 
sönlichkeit ist,  und  der  Mensfli  wird  dann,  sofern  er  üherliaupt 
noch  als  thätig  sich  erweist,  nur  als  ein  sollender  sich  erweisen, 
d.  i.  nicht  als  eijrene  Persönlichkeit,  sondeni  als  ein  Glied  oder 
Theil  eines  Anderen,  welches  Andere  ihn  in  seiner  Thätiirkeit  be- 
stinunt.  Dass  nun  das  sich  zur  l^ersönlichkeit  entwickelnde  Individuum 
nothwendig  von  dem  Wunsch  nach  Glückseligkeit  getragen  wird,  kann 
also  weder  Wunder  nehmen,  noch  wird  dies  irgendwie  bestritten 
werden  können.  Das  Erste,  was  der  Mensch  zu  seinem  Dasein  bedarf 
und  wünscht,  ist,  dass  er  sicli  als  Persönlichkeit  wahrhaft  .selbst  finde. 
Diese  Glückseligkeit  ist  seine  Selinsucht,  und  begreiflich  ist 
es,  dass,  bevor  sie  gestillt  ist,  nichts  Anderes  den  frei  thätigen 
Menschen  zum  Thun  entflammen  kann. 

Um  sich  als  Persönlichkeit  selbst  zu  finden,  d.  i  um  Grlückselig- 
keit  zu  erlangen,  stehen  nun  dem  Mensclien,  wie  es  ihm  wenigstens 
scheint,  zwei  Wege  offen:  der  des  eigenen  \\'(dlens  und  deijenige  der 
Gnade  Gottes;  in  dem  ersteren  Falle  ist  die  Glückseligkeit  dei*  Zweck 
des  menschlichen  Wollens  und  Handelns,  im  zweiten  erwartet  der 
Mensch  die  Glückseligkeit  ohne  sein  eigenes  Zutliun  von  Gott, 
Weil  aber  dort  der  Mensch  und  hier  Gott  als  der  Ertülh'r  jener  Sehn- 
sucht des  zur  Persönlichkeit  sich  dui-chringenden  Individuums  auf- 
tritt, hat  man  gewöhnlich  zur  Bezeichnung  der  Sache  nicht  ein  und 
dasselbe  Wort  beibehalten  wollen,  und  hat  daher  jenes  die  Glück- 
seligkeit, dieses  die  Seligkt  it  genannt,  obwol  die  Sache  in  An- 
sehung des  Menschen  und  seines  Bewnsstseinszustandes  als 
solchen,  abgesehen  also  von  dem,  als  was  er  sich  findet,  durchaus  auf 
das  Gleiche  heraus  kommt,  nämlich  auf  die  vollendete,  zur  vollen 
Entwicklung  gelangte  Persönlichkeit  und  das  aus  ihr  quellende 
Gefühl  für  das  menschliche  Individuum. 

Welcher  von  den  heiden  Wegen  eingeschlagen  wird,  das  hängt 
natürlich  ab  von  dem  Urtbdl  des  Bidividnums  seihst,  wo  eben  das- 
selbe seine  wahre  Persönlichkeit  zu  finden  glaubt,  ob  in  der  eigen- 
wilUgmi  Entwicklung  seines  Wesens,  oder  in  der  Eintanchung  des- 
selben in  Gott  nnd  dessen  Geist.  Solches  ürtheü  ist  natürlich  ein 
mamiigfiiltig  bedingtes,  und  die  Erziehung  vor  Allem  kann  f&r  den 
AnsM  desselben  von  groBem,  bestimmendem  lünflnsse  sein;  wo  aber 
das  Individuum  rein  nur  den  zufälligen  Einwirkungen  seiner  Um- 
gebung und  den  nothwendigen  Einflüssen  seiner  eigenen  Neigungen 


i 

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—    748  — 


aberlassea  ist,  da  wird  sich  zeigen,  dass  der  Ifensch  zunächst  den 
Weg  der  eigenwilligen  Entwicklung  einschlftgt,  dass  er  also  seine 
wahre  Persönlichkeit  znnAchst  nicht  in  der  Gotteskindscfaafk  sncht, 
nicht  durch  die  Gnade  Gottes  die  Glftckseligkeit  zu  erhalten  ^^laubt, 

8«)  lau««:«'  nun  die  rTirickse%keit,  sei  es  durch  eigene  Arbeit, 
sei  es  in  dein  (Tlauhen  an  Gott,  dein  Menschen  nicht  zu  Theil  g"e- 
wordeii  ist.  kann  der  Mensch  zu  anderem  "WdIIcu  (freiem  Thäticrsein), 
welches  eben  die  volle,  entwickelte  Persönlichkeit  alsSubject  voraus- 
setzt, d.  i.  zum  sittlichen  Wollen  niclit  kommen,  und  wo  immer 
daher  der  Mensch,  V>evor  er  die  Glückseli<?keit  besitzt,  als 
wollender  (frei  thätiger)  auftritt,  hat  sein  Wille  die  Glück- 
seligkeit zum  Zweck;  erst  wenn  diese  erreicht  ist,  kann 
überhaupt  das  sittliche  Wollen  eintreten. 

Glückseligkeit  und  menschliches  Wollen  sind  also  stets  beiein- 
ander, und  warn  man  das  Wollen  des  Menschen  eintheilen  möchte^  so 
ließe  es  sich  zwanglos  in  diese  zwei  ünterahtheilungen  bringen: 
1.  Glfickseligkeitswollen  und  2.  glttckseliges  Wollen.  In  der 
ersteren  wQrde  unterzubringen  sein  alles  das  Wollen,  welches  die 
Glückseligkeit  zum  Zweck  hat,  also  vom  glflckseligkeitssüchtigen 
Individuum  ausgeführt  wird,  in  der  zweiten  alles  Wollen,  welches  auf 
der  Basis  der  Glflckseligkeit  vor  sich  geht,  also  vom  glflck- 
seligen  Individuum  unternommen  wird;  jene  AbtheUnng  wird  sieh 
durchaus  decken  mit  dem  egoistischen,  und  diese  durchaus  mit  dem 
sittlichen  Wollen. 

Von  den  beiden  mögliclieu  Wegen  zur  Glückseligkeit  zeigt  sich 
mm  derjenige,  welcher  diu*ch  eigene  lüalt  des  Menschen,  durch  eigene 
Arbeit  zum  Ziele  führen  soll,  als  durchaus  unzulänglich,  wie  ja  die 
ruhige,  objective  Prüfung  desjenigen  Menschenlebens,  welches  die 
Darstellung  des  (^lückseligkeitsverniügens,  also  des  egoistischen  Stre- 
bens ist.  unzweifelhaft  beweist,  indem  hier  stets  die  Glückseligkeit 
entweder  das  gmße  Fragezeichen  der  Zukunft,  oder  der  große 
Stein  des  Anstolies  bleibt,  an  welcliem  der  unglückselige  Glücksfliir- 
keitsjäger  den  Hals  bricht.  Der  Mensch,  welclier  diesen  eigen wilhgen 
W't'g  i'iusrhlägt,  wird  sich  somit  ganz  von  dem  Glückseligkeits- 
wullen erfüllt  sehen  und  muss  wenigstens  die  Unmöglichkeit  ein- 
sehen, es  von  sich  aus  zu  einein  sittlichen  Leben  zu  bringen,  da 
er  ja  eben  sich  nicht  einmal  den  für  die  Sittliclikeit  unbedingt  noth- 
wendigen  Status  der  Glück-Seligkeit  als  Basis  deb  sittlichen  WoUens 
dui'ch  sein  (^egoiötiäches)  WoUeu  verächaüen  kann. 


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Wenn  man  von  gegnerischer  Seite,  die  ja  ebenfalls  zugibt,  dass 
Glückseligkeitswollen  und  sittliches  Wollen  nicht  neben  einander,  oder 
sogar  ein  und  dasselbe  srin  könnten,  hervorhebt,  der  Mensch  müsse 
eben  von  der  Gluckseligkeit  itmdweg  abstrahiren  und,  ohne  glück- 
selig zu  sein,  sittlich  wollen,  so  hat  man  damit  den  Knoten  ein- 
fach zerhanen  und,  ohne  eine  wirkliche  Lösung  zu  schaffen,  einen 
Doctrinarismns  geschaffen,  welcher  nun  und  nimmer  mit  dem 
lebendigen  Menschen  und  dem  menschlichen  Leben  sich  vereinigen 
lässt  Denn  es  ist  unzweifelhaft  ein  utopischer  Gedanke,  dass  der 
Mensch,  welcher  nicht  glftckselig  ist,  den  ihm  als  potentieller 
Persönlichkeit  im  Blut  liegenden  Wunsch  nach  Gifickseligkeit 
in  die  Schanze  schlagen  und,  auf  denselben  verzichtend,  werde  sitt- 
lich wollen  können.  Viel&ch  liegt  diesem  doctrinftren  Gedanken 
die  richtige  Thatsache  zu  Grunde,  dass  ein  wirklich  sittlich  Wollender 
auf  diejenige  Glückseligkeit,  wie  sie  der  Glückseligkeitswollende  sich 
in  diesem  egoistischen  Sinne  ausmalt,  verzichtet  oder,  besser  gesagt, 
seinem  auf  dem  Boden  der  Eigenlust  stehenden  Beobachter  zu  ver- 
zichten scheint;  in  der  That  nämlich  besitzt  dieser  sittlich 
Wollende  schon  als  seine  persönliche  Basis,  auf  der  allän  ihm 
eben  das  sittliche  Wollen  möglich  wird,  seine  Glückseligkeit, 
die  allerdings  einen  ganz  andern  Ursprung  hat,  als  der  des  Eigen- 
willens, da  sie  nämlich  aus  dem  Gotteskindschaftsbewosstsein  ihren 
Ursprung  herleitet. 

Niemals  wird  man  im  wirklichen  Le1)en  einen  Menschen  finden, 
welcher,  ubwol  er  nicht  f^lücksdig  ist,  sittliches  Wolk-u  zeif,^t;  alle, 
welche  etwa  von  sich  das  Gefrentheil  beliaupten,  täuschen  sich,  indem 
sie  entweder  in  ihrem  Wolk'ii  wirklich  nicht  sittlich  sind,  sondern 
egoistisch,  d.  i.  auf  ihre  noch  nicht  erlangte  (Tlückselig-keit 
ihr  Wollen  abzwecken,  oder  wirklich  sittlicli  wollen,  aber 
(iaiiu  auch,  ohne  dass  sie  sich  dessen  selbst  deutlich  bewusst  sind,  auf 
jenem  anderen  Wege  schon  die  Glückseligkeit  {gewonnen 
haben,  nämlich  auf  dem  Weire  des  Glaubens,  der  ihnen  das  Bewiisst- 
sein  ihrer  Pei-sönlichkeit  als  eines  Kindes  Guttes  aufgeschlossen  und 
sie  dadurch  mit  Glückseli',^kei t  erfüllt  hat.  Tcli  bedieuo  mich 
hier  für  die  einzip:  wahre  P^rfas^^uii-  der  eiizuen  Persrtnliclikeit  des 
speciliscii  christlichen  Ausdrucks,  weil  in  ihm  so  prägnant  der  Grund 
des  Glückseligkeit sbewusstseins  hervortritt. 

Hat  sich  der  Mensch  als  Kind  Gottes  gefunden,  dann  ist  er,  weil 
er  nun  als  Persönlichkeit  in  Wahrheit  sich  voll  und  ganz  gefimden 
hat,  glückselig,  und  dieses  Bewusstsein  verlässt  ihn  nicht,  so  lange 


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in  ihm  der  (tlaube  au  Gott  luul  die  Gewiss;lieit.  sein  ivind  zn  st-in, 
lebendig  bleibt.  Aiit  diesrni  A\'eg-e  stillt  er  vollkoinnien  den  in 
seinem  A\'esen  g-eg rundet en  Wunsch  nach  Glückseligkeit 
und  Nvird  infolge  dessen  in  Wirklichkeit  betahigt,  sittlich  zu  wollen; 
denn  jetzt  stört  seine  sittlichen  Zirkel  nicht  mehr  da>  ihm  nnaiis- 
rottbar  eiugepllanztc  und  >u  lange  es  niclit  ertüllt  ist,  stets  das  iranze 
Bewusstsein  in  Ansjirucli  ntliniende  Streben  nach  Glückseligkeit, 
welches  sch<m,  allerdings  auf  einem  ganz  anderen  Wege  als  der 
..natürliclie  •  .Mensch  meint,  befriedigt  worden  ist  im  Gutteskiud- 
schaftsbewiLsstsein. 

Angesichts  der  Erfohjlosisrkeit  einerseits,  welche  das  Glück.-elig- 
keitswolleu  des  Individuuui>  klar  und  d''Utlich  zeig-t,  uml  des  ebenso 
thatsiichlichen  Erfolges  andciciseits.  wcIcIh-u  der  (Tlaul»e  an  Gott 
aufzuweisen  hat  für  das  seinem  Wesen  als  rersünlichkeii  gemälJ  nadi 
(ilückseligkeit  schmachtende  Tndividuuiii.  tritt  im  volh-n  Lichte  die 
^\'ahrheit  ins  iiewusstsein,  dass  <lie  Gnade  (lottes  allein  dem 
Menschen  die  Seligkeit  schaffe  un  1  dass  dieselbi-  auf  keinem 
andern  Wege,  als  auf  demjenigen  der  Offenbarung  fiottes  im 
Menschen,  durch  welche  der  Mensch  sich  als  Kiud  Gottes  weiJJ, 
erlaugt  werde. 

Hiermit  wird  abei-  auch  zuLdeich  eine  Streitfrag^e,  welche  langte 
schon  die  Männer  der  W  is>enschatt  in  unfruchtbaren  Streit  verwickelt 
hat,  erledigt,  die  Streitfrage  nämlich,  ob  es  eine  Sittlichkeit  ohne  den 
göttlichen  Grund,  ohne  die  Keligion.  für  den  Menschen  geben  könne. 
Wenn  es  wahr  ist,  dass  sittliches  A\'ollen  nur  dem  glück- 
seligen Menschen  möglich  sei.  und  wenn  es  walii"  ist,  dass 
der  Mensch  die  Glückseligkeit  nur  aus  dem  Bewusstsein, 
Gottes  Kind  zn  sein,  alleiu  gewinnt,  so  kann  es  sittliches 
Wollen  oder  Sittlichkeit  einzig  und  allein  nur  ireben.  wenn 
des  Menschen  Leben  und  Persönlichkeit  auf  göttlichem 
Grunde  steht,  d.  i.  wenn  er  Religion  hat;  alle  übrige  so- 
genannte religionslose  Sittlichkeit  ist  bei  Licht  besehen  doch 
nur  raftinirter  Egoismus,  d.  i.  Glückseligkeitswollen. 

Für  das  sittli(  he  WoUeu  ergibt  sich  demnach  eine  ganz  andere 
subjectivc  Basis,  als  diejenige,  welche  Hartmann  in  der  Selbst- 
verleugnung aufstellte.  Diese  Basis  ist  die  Glückseligkeil 
des  Menschen;  wahrend  Glückseligkeitswollen  und  sittliches  Wollen 
weder  neben  einander  bestehen,  uoch  ein  und  dasselbe  sein  können, 
ist  in  Wahrheit  glückseliges  Wollen  und  sittliches  Wollen  ein 
und  dasselbe!  indem  in  ersterer  Bezeichnung  (glückseliges  Wollen) 


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der  Zustand,  in  letzterer  (sittlicli<'s  Wollten)  das  Ziel  ein  und  des- 
selben vollenden  Subjects  lierv«>r2"eli(»l»eii  wird.  —  Im  sittlichen  Wollen 
nun  Terleugnet  derMcnsdi  sicli  nicht  überhaupt,  nicht  sich  selbst, 
sofern  er  in  dem  Wollen  Subject  ist  (es  würde  dies,  wie  ich  es 
oben  beiUartmann  nannte,  eine  metaphysische  Selbstverleugnung: 
sein,  die  aber  unmöglich  ist,  wenn  Überhaupt  Wollen  des  Men- 
schen noch  soU  bestehen  können),  sondern  vielmehr  setzt  er  sich 
selbst  und  bringt  seine  wahre  Persönlichkeit  als  Kind  Gottes 
positiv  zum  Ausdruck  in  seinen  sittlichen  Handlungen.  Er  ist 
dabei  als  sittlich  Wollender  sowol  autonom,  denn  sein  Eigenstes 
bringt  er  zur  Geltung,  als  auch  uneigennützig,  denn  sein  auf  sein 
Eigenstes  gehender  Wunsch  nach  Glflckseligkeit  ist  ihm  schon 
vorher  in  seinem  Glauben  aus  göttlicher  Gnade  voll  und 
ganz  erffillt,  also  kann  nun  sein  Wollen  diesen  selben  Wunsch  un- 
möglich noch  im  Auge  haben. 

Immerhin  aber  ist  im  sittlichen  Wollen  stets  Selbstverleug- 
nung, und  zwar  in  dem  Sinne  vorhanden,  als  in  diesem  Act  nicht 
der  Mensch,  insofem  ei*  noch  egoistische  d.  L  gottlose  Neigungen 
hl  sieh  wirksam  weifi,  zur  Geltung  kommt;  wenn  also  der  sittlich 
Wollende  auch  „sich  selbst**  verleugnet  zu  gleicher  Zeit,  wo  er  „sich 
selbst"  zur  Geltung  bringt,  so  beruht  dieses  scheinbare  Paradoxon 
auf  dem  Umstände,  dass  das  menschliche  Individuum  noch  nicht 
voll  und  ganz  in  seine  walire  Kxistenz  eiu«i:etaucht  ist,  so  dass  der 
,.geistige"  3Iensch  nocli  stets  den  „natürlichen"  Mensdien,  welclier  in 
jener  etwa  empfangenen  Glückseligkeit  des  Kindes  Gottes  sicli  noch 
nicht  mit  seinem  ursprünglichen  Glückseligkeitsstreben  abgethan 
weili,  als  A\'iderpart  neben  sich  hat.  Insofern  ist  das  sittliche  Wollen 
nicht  nur  eine  praktische  Darstellung  dt^s  (4otteskindschafts- 
bewusstseins.  sondern  zugleich  ein  Kuini»!  mit  dem  ,.lSelbst**, 
d.i.  mit  denjenigen  PL''oistiscln*n  Xei<>ungen.  welclu'  der  Entfal- 
tung des  wahren  Gelüst,  der  wählen  Persönlichkeit  noch  entgegeu- 
blehen. 

In  diesem  Kampfe  unterstützt  nun  der  Eigenlust -Pessimisni us, 
d.  i.  die  auf  eigene  I-^rfahrung  gejrründete  Erkenntnis  vom  täuschenden 
fSchein  jener  egoistischen  Neifunj^en.  die  sittliche,  im  Wollen  sich  zur 
Darstellung  bringende  Persiinliclikeit.  Diesei-  Einfluss  des  Pessi- 
mismus ist  aber  natürlich  nur  dann  möglich,  wenn  auch  der  ethische 
Optimismus  das  Kewusstsein  des  Wollenden  erfüllt,  tl  i.  wenn  der 
Wollende  schon  vorher  durch  seinen  Glauben  Glückseligkeit  empfangen 
hat  und  in  ihr  stehend  frei  das  Sittliche  thut 


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—   752  — 

So  ist  in  der  Tliat  das  Leben  des  durch  den  Glauben  mit  der 
nutliwondi^^^en  Sittliclikeitsbasis,  der  Glückseligkeit,  ans- 
geriisteteu  ^fensclien  allerdings  nicht  ein  absolut  seliges  Leben, 
sowol  in  der  Hinsicht,  dass  nicht  immer  das  sittliche  Wollen  in 
seinem  Leben  sich  zeigt,  als  auch  in  der  anderen,  dass  nicht  absolute 
Glückseligkeit  ihn  erfüllt.  Die  egoistischen  Neigungen  wollen  sidi 
eben  mit  ihrem  Streben,  selbst  den  Kern  der  Pei*sönlichkeit  im  Indi- 
Andnnm  zu  bilden,  nicht  zur  Ruhe  geben,  und  erfüllen,  so  oft  das 
Individuum  in  dem  ihnen  gemäßen  Glückseligkeitswollen  praktisch 
wii'd,  den  ^lenschen  daher  mit  dem  Be^MlS8t8ein,  die  Glückseligkeit 
nicht  zn  haben,  also  nicht  schon  glückselig  zu  sein. 

So  stellt  sich  denn  das  egoistische  Grundbewnsstsein,  nicht 
glückselig  zu  sein,  dem  sittlichen  Grundbewnsstsein,  glück- 
selig zu  sein,  stets  im  Menschen  zur  Seite,  und  daher  gilt  es  ftr 
diesen,  dem  ersteien  Bewusstsein  gegenüber  Imiaer  eng^  an  Gott 
sich  anzuschließen  und  die  wahre  Persönlichkeit  durch  die  Be- 
lebung des  Eindschaftsbewusstseins  immer  siegreicher  in  sich  zir 
Entfiiltung  zu  bringen,  so  dass  das  sich  einstellende  Glfickseligkeits- 
bewusstsein  stets  „Überschüsse  gegenüber  dem  anderen  auNreise 
und  infolge  dessen  der  Mensch  auf  Basis  dieser  seiner  Glück- 
seligkeit immer  mehr  Baum  gewinne  zum  sittlichen  Wollen, 
und  zugleich  dem  egoistischen  Wollen  der  Platz  immer  mehr 
verkleinert  werde.  Das  absolut  selige  Leben  aber,  das  stets 
sittliche  Wollen  kann,  so  lang  der  Mensch  den  Egoismus  nicht  ganz 
ertodtet  hnt,  nicht  Torhanden  sein.  Wäre  dasselbe  einmal  wirtiidi 
da,  so  würde  jenes  negative  Moment,  die  Selbstverleugnung, 
ihm  fehlen,  was,  obwol  dies  etwa  denkbar  ist,  doch,  so  lange  der 
Mensch  die  jetzigen  Lebensbedingungen  an  sidi  trä^,  nicht  sn 
realisiren  ist.  Für  den  sittlichen  Menschen  auf  dieser  Welt  Weiht 
daher  stets  das  Leben  ein  Kampf,  aber  dieser  ist  der  freudige 
Kampf  eines  in  <Tott  seligen  Menschen,  der  sich  und  sein  eigenstes 
Sein  untrüirlich  in  der  Gotteskindscluift  gefunden  hat.  Das  sittliche 
Wollen  des  glückseligen  Menschen  in  dit'scui  Leben  wird  des- 
halb auch  stets  die  Selbstverleugnung  als  ihr  negatives 
Moment,  das  sich  getreu  die  egoistischen  Neigungen  kehrt,  in  sich 
tragen  ninl  neben  dem  ethischen  Optimismus  also  den  Eigen- 
lust-re>si  Uli  Sinus  in  seiner  vollen  Berechtigung  und  Wahr- 
heit zu  Grunde  lit-Lieu  haben. 

\\'enn  man  alier  die  Sittlichkeit  mit  der  Selbstverleugnung  be- 
ginnen lässt,  und  diese  dalier  als  die  Basis  der  Sittlichkeit  hin- 


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stellt,  so  heifit  dies  die  Sache  auf  den  Kopf  stellen  und  beim  Ende 
anfangen;  Selbstverleugnung  predigen,  ohne  vorher  im  Menschen 
das  Gottesbewusstsein  gepflanzt  zu  haben,  heißt  in  den  Wind 
hineinpredigen,  weil  ja  für  die  Selbstverleugnung  jeglicher  Anhalt  und 
jeglicher  Anknüpfungspunkt  im  gottlosen,  d.  1  egoistischen  Menschen 
fehlt,  der  es  gar  nicht  verstehen  kann,  aus  welchem  Grunde  er  seine 
egoistischen  Neigungen,  die  ihm  ja  die  Erreichung  der  Glückseligkeit 
so  schon  vorspiegeln,  ertödten  solle. 

Damit  die  Selbstverleugnung,  d.  i.  also  nun,  genauer  ausgedrückt, 
die  Abweisung  der  egoistischen  Neigungen  für  das  Wollen 
des  Mensöhen,  geschehen  kdnne,  muss  dem  sittlich  wollenden  Snbject 
nothwendig  ein  Äquivalent  der  dem  Egoisten  vorschwebenden  Glück- 
seligkeitshofihungen  gegeben  sein,  ohne  welches  der  Mensch  nun  und 
nimmer  als  frei  thätiges  Geschöpf  sich  von  seinen  egoistischen 
Neigungen  befreien  könnte.  Das  Glückseligkeitsbewusstsein 
muss  die  Glückseligkeitshoffnung  verdrängen,  wenn  Selbstverleug- 
nung da  sein  soll.  Es  ist  aber  nur  ein  einziger  Weg  möglich,  auf 
welchem  diese  subjective  Bedingung  der  Selbstverleugnung,  d.  i.  also 
auch  der  Sittlichkeit  (deren  eines  Moment  ja  die  Selbstverleugnung  ist) 
zu  erlangen  ist^  nämlich  derjenige,  welcher  absieht  von  dem  mensch- 
lichen Thun  und  im  Ghiuben  durch  Gottes  Offenbarung  die 
Glückseligkeit,  auf  Grund  welcher  dann  das  sittliche  Wollen 
des  Menschen  sich  erhebt,  herbeiführt 

Der  im  Gottesglauben,  d.  L  in  der  Religion  gegebene  Weg  ist  in 
Wirklichkeit  der  einzige,  um  den  nothwendigen  Boden  für  die  Selbst- 
verleugnung, d.  i  überhaupt  für  die  Sittlichkeit  des  Menschen  zu  ge- 
winnen. Zu  einer  Selbstverleugnung  wird  daher  der  Mensch 
nie  gelangen,  wenn  er  nicht  schon  glückselig  ist,  es  sei  denn 
za  jener,  nicht  sittlichen,  sondern  selbstsüchtigen  Selbstverleugnung, 
dem  Selbstmord.  Es  ist  ersichtlich,  dass  in  dem  Fall,  wo  ein  Weg 
eingeschlagen  würde,  auf  welchem  nur  eine  Glückseligkeitshoffnung 
durch  eine  andere  Glückseligkeitshoffnung  abgelöst  würde,  das 
Gliickseligkeitswollen  des  Menschen  damit  nicht  aufhören,  also 
von  einer  Selbstverleugnung  nicht  die  Bede  sein  könnte:  in  Wahr- 
heit wüi'de  dann  eben  nur  eine  Form  des  Egoismus  die  andere  ab- 
lösen und  die  Möglichkeit  sittlichen  Wollens  wäie  keineswegs 
gegeben. 

Den  anderen  freilich  denkbaren  Weg  aber,  auf  weldiem  die 
Glückseligkeitshoffnung  durch  den  Verzicht  auf  Gliickseliirkeit  im 
wollenden  Menschen  ersetzt  werden  soll,  muss  ich  für  ebenso  uu- 

Pcdagogium.   4.  Jabrg.  Heft  XU.  48 


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-   754  — 


tauglic]i  lialTeu,  das  sittliclie  Wollen  zu  enmto'liclien,  wie  den  .so- 
eben g-enanuteii  der  Auswechslung  eines  vielleicht  etwas  rohen  Egoisums 
durch  einen  raffinirteren  Egoismus;  absoluter  Verzicht  aut  Glück- 
seligkeit führt  nämlich  mit  absolntei  Not  h  wendigkeit  zur 
Ve i/Av<'it'lnng,  zur  Verneinung  der  Personlirlikeit,  vernichtet 
also  jegliches  Wollen  und  somit  auch  das  sittliche  Wollen.  T'n eigen- 
nützig wollen  kann  der  Mensch  einzig  dann,  w^enn  er  sich  selbst 
als  eigene  Persönlichkeit  schon  besitzt;  fehlt  ihm  diese,  so  strebt 
er  naturgemäß,  sie  zu  irewinnen,  hat  er  sie,  so  ist  er  glückselig 
und  kauu  uueigeuuützig  sein. 

Verzicht  auf  Griückseligkeit  ist  demnach  Verzicht  auf  die 
eigene  Persönlichkeit,  nnd  das  Individuum,  welches  sich  seinei* 
Persönlichkeit  begibt,  kann  nicht  ein  wollender,  d.  i.  ein  autonom 
tiifttiger  Keusch  sein.  Die  Handlungen  eines  auf  seine  Persönlichkeit 
Verzicht  leistenden  Individuums  können  wol  in  gewissem  Sinne  ^wor 
eigennützige''  genannt  werden,  ja  sie  werden  dies  sogar  stets  sein, 
insofern  ein  solcher  Mensch  in  seine  Thätigkdt  ja  niemals  Eigenes 
(weil  er  sich  des  Eigenen  ja  flberhaupt  begeben  hat)  hineinlegen  kann. 
Aber  diese  IJneigennfitägkdt  ist  eine  ganz  andere  als  diejenige  der 
sittlich  handelnden  Persönlichkeit,  welche  letztere  ja  eben 
gerade  ihr  Eigenstes,  nSmlich  den  in  ihr  als  eigener  TVille  leben- 
dig sich  entfaltenden  (TotteswiDen  in  die  Handlungen  hineinlegt»  indes 
zugleich  auch  uneigennfttzig  ist,  insofern  die  Handlungen  nicht  die 
Glückseligkeit  des  thätigen  Individuums  zum  Zweck  haben:  hat  doch 
der  sittlich  wollende  Mensch  schon  die  Gl&ckseügkeit  vorher  aus 
Gottes  Hand  empilHigen. 

Man  mag  nun  den  Menschen  und  seine  autonome  Tliütigkeit  an- 
sehen, wie  man  will,  stets  wird  man  nur  zwei  ('lassen  der  aut(»nonien 
Willeusacte  des  MenNchen  antretteu,  das  (ji lückseligkeitswollen 
des  egoistischen  Menschen  und  das  glückselige  Wollen  de» 
iii  Gott  wahrhaft  aich  selbst  findenden  Menschen. 

Was  man  in  der  wahren  Sittli<'hkeit  „freiwilligen  Verzicht  auf 
Glückseligkeit"  nennt,  das  ist  Ijei  Licht  besehen  da,  wo  dieser  Ver- 
zicht nämlich  im  sittlichen  Wollen  auftritt,  ein  Verzicht  des  Men- 
schen auf  etwas,  was  ihm  als  natürlichem  Menschen  wol  Gifickseligkeit 
zu  bieten  schien,  aber  als  sittlichem  Menschen  ein  leerer  Schein  ist; 
wie  der  Eigenlust -Pessimismus  es  auch  bezeugt.  Diese  Erkenntnis 
Tom  leeren  Schein  des  (riückseligkeitswollens  ist  dem  Menschen  dank 
eine  unerschtttterliche,  weil  sie  sich  sicher  grftndet  auf  die  EsMatag 


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—   7ÖÖ  — 


der  aus  dem  GüiteskiutUciiaftsbewttöStsem  (iueUendeu  wii-klicheii  Ulück- 
seligkeit. 

Ich  habe  selion  orwälint,  das«  selbst  Hartniaiin,  welolier  die  Mög- 
lichkeit eiues  Wollens,  einer  freien  Thäti^keit,  bei  Verzicht  auf 
alle  CTlückseligkeit  behauptet,  in  seiner  vSittenlehi-e  von  dieser  He- 
hauptuug  abzugehen  scheint,  wenn  er  von  der  freudigen  Mitwirkung 
an  der  Erlösung  des  Absoluten  seitens  des  Mensehen  spiicht.  Solche 
Freude  denkt  er  sich  uändich  auch  entsprossen  aus  dem  Bewusstsein 
der  Solidarität  des  Indi^^duums  mit  dem  Absoluten:  ist  aber  diese 
„Solidarität"  nicht  ein  freilich  blasser  Abklatsch  der  Gotteskindschaft 
des  Christenthums,  und  die  „Freude"  niclit  ein  verschobenes  Spiegel- 
bild der  christlichen  ,,Freude  im  lieilicren  Geist"? 

Hartniann  kann,  um  ein  uneif;enniltziges  autonomes  Handehi 
zu  <:e\viunen,  nicht  mnliin,  einen  „Weltfrieden"  und  eine  ,.Freude"  in 
das  Bewusstsein  des  sittlichen  Menschen  aufzunehmen,  wodurch  auch 
er  zu  erkennen  gibt,  dass  Wollen  und  Glückseligkeit  nicht  ohne 
einander  gedacht  werden  können,  und  dass  sittliches  WoUeu  als 
Basis  eben  die  Glückseligkeit  verlangt. 

Untersuche  man  aber  nui-  alle  erdenkbaren  Fälle  menschlicher 
Handlungen,  in  welchen  wirklich  absoluter  Verzicht  auf  Glück- 
seligkeit geleistet  ist,  so  wird  man  alle  diese  Handlungen  in  drei  Ab- 
theilongen  unterbringen  können,  die  da  heißen:  1.  Selbstmord,  2.  ge- 
zwungene Handlungen,  also  Solleu,  nicht  Wollen,  und  3.  Handlungen, 
w^elehe  in  Wirklichkeit  nur  den  Verziclit  auf  eine  Eigenlust- 
Giückseligkeit  mit  sich  fiüiren,  während  der  Handelnde  selbst  als  sol- 
«hei'doch  wahrhaftig  glücksei  ig.  und  somit  ein  sittlich  wollender  ist. 

Glückseligkeit  also  hat  der  Mensch,  wehdier  sich  seinem  Gott 
aufgeschlossen,  welchem  sich  Gott  offenbart,  und  welcher  sich  selbst 
damit  als  Kind  Gottes  in  seiner  wahren,  vollen  Persönlichkeit 
gefunden  hat.  Als  glückseliger  allein  kann  der  Mensch,  und  als 
Kind  Gottes  wird  er  sittlich  wollen,  seine  Glückseligkeit  gibt 
ihm  die  einzig  ausreichende  Basis,  seine  Gotteskindschaft 
den  einzig  ausreichenden  Inhalt  seines  sittlichen  Wollens, 
seiner  Sittlichkeit. 

Die  Selbstverlengnung  aber  ist  nicht  die  Basis  der  Sittlich- 
keit, sondern  stets  das  negative  Moment  der  Sittlichkeit  selbst,  und 
der  Pessimismus  kann  daher  auch  nicht  die  Basis  der  Sittenlehre 
sein;  er  ist  indes  ein  secund&res,  jedoch  ajigesiehts  der  Eigenthüm- 
lichkeit  der  menschlichen  Natur  nothwendiges  Moment  für  die  leben- 
dige Wirksamkeit  der  Sittenlehre  im  Leben  des  Individanms. 

  48* 


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—   756  — 

Die  Lehre  des  Pessiniisiiius  verdient  es,  in  ilirur  wii'klichen  Be- 
deutuni^  für  die  Sittlichkeit  heranssrestellt  zu  werden,  ohue  dass  da- 
mit etwa  den  Bestrebungen  derjenig^en,  welciie  eine  pessiiuistisclie 
Sittenlelire  construirt  habt  n,  Beifall  <rezollt  werden  raüsste.  Ich  we- 
nigstens fühle  niieli  veri)tiichtet,  zu  jürestehen,  dass  icli  von  dem  Geirnei-, 
wt'lcht'r  den  absohiten  Pessimismus  vei-kiindete  und  mit  demselben  in 
das  (^t^bif  t  des  sittliclien  liineiuleuchtete,  gar  Vieles  gelernt  und  über 
Vieles  klarer  geworden  bin. 

Ks  ist  vor  Allem  nidit  zu  leugnen,  dass  Hartmann  sowol  in  seiner 
riiaeuomenologie  des  sittlichen  Bewusstseins,  als  auch  in  seinen  andern, 
dem  Pessimismus  jrewiduieten  Schriften  nidit  nur  den  sogenaimten  tri- 
vialen Optimismus,  sondern  aucli  den  ethischen  und  religiösen  Opti- 
mismus in  dessen  Veilretern  so  energisch  gestellt  liat.  dass  wo]  viel- 
fach dadurch  die  denkende  Menschheit  aus  einem  jahrhundeiiehuiüen 
ITalbschlummer  erweckt  worden  ist.  l>em  absoluten  Optimismus  stellte 
iiartiiianu  seinen  absoluieu  Pessimismus  entgegen,  und  ich  habe  von 
Anfang  an  diese  energische  und  tiefgreifende  Opposition  mit  Freuden 
begrüüt.  M-eil  ein  Oewitter.  und  sei  es  selbst  nur  vott  einem  Menschen 
verursacht,  stets  reinigend  und  aufklärend  wirkt. 

Man  kann  in  gewissem  Sinne  behaui)ten,  dass  Hartmann,  insoweit 
er  den  von  ihm  gestellten  fiegner  in  dessen  Position  angreift  und  zu 
vernichten  bestrebt  ist.  auf  der  ganzen  Linie  seine  Absicht  erreicht 
hat,  dass  er  nicht  nur  den  tri\iaJen  Optimismus  ii  Kiürenlust-Optimismus), 
sondern  aucli  den  ethischen  und  religiösen  Optimisnms,  wenigstens  so 
wie  er  denselben  versteht  tnui  als  Gegnei'  vor  sifih  aieht,  in  ihrer 
ganzen  Haltlosigkeit  aufgedeckt  hat. 

Der  Grund,  dass  bisher  Hartmann  und  tlie  Vertheidiger  des 
ethisch- religiösen  Optimismus,  vorausgesetzt  dass  die  letzteren  sich 
nicht  eigensinnig-blind  zeigten  gegen  Hartmanns  Ai*gumentatiouen,  in 
der  P(demik  an  einander  vorbeigefahren  sind,  ist  in  dei*  Zweideutig- 
keit des  Wortes  „ethischer,  religiöser  Optimismus"  zu  suchen. 
In  diesem  ^^'ort  nämlich  kaun  die  Behauptung  ausgedrückt  liegen, 
dass  der  Sittliche  od^*  Keligiose  als  Glückseliger  lebe.  d.  i.  sittlich 
wolle,  und  es  kann  auch  in  demselben  die  andere  Behaaptung  liegen, 
dass  der  .sittlich"  Wollende  durch  dieses  sein  Wollen  snr  Glück- 
seligkeit erst  gelangen  werde. 

Wenn  mau  die  letztere  Bedeutung  des  ,.ethischen"  Optimismus 
ins  Auge  fasst,  so  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  dann  die  Hart- 
mannsche  Behauptung,  derselbe  sei  eine  Illusion,  wahi*  ist  Wir  sehen 
jetzt  aber,  wie  ich  meine,  tiefer  dieser  lUnsion  auf  den  Grund«  als  es 


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—  767  — 


liarlinaun  seli)st  thut;  denn  wir  haben  erkannt,  dass  ein  wirklich 
sittliches  Wollen  überhaupt  nur  auf  der  Basis  der  (iliickseligkeit  niög-- 
lich  ist,  dass  daher  derjenige,  welcher  augeblich  dnrch  ..sittliches" 
Wollen  die  (xliickseligkeit  erstrebt,  nicht  sittliches,  sondern  egoisti- 
sches d.  i.  Gl ückseligkcits wollen  zeigt,  dass  also  sein  Fiasco  nicht 
etwa  auf  sein  ..sittliches"  Wollen,  sondern  eben  aufsein  egoistisches 
Wollen  zurückzulTdiren  und  sein  angeblicher  ethischer  Optimis- 
mus nichts  anderes  als  trivialer,  d.  i.  Eigenlust-Optimisnius 
ist,  der  natürlich  vor  der  Wahrheit  des  Eigealust-Pessimis- 
Ollis  in  Nichts  verrinnen  mnss. 

Was  aber  den  religiösen  Optimismus  betrifft,  welchen  Hartinaim 
vom  ethischen  Optimismus  trennt,  so  tritt  in  Uartmanns  AiiifassnDg 
des  reUgiösen  Optimtsmns  die  interessante  Thatsache  hervor,  dass  er 
beide  von  mir  soeben  angefährtea  Bedeutungen  des  Wortes  religiöser 
Optimismus"  ineinander  mengt;  er  schreibt:  ,,Die  Thatsache  ist  un- 
bestr^bar,  dass  eine  Anzahl  von  Menschen  anf  Grund  eines  irgend- 
wie gearteten  religiösen  Bevnsstseins**  (Optimiamns:  der  Seli- 
giOse  ist  als  solcher  glftdcselig  und  handelt  als  Glflckseliger)  „einer 
gleichsam  ikberirdischen  Freudigkeit  sich  rühmen  konnten,  deren  6e- 
noss  sie  für  alle  irdisehe  Noth,  Drangsal  und  Phigen  mehr  als  ent- 
schädigte. Da  ist  es  denn  kein  Wunder,  dass  die  iTheologie  sich  den 
Hinweis  anf  die  Glftokseligkeit  jucht  entgehen  lässt,  nm  einerseits 
das  individnnm  znm  Glaoben  an  Dogmen  an&ofordem,  wekhe  solche 
Frenden  zu  vei'schafiiBn  im  Stande  sind,  und  andererseits  die  Welt  als 
ein  Paradies  zn  rfthmen,  in  welcher  nur  alle  Menschen  dieser  Anf- 
fordening  nachzukommen  brauchen,  damit  eitel  Freude  und  Seligkeit 
heiTsche.  Sieht  man  sich  aber  diesen  religiösen  Optimismus  („Selig- 
sein in  der  Hoffnung")  etwas  genauer  an,  so  zerfliefit  derselbe  \ne 
die  Farbenpracht  der  Seeqnelle  auf  dem  Strande,  und  die  Faden- 
scheinigkeit des  Prachtgewandes,  mit  welchem  der  seligkeitslüsterne 
Egoismus"  (Optimismus:  der  Religiöse  gewinnt  durch  sein  Wollen 
die  Seligkeit)  „in  majorem  dei  gloriam  zur  Kröniniigkeit  geködert 
werden  soll,  zeigt  im  Sonnenschein  eines  klaren  Denkens  seine  ganze 
Blöße"  CPhaen.  d.  sirtl.  Bew.,  S.  854). 

Wenn  man  sich  dnrch  die  etwas  seemännisch -rohe  Behandlung 
dieser  Frage  in  seinem  ruhigen  ürtheil  nicht  stro-en  lässt,  so  niu>s 
mau  gestehen,  dass  Hartniann  denjenigen  religitiscn  (>i>tiinisimis,  wel- 
cher aus  dem  Wollen  des  ..  Kfliirirtsen"  erst  die  (iluekseligkeir  folireu 
lässt^  in  seiner  Blöüe.  und  Kadcnscheinigkeit  richtig  erkannt  hat:  der- 
selbe üaitmann  aber  anerkennt  doch  auch  zugleich  das  Nichtige, 


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—   758  — 


da«8  nämlich  das  reli^öse  Bcwnsstsein  als  solches  wahre  Glück- 
seligkeit, „Lustüberschuss'*  biete. 

Es  ist  Wahrheit,  dass  derjenige  Menscli,  welcher  den  Glauben  an 
Gott  als  eine  Art  Wollen,  eine  Art  Selbstarlieit,  welche  als  ihr 
eigenes  Resultat  die  Gliickscliprkeit  nach  sich  ziehen  werde,  auf-  ' 
l'asst,  keinesweirs  zur  Glückseligkeit  gelangt,  so  dass  also  dessen 
„religiöser  Optimismus"  allerdings  eine  Illusion  ist.  Dieser  sogenannte 
„Religiöse",  welcher  durch  sein  Wollen  die  Glückseligkeit  er- 
strebt, bethätiirt  eben,  weil  er  angesichts  dieses  seines  Wollens  die 
Gliickselig-keit  uli'enbar  noch  nicht  hat,  nur  die  Wahrheit,  dass  er 
auch  noch  keine  Religion  hat,  dass  er  noch  nicht  religiös  ist. 

Die  Lehre  des  Pessimismus  brinjrt  also  die  Einsicht  zum  klai'en 
Bewusstsein,  dass  aller  Optimismus,  welcher  die  Behauptung  ver- 
tritt, der  Menscli  ktinue,  sei  es  durch  welches  Wollen  immer,  die 
Gliickseliüfkeit  durch  dieses  sein  Wollen  erlangen,  in  Wirk- 
lichkeit haltlos  ist.  Wo  aus  dem  Lehen,  d.  i.  aus  der  freien  Be- 
thätigung  des  ^Menschen  als  Persönlichkeit,  erst  die  Gliickseligkeit  als 
Folge  erhotlt  wird,  da  ist  der  Mensch  stets  auf  einer  falschen,  näm- 
lich auf  der  egoistischen  Fährte  begritfen;  der  Sittliche  oder  Rf^ligfiöse 
ist  schon  glückselig  in  sich  und  stellt  in  Hetretl  der  Gliickselig- 
keit  nicht  auf  sein  Wollen  Ist  daher  in  einem  Menschen  sein 
Glaube  das  Leben  und  Wollen  selbst,  so  ist  er  noch  niciit  Kind 
Gottes,  also  iuich  nicht  glückselig,  denn  dem  Glück.^eligen  ist  der 
Gottes -Glaube  die  Basis  seines  Lebens,  und  die  Glückseligkeil  die 
Basis  seines  sittlichen  Wollens;  seinen  Lebenszweck  aber  erkennt 
derselbe  hi  der  Bethätigung  seiner  Persönlichkeit  als  Gottes- 
kindes, seine  Sittlichkeit  ist  das  in  ihm  Fleisch  gewordene 
Wüllen  des  Gr)ttlichen. 

Wie  ich  nun  dem  Pessimisten  Hart  mann  unumwunden  zugestehe 
dass  der  ethische  und  religiöse  Optimismus,  sofern  dieser  die  Glück- 
seligkeit als  Folge  des  sittlichen  Wollens  behauptet,  eine  Illusion 
sei.  und  zwar  dies  aus  dem  Grunde  schon  zugestehen  muss.  weil  m>er- 
liaupt  ein  sittliches  Leben  ohne  die  l^asis  der  Glückseligkeit  uu- 
m(>glich.  daher,  wo  diese  fehlt,  die  Sittlichkeit,  welclie  angeblich  die 
Glückseligkeit  zur  Folge  haben  soll,  selbst  überhaupt  gar  nicht 
möglich  ist,  —  so  behaupte  ich  andererseits  gegen  den  absoluten 
Pessimismus  die  Wahrheit  desjenigen  Optimismus,  den  man  den 
ethischen  nennen  kann,  wenn  man  den  wollenden  Menschen,  und 
den  man  den  religiösen  Optimismus  nennen  kann,  wenn  man  den 
wollenden  Menschen  als  Gott-G^iäubigen  speciell  ins  Auge  fiisst. 


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—   759  — 


Wahl*  ist  also  derjenige  ethische  (religiöse)  Optunismiis,  welcher  be- 
Imuptet,  dass  der  Mensch  als  sittlich  Wollender  die  Glückseligkeit 
schon  besitze  und  als  Religiöser  dieselbe  von  (-iott  vorher  empfangen 
habe,  so  dass  derselbe  trotz  aller  natürlichen  Loiilen  und  alles  schmerz- 
lichen Kampfes  mit  den  egoLstischen  Neigungen  in  seiner  Gottselig- 
keit den  zum  sittlichen  Wollen  nöthigeu  „Lustüberschuss", 
die  G iiickseligkeit  besitzt. 

Außer  dem  Gottesbewusstsein  gibt  es  tiir  den  Meusclien 
keine  (^uelh'  der  Glückseligkeit;  vor  Allem  aber  ist  eine  solche 
nicht  das  menschliche  Wollen:  dies  ist  die  tiefe  Wahrheit,  welche 
Paulus  in  seinem  Worte  niedergelegt  hat,  dass  der  Mensch  gerecht, 
d.  i.  glückselig  werde  nicht  durch  des  Gesetzes  Werke,  sondern  durch 
den  Glauben  aus  gfittlicher  Gnade.  Weil  aber  der  Gottes-Glaube  allein 
die  Glückseligkeit  gibt  und  ohne  Glückseligkeit  sittliches  Wollen 
unmöglich  ist,  so  Ist  Sittlichkeit  ohne  Gottesglauben  undenkbar  und 
eine  lialtbare  Sittenlelire  ohne  Gott  nicht  za  construiren. 

An  dem  Mangel  des  göttlicheii  Grundes  scheiterten  die  pes- 
gimistischen  Versuche  einer  Sittenlehre,  welche  Buddha  und  Schopen- 
hauer angestellt  haben,  und  Hartmann  hat,  wenn  er  wirklich  eine 
Sittenlehre  construiren  kioiite,  dies  nur  dem  Umstand  seines  Systems 
zu  yerdanken,  dass  er  vor  jenen  seinen  pessimistischen  Qesinnungs- 
graossen  den  Vonsug  einer  Gotteslehre  in  seinem  Dogma  vom  Un- 
hewussten  besitzt 

Das  Einlenken  in  das  Ftindp  christlicher  Sittenlehre  wurde 
Hartanann  durch  die  Annahme  von  der  Unseligkeit  Gottes  verwehrt, 
efaie  Annahme,  die  es  ehen  verschuldet,  dass  er,  ohwol  er  in  jenem 
oben  dtirten  «frendigen**  Mitwirken  des  Heaschen  am  Weltprocess 
doch  schon  seine  eigentliche  Bahn  verlässt,  die  fanatische  Perhor- 
rescirung  der  menschlichen  Glückseligkeit  sich  zum  Gesetz 
macht  Dies  bringt  es  auch  mit  sich,  dass  er  in  dem  so  echten  und 
nothwendigen  menschlichen  Bedflifhis  nach  Glückseligkeit  schon  von 
vonieherein  den  „seligkeitslOsteiiien  Egoismus**  sieht,  wfihrend  doch 
dieser  letztere  nur  da  auftritt,  wo  der  Mensch  durch  eigenes  Wollen 
die  Glückseligkeit  erst  zu  gewinnen  strebt  Daraus  erklärt  es 
sieh  auch  ferner,  dass  dieser  Ihnatisehe  Glttckseligkeitswttrger  die  so 
echt  menschliche  und  nothwendige  sittliche  Selbstverleugnung, 
welche  das  hohe  Gegenstück  der  im  Selbstmord  zu  Tage  tretenden 
egoistischen  Selbstvei'leugnuiig  ist,  in  siiucr  Siitenlelu-e  zur  un- 
menschlichen und  dalier  unmöglichen  metaphysischen  Selbst- 
verleugnung steigeiu  zu  müssen  glaubt. 


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—   760  — 


Wenn  Jlariiuaini  dien'  inetaidiysisclie  Selbst verleiig'iumg"  einen 
,. ui'lialteiieu"  Staiidi>iiuki  iieuiit.  au  iluiii  f^ewülmliclie  Stt'rbliclie  niclit 
riiliren  solk'ii,  so  inuss  ich  ihm  in  gvwissH'  Biizieliiiny  •lai'in  Kfcht 
gt'lx'ii,  (h-iin  (lirstT  StaiKlpunkt  ist  so  ..erhabpir',  tlass  er  dem  nu'usch- 
liclu'ii  Streben  in  (b-r  That  nicht  eri-eichbar  ist,  also  mit  J\epht 
ein  unmi'nsrhliclier  genannt  zu  werden  veidient.  Nicht  tür  .Afen- 
sclien  i>t  die.se  Hartmannsche  Sittenielire  zuuesclinitten.  sondern  für 
Unmenschen,  für  sn]rln'  Wesen,  dit-,  wie  Harimaim  seine  ,,Sitt- 
lichen*'  ja  seli)st  bezeichnet,  „von  Nektar  und  Ambrosia  leben". 

Wir  ^Menschen,  wenn  wii-  anders  sittlich,  d.  i.  autonom  und 
uneigennützig-  Wollende  sein  sollen,  können  unstrer  sittlichen 
rersfiulichkeit .  des  He  wusst  se  ins,  Kinder  Oiotles  zu  sein,  also 
d(^r  ( J lückselig-keit.  nun  einmal  nicht  entliehren,  kr>nnen  uns 
daher  auch  in  unserem  wahren  Wesen  als  Kinder  Gottes 
nicht  zuerst  verleugnen,  ktinnen  auf  unsere  < ;  Uu  kseligkeit 
nicht  zuerst  völlig"  A'erzicht  leisten  und  aut  eimnd  diesei" 
Verleugnung  und  dieses  Verzichts  dann,  wie  Hartmann 
träumt,  sittlich  w(»llen. 

Auf  einem  anderen  Sterne  nnigen  vielleicht  die  für  die  Sittenlehre 
des  Hartmanuschen  Pessinii.smus  g-eei^neten  M'esen  getünden  weiden, 
wir  Menschen  können  unserem  eigensten,  wahrsten  \\  e>en  gemäÜ 
ihr  nicht  genüg:en.  Der  Mensch  als  Kiud  Gottes  kann  eben  nicht 
uuglückseliii  sein,  denn  in  der  Kind  schaff  selbst  lieg:t  die  Glück- 
seligkeit, und  nur  als  Kiud  Gottes  kann  der  Menscli  sittlich 
wollen,  denn  auch  nur  als  solches  ist  er  sich  seines  wahren 
Lebenszwecks  bewusst.'^) 


Die  Untersuchung'  ist  zu  Ende  geführt,  was  ich  in  ihr  geleistet 
zu  haben  meine,  fasse  ich  in  folgenden  Punkten  zusammen: 


*)  Man  pflegrt  oft  die  Religion  die  Wuizel  der  Sittlichkeit  zu  nennen,  es  ist 

dies  ein  Wert,  das,  v.  rkehrt  rerstanden,  vielfach  dazu  beigetragen  hnr.  relig-iöses 
und  .sittliche-;  Lel)eu  als  zwei  j^esonderte,  nnr  mit  einander  mn  Men>:i  lien  willkürlich 
verbundene,  antV.ufasseu;  wenn  aber  unter  ..Ri'lifrion"  das  lebendige  (inttr.^lnnvussi- 
seiu,  der  lebendige  Gottcsglaube  zu  vei-steheu  li.st  und  unter  Sittüchkcit  ein  freies 
Wollen  des  Menschen,  so  trfigt  jener  Sats  Tolle  Wahrheit  in  nch:  die  Religion  ist 
in  der  That  die  Wnnel  der  Sittlichkeit,  ^e  die  allein  ans  der  Religion  dem  MeudiMi 
zukommende  Glttckseligkeit  die  nothwendige  religiase  Basis  der  Sittlich- 
keit ist 


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—   761  — 


1.  Der  Pessimismus  ist  iiiitaimlicli.  die  Basis  einer  Sittenlflii-e  zu 
l)il(len.  Wjir  es  dem  Hartniannsrlu'n  Pfssiinisinus  scheinbar  doi-li  ge- 
lungen.  wenigstens  positive  Autsteliungen  für  eine  Sittlichkeit  zu 
bieten,  so  lag  der  (4ruml  darin,  dass  in  Wii-klichkeit  das  Absolute, 
niolit  aber  speeiidl  der  Pessimismus  desselben,  die  Basis  war,  aber 
allerdings  die  Basis  einer  Sittenlehre,  die  auf  ünmeuscheu  zu- 
gescknitten  ist. 

IL  Den  Eiuculust-Pessiniisuiiis.  welclier  Walirlieit  ist,  hat  die 
Sitt^iiileiire  als  das  wiiksame  i)r(»phylaktis(  he  Mittel  gegen  den  Egois- 
mus in  ausdrückliclier  \\'eise  mit  in  «icli  autzunehmen. 

HI.  Glückseligkeit  und  Wollen  sind  unzertrennliche  Genossen. 
Im  egoistischen  Wollen  ist  die  Glückst  Iii; keit  stets  das  Ziel,  im  sitt- 
lichen Wollen  ist  sie  stets  die  Basis  des  Wollens,  in  jenem  fehlt  dem 
Wollenden  die  Glückseligkeit,  in  diesem  aber  besitzt  er  sie.  Ohne 
Glückseligkeit  zu  besitzen,  ist  dem  Menschen  sittliches  Wollen  immöglich. 

IV.  Ohne  ethischen  Optimismus  gibt  es  keine  Sittenlehre  für  den 
Menschen,  wie  es  keine  Sittlichkeit  für  ihn  gibt  ohne  die  Glück- 
seligkeitsbasis. 


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Sän  Wort  tt1>er  die  Ressorhrerlialtmsse  der  hllheien  Hideliei- 

sebulen  in  Preußen. 

Von  einem  Mä/tkheiMdtidd^rector. 

Die  Frage,  welebe  College  Th.  Landmann-Schwetz  im  letzten 
Aprilheft  des  „Pädagogiums"  angeregt  hat,  veranlasst  mich,  auch 
meinerseits  einen  Beitrag  zor  Beleuchtung  derselben  zu  liefern.  Wie 
die  YerhSltnisse  gegenwärtig  liegen,  ist  wol  gar  keine  Aussieht  yor- 
handen,  dass  unser  Hauptwunsch,  die  höheren  Mädchenschulen  unter 
das  Bessort  der  Frovinzial-Schulcollegien  zu  bnngen,  erfällt  werden 
k<äine.  Aber  vielleicht  wäre  es  möglich,  durch  gegenseitige  Verstän- 
digung und  gemeinsames  Handebi  wenigstens  soviel  zu  bewirken,  dass 
die  schreiendsten  Ubelstände  beseitigt  werden.  Es  wäre  schon  viel 
gewonnen,  wenn  alle  städtischen  höheren  Mädchenschulen  wie  die  in 
Elbing  direet  der  Begierung  untergeordnet  wflrden,  so  dass  sie  mit 
der  Egl.  Behörde  nur  durch  den  Magistrat  zu  verhandeln  hätten. 
Aber  nach  der  Anstellung  von  Ereisschnlinspectoren  wird  auch  diese 
Forderung  nur  ein  frommer  Wunsch  bleiben.  Damm  meine  ich, 
wir  müssen  unsere  Forderungen  vorläufig  nur  auf  den  einen  Punkt 
beschränken: 

dass  den  städtischen  Schuldeputationen  das  Recht  ge- 
nommen werde,  in  die  iuteruen  Angelegenheiten  der  Mäd- 
chenschulen selbständig  einzugreifen  und  den  Dirigen- 
ten oder  die  Lehrenden  nach  eigenem  Ermessen  mit 
Missbilligunf^,  Vorwurf  oder  Tadel  zu  belegen. 

Dies  Pietiit  steht  ihnen  nacli  dem  Scliiilgesetz  v.  J.  l'^ll  noch 
zu,  und  sie  irr  1  »laue heu  dasselbe,  wie  ich  aus  den  Briefen  eines  mir 
befreundeten  Collejren  mitteilen  werde,  liier  und  da  noch  in  einer  fiir 
die  Mädcliensclinle  »ieradt'zu  liTu-hst  trani-i<i:en,  ja  gefahrlichen  Weise, 
Dass  wir  den  Ki't  is>cliulinspect(>ren  untergeordnet  sind,  mag  hier  und 
da  i'belstände,  nauientlirh  unangenehme  persönliclie  Verhältnisse  mit 
sich  bringen;  aber  im  ailgemeineu  lässt  sich's  eintragen.   Ein  mir  be- 


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—   763  — 

kanuter  Kreissfliulinspectur  war  Lelirer  am  hiesigen  (Tyninasium. 
Kui^z  vor  seiner  Anstellung-  aa.gte  er  einmal  in  hoclimiitliigem  Tone  zu 
mir:  Vom  Elementar- rnterriclit  verstehe  ich  gar  nichts,  ich  kann  nur 
höheren  Unterricht  ertheilen.  Dabei  unterrichtete  er,  weil  seine  Examina 
ihm  das  Aufrücken  in  eine  Oberlehrerstelle  versclilossen,  in  der  Sexta, 
Quinta  und  Quarta  in  Latein,  Deutsch  und  Geographie!  Es  ist  gar 
leicht  möglich,  dass  mir  dieser  Herr  über  kui'z  oder  laug  als  Kreis- 
schulinspector  zum  Vorgesetzten  gegeben  wird.  Aber  was  thut's?  Er 
wii'd  voi-sichtig  sein,  wird  sich  wie  jeder  Eegiei'ungs-Commissarius  mit 
der  Kgl.  Behörde  in  Verbindung  setzen  und  sorgfältig  darnach  streben, 
nur  das  zu  tbun,  was  er  den  Herren  Regierangsräten  gegenüber 
sicher  yerantworten  kann.  Sollte  mir  ein  sog.  Illitei-at  ycngesetzt 
werden,  so  werde  ich  mich  darob  nicht  imgeberdig  stellen,  sondern 
im  Gegentheil  die  Anstellung  eines  solchen  ^fannes  als  einen 
längst  ersehnten  Bruch  mit  dem  alten  Literatenzopf  mit 
Freuden  begrüßen.  Die  Behörde  gibt  solch*  ein  Amt  nicht  jedem 
beliebigen  Elementarlehrer,  sondern  nur  Hftnnem,  die  sich  dordi  Tüch- 
tigkeit in  ihrem  Berufe  als  Lehrer  und  zugleich  durch  tüchtige 
Kenntnisse  anszeichnen.  Wie  sie  letzteren  erworben  haben,  und  ob  es 
gerade  di^enigen  sind,  welche  man  bei  den  durch  Gymnaainm  und 
Universität  gebildeten  Lehrern  zn  finden  pflegt,  ist  mir  ganz  gleich- 
gütig.*)  Ich  meine,  die  grGfiten  Dbelstünde  stammen  ans  unserem  Yer- 


'*')  College  TU.  Laadmaim  achemt  mir  viel  zu  großes  Gewicht  auf  deu  Umstand 
SU  legen«  da»  ein  lAt&ttA  ebem  üliteraten  nnteigeordnet  atm  soll.  Ich  betone  dies, 
weü  idi  «08  langjähriger  Erfehnmg  weiB,  da»  das  hochmttthige  Poelien  auf  die  dnrch 

Gymnasium  wnA  ünivfrsität  tnlaiigtp  BiMung"  bei  Lehrern  wie  eine  Krankheit  gras- 
äirt  nud  die  übelsten  Folireu  mit  sich  brintjt.  "Wenn  ein  ^lami  sicli  auf  irgend 
eine  Weise  so  tUchtiire  Kenntni-'so  erwirbt,  dass  er  iiielir  weiß  und  mehr  kann,  als 
ein  so^.  Literat,  so  ist  es  für  den  letzt»'ren  dueh  walirlich  keine  „unwürdige  Stel- 
lung", jenem  untergeordnet  zu  sein.  Aber  ich  weiß  sehr  wol,  dass  dieser  Gedanke 
fittt  Jedem,  der  einmal  m  der  regebnlfligea  Weise  Student  gewoiden,  goradesu  nn- 
crtilglieh  ist  TUehteiselnildireklQr  K.  fai  B.  ist  iHÜier  Elementarieihrer  gewesen, 
hat  dann  IJniTCnItits.studien  gemacht  und  scliließlicb  das  Examen  ])ro  facultate  do- 
eendi  in  den  neuem  Sprachen  in  optima  forma  mit  X.  1  liesiandeu.  Er  ist  ein  sehr 
tflchtii^er  Sohulmann  und  Dirigent.  Trotzdem  weie:erteu  sich  zwei  seiner  Lehrer,  die 
nach  längerer  Studienzeit  ein  sehr  schlechtes  Examen  j,'emacht  hatten,  unter  ihm 
EU  arbeiten,  „weil  —  er  lUiterat  sei".  Sie  gingen  von  der  Schule  ab  und  einer  von 
Amen  an  einem  Dirigenten,  der  als  üieolsge  „in  den  Beetediafen  eiogeUraftn"  war. 
Der  war  doch  ein  Literat!  Dieser  Hochmnth  ist  an  traurig,  als  dass  er  läcberiich 
genannt  werden  kSnute.  Ich  kihinte  dies  Beispiel  noch  um  hunderte  vermehren. 
I>och  genug  davon.  I^h  tredenke  diese  Sache  einmal  einirehender  zu  beleuchten. 
Worin  besteht  denn  der  Unterschied  zwischen  Literat  und  liliterat?  Wollte  man 


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—    764  — 


hältnis  zu  den  Stadtscholdeputfttioiieii,  wid  wir  m&ssen  sanft chst 
streben,  ans  von  der  BeTormnnduug  und  Herrschaft  des  Laien- 
Elenents  zu  befreien.  Wie  gefährlich  diese  Herrschaft  fOr  die  Ent- 
wicklang  der  Schule  und  die  Thatigkeit  der  Lehrer  werden  kann,  vnW 
ich  dardi  diesen  Aufiüatz  zu  beweisen  suchen.  Ich  will  das  Recht  der 
Stadtschuldeputaüouen,  die  äußeren  Angelegenheiten  der  Schale  zu 
ordnen  und  zu  beaufsichtigen,  durchaus  nicht  angreiffen.  Es  kann  Schule 
and  Hans  nur  zum  Vortlieil  «rereichen,  wenn  eine  Behörde  existirt,  die 
zwischen  beiden  die  VerniitTlimjr  und  Verständigung  übernimmt.  Ich 
will  auch  bereit^WUi«:  jedem  Mit^rliede  der  Stadtsi^huldeputation  das 
Recht  einräumen,  ..jederzeit  und  unang^emeldet  dem  I  nterricht  in  den 
einzelnen  Cla.ssen  beizuwohnen",  und  wundre  mich,  dass  Colle:,'e 
Th.  Landmauu  dies  Recht  für  einen  i'helst^ind  ansielit.  kii  winde 
mich  freuen,  wenn  die  Herien  reclit  oft  kämen,  um  sich  zu  überzeugen, 
dass  iu  unst^i'er  Aii>ialt  jeder  l'juzelne  nnt  Anstreiitziuii,^  seiner  besten 
Jvrafte  arbeitet.  l)adareh  würde  manclies  unnütze  Crerede.  mancher 
Stadtkhitscli  gar  leicht  beseitigt  oder  in  die  irebührenden  Schranken 
verwiesen  werden.  Sollen  denn  die  Eltern  gar  keine  (Tarantie  haben, 
dass  wir  ihre  ivinder  iu  der  rechten  Weise  unterrichten  und  erziehen? 
Die  königliche  Behörde  allein  kann  diese  (Garantie  nicht  geuüirend 
gewähren.  Der  Himmel  ist  hoch  uud  der  König  wohnt  weit!  Darum 
kommt,  liebe  Kitern,  so  oft  ihr  wollt,  ihr  s(dlt  mir,  talls  ihr  nicht  d«'U 
Unterricht  stört,  jederzeit  willkommen  sein.  Und  wenn  ihr  als  ^'ertrele^ 
die  Mitglieder  der  Stadtschuideiuitation  sendet,  so  soHs  mich  freuen. 
Nur  sollen  die  Herren  sch weiirend  zuhören  und  sich  nicht 
herausnehmen,  mir  (nler  irgend  einem  Lehrer  seines  Unter- 
richts wegen  V(irstellun<ren  zu  machen  oder  Voi  schrift en  zu 
geben.  Das  ist  allein  Sache  der  vorgesetzten  Fachmänner.  Wenn 
sich  unter  letzteren  auch  Leute  tinden.  die  im  Schulwesen  nicht  s<» 
bewan(h'rt  sind,  wie  wir  es  wünschen,  und  wie  es  im  Inteiesse  der 
iruteii  Sai  lie  geladen  ist,  so  inuss  solch'  ein  t^belstand  mit  in  den  Kauf 
geuüumieu  weiden.    Auf  Erden  iät  niclits  vollkommen.  Immerliiu 


jeden  Lehrer,  der  das  Exaiin'ii  pro  f;\iult!ife  ducendi  mit  N.  1  hestainli'ii  iiuil  >ich 
somit  das  Rocht  zu  den  OberlelirersTt-llen  erworben  hat,  als  Litcratfu  uuil  all»-  andern 
Lebrur  ohiu-  I  n i  i  r-sdiied  ixh  lllitci  iten  bezeichnen,  s»»  hiltte  die  ^>aohe  utK-h  eiueü 
Sinn;  aber  weuu  mau.  wie  es  gewüUuUi  h  geächielit,  jeden  Lehrer,  der  seine  Bildung 
durch  Gymnasinm  und  Universität  empfangen  hat,  ohne  die  so  erlangte  BUdnng  in 
priifen,  iDbpvete^d  dnen  Literaten  und  jeden  andern  Lehrer,  mag  er  noch  so  ttkhtig 
sein,  Teräcbtli(  Ii  einen  niitemten  nennt,  so  ist  das  barer  Unsinn  und  Hochmath  und 
kann  nicht  schart'  genug  getadelt  werden. 


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—   765  — 


werden  aiicli  sololie  Herren  darnach  streben,  ihre  Sclnvii dien  aliznlep^en, 
und  werden  eineu  Leluer,  dem  sie  verti*aueu  dürleu,  wahrlich  nicht 
behellijren. 

Aber  andt^is  liegt  die  Sa(;he  bei  Laien.  Je  weniger  diese  Herren 
vom  Schulwesen  verstehen,  desto  mehr  wollen  sie  dreinreden,  steifen 
sich  auf  ihre  Macht,  niaclien  dem  Dirigenten  das  Leben  sauer  und 
lähmen  die  Arbeitsfreudigkeit  der  Lehrer  und  Lehrerinnen.  Wenn  sie 
dazu  noch  von  ihren  Weibern  beherrscht  und  autVehetzt  werden,  so 
wird  die  Sache  vollends  unerträglich  und  gefährlich.  Ich  könnte  über 
das  Unheil,  das  diu-ch  diese  Einmischung  des  Laien -Elements  in  das 
Schulwesen  gebracht  worden  ist,  ein  Buch  schreiben.  Hier  will  ich 
ans  den  Briefen  eines  intimen  Freundes  ein  Bild  entwerfoi,  das  hoflfent- 
lich  genügen  wd,  um  alle  meine  Collegen  au  überzeugen,  irie  nCthig 
ee  ist»  zonftchst  unsere  Forderungen  auf  jenen  von  mir  oben  an^:estell- 
ten  Satz  zu  concentrii*en. 

Mein  Freund  ist  Dirigent  einer  großen  Oclassigen  höheren  Mäd- 
chenschule in  einer  Stadt  von  circa  20000  Einwohnern.  In  demselben 
Gebäude  befindet  sich  eine  öclassige  Mädchen-Mittelschulei  die  ihm 
glddi&Us  ftbergeben  ist  Beide  Anstalten  erziehen  zusammen  mehr 
als  600  Mädchen  und  beschäftigen  außer  dem  Dirigenten  10  Ijehrer 
und  8  Lehi'erinnen.  Ich  will  ihn  selbst  reden  hissen.  Er  scSureibt 
Folgendes: 

„In  der  hiesigen  Stadtschuldeputation  tagen  Männer  ron  hervor- 
ragender Bildung  und  Begabung.  Der  Vorsitzende,  Oberbttrgermeister  N., 
ist  ein  feiner,  ideenreicher  Kopf,  ein  täditiger  Bechtsgelehrter,  ein 
gnter  Redner,  ein  Frennd  und  Kenner  des  Schönen,  in  der  Terwaltnng 
durchaus*  uneigennützig,  ein  echter  Menschenfreund,  im  Umgange  von 
80  gewinnender  Liebenswürdigkeit,  dass  Niemand  ihm  zu  zürnen  ver- 
mag, dass  Jung  und  Alt,  Vornehm  und  Oering  ihm  wahrhaft  zugethan 
sind.  Die  Stadt  verdankt  ihm  sehr  viel,  manche  seiner  segensreichen 
Neuerungen  wird  erst  die  Nachwelt  recht  würdigen  können.  Neben 
ihm  tagen  Männer  von  feiner  Bildung,  voll  idealen  Strebens  und  durch- 
drungen von  Gemeinsinn.  Als  technische  Mitglieder  fungiren  2  Gym- 
nasial-Oberlchrer.  Man  sollte  meinen,  dass  das  Schulwesen  durch 
solch'  eine  Connnission  wol  berathen  sei. 

In  der  That  ist  IVir  die  äußeren  Verliiiltiiis.se  zeitgemäß  und  in 
nianclier  Hinsicht  treli'licli  gesorgt  worden.  I)ank  der  unermüdlichen 
Sorerfalt  des  Oberbürgermeisters  haben  wir  gute  Sdiulgebäude,  aus- 
gestattet mir  guten  Utensilien  und  wertvollen  Hill'siiiitteln  für  den  Unter- 
richt. Die  jährlich  im  Ktat  ausgeworlenen  Summen  setzen  uns  in  den 


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—   766  — 


Stand,  die  Sauiiulungen  iu  der  AS'ünschenswerten  Weise  zu  vermehren. 
Der  ideal  strebende  Mann  hat  den  früher  liier  herrsclienden  Krämer- 
geist gebrochen  und  dem  sehr  feinen  Menschenkenner  ist  es  bis  zur 
8tunde  gelungen,  die  widerstrebenden  Elemente  zu  besiegen.  Mit  Recht 
heißt  es  von  ilnn:  „er  vennag  Alles  durchzusetzen". 

Nun  aber  die  Kehrseite  der  Medaille.  Wie  alle  wahrhaft  schöpfe- 
rischen Geister  hält  er  an  seiner  einmal  gefassten  Meinung  so  ft'St. 
dass  Niemand  ihn  bewegen  kann,  irgen(h\ie  nachzugeben.  Dadurch 
wird  »'r  uns  Lehrern  gefährlich,  denn  leider  glaubt  er  vom  .'^(•Imlwcsen 
genug  zu  verstehen,  um  auch  in  die  inneren  Einrichtungen  selbständig 
eingi'eifcn  zu  dürfen.  Diese  Ansicht  wird  von  seinen  Freunden  in 
der  Stadtschuldepatatioii  ToUständig  getheilt,  ja  bis  ssmn  Extrem  ver- 
theidigt.  Der  Eine  Ton  ihnen  behauptete  mir  gegeafiber,  „er  verstehe 
vom  Scholweseii  ebensoviel  wie  jeder  Lehrer.  Er  sei  als  Student 
Hauslehrer  gewesen,  und  sein  Stadium  als  Arzt  gebe  ihm  vollends  das 
Recht,  diese  Behaaptong  aufrecht  zn  erhalten." Der  Andere  meintet 
„man  könne  ein  gnter  Kunstkenner  sein,  ohne. selbst  die  Kunst  ans» 
znflben''.  Yemnnft-Grttnde  haben  sieh  diesen  3  Männern  gegenüber 
bis  zur  Stunde  machtlos  erwiesen.  Frtther  war  mit  ibnen  im  Bunde 
ein  Vierter,  der  allgemein  aJs  der  »EQnig  der  Stadt**  bemidinet  wurde. 
Man  wird  leöelit  ennenen  kSnneni  dass  da,  wo  awischen  der  Scbil- 
deputation  und  emem  Schuldirigenten  Meinungsverschiedenheit  hensebt^ 
ein  Bündnis  von  solchen  Männern  nicht  nachgabctn  wird.  Da  heiAt  es 
nur:  sie  volo  sio  Jnbeol  Mit  solchen  Herren  sich  verstftndigen,  heUt: 
sich  ihrer  Ansicht  unbedingt  unterwerfen.  Es  whrd  Usnst  nur  sn  leieht 
der  Fall  eintreten,  dass  solche  schöpferische  Geister  bei  ihrer  mangel- 
haften Kenntnis  des  Schulwesens  Einrichtungen  treffen,  die  dofa  als 
unhflflvoH,  mindestens  als  foux  pas  erweisen.  Wenn  sie  dann  mit  der 
ganzen  Zähigkeit  ihrer  Naturen  daran  festhalten,  so  ist  da,  wo  die 


*)  Halten  Sie  dies  nicht  Ar  Sehen.  E»  ist  dem  MaBie  voller  Bnet.  Dev 
Oberbttrgeimeister  denkt  aueh  so,  wenngl^  er  ee  nicht  so  offni  aoaeptidit.  Sie 

meiiioii,  um  eift  gnter  Lehrer  xu  sein,  brauche  man  mu*  gute  Kenntnisse  zu  b&sitzen 
nml  klar  vortragen  zu  kennen;  alle-;  Übrigje  sei  Sache  einer  crewissen  Routine.  <\i>' 
^ioli  mit  Hilfe  des  „{jesuiuleu  Menschenverstantles"  leicht  erwerlien  lasse,  fahei 
Verachten  sie  folgereoht  die  Elemeutarlehrer;  denn  sie  trauen  ihnen  nur  geringe 
Kenntnisse  zu  und  halten  von  ihrer  Kunst  zu  wenig.  Mögen  diese  Münuer  in  ihrem 
bescheidenen  Wirkingskieue  noch  so  tttchtig  seu:  Ton  BeifisU,  m  Anlknuntenmg« 
yon  Thmlnabme  an  ihren  Bestrebnngm  ist  bei  diesen  Henren  kehie  Bede.  Ich  habe 
mich  bemttht,  sie  umzustimmen,  habe  mehrere  Aufsätze  Uber  die  Anforderungen  dtf 
rnterriclitknn«t  im  allcfemeinen.  die  der  Frairekunst  im  besonderen  drucken  lassen 
und  ihnen  zu  lesen  gegeben.   Verlorene  LiebesmUk! 


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—   767  — 


Gegbupaitt^i  flteii^o  energisch  aul'tritt,  ein  Conflict  unvcrincidlidi. 
DilettaiUismus  imiss  da,  wo  er  scliaffen  will.  naTiirg:t^in;ilj  V^r- 
kulirtheiten,  ja  Unheil  erzeug"eu.  Wie  sollte  es  l»fiiii  Schulwesen  anders 
seiiil  Zunächst  eine  Eiurichtuno: ,  die  mich  i)ersr»nli(  h  nicht  berührt 
hat  Der  ,.König  der  Stadt",  ein  selir  talentvoller  Maui'ermeist^r,  der 
in  Berlin  auf  der  Gewerbe-Akademie  seine  Studien  gemacht  hatte, 
fasste  den  Plan,  eine  Baugewerkschule  ins  Leben  zu  rufen.  Es  gelang 
ihm,  seine  i?Yeunde  datüi-  zu  gewinnen,  und  die  Sache  wui*de  durch- 
gesetzt. Es  gelang,  die  sehr  stai'ke  Opposition  zu  besiegen.  Die 
Herren  hatten  tlie  löbliche  Absicht,  den  Handwerkerstand  zu  heben: 
aber  sie  übersahen,  wie  gefahrlich  es  ist.  eine  Anstalt  zu  gründen, 
für  die  Bedürfnis  und  Interesse  erst  künstlich  geschaffen 
werden  sollen.  Die  Baugewerkschule  musste  nach  kui'zem  Bestehen 
wegen  Mangels  an  Schüleni  geschlossen  werden;  tausende  von  Thaleni 
waren  in  den  Sumpf  geworfen.  Die  Herren  behaupten,  die  Schuld 
liege  an  dem  ei*sten  Dirigenten.  Freilich  war  dei-selbe  ein  Charlatan. 
ein  gewissenloser,  ja  onslttUcher  Mensch;  aber  an  wem  lag  die  Schuld, 
dass  solch  ein  l^Iann  berufen,  dass  er  nicht  schnell  genug  erkannt  und 
durch  eine  tächtige  Kraft  ersetzt  wurde?  £r  war  ihnen  ja  nicht  auf- 
gedrungen worden.  Sie  selber,  die  Heiren  ans  dem  Curatonum,  hatten 
ihn  berufen  und  beaufsichtigt.  Wir  l4ebrer  wnssten  sehr  bald,  was 
wir  von  dem  zungenfertigen  Prahler  zn  halten  hatten,  und  die  erste 
Ausstellung  der  Zeichnungen,  die  größtentheils  das  Werk  der  Lehrer 
selbst  waren,  bestätigte  unser  Urtheil  zur  Genüge.  Aber  die  Herren 
ließen  sich  Uendieii,  nnd  so  ging  die  Anstalt  recht  schnell  ihrem  Unter- 
gänge entgegen. 

Nnn  an  mir  selber.  Vor  circa  8  Jahren  sollte  &a  die  höhere  Mäd- 
chenschule dne  Lehrkraft  für  den  Unterricht  in  den  neueren  Sprachen 
berufen  werden.  Man  bemühte  sich,  eine  Dame  za  engagiren,  die  im 
Auslande,  in  England  und  P'rankreich,  Studien  gemacht  habe.  Die 
Tochter  eines  hochgestellten  Beamten  in  der  Stadt  schien  den  Herren 
die  geeignete  Persönlichkeit  zu  sein.  Sie  hatte  in  Frankreich  und  in 
den  letzten  Jahren  in  England  in  vornehmen  Familien  als  Gouvernante 
fungirt.  Zwar  hatte  sie  kein  Seminar  besucht  und  nur  Privatunter- 
richt ertheilt,  aber  die  Herren  meinten,  „sie  werde  sich  ja  einarbeiten^ 
und  die  technischen  Mitglieder,  die  Gymnasiallehrer,  stimmten  diesem 
Urtheil  bei.  Zwar  zfihlte  sie  fast  40  Jahre,  nnd  ihr  kaltes,  liebloses, 
hochmflthiges  und  verbissenes  Wesen  war  Allen  zur  Genflge  bekannt; 
aber  sie  stammte  doch  aus  einer  hoduuigesehenen  Familie,  konnte  so- 
mit der  Schule  einen  gewissen  Nimbus  geben  und  die  ersten  Familien 


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—   768  — 


in  Stadt  und  Umgebung,  mit  denen  sie  yorzvickt  und  verschwägert 
war,  fttr  die  Anstalt  gewinnen.  So  gründete  man  fOr  sie  eine  Ans- 
nahmestellnng,  die,  wie  einer  der  Herren  unnmwnnden  zngab^  „ihr 
anf  den  Leib  zngesclmitten  worde**.  Während  die  andern  Lehrerinnen 
nach  20j8hriger  Dienstzeit  mit  1200  Mk.  abschließen,  erhielt  sie  so- 
gleich 1200  Mk.  Gehalt,  das  in  je  5  Jahren  nm  300  Wl  bis  1800  Mk. 
aufsteigen  sollte.  Außerdem  erfällte  man  ihr  das  Verlangen,  dass 
sie  nnr  mit  Stunden  in  Englisch  und  Franzdsisdi  beschäftigt  werden 
sollte.  Glttcklfcherweise  genehmigte  die  kgL  Regierung  diese  Berufhng 
nnr  mit  dem  Zusatz,  dass  sie  im  Nothfalle  auch  zu  anderen  Stunden 
herangezogen  werden  dOrfe.  So  war  flir  die  Dame  ti'effltch  gesorgt; 
aber  auch  fflr  die  Schule?  Armer  Dirigent!  Nun  lass  du  solch 
eine  Dame  entweder  iiihig  gewähren;  oder  mach  dich  auf  die  ärgsten 
Kämpfe  gefasst  Die  Herren  hatten  davon  keine  Ahnung.  Sie  glaubten 
sehr  klug  gehandelt  zu  haben;  meinten,  „man  könne  nun  die  Anstellung 
eines  akademisch  gebildeten  Lehrers  für  neuere  Sprachen  entbehren**. 
Der  Conflict  begcinn  sehr  bald  schon  zu  Zeiten  meines  Yorgäugers. 
Er  arbeitete  mit  ihr  nur  ein  halbes  Jahr  zusammen,  eiidärte  aber 
schon  nach  dieser  kurzen  Zeit,  dass  entweder  er,  oder  diese  Lehrerin 
weichen  müsse.  Ich  wurde  der  Erbe  seiner  Kämpfe.  Die  Dame  pochte 
auf  ihre  Ausnahmestellung,  sie  erklärte  ihren  Unterricht  kurzweg  für 
gut,  sie  wollte  nicht  das  Ordinariat  in  einer  CUsse  übernehmen,  wollte 
nicht  deutschen  Unterricht  ertheUen,  wollte  von  pädagogischen  Gründen 
nichts  hOren,  erklärte,  solche  Studien  seien  ihr  verhasst,  und  meinte, 
„sie  sei  nur  angestellt,  um  die  Mädchen  auf  Englisch  und  Französisch 
zu  dressiien;  alles  Übrige  mögen  die  andern  Damen  besorgen**.  Auf 
den  unteren  Classen  übte  sie  nicht  genügeud,  corrigirte  die  Ezercitien 
sehr  mangeDiaft,  arbeitete  mit  wenigen  Lieblingen,  den  Kindern  der 
ihr  befreundeten  Familien,  tractirte  die  andern  mit  Schimpfwörtern, 
wie  Kliinozeros,  Wagenpferd,  Kiitschpferd,  alte  Kuh,  Brechmittel  und 
meinte  als  Entscliul(lig:uug,  das  sei  nichts  Schlimmes,  sie  habe  als  Kind 
solche  Ausdrücke  iliron  Geschwistern  gegenüber  gebraucht  In  den 
oberen  ('lassen  be<rnü<ite  sie  sich  mit  Ilüchtiger  l^bei'setzuug,  ohne  den 
Inhalt  zu  erklären,  und  erging  sich  oft  stundenlang  in  Plaudereien 
über  ihre  Erlebuisse  in  der  Fremde.  Sie  halte  keine  Ahnimg  davon, 
welche  Aufgabe  der  ('lassenunter)icht  an  den  Lehrer  stellt,  vda  man 
den  GeisT  dci-  Kinder  durch  Fra«ien  wecken  und  Itilden  ktinne.  Ihre 
Fragen  waren  iri-tUUenthcils  mangelhaft,  unbeholfen,  oft  geradezu  lächer- 
lich. Die  mangelhaften  Fortschritte,  welche  solch  ein  Futerricht  er- 
zielen musste,  suchte  sie  diuch  Überbüiduug  der  Kinder  mit  häuslichen 


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—   769  — 


Ariieiteii  auszi^leiclieii.  Das  durfte  ich  nidit  dulden.  Icli  musste  sie 
erniahuen,  tadeln  und  sdilit^ltlirli  den  Unteiiiclir  svurdi«!:eren  Händen 
übeix^i^«^»-  ^li^  fleni  ersten  Tadel  bcicann  ein  Kampf,  der  in  der  That 
zu  den  srliwcrsten  und  unani,'-enelinisten  ^eliiirt.  die  ieli  je  zu  bestehen 
irt'Iiabt  lialtp.  Ihr  Vater  war  Mit;j:iied  der  Srhuldeputation.  wai*  mit 
den  meisten  an(U^ru  ^lituiieflLrn  dieser  Commissiun  Vtefreundet.  Ich 
niusste  in  Gegenwart  des  Vaters  die  Vorwiu-fe  Vürbrin«(en  und  den 
Tadel  beantraf,'-en.  Nun  besannen  in  der  Stadt  die  Hetzereien  und 
Verketzerungen.  Von  allen  der  Dame  befreundeten  Familien  wurde 
ich  in  die  Acht  und  Aberacht  erkläil. 

Anfangs  war  die  Schuldeputation  nothgedrungen  auf  meiner  Seite; 
aber  das  Blatt  wendete  sich,  als  ich,  gestützt  auf  meine  pädagogischen 
Stadien,  fest  in  dem  Bestreben  blieb,  aus  der  Schule  jeglichen  Humbug 
zn  entfernen,  selbst  den,  welcher  dem  großen  Puldicura  sehr  wert  ist, 
weil  er  der  Eitelkeit  der  Eltern  und  der  Mädchen  Vorschub  leistet. 
Ich  duldete  in  den  franzdsischen  und  englischen  Stunden  nicht  das 
onntttze  Schwatzen  der  sog.  Conversationsstunden,  duldete  nicht»  dass 
den  Mädchen  der  Nagel  in  den  Kopf  gesetzt  werde,  sie  könnten  eng- 
l^h  und  französisch  sprechen,  sondern  hielt  fest  darauf,  dass  sie 
zu  einem  ernsten  Studium  der  Sprachen  angeleitet  werden 
sollten.  Damit  hatte  ich^s  zunächst  mit  den  eiteln  Müttern  verdorhen, 
die  mir  rundweg  erklärten,  sie  haben  einst  beim  Austritt  aus  der 
Schale  „fertig  englisch  and  ihmzösisch  sprechen  können**,  und  sehliefi- 
lieh  anch  mit  den  Herren  der  Stadtschuldepatation.  Sie  hatten  ja  die 
Dame  eigens  berufen,  um  die  Mädchen  französisch  und  englisch  sprechen 
zu  lehren  und  stellen  noch  jetzt  als  Forderang  au(  dass  die  Schale 
dies  Ziel  erreichen  mfisse.  Vergebens  wies  ich  in  Gesprächen  mit 
diesen  Herren  darauf  hin,  dass  alle  einsichtSTollen  Dirigenten  höherer 
Töchterschulen  und  andere  Collegen  die  von  mir  aufgestellten  Grund* 
Sätze  als  richtig  und  zeitgemäß  gebilligt  haben*),  dass  man  nur  auf 
diesem  Wege  der  Schule  dien  Vorwurf  der  Oberflächlichkeit  nnd  des 
Scheinwesens  fem  halten  könne.  Man  hörte  nicht  anf  mich.  Die 
Herren  dönkten  sich  weiser,  als  die  besten  Lehrer  in 
Deutsehland  und  legten  mir  mein  ernstes  und  festes  Streben 
als  Eigensinn,  als  th<)rielite  Sehrulle  aus.  da.  man  ist  soweit 
gegangen,  hinter  meinem  lüicken  zu  beliaupien,  ich  sei  meiner  Stellung 


*)  Ick  hatte  meine  Ansichten  in  mehreren  Aufsätzen  drucken  lassen  nnd  die 
volle  Ziistimmiing  tojü  Dr.  Dütes,  von  Director  Schomateui  tud  andern  Schiümänn^ 

erhalten. 

Padagofpum.  1.  Jabrg.  Heft  XII.  4ü 


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—   770  — 


nicht  ganz  gewachsen,  die  Schnle  sei  onAer  mjeioer  I^eitnng  znrilek* 
gekommen.  Infolge  dessen  erfaielt  die  ohen  erwjUuite  Lehrerin  in  ihren 
nnermttdlichen  Angriffen  Aofwaaser.*)  Ihre  Klagen  fluiden  fiberaU 
geneigtes  Gehör,  und  die  Herren  der  Stadtschnldepotation  schätzten 
sie  in  solch  einer  Weise,  dass  sie  sich  schließlich  heransnahm,  in  den 
einzelnen  Classen  gegen  mich  Scheltworte  und  Drohungen  auszustoßen, 
die  von  mir  corrigirten  Arbeiten  nach  Fehlern  zu  durchstöbern  und 
die  Mädchen  gegen  mich  aufzuhetzen.  Als  dies  in  der  Schuldepiitatjon 
znr  Sprache  kam,  meinte  der  Vorsitzende,  „das  sei  zwar  nicht  zu 
billigen;  abei-  solche  Kleinigkeiten  dürfe  man  einer  Dame  nicht  so 
hoch  anrechnen'*.  Ah  ich  ihr  den  Unterriclit  in  den  Oberclas^eii  ab- 
genomiDt  11  haue,  wurde  icli  gezwunjren,  ihr  deuselben  wieder  zu  geben. 
Inder  luiL-hsteu  Jiistaiiz  lautete  die  Entscheidung:  ..der Sehuldeputation 
sei  laut  Gesetz  vttm  Jahre  1811  das  Recht  ertheilt.  auch  die  internen 
Angelegenheiten  der  Schule  zu  ordnen,  und  ich  müsse  mich  lügen''. 
Das  Lehrer-Collegium,  welches  eiumüthig  aut  meiner  Seite-  .<iund.  war 
entrüstet;  aber  die  Saclie  war  nicht  zu  ändern.  !Mit  Mühe  setzte  ich 
in  der  Schuldepntation  wenigstens  durch,  dass  die  Dame  in  einer 
('lasse  das  Ordinariat  und  damit  den  deutsclien  Unterriclit  übeniehnieu 
musste.  Wii'  waren  4  Stimmen  gegen  >>.  iTlücklicherweise  fehlte  in 
der  Sitzung  der  Oberbürgermeister;  dieser  Herr  wollte  davon  nicht* 
Avissen  und  jene  Stunden  durcliaus  einer  andern  Lehrerin  übergeben. 
Nun,  die  Dame  ist  nacli  r^  jälirigem  Kampfe  endlich  abgegangen.  Sie 
.sah  sclilieiUicli  doch  ein,  dass  sie  an  mir  ihren  Mann  gefunden  hatte. 
Aber  die  Spannung,  welche  durcli  jene  Kämpfe  zwischen  mir  und  der 
Schuldeputatiou  erzeugt  werden  musste,  dauert  vorläulig  noch  fon:  ja 
sie  ist  so  gestiegen,  dass  die  Herren  jetzt  jede  Gelegenheit  benutzen, 
um  mir  ihre  Maclit  tühlbar  zu  machen.  Haben  .^ie  mich  doch  neulich 
wegen  der  Bestrafung  einer  Schülerin  der  Ciasse  I  zur  Kechenschatt 


*)  WäUrcud  ich  um  der  guteu  Öauhc  willen  iki-  Pi-ubelecticueu  Uich.  Ja  »ogat 
mehr«»  Unstcfteetioiieft  fttr  «ie  attmrbeitete^  sdirie  sie  huit  fXbet  Yerto\giiug  und 
bestttmite  den  Oberbttrgenneister,  dessen  Tnn  und  die  Mitglieder  der  Sebnidepntntion 
mit  ihren  Klagen.  Leider  fand  sie  geneigtes  GehSr.  Die  Horreu  meinten  in  Privat« 
gespräcbon.  ,.ich  könne  die  Üame  nicht  leiden"  und  gehe  mindestens  in  meinen  An- 
forderuniren  ziMveit;  ich  müsse  jeden  Lelirer  in  seiner  eicrenthüniliehen  Art  gewähren 
lassen.  Wenn  ich  auf  die  .(inforderungeu  der  Pädagogik  und  der  praktisches  Unter- 
richts- und  Erziehimgskuu^t  hinwies,  lächelte  man  ungläubig  und  scbwi^.  c^bst 
der  nKOnig  der  Stadt",  welchw  die  Sache  noch  am  richtigsten  benrtlieflte,  meinte, 
ich  sei  in  Sehnlsaohen  ein  Zelot;  Damen  gegenttber  dflife  ich  nicht  solche  Anforde 
rangen  stellen.  Daas  die  Kinder  daruntor  leiden  rnttsstea,  ist  keinen  der  Herrea  je 
einge&Uen. 


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-  771  — 


gezojren!  Das  Mädchen  hatte  ohne  Eilaubnis  au  dtr  sog.  großen  Tanz- 
stimde  tlieilfreuommen  und  his  nach  i)  ITir  niororens  getanzt.  Am  närlisten 
Tage  fehlte  sie  und  brachte  mir  .später  einen  F^ntschuldigungszettel, 
auf  dem  die  Worte  standen:  .. ]\[eine  Tocliter  liat  wegen  Kopf- 
schmerzen die  Schule  versäumen  müssen."  Ich  machte  das  bereits  er- 
wachsene Mädchen  darauf  aufmerksam,  dass  der  t  igeut liehe  Grund  der 
Versäumnis  in  der  durchtanzten  Nacht  liege,  und  dass  ieh  erwartet 
hätte,  sie  werde  mich  der  Versäumnis  wegen  um  Verzeihung  bitten. 
Als  trotz  dieser  Erinnerung  sich  darauf  steifte.  Kopfsclmierzen 
gehabt  zu  haben,  sagte  ich:  „Sie  kennen  den  wahren  Grund  sehr  genau 
und  trotzdem  stützen  Sie  sich  auf  einen  Scheingrund,  um  der  Strafe 
für  muthmllige  Schulversäumnis  zu  entgehen.  Mag  der  Umstand,  dass 
Sie  Kopfschmerzen  gehabt  haben,  an  und  für  sich  wahr  sein:  Sie 
ha.ben  eine  Lüge  ausgesprochen  und  zwar  eine  Lüge  schlimmer 
Art."  Dieses  Wortes  wegen  wurde  ich  von  der  Schuldeputation  zur 
Becheuscbaft  gezogen  und  erhielt  ein  Schreiben  des  Inlialts,  „dass 
ich  nicht  berechtigt  gewesen  sei,  das  Wort  Lüge  ansza- 
sprechen,  veil  ich  nicht  das  Kecht  habe,  die  in  dem  Ent- 
schuldigungszettel angeführte  Thatsache  zu  bezweifeln**. 
Ich  bemerke  noch,  dass  das  Mädchen  mir  offen  gestand,  dass  sie  bis 
nach  6  Uhr  morgens  getanzt  habe.  Ich  habe  mich  bei  der  KgL 
Begienmg  beschwert  und  kann  Ihnen,  lieber  Freund,  über  den  Aus- 
gang dieses  Kampfes  noch  nichts  berichten;  aber  Sie  sehen  doch, 
welchen  Angriffen  wir  Dirigenten  und  damit  auch  wir 
Lehrer  überhaupt  ausgesetzt  sind,  so  lange  das  Laien-Element 
über  unsere  Handlungen  zu  Gericht  sitzen  darf.  Es  bleibt 
schließlich  nielits  übrig,  als  sich  einen  andern  W^ii'kungskreis  ausza- 
snchen,  oder  sich  ununterbrochen  seiner  Haut  zu  wehren.  Nun,  vor- 
läufig weiche  ich  noch  nicht.  Mit  dem  ganzen  Lehrercollegium  lebe 
ich  in  bester  Harmonie,  nnd  da  die  Bürgerschaft  im  allgemeinen  mir 
zogethan  ist  und  die  Schülerinnen  an  mir  hängen:  so  lassen  sich  solche 
KSmpfe,  so  aufregend  sie  zuweilen  sind,  schon  ertragen.  Das  Geschrei 
und  G^klatsch  urteilsloser  Menschen  ist  mir  gleichgiltig;  ich  gehe  fest 
und  unbeirrt  meinen  Weg.  „Mache  es  Wenigen  recht;  AUen  gefallen 
ist  sehlimnL" 

Soweit  mein  Freund  in  N.  £in  anderer,  der  Dirigent  einer  h5hem 
Mädchenschule  in  einer  etwa  ebenso  großen  Stadt,  berichtet  Ähnliches. 
Er  ist  einmal  durch  die  Schuldeputation  sogar  gezwungen  worden, 
«ine  Sohftlerin,  die  er  anf  einstimmigen  Beschlnss  der  Cob- 
ferenz  verwiesen  hatte,  wieder  aufzunehmen.  Das  Mädchen, 

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—   772  — 


eine  ganz  iiictätlu^e  Schiilrriii  seiner  ersten  l'Ia>st'.  war  auch  wirklich 
so  fi'eeh,  wietler  zu  erscheinen  und  auf  das  ihr  verlitdiene  Recht  zu 
poflieul  Die  Laien  liaben  eben  davon  keine  Ahnung",  dass  wir  Lehrer 
in  erster  Linie  Erzieher  sind,  sie  verstellen  ferner  nichts  von  den 
Anforderungen,  welche  durch  die  Pädair<»gik  und  die  ünterrichtskunst 
an  uns  irestellt  werden:  wie  sollten  sie  richtig  urtheilen  können? 
Die  Einrichtung,  dass  der  Commission  ein  i>aar  technische  Mitglieder 
beigesellt  sind,  hilft  das  Schein wesen  nur  bestärken.  Man  weiß  schon 
seine  Leute  zu  wählen.  In  kleinen  Städten  pflegt  diese  Einrichtung 
weniger  nacht  heilig  zu  werden.  Dort  tagt  als  Hauptniit  glied  gewölin- 
lich  der  Schulinspector  oder  der  Kreisschulinspector.  Da  der  BttrL'-ei'- 
meister  an  solchen  Orten  nicht  ein  akademisch  gebildeter  Rechtskun- 
diger ist,  so  pflegt  er  sich  sammt  den  Beisitzern  den  Anordnungen  nud 
Vorschlägen  dieses  einen  sachverständigen  Mitgliedes  willig  zu  fügen. 
Aber  in  gi*ößeren  Städten  wird  die  Saclie  bedenklich  und  namentlich 
fUr  die  höheren  Mädchenschulen;  denn  hier  wollen  neben  den  Männern 
noch  die  ^^'eiber  dirigii-en.  Jede  Frau,  die  einmal  eine  solche  Anstalt 
besucht  und  vielleicht  gar  in  einer  Selecta  das  Lehrerinnen-Examen 
beistanden  hat,  glaubt  das  Eecht  zu  haben,  in  den  wichtigsten  Fragen 
und  Angelegenheiten  unserer  Schulen  di'einreden  und  wol  gar  das 
entscheidende  Wort  sprechen  zu  dinfen.  Ich  komme  daher  wieder 
auf  den  Anfang  zurück  und  bitte  alle  l  oUegen,  sich  mit  mir  dahin  zu 
vereinigen,  dass  wir  nns  zunächst  von  der  ganz  ungerecht* 
fertigten  und  für  unsere  Anstalten  so  sehr  nachtheiligen 
Herrschaft  und  Bevormundung  durch  die  Stadtschuldeputa- 
tionen zu  befreien  suchen.  Das  Verhältnis  zu  dieser  Behönle  ist 
in  der  That  eine  unser  nicht  würdige  Stellung.  Es  würde  mich 
freuen,  wenn  andere  Collegen  diese  brennende  Frage  besprechen  und 
auch  ihre  Erfahrungen  veröffentlichen  möchten.  Später  bliebe  dann 
festzustellen,  in  welcher  Weise  wir  petitionirend  vorzugehen  haben. 


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Antworteehreiben  an  eine  junge  Lebrerin. 

Von  Frau  &  Kroh^Bte^lau. 
Mein  theures  Fräulein! 

Ihre  Mittheilung,  dass  Sie  in  eine  Familie  eintreten,  wo  Sie  vier 
Kinder  zu  erziehen  und  za  unterrichten  haben,  hat  mir  viel  Freude 
gemaclit.  Das  Amt  ist  zwar  ein  schweres,  aber  Ihrer  Willenskraft^ 
Ihrer  Hingebung  und  Gewissenhaftigkeit  erscheint  ja  nichts  zu  schwer. 
Ich  beglückwünsche  deshalb  die  Kinder,  die  Ihrer  Leitung  anvertraut 
sind.  Sie  haben  Übnng  nnd  Erfahmns  in  Ihrem  Berufe.  Ihr  Scharf, 
bück,  Ihre  Umsicht  sind  anerkannt.  Dennoch  wttnschen  Sie  meine 
Ansicht  za  hören.  Sie  wollen  wissen,  wie  ich  an  Ihrer  Stelle  mein 
Amt  angetreten  nnd  verwaltet  hätte.  Ich  will  es  Ihnen  sagen.  Sie 
mögen  prüfen,  urtheüen,  aber  dann  nach  eigenem  Ermessen  frei  und 
unabhängig  handehL  Denn  eines  schickt  sich  nicht  für  alle,  und  bei 
der  Erziehung  ist  die  Individualisimng  eine  Hauptsache. 

Ich  würde  damit  beginnen,  die  Kinder  zu  beobachten,  um  ihre 
guten  Eigenschaften  und  ihre  Fehler  zu  erforschen,  und  mich  be- 
mühen, durch  liebevolles  Entgegenkommen  Zuneigung  und  Vertrauen 
in  ihnen  zu  erwecken.  Mein  liebes  Fräulein,  Sie  besitzen  Ja  Pesta- 
lozzis „Lienhard  und  Gertrud**.  Dieser  Gertrud,  diesem  Muster 
echter  Weiblichkeit  nachzueifem,  das  ist  das  Beste,  was  eine  Er- 
zieherin thun  kann. 

Aber  Ihnen  liegt  ja  nicht  blos  die  Pflicht  der  Erziehung  ob,  Sie 
sollen  auch  unterrichten  und  vier  Kinder  verschiedenen  Alters,  das 
ist  wahrlich  nicht  leiclii.  Für  die  beiden  jiingstt^n  Kinder  wäre  durcli 
Fröbelsche  Spiele  gesorgt.  Die  Kleinen  können  ausschneiden,  flechten, 
l)auen  u.  s.  w..  während  die  beiden  älteren  unterrichtet  werden.  Selbst- 
verständlich würde  ich  mit  den  Kindern  Fröbelsche  Lieder  sing-en  und 
sie  durch  Bewegungsspiele  zu  erlieitern  suchen.  Und  wenn  icli  beim 
Bauen,  ebenso  wie  beim  Stäbclienlegen  darauf  halten  würde,  dass  sie 
genau  auf  die  Vurzeichnungen  achteten,  so  wuide  ich  doch  auch  bei 


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—    774  — 


Spaziergängen  ihren  Gesichtskreis  so  viel  wie  möglich  zu  erwdtem 
sttdien.  Eine  Windmühle,  ein  Eisenhahnzug»  ein  Wasserhehe^^eik,  das 
sind  Anschauungen,  die  inmitten  der  schOnen  Natur  in  der  Begel 
einen  tiefen,  bleibenden  Eindruck  auf  geweckte  Kinder  machen  und 
sie  zum  Selbstprodudren  anregen.  Die  Kleinen  leisten  da  manchmal 
Erstaunliches,  und  wir  dürfen  sie  nur  genau  in  ihrem  Thun  und 
Lassen  beobachten,  um  zu  erkennen,  was  gut  und  zweckmäfiig  und 
heilsam  für  sie  ist  Mir  bangt  durchaus  nicht,  Sie  werden  schon  da» 
Biclitige  treffen.  Schwieriger  ist  es,  die  zehn-  und  die  vierzehnjährige 
zugleich,  ohne  Benachtheiligung  der  einen  oder  der  anderen  zu  be- 
achSltigen.  Schreibeii,  Zeichnen,  weibliche  Handarbeiten  kOnnen  gemein- 
sdiaftlich  betrieben  werden,  auch  wol  Naturgeschichte,  Weltgeschichte 
und  Geographie,  vorausgesetzt,  dass  alles  dies  dnfiich  und  leicht  fass- 
lieh,  ohne  gelehrten  Beigeschmack  vorgetragen  wird,  so  dass  die 
Kinder  das  Gehörte  wieder  erzählen  können,  wodurch  sie  richtig 
sprechen  lernen,  und  wir  im  Stande  sind,  jeden  Inthiun,  der  sich  etwa 
eingeschlichen,  im  Keime  zu  ersticken.  Hauptsächlich  muss,  meiner 
Meinung  nach,  dabei  vermieden  werden,  den  Kindern  zu  vielerlei  auf 
einmal  zu  geben,  was  sie  nm-  venvirrt,  zerstreut  und  dünkelhaft  macht. 
WenijT  lehren,  das  wenige  gründlich,  besonders  oft  wiederholt  und 
alles  Übrige  darauf  l»ezugen,  das  ist.  was  Meister  Jaeotot,  der  Stifter 
des  Uiüversalunterriclits,  vor  allem  verlangt.  Sie  wissen,  meine  Ter- 
ehrti',  dass  icli  mich  liir  die  Methode  Jacotots,  deren  Erfolge  ich  in 
Paris  'in  seini'm  Hause  und  in  einigen  Lehranstalten  zu  bewnnderii 
Gelegenheit  luitte,  immer  sehr  begeisterte.  Sie  wissen  ferner,  dass 
ich  sie  während  meiner  langjährigen  Lehrthätigkeit  in  Breslau  bei 
den  verschiedensten  Schülern  stets  mit  Glück  befolgte  und  mich  au 
den  überraschenden  Resultaten  ergötzte,  die  ich  der  Liebe  verdankte^ 
mit  welcher  ich  die  Lehren  des  Meisters,  dieses  Wohlthäters  der 
Menschlieit,  zu  befolgen  strebte.  Ich  bin  überzeugt,  dass  einst  nur 
nacli  dieser  Methude  unterrichtet  werden  wij-d,  weil  es  auch  dem 
schlicljtesten  Verslande  rinleiichten  muss,  dass  l'bung  den  Meister 
maclit.  wie  es  unser  altes  deutsches  Sprüchwort  besagt.  Die  in  Kede 
stehende  Metliode  beruht  aber,  wie  Sie  wissen,  zumeist  auf  jtraktisclien 
Übungen;  die  Theorie  bleibt  den  schon  tüchtig  Vorgeschrittenen  vor- 
behalten. —  Vor  allem  muss  der  Lernende  von  dem.  was  er  erlernen 
soll,  eine  klare  Anschauung  gewinnen.  Diese  Anschauung  erlangt 
man  am  siche^.^t•■n  durch  scharfes  I^cobacliten,  jrenanes  Prüfen  und 
Vergleichen  eines  <iegenstandes  mit  einem  anderen.  Während  sodaim 
das  einmal  Gelernte  unausgesetzt  geübt  und  wiederholt  wij'd,  reift 


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—   775  — 


da.s  Erkenntmsvemiögen ,  das  aus  der  gleichzeitigen  Mitwiikung  aller 
Seeleiiki'äftL'  hervorgeht.  Da  nun  durch  die  vereinigte  Thfitigkeit 
aller  Seelenvenuogen  (l(»r  (-Jedanke  erzeugt  wird,  dessen  unmittel- 
barster Ausdi'uck  die  Sprache,  so  ist  es  natürlich,  dass  .Tacotot  just 
beim  Sprachunterricht,  durch  die  überraschenden  Erfolge  aulmerksam 
gemacht,  seine  Methode  fond. 

Ks  ist  Ihnen  bekannt,  dass  Jacotot  sich  im  Jahre  1789  beim 
Bastillensturm  als  fünfzehnjäliriirer  Jünglin*r  an  der  Seite  Lafayettes 
betlieiligte,  dass  er  später  während  der  Kaiserzeit  als  Professor  an 
einem  College  primaire  in  Paris  tungirte.  wo  er  anerkannt  seinen  Be- 
rufsptiichteu  mit  der  gi'ößten  Gewissenhaft ij^keit  oblag,  und  dass  er, 
als  er  nach  dem  Sturze  Napoleons  I.  zu  emigriren  genüthigt  war, 
nach  Belgien  ging,  wo  er  bis  zur  Julirevolution  verblieb.  Während 
jener  fünfzehn  Jahre  also ,  in  denen  die  wieder  zur  Regierung  gelangten 
Bourbonen  (Ludwig  XVIIL  und  Karl  X.)  in  Frankreich  herrschten, 
suchte  der  Gründer  des  üniversalunterrichts,  wie  Jacotot  seine  Me- 
tbode nannte,  den  segensreichsten  £influs8  auf  die  Jugend  Belgiens 
auszuüben.  —  Von  allem  entblößt,  war  er  mit  Weib  und  Kind  im 
fremden  Lande  eingetroffen.  Und  trotzdem,  dass  er  kein  Wort  fla- 
mändisch  verstand,  verlor  er  doch  nicht  den  Muth.  Er  sammelte 
einen  Kreis  Jnnger  Leute  um  sich,  um  diesen  die  französische  Sprache 
m  lehren.  —  Aber  wie?  —  Er  las  ihnen  ans  dem  Telemaeh  lant  und 
deutlich  vor,  sie  mnssten  nachlesen,  Ihrer  Sprache  nicht  mächtig, 
konnte  er  ihnen  keine  ErkUnmgen  geben;  aber  er  dentete  ihnen  an, 
dass  sie  das  Gelesene  copiren  und  das  Geschriebene  mit  dem  gedruckten 
Texte  vergldchen  mfissten.  Er  sagte  ihnen  den  Inhalt  ans  dem  Ge- 
dächtnis her,  nnd  sie  begriffisn,  dass^  sie  üm  ebenfalls  auswendig  zu 
lernen  hätten.  Hierauf  zeigte  er  ihnen,  wie  das  Gelernte  niederzuschreiben 
nnd  mit  dem  Texte  zu  vergleichen  wäre.  Doch  wozn  Ihnen  das  wieder- 
holen? Sie  haben  ja  die  Eriegersche  Übersetzung  des  Ünivarsal- 
unterrichts  gelesen.  Sie  wiesen,  dass  der  •  Meister  ron  Übnns^  zu 
Übung  gegangen,  dass  er  seine  SchfQer  an  das  Ümbüden  und  Nach- 
bilden einzehier  Definitionen  und  längerer  Beschreibungen  gewöhnte, 
dass  er  im  Auffinden  von  Übungen  unerschöpflich  gewesen.  Wissen 
ist  nichts!  Thun  ist  alles!  war  einer  seiner  Kmftaussprilehe.  Und 
als  er  die  erstaunlichen  Erfolge  sah,  die  durch  praktische  Übung 
erzielt  werden,  Erfolge,  die  er  früher  ungeachtet  des  eifrigsten  Er- 
klärens  dt-r  ReL^elii  iiidit  erzielen  konnte,  da  hatte  er  die  Wahrheiten: 
Wiederholiiim  ist  die  Mutter  allt^s  Wissens,  und  tn)ung  macht 
den  Meister!  aus  eigener  Erfahrung  kennen  gelernt,  und  auf  diese 


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Walirbeiten  hat  er  sein  Unterrichtssystem  aufgebaut  Ein  jeder,  der 
es  versucht,  wird  zugestehen  müssen,  dass  dadorch  nicht  bloB  wissen- 
schaftliche Ausbildung  gefordert,  sondern  auch  der  Charakter  gestärkt 
und  veredelt  wird.  Jacotot  hatte  die  Freude,  dass  seine  Methode 
sogleich  in  Knulaud,  s^päler  in  AnK'iika  einfjretiiliit  wurde.  In  Kur- 
land be.sondi'is  fiel  sie  aiü  truchtliaien  liodeii.  Die  Nadikunimen 
Bacons,  Locke.-«  und  Humes  mussteii  n*>tli\vendig  eine  Lekinnetlutde  mit 
Enthusiasmus  begrüßen,  die  ihnen  zui'  Bestätifrung  dessen  diente,  was 
iliuen  ilire  großen  Männer  und  Pliilosophen  h^^rirt  hatten.  Baeon 
strelite,  alle  Wissenschaft  auf  Anschauung  zu  griinden.  Locke  suchte 
nachzuweisen,  dass  Kunst  und  \Vis>enschaft  auf  I  hnuK  der  geistigen 
und  körperlichen  Kräfte  beruhe,  l  ud  Hunie  behauptete,  dass  ober- 
tlächliches  ^^'isäeu  Atheisten  ächaüe,  gründliches  Forschen  zur  Keligion 
ZUl'ückfidire. 

Mein  gelielnes  Fraulein,  wenn  Sie  in  lhi"er  neuen  Stellunir  ein 
Stündchen  täglich  für  sich  gewinnen  kr»nuen,  dann  würde  ich  Ihnen 
nichts  drin;.n  nder  empfehlen,  als  dieses  btUndcheu  zur  Lectürc  guter 
Bücher  zu  verwenden. 

Das  Leben  bringt  zu  viel  Unangenehmes,  als  dass  wir  nii-ht  ge- 
nüthigt  wären,  um  uns  selber  treu  und  gleich  zu  bleiben,  uns  in  unsem 
Mußestunden  in  eine  Welt  zu  versenken,  in  der  wir  gehoben  und  ver- 
edelt werden.  Selbst  ^'eredelung  ist  aber  die  heilige  Pflicht  jedes  Er- 
ziehers und  Lehrers.  Oline  dieselbe  ^vird  niemand  im  Stande  sein, 
veredelnd  auf  andere  einzawirken.  Die  Emehungsarbeit  müssen  wir 
zuvörderst  bei  uns  beginnen,  wenn  sie  von  £rfolg  bei  der  uns  an- 
vertrauten Jugend  sein  soll  Ja,  meine  Thenere,  nicht  nur  lehren, 
lernen  müssen  wir  bis  zum  letzten  Moment  unseres  Daseins.  In  d^ 
Augenblick,  wo  wir  zu  lernen  aufhören,  wo  wir  nicht  mehr  jeden 
unserer  Gedanken,  jede  unserer  Handlungen  einer  strengen  Selbst- 
prfifiing  unterwerfen,  in  diesem  Moment  haben  wir  auch  au^ehört, 
Pädagogen  zu  sein.  Je  mehr  wir  mit  catonischer  Strenge  uns  selbst 
ftberwachen,  desto  mehr  werden  wir  gegen  andere  Nachsicht  walten 
lassen.  Ohne  Nachsicht  aber  ist  Pestalozzis  Gertrud  undenkbar,  unser 
Werk  somit  ein  verfehltes. 

Indes  missverstehen  Sie  mich  nicht!  ich  will  durchaus  keinen 
Bücherwurm  aus  Urnen  machen.  Im  Gegentheil,  ich  betrachte  den 
Umgang  mit  guten  Menschen  auch  als  vorzügliches  BildnngsmitteL 
Aber  leider  auf  der  Stufe,  auf  der  unsere  Civilisation  steht,  begegnen 
wir  auch  unter  den  Gebildeten  noch  dem  Neide,  der  Missgnnst  und 
der  Falschheit   Seien  Sie  daher  vorsichtig!  Wenn  Sie  jedoch,  un- 


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—    m  — 

geachtet  aller  Vorsicht,  T&uschoiigeii  erfahren,  dann  lassen  Sie  sich 
dadurch  nicht  yerhittem.  Die  VerUtternng  ist  ein  tOdtliches  Gift, 
welches  das  Leben  kfirzt,  jede  Lebensfreude  schmälert,  wenn  nicht 
gar  Temichtet.  Nur  wer  von  Menschenliebe  erftUt  ist,  wird  im  Stande 
sein,  die  Last  des  Lebens  mit  allen  seinen  Unbilden  zu  ertragen. 
Drum  mag  es  wol  nicht  so  ganz  unrichtig  sein,  dass,  wer  nach  Er- 
hafoung  der  Menschenliebe  starbt,  manchmal  genötbigt  ist,  die  Men- 
sehen zu  iUehen,  d.  h.  sieh  in  die  Einsamkeit  zorllckzuziehen.  In  der 
Einsamkeit  aber  kOnnen  wir  keinem  besseren  Freunde  begegnen,  als 
dem,  den  wir  in  einem  guten  Buche  finden,  in  dem  Besten,  was  die 
Edelsten  vor  uns  gedacht  und  empfunden  haben.  Und  welch  höheren 
Genuas  gäbe  es  wol,  als  das  Nachempfinden  des  Höchsten,  als  das 
Bewnsstseiu,  diese  rein  menschliche  Fähigkeit  zu  besitzen,  die  auch 
dem  Geringsten,  dem  Besebeidensten  innewohnt. 

Natürlich  muss  der  Mensch  wollen!  Er  mnss  an  der  Forschung 
Freude  finden  und  unausgesetzt  nach  Wahi'heit  streben,  wie  es  uns 
unser  Lessing  gelehrt  hat: 

Und  hielte  die  (lottlieit  in  der  Recliteu  die  ^^'ahrheit.  in  der 
Linken  da.s  Strel>en  nach  ilir  und  spräcdie:  Wälilel  Walirlich 
ich  grirt'  nach  der  Linken,  bekennend:  Die  Walu'heit,  Vater,  ist 
doch  nur  für  Dich  allein! 

Wie  richtig  dies  ist,  das  können  wir  täglich  erkennen,  wenn 
unsere  Kurzsichtigkeit  uns  von  Irrthum  zu  Irrthum  führt. 

Dann  aber  bleibt  uus  als  einziger  Trost  dennoch  der  Ausspruch 
unseres  Dichterfürsten: 

Es  irrt  der  Mensch,  so  lang'  er  strebt! 


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Volksthfimlicher  StU. 

Vom  X^ramz  SehUnkeH''Wim. 

Im  Aoschlosee  an  meinen  im  12.  Hefte  des  III.  Jahi^gangs  veröffeatlichten 
Aufsatz  (  „Der  volksthünilicht'  Stil  in  populären  Belehrunf?s-  tmd  rnterhaltungs- 
.schrit'ten" )  erlaube  ich  mir  dit'.siiiiil  ein  Beispiel  für  die  gedachte  volks- 
tliiimliche  Darstellungsweise  vorzulegen.  Ich  habe  eine  noveUibtische 
£iiikl0iduig  gewiUt  «nd-lderliBi  Gelegenheit  gefunden,  ranLUnterscluede  auch 
den  mibertthrttn  Dialect  (Viertel  oh  den  Wiener  Walde)  snr  Geitaus  zu 
bringen. 

Der  Eisenwnrzner  Franz  ist  ein  reicher  Holzbändler.  Er  hat  etwas  mehr 
gelernt  und  ist  weiter  herumgekommen  als  seine  ^litbürcer:  er  liest  anch 
Zeitum^en  uud  Bücher;  auf  diHJ>e  Weis»;  i^^  -t  zu  pim m  trciereu  AuJ«blic.ke 
gelaugt.  Just  sitzt  er  im  \Viiti»hause  beim  .stauden-Bartei  und  ist  mit  zwei 
GeooMtcni»  welche  in  der  Gegend  Vermemiageii  anstdlen,  in  da  Geqpittdi 
über  die  Sdralpdicht  verwlekelt  Zwei  Banem,  wekhe  an  demielben-  Ttadie 
Kitzen;  meinen,  dass  ein  vieijahliger  Scholbesach  gerade  genug  wäre.  Der 
Eisenwnrzner  ist  anderer  Meinung,  und  er  versteht  es  auch,  sie  den  zwei  Faul- 
pelzen und  den  Herron  ans  der  Stadt  ^e^ennber  zum  Ausdrucke  zu  bringen. 
Weil  es  sich  um  »  twas  Auticr^^t  wühjilicht'S  handelt .  und  weil  er  sich  auch  an 
die  beiden  Jicneu  wendet,  gebraucht  er  eine  „höhere",  vom  Dialect  abweichende 
Redeweise,  fir  sagt: 

„Wann  nntereiner  vom  Schnlgeben  snr  Bed  kommt,  dann  hebt  er  aUemal 
an:  -Ba  n  ins  Inn  Gibirg"  — -  dabei  macht  er  das  Maul  so  weit  und  wichtig 
auf,  dass  man  meint,  er  mnss  Tag.s  zweimal  vom  ntschcr  über  den  rauchen 
Kamp  herunter  rutschen  —  ,,ba  n  ins  inn  Gibirg  • ;  und  nachher  geht's  halt 
heraus,  dass  man  frei  glauben  ktinnt.  unsereiner  hätt"  mit  Brief  undSieg'el  das 
Recht  dumm  zu  bleiben.  Alks  was  richtig  und  erlogen  ist,  wird  vorgebracht; 
diM  halt  für  viele  der  Weg  gar  so  schreokbar  weit  ist;  dass  die  kleinen 
Lentel  bei  der  Arbeit  benOthigt  werden  und  dieselbe  sehen  In  der  Joaglidt 
bei  Zeiten  erlernen  müssen.  Und  wie  immer  das  Letzte  das  Beste  ist,  so  ist 
CS  auch  das  Mal:  Unsereinem  geht  just  das  nicht  aus  dem  Kopf,  dass  die 
Kinder  durch  ihr  Schulgeli»  n  von  der  Bauernarbeit  abgehalten  wejden.  Wenn 
sie  was  lernen,  ist  s  uns  wol  recht;  aber  djis  halt,  das  ist  der  Sakeral  Der 
Alm-I'ctcr,  der  Kosegger,  hat  einmal  einem  kritischen  Bauern  die  Hed  in  den 
Hand  gelegt:  nBis  Yiensehn  Johr  in  d'  Schnl  gehn,  draaf  Soldot,  —  awe 
sohofft  ma  Kinder,  wenn  ma  do  (Qr  d*  Orbat  no  kean  hot!^  Da  hat  er  wieder 
hannitten  hineingetroffen,  der  Ahn- Peter,  denn  er  hat's  herauBen,  wie  der 
Hanserl  sein  Hemd,  das  muss  man  ihm  lassen.  —  Na,  und  damit  Ihr  Stadt- 
itutt'  Euch  doch  anch  einen  Bestritt'  von  dem  nmchen  könnt,  was  uns  gar  so 
schwer  auf  dem  Herzen  liegt,  will  ich  Euch  erzälileu,  wie  es  mit  der  Kinder- 
arbeit bei  uns  im  Gebirge  steht. 


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—   779  — 


Mit  dem  Konischnitt  lieht  alle  Jahre  die  lustige  Zeit  für  das  junge 
Bauernvölkel  an,  denn  auf  freiem  Felde  unter  Gottes  lichtem  Himmel  henun- 
kogehi  ist  allemal  nnterhaltlicher,  ala  auf  der  Sehnlbank  ritEen  —  ich  weiit 
daa  noch  von  mir.  Da  kommt  dasselbe  auch  zur  Einsicht,  dass  es  doch  auch 
schon  zu  was  nutz  ist,  und  man  sollt'  nicht  glanboi,  was  das  für  eine  Freud 
ist.  Die  Kinder  kann  man  zum  Wasserzii tragen  und  „Gorbnbandlaufle^" 
brauchen;  diese  letztere  Arbeit  besteht  darin,  einig-e  Halme  so  zusammenzu- 
drehen und  auf  die  Erde  zu  breiten,  das«  die  Schnitter  die  Garben  darauflegen 
und  dann  zusammenbinden  können.  Na,  und  wann  just  einmal  diese  Bänder 
gar  werden  nnd  ktlne  neuen  ferüg  sind,  —  was  wiri's  denn  andi  teb,  mnss 
sidh  halt  die  Schnitterin  fir  sieh  nnd  ihren  „Mann"  (Schnitter)  selber  eines 
drehen;  hm  —  nnd  wann  der  Meisterkneeht  den  Krug  leer  findet,  trotzdem  er 
so  v\qI  dnrstip-  ist  —  stellen  bleibt  man  nicht,  zum  Nachrennen  hat  niemand 
Zeit,  und  ..g^reinn  thuat  nöd  weh",  eine  uralte  Hed.  Auch  beim  „iSchiebera", 
das  ist  beim  Znsammentragen  und  Übereinanderlegen  der  Garben,  künnen 
Kinder  behilflich  sein.  Nach  dem  Schnitte  mteen  die  Kinder  die  Ähren  in- 
samraenklanben,  die  ans  den  Oaiben  gefhUen  sind  —  wenn  dleeelben  nicht 
den  Armen  ilberlasseu  werden.  Im  Herbst  baimMistffihren  nnd  Aekem  kiftuien 
Kinder  zum  „Weisen"  des  Gespannes  oder  zum  „Sot  änzoagn"  verwendet 
werden:  im  letzteren  Falle  schreitet  ein  Kind  dem  Sämann  voraus,  das  ihm 
anzeig-t.  wie  weit  er  das  Saatkorn  auszustreuen  hat.  Ist  das  ,.(ironniat"  in 
der  Scheune,  wird  das  Stall vieh  auf  die  Wiesen  gelassen  und  die  Kinder  zur 
Anfsicht  hesfieat  Jodihe,  das  ist  eine  helle  LutbatMt  Eük  j^HalderllMMr" 
wird  angefiMht,  geeongen  wird  nnd  hemmgesikmngen  md  die  AnMoht  den 
Kiihen  selber  flberlassen;  sie  grasen  gewiss  nicht  gar  weit  über  ihren  Bereich 
hinaus,  denn  wo  die  Glockenkuh  ist,  sind  auch  die  andern,  und  die  Glocke 
haben  sie  der  krummen  .,Straußel"  angehängt  —  die  springt  über  kein  Hag. 
Am  besten  kann  man  das  kleine  Gesinde  beim  B^rdHptelklanbt  n  brauchen;  da 
läSBt  sich  dui'ch  dasselbe  in  der  That  die  Arbeitskraft  eines  Erwachsenen  zu 
«Ddan  SSwedten  ersparen.  Und  anf  das  kommt's  ja  an;  deswegen  braneht 
aneh  der  kleine  Baner  seine  Kinder  yiel  nothwelidiger  als  der  reichere,  der 
sich  mehr  Dienstboten  halten  kann.  Weil  ich  aber  schon  einmal  im  Reden 
drinnen  bin,  was  bei  unsereinem  just  nicht  so  oft  vorkommt,  soll  gleich  alles 
heraus;  nu,  nnd  da  muss  ich  sagen,  dass  aber  anch  der  kleine  Bauer  seine 
Kinder  in  der  „gnöthigen  Zeit"  nicht  lange  braucht,  weil  er  mit  seinen 
schmalen  Ackern  bald  fertig  ist.  Dem  schulpflichtigen  Gelumpe  ist  das  manch- 
mti  fireilich  nldit  recht,  denn,  wie  gesagt,  arbeiten  ^nt  es  enchreekbar  gei-ne, 
weQ  sich  allemal  hftbsch  was  fludlehnen  ISsst  dabei  —  ich  weiA  das  noch  ans 
meinen  Zelten.  Torans  beim  „Halden"  tangt  es  ihm ,  und  ich  habe  mir  fttr 
meinen  Part  solion  oft  gedacht:  Gewöhnt  sich  das  junge  Völkel  durch  dieses 
Hemmbasteln  und  halbe  Schäften  nicht  eher  an  die  Feier,  als  wenn  es  in  die 
Schule  geht  —  selbst  wenn  es  hie  und  da  über  Mittag  nicht  heinigelien  kann, 
weü  der  Weg  zu  weit  ist  und  auf  die  Art  ein  paar  Stunden  ohne  Aufsicht 
bleiben  mnss?  Immer  ein  Ifal  hab  ich  anch  sdhon  mit  meinem  Yettor,  dem 
Bogsteignleitner,  dergleichen  geredet»  nnd  da  hat  er  mir  inr  Antwort  gegeben: 
..Ba  n  ins  inn  Gibirg",  dabei  macht  er  das  Ötschergesioht .  ,,is  's  hold  a  so: 
's  Zohln  liaßen  mir  ins  no  g^folln  —  ma  thuat's  jo  für  .seine  Kinner.  nnd  's  kimnit 
OUs  wieder  amoi  zmck.   Ober  woaßt,  Franzel,  orbaten  müassen  s'  lema, 


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—    7öü  — 


orbaten  mnafi  inseroans  kinna,  und  ban  Sdiulgehn  leroants'  dos  ee  nSd  —  d0s 
86  80g  dr  i!"  Der  Bogst^gnleiten -Vetter  ist  ein  gescbeidter  Kampel,  weil  er 
sogar  noch  gescheidter  ist  als  ic  h .  al*<  r  in  «loiti  Fall  kann  ich  doch  nicht  eins 
werden  mit  ihm.  Denn  wanimV  ]!;int  rii;ir1>oir  ist  ewie-  kein»*  Kunst,  und 
fremd  kann  sie  den  Kindern  auch  dann  nicht  hleil)en.  wenn  si<'  iiiit-r  Schul- 
pliiciit  uaclikommeu,  weil  sie  in  ilu"er  freien  Zeit  bei  jeder  Gelegenheit  zu  dei*^ 
selben  angehalten  werden.  Allzufrüh  und  gar  za  stailc  dUrÜBn  sie  aber  Behon 
deswegen  nicht  hergenommm  werden,  weil  sie  sonst  nicht  gehörig  wachsen 
und  sich  entwickeln  können.  Ist  das  l('i(  ht  ein  Protit.  wenn  man  sich  iu  der 
Junfflieit  sdiindet  und  im  Alt.  r  mieselsüclitifr  ist?  Xa,  ich  denk,  das  lassen 
vrir  j^ut  sein.  E.s  gibt  genu;!-  Bauern,  die  das  nicht  einselien  wollen;  irenide 
denen  gegenüber  ist  die  neue  Schuloidnung  eine  wahre  Wulthat,  weil  sie  die- 
selben abhillt,  dass  sie  ihre  Kinder  zu  Trutz  einem  Paar  Sclinittlinge  (junge 
Ochsen)  plagen  und  rackern.  Na  na,  Bogsteignieiten-Vetter,  's  Schnlgehn 
schadet  den  Kindern  nichts,  anch  dann  nicht,  wenn  der  Weg  weit  ist.  £s 
ist  ihnen  noch  daza  beilsam,  wenn  sie  ans  ihrer  „Oandachf'  (Einsamkeit) 
herunterkommen  zwi.eehen  Leute  und  Kinder.  Sie  werden  krilftigei-  und  ge- 
sünder, fieiindlii  lii'r  und  ireselliger.  It  rju'ii  denken  und  reden  —  und  das  ist 
eine  llauptHUclie,  denn  wenn  einer  ht^ulzulu^e  nicht  das  Maul  am  rechten  Fleck 
hat  und  fest  in  den  Fftosten  ist,  bei  dem  ist's  nm  die  Ecke,  vorweg  wenn  er 
nicht  zn  der  .bShmisehen  Sasse  geUM.  Was  sieht  denn  so  ehi  Holzknecht> 
oder  Almbanemkind  daheim?  Nichts  als  ledig  AVill  k  r  und  Berge.  Es  rutscht 
unter  Schafen  und  Gaißen  lierum.  kommt  auf  allerhand  iJusheiten  und  weiÄ 
nichts  vom  Herrgott  und  nidits  von  der  Welt.  Xa  na,  ich  meine  halt,  das 
achtjährige  Sdiulgelin  thuts  im  Ganzen  recht  gut,  und  wann  es  just  dann 
nnd  wann  ist,  kann  der  Ortsschnlratli  ein  Wörtel  reden  —  der  Bogsteignleitea- 
Vetter  sitst  ja  anch  drinn.  Am  mehrsten,  mein  ich,  sollt*  es  in  Wintmzeit 
erleichtert  werden,  denn  da  ist  es  am  sträflichsten  (beschwerlichsten)  bei  ans 
im  Gebirg." 

Der  Eiseuwurzner  hat  sich  ordentlidi  ereiterti  er  vergisst  sich  ganz  und 
kommt  wieder  iu  seinen  richtisren  Dialect. 

„Die  Seel  knnnt  sich  einer  ausreden  und  helfen  thät's  nix.  WeU  d'  Leat 
olls  s'  viel  vernogelt  sdnd.  I  frog  nar,  wia's  dann  immer  a  Hol  oaner  von 
d&  gonz  Gsclieiden  anftatipfelt,  dass  's  mit  den  longen  Schnlgehn  nix  is.  weil 
mir  nOd  gnaach  Classen  hobn,  nnd  derawegn  d'  Kinner  an  etla  .Tahrl  in  oan 
Clas.s  pehn  müasseut.  I  frog  nar  —  ban  Dreschen  gibt  "s  a  nur  ebn  oann 
Stroach.  und  wia  long  geht"«  deant  her.  bis  s  oans  rechtschofla  kunu:  wia 
öfter,  dass  ma  oan  und  düsselbige  Ding  thuat,  wia  besser  derlemt  ma  's.  — 
Nan  nau,  fohrt's  nar  nOd  anf  nnd  fresst's  mi  nar  nöd  glei!  I  woaß  's  jo  eh, 
Greinzellechner,  i  woaB  's  jo  eh:  za  Deiner  Zeit  wor  dSs  alls  nSd  nothwendi, 
nnd  zwegn  den  worut  d'  Laut  erschreckbor  grob')  gscheidt.  I  woaß  's  jo  eh, 
za  der  üewin'-)  Zeit  hobb's  ledi""''  Kat^kisimus  bugstawirt.  und  wiast  ans  der 
Schul  gonga  bist,  ho.st  in  liudeltosehen  Tumerl  d' Hirn  oiia^schlogn.  zwegn  den 
dass  D'  glerut  host:  „Sicbntens,  Du  sollst  nicht  stehlen".  Xau  gelt,  i  woiUi 'a. 
Und  Dn,  Oltenbanr,  holt  nar  Dein  Goschen;  Da  host  glemt,  wia  ma  dfi  Zoadia 


1)  Enchfeckbor  grob  —  UitensiTische  Bedewdse;  S)  der  sewin  —  derselben; 
3)  ledi  —  ledigUch. 


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—   781  — 

für  Kosper.  ^lelcliiur  uii<l  i5alth;nisoi'  auf  d' Thür  nidlt^i,  mIht  Dfiii'n  Nuui.  Ciod 
verschon,  kouiist  uöd  iuterscbreibu.  —  Briijgs  mi  ober  nöd  aus  meiu'n  üischkur, 
f  maass  Sng  jo  no  aOschichtel  verzöhln,  iirefl  mir  netta-)  voBnSchnlgehnz'Red 
sein  wordn. 

Olsdann  in  Hintern  Oinßbanrn  in  rler  Dibelleiten  sein  Boa,  dOs  is  a  rechter 
.  Lnrnpenbna.  Tn  st^'n»*  Schulrrhiiacholn  liot  er  mehr  Sän.  rds  wns  sein  Voder  in 
der  Gossen  '),  und  Icrna  tliat  dr.s  s»' (ispcnst  iiüd  und  wonn  's  <  aiii  a  on's  Lobn 
gfang.  Xo  und  do  is  umol  sein  Voder  zan  Sclinlmoaster  kemma  und  liot  'n 
gfirok,  wia*s  daim  mehr  mit  sdn'ii  Bnato  Btnacl. 

^fJü  dn  mein'*,  sok  der  wird*s  demi  a  stehn  mit  eam?^  Mit  den 

steht  's  gor  n5d:  —  der  W-ihi  sitzen,  der  Wlldlin,  der  ungsteame!" 

„Ja,  i  hitt  —  wonn'.s  Imlt  do  a  wen?  iniirli  war."  nioant  der  Giaßbanr. 

..Geht  uöd  so  leicht,  as  wia  's  ös  uioants!"  .snk  der  Hchullehrer,  ..Do 
schauts  her,  i  hon's  schon  uufgschriebn."'  Und  losst  'n  in  sein'n  Katerlog 
einliischaun.  No,  wos  will  er  dann  oft  mocha.  Bedea  hilft  do  nixi,  denkt  er 
eam  nnd  gdtA.  In  Somita  draof ,  iria  ei  sein  Rhirin  zan  Kirchagehn  zmmm> 
rieht,  80k  er  ihr,  sie  sullt  an  Zwiheanler  *)  Mil  mitnehma,  und  sullt'n  zan  Schiil- 
moaster  znhi  trogn.  (Juat.  D'  Bänrin  geht  furt,  schmiert  si  sclien  hoaiiili  inn 
Schulmoaster  sein  Knchel  einhi  und  sok  za  der  Frau .  dö  just  bau  Herd  steht : 

„So.  i  bitt  recht  lleilSi  —  i  bracht  a  \vei)g  a  Laekerl  a  Mil  —  V'itt  gor 
sehen,  nöd  bös  sein,  bau  ins  niuaii  ma  hold  in  guuteu  Willn  u  dazua  roateu '*).•* 

No,  d'  Fran  Udenkt  d  gld  nnd  will  in  d*  Stabn  einhiweisen;  ober  d' 
BSnrin  eok: 

,^a  na,  nixi  z'  donga  —  zuhit  nöd  ans  —  i  niuass  ml  8chlenn*n"),  hobnt 
jo  schon  z^omni?lllut,  ziemt  mi.  So  —  pHat  God  —  und  mein  Hefii  mia  n  1 
schon  wieder  ainol  kriagn!"  — 

Nau,  und  wia  d"  Schul  wieder  oufong,  kimmt  in  hintern  (iiaUbaurn  .sein 
Malefizbna  riehti  in  d'  dritte  Qa». 

eok  er  oft  za  der  Bänrin,  „Da  los,  inaer  Mil  bot  irg  ernst  anf- 
gworfa  ^  —  bot  gor  in  Bnabn  anf  d'  Hech  ghebt.*"* 

So  hat  der  Eisenwnrzner  Fmnz  erzithlt  :  darauf  trank  er  sein  ..Xoigel"  aus 
und  verabschiedete  sich.  Die  Geometer  lobten  seine  Einsicht,  der  Altenbauer 
lobte  sein  gutes  ilundstiick  und  freute  sich,  dass  er  doch  auch  einen  Schul- 
lebrer  ein  bischen  durchgelassen  hat  Der  Greinzellechner,  der  sagt  —  gar 
nichts,  nnd  wenn  man  annehmen  wSrde,  dass  anf  ihn  die  AnaeinanderBetzongen 
vom  Eisenwurzner  Franz  den  tiefsten  Eindruck  gemadit  haben,  so  kBnnte  man 
am  Ende  Becht  luiben. 

1:  Ein  aliergluubis<ln.'r < 'uuuch ;  2)  netta  — netto,  gerade.  ..just";  3i  Gössen 
—  Schweiueptlitze;  4)  ZuilieuiU  r  —  großer  Topf  mit  zwei  Heukehi;  b)  roateu  — 
rechnen;  0)  schleun'n  —  be.scblcuneu;  7)  iig  guat  aiifgwot&  —  intensivlsch:  sig 
gnt  au^evorfen,  d.  i.  sehr  viel  Oben  sngeietst. 


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y«Ikswirtocliuft  und  Socklphilosoplüe. 


nter  dem  Titel:  Volkswirtschaftliche  und  socialphilosophisehe 
Essays  yon  Dr.  Wilhelm  Neurath,  Docent  aa  der  k.k.  teehnfschea  Hoetachnle 
in  Wien  (Wien,  Verlag  von  FrMk,  8^  S.  521)  haben  wir  eine  Reihe  gedie- 
gener Arbeiten  vor  uns,  die     wie  verschieden  sie  beim  ersten  Anblick  zu  sein 

scheinen  —  zij<?amnitm  ein  sroßes  Ganzes  bilden.  Ein  Gedanke  durchzieht  die 
fünf  gesoii(l»'rtfH  Abhandlungen  und  eine  Mct^  wird  in  ihnen  verkörpert,  .la 
der  Verfasser  mit  idealem  Schwünge  nach  einem  und  demselben  Ziele  lossteuert. 
„IdealisDun  der  Arbeit"  —  so  kündigt  sieh  uns  in  der  Eiakitang  das  Werk 
an  nnd  Itthrt  ans  in  ein  reiehhaltiges  Gedankenleben  ein,  das  gieicfasam  die 
Werkstntte  unseres  Willens  darstellt,  eine  WerkstÄtte,  in  der  der  BestimimiBga- 
gTUud  für  die  physische  Kratrriitladnn?  nnsgearbeitet  und  die  Richtun?  gMiao 
vorher  bestimmt  wird.  Der  Mens«  ii  liat  langte  gearbeitet,  ehe  er  zum  Bewusst- 
sein  kam,  dass  er  von  Gründen  geleitet  wild,  die  sein  Geist  festhalten,  näher 
bestimmen  kann.  Der  Mechanismus  vererbte  sidi  von  Geschlecht  anf  Oesdileclit, 
nnd  was  den  Vater  trieb,  das  that  der  Sohn  ihm  nadi.  Die  üidlvidnellen  An- 
lagen blieben  dabei  unbeachtet.  Der  Socialphilosoph  spricht  es  geradem  aas, 
„dass  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  die  Wissenschaft  meist  zu  spitt  komme:  sie 
scheine  die  Eule  zu  sein,  wtdchc  am  Abend  des  historischen  Tages  ihren  Flug 
unternimmt."  Die  lUldunii  liat  in  der  That  noch  nicht  den  ganzen  Mensehen, 
soweit  das  innere  Wesen  es  gestattet,  vergeistigt.  Die  Praxis  ebnet  noch 
immer  der  Theorie  die  Bahn,  weil  Theorie  md  Praxis  dordi  Herr  und  Knecht 
getrennt  sind.  Da,  vo  die  Arbeit  das  Leben  veigeistigt,  wo  der  die 
Lebenskraft  durch  eine  Kette  von  Leistnngen  versinnlicht,  da  wirkt  und  arbeitet 
mix  Vorliebe  das  natürliche  Interesse,  die  Liebe  zur  Besehilfligung  winl  immer 
reger  nnd  der  (ieist  holt  weit  aus.  um  die  Lebenskraft  zn  entladen.  ..Mit 
jedem  großeu  Fortscliritte  menschlicher  Cultur  —  sagt  Neurath  —  erhebt  sicli 
die  Ahnung,  dass  die  Arbeit  ein  erlösendes  Werk  voIMBhrt  zn  einer  immer 
helleren  Brkenntais".  Neurath  ist  ganz  Socialphilosoph  und  hat  sein  Spätem, 
seinen  Standpunkt,  von  dem  ans  er  das  historische  Material  zu  verarbeiten 
sn<lit.  Selbst  den  griechischen  Arbeiter  hat  die  Arbeit  in  die  geistice  Welt 
hineingetragen.  ..Dieser  Ai-beiter  —  sagt  er  —  legte  et\v;is  von  seiner  .'^eele 
in  jede  Linie,  die  er  schaute,  in  jede  Linie,  die  er  zog,  in  jeden  Hammerstreich, 
den  er  fährte.  Liebe  zum  Schönen  dnrchhaachte  seine  Seele  und  eine  solche 
Liebe  spricht  aus  seinem  Werke."  Gewiss  ist,  dass  die  Weehsehrirkung 
zwischen  Arbeit  und  geistiger  Thätigkeit  so  beschaffen  isl,  dass  wir  nicht 
immer  genau  angeben  können,  oV»  wir  die  Ui-saihe  eines  neuen  Fortschritte« 
in  die  geistige  Sphiiie  od»-r  in  den  Entwickelunsstrana-  der  ArVieitskraft  ver- 
setzen sollen.  Der  \'t'rfasser  führt  diesen  Grundgedanken  const^ucnt  dnnh. 
„r>ie  Industrie  —  sagt  er  —  steigert  nicht  nui-  die  Macht  des  Menücheu  übi*r 
die  niedrigere  Natur,  sondern  sie  fördert  aneh  die  Durcbgeistigung  des 
menschlichen  Organismus."    Mit  diesem  Grundgedanken  entwickelt  der  Ver- 


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—   783  — 


fasser  den  AngrilVspunkt  für  die  Betrachtung  der  socialen  Frage,  die  er  in  der 
folgenden  liöchst  interessanten  Arbeit  uns  vorführt. 

Warum  in  der  Gesellschaft  Plage  und  Gennss,  Arbeit  and  Besitz  SO  un- 
gleich Tertheilt  aeien,  dass  man  beinahe  sagen  könnte,  dass  der  Lohn  um  so 
größer,  je  geringer  die  Leistung  für  das  sociale  Ganze,  und  dass  am  traarigsten 
gerade  das  Leos  derjenigen  seil  die  sich  am  scütrersten  ond  härtesten  abmühen 
im  Dienste  für  das  Ganz»',  —  diese  Fraire  sti  wol  so  alt,  wie  die  Cultur  und 
die  philosophische  Weltbetraclitung.  Z\\  <  i»  i  lei  Antworten  auf  diese  Frage 
seien  einander  stets  entgegengestellt  worden.  Man  wies  auf  einen  geheimen 
göttlichen  Rathschloss  oder  auf  den  aristokratischen  Trieb  der  Natur  hin,  um 
bestehende  sociale  Ungleichheiten  n  vertheidigeii*  Man  berief  sich  hingegen 
oqf  das  Ideal  eines  WiUens  im  Himmel  oder  anf  ein  Ideal,  das  in  uns  spricht, 
om  die  Ungerechtigkeit,  welche  im  socialen  Leben  waUet,  zu  verdammen. 
Wie  diese  zweierlei  Antworten  immer  wieder  auftauchten,  vom  Altoithum  au 
bis  in  imsere  Tage.  da.s  schildert  der  Autor,  indem  er  sich  in  den  (reist  der 
Zeiten  und  Pai'teieu  zu  versenken  und  diese  gleichsam  belbst  das  Wort  führen 
an  lassen  yersmeht  Jede  Partei  sieht  die  sociale  vm  tbat  anderen 
Seite.  Sie  eitet  Wahrheit,  aber  nicht  die  volle  Wahrheit,  aondeni  je  eine 
Perspective.  Von  einem  Planeten  ans  betrachtet  jede  Partei  oder  Schule  die 
Bahnen  der  andern  Planeten.  So  empfängt  man  Zeirl)Uder  der  wirklichen 
Wege,  welche  y(n\  den  AVeltkr.i-pem  beschrieben  werden.  Man  müsse  in  der 
Wiss«'nschaft  die  Sonn»-  als  Standpunkt  wUhlen.  \'on  einem  solchen  Punkte 
aus  will  uns  der  Autor  die  sociale  Frage  betrachten  lassen,  indem  er  vor  uu- 
wtoBtm  Aqge  die  soekde  Frage  in  der  UeDschhtitsgeaohiohto  immer  wieder  lösen 
ond  irieder  erstehen  Iftsst.  Beide  Parteien  sdheinen  bis  in  einem  gewiesen 
Pankte  in  ihrem  Rechte  zu  sein.  Alle  Jlenschen,  jeden  Menschen  zn  einem 
vollgeistigen  Leben  emporzubrüigen,  alle  Einzelseelen  zu  einer  Geistessymphonie, 
zu  einer  einzigen  Menschheitsseele  harmonisch  zu  vereinen,  das  ist  das  von  der 
Geschichte  Hnu:<'.strebte  Ziel.  Das  wird  von  dem  Gewissen  gefordert,  vom 
Glauben  geahnt,  von  der  2satur  unbewusst  schon,  von  der  Gesellschaft  minder 
oder  mehr  bewnsst  Schritt  Ar  Schritt  der  Whrklicbkeit  näUei-  gebraeht  Der 
Weg  fordert  aber  die  Lösung  vieler  Einselprobleme  and  Ar  jedes  dieser  Probleme 
eine  bestimmte  sociale  Gliedemng  der  Nationen  und  bestimmte  Ungleichheiten. 
„Die  Geschichte  begünstigt  stets  diejenige  Gesellschaftsciasse,  deren  die  Zeit 
als  einer  herrschenden  (  lasse  bedarf  ...  So  waren  der  kriegerische  Ad»  !  und 
die  geistliche  liieraidiie  (»rganische  Milchte,  deren  das  Mittelalter  beduifte. 
Sie  verloren  ihie  Macht  erst  dann,  als  dwch  den  Fortsckiiti  des  europäischen 
Lebens  ihre  einstige  Bedeatnng  Ar  dieses  Leben  verloren  war.  Wie  ebist 
Büdnng  und  idealer  Sinn  im  Priestertham,  kriegerisoher  ond  politinher  Geist 
im  Adel  concentrirt  war,  so  in  unserer  Geschichtspexiode  Capitalisationstrieb 
und  Untt-rnehmangsgeist  in  der  Bourgeoisie.  Jeder  herrschende  Stand  sei  be- 
stimmt, irgend  eine  Richtung  des  Lebens  in  sich  zu  pflegen  und  dann  das 
Resultat  zum  Gemeingute  zu  niachen.  Auf  den  Aristukrati.sinus  muss  der 
Demokratismos  folgen,  wenn  die  erreichte  Cultur  nicht  erstairen  und  absterben 
soIL  Auch  die  Concentration  von  CapitaJsfam  und  wirtschaftlichem  Unter* 
nehmnngsgeist  in  bestimmten  Nationen  —  Holländer,  Englilnder,  Juden  —  hat 
eine  solche  Bedeatnng  and  müsse  dieselben  Geschicke  haben.  So  wie  einst 
die  von  der  ^ziesterkaate  snerst  gepflegte  Wissenschaft  und  ideale  Gesinanng, 


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—   784  — 


sodann  der  vom  Adel  entwickelte  kiiegeriscUe  und  politische  Sinn,  ^  müsse 
nun  wirtschaftlicher  Geist  und  Verwaltmigsgesehick  ans  der  Bongeoisie  in  alle 

Classen  fiberstrümen.  »Auf  Basis  einer  bestimmten  Coltnrbreite  ist  nnr  eine 
bestimmte  Caltnrhöhe  zu  erreichen"  (Seite  144).  Die  einseitig-e  Herrschart  der 
Capitalisten-Unternehnierclasse  scheine  nnn  ihrem  Ende  nahe.  Daht-r  stammen, 
wie  der  Autor  (Seite  140—- 153)  na»  li7,inv.M"?i  ii  sucht,  die  Erscheinunj^en  dei- 
sügenaunti;n  allj^i.'meinen  ÜbeiTproductiun  und  der  gewaltigen  Wirtschiil'tskrisen 
miserer  Tage.  Die  Consiimtionshasis  ist  m  eng  geworden  ond  mfisse  dadnrch 
erweitert  werden,  dam  man  neue  Vmker  und  Volksdassen  zn  grOfierer  Gon- 
sumtionsfitliigkeit  erhel)t.  Wenn  nicht  die  Massen  einem  edleren  Gennas-, 
Familien-  und  (üeistt  sU  ben  zusrefiihrt  werden,  dann  k'"nne  der  Reichthnm  auch 
nicht  ferner  fortsclirtittn.  Zu  tiner  Verbreiterung  des  Wohlstandes  müsse 
gegritteu  werden,  wenn  es  nicht  mit  der  Erhöhung  desselben  —  bei  den  We- 
nigen —  und  mit  der  Coltiir  übeiliaHpi  zn  Ende  gehen  soU.  Der  Weg,  anf 
welchem  diese  Erweiterong,  welche  zogleich  eine  Veijitognng  unserer  Coltnr 
sein  würde,  zu  erreichen  sei,  ist,  nach  An>ii  hr  des  Autors,  nicht  eigentlich  erst 
zu  entdecken.  Es  bedürfe  keiner  Erlinduiiir  für  Lr.sunar  der  socialen  Frage. 
Die  zu  benutzenden  Eleinetite  lägen  bereits  vor.  so  im  Arbeiter-Vei-sichernugs- 
wesen,  in  den  wirtscliattlichen  Genossenschaften  mid  Corporationen  u.  s.  w. 
Stetige  Ausbreitung  und  orgiinische  Fortbildung  dieser  Ansätze  zn  neuer  Social- 
gestaltnng  werde  dner  nenen  Periode  des  Gnltnrlebens  den  Boden  bereiten. 

In  dem  Essay  „Darwinismns  ond  SodalSkonomie''  wird  zn  zeigen  versacht, 
dass  der  nnideale  oder  irreligiöse  Charakter  nnserer  Zeit  dnrch  gewisse,  von 
der  jetzigen  Geschiditsperinde  zu  lösende  oder  schon  «reinste  Proldenie  bedinsrt 
sei.  Das  Versenkt  sein  in  Industrie.  'I'echnik,  Wirtschaft.  Keichthiunserwerlt  ii.s.  \v. 
sei  im  Weseu  ein  Aufspeichern  von  materiellen  Machtmitteln  und  IviUfien  für 
die  kommende  Periode  idealistischen  Strebens  ond  Schaffens.  Es  herrscht  hente 
ftberall  die  MittelbOdong,  wdl  nnr  diese  ansgleichmd  im  Ganzen  nnd  hebend 
auf  die  niederen  Classen  leicht  wirken  k«"»nne.  j^elbst  die  nmterialistische  und 
Danvinistisclie  IMiiitisophie  werde  sich  als  ein  l'ionnier  für  die  Ausitreitung 
einer  den  wahren  (ilauben  mit  tiefem  Weissen  versöhnenden  Idealithi!i'Sii))hie 
bewUhren.  „Die  Sonne  des  Idealismus  geht  uur  so  unter,  wie  die  Griechen  den 
Untergang  des  Helios  gedacht:  Er  sinkt  des  Abends  hinab  ins  Heer,  nm  er* 
frischt,  veijflngt  ond  verschont  am  folgenden  Korgen  emporzntanchen  nnd  im 
Glänze  seine  eriiAbene  Dahn  wieder  dahiuznwandeln"  (Seite  ISl^  i.  Der  Autor 
sucht  nachzuweisen,  d;t>s  dem  ..Kampf  ums  I^asein'*  nnr  eine  Nebenrolle  unter 
den  Factnren  der  Natur-  und  Menschheitentwiekelung  zufalle.  Nicht  die  Triebe, 
welclie  nach  Brot  rufen,  und  jene  Triebe,  welche  auf  \'erniehnmg  der  ilen.^chen- 
zahl  hinwiikeu,  seieu  die  eigentlichen  Quellen  des  socialen  und  meuschbeitlichen 
Fortschrittes.  In  der  Natur  liege  eine  Idealwelt  geborgen  nnd  ihr  Drang  zn 

nnd  Bewnsstsdn  empor,  'das  sei  der  eigentliche  Grund  alles  Geschehens, 
alles  Strebens  nnd  alles  Kampfes.  Jedes  Atom  sei  eine  Seele,  nnd  jede  solche 
Elenientarseele  sei  in  sich  ein  Abbild  des  gesammten  Universums,  berce  in  sich 
ein  Ehenbild  der  irt  sanimten  Welthistorie.  Um  diese  Lehre  ilarzustellen.  rnft 
der  Autor  die  Physik,  die  Chemie,  die  Physiologie,  die  Psychologie  und  die 
Philosophie  der  Geschichte  zn  Hülfe.  Aus  der  materialistischen  Entwickdnng»- 
lehre  wird  so,  gleichsam  vor  nnsem  Angen,  eine  idealistische  Evolutionstheorie 
geboren.  Der  Sieg  einer  solchen  Idealphilosophie  ftber  den  Materialismus  wurde 


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—   78Ö  — 


jedoch,  wie  der  Autor  meiut,  nicht  aasreicheu,  um  auch  unserem  praktischen 
Leben  wieder  ideale  Tiefe  zo  YerieflieiL  Ans  dem  Verstände  aUein  kSnne 
der  IdeaUsmns  noch  kein  echtes  Leben  sangen.  In  nnsereu  Oemtttbe,  ja 
vielleicht  selbst  in  unserem  Blnte,  müsse  sich  ein  Process  der  VerjOngung,  der 
Kenaissance  vollziehen,  wenn  nnsere  Cnitor  nicht  wieder  so,  wie  jene  der  an- 
tiken  Welt,  bankerott  werden  solle. 

Aus  dem  bisher  Mitgetlieilteu  ist  wol  schon  zu  ersehen,  dass  in  dem  an- 
gezeigten Buche  ein'  Vei*such  vorliegt,  das  wirtschaftliche  und  sociale  Leben 
▼on  einer  nenen,  den  Pftdagogen  sicherlidi  anheimelnden  Seite  zn  erfbrsdieii 
nnd  darsostellen.  Der  Realismus  des  wirtsefaaftliehen  Gebietes  erseheint  hier 
als  idealistisch  dnrchseelt  oder  als  noch  ideaUstiseh  zu  dnrchdringrader  Stoff. 
Die  Nationalökonomie,  bisiier  blos  den  Praktikern  und  Fachleuten  zugewendet, 
will  sich  in  diesen  Essays  zu  einem  Zweige  allgemeiner  Bildung  erlieben.  Die 
Betrachtung  wirtschaftlicher  und  socialer  Probleme  soll  den  Geist  aufhellen, 
vielseitig  anregen,  mit  neuen  Begriffen  bereichem  und  zugleich  dem  Gemüthe 
eine  erfrischende  nnd  stftrkende  Nahrung  znflihren.  Das  sind  oflbnbar  die  Li- 
tentionen,  welche  den  Antör  so  der  gegenwirtigen  Darstellong  seiner  Oedanken 
bestimmt  haben.  Auf  das  Fachliche  in  diesem  Buche  einzugehen,  kdnnen  wir 
um  so  eher  unterlassen,  als  dies  schon  mehrfach  in  andern  Zpitschriften  geschehen 
ist.  Nur  sei  bemerkt,  dass  sich  der  Autor  einer  gemeinverständlichen  ond  an- 
schaulichen Behandlung  seiner  Themen  aufrichtig  befleißt. 

Wir  glauben,  allen  Pädagogen,  nicht  blos  den  Lehrern  wirtschaftlicher 
nnd  commercieller  Fächer,  dieses  Werk  znr  Lect&re  warm  empfehlen  zn  sollen. 

W.  0. 


fadagogiom.  4.  Jtbrg.  Etü  XII.  SO 


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Eine  «Ite  Cnlturkranklieit 


XJnter  dem  Tltd:  KNihülsmits,  Peesimiemns  nnd  Weltschmerz*' 
hat  Stephan  Gätschenb erger  eine  geistreiche  Abhandlnngr  veröffentlicht 
(Berlin,  bei  Karl  Habel,  39  S.,  0,50  M.),  anf  die  wir  nnsere  Leser  anfinerksam 

maclion  wollen.  Sie  entliUlt  eine  Reihe  liistorisclier  Naclnveise  über  die  Ent- 
stehung und  den  Verlauf  der  im  Titfl  hezt'iehneten  Cultnrkrankheit  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  und  in  veisckiedeneu  Ländern,  ist  also,  wie  wir  uns  aus- 
drücken mochten,  ein  Capitel  zur  moralischen  Pathologie  der  Menschheit  Uan 
kann  diese  Abhündlnng  anch  einen  Beitrag  znr  VOlkerpadagogik  nennen,  in- 
sofern sie  durch  abschreckende  Beispiel^  als  eine  Art  „Krebsbüchlein"  großen 
Stils,  vor  jenen  Thorheiten  und  Sünden  warnt,  welche  von  Jeher  den  sittlichen 
Verfall  ganzer  Nationen  herbeigetührt  haben.  Und  hierauf  hinzuweisen,  um 
nicht  nur  eine  tiefere  Erkenntnis,  sondern  auch  eine  wirksame  Bekämpfung 
alter  Schäden  anzubahnen,  ist  oflbnhar  Hauptzweck  der  angcfülirten  Schrift. 
Die  enge  Beziehung  seiner  Gedanken  znr  Gegenwart  dentet  der  Verfosser 
selbst  in  folgenden  Worten  an: 

«"Wir  leben  eben  jetzt  in  der  Ära  der  großen  Kriege,  des  rein  materiellen 
Strebens  nach  Besitz  und  (  Jenuss,  im  Zeitalter  der  (Gründer  und  Borsenspieler, 
der  \'er;l(  hter  ehrlicher  Arbeit  und  idealen  Strebens.  Es  ist  dies  eine  schlimme 
und  vuraussichtlich  lange  Übergangsperiode.  Die  Wirkung  kann  erst  mit  der 
Ursache  verschwinden.  Die  Krisis  vrird  sich  einstellen  nnd  erst  nach  ihr  Hast 
sich  eine  Bessening  hoffen." 

Doch  in  der Schildemng  nnserer Zeit  wollen  wir  Herrn  Gätschenberger 
nicht  folgen:  wir  müssen  in  dieser  Hinsicht  auf  seine  treffliche  Abhandlung 
selbst  verweisen.  Nur  einige  der  historischen  Betrachtungen  des  Herni  Güt- 
schenberger  wollen  wir  hervorheben,  die  Nutzanwendung  dem  geneigten 
Leser  fiherlassend. 

Die  alten  Igypter  und  Inder  wnssten  von  keinem  Pessimismus,  sondern 

ffihrten  ein  gl&ckliches  und  znfHedenet  Leben,  so  lange  ilir  Staatswesen  nicht 
verdorben  war,  so  lange  —  .,e8  einer  nrganisirten  Prie.sterkaste  im  Bunde  mit 
Despoten  noch  nieht  gelungen  war,  die  Völker  durch  Kriege  zu  verwildern 
und  durch  Aberglauben  die  Geister  zu  unterjochen".  Aber  das  Unheil  kam. 
„Wie  die  Ägypter,  verloren  auch  die  Inder,  als  ihre  Natai^esänge  durch 
Kriegs-  und  Heldenlieder  TerdrSngt  worden,  als  eine  ESnigs-  nnd  Priester- 
herrschaft mit  strengem  Kastenwesen  sich  gebildet,  ihre  Heiterkeit  und  Lebens- 
lust der  Art,  dass  sie  das  Muster  aller  Büßer,  hartnäckiger  Asketen,  Mystiker, 
Grübler  nnd  Wellverächter  wurden."  S(«  ercing  es  aueh  den  l'ersern.  As- 
syrern  u.  s.w..  kurz  allen  Völkern,  welche  unii^arnt  wurden  von  jener  dnjtpriten 
Despotie,  die  auf  dei*  einen  Seite  den  Ekel  der  Übersättigung,  auf  der  anderen 
die  Yerzweiflong  des  Elendes  gebar.    „Dieter  Drack  erzengte  anch  den  Pet- 


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—   787  — 


simismns  der  hebräischen  Propheten,  uie  aiulerriseits  die  Sardanapalische 
S'clnveljLTici  und  das  Hareiiislelien  ihrer  Fürstt  n  jent'  Blasirtheit  hervorrief,  die 
sich  in  dem  Salomonischen  Aussiinuho  Concentrin:  Alks  auf  der  Welt  ist  eitel. 
Auch  das  Thema  vom  Sündenfall,  der  Erbsünde,  der  rrUdestinaiion,  der  Gnade, 
das  von  assyi-ischeu  Quellen  in  cUe  sogenannten  mosaischen  Schriften  nnd  von 
da  ins  ChristeDthnm  fibergieng»  ist  echt  orientalischer  Art .  .  :  .  Die  Hagier 
der  Perser,  wie  die  Pi-iester  der  Juden  und  anderer  Orientalen  unterliefiwi  na- 
türlich nicht.«,  dnrcli  die  Schrecken  ihrer  Dog^nen  alle  Geistc!-freiheit  zu  ver- 
nichten, das  ^anze  Leben  der  Völker  unter  ein  sclavisches  Joch  tyrannischer  ^ 
Gesetze  zu  bringen."  —  Ähnliches  versuchten  mit  wechselndem  Erfolge  die 
Priester  in  China  nnd  Japan.  Besonders  gut  reussirte  der  Islam,  welcher  „d\e 
freien  nnd  glfickUchm  Araber  in  nnglfickliche,  fwatische  nnd  bomirteSdaYen" 
verwandelte.  Bevorzugte  Geister,  besonders  Dichter,  suchten  sieh  dem  ans 
dem  Unglück  der  Völker  entsprungenen  Weltschmerz  durch  eine  Art  von 
Gnlc-enlmmor  zu  entziehen.  „So  reagirte  das  freie,  denkende  Individuum  auch 
im  Grient  gegen  den  Iksitotismus  der  Priester  und  Herrscher;  die  Massen  aber 
verfielen  diesem  Despotismus,  und  der  ganze  Welttheil  blieb  der  höhei'en  Ci- 
vilisation  nicht  nnr  geraubt,  sondern  ancli  eine  stete  OeCdir  fttr  die  Ent- 
wickelang des  Abendlandes,  das  sidi  nnr  mit  Mlihe  seiner  Waffen  nnd  Dogmen 
erwehren  konnte.  Der  schöne,  heitere,  freie  Geist  des  Griechenthnms,  der  den 
asiatischen  Despotismus,  wie  die  Priesterschaft  von  sich  abzuwehren  veil> 
stand,  kannte,  so  lange  er  sich  die  politische  Freiheit  bewahrte, 
nicht  den  aus  persönlicher  Unzufriedenheit  mit  den  politischen  und  socialen 
Yeriilltnissen  entstelifinden  PfSRimismns."  Wdl  aber  entstand  derselbe  anch 
hier  nach  dem  Untergänge  d«r  Freiheit  nnd  besonders  seit  dem  Emporkommen 
des  makedonischen  Kaiserreiches.  So  ging  es  im  Alterthnm  weiter,  und  auch 
das  ]\Iittelalter  zeigt  die  nämlichen  path(dogischen  Processe.  „Der  Rankerott 
der  lelijriiisen  Systeme  im  Occident  und  Orient  und  ^«onstiprer,  auch  ]iolitischer 
Einrichtiuigen,  die  dem  Mittelalter  einen  Halt  gegeben,  hatten  zur  Kenaissance- 
zeit  eine  wilde  Skepsis  erzengt,  die  angesichts  des  dem  Leben  folgenden  Nichts 
in  Italien  an  allen  Verbrechen,  in  andern  Landern  zur  Ausgelassenheit  nnd 
Schwelgerei  trieb,  in  edleren  Geistern  aber  tiefe  Melancholie  nnd  Zertissenhdt 
bewirkte.  Und  die  großen  Massen  erlagen  immer  dem  gleichen  Drucke. 
..Es  ist  eben  nicht  zu  leuL'nen.  dass  der  Pessimismus  der  Völker  ein  welt- 
^esi  hichtliches  Product  jeder  despoti.schen,  selbstsüchtigen  Uefrierung  ist.  Wem 
das  Leben  eben  gar  nichts  bietet,  der  muss  es,  wie  Leuaus  Zigeuner,  dreimal 
veraditen.*' 

M8ge  ein  gütiges  Geschick  diesem  alten  Unheil  endlich  ein  Ziel  seteenl 

H. 


60* 


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Die  beste  deatsche  (irammatik. 


Einer  unserer  Leser  richtet  die  Aufniire  an  ims:  „Welches  i;;t  ireüren- 
wilrtig  die  beste  deutsche  Grammatik?  Ein  {gewiegter  Fachmann  antwortet : 
Falls  es  Ihnen  um  die  historische  Erklärung  der  grammatischen  Formen  und 
*  die  Beorliheilimg  der  venchiedenea  q^taktigehen  Systeme  zu  thnn  ist,  ent- 
spricht am  besten  die  dentsche  Grammatik  in  genetisoher  DanteUong  von 
E.  Götzinger  (Aaran,  Sanerländer,  1880).  Die  Schwankungen  im  neuhoch- 
deutschen Sprachg-ehrauch  aV>er  hat  Sanders  in  seinem  „Wörterbuch  der 
Hauptscliwierigkeitt'n  der  deutschen  Sprache"  ((rroße  Ausgabe  [ii  Mk.)  Berlin, 
Langenscheidt,  188Üj  am  Übersicht liclisteu  und  vollständigsten  zusammen- 
gestellt Vom  Standpunkte  des  Sprachpsychologen  behandelt  viele  Ci^tel 
der  nhd.  Grammatik  in  geradesn  ranstexgUtiger  Weise:  Panl,  Prindpien 
der  Sprachgeschichte  (Halle,  Niemeyer  1880).  Auch  Frauer  (nhd.  Gram» 
matik,  Ileidelberff.  Winter,  1881)  wird  sehr  g-eschätzt.  liH^^ondei-s  weg-en  des 
grammatisch-stilistischen  Theiles  seines  ausführlichen  Lehrbuches.  Wilmanns 
deutsche  Granuuatik  (Berlin,  Wiegand,  Hempel  &  Pai'eyJ  ist  eine  geistreiche 
Abhandlung  über  gramm.  Fragen,  auch  in  methodischer  Ansicht  von  Interesse. 

W. 


Schlosswort 

Teil  muss  diesen  Jahrgang  mit  einer  Entschuldigung  schließen.  Es 
liegen  mir  nändidi  noch  eine  ganze  Reihe  von  Manuscripteu  vor,  dei-en  Ver- 
öffentlichung mir  bishei*  wegen  Raummangels  unmöglich  war.  Ich  bitte  die 
geehrten  Yerfksser  nm  Nachsicht  nnd  Yenpreche  den  Abdruck  ihrer  Ab- 
handlnngen  möglichst  zn  besehleonigen.  Sie  mögen  sich  ToiUnflg  damit 
trösten,  dass  dem  Weite  ilirer  Arbeiten  dnrch  die  tuvrttnneidlielie  VenSgemng 
der  Publication  keinerlei  Alibrnch  geschieht.  Den  geneigten  Lesern  aber 
kann  ich  die  \'ersi(  liHruiig  ffcben,  dass  für  den  demnilchst  beginnenden  neuen 
Jahrgang  des  Pädagogiums  bereits  ein  reicher  Schatz  ebenso  lehrreicher  als 
interessanter  Aufsätse  zur  Verfügung  steht  Programm  nnd  Geist  nnaerer 
Zeitschrift  bleiben  selbstverständlich  unverändert  Dütes. 


Verantwortlieher  Betlaetenr:  II.  8t«ia.         nnehdreelUNi  Jalim«  Klinkbftrdt,  Ldpsif. 


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Literatürblatt 

Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  L 

Vorwort. 

Wir  sehen  niis  veranlasst,  den  nenen  Jahrgrang  des  Literatnrblattes  mit 
•  inig^en  aUp^emeinen  Bomerkiingen  zu  eröffnen.  Einige  Autoren  und  Verleger 
haben  sidi  beklagt,  dass  unsere  Recensionen  zu  stjeng,  ja  bisweilen  ungerecht 
seien.  Dem  gegenüber  glauben  wir,  dem  vor  zwei  Jahren  gegebenen  Ver- 
sprechen gemäss,  ebensowol  unbegründeten  Tadel  ab  unverdientes  Lob  vei> 
mieden  sn  haben.  Wir  woUten  nnd  woUen  weder  wahres  Verdienst  Terkletnem, 
noch  für  Wertloses  Beclame  machen,  sond^  der  Wahrheit  die  Elire  geben, 
das  Gediegene  verbreiten,  das  Missinngene  verbessern  oder  beseitigen  helfen 
nnd  dem  Leser  zuverlässige  Winke  geben.  Wir  wissen  reelit  wol,  da*s  Irren 
menschlicli  ist  und  werden  dalier  begründeten  Einwendungen  stets  zugänglich 
sein.  Aber  die  Verfasser  und  Verleger  literarischer  Neuigkeiten  sollen  auch 
ihrersdts  jene  alte  Wahrheit  bedenken.  Sie  kOnnen  ftbersengt  sein,  dass  wir 
nnr  bewfthrten  nnd  nnparteiisehen  Fachmftnnern  Becensionen  fiher^ 
tragen,  und  wenn  die  letzteren  bisweilen  nielit  nacli  Wunsch  ausfallen,  so  möge 
man  doch  ja  genau  prüfen,  ob  denn  niclit  das  betreflfende  Werk  hieran  Schuld 
sei.  Gegenüber  der  jetzt  leider  so  hilntigen  Anpreisung  leioliter  A\  aare  halten 
wir  es  geradezu  für  Pflicht  und  zwai-  füi-  eine  recht  ernste  PÜicht,  auf  dem 
Bfichermarkte  wieder  einem  strengeren  Massstabe  Geltung  zn  verschaffen,  schon 
weil  wir  uns  sonst  einer  Tftnschnng  unserer  Leser  sehnldig  machen  wilrden. 

.  *  Btttes. 


Kurze  pra^niatiselie  Geschichte  der  Philosophie  von  Chr.  C.  Thilo, 

Oberconsistorialrath.  In  zwei  Theilen.  Erster  Theil:  Geschichte  der  grie- 
diiscben  Philosophie,  403  S.  Zweiter  Theil:  Geschichte  der  neueren  Pbüo- 
sopiiie.  4M  S.    Kothen  1880  u.  1881,  Otto  Schulze. 

Der  er^te  Band  dieses  Werkes  bringt  nach  einer  orieutireuden  Einleitung  in 
drei  Abschnitten  die  griechische  Philosophie  und  zwar  1.  die  Periode  des  Sokrates, 
2.  die  Periode  von  Sokrates  bis  Aristoteles.  3.  die  Periode  v(»u  Aristoteles  bis 
zum  Ende  der  nenplatonischen  Schule  sur  Darstellung.  Der  zweite  Band 
beginnt  mit  einer  summarischen  Übersicht  des  Zeitraums  swischen  der  alten 
und  der  neueren  Philosophie  (Kirchenväter,  Scholastik,  Baeo  vonVendam)  und 
behandelt  dann  die  letztere  in  zwei  Abschnitten,  näuüich  die  Philosophie  von 
Des  Carte«  bis  vat  Kant  und  die  Philosopliie  von  Kant  bis  Herbart 

Dass  der  Verfasser  mit  dem  zuletzt  genannten  Denker  sein  Werk  absrbliesst, 
hingt  mit  seinem  eigenen  philosophischen  Staudpunkte,  dem  Herbartiauiscliett, 
znsammai.  Von  diMem  ans  werden  die  im  Lanfe  der  Zeiten  herrorgetretenen 
philoeopbi.scben  Systeme  im  AllLreiiieiiien  auff^cfasst  und  beurtheilt,  erklären 
dch  auch  im  Besonderen  manche  Dispositionen  des  Werkes,  z.  B.  die  starke 
Betonvng  der  Speenlatioii  im  Vergleiche  aar  Ihdvetion,  ebenso  der  Metaphysik 
gegenttber  der  T'sydudogie ;  hiermit  hingt  es  auch  zusammen,  dass  Baco  von 
Verulam  eine  sehr  bescheidene  Stelle  srhSIt  und  die  philosophischen  Leistungen 
nadi  Herbart  nnberttcksichtigt  geblieben  sind. 

Wenn  also  auch  das  vorlieg-ende  Werk  an  einer  trewisson  Kin-;eitigkeit  leidet, 
SO  muss  es  doch  als  eine  äusserst  gediegene,  überall  auf  den  Kern  der  Sache 


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2  — 


eingehende,  vou  reiner  Liebe  für  philosophische  Forschimg  nnd  redlu  hem  Streb»  ii 
nach  historischer  und  theoretischer  Wahrheit  zeugende  Leistuug  deutscheu 
Fleisses  uud  Geistes  bezeichn«'t  werden.  Nur  mit  Bedaneni  verzichten  wir  im 
ninblicke  auf  den  uns  zu  Gebote  stehenden  enijen  Ratun  auf  ein  näheres  Eiii- 

fehen  in  dieses  vielumfasseude  VV^erk,  welchem  selbst  neben  t'berwejjf's  Geschichte 
er  Philosophie  ein  ehrenvoller  Platz  gebührt,  uud  welches  Jedem,  der  mit 
mässiirem  Aufwaud  vou  Zeit  und  Kraft  ein  treue.-}  Bild  »len  Ganges  philosophi- 
scher Jj'orschuug  gowinuen  will,  als  zuverlässiger  und  eiusichtsvoller  Führer 
empfohlen  werun  kann.  D. 

Die  yersShnnng  ron  Natur  und  Cultw«  Yortr&ge  tber  vasen  Zeit 
und  natnrgemli^se  Philosophie  von  Emil  Schreiter.  Ldpog  1881,  L.  Bohn. 

176  S.  2      80  Pf. 

Die  Calamitäteu  unseres  gegeuwärtigau  Culturzustandes  haben  den  Verfasser 
*      veranlasst,  nach  einer  LOsnng  der  Dlraoiianzen  unseres  Zeitalters  zu  forschen. 

In  vier  Vorträgen,  gehalten  in  dem  Verein  für  n;iturgemäsde  Lebensweise,  hat 
er  seine  Anschauuugeu  ausgesprochen;  die  augezeigte  Schrift  macht  nun  jene 
Vorträge  einem  grösseren  Publicum  zugäuglich.  ISe  schildern  zuuächst  die 
soeialen  Zustände  unserer  Zeit  uud  führeu  dann  die  theoretischen  Grundsätze, 
femer  die  praktischen  Maximen  der  Philosophie  des  Autors  vor  und  bezeichnen 
endlich  die  Mttel  und  Wege  zur  V^erbreituug  dieser  Philosophie.  Was  die 
Tendenz  dieser  Vorträge  betrifft,  so  will  Verfasser  eine  Weltanschauung  dar^ 
legen,  „welche  die  scheiubar  unvcrsiilmlichen  G.'<rtiis;itze  von  Glauben  und 
Wissen,  Veratand  uud  Gemilth.  Cultur  uud  Natur  in  iianuuuie  auilüst.**  — 
In  der  Durchführung  dieses  Vorhabens  erscheiuen  zwar  neben  Anderem  aucli 
etliche  sehr  prnbleniatische  Ansichten,  die,  obwol  schon  ^i>\t  längert^r  Zeit  auf 
'  der  Tagesorduuug,  uoch  immer  nur  in  eugen  Kreisen  Anklang  tiuden,  oft  genvdeza 
als  Ahoglanbe  betrachtet  werden.  Allein  sie  werden  hier  wenigstens  in  klarer 
Fassung  vorgetragen  und  mit  Geschick  vertreten,  wie  denn  Verfas-ior  illjorhivupt 
sich  als  ein  wol  geschulter,  fein  gebildeter  M;uui  erweist.  Und,  was  die  Haujii- 
saehe  ist,  der  ganze  Geist  des  Buches  ist  rein  und  edel,  den  schönsten  Idealen 
menschlicher  Cultur  und  Wolfahrt  zugewandt,  mit  den  besten  Gedanken  deut- 
scher Poesie  und  l'hilosophie  genährt.-  Auch  der  Stil  des  Buches  ist  allent- 
halben ansprechend,  eorreet  und  durchsichtig.  Wer  nicht  pednntiieh  Alles 
zurückweist,  was  gegen  sein  gewohnhoitsmässiges  Denken  verstösst.  sondern 
auch  Anderer  3Ieiuung  unbefangen  zu  würdigen  versteht,  wird  daher  das  au- 
geseigte,  viel&eh  belehrende,  kUrende  und  zum  ^nsen  sprechende  Bach  mit 
Vergnügen  nnd  Nntzea  lesen.  Y. 

Über  die  Gesundheitspflege  der  Sehflier  und  uas  von  ihr  in  den  Lehr- 
plan der  Schule  aufzunelimeu,  von  August  G asser,  Lehrer  in  Wiesbaden. 
Wiesbaden  1881,  Ciir.  Limbarth.    I       SO  Pf. 

Die  pädagogische  Literatur  wäcll^l  uumer  mehr  and  mehr  an  nmi  es  ist  dabei 
natürlich,  dass  gar  vieles  Halbe  oder  ganz  Unbrauchbare  mit  in  die  Öffentlich- 
keit gft*?andt  wird.  Wie  in  einer  Aug'  und  Her/,  erfreuenden  Giu-^e  ruht  man 
daher  bei  Krselieinungen  aus,  welche  wie  dieses  ßüchelcheu  einen  wirklich 
pralctisohen  Wert  habeu,  der  übrigens  auch  dadurch  sich  kund  gibt,  dass  der- 
selbe von  fler  königl.  Regierung  in  Wiesbaden,  auf  Autraü:  der  von  derselben 
ernannten  Preisrichter,  mit  dem  ersten  Prei.se  der  Seebodestitt  ung  gekrönt  und 
zur  Anschaffung  für  die  Schulbihliothek  enipfolden  wurde.  Bei  einem  raässigen 
Umfange  t^lüi)  Seiten)  enthält  das  Werkehen  eine  Meni^e  der  für  jeden  S  hul- 
manu  uud  Schulfreund  wichtigsten  Wabriieiten  der  .Sehulhygieue ;  es  zeugt  nicht 
nur  von  grosser  Belesenheit  des  Verfassers  in  der  eiuschll^igen  Literatur  aller 
Culturvülker,  sondern  tjewiinit  nodi  an  Wert  durcl»  den  l'nistaiid.  dass  der 
Leser  in  zahlreicheu  Pussuoteu  aul  die  betreffenden  .Specialwerke  aufmerksam 
gemacht  wird.  Das  Buch  gliedert  meh  in  zwei  Theile:  a.  Ober  die  Oesnndheit»- 
pflef,'e  der  Scliüler,  b.  was  ist  von  der  Gesnndhoit.spflt  L,n'  in  (b  n  L'  liridau  der 
Schule  aut/unehmen?  Der  erste  Theii  handelt  in  einem  ersten  Abschnitte  vou 
dem  Gesnndlieitssustande  nnd  der  Oesundheitsi^ege  unserer  Guiention,  wo 


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• 


—   3  — 


übt^r  (Ion  :illinälilichon  kitriKTliclien  Verfall  des  Menschengesclileclites  £;os]irnchfell 
wird  uml  die  Ursarlien  desselben  iiuseiuander  gesetzt  werden ;  durch  den  /weiten 
AlMcliiütt,  ,.di^  «iescliichte  der  pädagogischen  Geanndheitspflege*'  soll  nach- 
gewiesen wexlt  n.  (lass  die  Gesundheitspflege,  insofern  als  die  Entwicklung  des 
(ieisteslebeiis  in  oigauischeoi  Zusammenhange  mit  der  physLschen  Entwicklung 
stdit,  Sache  der  Sriehnngr  sei,  und  dass  dies  auch  stet^  die  Ansicht  der  ge- 
wiegtesten Pädagogen  war.  Der  dritte  Abselinitt  filhrt  dm  Beweis  für  das 
Thema,  dass  die  Gesundheitspflege  nicht  blos  mit  der  leiblichen,  sondern  auch 
mit  der  geistigen  Natnr  des  Mensdieiii  zu  thun  hat.  Im  vierten  Abschnitte 
erf'»rtert  der  Verfasser,  welr  he  Factnren  l>pi  der  Gesundheitsptlei,'e  der  Schiller 
.  mitzuwirken  haben  und  worin  ihre  Aufgabe  besteht;  diese  i'actoren  sind  der 
Staat,  die  Familie,  die  Schule  und  die  Schfiler  adtiet  Mitten  in  dat  Püaktbche 
seiner  Aufgabe  tritt  der  Verfa-isi  r  mit  dem  fünften  Alisclmitte:  die  in  der 
Schule  zu  Tage  tretenden  Krankheitserscheinungen  und  deren  wahrscheinliche 
ümchen;  als  solche  Schnlkrankheiten  sfthlt  er  auf:  Rückgradsverkrttmmnngen, 
Kurzsiehtigkeit,  Blutandrang  zum  Kopfe,  Blntannuth,  Verdauungsstörungen  und 
Uuterleibskrankheiten  (auch  zu  Mhe  Entwicklung  des  Geschlechtstriebes), 
Kropf,  ansteckende  S^nkheiten  vnd  .endlieh  Ejrankheiten  nnd  KranUiaftigfceit 
des  Nervensystems:  diesen  letzteren  t'lu  ln  ^vidmet  er  besondere  Aufmersamkeit 
nnd  findet  ihre  Ursachen  in  der  oft  fehlerhaften  Art  des  Schulunterrichtes,  in 
der  zu  frühen  Anfhahme  in  die  Schnle  und  der  Übeihttrdnng  der  Schfiler.  Der 
.sechste  Abschnitt  handelt  nur  von  der  Fnige;  Was  ist  zur  Venneidung  resp. 
Beseitigung  der  angeführten  unerfreulichen  Zustände  zu  thun?  uud  beantwortet 
rie  damn,  dass  a.  körperliche  Pflege  (zweckmlssigeEmfthmng;  Gewfthmng  von 
Wärme,  Licht,  Luft,  überhaupt  alles  dessen,  was  ortranisi  he  Wesen  bedllrfen); 
b.  Pflege  der  Sinne;  c.  geistige  Pflege  (Erziehung  zur  Tugendhaftigkeit  nnd 
Vorbereitung  für  das  praktische  Leben)  die  Mittel  fQr  üie  Hebnng  der  Übel- 
stfinde  seien.  Bei  der  „geistigen  Pflege"  bespricht  der  Verfasser  die  „geistigen 
Gebrechen"  der  Schüler  und  deren  Behandlung  in  sehr  eingehender  Weise 
(Leichtsinn,  krankhafte  Empfindlichkeit,  Gefühllosigkeit  und  GemUthsrohheit. 
Trübsinn,  Verdriesslichkeit  und  Unmuth,  heftige  Gemüthsart.  Neid,  Müssiggang. 
Trägheit  und  Gemächlichkeit,  Weichlichkeit,  Unkeuschheit.  Unmässigkeit  uu<l 
Genu.s.ssucht.)  Einen  eigenen  und  zwar  sehr  gelungenen  Abschnitt  tiuden  wir 
dem  Thema  gewidmet:  die  Gesundheitspflege  des  Schülers  liegt  zum  grOssten 
Theile  in  der  IJnnd  der  Mutter  und  Hausfrau:  hier  deckt  der  Verfasser  eine 
Menge  ilängel  unserer  socialen  Verhältnisse  auf  und  deutet  die  Mittel  zu  deren 
Behebung  au.  —  Im  zweiten  Theile:  Was  ist  von  der  Gesundheitspflege  in 
den  Lehrplan  der  Schule  aufzunehmen?  spriclit  der  Verfasser  zunächst  nur  von 
der  Volk-sschule;  er  wünscht  eine  Anthropologie  und  <  iesundlieitslehrc  eingeführt, 
gibt  Lelirniittel  und  Lehrbehelfe  an  und  entwirtt  sodann  einen  ganzen  Lehr- 
gang für  den  pitdagogisch-antliropologiscln  n  Futerricht;  überall  führt  er  die 
Mängel  der  Körperbilduug  an  uud  regt  durch  Fragen  zur  Besprechung  derselben 
an.  Eine  Besprechung  der  Pflege  des  Kindes  und  des  kranken  Menschen  reiht 
sich  an  diese  Aviseinandersetzuns:.  Mit  der  Beantwortung  der  Frage:  welche 
andere  Di.scipliuen  haben  den  Unterricht  iu  der  Antiiropologie  und  Gesundheits- 
lehre zu  unterstützen?  und  mit  einem  Aufsatze  über  die  B^entnng  des  Lehrevs 
in  der  Gesundheitspflege  des  Sdiülers  schliesst  das  höchst  anerkennenswerte 
Büchlein.  —  Wir  haben  deshalb  den  Inhalt  des  Werkchens  detaülirter  als 
sonst  gewöhnlich  gesdiOdert,  nm  anf  die  Reichhaltigkeit  des  Jbhalte  desselbni 
gebührend  aufmerksam  zu  machen  und  bedaneni  nur.  nicht  noch  eingehender 
die  Vorzüge  einzelner  Partien  hervorheben  zu  können.  Auf  das  allerwännste  sei 
dieee  »Geimdheitspflege*'  Lehrern,  Scholfreimden  und  namentUdi  auch  deuHttttem 
empfohlen ;  ^  werden  vieles  Behendgenswerte  in  demaelhen  flnden.   G.  B.  B. 

Krones.  Grundris.s  der  österreichischen  Geschiclite  mit  hesoiulerer  Rücksicht 
auf  Qnellen-  und  Literatorknnde.  Wien  1881 ,  Hölder.  Erste  Liefenugr. 
gr.  8".  194 

Durch  die  reichen  Literaturangahen  ist  der  vorliegende  Grundriss  zu  einem 
gendesQ  unenthehriiehen  Bache  für  jeden  geworden,  ä«t  an  dem  Ausbin  der 


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ÖHtcnvicliisclicn  ( M'scliicht.swisseust'haft  mitarl)eitt't  ndt  r  sicli  auf  Gniinl  des 
Quellen-  und  Hiifsifchriltenmateriales  ein  selbständiges  Urtheil  über  irgrnd  eine 
Streitfinge  bilden  will.  Was  an  Literatur  sonat  mtthsam  und  mit  Zeitverlust 
/usamniengesucht  wenlen  nin^-^tp,  olmc  dnss  man  dabei  immer  die  beruhigende 
Sicherheit  erlangen  konnte,  keine  A  urarbeit  übersehen  zu  haben,  das  liegt  nou 
bequem  und  handlich,  flbersichtlieh  geordnet  und  vollständig  rar. 

Die  AnordnuTiij  ist  dass  vnr  jfilpin  Tapirel.  das  immer  nur  ein  ganz, 
kleines  Stück  Geschichte  in  äusserst  kuaj>|)er  Form  erzählt,  eine  1  bersicht  über 
die  Quellen,  Urkunden  nnd  Hilftschriflten  der  betreffenden  Partie  gesteilt  ist 
nnd  nach  dem  Text  eine  Reihe  von  Anmerkungen,  welche  die  Litei-atumach- 
weise  Uber  die  berührten  Streitfragen  bringen.  Dadurch,  dass  Kronea  die 
einsdnen  Schriften  naeb  ihren  gemdmamen  Hanptresnltaten  gruppenweise  m- 
sammenstelU.  i-^t  e>!  iiiiinflich  geniaolit.  Ach  ras«  Ii  über  die  aHniilhlirhe  Ent- 


Die  Behandlung  der  Frage  nach  der  Abstamniung  der  RunAnen,  der  Bajuwaren, 

deren  niristiani.iimni,''  sind  bcisjiiclswpise  sdlche  mustcrlinfto  Stttcke  in  dieser  ersten 
Lieferung.  Daa  Buch  ist  auf  vier  Lieferungen  berechnet.  Um  den  Inhalt  der 
ersten  kmns  Munidenten,  sei  erwfthnt,  dass  nch  dieselbe  in  ihrer  ersten  HiMte 
mit  (if  r  ^Icfliodik.  dmi  I'-t-sriff  und  der  Behandlung  der  ßsterrei<^hisr-hen  (ie-Johirhte 
bescbättigtj^  dann  die  Epochen  derselben  flzirt  (nebenbei  bemerkt,  liesse  sich 
hier  eine  Yereinfinchung  nnd  markantere  Gliedemng  vornehmen),  endlich  in 
einem  sehr  Idmreiohen  Capitel  die  Ent^virkelungsgesohirlite  der  östoirric  hisdien 
Historiographie  vor  nnd  im  Jahre  1526  schildert  und  dabei  eine  schwer  er- 
reichbare FRUe  biographischen  Details  in  den  Notoi  bringt. — Dhs  nreit«  HSlfte 
erzählt  in  der  ob«  n  ski/zirten  Art  die  (■("^cliichte  der  flstendchischen  LSuder 
bis  ztim  Jahre  lUOU.  Da.s  Buch  wird  in  keiner  österreichischen  Lebrerbibliothek 
fehlen  dürfen,  besonders  aber  üniversitÄtshörem  ein  hochgeschätzter  Freund  sein. 


Kraiiso-Xorger.    IVurscho  Orammatik  für  Ausländer  jeder  Natimuüitftt. 

3.  Aufl.  Rostock,  Werther. 

„Für  Ausländer  j  e d e r  Nationalität."  Durt  h  diesenTitel  verspricht  das  Bttclileiu 
mehr,  als  es  wirklich  bietet;  denn  es  nimmt  nur  auf  solche  Eigenthüniüthkeitcn 
Bücksicht  in  denen  das  Englische  und  Franzosische  vom  dciitschr-n  Spracligebrauch 
abweicht,  und  die  bei  der  Erlernung  des  Deutschen  zu  Feldern  Aulass  geben. 
Seinem  besonderen  Zwecke  entsprechend,  gruppirt  es  die  Declination  nml  <  .  n- 
jugation,  sowie  die  Eintheiluntr  <ler  starken  Verba  in  Classen  ander<  als  .lie 
üblichen  Leittäden.  die  für  Deutsche  zusamnieniiestellt  sind.  Die  Eiuiheilung 
der  Declination  ist  nicht  glücklich.  Wozu  eine  eigene  Declination  der  Demi- 
nutiva?  warum  sind  bei  der  Declinatimi  der  PVemdwörter  die  auch  dem  Aus- 
länder nicht  als  Frenidwiirter  ersclioineuden  ..Engel,  Zins,  Staat"'  erwälmt? 
Wozu  in  einer  fiir  Anfänger  bestimmten  Grammatik  drei  verschiedene  Eiu- 
thcilnngen  der  Declinatitm?  Wozu  eine  so  eingehende  Wortliil  inmr-l'  lire, 
die  doch,  was  die  Ableitung  betrifft,  grösstenthcils  nur  theoretisches  Interesse 
besitzt':'  W^ozu  endlich  die  Er^^ähnung  einer  vierfachen  Tonabstufung?  Andi 
der  Vocativ  als  eicrener  Casus  des  Deutschru  und  der  Cnnditional  ab»  vierter 
Modus  sollte gestricheu  werden;  eben.so  manche  unrichtige  Einzelheit:  z.  B.  S.  öü: 
ein  einseines  Wort,  welches  als  Apposition  gebraucht  nird,  fordert  keine 
Interi)unction.  oder  S.  51:  das  prädicative  Adjectiv  bleibt  stets  unverändert; 
oderS.  216:  nur  selten  setzt  man  bei  Präpositionen,  welche  verschiedene  Casus 
regieren,  das  Substantiv  nur  einmal  (,.mit  und  dme  diese  Chrasd**);  S.  843:  an 
zu :nn ni eu i:es e t ■/ 1 er  Satz  ist  ein  sulrber  einfacher  Patz,  in  welchem  eine 
Gruppe  von  6ubjecten  mit  nur  einem  l'rädicat  etc.  verbunden  ist,  vgl.  dazu 
die  Anmerkung:  einen  solchen  Satz  kann  man  in  so  viele  einfache  Sttne 
fcerlcn-en  als  etr.  S.  154  stehr  ein  starkes  Verbum  (Z.  28  T.  0.),  das  WM  deoi 
Munde  eines  Gebildeten  nie  gebort  wird. 

Über  den  Tadel  dttrfen  w  das  Lob  nicht  vergessen.  Die  Mnstersltie  aiad 
aus  Classikem  gut  gewählt  und  die  Fa-s-sung  der  Regeln  so.  dass  •^ie  «ich  Idcbt 
übersetzen  lassen:  klar  und  prftcis.  Die  bucbhändleriscbe  Ausstattung  des 
W^kes  verdient  alle  Anerkennung.  — ^m. 

YariintwortUclier  Bedaetettr:  M.  Stein.  Bnchdruekerei  Jalia«  Klinkhardt,  Leipxig. 


Wickelung 


betreäendeu  Frage  zu  orieutiren. 


W. 


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November 


188L 


Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  2. 


Gnindzilge  der  pliilosopliiselieii  Propädeutik.  Für  den  Gebnuieli  an 

höheren  Lehraii8talt<»n  zusammengestellt  von  Dr.  Richard  Jonas.  Oberlehrer 
amkönigl.Fripdr.-Wilh.-Gymnasinni  XU  Tosen.  27  S.  Berlin  1881.  IJ.iJaertner. 
„Diese  Blätter  sollen  filr  deu  i'riiuauer  einen  Anhalt  bei  der  Durchnahme  des 
Wichtigsten  ans  der  philosophischen  PropXdeutik  Meten.  Der  Verfasser  hat  in 
denselben  iu  aller  Kttr/.e  dasjenii^e  ziisanuiu-ni^estellt,  was  nach  seiner  ^\jisicht  der 
.Schüler  an  po.«itiveni  Material  sich  aneignen  mn^;  im  Übrigen  will  er  den  Au.stüh- 
rungen  des  Lehrers  den  weitesten  Spielraum  lassen."  —  So  ist  es  recht,  während 
da«  wo  dem  Schttlor  fttrmlicfaeLelirbacher  der  Psvchologie  imd  Logik  in  die  Hände 
gegeben  werden,  dieser  7nm  mechanischen  Answendifrlcnien  verleitet  wird,  und 
der  Lehrer  ni(  lit  viel  weiter  zu  thun  hat.  als  das  (lelernte  /.u  iiberhüren,  wo- 
durch ert'ahninirxniilssig  da.s  ithilosopliische  Interesse  der  Jungen  Leute  mehr  ab- 
frestinni>t"t  als  bt'lebt  wird.  Der  vorliegende  Leitfaden  ffiht  mit  musterhafter 
Klarheit  und  Präcision  die  Hauptpunkte  der  Logik  und  r^ychulugie  und  kann 
mit  den  Worten  ehankteridrt  waiden:  Inun  und  gnt.  D. 

Erssfehmig  und  Oeschlchte.  Ein  Vortrag  von  IL  Lazarns.   öl  S. 

Bre.slaii  1881,  Schottlaender. 

Dieser  schöne  und  uoistvfdle  Vortrag  skizzirt  die  zwischen  CJeschichte  und 
Erzielmug  «tattfindendc  Wechselwirkung,  indem  er  nachweist,  wie  einerseits  die 
in  der  Völkerentwickelnn^'  hervortretenden  Lebenaideale  zu  neuen  Veranstaltungen 
und  Methoden  der  Jugeu(llnMunp:  führen,  anderseits  rnterricht  und  Er/iehnni?  Cör- 
demd  in  die  Cultnrentwickelung  der  Völker  eiugreüenj  wie  letzteres  iu  m>ch 
höherem  Masse  geschehen  könne  und  solle  als  msher,  darflber  gibt  Verfnaser 
eine  Reihe  irediegener  und  fruehtharcr  Anregungen.  Der  Vortrag  i.st  von  dem 
(leiste  echter  Humanität  und  hocb>inuiger  Denkuug»art  durchweht  und  wird 
jedea  dem  Uealen  mgeneigten  Leser  siympatbiedi  Mlluren.  H. 

OmndäBtze  und  C^nindzttge  zur  Anflstelliuig  eines  LelurpUns  fUr 
elneTanbstiimmeiisiislftlt.  Von  Dr.  W.  Gnde,  Dlrector  derprovinzial- 
«tftd tischen  Taubstummen- An.st alt  zu  Stade.  148  S.  Hannover  1881,  Hehving. 
Der  als  ein  theoretisch  und  praktisch  tiirhtitrer  Fachmniin  bereits  rt\hndich 
bekannte  Verfasser  entwickelt  hier  zuerst  in  eingehender  und  sicherer  Weise 
die  Gnmdstttze,  nach  welchen  ein  Lehrplan  fllr  Taubst uninicnanstalten  aufzu- 
stellen sei,  und  entwirft  dann  die  Grundzüge  eines  solchen  Lehr]>l!ins.  wobei  er 
einen  achtjährigen  Si'hulcursus  vorauss«'tzt,  in  welchem  die  Schulerjahrgiinge 
bis  auf  die  der  beiden  letzten  Uuterrichtsjahre  in  natürliche  ('lassen  geschieden 
sind.  \'erfas-^or  arbeitet  überall  mit  selbstsfändig  prüfendem  (leiste  und  mit  steter 
Berücksichtigung  der  anthropulogischcn  Fundamentalsätze,  indem  er  darauf  au.s- 
geht,  an  die  Stelle  bloeser  Meinungen  nnd  Thiditionen  xaTerlissige  Lelngnind- 
Sätze  zu  setzen.  Es  dürfte  schwer  fallen,  'jcircu  <i'ine  Ausführungen  etwas 
£rhebliüheä  vorzubringen.  Dabei  sind  dieselben  nicht  blos  für  Taubstummen- 
lehrer, sondern  fttrPkdagogen  Uberhanpt  von  hohem  Biterease;  insbesondere  gOt 
diM  von  den  lehrreichen  SMrtemngen  tthor  die  Entwickelnng  von  Sprache  nnd 
Geist  bei  Vnlbiunigeu.  F. 

Der  ehr!stH<*ho  Relig:loilsunt4»lT!cllt  auf  (ti  nndlajre  der  heiligen  Schrift 
und  nach  pädjigogischen  Grund.sätzen  iu  der  Obercla.sse  der  \  (dksschule. 
EinHandbndi  fBr  Lehrer  von  Dr.  C.  Kehr.  Seniinardiiector  zu  Halberstadt. 
2  Bände,  363  nnd  334  S.  Pt«is  8Mark.  4.  Anfl.  Gotha  1881,  Thienemann. 

Obwol  wir  den  in  diesem  Werke  zur  Ausführung  gekonmienen  (ii undsätzen 
nicht  vollständig  zustimmen  und  der  Meinung  sind,  dass  der  Keliglonsuntt  rri*  ht 
noch  einer  bedeutenden  Umgestaltung  bedarf,  mUsseu  wir  doch  das  vorliegende 


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Buch  iuner!i;ill>  «Ut (Frenzen,  welche  Itis jetzt  ihmIi  vonseiten  «ler SchuHiehönleu 
festgehalten  wonkii,  als  eiue  gauz  vor/iigliche  Leistuiif^  schulmänniss<-ber  Ein- 
sicht imd  Thäti^keit  auorkennen.  Wer  nach  den  /ur  Ztit  noch  bestdie&den 
Nonrif^ii  in  der  öberehissc  einer  evangelisch  en  Vi'lk<sclmle  Re]ii;ionsnnterricht 
/n  erth(>ilcn  hat,  kann  sich  keinen  besseren  Füliivr  wählen,  aU  dieses  Handbuch 
von  Kehr.  Dasselbe  ist  ttbrigens  ISngst  in  weiten  Kreisen  geschfttst  nad  be- 
darf dahfr  tii»  lir  erst  einer  einstellenden  Besprei  liun^'.  vnn  der  wir  hier  um  so 
mehr  absehen  künueu,  als  die  neue  Auflage  keinerlei  sachliche  Veräuderuugeu 
eifiüiren  hat  D. 

0nindz1lge  der  Anthropologie.    Hit  besonderer  BerttckriGhtagoii;  der 

öesundheitslehre  bearbeitet  von  Heinrich  Vogel.  (Materialien  für  Natur- 
gesdiielite  in  Oberelassen,  erster  Theil.  i  148  S.  Planen  1881,  Xeupert. 

Es  dürfte  übertidssig  sein,  den  Inhalt  dieses  Buches  näher  darzulegen,  da  der- 
selbe dnrch  den  Titel  hinIftngUch  bezeichnet  ist.  Verfluser  hat  ans  denW^lrask 
von  Bock.  Nienie.ver,  Kedani  n.  s.  w.  das  Wissenswerteste  ausgewählt  und  reeht 
gut  wiedergegeben,  klar,  populär  und  ohne  erhebliche  Mängel  Ohne  Zweifel 
xaiin  der  Volksschnllehrer  sidi  dieses  Buches  mit  Natzen  mrVorbereitnng  attf 
den  Unterricht  bedienen:  das  Mehr  oder  Weniger  m  praktischer  Verwendung: 
mnss  seiner  Auswahl  Uberhu>sen  bleiben,  da  in  dieser  Hinsicht  die  sehr  ver- 
schiedenen Zustände  und  Bedürftüsse  der  einzelnen  Schulen  massgebend  sind.  D. 

Gnreke*  Deutsche  Schnlgraminatik.  Aufgabe  für  österreichische  Scfanlen 
von  Hermann  Glöde,  Dr.  pbil.  Hamburg  1881,  HeiSRier. 

lieferen?  meint,  d:\ss  dieser  ne»ien  An.sgabe  von  (Inreke  die  Virrede  vielfach 
.schaden  wird.  Der  Bearbeiter  sagt  hier,  dass  er  Abstand  nehmen  luuMcte. 
manche  Capitel  der  Wortlebre  und  durchschnittlich  die  iresam»t« 
Syntax  von  (irund  aus  uni/ugest.ilteu,  wie  er  es  am  liebsten  gethan 
hätte.  Und  als  Grund  seiner  Enthaltsamkeit  führt  er  an,  das  Buch  habe  sich 
seine  Itoterreichischen  Gitnner  in  der  Form,  in  der  es  vorliegt,  errungen.  Wati 
wenlen  sich  die  ö.steri'eichisclien  3IittelsclinllehriM-  ilenken.  wenn  -ie  die-os 
„.schmeichelliaftc''  Compliment  zu  Gesicht  bekommen';'  Auch  iu  der  Wahl  der 
Sätise  bekundet  die  heue  Auflage  keinen  rediten  Takt:  Blftcher.  Gustav  Adolf. 
liUtlier  di» Calvinisten,  die  brajidenburgischen  Kurfürsten  kehren  in  den  Mu-r*  r- 
sätzeu  mehrfach  wieder,  dagegen  tinclen  sieh  Sätze,  welche  von  den  Thateu 
Österreichischer  berühmter  Maiuier  reden,  selten  oder  nie.  — . 

Herbst»  Hilfsbnch  für  die  deutsche  Literaturgeschichte.  I.  Thefl: 
Die  mittelhochdeutsche  Literatur  bearbeitet  von  Boxberger.   IL  Theil: 

Die  neuhochdeutsche  Literatur  bearbeitet  von  Herbst.  Dazu:  Erläuternde 
Bemerk  11  (IS- en  zu  dem  liilfsbuch  von  If erbst,  (icitlia.  Fr.  .\ndr.  Pei-tlips. 
Uie  vuriiegende  Scbiift  wiitl,  wenigstens  durch  ihren  theoretischen  TbeiL  eiueu 
Markstein  in  der  Entwickeluiig  des  deutschen  Literaturnnterridites  beaaebneB. 
alinlicb  wie  seiner  Zeit  die  Arbeiten  von  Hiooke,  Wackeruagcl  und  1. aas.  (Jeg.  n- 
iiber  der  sattsam  bekannten  Ait,  wie  au  höheren  Scholen  die  deutsche  Literatur 
betrieben  wird,  stellt  der  gefeierte  Schulmann  und  Litowrbistoriker  in  den  „Er* 
läuternden  Bemerkungen'"  folgende  Thesen  auf.  die  er  eingehend  auseinander- 
xetzt  und  begründet:  „Literaturgeschichte  gehört  nicht  in  die  Schale^  die 
Literaturkunde  in  der  obersten  Cla^ise  der  G3^nuiasien  und  ReahMihulen  hat  mit 
den  "."^rosseu  Dichtem  des  vorigen  .Tahrhundert-vS  zu  beginnen  und  scliliesst  am 
be-sten  mir  (Joetbes  Tod;  sie  hat  innerhalb  dieses  Kahmens  sich  auf  tlie  vier 
grossen  Koryphäen  Klop^tock.  Lessing,  Goethe,  Schiller  zu  beschränken;  nur  mit 
kurzen  Winken  als  Prolog  und  Ejjilog  hat  sie  mit  dem  Vorher  und  Nachher 
unserer  netiliot  luleut.-^cben  Literatur  Fi'ihlung  zu  suchen;  aus  der  altdeutschen 
Literatur  kommt  in  der  Shuie  um  die  classiscbe  Literatur  des  12.  imd  13.  Jahr- 
hunderts zur  Sprache:  die  Nibelungen,  (iudrun.  W'.iltlo  r;  I  itln  ile  über  Dich- 
tungen sind  nur  dann  znlässig,  wenn  die  hetret^tiideu  Wejke  gelesen  sind  nnd 
dem  Schüler  die  Begründung  des  rrtheils  aus  der  Lectilre  möglich  ist.  Man 
lese  wahr  und  erläutere  kurz,  dii<  N'othwendigstc  durch  wenig  Zwi>chen- 
bemeffcnogen  und  Zwischenfragen!  ächliesalich  behandelt  Herbst  iu  den  nBe> 


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—   3  — 


merkiniiren''  am  li  die  Frajj^p.  weldie  nirlitniiiroii  <lrv  vu>r  Kory]ilia('ii  iin^oror 
iieuhüchdeutsilu'ii  Literatur  in  der  Schule  und  iirivatim  ^eU'seu  werden  niiissin. 

Eb  ma^  (lern  Verfasser  zur  Ireuditfcn  (ienuf^tluuuiu  ncrpii  lieii.  dasif  seine  An- 
^i<•llt(Ml  in  dt'ii  ..Tnstnii  tii>n('n  t"i\r  dcn  rnterricht  im  l)iMit<i  h«'ii  .m  "-tcir.  lü  ul- 
.schuiuii''  benutzt  mid  und  äomit  in  Udterreich  bereits  zur  praktischen  iHuch- 
fRhran^  kommen. 

Sieht  man  «Iii-  beiden  TlilMHichor.  deren  eins  von  Herbst  selbst,  das  andere 
von  Boxberger  geschrieben  ist,  mit  Küeksicht  auf  die  Priucipieu  iu  Ueu  „Bc- 
merkiiiigm**  durch,  so  kann  man  sich  einige  Haie  des  Gedankens  nicht  erwekren, 
da.ss  die  Praxis  mit  der  Theorie  nicht  gleichen  Schritt  i^ehalten.  Klopstn(  k  und 
auch  (locthe  sind  hier  und  da  so  behandelt,  da^s  wul  im  Hinblick  darauf  ein 
Kritikus  de^i  HUfsbuches  (im  Archiv  für  das  Studium  der  neueren  Sprachen) 
keinen  wesentlichen  Unterschied  zwischen  der  Art  des  Hilfsbuches  und  der  vor- 
handenen literarcrescliiclitlichen  Leitfäden  herausfinden  konnte.  Ja.  es  werden, 
uan/  im  (iet,'ensat/.  zur  vortretratrencn  Theorie,  manchmal  seihst  Urtheile  über 
Werke  ahtrej,'eben .  deren  Beirründuni;  sich  nnr  aus  den  nicht  /nr  Lectiire  em- 
pfohlenen Tlicilen  ahleiten  liisst.  Auch  Roxhertrer  zieht  manches  herein,  das  für 
den  Unt<:rricht,  soll  er  auf  Anschauuuj^  beruhen,  ohne  Wert  ist  (vgl.  indisc  he 
Sloka  bei  Besprechung  der  Nibehingenstrophen).  Aber,  mag  man  noch  so  strenge 
hieriiln  r  nud  über  eine  Anzahl  Fehler  in  den  Daten  zu  Gericht  sitzen:  es  bleibt 
im  Uerb8t'ächen  Hiifübncb  noch  soviel  deäüut€u  und  Neuen,  das»  seine  Leetüre 
jedem  Lehrer  der  Literatnrknnde  empfohlen  werden  mnss,  avch  wenn  die  An- 
sichten  von  TTerbst  uar  uii  lif  diu  Punkt  bildeten,  an  dem  jed<' weitere  Disenssion 
Uber  den  Literatur«  Unterricht  aukuüpl'eu  wird.  Dasü  dies  aber  thattiiichUch  der 
Fall  sei,  wird  schon  die  nichste  Znlnuifl  lehrai.  — om— 

F.  Rummer.  Prof.  a.  D.  am  (iymnasinm  n.  a.  o.  Professor  der  Mathematik 
an  der  I  niversität  zu  Heidelberj?.  Lelii  bnc  h  der  Buchst ahenreelinnng 
und  der  (Tleiehungen.  Mit  einer  Sanimlun«-  von  Aufgaben.  1.  Theil. 
5.  Aufl.  Heidelberg  IHHl,  Carl  Winter.   6  M.  408  8. 

Den  Inhalt  des  vorliegenden  Baches  bildet  dieBnchstabenreclnning,  einschliess- 
lich der  aritliuK  f i-i  1h  11  und  geometrischen  Reihen,  und  die  Cileichungen  des 
1.  uud  2.  (jirades.  Für  den  Schulgebrauch  erscheint  es  aln  gut  geeignet,  wozu 
die  grosse  Zahl  meist  passend  gewählter  Beispiele  recht  viel  beitr^.  Besondere 
wissenschaftlidif  T>p<rriindnne:  scheint  der  A'erfasser  absichtlich  gemieden  ZU 
haben,  wa«  wir  iudcM  nicht  f^uz  billigen  möchten.  Zwar  verursachen  solche 
Begründungen  immerhin  Schwierigkeiten;  doch  halten  wir  dafttr,  daas  sie  in 
den  Oberclas.sen  der  fJymnasien  und  alsrlmlen  iil)erwunden  werden  müssen, 
soll  der  winsenschaftliche  Geist  in  der  Jugend  angeregt  und  der  so  viel  ge- 
priesene formale  Nutzen  der  Mathematik  Wahrheit  werden.  Ohne  dass  wir 
daher  sonst  der  (lüte  des  Buches  irgendwie  nahe  treten  mtichteu.  möchte  es 
doch  gestattet  sein,  die  wissenschaftheben  Schwächen  desselben  zu  l)esprechen. 
Nicht  Vorwürte  wollen  wir  damit  erheben,  sondern  unsere  Ansichten  über  die 
Abfassnui<:  eines  solchen  Buches  znni  Ausdrucke  bringcu. 

Dil  lielit  bige  Vertauschbarkeit  der  Factoren  <S.  .V'  bildet  einen  wichtigen 
Fuudameutalsatz  und  verdient  in  Folge  dessen  einen  streniren  Beweis.  Vorerst 
wird  er  sich  natttiüch  nur  anf  ganze  Zahlen  erstrecken  kimnen.  in  dem  Masse 
aber  erweitert  werden  müssen,  als  i]>r  Zahlenbegrirt"  selbst  allmälig  erweitert 
wird.  .Vuch  die  3£ultiplicatiou  von  mehrgliederigen  AuMlrücken  mit  Monomen 
nnd  von  Pt^ynomen  mit  Polynomen  finden  wir  recht  einfiioh,  aber  nntnAndlich 
behandelt.  I)a<  geht  nun  albs  iinih  hin.  sn  lange  man  es  mit  ganzen  Zahlen 
zu  thuu  hat;  da«  aWr  die  eben  erwähnten  Operationen  auch  gestAttet  sind, 
wenn  die  Factoren  etwa  irrational  oder  gar  imaginftr  sind,  bedarf  znm  min- 
desten eines  Nachweise^i.  Freilich  finden  wir  nirgends  den  Begrift'  des  „Irratio- 
nalen'* erörtert,  was  zunächst  uothwendig  wäre;  ebenso  ist  der  Begrift  des 
„TmaginKren"  juir  irestreift.  Der  Verf.  sagt  einfach:  „Man  nennt  solche  Grössen 
imaginäre  oder  nnmögliche."  (S.  52.)  DieM  überBetKOng  ist  recht  tatal  und  wird 
durch  die  beige<,'ebenen  Beispiele  keineswegs  plausibel  gemacht.  Nicht  Y 
bestimmt  an  sich  die  „Unmöglichkeit"  einer  Lösung:  unmöglich  kann  sie  auch 


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sein,  weun  da-s  Resultat  eine  gebrotheue  oder  irrationale  Zahl  ist.  lüOMeupihen 
in  7  gleich  grosse  Abtheilnngen  zubringen,  gibt  als  arithmetiiiches  Ergebnis 
14%,  dieses  Resultat  ist  aber  auch  .,uiiiip'!jrlif  h  ".  weil  die  Natur  der  Aufga'>e 
hier  eine  srf'bmchpnc  Znlil  niiht  zulilsst.  Mit  den  imaginären  Zahlen  winl  ja 
in  der  höhereu  Jlatheinatik  so  ausserordeutlii  h  Wel  gerechnet,  «ic  steuern  einen 
riesigen  Schatz  bei  zur  Erkenntnis  mathematischer  Wahrheiten,  und  doch  sind 
sie  —  nnnitiiriii  lr:'  läsre  vorderhand  an  der  Sache  nichr  viel,  doch  wird  sofort 
der  Schiller  mit  Mis.straucn  an  dies«;  Zahlen  herantreten,  es  wird  ein  v<»llisri'.s 
Vorurtheil  gegen  diese  Zahlenformen  wacligemfen.  das  später  nicht  mehr  -n 
leicht  gebannt  wenleu  kann.  Wir  gestehen  nicht  zn  wissen,  ob  etwa  der  II.  Theil 
zum  vorliegenden  Lehrbuche  sich  darüber  verbreitet,  und  vielleicht  gut  uiachr, 
was  der  I.  Theil  nnklar  lässt;  wir  Mud  jedod»  entioliieden  der  Meinung.  il.-u<s 
das  We<entliehe  über  imaginfire Zahlen  im  Anschliuse  an  dieinationalen  Zahlen 
gelehrt  werden  niilsse. 

Bei  der  I>efinition  des  Bruches  macht  sicb's  der  Verf.  wieder  Idcht  Er  de- 
finirt:  ...Teder  Bruch  ist  eine  angedeutete  Division"  (S.  8).   Das  ist  der  Sache, 

aber  nicht  dem  Begriffe  nacli  richtig.  Uateriell  deckt  sich  ^  mit  a.b.  denn 

es  ist  Ja  dasselbe,  ob  man  verlangt  von  1  Kilometer,  oder  2  Kilometer  in 
5  gleiciie  Theile  zu  theilen  und  einen  dieser  Theile  zu  nehmen:  da.s  Resxütat 
ist  iu  beiden  Fällen  4(M>  :)[eter:  aber  der  begliffliehe  Unterschied  ist  doch  auf- 
fölUg  genug.   Die  Theorie  der  Brüche  kann  unseres  Erachtena  nicht  an  den 

Quotienten       angeknüpft  werden. 

ätieimUtterlick  —  wie  last  in  allen  deutschen  Lehrbttchem  der  Mathematik — 
.  finden  wir  die  Theorie  der  PrinusaUen,  des  gemeinsehaftlidien  Hasses  vnd  den 

gemeinschaftliclidn  Vielfaelien  behandolt.  oder  richtiger  —  <xar  nicht  behandelt. 
Selbstverständlich  sind  diese  Dinge  doch  nicht,  und  was  der  SchOler  in  den 
unteren  (Massen  darüber  gehOrt  hat,  war  nnr  populäres  Wissen,  keine  Tbeorie. 
Jedenfalls  gehört  aber  selbst  das  Wenige  daittber  (S.  14)  nicht  naeh  den 

Brüchen,  sondern  vor  dieselben. 

Wir  sind  weit  entfernt  von  Syatemreiterei:  aber  auch  die  Reihen,  die  Zinses- 
zinsen- und  Bentenrechnung  sollten  nach  den  Gleichnugen  kommen.  Zuerst 
muss  D.n^  Kommen,  was  zur  Behandlung  des  Folgenden  nothwendig  ist,  nicht 
nmgekeliit.  Bei  <ler  Zinseszin.sen- Rechnung  vemiis.sen  wir  übrigens  Manches: 
lobenswert  ist  aber  die  Beigabe  von  Tafeln,  welche  die  Ziuspotenzen  filr  die 
gebräueldi<listen  Prneontsätze  enthalten.  Bei  den  Anfiraben  finden  wir  hier 
S.  in  Nummer  14  :  „Wie  lange  muss  femer  ein  Capital  ausgeliehen  werden, 
nm  )i  mal  grBsser  zu  werden,  wenn  der  Zinsfuss  =  p  ist?"  Soll  wol  heissen: 
Wie  lange  nni.ss  fenier  ein  Caidtal  ausgeliehen  werden,  damit  es  u  mal  so  gross 
wird,  wenn  der  Zinsfuss  =  p  ist  ?  n  a  ist  n  mal  so  gross  als  a;  w  a  -f  a  ist 
nni  II  mal  grö.xser  als  al 

Bei  den  tTleichungen  mit  2  und  3  I  iil  ekaiinten  ist  der  Begriff:  Determinante 
eiugcscbwärzt,  auch  von  Unterdetenuinauteu  ist  8.  202  die  Rede;  doch  lässt 
sich  mit  dieser  „Determinantentheorie''  nichts  machen,  yielleieht  war  hier  der 
jtassende  Ort,  die  Sache  gleich  bei  der  Wurzel  anzufa.ssen. 

Der  schwächste  von  aÜen  Punkten  ist  die  Lehre  von  den  ..entgegengesetzten 
Grossen'*.  „ — 8  ist  um  3  kleiner  als  Null",  nt  su  schliessen  nur  möglich, 
wenn  man  von  dem  be(|uemen.  aber  durchaus  nnpa.ssenden  Vergleich  von  Ver- 
mögen und  Schulden  ausgeht.  Damit  ist  es  nun  nicht  möglich,  eine  geordnete 
Einsicht  in  das  WesNi  der  praitiTen  und  negativen  Zahlen  zn  gewinn«!.  Anch 
die  .\rt.  wie  der  Verf.  die  Midtiplication  entgerrengesetzter  Zahlen  zn  „be- 
gi'ündeu-  versucht,  ist  nur  geeignet  die  Sache  noch  mehr  zu  verdunkeln.  End- 
tich  vermissett  wir  eine  Theene  der  Zahlensysteme  vnd  insbesondere  derDeinmak 
bhidie.  ebenso  da.s  Reclineu  mit  ungenauen  Zalilen  nebst  der  Bestimmung  der 
Fehlergrenzen  des  Resultates  etc.  Sollte  es  der  Httrr  Verfasser  angemessen 
finden,  den  ansgesprochenen  Bedenken  in  der  Folge  einige  Anfknerksamkett 
senwenden,  so  dttifte  der  Wert  seines  Lehrbuches  gewiss  nicht  beeintrru  htigt 
werden.  .1.  H. 

Vctuitwortlidiar  KotUeteur:  M.  Stein.         Bnchdruckuiui  Jnlint  Kliakli»xdt,  Leipiis. 


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Literatnrblatt 

Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  3. 


Immanael  Kant*s  Kritik  der  retnen  Temiuift.  Herausgegeben,  er- 
IftQtert  imd  mit  einer  LebeiuibescbreibiuiifKaiit's  versehen  von  J.  H.  v.  Kirch- 
mann. 5.  Aufl.  Leipzig  1881,  Erich  Koech^y.  720  S.   3  51. 

Seit  «lein  Erschoimn  der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  de><  llauptworke"?  von 
Kant,  int  nuu  gerade  ein  Jalii  huiult  rf  vcrilosaen,  lütKecht  wird  dieses  epoche- 
machende (leistespxodnct  noch  heute  als  (inindlage  der  ganzen  neueren  Philo» 
Sophie  betrachtet,  von  welcher  abzu.sehen  kein  onist er  Penker  sich  ent-schliessen 
luum.  Die  vorliegende  Ausgabe  ist  ein  Band  (der  /weite)  der  bekannten  vou 
Henrn  Kirchmuin  herausgegeboien  „Philosophischen  Bibliothek"  nnd  gibt 
allenthalben  Zeu^s  von  der  trr'jssen  S(»rc:falt  und  (lewipsenliattitrkeit,  welche 
diesem  umfassenden  und  verdieustlichen  literariächeu  Unternehmen  vuu  jeher 
gewidmet  war.  Dms  diese  Ansgabe  bereits  in  fUnfter  Auflage  ersehebitT  ist 
ein  höchst  rifif  nliclier  Reweis  von  dem  noch  immer  in  weiten  Kreisen  vor- 
handenen Interefise  für  ernste  (ieiste^arbeit  und  zugleich  eine  Auerkennujur  der 
Vordienste,  welche  rieh  Hennsgeber  nnd  Verleger  um  dieses  unsterbliche  Werk 
erworben  haben,  der  It  txtere  insbesondere  dadurch,  das.4  er  den  Preii  desselben 
bei  sehr  guter  Ausstattung  ausserordentlich  niedrig  gestellt  hat. 

Auf  den  Inhalt  dieses  Meisterstttckes  der  neueren  Philosophie,  um  da.s  sieb 
seit  einem  Jahrhundert  ein  gut  Theil  aller  höheren  Gedankenarbeit  bewegt  hat, 
in  einer  Bücheranzeige  eingehen  zu  wollen,  wäre  ein  verfehltes  l'ntemehraen. 
Wir  müssen  uns  darauf  beschränken,  der  Kirchmanu' scheu  Ausgabe  unsem 
Tollen  Beifall  zu  zollen  nnd  dem  Wun.sche  Ausdruck  in  geben,  dass  dieselbe 
fortwährend  recht  viele  neue  Leser  finden  müge.  D. 

PlldagO^iselier  Jaliresboriclit  tOü  1880.  Im  Verein  mitEckardt,  Eme- 
riczy,  Felsberg.  Flinzer,  Oottsehalg.  Haberl.  llauschild.  Kleinsehniidt.  Lion, 
Lühen,  Morf,  Oberlünder,  dichter,  Kotlie  nnd  Zininiennann ,  bearbeitet  nnd 
herausgegeben  von  Dr.  Friedrich  Dittes.  33.  Jalirgang.  Leipzig  1881, 
Friedrich  Brandstetter.  872  S.  10  M. 

Der  erste  Theil  des  Werkes  berichtet  über  die  im  Jalire  1880  erschit  innen 
Schriften  über  Pädagogik,  lieligionÄunterricht,  Naturkunde,  Mathematik,  deutsche 
Literatur,  Lesen  und  Schreiben,  deut^clie  Sprachlelire.  Clesang  und  Musik- 
unterricht, (ieofi^raphie,  Weltgeschichte,  fran/ösisclun  und  eni^lischen  Sprach- 
nntcrriclit.  Zi  ii  lnien,  Turnen,  s^wie  über  die  Jugend-  und  Volksschriften  aus 
dem  liericht-sjahr;  der  Anzeige  und  Ueuriheiluug  der  neuen  literarischen  Er- 
scheinungen sind,  wo  es  nöthig  erschien,  orientirende  Einleitungen  Torangesehickt. 
Im  zweiten  Haupttheile  des  Werkes.  ül)ersclirieben  „Znr  Entwickeln ny^si^esrliichte 
der  ächule",  werden  die  wichtigsten  \  urgänge  darä;e8tellt,  welche  sich  während 
dee  Berichtsjahres  auf  dem  Gebiete  des  Unterriehtswesens  zugetragen  haben 
(Gesetypfcbnne:,  Verwaltuntr.  Fort.'^chritte  cd«  r  Rückschritte,  Sclmlstatistik.  He- 
soldung  und  Stellung  der  Lehrer,  Cuulerenzen,  Vereine,  pädagogische  Zeit» 
Schriften  n.  s.  w.). 

Was  die  Ausfühnine:  des  Werkes  betrift't,  .so  bewährt  auch  der  vorliegende 
Band  —  es  ist  der  dreiunddrei ssigste  dieses  einzig  da.siehenden  Jahrbuches  — 
den  längst  begrilndeten  Ruf  des  „Pädaü:« »irischen  Jahresberichtes  '.  Es  ist  eine 
durchaus  sorgfiiltige.  übt  r.ill  den  facliiniinnisclifii  ^^sllrun^f  bezeuf^ende  und  daher 
tür  jeden  Fachmann  lehrreiche  Arbeit.  Auch  in  der  Ausstattung  ist  allenthalben 
die  gewohnte  (Jedieijeuheit  bemerkbar.  Mehr  über  das  Werk  zu  sagen,  wäre 
ftberiflUssig,  da  ohnehin  jeder  Schulmann,  welcher  in  Sachen  seines  Berufes  sich 
mö^riiehst  allseitig  zu  infonniren  bestrebt  ist,  jedem  neuen  Bande  des  Jahres- 
berichtes  mit  Interesse  entgegensieht.  H. 


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J>cr  Biiof  Pnuli  an  die  (Tjilator  für  die  evaug^flischen  Volkssflmllelnvr 
uukr  liiiizulüguiig  eiuei  geiiaueu  Übersetzung  nach  dem  Urtexte  iiacli  wissea- 
schafltlichen.  Qaellen  ausgelegt  Yon  H.  Beineeke,  kgL  Senünaidiraetor  ete. 
Kinden  1880,  Hnfeland.  28  a  1  IL 

Diese  Arbeit  ist,  wie  Verfasser  bemerkt,  aus  ih-m  Wunsche  hervorgegangen, 
dem  evaugeliacheu  VolkascUollehrer,  welchem  ja  eiuerseitä  um  seiner  persOnlichea 
Übenseugung  willen,  andeneits  in  seiaer  SteUmig  «Is  Beligimislfllirer  dsnm  ge- 
If'ir'  ii  soin  muss,  die  Quellen  des  christlichen  nianbenf;  näher  kennen  zu  lernen, 
die  Möglichkeit  zu  bieten,  den  lutherischen  Text  mit  dem  Urtexte  eu  veigleicheu 
und  si(^  so  «ne  relatiT  setbststSiidige  exegetisdie  Ausloht  m  Ulden.  ^mlel»! 
hat  nun  Herr  Reinecke  an  dem  G^laterbriefe,  einer  der  wichtigsten  Schriften 
des  Apoätels  Paolus,  seinen  Plan  auszofOhreu  versucht,  indem  er  der  lutherischen 
ubenetemiff  dessdben  dne  auf  den  alelwntai  Resultaten  der  ezegvtlBelimi  Wissen- 


stellt  hat.  Dieser  doppelten  Textau^abe  ist  eine  zusammenhängende,  den 
natürlichen  Abschnitten  des  Briefe  folgende  Bridining  eingeschaltet,  wdebe, 
ohne  anf  OHginalitflt  Anspruch  zu  eilMbeiii  dem  gegenwfetigen  Standpunkte 
der  biblischen  Exegese  entspricht. 

Sb  tmteriiegt  kemem  Zweifel,  dass  VerfiMser  nicht  nnr  durch  die  Omndidee 
seines  Unternehmens,  sondern  auoh  durch  die  j^eluna^ene  Ausführung  derselben 
au  dem  gewählten  Beispiele  unter  den  Volksschuliehrem  viele  Leser  gewinnen 
wird,  und  in  diesem  Pidle  steht  eine  Portsetzung  des  angefangenen  Werkes  üu 
erwarten.  Jedenfalls  ist  die  vom  Verfasser  gewählte  Art  der  Einführung  in  die 
biblischen  Schriften  eine  glückliche,  und  dass  er  seinem  Unternehmen  vollkommeu 
gewachsen  int,  dafür  bürgt  die  gelieferte  Probe.  Was  die  beiden  neben  einander 
gestellten  ilhersetzungen  betrifft,  so  ist  allerdings  die  neue  an  vielen  Stellen 
dem  Wortlaute  des  Urtextes  entsprechend»,  die  lutherische  aber  weitaus  les» 
barer  und  vielfach  auch  sinnvoller.  TIl 

Friedricli  Rüekert's  Gedankeulyrik  nach  ihiem  pliilosophischeu  Inhalte 
dargestellt  von  Dr.  Georg  Voigt.    110  S.  Anoaberg'  1881,  Graaer. 

Der  Umstand,  dass  der  iihilosuphische  Gehalt  der  Dichtungen  Rückert's  in 
grösseren  Kreisen  noch  nicht  genügend  erkannt  und  gewttrdigt  ist,  hat  den  Ver- 
fasser zur  Herausgabe  dieser  trefflichen  Schrift  veranlasst.  Zunächst  bezeichnet 
dmselbe  in  einer  einleitenden  Abhaudlung  „den  Stiiinlpnukt,  von  welchem  au> 
der  so  reiche  Inhalt  der  Rückcrt'schen  Gedankenlyrik  überblickt  werden  kann/* 
worauf  er  diesen  Inhalt  selbst  in  grossen  Zügen  vorftthrt  und  damit  RUckert's 
Art  und  Weise  zu  philosophiren  und  seine  ganze  Cieistesrichtung  schildert.  So- 
dann geht  Verta^^er  näher  in  die  wesentlichen  Bestandtheile  der  RQckert'schen 
Gedankenwelt  ein,  indem  er  des  Dichters  Ansichten  nach  den  drei  Ideen:  Gott, 
Gemüt h,  Welt  auseiBandersetzt. 

Besondere  Anerkennung  vordient  Herr  Dr.  Voigt  deshalb,  weil  er  es  streng 
yeimiedcn  hat,  seinen  Öichter  nach  einem  dogmatischen  philosophischen  Systeme 
oder  einer  sonstigen  SchiU>linie  zu  beurtheilen  und  ihm  dies  und  jenes  unter- 
anlegen, statt  ihn  auszulegen.  Vielmehr  hat  er  durchgängig  das  wahre  Intcr- 
pretationsprincip,  ihm  Schriftsteller  aus  dem  Schriftsteller  selbst  zu  erklären,  iu 
mnstevhafter  Weise  durchgeführt.  Die  ganze  Charakteristik  Rttckert's  im  All- 
gemeinen tuid  im  Gesunderen  ist  aus  Rilckert't*  Schriften  selbst  belegt  und  macht 
daher  Überall  den  Eiutlruok  voller  Evidenz.  Und  so  können  wir  diese  gründ- 
liche nnd  mit  grosser  Sorgfalt  dnvd^ftthrte  Arbeit  als  einen  sehr  wertvollen 
Beitrag  zum  Specialstudium  der  neueren  Literatur  hestens  empfehlen.  H. 

Bio  Pflanzen  des  doutselieu  Ucichos,  l)eutseli-Ö.stprrol('hs  und  der 
Schweiz.  Nach  der  analytisclien  Methode  znni  (Tebrauche  auf  Kxrni-sionen. 
in  Schulen  und  beim  Selb.^tuntn  richte,  bearboitet  von  R.  \VohUarlh.  Berlin 
1881,  Xitolai'sche  Verlagsbachhaiullmig  [lt.  Stricker). 

Zu  den  ziemlich  Tiden  analytischen  Uandbaehem  für  die  PäanzenbestinunnBg 
tritt  mit  dem  hier  angezeigten  Buche  ein  nenee,  welches  deüKam^  mit  jenen 


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—   8  — 


wol  aufuelimeu  kaun.  Das  Werk  ist  nach  den  neuesten  Beobachtongen  gearbeitet^ 
wie  unter  anderem  bei  den  Gattungen  Ranunculm,  Pttlmonnria,  Rosa,  Ruhus. 
Saxifraga  eh:  zu  ersehen,  die  Charakteristiken  sind  nicht  80  trocken  und  dabei 
Steril,  wie  man  das  sonst  so  häufig  antrifft  und  enthalten  doch  nur  das  Noth- 
wendige  und  zwar  häufig  in  leicht  Terständlicheu  Zeichen.  Auf  die  Synonymik 
ist  nur  in  besonderen  Fällen  RQckdelit  genommen,  BliUhc/eit  und  Fundort  sind 
stets  augegeben.  Eine  Anweisunj?  zum  Gebrauche  der  Tabellen  gibt  dem  An- 
fanger sehr  gute  Rathsddäge.  Ilieraut  folgt  eine  Tabelle  zum  Bestimmen  der 
Gattungen,  bei  welcher  die  Holzpflanzen  von  den  andereu  getrennt  sind,  was 
wir  für  sehr  erspriesslich  halten,  zumal  bei  zweifelhaften  PHanzen  (Halbstriinchem'' 
die  Voröicht  angewendet  ist,  ihre  Namen  auch  bei  den  krautigen  (iewächscu 
auftreten  su  lassen,  üie  Tabellen  zum  Bestimmen  der  Arten  enthatten  die 
Gattungen  nadi  A.  IJraun's  natürlichem  Systeme.  Wie  gewölmlidi  sind  die 
Gefösdkiyptogamen  auch  hier  abgehandelt,  während  von  den  Zellkiyptogamen 
nichts  vorkommt.  In  der  Artenbestimmuugstabellc  ist  auch  den  Bastardformen 
ein  grosser  Platz  ere^önnt  (sind  doch  z.  B.  hv\  CirsiKm  42  Bastarde  angeführt), 
was  wir  filr  zu  weitliiuli^'  haiini.  da,  wie  schon  Xeilreich  bemerkt,  dieselben 
selten  scharf  begren/t  sind  mul  sii  b  bald  der  einen,  bald  der  anderen  Stammart 
nähern,  daher  sich  schwer  beschreilien  und  unter  eine  Diagnose  bringen  lassen, 
welche  in  vielen  Fällen  nur  uut  ein  bestimmtes  Individuum  passen  wUrde.  Für 
eine  sehr  gute  Einrichtung  halten  wir  folgende.  Es  ist  beim  Bestimmen  nach 
der  dii :liotoiiii-cli''ii  Methode  sehr  leicht  miiglich.  dass  man  ein  ^ferkmal  über- 
sieht oder  unrichtig  deutet,  weil  mau  etwa  kein  ganz  vollständiges  Exemplar 
hat,  und  in  Folge  dessen  auf  einen  Irrweg  gerith.  Es  bleibt  nun  nidits  ttbrig 
als  die  mühevolle  Arbeit  von  vom  zu  beginnen.  Der  Verlasser  hat  nun  diese-^ 
Geschäft  dadurch  einfacher  gemacht,  dass  er  bei  weiter  entfernten  Orientiruugs- 
uummem  stets  jene,  von  welcher  ausgehend  man  dahin  gelangte,  kidner  in 
einer  Klammer  nntercrcsf-tzt  hat.  Eine  vortheilhafte  EiiiricTitung  ist  ferner  die 
Accentuiruug  der  lateinischen  Namen,  um  das  richtige  Aussprechen  derselben 
Bu  ermöglichen.  Kurs:  dieses  Beetimmnngsbneh  bietet  gegenüber  anderen  viele 
und  grnsse  Vnitbiüo.  Druckfehler,  die  leider  bei  einem  solchen  Werke  selir 
schwer  vermieden  werden  können,  sind  zwar  in  ziemlicher  Zahl  vorhanden, 
aber  nur  selten  stSrend.  —  Wir  emj^iBhlen  das  Bach  den  Fochgenoesen  anf 
das  wärmste.  C.  R.  R. 

Bie  MOOSO  BontsehlaildH.  Anleitung  zur  Kenntnis  und  Bestiraranng  der 
in  Deutschland  vorkommenden  Laubmoose.  Bearbeitet  von  P..  Sydow. 
Berlin,  A.  Stubeurduch.    2  M. 

Wie  flberhavT»t  das  Bestimnen  vtra  Pflanzen  und  Thieren  nneh  analytischer 

Methode  viele  Iinbe(|uemlichkeit€n  bietet,  so  ist  dieses  am  h  Vh  i  den  Kryptogamen 
der  Fall.  Der  Verfasser  hat  diese  Methode  in  sehr  gelungener  Weise  an  den 
Laubmoosen  dnrehgeftthrt.  Die  Diagnosen  sind  prägnant  und  sehr  charakteristisch. 

Ein  grosser  Vortheil  ist  die  Beigabe  von  Synonymen,  welche  bei  den  Krypto- 
gamen eine  grosse  Rolle  spielen.  Die  systematische  Anordnung  ist  nach  Ph.  Schim- 
per*»  Synopsis  mnsconm  mropaeonim.  Einer  kurzen  Einleitung,  welche  die 
Terminologie  und  all«remeiiie  Bemerkungen  über  die  Entwickelung  der  Moose 
enthält,  folgt  eine  Übersicht  des  Systemes.  liieranf  ist  eine  analytische  Be- 
stimmungstafel fltar  Ordnungen,  l  iitcrordnungen  und  Familien  angefügt.  Die 
Bestimmungstafeln  för  die  Gruppen  sind  mit  denen  der  Gattung«  n  und  Species 
vereinigt.  Bei  den  Species  sind  Fundorte  und  Fruchtzeit  angegeben.  Leider  sind 
keine  österreichischen  Fun lorte  (ausser  einige  Male  Böhmen  und  Mähren)  bezeichnet. 
Das  Buch  ist  nur  für  Deutschland  gearbeitet,  kann  aber  vielfach  auch  in  (»sterreich 
benutzt  werden.  —  Ausstattung  und  Druck  sind  sehr  genillig.      C.  R.  R. 

Über  Ziol  und  Methode  des  elieiiiischen  riitcrriclite.s.  Ein  Beitrag 
zur  Methodik  von  Dr.  Ferd.  Wilbrand.  Büdesheim  1881,  Aug.  Lax. 
1  M.  20  Pf. 

Bttohem,  welche  Uber  die  Methodik  irgend  eines  Lehrgegenstandes  sprechen, 
begegnet  man  stets  mit  einer  gewissen  Vorsicht,  da  in  dieselben  oft  mit  dem 


• 

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grOsBteu  Scheine  allgt- nieiuer  Bereclitigung  iudividuelle  Ausichteu  eingeschmuggelt 
werden,  welche  bei  i>:enaner  fietnchtnng  Bich  als  vnbereclttigt  zeigen.  So  er* 
ifinc:      uns  aiu  li.  als  wir  dieses  Büchlein  (HO  >;eiteii)  zur  ITaml  nahmen.  Aber 
schon  der  Umataud,  dass  es  einen  Uonn  Ton  bekanntem  Eule  2um  Vei&aaer 
hat,  stimmte  vna  um,  ond  als- wir  dasselbe  zu  Ende  studirt,  mnsgten  wir  be- 
kennen, es  hier  mit  oincr  Mnrklicli  gediegenen,  wol  durchdachten  Arbeit  zu  tliun 
zu  haben.  Der  Verüasser  theilt  sein  VVeritohen  in.  drei  Abschnitte.   Der  erste 
handelt  von  dem  Zwecke  des  ehemischen  Unterrichtes  nnd  gipfelt  in  dem  Satze: 
^Der  Unterricht  in  der  Chemie  soll  den  Lernenden  mit  den  iicthoden.  Regeln 
und  Hilfsmitteln  der  Inductiou  bekannt  machen;  er  soll  ihm  eine  praktische 
Schule  der  indnctiven  Logik  sein.^   Durch  zwei,  in  viele  EinzelftUe  getrennte, 
sorgsam  ausgewählte  Beispiele,  deren  Gedankengang  im  Wesentlichen  dem  nun 
schon  in  vierter  Auflage  erschienenen  Leitfaden  für  den  methodischen  Unterricht 
in  der  anorganischen  Chemie  desselben  Verfassers  entnommen  ist,  wird  dies  in 
gründlichster  Weise  dargelegt,  nämlich  durch  die  Untersuchung  der  Luft  und 
die  Besprechung  der  Conservation  der  Nahrungsmittel.    Die  daran  sich  an- 
schüeasendcu  Bemerkungen  über  den  lunualen  Bildungswert  einer  unttrsucheuden 
Behandlung  des  Lehrstoffes  sindvidlkomnioii  zutreffend,  und  dabei  sind  zugleich 
die  wichtigsten  Methoden  der  exporimentalen  Forschung  besprochen.  Im  zweiten 
Abschnitte  behandelt  der  Verfasser  die  bisher  angewandten  vertehlteu  Methoden 
deaehemischen  Unfi nii  htt  s,  nach  welchen  sogleich  mit  den  Elementen  begonnen 
nnd  diese  in  irereud  weMier  Weise  gnippirt  mit  ihren  Verbindungen  besprochen 
wurden,  ehe  noch  von  den  Arten  der  chemischen  Verbindungen  u.  dgl.  ge- 
sprochen war,  wobei  die  Sache  zu  einer  gedächtnismässigfen ,  aber  nicht  T6r> 
standenen  und  daher  unfruchtbaren  Übung  wurde,  während  die  Methode  so  ge- 
staltet sein  soll,  dads  sie  dem  Schttler  es  m(Iglich  macht,  die  chemischen  Vur 
ffänge,  von  doi  daflushiten  beginnend  und  zu  den  verwickelteren  fortaehrätend, 
klar  aufzufassen,  und  dass  sie  ihn  auch  befähigt,  wenigstens  in  einer  grossen 
Ansahl  von  Fällen  nach  Analogie  neue  ähnliche  Erscheinungen  zu  beurtheilen. 
Die  Elemente  sollen  nicht  etwas  Gegebenes  sein,  sondern  ihre  Kointniss  und  die 
ihrer  Verbindungen  soll  aus  der  Untersuchung  selbst  L^ewonnen  werden.  Durch 
Beispiele  Uber  die  methodische  Behandlung  von  Luft  und  Wasser  weist  der  Ver- 
füser  ^6168  trefTend  nach.  ESne  besondere  Atifmerksamkeit  widmet  er  auch 
dem  Experimentiren,  und  er  will  dasselbe  nicht  als  Uroduction  schöner  Er- 
scheinungen, sondern,  einfach  und  systematisch  geordnet,  als  Mittel  frncht- 
blinkender  üntersuchung  angewendet  wissen.  Die  chemischen  Aufgaben  soDen 
wenurer  in  einfachen  Berechnungen  bestehen,  sondern  selbstständige  Bestimmung 
der  VerMndungsgewichte,  Entwickelung  der  Formeln,  Aufstellung  der  Um- 
setsmng^leichnngen  sollen  neben  ttOcmometrischen  Berechnungen  einen  Thefl 
der  AiitViiben  bilden.  Aiis-;erdem  soll  aber  der  Schiller  auch  darin  trcübt  wenlen. 
das  Gelernte  auf  neue  Fälle  selbstätändig  anzuwenden.   Auch  hier  wird  durch 
Beispiele  die  Ansieht  des  Verfassers  illusmrt.  —  Im  drittm  Abeehnitte  endlich 
entwickelt  dir  Verfasser  seinen  Lehrplau,  den  wir  leider  weyen  Raummangels 
nicht  widergeben  können;  es  genüge  zu  sagen,  dass  er  nach  den  oben  an- 
gefahrten GrundsKtsen  snsammengi^ent  ist,  nidera  ans  speciellen  Verbindungen 
die  Elemente,  ihre  ander\\'eitigen  Verbindungen,  ihre  Eigenschaften  u.  s.  w.  ab- 
geleitet werden.    Den  Schluss  bildet  die  Atomtheorie.   Die  Befolgung  dieses 
Planes  ermöglicht  gewiss  sehr  snMedenstellende  Besultale,  und  wir  sdnnnen 
ganz  und  gar  mit  dem  Verfasser  ülierein.  wenn  er  sagt,  dass  der  chemische 
Unterricht  in  der  Schule  weder  die  Aufgabe  hat,  Analytiker  zu  bilden,  noch 
die  Zi^glinge  mit  den  Arbeiten  und  Methoden  der  chemischen  Industrie  bekannt 
zu  machen,  noch  gar,  so  interessant  es  dem  Lehrer  sein  mag,  die  inaiulierlei 
schwebenden  Fragen  der  Wissenschaft  zu  erörtern.  Die  Schüler  sollen  nur  eine 
feste  Gi-undlage  positiver  Kenntnisse  erhalten,  auf  welcher  später  weiter  ge- 
aibeitet  werden  kann.  —  Wir  sprechen  schließlich  denWun.«ch  aus,  dass  nach 
diesen  Grundsätzen  überall  vorgegangen  werden  mOge;  dies  würde  der  schönste 
Lohn  tür  des  Verfassers  gediegene  Arbeit  sein.  C.  R.  R. 


V«nuitw«rtltdMr  Bodietenx:  M.  Stsia.         BnehdnekCMi  Jalins  Klinkhardt,  Le^ai^ 


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LiteratnrMatt 

Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  4. 


JHe  praktische'  Vorbildung  ziim  hVheren  Sehnlamte  auf  der  Uni- 

Tersität.  Von  Dr.  Kndolf  Hofmann,  o.  Prof.  d.  Tliool.  n.  Director  des 
katoch.  u.  pädag.  i^eminai-s  au  der  Universität  43  S.  Leipzig  1881, 
Edelmann. 

Unter  der  Menge  Ton  Schriften,  welche  in  neuerer  Zrit  ttber  die  Vbtbildnng 

▼on  Lehrkräftfu  an  Universitäten  publicirt  worden  sind,  ir'ddlhrt  der  angezeigten 
RmchUre  ein  Ehrenplatz.  Von  welchen  Anachanungeu  der  Verfasser  auageht» 
möge  dnreh  einige  Citate  gezeigt  werden.  „Die  Zeiten,**  bemerkt  Dr.  Hofmann, 
psind  voriibor.  wo  jedor  luilbwotrs  (Jebildete  oder  :iucli  Xichtgebildete  sich  an- 
matiäeu  durfte,  in  Sachen  der  Schule  mitreden  zu  wollen;  und  wenn  er  selbst 
GeUtUcher  wftre,  ho  kommt  ihm  dies  ohne  weiteres  nicht  zu.  Die  Pädagogik 
ist  eine  selbständige  Wissenschaft  geworden  und  hat  sich  zur  Kunstlehre  ent- 
wickelt. So  wenig  eine  andere  Kun.st  sich  von  .selbst  lernt,  so  wenig  auch  die 
der  Erziehung  und  des  Unterrichtes.  Ich  meine  auch,  dass  in  Fragen  der  pä- 
dagogischen Praxis  nur  die  ein  niao^bende^  Wort  mit/ureden  haben,  welche 
M'\h>t  jn  flieser  Praxis  gestanden.  .  .  .  Die  mangelhafte  V'orbildnng  der  be- 
tretteuden  (,'andidaten  macht  sich  auf  allen  (iebieteu  ihrer  pädagoirisi  hen  Thä- 
tigkeit  bemerkbar,  im  besonderen  in  ilei  unuiethodi.sohon  Anfassung  des  Untw- 
richtes  und  iu  den  pädagogisc^ien  Missgriffen  bei  der  persilnlichen  Behandlung 
der  Schuler.  Und  zwar  trifft  der  Vorwurf  methüdischen,  technischen  und  päda- 
gogisehen  Ungeschickes'  nicht  etwa  blos  die,  welche  auch  wissensehafbüch  an* 
genügend  vorbereitet  sind,  sondern  sehr  häufig  gerade  die  wissenschaftlidj 
Tüchtigen  und  penönlich  mit  dem  höchsten  Pflichteifer  iilrfUllten  (folgen  Be- 
lege). Also  Hanget  an  Fachwissen  kann  im  allgemeinen  nicht  als  Omnd  jener 
beklagenswerten  Verstr»ssH  in  der  Praxis  anirenouimen  werden,  sondern  es  ist 
Hügel  au  praktischer  Schulung  tUr  deu  kUuttigeu  Beruf." 

Vne  nun  diesem  Mangel  abEnhelfien  sei,  das  eben  ist  die  Frage,  welche 
Ih.  Hofmann  zu  beantworten  sucht,  und  dies  ist  ihm  trefflich  gelungen.  Voll- 
Htändig  vertraut  mit  deu  hierher  gehörigen  mannigfaltigen  Projecten  und  der 
einschlägigen  Fachliteratur,  tlber^  geleitet  von  wahrer  Hochachtung  und 
reinem  Wol wollen  für  die  Sohnle  nnd  daher  bemüht,  derselben  die  besten 
Kräfte  zuzuführen,  bietet  er  aus  seiner  eigenen  Praxis  eine  Reihe  von  Mit- 
teilungen und  zur  Lösung  des  vorliegenden  Pn)bleni8  einen  ("omplex  von  Vor- 
schlSgen,  welche  ihn  als  einen  ganzen  Pädagogen  charakterisiren.  Hier  haben 
wir  einmal  einen  aus  eigener  Erfahrung  und  selbstständii,'eni  Denken  hervorge- 
gangenen, theoretisch  wolbegründeten  und  praktisch  ausführbaren  Plan.  Die 
musterhafte  Prägnanz  nnd  Prädsion  der  kleinen  Schrift  gestattet  uns  nicht, 
einen  Auszug  aus  derselben  zu  geben.  Sie  muss  von  jedem  Faehmanne  im  Zu- 
sammenhange gelesen  werden.  D. 

Die  Entwickelunc  des  Simultttu-Schulwesens  In  der  Stadt  Cn'fn'ld, 

im  Auftrage  des  liberalen  Scluilvereins  für  Rlieinland  und  Westfalen  dar- 
geatellt  von  L.  F,  Seyffardt  Bonn  1«81.  Kful  UeorgL   79  S. 

Der  Kampf  zwiseboi  doi  Freunden  der  gemeinsamen  Sehnle  nnd  den  Yer^ 
theidigern  der  contessionellen  Schule  ist  Ixkanntlich  seit  einer  Reihe  von 
Jahren  in  politischen  Körperschaften,  Vereinen  und  auch  in  einigen  Städten  des 
Königreichs  Preus.seu  mit  ziemlicher  Scharfe  geführt  wurden;  so  auch  in  der 
Stadt  Crefeld,  und  die  vorliegende  S<  hrift  entwirft  uns  ein  Bild  dieses  örtlichen 
Kampfes.  Das  umfängliche  Detail,  welches  dieselbe  bezi\glicli  der  Scbnlver- 
lialtnisse  Crefelds  vorlülirt,  hat  natürlich,  so  nothweudig  es  auch  für  deu  Zweck 
der  Schrift  war,  nur  eine  locale  Bedeutung.  Von  allgemeinem  Interesse  aber 


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ist  die  Keunztiiclinunur  (kr  vun  den  ("lerioalen  |>rakticirten  KaiiiptVeise  und  «üc 
Schilderung  der  günstigen  Erfolge  des  8iinultanschnlwesens.  In  ersterer  Be- 
ziehung erfahren  wir  au»  der  angezeigten  lirns-  hiirf,  'lass  auch  in  Crefeld.  wie 
überall,  die  ultraniontane  Partei  nnd  ihre  \  cr\vaud.t,>;ohaft  mit  den  Waffen  der 
Lttge,  Verleumdung,  Entstellung,  Spionage,  Verhetzung,  Denunciation,  Ohren- 
blä:<en'i  und  öft'ontlichen  Schmähung  arbeitere,  ohne  jeden  Funken  von  Schnni^etuhi. 
von  Wahrheit»-  und  Oerechtigkeitsliebe.  Das  ist  eben  überall  gleich,  weil  die 
Direction  des  ganzen  Kampfes  fttr  das  peraOnliche  Interesse  iet  oltnaioiitaiieii 
Gt!scliäfrsrriiger  überall  die  n.Hmliclii^  ist.  Wenn  dagegen  die  Broschüre  anführt, 
da»ä  in  Creield  die  bezeichneten  Umtriebe  mit  Geld-  und  Geföngniädtrafen  belegt 
worden  sind,  so  ist  dies  eine  Slllme,  wehdie  keineswegs  tberall  mOgUeh  wftre. 
Bezüglich  ih  r  ^-iinstigen  Erfoltre  der  Simultanschule  bemerkt  die  angezeigte  Schrift 
unter  anderem:  „l^'i'ot^  ftUer  Autbetzungen,  trotz  der  künstlichen  Zuspitzung  deä 
oonftflsionelien  Standpunktes  ist  ein  oonjtessioneUo'  Oegensatz  in  den  Simmtan- 
schnlen  viel  weniger  bemerkbar  gewesen,  iN  in  früherer  Zeit,  wo  die  Schüler 
der  coufessionellen  Schulen  gelegentlich  einander  Straasenkämpfe  lieferten.  Un- 
gemein wolthuend  wirkt  es  aof  jeden  nielit  in  Parteianschavnngen  VerUssenen, 
wenn  er  in  die  Simultanschule  hineintritt,  und  die  Kinder  des  Volkes,  Katho- 
liken -  und  Protestanten,  der  PHege  der  Allen  gemeinschaftlichen  Ideale  des 
Guten,  Wahren  nnd  SehSnen  obliegen  sieht,  wenn  er  ans  den  Antworten  der 
Schftler  ihre  v.  lle  rnlipfaiiüfenheit  erkennt  und  die  Nachwirkung  der  Tnu'"  nd- 
erinnerung  der  Kinder  für  das  spätere  Leben,  dass  sie  als  Angehörige  derselben 
Gemeinde,  desselben  Volkes  auf  derselben  Schulbank  ge:<essen  haben,  in  Be- 
tradit  zieht.  In  Gegenden  mit  gemischt^conflBssioneUef  BevOllwrang  ist  das 
walirlich  nichts  (ieringes.''  H. 

Der  Soeialphllo.soph  Franz  Quesnay,  der  Begründer  des  physiokratischen 
Systems.  \'ou  Dr.  Wilhelm  Neurath.  Docenten  der  Nationalökonomie 
an  dei-  k.  k.  teclmischen  Hochschule  in  Wien.  30  S.  1881,  Selbstverlag. 
Der  enge  Zusammenhang  zwischen  \'olkswirtschaft  und  VoUcserdehumr. 
zwischen  XatiMnalökonomie  und  Pädagogik  sollte  ein  genüj^endes  Motiv  für  den 
Lehrer  uml  ivr/.ieher  sein,  daun  und  wann  eine  Schrift,  wie  die  angezeigte,  zur 
Haud  zu  nehmen  und  von  seinem  Standjinnkte  aus  zu  studiren.  Verfasser  ist 
in  seinem  Krei'->'  iSuirst  als  gediegener  Fachmann  bekannt  (be'^onders  durch  sein 
Werk:  \'(>lk.xwirt.scluittliclie  und  sociulphilosophische  Elssays,  Wien,  Fae>y  &  Frick) 
und  bietet  in  der  angezeigten  Biographie  nnd  Charakteristik  eine  ftlr  jeden  (Ge- 
bildeten anziehende  und  wertvolle  Leetüre.  Für  den  Pädagogen  i>;T  die  Schrift 
noch  insbesondere  dadurch  interessant  und  lehrreich,  dass  sie  einen  eigenartigen, 
an  psychologischen  Momenten  reichen  nnd  in  vieler  Hinsicht  bedentsunen  Lebens- 
und Bildnng?!gftng  vorführt,  sowie  diidnn  h.  dii-j-;  r-ie  eine  Beflie  gdstToDer  Bnner- 
kungeu  über  £rziehungsfiragen  enthält.  Hiervon  eine  Piräbe:  allgemeine 
YolMbildung  und  YolksaulklBrung  stellte  Quesnay  als  die  widitjgste  AnH^be 
staatlicher  Tliäti^fkeit  hin.  P  imals  meinte  man.  der  Bauer  müs>e  unwissend 
und  arm  bleiben,  wenn  er  nicht  frech,  rebellisch  und  mttsbig  werden  swlle. 
Quesnay  wusste  in  dieser  Richtung  tiefer  und  wdter  zn  blieten.  Br  unter- 
sclii-'l  Wdl  /^vis(•ll.'ll  den  Erscheinungen,  welclie  mit  dem  Anfanire  der  Bilduni: 
verbunden  sind,  und  den  bleibenden  und  sich  entwickelnden  Zuständen,  die  sich 
einstellen,  nachdem  Bildun?  und  Wolstand  sich  recht  eingelebt  und  toU  entfiütet 
haben.  Per  l.cfteite  .^elavc  wird  vorerst  meist  ein  Frechling,  erst  sjulter  wird 
'  er  —  vielleicht  erst  nach  zwei  Generationen  —  ein  wirklich  tVeier  Mann.  Der 
Emporkömmling  mag  nicht  gerade  die  liebenswttrdigsten  Eigenschaften  «eigen: 
aber  die  .schon  lange  Emj)ori,'ek<)mmenen  werden  nicht  verrathen,  dass  sie  -  iii-i 
die  Ketten  gebrochen.  Bildung  macht  letzlich  sicher  frei,  und  Bildung  winl 
am  Ende  Maeht.  In  einer  gebildeten  Nation  können,  nach  Quesnay^s  Leli^,  nur 
gute  Gesetze  zur  Kraft  gelangen.  Wo  die  Vernunft  in  der  Vulksmeinung  heU 
leuchtet,  da  kann  nur  das  (inte  siegen,  bestehen  und  herrschen."  R 

Dr.  E.  Flick  von   Wittinirlianson:         Französische  Schulgramniatik. 
b)  Übungsbuch  tui*  die  Unt^i-stufe  des  tianzösischeu  Unterrichts,  c)  L'bungs- 


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—  3  — 


buch  für  die  Mittelstufe  des  fianzrisisclien  Unterrichts,  d)  L  bunirsbuch  für 
die  Oberstufe  des  fran/fisiscUe!!  l'ntenichtsi,  e)  Französische  Chit-stoinatbit- 
für  höhere  Lehi-au8taiten,  mit  »prachlicheu  und  suchlicheu  hemerkuugeu 
und  einem  volbändigvn  WOrterbnche.  Wien  1880  n.  1881,  Alfred  HiSlder. 
Diese  SehulbUcher  sind  im  Anschluss  an  den  gegenwSitig  giltig^eu  NoniiBl- 
lehrplan  fl\r  die  österreichischen  Realschulen  und  au  die  zugrehJirige  Instruction 
tür  den  Unterricht  im  Französischeu  bearbeitet  und  können  als  ein  vollständiger, 
den  angeführten  Normen  entsprechender  und  in  hohem  Grade  gelungener  Läir- 
cursus  bezeichnet  werden.  Hiermit  soll  allerdingr?  nicht  gesagt  sein,  dasM  wir 
die  priucipielle  Auffiassnug  de.s  französischen  Unterrichtes,  welche  bei  Aljta>suug 
dcf  engeiogten  Schriften  massgebend  war,  als  zweckmässig  und  erspriesslinh 
betrachteten.  Die  österreichische  Unterrichtsverwaltung  hat  nämlich  den  Grund- 
satz adoptirt,  ,.dass  der  französische  Sprachunterricht  in  den  Realschulen  ge- 
wisflenoMBen  Äquivalent  des  lateinischen  Unterriehts  in  Ojrmnssitti  sein  und 
demgemäss  auch  analitg  behandelt  werden  mi\>jse,  so  dass  die  wi-:s,  ii<rliiifrlicbe, 
fframmatische,  philologische,  der  sogenannten  formalen  Bildung  dienende  Seite 
des  Üntmichts  entscnieden  in  den  Vordergrund  tritt.  Wir  Mnnen  dieser  An> 
s(  hauiinq:  nicht  beistininion,  sind  vielmehr  der  Meinung,  dass  vor  allem  und 
haupt:«ächlich  darauf  hinzuwirken  sei,  dass  der  Schüler  die  Sprache  selbst,  nicht 
blos  deren  Orammatik,  sich  möglichst  Tollkomnien  aneigne,  d.  h.  dass  er  sie 
in  ihrem  >nrklichen  Sein  und  ihrer  gegenwärtigen  Verfassung  verstehen,  lesen, 
schreiben,  .sprechen  lerne.  Doch  das  ist  eine  Streitfrage  von  so  umfassender 
Bedeutung,  dass  wir  es  unterlassen  mUssen,  in  die  Abwägung  der  Gründe  pro 
und  contra  einzugeben.  Die  Erfahrung  wird  Ichren,  ob  der  den  ör^terreidiisehen 
Realschulen  vorgeschriebene  Weg  auf  die  Dauer  wird  eingehalten  werden 
können.  Der  Verfasser  der  angezeigten  Lehrbücher  ist  filr  denselben  ni(  lit 
verantwortlich,  da  er  ihn  bereits  abgMteclit  fand  und  nur  ilaranf  bedacht  sein 
rausste.  ihn  möglichst  gangbar  zu  machen.  Und  dieser  Aufgabe  hat  er  in  der 
That  mit  vorzi^lichem  Gescliicke  und  bestem  Erfolge  entsprochen.  Ja  es  kann 
behauptet  werden,  dass  sein  Lehrgang  ganz  geeignet  ist,  den  fransfisischen 
riiterricht  von  den  Klippen  regnlati\Tnässigen  Granunatisireiis  feni/uhalten, 
wenn  in  der  Schulpraxis  das  Hauptgewicht  auf  die  Übungsbucher,  resp.  auf 
die  Chrestomathie  gelegt  vnd  die  Grammatik  inun«r  nur  als  schUeMÜche 
Abstraction  an£rc^*chlossen  wird.  Und  in  diesem  .'^inne  seien  die  in  der  Tliat 
licrvorragenden  Leistungen  F'ilck's  bestens  cniptolileii  F. 

A.  BoC'litel,  k.  k.  Prof.:  a)  Französische  (iranmiatik  für  Mittekchulen,  erster 
Theil,  b)  desselben  Werkes  zweiter  Tlieil,  c)  Französisches  Lesebuch  für 
die  unteren  nnd  mittleren  Clnasen  der  lüttelschnlen,  d)  Übangsbodi  zor 
franiOsiflchen  Grammatik  Ifir  Mittelschulen,  e)  FranzSaiadte  direatomathie 
fiir  die  oboren  Classen  der  Mittelschulen,  mit  sprac  lilidieii  und  sachlichen 
Erlüuterungen  sowie  mit  literarischen  und  biog^phischen  Einleitungen.  Wien 
1880  und  ISSl.  Jnlin.s  Klinkliardt. 

Diese  Öchulbücher.  welche  in  ihrer  Ge-sammtheit  ebenfalls  einen  gejjcblo.ssenen 
Lelircursus  der  französischen  Spradie  bilden,  sind  nach  denselben  ofßcielleu 
Normen  bearbeitet,  wie  die  soeben  angezeigten  von  Prof.  Filek,  und  was  wir 
über  die  letzteren  gesagt  habeu,  gilt  durchaus  auch  von  den  Arbeiten  Bechtel's. 
Aueb  diese  stehen  vollkommen  auf  dem  gegenwürtigen  Standpunkte  der 
Sprachwissenschaft  wie  der  Methodik  und  sind  mit  musterhafter  Sorgfalt  aus- 

£){Uhrt,  so  dass  sie  von  allen  Fachmännern  reichen  iieitall  ernten  werden.  In 
e  Details  eines  so  umflbigHeben  C^klns  von  SdralbOebem  einzugeben,  ist  uns 
auch  hier  wegen  dos  engen  Kiunies  tmsers  Literaturblattes  nnim'tLrlieb.  Nur 
bezüglich  eines,  bereits  oben  berührten  Punktes  hier  noch  einige  Worte.  Herr 
Prof.  Bechtel  Äussert  im  Vorworte  su  seiner  Grammatik:  „Der  Unterricht  im 
Franz' isischen  an  llittelschnlen  (d.  h.  hier  Realschulen  und  Gymnasien)  kann, 
schon  wegen  des  in  ihnen  herrschenden  Massen-Unterrichts,  kein  conversatio- 
neller  sein;  das  Wesen  unserer  höheren  Schulen,  vor  allen  der  Realschnien, 


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weist  ihm  neben  der  Hnttenprache  die  liolle  eines  vorzugsweise  fomal  bilden- 
den Elementes  zu.''  Das  ist  wähl*  nach  den  bestehenden  Verhältnissen 

und  Normen,  die  allerdings  der  praktische  Schulmann,  so  lange  sie  nicht  ge= 
ändert  sind,  als  massgebend  betrachten  muss.  Aber  wir  wollen  davor  wanieu, 
iliene  Veihftltniflse  nnd  Normen  fllr  absolut  richtig  nnd  die  nadi  iknm  gestal- 
tete LTuterrichtspmxis  als  diircliaus  zwerkmiissijr  und  tlir  immer  ^Itip  nnzii- 
sehen.  Die  sogeuauuie  formale  Bildung  braucht  durch  einen  mehr  dem  Leueu 
dienenden  Betrieb  des  l^nterrichtes  in  modernen  Sprachen  keineswegs  Schaden 
7.U  leiden,  und  solcher  Betrit^b  wird  sich  gewiss  nicht  auf  die  Dauer  abweisen 
hisstn.  Iis  kann  nun  eiiuiial  nicht  iguorirt  werden,  das.H  die  HealschUJer  mo- 
derne Sj  rachen  vorzugsweise  für  den  praktischen  Gebranch  lernen  wollen. 
iVeilicb  nniss  zu  diesem  Behufe  der  Massen -Unterricht"  restringirt.  die 
Schuldassen  mUsseu  zu  diesem  Zwecke  in  Parallelabtheilungen  von  höcbsieus 
1^0  S<  hülem  zerlegt  werden.  —  Doch  wolleii  wir  mit  diesen  Bemericnngeu  le- 
diglich auf  einen  vorhandenen  l'helstand  hinweisen,  keineswegs  aber  den  Vf-r- 
fassem  der  angezeigten  Schulbücher  einen  Vorwun  macheu.  der  ja  uugerecht 
um  würde.  I^istuugen  derselben  verdienen  vielmelur  nicht  nur  die  Aner- 
kennung ihrer  österreichischen  Fac)igai08Ben,  soBdem  auch  Beachtoog  yon 
Seiten  der  Schulmänner  Deutschlands.  F. 

Lanfre  Rene.  Der  stnnme  Eneeht.  Zwei  Ensählnngen  von  F.  Frisch. 

Wien  1881,  PicMer.  66  S. 

Ein  köstliclies  F.üchlein,  eine  wahre  Perle  der  Jugend-  und  Volksliteratur. 
Namentlich  die  erste  der  beiden  Erzählungen,  welche  den  weitaus  grüssten 
Thdl  des  Bflchleine  einnimmt,  ist  ein  HnsterstOek  ihrer  Art,  edeS  un«  beden- 
tungsvoll  n.ich  ihrem  f^rhalt,  inpi-^tirliaft  in-der  .^nlaire.  pcht  vnlksthümli'li 
und  doch  durchaus  sprachreiu  iiu  Vortrage.  Jedermann  wird  das  Gebotene  mit 
wahrem  Genüsse  lesen,  auf  die  Jngend  wird  es  dnen  mSditigen  Eindraek 
machen,  es  wird  ihr  ein  gntes  Stück  Menschen-  nnd  Weltkenntnis  ttbemiitteln 
und  die  heilsamsten  Impulse  für  GemUth  und  Willen  geben. 

Die  angezeigte  Schrift  bildet  das  44.  Bändchen  der  v<ni  A.  Ch.  Jessen 
licraii-^eirflicnen  Volk-  und  .Tngendbibliothek .  auf  weldie  wir  bei  dieser  Ge- 
legenheit uno  re  Leser  anfnierksaui  maclien  wollen,  H. 
Atlas  der  Alpeuflora  zu  der  von  Prof.  Dr.  K.  \V.  v.  Dalla  Torre  verfassten,  vom 
deat8<AaimidOBteii«iehi8chen  Alpenvereineh«raQage§;«beii^  wis- 
senschafkliclien  Beobaditnngen  anf  AlpenreiaeD.**  Nadi  der  Nator  gemalt  von 
Ant.  ITartingor.  Eigenthum  nnd  Verlag  des  d.  ii.  ö.  Alpenvereines  in  Wien. 
J>ie  Überzeugung,  das»  die  Tonristik  zu  edleren  Zwecken  vorhanden  sei,  als 
nur  Bravouren  auszuführen,  bricht  sich  immer  mehr  und  mehr  Bahn:  sie  nnse 
auch  eine  Dienerin  der  Wissenschaft  werden.  .\lle  tonri>tisclH-n  Vereine  streben 
dieses  Ziel  an,  sei  es  durch  Vorträge,  sei  es  durch  Herausgabe  von  geogr&i»hi- 
schen  oder  naturwissenschaftlichen  Si)ecialwerken.  Der  deutsche  nnd  öster- 
reichische Alpenvereiu  hat  mit  dem  Beginne  der  Herausgabe  des  obengenannten 
Werkes  gewiss  einen  sehr  glücklichen  Wurf  gemacht,  da  es  nur  einem  derar- 
tigen Verbände  möglich  ist.  ohne  Gewimi  seinen  Mitgliedern  ein  solches  Pracht- 
werk zu  dnem  relativ  sehr  billigen  I'reise  zu  liefern,  ja  .selbst  in  den  Buch- 
handel um  einen  annehiiil>aien  Preis  zu  bringen  (die  Liefenmg  zu  14  Bildern 
nnr  2  Mark).  Die  Zeichnungen  sind  sehr  corrcct.  nur  hie  und  da  etwas  steif, 
die  Farben  frisch  und  naturgetreu  und  heben  <i(  h  lu  s  .nders  von  dem  grauen 
Tone  des  ünterdriickes  sehr  httb.sch  ah.  Von  dem  l)ekannten  Sehoth'sehen  .At- 
las der  Alpenpäan/cu  unterscheidet  sich  dieser  durcb  das  hübschiarc  Format, 
welches  auch  gri'issere  i^ilder  gestattet,  durch  die  Beigabe  der  DetaüabbiUnngen 
von  Blüten-  ninl  anderen  Pflau/.entheilen .  welche  das  genaue  Bestimmen  cr- 
leichteni,  durch  die  Angahe  der  Verbreitung  auch  betreffs  rler  chemischen  B««dt  n- 
beschaffenheit  nnd  der  Hliitezeit.  Für  Unterrichtsanstalten,  welchen  der  Verein 
gewiss  Vorzugspreise  lu  willii^en  wird,  kann  dic'^er  Atlas  ein  von^üsjliche*  Lehr- 
mittel sein,  welches  ein  Herbar  nicht  blus  ersetzt,  suudeni,  was  die  Auschaunug 
anbelangt«  sogar  übertrifft.  0.  It  R. 

VerMiitwortlielicr  Rcducteur:  M.  Stein.  fiuchdruckeMi  Jvliv«  Kliakhardt,  Leipne* 


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..bn-  Literatlirblatt 

Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  5. 


Adolf  DiostorwciJ:  und  Friedrich  Fröbol.  Dicsteiwt  g's  Begregmmgen 
nüt  Fröbel  und  seine  Ui  tlieile  über  ihn  und  sein  Werk.  Dargestellt  von 
LoviB  Walter.  Dresden  1881,  Hohle  (Adler).  171  S. 

Eine  sehr  wichtige  Bereicherung  der  Frijbel-Literatnr.  Was  die  Sehrift  ent- 
hält, ist  au><  dem  an£?f'fiihrten  Titel  ersichtlich.  Sie  schildert  den  personlichen 
Verktdir  L'iesterweg  s  mit  Fröbel,  da.s  ^'t  rhältuirf  r>ie>tcr\veg'.s  zur  Sache  Frü- 
bd's  nach  dessen  Tode  nnd  «teilt  die  Urtheile  Diestcr>vt  ^^'s  über  FMbel  und 
de-J^oii  Bestrebunc:en  ziisamnien.  —  "Wie  schon  au.s  dieser  kurzen  Inhalts- 
augiibe  zu  .schlies.seu  ist,  ans  dem  Texte  des  Buches  selbst  aber  allenthalben 
deutlich  wird,  liefert  dasselbe  in  erster  Linie  einen  gewichtigen  Beitrag  zur 
allseitigen  Klarstellung  und  Würdigung  der  Persönlichkeit  und  der  pädago- 
gischen LeL^tuugen  i^'röbers,  in  zweiter  Linie  aber  auch  eine  nicht  unwesent- 
uche  Ergänzung  zu  dem  pftdagogischen  GharakterUIde  Diesterweg*«  selbst. 
T?<  id('  5Iänner  waren  dnrrli  die  Rea(■ti(»u^lle^iode,  welche  vor  drei  Jahrzehnten 
begann,  zur  Seite  gedrängt  und  verdunkelt  worden.  Das  vorliegende  Bu(  h 
stellt  nun  ans  Lieht,  was  in  jener  Zelt  von  Ylden  übersehen  oder  doch  wenig 
beaditct  wurde.  Es  verdient  auch  um  deswillen  eine  günstige  Aufnahme  in 
der  pädagogischen  Welt,  weil  es  das  letzte  vollendete  Werk  eines  anerkannt 
vorzüglichen,  leider  allzufrtth  verstorbenen  Vertreters  der  Pädagogik  Fröbel's  ist. 

H. 

Herbert  Spencer,  Die  Erziehung  in  geistiger,  sittlicher  nnd  leiblich. i-  Hin- 
sicht. Mit  des  \'erfas!ser8  Bewilligung  nach  der  3.  tiiglischen  Aull,  in 
deutscher  Übersetzung  herausgegeben  von  Dr.  Fritz  Schnitze,  o.  ö.  Prof. 
der  Philosophie  und  Pädagogik  und  Director  des  pädagogischen  Seminars 
an  der  technischen  Hochschnle  zn  Dresden.  2.  Auflage.  JtioA  1881, 
Gnstav  Fischer.  300  S.  4  M. 

Schon  im  ersten  .Tahrgange  des  ,.Paf'dag(tiriiHiis-'  (.Seite  272  ff.)  haben  wir 
diese  bedeutende  äclurift  vorgelulut  und  charaktetisirt.  Wir  könueu  uns  daher 
bei  Anzeige  der  neuen  Anflage  kun  fsssen.  Whr  haboi  hier  nicht  eine  syste- 
matische und  v'>!Iständige  Pädagogik  vor  uns,  sondern  vier  abgerundete  Ab- 
handlangen über  die  wichtigsten  (Japitel  dieser  Wissenschaft^  nämlich  über  fol- 
gende Tnemata:  1)  Welches  Wissen  hat  den  giössten  Wert?  2)  IHeEiziehung 
des  Ver-'^tandes.  3>  Die  sittliclic  Erziehung.  4)  Die  leibliche  Erziehung.  — 
Die  neue  deutsche  Auflage  ist  nicht  nur  äusserlich  hübscher  ausgestattet  als 
die  erste,  sondern  auch  im  Texte  sorglich  flberarbeitet  nnd  vielfach  verbessert, 
namentlich  von  Anglicismen  gereiniget  und  allenthalben  dem  deutschen  Idiom 
angepas.st,  ohne  jedocli  vom  Sinne  des  Original.s  abzuweichen.  Möge  das  ge- 
dankenreiche, frische  und  anregende  Bnch  auch  femer  viele  empfängliche  Leser 
finden.  D. 

a.  Syllabaire  f^aii^als.  Ei-ste  Stufe  für  den  französischen  Unterricht  in 
Töchterschulen.  Ym  Dr.  Karl  Plötz.  17.  Auflage.  Berlin  1881,  fierbig. 
124  S.    Preis  g.  b.  00  Pf. 

b,  Coiyugasioil  t'rau^'aise.  Zweite  Stufe  tur  den  fi-anzösischeii  Unterriclit 
in  Töchterschulen.  Von  Dr.  Karl  FlSts.  12.  Auflage.  Berlin  1881,  Her- 
big.  186  S.  Preis  nngeb.  1  M. 

Es  warf  iU  crfliissii;,  Uber  die  Anlacre  nnd  den  Wert  der  französischen  Lehr- 
bttcher  von  l'iütz  heute  noch  zu  s))recheu.  Wir  beschränken  uns  darauf  Uber 
die  neuen  Auflagen  der  oben  angezeigten  Elementarbflcher  fttr  Mldohensdralen 
in  Kürze  zn  berichten.  Dieselben  sind  mit  grosser  Sorgfalt  hergestellt,  der 
Text  ist  genau  revidirt,  und  an  einigen  Stellen  sind  methodische  Yerbes- 


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spnin£r«  n  angeljrarht  wnrden,  in  nrthoicfraphischer  Hinsi<  lit  sind  für  da*?  Dentsche 
die  B<)3tiniiiiuDgen  des  preius-sischeu  UnteiTichtsiniiiisters ,  für  das  Fraiuöäische 
die  Normen  der  neuen  Auflage  des  Dictionnaire  de  PAead^mie  in  Anwendnimr 
gekommen:  temer  sind  beidi-  Hierher  in  einer  Sdirift-Jorte  und  in 

grösserem  Formate  gedruckt  wurden  als  in  den  trüberen  Auflagen,  nnd  die 
ganse  Auastattnng  fieser  SehnMcher  kann  nmi  als  musterhaft  bccdduiet  wer- 
den; der  Preis  derselben  ist  ein  sehr  massiger.  P, 

PHaiizcii formen  im  DieiisU»  dor  blMcndon  Künste.  Ein  Beitrag:  zur 
Ästhetik  der  Botanik,  zng-leich  ein  Leitfaden  (inrch  dius  T*flanzenornament 
aller  Stilperiodeu  der  Kunst.  Zum  Gebrauch  beim  Unterrichte  an  Bau-  und 
Oewerbescbttlen,  für  Architekten,  Zeichenlelirer,  Lehrer  der  Natorwissen- 
Bchaften  il  s.  w.  sowie  Ar  jeden  gebildeten  Laien  toh  Frans  Woenig. 
Leipzig  1881,  Verlag  von  P.  P:hrlich.   Preis  1  M.  20  Pf. 

In  unseren  Schulen  wird  di-ni  Zeichenunterriclite  i-ine  iinnier  wachsend. •  Auf- 
merksamkeit ziiß:ewfn«let,  und  kein  Sclmlmann  wird  da.s  hohe  bil<lende  Element 
desselben  zu  leug'neu  waireu.  Specicll  das  Hereinziehen  der  Naturobjei  te  in 
idealer  Form  bat  einen  lie<leutt<nden  Wert.  Ja  wir  stimmen  griSsstentheiis  mit 
dem  Verfasser  ül)erein,  wenn  er  safjt :  Es  hrauebt  wol  kaum  darauf  hingewiesen 
zu  werden,  welchen  hoben  ethischen  Wert  derartige  ästhetische  Stifte  in  sicli 
tiapfeii.  indem  sie  \h-\  >i>rijfältii,'er  Wahl  und  geschickter  Rehandlun!?  nicht  nur 
die  Gemütbsbilduug  der  heranreifenden  Jugend  vortheihaft  beeinflussen,  soudeni 
auch  zur  Erweekung  und  Forderung  des  Schönheit^tsinnes  und  eines  guten  Ge- 
schmackes wesentlich  beitragen  nnd  —  wie  die  in  diesem  Büchlein  gebotene 
Grabe  —  den  Unterricht  in  der  Botanik,  im  Zeichnen,  in  der  politischen  (ieo> 
graphie  nnd  Culturgesehidite  durohgeistigen  und  beleben.  —  Gewiss  ist  dies 
ein  schönes  Ziel;  alier  es  ftUt  uns  dabei  der  Spruch  ein:  qui  nimis  petit  etc. 
Wie  Süll  in  unserer  Sehnte  deren  Organisation  dieses  Ziel  erreicht  werden? 
ünd  femer  haben  wir  ein  Bedenken  dag^ien,  ob  die  im  TOiUegenden  Worfeehen 
niedergelegten  Ideen  zum  Zieh-  fiihren.  Dasselbe  scheint  uns  zu  viel  für  die 
Schuler,  zu  wenig  für  den  Lehrer  zu  enthal^n^  und  so  namentlich  nicht  die 
Vielseitigkeit  der  Verwendung  en  gestatten,  welche  im  Titel  angeführt  ist. 
D«r  Verfasser  be^l)richt  die  Pflanzenfonnen  im  Öienste  der  ältesten  Tulturvölk'^r 
(besonders  der  Ägypter),  in  der  römisch-griechischen,  in  der  altchristlichen  and 
byzantinisch*ronianisehen,  in  der  arabisch-maurischen  Kunst,  in  der  Gothik,  im 
Initialen-  und  Miniaturen-Ornani«  iif  iniil  endlich  in  der  Kunst  der  Renai-^sance, 
Bococo-  und  Neuzeit.  Die  Ausfuhrungen  bezüglich  der  verwendeten  Pflanzen 
sind  sehr  sntreffend  und  mit  interessanten  Details  versehen,  welche  aber  hftutig. 
wie  linguistische  Ableitungen,  dem  Zwecke  des  Buches  ganz  fremd  sind.  W  i< 
das  Wesentlichste  des  Werkchens  anbelangt,  die  Abbildungen,  so  müssen  wir 
mit  Bedauern  constatiren,  dass  dieselben  ftr  ein  solches  Buch  su  primitiT  sind, 
soWoI  was  die  Zeichnung  als  die  Ansfilbrung  anbelangt.  Der  Schönheitssinn 
wird  durch  solche  Bildnisse  nicht  geweckt  werden,  wir  weisen  diesbezüglich 
auf  die  Figuren  5,  6  u.  7  nebst  vielen  anderen  hin.  Wir  anerkennen  daa 
schone  Streben,  halten  aber  das  Gebotene  nicht  für  xnidchend.    C.  B.  B. 

H.  Herzog:,  Charakterzüge.   Aarau  1881,  Sauerlander.   271  S.  8". 

Das  kleine  Buch,  eine  Art  praktischer  Moral  ohne  jede  confessionelle  Färbung, 
erzählt  in  etwa  öOO  Geschichtchen  CharakterzUge  edler  Menschen,  mit  der  Ab- 
sicht, zur  Nachahmung  anzuregen.  Beispiele,  theils  aus  der  Weltgeschicbte, 
theils  aus  dem  alltäglichen  Lehen  genommen,  illustriren  die  einzelnen  Tnirenden 
oder  sonstige  liebenswürdige  Züge,  wie  Achtung  vor  dem  Gesetz,  Anhan<rlich- 
keit,  Anmnth  nnd  Freundlichkeit,  Anspruchslosigkeit,  Arbeitsamkeit  n.  s.  i.  Es 
ist  gut.  dass  die  erzählten  Tbaten  nicht  phantastisch  aufgeputzt  sind  und  si.-h 
nicht  unter  spitzfindig  ausgeklüirclten  Voraussetzungen  oder  tumatürlichen  Um- 
ständen al»spielen.  Die  Glaubwüi  ÜLki  it  mancher  Erzählung  wäre  freilich  be- 
deutend erhidit  nnd  damit  auch  der  bezweckte  Eindruck  auf  das  jnL'endliche 
Gemütb,  wenn  dieselben  nicht  si»  allgemein  und  unbestimmt  gehalten  wär«n. 
Die  handelnde  Person  ist  in  einigen  Geschichten  z.  B.  eine  kleine  TOehter  eines 
Bauern  in  Frankreich,  oder  em  angesehener  Mann  in  London,  em  anner  Hand- 


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■werksmann,  eiu  fremder  Haii<lflsmann.  ein  Iiulianer  etc.;  f^enso  sind  Ort  nml 
Zeit  der  Haudluug  manchmal  nicht  genannt.  Viele  Erzählungen  w&ren  auch 
dem  jngrendliehen  Verstftndniifle  nSher  lüferOckt  mMRleiit  wenn  der  Endthier  den 
Ort  der  TTaudhmg.  s^hald  de*«en  Lapfo  als  i;icht  »UgenitMn  bekannt  vnran-^iri'- 
Betzt  werden  muüs,  und  einige  im  üeächichtsuutenicht  nicht  genannte  hiüturische 
PersOnliehkeiten,  natürlich  in  der  ErsAhlnngr  selbst,  etwas  nfther  beedirieben 
hatte.  W. 
Wilnseh,  Übnngsaufg'aben  zur  Ausarbeit uuh:  von  Geschäftsbriefen  und  Ge- 

schäftsaufsatzeu.  Stattgart  1881,  Metzler.  84  S.  gr.  8*^. 

Avil^bensannnhingen  gebSren  mm  nothwendigen  Handwerkszeug  des  Lehrers. 
Die  Vdrli'  LTcude  Saimidauir  behandelt  in  2(XJ  Xinuniern,  deren  einige  noch  in 
Unterabtheüungen  zerfaUen,  alle  geschäftlichen  Vorfalle,  wie  sie  bei  einem  Ge- 
werbetreibenden von  seiner  NIedenaAsung  an  bis  mm  Sehlnss  seiner  ThStfgkeit 
vorkommen  können.  Sie  erschöpft  so  das  Wesen  des  gesammten  stdiriftlichen 
Qesch&ftsverkehrs.  Eigenartig  ist  dem  Büchlein,  dass  es  die  einzelnen  Aufgaben 
niebt  nach  methodischen  Oesichtspnnkten,  etwa  Tom  Leichteren  zum  Schwereren 
furt«<  breitend,  zusammenstellt,  sondern  nach  der  Reihenfolge,  wie  sich  ein  Ge- 
schäft in  Wirklichkeit  abwickelt.  Eiu  alphahetis^ches  Sachregister  ermöglicht 
es  Übrigens,  vom  vorgezeichneten  Schema  abzuweichen  und  nach  ei^cfner  Weise  die 
reichhaltige  Sammlimg  zu  benützen.  Beim  Gebrauch  in  Osterreichischen  VoT^ 
bildongsschulen  müssten  au  dem  Buche  einige  Änderungen  vorsrenommen  werden, 
die  in  der  Verschiedenheit  des  Rechtsgebrauches  in  Österreich  vorglicheu  mit 
dem  im  deutschen  Reiche!  begründet  sind.  — r. 
BPrilllJli'dt.  Abris.s  der  mittelhoclidentschen  Laut-  und  Flexionslehre  zum 

Schul^^i  lirauciie.     )[it  einem  Anhange  über  mittelhochdeutscUeu  Versbau. 

2.  Aull.  Halle  1881,  Waisenhaus.  33  S. 

^  Ptteise  Fassunf  der  Begeht,  Besehrinknng  auf  du  AUeraothwendigste  und 
eine  klar  geschriebene  Metrik  sind  die  Yor/.')£,'e  des  Büchleins,  das  sich  znr 
Eililbhrung  in  die  mittelhochdeutsche  Graumiatik  empfiehlt  Eine  neue  Autlage 
wird  einiges  Wenige  nachtragen  mtlssen,  so  den  Kanon  des  ühtersdiiedes  zwi- 
schen mittelhochdeutschem  und  neuhochdeutschem  Yorali-nms,  w'u-  ihn  Zinikc 
,  in  der  Ausgabe  des  „Narrenschiffes"  S.  273  aulgestellt  hat,  ein  paar  Worte 
Aber  die  Aussprache  des  sp  rnid  st,  im  §  18  (Paradigma  hoeren)  den  Imperativ. 
Da  Bernhardt  nie  auf  die  Etymologie  eingeht,  wäre  der  §  48  zu  kürzen.  Un- 

Seuau  ist  die  Fassaug  einer  Regel  der  Metrik  (S.  30,  Z.  ö  von  oben  und  dazu 
.  88,  Z.  6  Ton  oben^  — r. 
Br.  W.  Kopp»  Bepetitoriam  der  alten  Gesohidite;  Griechische  Staataalter- 
thUmer;  Griechische  Sacralalterth&mer;  Bömische  PriTatalterthfimer.  Ber- 
lin 1880—1881.  Springer. 

Die  genannten  lieitcheu  gehören  zu  einer  bei  Julius  Springer  iu  Berlin  er- 
scheinenden Sammlang:  „Bömische  und  griechische  Literaturgeschichte  nnd 
Alterthümer  für  höhere  Lehranstalten  und  für  den  Selbstnuterricht,"  Das 
„R<ip<ititorium  der  alten  Geschichte"  (öO  S.)  enthält  links  aaf  jedw  Seite 
die  J  abreszahlen ,  daneben  redile  die  sugehOrigen  Tliatsacben  natflriich  in 
Schlagwörtern,  z.  B. :  685 — 668  (?)  Zweiter  messenischer  Krieg.  Aristomenes,  Yra, 
Tyrtäns,  Qrttndung  von  Mesaana  auf  Sicilien.  Eine  hübsche  Beigabe  sind  ein- 
gestreute loci  memoriales  ans  alten  Classikem  nnd  die  „geflügelten  Worte**. 
Ifanchraal  ist  die  Darstcllunff  zu  allcenirin  z.  B.  S.  .^5.  Nudidem  Cajus  (irac- 
chus  die  Reformbe;)trebungen  seines  Bruders  in  erweitertem  (?)  Masse  auf- 
ffoommen.  etc.),  die  Orthographie  der  Eigennamen  ist  kanm  m  billigen  (vgl. 
Klaudius.  Kato,  Quinktins,  Asiatikus  gegenüber:  Deoelea,  Mycenä,  rynosceidialä). 
Sie  auf  den  letzten  Seiten  mitgetheilten  iS'amen  von  Geschichtsauellen  werden 
wol  den  beabsichlagten  Zweck  nicht  erfOUen.  Wollte  maa  m»  niebt  gans 
atrdchen,  so  hätte  man  sie  wcni^-^tens  unter  dem  Text  an  Jenen  Abscimitteii 
setsen  sollen,  für  die  sie  Quellen  sind. 

Die  „griechischen  Staatsaltertbttmer^  sind  anm  Theü  nach  SchOmann 
geaibeitct  und  I»ehandelii  die  Entwickelung  der  spartanischen  Verfassung,  die 
■ionische  Gesetzgebung,  deren  Beform,  Ausbaa  und  Auflösung,  femer  die  grie- 


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—  4  — 


chipclieii  EidETonossonscliaften,  dir  rnltaiialv  t  rliülrni^so.  fpinov  ilie  Anipbiktyonie&f 
die  Urdkel  iu  ihrer  staatlichen  Bedeutung  und  die  natiuualen  l'eätspiele.  Sehr 
genau  ist  die  Refonn  des  Klistheiies  geMhilderl,  die  in  den  ttblichen  Leitftdea 
rp<"ht  unverständlich  dargotäti-llt  wird.  Nach  BjTou's  Viirg-antrc  1i<  iirth(  ilr  auch 
Kopp  die  „Plünderung"  des  Parthenons  durch  Lord  Eigiu  ächarf,  wol  zu  schart. 

Grosse«  Interesse  beanspruchen  die  „griechischen  Sacrala'lterihttmer^ 
und  die  „römisclien  Privu  taltertliilnier",  Sie  emiifelden  sieh  einem  jtden, 
dem  grössere,  reich  illiLstrirte  Werke  desselben  Ue^enstandes  nicht  zur  Hand 
oder  wegen  ihres  ümfanges  nicht  beqnem  genug  sind,  als  branchbare  nnd  sehr 
hWWfff  TTilfsbflcher  bei  der  Leetüre  der  alteu  riasj>iker  und  znr  Einfüliruug  in 
die  Culturgeschichte  der  (iriechen  und  fiömer.   Wenn  sie  nur  eine  noeli  ltö^.. 
sere  Anzahl  Illnstnitionen  hSttenf  Etwa  Abbildungen  derGOttertypen,  di  > 
gameniselien  (^[»ferallai-s.  der  rönüsrlien  Säule  n.  s.  w.    Die  iJesultate  der  Aus- 
grabungen Schliemanu's  in  Mykeuä  und  Troja  und  die  der  preussii^ehcu  Kegie- 
rung  zu  PeiBamam  sind  in  don  Text  hineingearbeitet,  besonders  geschickt  auch 
viele  lehrreiwe  Citate  ans  antiken  Dichtem  und  Gesduchtschreitom  (in  Übw- 
setzungX  W. 
Kozeuii*8  geograplilscher  Schukitlus  fiü'  Gymnasien,  Keal-  und  Handels- 
Bchnlen,  XXV.  Anfl.,  gritestentheils  neu  bearbeitet  von  Y.  v.  Haardt.  Ans- 
gal>e  in  50  Karten.    Wien,  Ed.  H91zel.  Preis  3  fl.  60  kr. 

Knzenn's  Atlas  lässt  Arh  am  leiehte.stcn  durch  einen  A'ertrleich  mir  dem 
Schulatlas  vun  Stieler  charaktcrisiren:  beide  haben  mit  einander  gemein,  da.«s 
sie  topographische  Kartensammliingen  sind  und  den  gegenwärtigen  S^nd  des 
jreogrnpliiselion  Wis-^r  ns,  soweit  es  die  S.lnile  lierilhrt,  fixiren:  Ix  ide  zeiohnwi 
sich  durch  Cienauigkeit  und  Maturwalirheit  der  Zeichnung  auä.  Dadurch  aber 
nnterseheidet  sichKozenn  auf  den  ersten  Blick  Ton  Stieler,  dass  fener  einxigvnd 
allein  ein  Unterrichtsmittel  ist,  ein  Atlas  iTuSilmlen  »ind  zwar  iTirSilmlen  »iiurganz 
bestimmten  Kategorie,  während  Stieler  zugleich  ein  Atlas  turZeitungsleser  sein 
will,  wie  dies  die  Unmasse  der  äafgenonimenen  Ortsnamen  beweist,  welche  nur 
zum  kleiiisti.n  Tln^üe  Vieim  Unten irhr  zur  Sprache  kommen.  Die  Auswahl 
der  Ubjecte  und  inPolge  dessen  auch  die  deutliche,  die  Augen  keineswegs 
anstrengende  oder  verderbende  Schrift  liessen  den  Referenten  keinen 
Moment  s.  liwanken.  wenn  er  die  Wahl  zwischen  den  beiden  tü(litiii;en  Atlan- 
ten für  den  Unterricht  zu  treffen  hätte.  £r,  als  österreichischer  Lehrer,  würde 
sich  anch  noch  aus  einem  aud'.Vn  Grande  fUrKozemi  entscheiden.  DieMr  Atlas 
enthält  nämlich  in  seinen  let/.ten  12  Blättern  gcradc/u  3rusterleistungen  der 
Kartographie,  so  natni^etreu,  so  phistisch  in  der  Terrain/eichnung,  so  sauber, 
ja  elegant  und  so  deutlich  auch  in  der  Schrift,  dass  fttr  das  Studinra  der 
österreichischen  Landeskunde  i,'eiri'nwärti<jf  kein  gediegenere-  Karten- 
materiai  in  irgend  einem  antlem  Schulatlas  vorliegt.  Darin  überragt  Kozenn 
den  Atlas  von  Stieler  sowol.  ah  den  von  Steinhüul^er.  In  andern  Punkten  frei- 
lich hat  er  noch  nicht  alle  Vorzüge  des  Stieler'schen  Atlas  erreicht.  £s  man- 
gelt z.  B.  einigen  Karten  die  harmonische  Farbcnzusammenstimmung,  manchmal 
wirkt  ein  greller  Ton  geradezu  aufdringlich.  Es  mag  tür  gewisse  Karten  (z.  B. 
des  Deutschen  Keichcs)  und  auf  einer  elementaren  Stufe  des  Unterrichts  prak- 
tisch !»ein,  ganze  Länderflärlu'n  Innit  anzulegen,  statt  blo.s  die  Grenzlinien, 
überflüssig  i.st  diese  llanier  aus  naliL-liegeneleu  tirüudeu  jedenfalls  für  Karten 
wie  die  von  Italien.  Spanien-Portugal,  Schweden-Norwe^n,  Grossbritannien;  ja 
Ar-  knrin  sfifrar  nachtheilig  sein,  weil  dadun^h  der  \rla-;.  im  Widerspruch  mit  den 
i'nucipieu  des  geographischen  Unterrichts  auf  bitheren  Schulen,  das  jMjlitische 
Moment  über  das  physische  zu  stellen  scheint.  Eine  Departementskarte  Frank- 
reichs, wie  sie  Kozenn  in  hübscher  Ausführung  gibt,  hält  Keferent  gleichfalls 
für  einen  Missgrifl"  in  einem  Seliulatlas.  In  einem  Punkte  endlich  sollte  Kozenn 
noch  dem  Handatlas  von  Andrec  folgen  nnd  er  würde  dann  unbedingt  alle  seine 
Concurrenten  aus  dem  Felde  schlagen.  Wir  raeinen,  er  sollte  die  wichtigsten 
im  Unterricht  an  höheren  Schulen  zur  Sprache  kommenden  Thatsachcn  der  all- 
gemeinen Geographie,  speciell  einige  der  Pflanzengeograpbie,  ferner  der  Ethno- 
graphie und  Culturg«>ngraphie,  karfoirmidiiscb  darstellen,  wenn  es  auch  manch- 
mal nur  in  der  Weise  (^Nebettcarton^>[;  geschälic,  wie  auf  der  im  gleichen  \  erläge 

era<^enen«i  Wandkarte  von  Aftik.*;  W. 

Venuitworttioktr  Redaoteur:  M.  Stein.         Bnohdraokaiei  Jmllms  Kliakhardi,  hiätai§. 

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literaturblatt 

Beilage  ziim  Paedagogium,  IV,  6. 


F.  W.  DOrpfehl,  Txector.  Ein  Ueitniof  /nr  Lcldonsprrschiclite  der  Volks- 
schale nebst  Vorschlugen  zur  lietom  der  .Schul verwaltiuig.  Bai-men  1881, 
Wiemann.  309  S.  3  M. 

Der  wesentliche  Inhalt  dieses  Buches  litsüt  sich  iu  Kürze  nicht  besser  anzeigen, 
als  es  der  Verfasser  selbst  im  Vorworte  mit  foljjendcn  Sätzen  ijothaii  bat:  „Die 
vorliegende  Schrift  ist  der  zweite  Abdruck  einer  Keihe  von  Aulsat /.en,  welche 
samt  in  dem  vom  Verfasser  herausgegebenen  ,,Evangelisotoi  Schulblatt"  (Jaln  - 
gancr  1880 — 81)  erschienen  sind.  Ausserlich  veranlagst  waren  dieselben  dui'  h 
die  bekannte  Landtagsrede  des  Ministers  von  Puiikainer  über  den  preussischen 
VolksschnllehTentnnd  am  11.  Februar  1880.  Die  Schrift  besteht  aus  drei  Ab- 
handlunL'^ii.  Der  erste  Artikel  entwickelt  —  iiikIi  cinrr  einleitenden  Analyse 
der  miui:«lerielleu  Kede  —  die  allgemeinen  Grundsätze  einer  gesunden  ächui- 
rerftisflung  (SehnlverwaltungsordnQng).  Der  zweite  liefert  auf  ueser  Basii  dne 
Specialnntersnelun)!;  ilber  die  Lncal-  und  Kreis-Prluilaufsidit  -  nud  darin  eiu- 
geschloasen  eine  eingebende  Kritik  der  hergebrachten  Aoläichtüorduong.  Der 
dritte  beleuchtet  auf  Onmd  des  Vorauf^^egangenen  die  mliÜBterieUe  Bede,  deren 
Hauptziel  die  Vi  rthcidi^^ing  und  Befestii^un^-  der  alten  Schulaufsichtsnrdnuug 
war.**  Zur  Ergänzung  dieser  Skizze  mögen  noch  folgende  Bemerkungen  dienen. 
Die  Kritik  der  Patuamer'schen  Rede  bildet  das  nmfhngreichste  Capitel  des 
Buches  und  unifasst  mehr  als  1(X)  Seiten.  Als  Anhauy  i.st  dem  Werke  ein 
Aufsatz  über  die  politischen  Parteien  in  ihrem  Verhältnis  zur  \'olkssebule  bei- 
gegeben, in  welchen»  die  Fehler  der  Parteien  und  die  schlimmen  EinHUsse  der 
Pwteip(ditik  auf  das  Schulwesen  beleuchtet  werden. 

Was  nun  die  Ausführung  der  vorstehemlen  Skizze,  also  die  angezeig^te  Schritt 
selbst  betriflft.  s<>  bemerkt  Keferent  sogleich  im  allgemeinen,  das«  er  dieselbe 
«Is^  dne  ernste,  gründliche,  höchst  bedeutende  Arbeit  anerkennen  mnss  und  den 
weitaus  grJissten  Theil  derselben  für  vnllkommpn  gelungen  nud  unwiderlegbar 
hält.  !Nur  in  einigeu,  hier  nicht  gerade  »'i  erster  Linie  stehenden  Punkten 
vermag  ich  dem  Verfasser  nicht  zmEastimiuen.  Mit  Recht  will  derselbe  die 
Local  -  Schulaufsicht ,  wie  sie  früher  war  und  iu  manchen  Ländcni,  auch  iu 
Preusseu,  noch  heute  ist,  wesentlich  eingeschränkt  wissen:  auf  das  innere 
Leben  der  Sebnle,  auf  die  ])ädagogiach-diaakti8che  Thtttigkeit  des  Lebren,  auf 
die  eigentliche  Technik  der  Er/it')iuni:  und  des  fnterriehtes  s(dl  sie  sich  iiieht 
erstrecken,  weil  die  Ortsschulbehörden  in  der  Kegel  nicht  über  Männer  ver- 
fügen, welche  diesen  Theil  der  Sebulanfticbt  in  en^esdicher  Weise  m  flUnen 
vermöchten.  Einverstanden.  Aber  noch  immer  Iäs.st  Herr  Dörnfeld  der  Local- 
Scrhulanfsicht  einen  grossen  und  wichtigen  Wirkungskreis.  Und  da  hat  er  meines 
Erachtens  übersehen,  dass  leider  noch  beute  in  vielen  Schulgemeinden  (besonders 
in  Dörfern)  nur  sehr  wenige,  oft  gar  keine  Personen  vorhanden  sind,  welche 
eine  au.sreichende  iutelleotuelle  und  nionilische  Bffahigung  zur  Schulpflege 
besitzen.  Zalilreiche  Landschullehrer  und  an<lere  Männer,  welche  die  Cnltur- 
znstände  kleinerer  Cemeiudeu  aus  eigener  Anschannng  keimeD,  werden  wissen, 
da.ss  viele  derselben  dun  haus  nicht  im  Stande  sind,  eine  nur  einigerma-ssen 
respectable  und  nützliche  Local -Schulbchiirde  zu  stellen.  Femer  —  und  da 
macht  sich  freilich  der  Parteistandpunkt  geltend  —  bin  icli  mit  Herrn  Dörpfeld 
über  die  ,.Simultans<-hule"  nicht  gb-i(  her  Meinung.  Er  ist  ein  entschiedener, 
man  kann  sagen  leidenschaftlicher  Gegner  der  Simultauachule,  gegen  die  er  bei 
jeder  Gelegenheit  und  an  sablreieben  Stellen  seines  Boeiies,  oft  ohm  gentlgenden 
Anlas'^.  den  stärksten  Unwillen  kundgibt.  Einem  s<i  gewiegten  Schulmanne 
getraut  man  sich  kaum  zu  sagen,  dass  er  hier  einseitig  und  allem  Anscheine 
nach  ohne  hinreichende,  auf  e^rener  Anschawmg  beruhende  Kenntnis  des  wirk- 
lichen Sachverhaltes  urtlu'ile.  und  docli  ist  Referent  ausser  Stande,  zu  einem 
andern  Schiuss  zu  kommen.   In  Zusamm«^  ihang  lüermit  steht  folgende  auf  S.  32 


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dcA  aiiirezci^eu  Bn<  ho,  vurkommeude  Stelle:  ..Wenn  irgend  ein  An.-ipriK'h  des 
Scluilanite.s  die  kirchliclien  Inttres-nen  michweisbar  s<  Icidiurf  oder  auch  nur  g^^- 
tiibrdet,  «t>  sei  angenouiiuen ,  dass  er  verkehrt  oder  mit  tiuem  Fehler  behaftet 
i^t;  er  muas  dum  aufjfegebon  oder  so  moditirirt  werden,  bis  er  mit  den  kirch- 
lichen IntProsKen  stiiniiit,  '  .la  ..die  kirchlii  lieii  Tnti-n'<spTi'',  du«  sind  S'  lir  ela- 
stische, Ott  höchst  bedt'uklii  lic  Dinge.  Wer  soll  .sie  deliuireii  und  in  t-rträglichen 
Schranken  halten?  Wie  «itt  niiisste  vieler  Orten  da^  Schulamt  seine  Massnahmen 
aiUVeben  oder  umdifiriren.  bis  sie  ..jiiit  den  kirchlichen  Interessen  stimraen'*?  — 
(iewisi  meint  es  Herr  Dorpfeld  gut  mit  Kirche  und  Schule,  aber  seiu  Friedens- 
ideal,  wie  ;<chön  man  e.s  sich  ftuch  ausmiUen  vMge,  ist  eine  niuaion,  ein  Dingr 
der  Unmöglichkeit,  .so  lange  man  noch  daran  denkt,  unvereinbare  Gegen^tze 
zu  verschmelzen.    Hier  kann  nur  der  ürumlsatz  helfen:  Clara  pacta  boni  amici. 

Aber  nun  müssen  doch  auch  etliche  Stellen  augefdhrt  werden,  welche  den 
eigentlichen  Kern  des  angezeigten  Buches  erkennen  lassen  und  als  charakte- 
ristische Proben  der  Denkungsweise  Dörpfeld  s  dienen  können.  „Hau  regele  die 
berufliche  Carriere  der  Volk.sschullehrer  und  gewälu-e  ihnen,  was  zur  Erweckung 
ein  -  gesunden  Standesbcwusstseini  etÜDrifltlich  ist.  Dann  >vird  die  Selbst- 
ilisciplin  in  seiner  Mitte  hinter  der  in  anderen  Ständen  nicht  zurückstehen" 
(S.  29).  ,.(ieräth  einmal  da.'^  iwliti.sch- pädagogische  Scbulregiment  mit  der 
Kirche  in  Krieg,  dann  schiebt  man  die  ireistlichen  St^hulinapectoren  bei  Seite, 
und  die  Lehrer  werden  wider  die  Kirdic  i:.'liet7t:  vertragen  i*icb  nach  etlicher 
Zeit  die  beiden  Mächte  wieder,  dann  rücken  die  geistlichen  Schuliu-spectoren 
von  neuem  in  ihre  Stellen  ein,  and  die  Lelnw  werden  angewiesen,  ihre  ..natür- 
lichen Autoritäten"  ja  zu  respectiren,  und  wehe  ihnen,  wenn  sie  nicht  schnell 
genug  „umzusatteln"  verstehen.  Dieses  Spiel  nennt  die  politische  Pätlagogik 
..mordlische  Hebung"  des  Lehrerstandes^  (8. 126).  „Die  bisherige  (privilegirte) 
Local-Schnlinspection  ist  nicht  unreine  n  nzweckmässige  Institution,  sondern 
wegen  der  lici  htskiänkungen  und  moralischen  Versuchungen,  welche  der  Lehrer- 
stand durch  sir  erleidet,  geradezu  eine  nnsittliche'-  8.  i:U).  „Die  ineoMisdie 
Reiricning  bat  niemals  Schulinspectoren  ans  dem  Lebrcrstande  gewünscht 
und  eilen  de.shaib  auch  nicht  darnach  gesucht;  und  weil  sie  nicht  darnach 
snehte,  so  mussten  auch  keine  vorhanden  sein"  (S.  149).  „Wollte  man  den 
Lehrern  gestatten  —  wie  es  doch  recht  und  billitr  wäre,  und  wie  man  es  an- 
deren Berufsclassen  gestattet  —  sich  in  ihrem  Fache  als  Fachmänner  zu  tUhlen. 
und  wollten  dann  nicht  mehr  so  viele  pnre  Dilettanten  im  Sishnlweeen  mit- 
,s])rechen  und  regieren,  wie  wenn  sie  legitiniirte  SachknmliLri'  wären:  so  würde 
mau  zuverlässig  im  Lehrerstaude  nicht  mehr  „Selbstüberhebuug"  entdeckeu 
k9nnen,  als  in  jedem  andern  Stande,  selbst  den  geistlichen  Stand  nicht  ans- 
Li  'iionimen.  falls  dieser  viclleiclit  für  den  demiUhig.sten  gelten  soll'"  (S.  201). 

3Ieisterbaff  nnd  ers(  b;ti)fend  ist  die  Kritik,  welclie  Drirpfeld  an  der  Rede  des 
Herrn  von  l'iitikamer  übt,  und  welche  in  dem  Satze  gipfelt:  ..Kaum  jemals 
durfte  eine  verschuldete  und  verlorene  Sache  unglücklicher  nnd  verkehrter  ver- 
tbeidigt  worden  sein.  '  Und  wir  können  hinzufügen:  Kaum  jemals  durfte  <?in 
Ubermüthiger  Dilettant  giündli<her  znrecht  gewiesen  worden  sein,  als  Herr 
von  Puttkamer  von  Herrn  Dörpfeld.  Und  doch  konnte  der  nämliche  Herr 
von  Puttkanit'r  im  letzten  Viertel  des  neunzehnten  .Tabrhunderts  eine  Zeit  lauir 
Unterrichtsuiiui.ster  eines  ('ultur>taatcs  sein!  Dieses  Factum  allein  würde  Hemi 
Dörpfeld  genügend  rechtfertigen,  dass  er  uns  ein  Stück  „Leidensgeschichte  der 
Volksschule"  vorgeführt  hat.  Sein  Buch  i.st  eine  eminent  zeitiremä>'se  Krsi  hei- 
uung;  aber  es  ist  mehr,  es  ist  ein  Hauptwerk  über  die  Schulverwaltung,  welches 
alle  gegenwärtigen  und  künftigen  Schuhegenten  lesen  sollten,  ein  Werk.  welchei> 
keine-.wecTs  bl^s  tTir  den  .\ugeulilick  ireboren  ist.  So  viel  über  divs  Buch.  Vmhi 
Verlasser  al»er  müssen  wir  sagen,  dass  er  sich  als  ein  echter  Schulmeister  und 
als  ein  ganzer  Hann  gezeigt,  dass      die  der  Schale,  der  er  so  lange 

durch  dieTbat  ebrenvull  gedient,  auch  mit  der  Feder  riihmlicli  vert heidigt  hat. 
und  dass  der  deut>che  Lehrerstaud  auf  ein  solches  Mitglied  stolz  sein  kann.  D. 

Der  Xatnrlllstorlkrr.    niustriite  "Monatsschrift  fftr  die  Schnic  imd  das 
Haus,  herausgegeben  von  Dr.  Fiiedrieb  Knaaer.    Vierter  Jahrgang. 


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—  3  — 


L  Heft.   80  S.  mit  48  Illustrationen.   Jährlich  12  Hefte  ä  2—4  Bogen. 

5  fl.    A<Iii:iiiistration:  WU  n  IIT.  Sal<'siaiiori!:asso  20. 

Diese  Zeitschrift  empüelilt  sich  ebenso  selir  durcii  gediegfiieu  und  praktisch 
Terwartbnren  Inhalt  wie  durch  ele^tinte  AnsstattungT'  Sie  Ist  bis  jetzt  in 
österrcicli  -  ('nirarn  ilie  einzige  illustrirt»'  naturwlsspiischaftliche  Zeitschrift  wnd 
erhält  noch  dadurch  einen  besondem  Wert,  dasa  sie  nicht  einseitig  die  fach- 
wtssenschaftUche  Biehtnng  pfle^.  sondem  avch  den  pädagogisch -mdaktisehen 
Interes.-;en  snrc:same  Berilrksichtigung  iridmet,  was  einerseits  in  den  lehiTeichen 
Artikeln  des  Hauptblattes,  anderseits  nodi  besonders  in  den  Bciblätiem:  ^ie 
Lehrerbibliothek"  und  ,.IMe  Lehrmittebammlnng**  hermtritt  Wtge  dieses  von 
t'iiirm  tiirhtigeu  Fach-  unil  Scliiilmanne  geleitete  und  von  zahlreichen  renom- 
inirten  Mitarbeitern  unterstützte  zeitgemässe  Unternehmen  in  immer  weiteren 
Kreisen  den  wolverdienten  BdfikU  findeiL  Zar  nftheren  Kennzeichnung  desselben 
deuten  wir  den  Inhalt  des  angezeigten  Heft»  •<  an:  Popnlftr-wissenschaft- 
1  ich  es:  Dattelpalme  und  Dumpalme.  Mit  2  Abbild.  —  Der  Socialphilosopli 
Franz  Quesnay,  der  Begründer  des  phj-siokratischen  Systems.  Von  Dr.  Wilh, 
Neurath.  —  Wie  die  kleinsten  Tbiere  wohnen.  Von  Rock.  Mit  9  Abbild.  — 
Polyp,  und  Chamäleon.  Von  Karl  Sylvio  Köhler.  —  Pinie,  Cypresse  und  Ölhainn, 
drei  Charakterpflanzen  Südeuropa's.  Mit  H  Abbild.  —  Aus  dem  Aquarium  un- 
sers  Thiergartens.  Eine  Fütterung  bei  Licht.  Von  Dr.  Max  Schmidt.  —  Nist- 
kästen fl\r  V()gel.  Dazu  eine  Tafel  mit  17  Abbild.  —  Trinken  Ringelnatter 
und  Schlingnatter  Milch?  Von  Prof.  J.  Werchratzkv.  —  Der  Bnnuinapparat 
der.MaikSfw.  Mush  Dr.  H.  Ludois.  Mit  1  Abbild.'  -  Schulpraktiäches: 
Der  Xachwei?!  orarani.scher  Gifte.  Nach  F.  E.  Thorpc  und  Pattison  Muir.  Mit 
3  .Vbbild.  —  Chemisch  -  Technologi-sches  für  S  -hul-  und  Hausgebrauch.  —  Wie 
wird  man  den  Schüler  lehren,  sich  am  Stemenliimmel  bezQglich  der  wichtigste» 
Sternbilder  zu  orientircn?  Von  Prof,  H.  C.  E.  Martus.  Mit  12  Abbild.  — 
Fachwiäsenschaftliches:  Scopoli'.^  Icones  Eiitomoh>giae  Caniiulicac.  Von 
Pn»f.  Dr.  K.  W.  v.  Dalla  Ton-'.  Welche  Faetoren  kommen  bei  Betrachtung 
der  Färbung  und  Zeichnung  der  Kriochthiere  und  Lurche  im  alli^emciiieii  in 
Erwäi^iing  und  wie  geben  sich  die  bezüglichen  Verhältnisse  im  specieileu  bei 
unseren  Kriechthieren  und  Lurchen?  Von  Dr.  Friedrich  Knauer.  —  Gustar 
Nachtigar.s  Sahara  und  Sudan.  IL  Von  Prof.  Dr.  Phil.  Paulitschke.  Cor- 
respondenz  der  Kedaction  mit  ihren  Lesern  und  dieser  unter  sich. 
—  Die  Lehrerbibliothek.  GO  literari.sche  Anzeigen  und  Becoisionen.  — 
Die  Lehrmittelsammlung.   Besprechung  Terschiedener  neuer  Lehrmittd. 

H. 

Mine raloir! seile  Tafeln.  Anleitung  zur  Bestimmung  der  Mineralieu  von 
F.  Leypold,  K. W.  lü  yi*  rungsrath  a.D.  Stuttgart,  Verlag  von  JuL  Maier. 
Bestimmungsbtlcher  tilr  ]^lineralien  sind  ebenso  nothwendig  wie  solche  der 
anderen  Naturreiche  und  docli  viel  >chwieriger,  weil  bei  der  Benutznuir  dei- 
selben  ein  grö.ss^eres  Ma-ss  chemischer  und  physikalischer  Kenntnisse  und  prak- 
ti>>che  Fertigkeit  vorausgesetzt  werden  muss.  Der  VerfiMser  vorliegender  Tafeln 
hat  dieselben  auf  Grund  seiner  praktischen  Erfabnincren  zusntnmonfre<tellt.  Die 
Mineralien  sind  geordnet  nach  ilirem  specifischen  ( rewichte  und  nach  ihrer  Lös- 
lichkeit im  Wa-;ser  und  in  Sturen;  die  anderen  mineralogischen  Eigenschaften, 
wie  Härte,  t  heuiische  Zusamniensetzun£r.  Sclimelzliarkeit  und  Verhalten  vor  dem 
Löthrohre,  Farbe  d»'r  Boraxperle.  Farbe,  Glanz  und  l)urcii.sielitigkeit  des  Mine- 
rales.  Strich.  Hrmh  und  andere  Kennzeichen  sind  tabellariseh  angefügt.  Im 
Ganzen  sind  MH)  3Iineralien  angeführt,  womit  weit  i\ber  den  Rahmen  der  ire- 
wühnlichen  Mineralien  hinausgegangen  ist.  Es  ist  nun  die  l*Vage,  ob  die  Be- 
stimmung des  speci fischen  Gewichtes  mit  einiger  Genauigkeit  eine  gar  so  leichte 
Sache  sei.  «♦■ünt  m-Ai  der  Methode,  welche  der  \'erlas-ier  aniribt,  da  reine 
Stückchen,  deren  (iewichtsverlust  bestimmt  werden  kami,  nicht  so  leicht  für 
jeden  vorhanden  sind,  der  nur  seine  eigene  Sammlung  (oder  c^ne  Schukümmlnng, 
an  der  er  nicht  vi.  1  /erklnpfi  ii  darfi  zur  Verfügung  hat.  Wir  irlauhen.  dass 
dies  in  vielen  Fällen  schwierig  sein  wird.  Auf  die  Form,  ob  krjstallinisch  oder 
nicht,  hätte  melir  Rücksicht  genommen  werden  sollen,  wmui  auch,  wie  der 
VeiAisser  richtig  bemerkt.  Schaler  selten  Gelegenheit  haben,  deutliche  Krj'staUe 


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—   4  — 


in  Uiren  Besitz  /u  In  knimneii.  Al  t  r  abgcsolieii  hiorvtai  sind  Tali'-Ilr  s  mit 
grosser  Gewissenhaltigkeit  zusaiumeugeätelU  uud  werden  unter  Uimtdudeii  vuu 
nraktischem  Werte  sein,  besonders  da  sow>l  in  dar  aUgemdnen  Einleitiuig  als 
m  einigen  Beispielen  deren  Gebrauch  recht  deutlich  gezdgt  wird.     C.  B.  B. 

Br*  £.  S.  Uii^er,  Pi-ofesäor.  Leitfaden  für  den  Unterricht  im  Kopfredmen 
fllr  Lehrer  nnd  Srarinnristen  nach  einer  eigenthOmliehen  Methode.  3.  Auflage, 

neu  bearbeitrt  von  G.  Knisclu',  Oberlehrer  au  der  höheren  Schnle  ÜBr  USdchen 
zu  Leipzig.   Leipzifj-  1881.  Hermann  MendelsMtlm.    288  S. 

Da  der  Wert  des  mUndlichen  Keehuens  gegenwärtig  an  Anerkennung  gewinnt, 
so  nrass  das  Erscheinen  eines  Bnches,  welches  eine  hranchbare  Methode  dafllr 

angibt,  mit  Freude  begrübst  werden.  E.«i  war  dalu  r  eiu  zeit*remäs9e.-<  Cnter- 
nehmen,  das  vorli^eude  Buch,  de&sen  zweite  Anliace  vom  Jahre  18öl  datirt 
nnd  franz  veraltet  ist.  neu  zu  bearbeiten.  Die  dritte  Auflasre  erscheint  hi 
verSndertor  Gestalt.  Der  zweite  Cursu.s  wurde  au.^^'esrhieden.  der 
vierte  Abschnitt  des  ersten  Theiles  umgearbeitet,  die  l*roi)ortion.slehre  aus  dem 
zweiten  in  den  ersten  Cursna  übergetragen,  und  mehrfache  Erweiterungen  wurden 
angebracht.  lu  der  Ehiieitnng  entwickelt  der  Verfasser  seine  Methode,  dieselbe 
geht  dahin,  den  Sohüleni  keine  Keirdn  zu  geben,  sondern  sie  von  ihnen  finden 
zu  lassen.  Der  Schüler  soll  an  das  Denken  gewöhnt  uud  im  Denken  geöbt 
werden.  Der  Verfas.ser  wünst  ht  anstarr  «U  r  I'nt»  rsrheidung  in  Kopf-  und  Tafel- 
refhufu  eine  solche  in  Iteukrechiien  und  lietrelreclinen  einzutUhn-n.  Er  will 
beim  1>(  iikreehneii  die  Tafel  im  beschränkten  Mu.^'se  benutzt  Ijaben.  iL«i  rechne 
stets  mit  den  kleinsten  oder  bequemsten  Zahlen.  Der  Einleitung  folgen  als 
ei*ster  Theil:  Die  Lehre  vom  Wesen  «ler  Zahl,  wclrlu!  sich  über  die  Zerlegung 
in  Factüreu,  das  g»'meiu!?chat'tli<  he  Mass  und  Vielfache,  Uber  die  Lelire  von  den 
Kesten,  den  DecimalbrOchen  und  Quadratzahlen  ausbreitet;  femer  als  zweiter 
Theil:  die  Materialien  zur  weitereti  Fortlllhnmg  des  l'nterrichtes,  welche  von 
Factoren  und  Kesii  n.  dann  v<jn  (TU  icliuugen.  ßeiheu  mid  Proportionen  handeln. 

So  sehr  mau  mit  den  Grundsätzen  «b  s  Verfassers  im  allgemeinen  einverstandoi 
.sein  mag.  so  fraglich  bleibt  die  Ausdeliumig  ilircr  Anwendbarkeit.  Der  T^ntt-r- 
richt  im  Kechnen  muss  allerdings  auch  in  der  \'olk.s,>clii:le  auf  formale  Bildung 
gerichtet  sein,  aber  er  muss  den  .Schülern  auch  positive  Kenntnisse  mitgeben; 
jenes  erfordert  Verstandesthätiirkeir.  dieses  I'bnng  des  fiedächtnisses.  Es  <lrirfte 
wul  das  Alter  von  zehn  Jahren  aln  dasjenige  zu  setzeu  sein,  mit  welchem  jene 
entschieden  in  erster  Linie  zn  pflegen  ist;  soweit  stehen  wir  mit  demVermMor 
im  Einklänge,  er  be>;rininit  sein  Ilueh  nirlir  tTir  dio  unterste»  l*^tnfe.  Aber  auch 
für  eine  höhere  Stufe  eignet  sich  die  Methode  des  Vertasserä  nicht  durchgängig; 
denn  die  allgemeinen  Zädieichen  leisten  in  ihnr  Anwendung  auf  die  ./Ügdm 
do( }]  unirb'ich  mehr,  als  dieses  von  IUI  zu  Fall  sidi  abmfihende  Bingen  nach 
dem  Resultate. 

Wir  empfelilen  das  vorliegende  Bnch  allen  Fschgenossen,  welche  es  mit  dem 

Unterrichte  von  zehn-  bis  dreizehnjährigen  Si  hiilern  zn  thun  haben.  ;tK  TTaud- 
bttch  —  nicht  als  Schulbuch  —  und  sind  Uberzeugt,  dass  sie  von  gewisaeu  Ab- 
schnitten mit  Vergntlgen  Oebranch  machen  werden.  Besonders  haben  uns  die 
Paragraphe  24  Ms  des  ersten  Theiles  befriedigt,  welche  von  dpu  Dedmal- 
brttchen,  den  (juadraucahleu  uud  den  Zahlenreihen  iuuideln«  jedoch  mit  Ausschluss 
des  31  von  den  Quadratwurzeln,  an  welchem  man  eben  sehm  kann,  dass  dch 
Eines  nirlit  für  Alles  -.  hiekt.  Ans  dem  zweiten  Theile  heben  wir  lobend  hervor 
tlie  i^twickeluug  der  periodische  Deciiualbrüche  in  ^  ÖO,  wogegen  wir  die 
Behandlung  der  Gleichungen  bei  anderen  RecheomethooBkon,  s.  S.  bei  Stidni 
(Das  Kopftichnen,  Wien  1878,  Pichler)  systematischer  geftmden  haben.     H.  B. 


VcnntworUiolwr  BadRctenx:  M.  Stein.         Bvchdniekeni  JolU*  Klinkhardt,  lätftSt, 


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'  Literaturblatt. 

Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  7. 


Lehrbuch   der  Pädagogik  von   Dr.  Gerhard  yon  Zezschwitz. 

Leipzig  1882,  Hinrichs.   291  S.  4,80  M. 

Ein  höchst  bedeutendes  Werk.  In  drei  Haupttheilen  behandelt  der  Ver- 
fasser 1.  die  grundlegenden  und  zielsetzenden  Factoren  aller  Ensiehnng  (Familie, 
Stamm,  Nation,  Stand,  Staat,  historische  Entwickelnng,  Religion,  Ideale  u.  s.  w,). 
2.  die  anthropolotjisch- psychologischen  Vorauasetzungen  und  3.  die  factische 
Verwirklichung  (Praxis)  der  Erziehung  uudBUdung,  ttberall  Theorie,  geschicht- 
Uchen  Nachweis  und  methodische  Anwendung  mit  einander  verbindend.  Refe- 
rent hat  das  ganze  Buch  mit  dem  lebhaftesten  Antheil  und  der  grössten  Be- 
friedigung gelesen.  Zwar  enthält  es  auch  einzelne  Anschauungen,  Uber  die  man 
mit  dem  Verfasser  streiten  kann,  z.  B.  bezüglich  der  geistigen  Beföhigung  der 
Tliiere  im  Verhältnis  zu  der  des  Menschen,  bezüglich  der  Grenzen  weiblicher 
Berufsthätigkeit,  der  Vorbedingimgen  zum  Universitätsstudium,  mancher  Details 
der  Elementarmethodik  u.  8.  w.;  aber  das  sind  in  diesem  Werke  verhältnis- 
mässig nntergeordiiete  Pinire,  In  allem  We.scntlichen  niachr  dan  vürlieg:ende 
Buch  durch  die  iu  ihm  herrschende  gesunde,  sichere,  selbststäiulige.  freisinnige, 
allem  Trivialen  entri\ckte,  auf  festen  wissenschaftlichen  Grundlagen  mheude 
Denknngsweise.  durch  seine  edle,  ideale  und  gemüthvolle  Betrachtung  aller 
menschlichen  Angelegenheiten,  durch  seinen  logisch  wolgetilgteu  Bau  im  (irossen 
und  Kleinen,  durch  seine  originelle  und  doch  allenthalben  zutreffende  Sprache  ei)ien 
imponirenden.  aber  ziit^leich  anziehenden  und  wolfhuenden  Eindniik.  Mau 
fühlt  es  an  jeder  Stelle  des  Buches,  dass  dasselbe  keine  blosse  Prticht-  oder 
gar  Geschäftsarbeit,  sondern  eme  Hmrasthat,  ein  Ausflnss  inneren  Dranges  ist. 
Verfasser  ist  Theolog;  aber  wer  es  nicht  weiss,  wird  e.s  dem  Werke  kaum  ab- 
merken. Von  engherzigen  Vonutheileu  oder  starren  Dogmen  keine  Spur,  ge- 
schweig«  denn  von  blindem  2ielotismii8  oder  Fanatismus.  Überall  findet  vielmdir 
ilii<  «'hnnt'  Wnrt;  Hiiniani  nihil  a  me  aliemim  puto  die  schi'>u3te  Anwendung. 
Seit  Sclileiennacher  ist  von  theologischer  Seite  kein  pädago^sches  Buch  annähernd 
gleichen  Ibui^s  geschrieben  worden;  ^a  Referent  hält  lUKRIr,  Aua  auch  Schl^er- 
macher.  wenigstens  in  wissenschaltlicher  Hinsieht,  von  Znachwits  weit  ühO' 
holt  isU 

Wenn  also  das  angesefgte  Bneh  ab  eine  hervoirageiide  Leistung  unserer 

Faelilitoratur  ernste  Beachtung  verdient,  <n  kann  Piefereut  leider  des  Verfassers 
Uofihuug  nicht  theileu,  dass  es  „für  Gebildete  überhaupt"  lesbar  ei^eiuen 
werde.  Gerade  einige  der  dem  W^e  eigenen  Vorzflge  werden  das  unmöglich 
machen.  Es  ist  die  Arbeit  eines  Gelehrten,  zwar  eine.s  (ielehrteii  ohne  Zopf, 
aber  mit  sehr  reichem  Betriebscapitalj  und  wenn  sie  auch  dem  Geiste  desselben 
ohne  Anstrengung,  vieneicht  ohne  ansdr&cicliches  Bewusstsein  von  dem  schweren 
Gewichte  der  entwickelten  Gedankenmassen,  im  freien  Spiele  genialen  Schaflens. 
eutllossea  sein  mag:  so  werden  doch  Leser,  welche  dem  Buche  nicht  eine  be- 
deutende wissenschaftliche  Vorbildung  entgegenbringen,  gar  bald  den  Fftden 
verlieren,  ja  ihn  kaum  sicher  erfassen.  Und  die  Dictii-ii  des  Buches  i<t  nicht  nur 
äusserst  gedrungen,  vollsinnig,  wuchtig,  sondern  auch  eminent  gelehrt,  dem 
Laien  umassbar,  wenn  andi  dem  Eingeweihten  Terstftudlich .  jii  zusagend  und 
vertraut.  Dazu  koimnt,  dass  die  Elemente  all  der  Wissenschaften,  welche  für 
die  Pädagogik  grundlegend  sind,  un«l  auf  denen  auch  das  vorliegende  Buch 
aufgebaut  ist,  in  demselben  nicht  eigentlich  gelehrt,  sondern  nur  interpretirt, 
nicht  genetisch  entwickelt,  sondern  nur  sinnreich  verwebt,  also  vorausgesetzt 
werden.  Ohne  Schulung,  ohne  vielseitige  und  gründliche  Schulung  kann  also 
dieses  Werk  weder  recht  gewürdigt,  noch  fruchtbringend  gelesen  werden. 
Den  natürlichen  Leserkreis  desselben  dUrl'ten  nach  Ansicht  des  Referenten  iu 
erster  Linie  die  Candidaten  des  höheren  Schulamtes,  aber  auch  sie  erst  an  der 
Schwelle  ihres  eigentlichen  Berufsstudiums,  ferner  ausser  den  pädagogi.>$chen 


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Fachgelehrten  alle  jene  Blänner  bilden,  welche  auf  Grniid  eines  ^lehit«i  Be- 

rufsütudinms  in  Staat  und  (n^scllschaft  eine  leitende  Rolle  .spielen,  zn  deren 
heilsamer  Durchfilbrung  »ie  pädagogischen  Sinn  und  Verstand  ^  sehr  be- 
dürfen, wenn  sie  auch  nicht  eben  Praktiker  im  Schul-  und  Eiraehunfi:^wesen 
sind.  Und  wenn  da.s  angezeigte  Buch  nur  in  all  diesen  Krei.sen  durch^-chlägt. 
so  wird  68  eine  sehr  woUh&tige  und  weitreichende  Mission  erfüllen.  D. 

Xittel  zur  Erreichung  einer  i;uteu  Schul zucht.  Erfahrungen,  Rath- 

srlililu:«^  und  liedliigni.'ise  für  Schule  und  Familie  zur  rieht ic'-ii  Kiii-lor- 
eiziehung.  Von  Frixaz  Jäger.  Wien  und  Leipzig  1882,  Jul.  lüiuidianit. 
S2  S.  0,60  IL 

Yerfiuser  geht  -ron  dem  in  der  neueren  Pidagos^  als  Axiom  geltenden 

Orniulsatze  aus.  da-ss  in  der  Volksschule  Erziehung  und  Unterricht  mit 
gieichwässiger  iSorgfalt  zu  pdegen  seien.  Wenn  nun  auch  der  letztere  selbst 
ein  guuE  vorzttglidies  Mittel  sni*  Förderung  der  erateren  ist,  vnd  jeder  Lehrer 
schon  in  seiner  ünt«rricht^?methode  eine  wichtige,  j.i  die  weitau-«  bedeutendste 
Hille  und  Stütze  der  Schuldisciplin  besitzt:  so  bedarf  C3  doch  zu  einer  gedeih- 
lieben Oestaltang  des  Sehnllebens,  ja  schon  rar  Sicherung  des  LdngesehSftes 
selbst  noch  besonderer  Mittel,  Einrichtungen  und  Ma:*sregeln.  deren  Inbegriff 
wir  Schulzacht  im  engeren  und  eigentlichen  Wortsinn  nennen,  und  die  den 
Gegenstand  der  rorliegenden  Abhandlung  bilden.  Dieselbe  entUttt  trots  ihres 
geringen  Urafauges  einen  reicheren  Schatz  brauchbarer  Ratlischläge,  als  manche« 
weitschichtige  Buch  Uber  den  gleichen  (legenstand.  Man  sieht  ea  der  kleinen 
Schrift  auf  jeder  Seite  an,  dass  der  Verfasser  ans  Eigenem  scbSpft  nnd  nor 
.Holehe  di.Hciplinariscbe  Mittel  nnd  Vorkehrungen  empfiehlt,  welche  ihm  das 
SchuUeben  nahe  gelegt,  die  er  selbst  hinlänglich  erprobt  bat,  nnd  die  daher 
aneb.  wie  er  seihet  bemerkt,  „sich  besonders  znr  praktischen  Einführung  in 
das  Schnlleben  und  zur  Orientirung  Uber  die  Zuchtmittel  der  Schule  tVir  neu 
eintretende  Lehriiersonen  eignen  dürften."  Wenn  Herr  Jäger  den  Gnmdzug 
seiner  Vorschläge  in  dem  Satze  zusammenfasst:  „dass  das  beste  Disciplinar- 
gesetz  ein  pflichteifriger  Lehrer  ist,  nnd  dte  besten  Disciplinarmittel  Conse<|n(  n/. 
unermüdliches  Studium  der  Kindesuatnr.  ein  richtiger  pädagogischer  Takt  und 
unbezwingbare  Geduld  und  Gemüthsruhe  von  Seiten  des  Lehrers  sind",  so  gibt 
er  selbst  leutUeh  zu  erkennen,  dass  die  DurchtlUirang  seines  Disciplinarsrstems, 
namentlich  in  vernachlässigten  Cla^^sen  oder  Schulen,  nii  ht  geringe  Mühe  und 
Anstrengung  erfortlert.  Datür  aber  >nnl  »  s  auch  dem  Lehrer,  wenn  er  es  nur 
einmal  in  Kraft  gesetzt  bat,  seine  BerutVth;itii,'keit  in  lioliem  Masse  erleichtem 
und  einen  höchst  wirksamen  Kinthns  auf  die  sittliche  Eutwickeluug  der  Kinder 
sichern.  31og6  also  dieser  anspruchslose,  aber  gediegene  und  praktische  Bei- 
trag Bur  PKdii^gogik  der  Ycdksscbnle  die  wolverdiente  Beachtung  finden.  D. 

BiOg^aphisehes  SehrÜlUtcllcr- Lexikon  der  Gregeuwart  von  Franz 
Bornmflller,  unter  ICitwirtnmg  namhafter  Sehriftsteller.  Leipzig  1882, 
Bibliographisches  Listitut.  800  S.  8  U. 

Ein  ansehnlicher  Band  vr>n  kurzen  Lebensbeschreibungen.  literari>cli.  n  Naeh- 
weisen  und  Kritiken  betretend  die  bekauntisten  zeitgenö.sjiischcu  Schriftsteller 
aller  europäischen  Coltnrvölker.  Ausgeschlossen  blieben  die  streng  fachwissen- 
scbaftlichen  Autoren,  da  denselben  besondere,  in  tjleicheni  Verlaire  erseheinende 
Lexika  gewidmet  sind.  Die  ^duhrzahl  der  in  dem  vorliegenden  Baude  vorse- 
ftihrten  Schriftsteller  bilden  die  eigentlichen  BeUetrisl^er.  dann  die  Oeschicht- 
schreiher  mit  FSnichlllM  der  Cultur-.  Litminir  und  Kunsthistoriker,  sofern  sie 
sich  einer  popuUien  und  anziehenden  Darstellung  bedienen;  iiierza  kommen 
eine  Beihe  ««dben  Bedingungen  erfüllender  Autoren  anf  andeien  wissen» 
schaftlicben  n  iili  ti  ii.  l>  i^^  i  in  s  >  vif]  nnifassende-.  Werk,  welches  überhaupt 
nnr  durch  die  gemeinsame  Arbeit  \  ieler  zu  Staude  gebracht  werden  konnte, 
aber  auch  bei  dem  regsten  Sammeleifer  nicht  leicht  tn  einem  voIbtSndig  be- 
ftiediiri  ii  li  n.  lüf  kenlosen  und  ganz  fehlerfreien  Abschluss  7\\  bringen  ist  und 
hm.  neuen  Autlagen  noch  manche  Kachbesserungen  erhalten  muss,  versteht  sieh 
von  selbst.  Aber  anch  wie  es  yorliegt,  vordient  es  in  Text  nnd  Dmelc  daa 


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Zeugnis  gitfuter  Soigfalt  und  vmA  es  allen,  welche  sich  Uber  zeitgenössische 
Autoren  orientiren  woUoi,  als  ein  woliafoimirter  nnd  stets  bereiter  Führer 

dienen.  H. 


Das  Weltall  und  seine  Entiiiekelung.  Darlegung  der  neuesten  Ei-geb- 
nisse  der  kosmologischen  Forschung  von  E.  F.  Theodor  Moldenhaner. 
Erste  Liefisning.  K91n  1882.  Verlag  yon  Ed.  Heintich  Majer.  Preis  der 

Lieferung  80  Pf. 

Es  ist  sclnvieri)?  ans  einer  ersten  Lieferuns:  eines  grösser  niiffeleijten  Werkes 
ein  Urtheil  über  dasselbe  abzugeben,  es  muss  dazu  der  Inhalt  dieses  Antansres 
und  das  Verzeichnis  des  Versprochenen  helfen.  Was  nun  dii-  !  i  i  re  an- 
l)elan8:t.  .so  theilt  sich  der  Iiilmlr  iles  Werkes  in  folgende  Capiteh  Das  All. 
d.ia  Sonnensystem,  die  Erde,  die  Sonne,  der  Mond,  die  Planeten,  Feuerkugeln, 
Meteorite,  Sternschnuppen,  Kometen,  der  Einheitsgedanke  im  Sonnenqrsteui,  der 
SrofT  tind  die  Kraft.  Halluner  nnd  T'inltmf.  di''  Drehung:,  Verdichtunc:  nnd  Rinir- 
bildungt  die  Entfaltung  unserer  Tlanetenwelt,  der  „kritische  Funkt'"  in  der 
Wdtkörperentwickeluns:.  der  Gestalt ungsprocess  des  Mondes,  die  Constituirung 
der  Erde,  der  Erdvulkauisraus  der  Vorzeit,  der  Sonnenviilkanismu.s.  die  Eiszeit 
der  Erde,  der  Erdvulkanismns  der  Jetztzeit,  der  Ui-sprung  der  ileteoriteu- 
sdiwlrme,  Penpeetiven  —  eine  grosse  Reichhaltigkeit,  die  sU  datgenige  um- 
fa.sst,  ^vas  man  von  eiix'r  Kosmog-onie  verlanifen  kann,  nnd  welche  nach  den 
angegebenen  Uetaüabsclmitten  sehr  viel  des  Interessanten  bieten  wird.  Über 
das  Wie?  betehrt  uns  der  Inhalt  des  ersten  Capitds:  „Das  AU.'*  Hier  sehen  wir 
alle  neueren  Forschnngcn  und  Beobachtungen  gefrfssenhaft  benutzt,  wip  z.  P>. 
Uber  das  Vorhandensein  und  die  Fouderabilittt  aes  Äthers,  Uber  die  Bewegungen 
der  Fixsterne,  Vübet  den  Hlttelpmikt  des  Wettalls,  tfber  die  Doppelsteme,  Aber 
die  kosmischen  XeViel.  Diese  Partien  sind  in  i)opulSrer  Weise  dargestellt,  ohne 
verflacht  zu  sein,  und  bieten  jedermann  viel  des  Intei'essauten.  Dass  manche 
Hypot]i(»en  etwas  apodiktisch  als  hSchst  wahisdieinKeli  oder  nahesm  wahr  ge- 
schildert werden,  ist  bei  einem  MiMien  fttr  einen  weiteren  Leserkreis  bestimmten 
Werke  natürlich.    Illuätratioueu  würen  zur  Deutlichkeit  recht  wünschenswert. 

G.    fia  S. 

Dr.  J.  Worpltzky,  Professor  an  der  königl.  Kri^;s-Akademie  und  am 

Friedrich -"Werderschen  Gymnasiuni  zu  Berlin.    Elemente  der  ^Mathematik 
für  gelehrte  Schulen  und  zum  Selbststudium.  Zweite  umgearbeitcto  Auflage. 
Erstes  Heft:  Die  Arithmetik.    Berlin  1881,  Weidmann.  löÖ  Ö.    2,40  M. 
Wir  sind  dnrehdmmren  T<m  der  didaktischen  Wichtigkeit  einer  83rste- 
malischen  Dai-xtt  llimi:  il»  i  .\nthmetik,  weil  in  keinem  audeni  Zweige  der 
lückenlose  Zusammenhang  des  ganzen  Lehrgebäudes  so  vollstämlig  zum  Be- 
wnsstsein  gebracht  werden  kann,  als  gerade  in  der  Arithmetik.   Wir  freuen 
uns  daher  dieses  Buclies  als  eines  s'ehi-  geeipu  ten  Mittels,  diese  Anschaumig 
zur  Geltung  zu  bringen.    Allerdings  kann  wegen  der  Mannigfaltigkeit  der 
Wechselbeziehungen  ein  Lehrbnch  vom  Systeme  der  Arithmetik  nur  ein  Bild 
geben,  und  es  bleibt  dem  geistigen  Auge  des  Lesers  Uberlassen,  aus  dem  Bilde 
das  GefOge  des  Systems  sich  aufzubanen;  aber  wir  müssen  dem  Verfasser  zn- 
gestehen.  dass  sein  Gemälde  der  Arithmetik  ein  nahezu  volKst&ndige.s  ist. 

Der  Verfasser  legt  das  griisste  Gewicht  auf  möglichste  KlarstaUunir  r  Be- 
grift'e,  und  bat  aus  diesem  Grunde  die  Einleitung.  Avelche  Axiome  nnd  wiehtiire 
Definitionen  enthält,  neu  bearbeitet;  denn  er  meint,  dass  eben  der  Maugel  klarer 
Grundbegri£fe  Schuld  trägt  an  den  „stutzig  maolienden  Folgemng^  die  ver* 
mittelst  des  arithmetischen  Calculs  auf  dem  Gebiete  der  Ramnaiwehannngen** 
gemacht  werden. 

Der  Verfivsser  schliesst  dnreh  seine  Definiti  on  des  Grösflenhegriffos  die  „dis- 

creten"  Grii^^sen  ans.  indem  er  bemerkt,  dass  dieselben  nur  unter  gewissen 
Beilingungiu  als  wirkliche  Grössen  behandelt  werden  können;  sein  Grössenbe- 
griif  umfasät  demnach  nur  Zeit  und  Kaum. 
nDie  Einleitung  entln'üt  eine  ..t  bersicht  über  die  Abstanimunc:  der  Re(  hnnn2'<- 
arteu  und  ihre  Nomeuclatur."  Sodann  folgen  die  Lehrsätze  Uber  die  Auät ab- 
rang der  Bechnnngaarten,  der  Art,'  dass  avf  derselben  Seite  neben  einander 


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I 


—   4  — 

sU'heud  »lie  l'aiallelsat^e  von  «lirecten  und  iiiverstn  Rt-eliuuugsartcu  auige- 
frthrt  sind.  Der  Addition  und  Subtraction  folgen  die  negativen  (irössen,  von 
denen  wir  aber  eine  riefinitinn  vermissen.  Der  Mnltiitlication  und  Division 
folgen  die  gebrochenen  und  irrationalen  Zahlen;  letztere  werden  als  ein  in- 
oommensiirables  Verhältnis  aufgefasst,  und  die  Art,  mit  ihnen  zu  rechnen,  nach 
EinlVihrnni:  des  Zeichens  Utu  .sehr  clcLMut  lioinliudet.  Die  drei  letzen  Rech- 
imng.sarten  werden  in  Bezug  auf  Monome-Zahlen  ebenfalls  parallel  ansireJührt, 
dann  folgt  der  binomische  Ldmats,  die  Sumniirbarkeit  der  Reihen  und  die 
Exponential-Keiho;  aus  dieser  wird  nach  Einftlhmng  der  imaLriiKiren  Einheit 
der  Moivresche  Satz  abgeleitet,  und  de^eu  vielseitige  Anwendung  deutlich  ge- 
maeht.  Ali  enter  Anhang  wird  die  Yeranschaulichüng  der  Zahlenformen  durch 
geometri.sche  Gebilde  nach  Gauss,  als  zweiter  Anhang  sind  *  iniire  wichtiflre 
Reihen  nebst  Zinseazinärechnung  gegeben,  den  Sclüuäs  macht  der  Algorithmus 
mit  dm  nnmertsehen  Zahlen. 

Sc»viel  über  den  Inhalt.  Zum  Lobe  der  Ausführung  wollen  Avir  dem  friiher 
Gesagten  noch  beifiigen,  da^s  bei  jeder  Rechnungsart  besonders  untersucht 
wird,  wie  weit  die  Null,  welche  keine  Zahl  iit,  formal  als  solche  behandelt 
werden  darf;  ferner  d;\s.s  nächst  den  T>efinitinnen  der  Lrr'i<ste  Wert  auf  die 
Correctheit  der  sogenannten  mathematischen  Orthographie  gelegt  wird. 

Dieses  Lob  sollen  die  nachfolgenden  Bemerknngen  ni^t  oedntrlchtigen, 
vie'niehr  sollen  es  nur  etwa  sj^äter  zu  bef)ltrende  Winke  tl\r  den  Verfasser 
sein.  Wir  ziehen  die  Bezeichnungen:  „Logarithmand"  und  „lateral''  der  Be- 
nennung: „Numerus**  nnd  „imaginär"  vor,  erstere  sind  charaktoristiBcber  und 
eindeutig.  Femer  nu«  hten  wir  trotz  der  Beirrilndnng  in  der  X<ito  anf  Seite  2 
nicht  „Zifor"  sdueiben;  denn  wir  halten  es  fi'ir  keine  „berechtigte  Eigeuihttm- 
Mehkeit**,  dass  jeier  deutsehe  Sehulmann  seine  eigene  Orthographie  schreibe. 
Endlich  möihten  wir  irgend  im  Ruche  angefillirt  sehen,  dass  die  verschie- 
denen Erweiterungen  der  Zahlenscala  ihre  Entstehung  der  nur  bedingungsweisen 
Ausführbarkeit  der  inveisen  Redmnngsarten  verdatuten,  damit  der  Algorithmus 
nicht  de.s  that^sächlichen  Hintergrundes  entbehre.  Sowie  auch  der  Veransehaa» 
lichung  der  Zahlfonnen  durch  geometrische  Gebilde  eine  solche  durch  discieta 
Grössen  zur  Seite  treten  kfinnte. 

Indem  wir  das  vorliegende  Buch  allen  Fachgenossen  empfehlen,  bedanem 
wir.  dass  seine  erste  Hälfte  als  Lehrbuch  für  den  ersten  Unterricht  nicht  ge- 
eignet erscheint,  wol  aber  kann  alles  von  der  binomischen  Reihe  au  in  den 
obersten  Classen  von  Gymnasien  nnd  Realschulen  zum  ersten  Unterricht  und 
das  Vorausgehende  auch  sor  Wiederholung  mit  gräastem  Vortheile  benut/t 
werden.  H.  E. 

Abriss  der  dcutsclieu  SiUH'iniie.ssuiiü:  und  Verskunst  von  Prof. 
Dr.  Daniel  Sauders,  Berlin  1881,  Langeuscheidt.  gr.  8.  133  S. 

Das  Buch  ist  eine  erschöpfende  Behandlung  der  deutschen  Prosodik,  ja 

wird,  was  die  als  Beleg  gebr-achten  Beispiele  betrifft,  wnl  {\\r  lange  ohne 
Gleichen  dastehen.  Man  fühlt  anf  allen  Seiten  den  belesenen  Lexikographen 
heraus,  der,  was  er  auf  seinen  Streifzflgen  dnrch  berOhmte  und  unbertlhmte 
Werke  gesammelt  hat,  nun  behaglieh  ausbreitet,  kriti-ich  uulersueht.  irruppirt 
und  sondert,  der  in  der  FiUle  des  zusanmieu£etragenen  Matehais  Belriedigung 
findet  und  —  die  Lösung  der  Streitfrage.  So  dürfte  diu  Buch  auch  An«UUi> 
dem,  denen  unser  Aecentgeset/,  so  gmsse  Schwierigkeiten  bereitet,  t-in  will- 
kommenes  Nachschlagebuch  werden.  —  GegenUber  der  Prosodik  tritt  die 
eigentliche  Metrik  in  den  Hintergrund.  Auch  da  sind  der  Belegsteilen  ge- 
nuir  gesammelt,  aber  neue  Resultate  sind  nicht  gewonnen,  neuere  Arbeilen, 
wie  z.  B.  Brilcke's  epochemachende  Schrift  „Die  physiologischen  Gmudlagen 
der  neuhochdeutschen  Verskunsf*  oder  Westphars  Metoik  ignorirt  und  auf 
den  deutschen  Stropbenban  wie  die  historische  Entwicklung  ^Metrik  wenig 
fittcksicht  genommen.  ^  — r. 


yanatwocOicker  BoJaeteai:  IL  Stvla. 


Bnobdnickerei  Julias  Kliakkardt,  Ldpiig; 

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Literaturblatt 

Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  8. 


PKdagOgiseh  -  politische  Rundschau.    Herausgegeben  von  Johannes 
Si  III  ml  er.  1.  Mit  einer  Kartenskijsse  als  Beilage.  Graz  1881,  Karl  Habere 

100  S.  80  Kr.  =  1,60  M. 

An  der  Spitze  dieses  ansehnlichen  nud  gehaltvollen  Ueftea  »teht  eine  Ah> 
Itandlnng  Uber  das  Verhältnis  von  Pädii^^^ogik  nnd  Politik,  welche  namentlich 
die  Verwandtschaft  nnd  Zusammengehörigkeit  der  erziehlichen  und  der  staats- 
roännischen  Thätigkeit  nachweist.  Hieniuf  folgt  eine  motivirte  Auffordcnmg 
zur  Gründung  von  Schulvertiuen,  deren  Zweck  und  Organisation  in  kurzen 
Zügen,  abor  soneichend  und  einleuchtend  dsigestellt  wird.  Weiter  bietet  uns 
der  VertasMpr,  vermuthlich  aus  Anlass  der  gegenwärtigen  politisch-militärischen 
Hauptaction  Üstcrrcic-lis.  eine  vuu  einer  Kartenskizze  unterstützte  übersichtliche 
Beschreibung  der  Länder  Bosnien,  Hercegowina  und  Novibazar.  Nun^  folgt  der 
Haupttheil  des  Heftes:  die  iKi(l:ii::«'i,nsch-i»olitischf  Rundschau  über  Österreich 
(im  engeren  Sinne),  Ungarn,  Busnieu  und  Hercegowina,  welche  ein  fiild  der 
achulpoUtisch«!  Vorgftnge  während  der  letsten  Janre  in  den  genannten  Gebieten 
entrollt.  Den  Schluss  bilden  eine  Reihe  von  Aussprilrlini  moderner  (meist  öster- 
reichischer) Politiker  über  Cultur-,  8chul-  und  Staatstragen  und  ein  Nachwort 
di»  Herausgeben,  in  welchem  er  in  Klinse  das  Programm  darlegr  .  nach  wel- 
chem er  seine  „Rundschau"  fort/.ufiUinn  gedenkt. 

Der  gesammte  Inhalt  dieses  ersten  Heftes  ist  ernst  und  lesenswert.  Was  die 
soeben  erwähnten  aphoristisehen  Anssprttdie  seitgenSssiseber  Politiker  betrifft, 
80  sind  nicht  wenige  derselben  anfechtbar,  imd  es  erscheint  daher  die  ihnen 
gegebene  Überschrift:  „Perlen  aus  dem  Meere  des  Lebens",  nicht  als  durchaus 
eutreffeud.  Auch  einzelne  Sätze  des  Herausgebers  selbst  sind  sehr  bedenklich 
und  bedürfen  mintotens  einer  Erläuterung,  z.  B.:  „Die  Pädagogik  I&sst  Handlun- 
gen zu,  die  man  im  gesellschaftlichen  Leben  als  unsittlich  bezeichnen  mtlsste../ 
„iSuUeu  wir  den  Glauben  an  das  Walt<;n  einer  .sittlichen  Macht  im  Staats-  und 
Völkerleben  nicht  verlieren,  .so  raUs.sen  wir  das  Phantom  von  der  Einheit  des 
Moralprincips  aufgeben  nnd  neben  der  l'rivatmoml  eine  Staatsmoral  gelten 
lassen"  (8.  7;  vergl.  den  Au.sspruch  von  Hausner,  S.  dti).  —  Im  Ganzen  aber 
sengen  die  hier  vorliegenden  Arbeiten  Ton  dner  nicht  gewöhnlichen  Begabang 
und  DurchbiMunir  des  Verfassers,  «-owie  von  dessen  sicherer  Behorr^rbting  des 
sprachlicheu  Ausdruckes.  Sehr  gelungen  und  schätzenswert  ist  besonders  die 
von  ihm  gegebene  Überseht  der  neuesten  Schulgeiehichte  Osterreieb-Ungams. 
—  Ob  sich  diese  neue  ..  Rnnd^elmii  als  selbständiges  rntemehmen  wird 
halten  können,  erscheint  uns,  besonders  im  Hinblick  auf  die  finanziellen  Kr- 
fbrdemine.  als  sehr  zwelMbaft.  D. 

Heimat k linde  von  Altona  und  l  iuiroi^end.  Für  den  rnterricht  in  den 
Altonaer  Schulen  bearbeitet  von  11.  Khl ers.   Altona  1881,  Utlacker.  64  S. 

Als  Basis  des  gesammteu  geographischen  Unterrichtes  darf  die  Heimatskunde 
in  unseren  VoUtsiehulen  mit  gfutem  Rechte  einen  bestimmten  Plats  in  Anspruch 
nehmen,  nnd  alle  einsichtigen  Lehrer  widTuen  ilir  ein  lebhaftes  Interesse.  Pas 
hier  angezeigte  BUchleiu  behandelt  diesen  Gegenstand  in  ganz  geschickter 
Wdse,  dnftich,  klar  und  praktisch.  Wenn  nun  auch  die  Heimatskunde  in  con- 
creto stets  als  Betrachtung  einer  gans  bestimmten  <  )rt>gefneinde  saoUBt  der 
nftchsten  Umgebung  auftreten  mass,  folglich  Uberall  ein  anderes,  immer  nur 
kldnes  Stück  Erde,  hier  Altona  und  Umgegend,  behandelt,  also  ihr  specielles 
Material  dem  eigenthümlichen  Gesichtskreise  einer  besondem  Sehule  entnehmen 
muss:  80  hat  sie  doch  auch  gewi.sse  Oapitel.  die  sich  allenthalben  gleich  blei- 
ben, und  die  formalen  Gesichtspunkte,  nach  denen  sie  sich  entfaltet,  der  Kah- 
m<ui,  welcher  sie  umschliesst,  sind  im  Wesentlidien  allgemein  gütig.  Daher 


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kann  der  Lehrer  jede  besondere  Ueiuiaukunde,  wenn  äie  uui,  wie  die  vur- 
liegende,  den  OnndeitEeii  der  bentiifen  Keihodik  enttpiiclit.  auf  seinen  eigenen 

Sdiulort  anwondon.  Und  in  dipr-oiu  Sinnt-  kunn  das  anffozeiirte,  recht  gelungene 
Bßchlein  auch  weiteren  Kreisen  als  LeittaiWn  empfohlen  werden.  D. 

Die  Methodik  des  pliysikalisclien  ruterrichtes.  Von  A.  Lederer. 

Budapest  1881,  Lanipel.  40  S.  O.ßO  M. 

Verfasser  dieser  Schrift,  ein  hervurrageuder  ungarischer  Schuhaaun.  eiürtert 
«inftchst  den  Zweck  des  physikalischen  Unterrichts,  skizzirt  dann  die  Hanpt- 
momente  der  Geschichte  desselben  nud  entwickelt  aus  diesen  Grundlaffeu  die 
an  denselben  zu  stellenden  Aniorderungan  oder  die  Eigenschatten,  welche  ihm 
einen  erqnieeslichen  Erfolg  dcheni,  sowie  die  methodischen  Regeln  zur  Reali- 
ßirnnff  dieser  Anforderungen  (Eigens(  liatti  ii  .  Die  Sclirift  stützt  sich  auf  ein 
umfängliches  Studium  der  einachluueu<l(  ii  Literatur,  behandelt  ihren  Gegenstand 
Ten  den  Tenebiedensten  Seiten,  ist  sein-  gehaltreich  imd  anregend.  Sie  wird 
daher  nicht  nur  den  .^i  hUlern  des  \  erfttssers  (Lehramtsziif^linijen)  zur  liefesti- 
gong  der  in  persönlicher  Unterweisung  empfangenen  Lehren  dienen,  sondern 
auch  in  weiteren  Kreisen  mit  Interesse  gelesen  werden,  indem  sie  den  so  wich- 
tigen ph.vsikalis(;hen  Unterrieht  naoh  aUoi  mfiglichen,  sumTlieil  neuen  Gesichts- 
punkten behandelt.  H. 

Musik -Lexikon  von  I)r."lIiifi:o  Riemann.  Lehrter  am  Conservatoriiun  in 

Hamburg.  Leipzig  1882,  Bibliographisches  Institut.  1036  S.  geb.  10  M. 

Da  das  Pädagogium  "  auch  zahlreiche  Freunde  und  Kenner  der  Musik  zu 
seinen  L^m  zählt,  so  sei  hier  auf  das  angezeigte  Werk  autnierksam  gemacht. 
Dasselbe  erstreckt  sich  auf  die  Theorie  und  Geschi«  liTe  ih-v  Ahi^ik,  sowie  auf 
die  gesammte  Instninienteukunde  und  bringt  Bioiriapliieu  der  Tuuküustler  alter 
und  neuer  Zeit  mir  Auirabe  ihrer  Werke  und  Kennzeichnung  üirer  Richtuug^. 
Es  zeichnet  si^  Ii  ilur  h  Gemcinfasslichkeit  der  Darstellung  ans,  halt  sich  aber 
fern  von  Obertiiu  hkt  it  und  wini  a\u  h  dem  Musiker  von  Benif  eine  Quelle  rei- 
cher Belehrung  sein.  Ausgezeichnete  Fadimänner  (Haaslick,  Ehlert,  Gott- 
schal  LT  ete.i  /ollen  diesem  Mnsik- Lexikon  den  grOflsten  Beifall  und  nennen  ee 
geradezu  das  beste  Werk  seiner  Art.  F. 

Hirt's  ;i;eo^'^raiiiiisclu'  Bildertaleln.   Eiiif  Eririin/uiiti- zu  den  Lehrburhfi  ii 

der  Geographie.    1.  Theil:   AUgemeiue  Erdkunde,    lireslau  ib8i.  brosdi. 

3,60  H.  Einzelne  Bogen  20  Pf. 

Das  Jahr  1880  dürfte  in  der  Greschichte  der  Geographie  als  Schulwissenschaft 
einen  Markstehi  bezeichnen;  <lenn  mit  diesem  .fahre  ist  der  entscheidende 
Schritt  gemacht  worden,  das  Priucip  der  Anschaulichkeit  des  Unterrichtes  auch 
auf  die  Geographie,  tnsofem  sie  nicht  bloes  Heimatakunde  iaty  anaBndelinen. 
Was  vor  diesem  .Tahre  dafür  £r,>if.istet  worden  dor  Bilder- Atlas  von  Vogel, 
die  illustrirte  Geographie  von  lieuachle,  die  ZoucubÜder  Leutemanns  u.  s.  w.  — 
venehwindet  gegenOber  Werken,  wie  den  geograptdedien  Charakteibildmi  na 
dem  Hidzelsf'heii  Verlatr.  dem  Typenatlas  von  Schneider,  den  Lehmannschen 
Wandbildern  u.  ä.  Selbst  die  Lehrbücher  und  Leitfäden,  wie  z.  B.  Seydliiz, 
Klein,  ja  Handbücher  wie  Daniel  haben  seit  jenem  Jahre  ein  anderes  Kk4d 
angelegt,  um  ..mndonr'  zu  erscheinen;  -ic  haben  Illustrationen  aufgenommen 
und  80,  fast  könnte  mau  sagen,  der  allgemeinen  .Strömung  unser«  Zeitalters 
nach  Verinldlichmig  des  Wortes  Rechnung  getragen.  In  keiner  andnn  Zeit 
war  freilich  atich  die  irerstellung  solcher  Bilder  so  leicht  und  mit  so  ürt-rinirt^u 
Kosten  verbunden,  als  gegeuwärtig.  Mitten  in  der  neuen  Strömung  auf  dem 
Gebiet  des  geographischen  ünterrichtes  stehen  auch  „Hirts  geographische 
Bildertafel  n".  die  dtr  ärmsten  Schule  zu  gute  kommen  werden,  da  selbst 
einzelne  Bogen  aus  der  Sammlung  verkäoäich  sind.  Sie  sind  eine  Sammlung 
von  Holzschnitten  (zumeist  in  derOrflsse  eines  Octaybiattes  oder  kleiner),  theils 
für  das  Werk  ••i<;eiis  treschnitten ,  theils  nach  Clichös  aus  berühmten  Reise- 
werkeu  oder  geogr.  ilaudbUchera  (z.  B.  Hann,  Hochstetter,  Pokomys  allge- 
memer  Erdkunde)  abgedruckt.  Der  Inhalt  der  einzelnen  Tafeln  ist  folgender: 


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B<ig.  L  AUgeiaeiue  Oberflächenverhältnisse.  2.  I'aläontolog^ie.  IL  Faltungen 
der  Erdrinde.  4.  Oebirgstypen.  a  und  iL  Hochgebirgswelt.  L  Vulcane  uud 
heisre  Quellen.  iL  Mittelgebirge,  Hügelland  und  Ebene,  ä.  Inseln  und  Küsten, 
lü.  Häfen,  Küstengewerbe.  IL  See-  und  Tiefseeforechung.  12.  Schiffskunde. 
IB-  Quellen-  und  Flusskunde.  14,  FUuunutzung.  Ih  und  ifi.  Meteorologische 
Erscheinungen.  12.  Ifi.  ISL  Zur  Vegetation  der  BäAime.  2Ü.  2L  Typen  der 
Völkerrassen.  22^.  23.  Verkehrsmittel,  insonderheit  der  Forschungsreisenden. 
2sL  Jagdbilder.  Es  ist  nicht  möglich,  demjenigen,  der  die  Bilder  nicht  ge- 
sehen, eine  anschauliche  Vorstellung  von  der  Art  ihrer  Ausführung  zu  geben. 
Der  Lehrer  wird  darum  am  be.sten  thun,  sich  den  einen  und  andern  Bogen  zu 
verschaffen,  fiir  desseu  Inhalt  er  besonderes  Interesse  hat  oder  den  er  zur  Ver- 
anschaulichung gewisser  geographLs<;her  Erscheinungen  für  seine  Schule  am 
nothweudigsten  braucht.  Die  Bogen  4.  5.  6,  8.  20.  2L  2i  enthalten  besonders 
gelungene  und  gut  verwendbare  Darstellungen. 

Im  Laufe  des  heurigen  .Jahres  gedenkt  die  Verlagshandhing  eine  zweite 
Sammlung  folgen  zu  lassen,  die  landschaftliche  Typen  enthalten  wird,  also  eine 
illustrative  Erläuterung  der  speciellen  Erdkunde.  Fehlt  den  Bildern  auch  der 
Farbenschmuck,  der  die  Hölzelsehen  Wandbilder  so  sehr  auszeichnet,  so  ent- 
schädigt anderseits  die  Reii  hhaltigkeit  der  Objecto,  eine  Reichhaltigkeit,  welche 
Wandbilder  schon  des  Kostenpunktes  wegen  nie  erreichen  können.  W. 

Deutsche  Sprachlehre  filr  hOhere  Lehraiisttilten  sowie  zum 
Selbststudium  verfasst  von  Dr.  Theodor  Gelbe.  L  Theil:  9AH  S. 
II.  Theil  (die  Satzlehre):  280  S.  gr.  8*  Verlag  von  Bacmeister  (Eisenach.) 
Das  Studium  der  vorliegenden  Grammatik  wird  dem  Lehrer  insofern  mannig- 
fache Anregung  bieten ,  als  dieselbe  neben  der  Behandlung  der  allgemein 
gütigen  Normen  unserer  Sprache  besonders  ungewöhnliche  Wendungen  und 
Formen  in  den  Klassikern  bertkksichtigt  und  erklärt  und  mehr  als  jede 
andere  Grammatik  auf  solche  englische,  griechische  und  lateinische 
Constructionen  hinweist,  die  vom  deutschen  Sprachgebrauch  abweichen  oder 
mit  denen  das  Deuts-:he  übereinstimmt.  Enthält  Gelbes  Lehrbuch  so  eine 
Menge  Dinge,  die  man  anderswo  vergeblich  sucht,  so  ist  es  auch  dadurch  fUr 
den  Lehrer  interessant,  dass  es  grammatische  Streitfragen  bespricht, 
deren  es  ja  so  viele  gibt.  Mau  siebt  es  dem  Buche  an.  dass  es  aus  Vorträgen 
entstanden  i^t.  Der  trockene  Ton  ist  vermieden,  dafür  freilich  an  vielen 
Stellen  eine  gewisse  Breite  und  ein  plaudernder  Conversationsstil  eingetÄUscht. 
Nach  zwei  Seiten  hin  könnte  man  mit  dem  Verfasser  rechten,  einmal,  dass  er 
in  seinem  Buche,  das  keine  Elementargrammatik  ist.  hie  und  da  den  geschicht- 
lichen Staudpunkt  verlässt,  in  seinen  Gnippirungen  (Teschichtliches  und  rein 
Zufälliges  untereinander  mischt,  und  dann,  dass  er  häufig  in  ganz  allgemeiner 
Weise  („unten,  oben,  früher,  später,  im  ersten  Band'*J  auf  andere  Stelleu  seines 
Buches  verweist  und  dadurch  den  Gebrauch  de.ssell)en  erschwert.  Sein  Ver- 
fahren ist  für  den  Leser  um  .so  unbequemer,  als  die  Anordnung  der  Syntax  nicht 
nach  historischen  Gesichtspunkten  oder  nach  der  herkömmlichen  Art  getroffen 
ist  und  Gelbe  ein  Freund  von  vielen  Distinctionen  ist  (vgl.  Genitiv).  Mangel 
an  Raum  verwelu-t  es,  auf  alle  Einzelheiten  einzugehen,  die  bei  einer  neuen 
Auflage  zu  verbessern  wären.  L  S.  Lt3  z.  B.  heiast  es  mittels  (nie  mittelst) 
und  S.  142  mittels  und  mit  Wohllauts-t  mittelst,  was  üblicher  ist.  Im  ersten 
Theil  verwahrt  sich  Gelbe  mit  Recht  entschieden  gegen  den  Ausilruck  beige- 
ordnete, begründende  Conjunctionen.  im  II.  Theil  S.  21  und  22  gebraucht  er 
ihn  aber  sellwt.  Für  ob  mit  dem  Dativ  (I.  S.  153)  citirt  er  Beispiele,  die 
nichts  beweisen,  weil  da  ,,ob"  neben  Femininls  steht.  Auffallend  ist  die 
Schreibung  Göthe,  und  unschön  der  Terminus  „Abfühniugszeichen"  für  das  am 
Schluss  der  directen  Rede  gesetzte  Anführungszeichen.  Einen  höchst  unmelo» 
dischen  ,.Mu8ter8atz''  (voll  ei  und  eu,  d  und  ti  liest  man  S.  42  (im  II.  Theil). 
L  S.  14H  heisst  es:  zu  bezeichnet  eine  Wiederholung,  und  als  Beweis  wird 
citirt:  Zum  zweiten  Male.  (Wie  aber  ,.zum  ersten  Male?"')  Solcher  Mängel 
zeigt  das  Buch  noch  mehrere;  trotzdem  verdient  es  empfohlen  zu  werden,  weil 
es  vielfach  neue  Bahnen  geht  und  durch  kritische  Besprechungen  gi*ammatischer 
Controversen  zuui  Nachdenken  ttl)er  die  grammati.<(chen  Systeme  anregt.  W, 


Bnsclniiitini ,  Peutsches  LcsobiK  Ii   für  dio  ov.erclassen  höherer 

Lelnaiistulteu  (in  drei  Tlieilen).   Trier  1881.  i^iutz. 

Existirte  nicht  die  leidige  ürthographieverordniuig,  8(>  küuute  mau  das  Le^^ 
buch  von  Bnschmaim  gani  wol  auch  für  Q8terrei<  l)i>)che  LehraiBtaltai  em< 
l>fi'hh'U,  denn  <'s  l>iet»^t  nicht  nur  einen  reirluMi,  vielfach  nenen  Lese^itoff.  <nn- 
dem  anch  eine  bündige  inethodiiich  geschriebeue  Literaturge.Hchichte,  Stilistik 
nnd  Poetik  und  duiebien  eine  durch  Beispiele  auf  allen  Jahrhunderten  belebte 
l'^borsii  ht  filier  die  Entwirkelnnc:  miil  fieschichte  unserer  Sprache.  luirch  f'on- 
ceutration  auf  Themen  des  deutsctien  Unterrichtes  und  Einheitlichkeit  des 
Stiles,  letBteres  besonders  dnrch  die  Anfhahme  xahlreicher  Stftcke  aus  LessingB 
Laitknon  erreicht,  bewahrt  es  sich  ~t  ine  Eigenart  und  Existenzberechtigung 
neben  so  vielen  andern  Bttcliem  derselben  Art.  Auch  im  literaigeschicUtlicben 
Thdle  (Abtheilun^  I  «nd  II)  neilEt  man  ftheraU  das  Bestrehen  des  VerfiMers, 
gegenüber  dem  encyklopädi-jchen  Gesichtspunkt  seinen  Standpunkt  y.n  betiiii'  u: 
nur  wenige  Dichter  vorzutUhren,  diese  aber  als  T;ypen  allseitig  zu  beleuchten. 
Wie  im  ersten  Th^e  das  Nihelvngeiilied,  die  Kndmn  und  waither  (90  Ge- 
dichre'i  den  Mitreljiunkt  bilden,  so  im  zweiten  Tlieih'  (wietbe  52  Poesien i. 
iSchiller  {öl)  und  Ulüaud  (21) j  daneben  sind  z.  B.  die  literarischen  Zustände 
nach  SchiUen  Tode  nur  dareh  wenige  Dichtungen  Teransehanlieht,  (Mlieh  solcbe, 
dir  irauze  Richtungen  der  modernen  iNusir  verk"ir]ii'in.  r»n«.'llie  gilt  auch 
mehr  minder  fUr  die  vorclaasische  Zeit.  —  Buschmann  hat  dem  besprochenen 
Lesehnelw  fBr  Oherclassen  «swei  Binde  Ar  die  Unter-  und  Hittelelassen 
▼oraiUgeft^clit ,  ebenso  eine  kurz  >j:efasste  dt  ut-uhe  Grammatik,  so  iLiss 
also  der  gesammte  deutsche  Unterricht  einer  Mittelschule  an  der  Hand  eines 
nnd  desselben  Anton  hetrieheii  wetdtti  kann.  -H»t. 

Erzibliingssehrlfteii  zur  Heliiinii  der  TaterlradsUebe.  Lins, 

Eben  hoc  Ii. 

Unter  diesiiii  Titel  viiölTen flicht  der  Professor  am  Benedictinergymnasium  zu 
Seitenstetten,  Robert  Weisscnhofer,  drei  Erzählungen,  welche  die  „Hebung 
Qsterr.-patiiotischer  nnd  chriHtlich-re1igiö8er  Ge.^^iuntug"  In  der  katholischen 
Jugend  bezwecken.  Die  Büclilein  sind  fWr  Kinder  zarteren  Alters  bestimmt. 
Das  eine  —  ^die  Waise  auä  dem  Ibbsthal"  —  er/iihlt,  wie  eine  Waise, 
die  gern  bet«t,  den  Franisosen  im  Jahre  1800bdiilflich  sein  muss,  das  Versteck 
armer  Flüchtlinge  aufzufinden,  dafllr  einige  Goldstücke  erhält  und.  da  ihres 
Bleibens  im  Ueimatdorfe  nach  geschlossenem  Frieden  nicht  l&nger  sein  kann, 
dnreh  einen  ftanaOsischen  Oberst,  dessen  Bmder  sie  dss  Leb»  gerettet  hat, 
nach  Fi-ankrei<b  gebracht  wird,  wo  sie  sieh  ulücklich  verheiratliet.  Danehen 
lauten  zwei  Episoden  her:  wie  die  Waise  ihre  büse  Pflegemutter,  die  einen 
kranken  Franxosen  hatte  halb  yerhnngem  lassen  nnd  dam  berdts  unter  don 
fJaltren  steht,  vom  Tode  rettet,  und  anderseits,  wie  die  Wai.se  enviesenes 
Uutes  au  einer  frommen  Taglöhnerfamilie  tausendfach  vergilt.  —  In  ähnlichem 
Geiste  sind  andi  die  beiden  andern  Erzählungen  gelulten:  „Der  Schweden- 
peter'* und  „das  Glöcklein  von  Schwallenbach/*  — r. 

Standpunkt  nnd  Fortschritt  in  der  Wissensehaft  der  Hykologle 

von  S.  Schlitsb erger.  Berlin  1881,  Verlag  yon  Adolf  Stnbairaiicb.  Pnls 
1.50  M. 

Ein  Werkcheu,  weh  hes  eine  ungemein  grosse  Literatur  zum  Vi.rstudium 
nothwendig  machte  uu<l  in  weh  hem  dieselbe  yon  den  ttltesten  bis  auf  die  jüng- 
sten Tage  in  ausgiebiger  Weise  benut/t  wurde,  so  zwar,  da.ss  nicht  nur  Speoial- 
werke,  sondern  auch  Auft^ätze  in  Faehzeitscbriften  auf  das  Uewissenhafteste 
angeführt  und  wo  nutwendig  auch  deren  Text  citirt  ist  Wir  erRehen  darans^ 
wie  gerade  die  Wis.sensohaft  von  der  nie<ier8ten  Pflan/.encrrupiie  dur.  h  Trrthnmer 
znr  Wahrheit  vorwärts  ging,  und  wie  selbst  die  verachteten  PiUe  so  oft  ins 
Leben  tiefer  eingreifta.  Jedermann,  der  sieh  Ar  Mykologie  interessirt,  wird  das 
Büfhh-in  mit  Befricdiiriinir  durehstudiren  nnd  hie  niid  da  durdi  dasselbe  zu  selb« 
ständiy;ein  Forsehen  aiiuere.,'-!  werden.  C,  E.  R. 

VernntworUicUcr  R«)tliict«ur :  M.  Stein.  BacbdrucJcenii  Juiiui  Klinkhftrdt,  Leipzig;. 


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Literatlirblatt 

Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  9. 


Eneyklopidttielies  HaBdbvoli  der  Eralehniigskiuide  mit  beBonderer 

Berncksichtig^iing  des  Vulksächnlwesens.  Von  Br.  GnstST  Adolf  Lindner. 
1.  und  2.  Heft.  96  ä.  1^0  M.  Wien  1882,  PieUer. 

In  ali)ha1>etwcli  geordneter  Darstellung  sull  dieses  Hamlliucli  dM  Wisseiis- 
wUrdigüte  ans  der  aUgemeinen  F&dagogik  und  Didaktik,  der  allgenielneii  und 
apecieUen  Hetiiodik,  der  flelnilktiiide,  Oesehielite  der  PIdagugik,  Sehnlgeeeta- 

gebung  und  Schulstatistik,  sowie  aus  den  i)ft(lagoglsfheu  HilfswiKseuschaften : 
Psychulüg^e,  Lugik,  Ethik  und  Cultuigeschichte  bringen.  Porträts.  Diagramme, 
IVibeUen,  Karten  u.  s.  w.  weiden  dem  Texte  zur  Veranschaulichung  beigegeben.  — 
Mit  den  bereits  vorhandenen  Werken  gleicher  Art  hat  dieses  Handbuch  den 
Nachtheil  genieinHani,  dass  die  alphabetische  Ordnung  der  Materien  ungeeignet 
ist,  ein  znsanimenhängendes  Studium  der  behandelten  Wisaenschaftt^n  zu  f5r- 
dem.  dagegen  auch  den  Vurtheil,  <lass  es  ttber  jedes  einzelne  Thema  durch 
einen  sofort  auffindbaren  und  Ubersichtlichen  Artikel  leicht  zu  orientiren  und 
Attflknuft  zu  ertheileu  im  Staude  ist.  Während  aber  derartige  Werke  sonst 
aus  der  gemeinsamen  Arbeit  Vieler  her^-orzugehen  pflegen,  hat  es  hier  ein  Ein- 
zelner unternommen,  das  grosse  Gebiet  der  Erziehung«-  und  Uufcrriclirsltlire 
encyklopädisch  zu  behandeln,  was  dem  Ganzen  eine  priucipiell  einheiiliclie  An- 
schauungsweise und  eine  lelatiy  gleichmässige  Ausführung  sichert,  anderseits 
freilich  aueli  die  Grenzen  und  die  individuelle  Ausprägung  der  Wissensdiaft 
dieses  einzelnen  Verfassers  hervortreten  lä-s.st.  Es  ist  eben  für  die  Herstellung 
derartiger  Werice  bis  jetzt  noch  kein  befriedigender  Modus  gefunden.  \\'o 
Viele  arbeiten,  wird  man  Einheit  nnd  Gleichmässigkeit  vermissen,  während  der 
Einzelne  natürlich  nicht  im  Staude  ist,  allenthalben  klar  zu  sehen,  erachüptemle 
Auskunft  zu  geben,  die  Schranken  des  individuellen  Wissens  nnd  Denkens  /u 
llberschreiten  und  sich  auf  einen  uniTerselien  Standpunkt  zu  erheben.  Eine 
annähernd  vollkommene  Encyklopädie  der  Pädagogik  stunde  nur  zu  erwarten, 
wenn  eine  grössere  Anzahl  tüchtiger  Ftohmlnner,  etwa  zwanzig,  mehrere  Jahre 
lang  ausschliesslich  und  unter  stetem  persönlichem  Verkehr  sich  diesem  Unter- 
nehmen widmen  konnten,  der  Art,  dass  der  ganze  Plan  gemcinschaftiich  be- 
rathen  nnd  festgestellt,  in  allen  Details  aber  so  ausgeführt  würde,  dees  swer 
jeder  Artikel  von  einem  Einzelnen  bearbeitet,  ah(!r  noch  von  mindestens  zwei 
Anderen  mit  vorbereitet  und  vorberaten,  dann  aber  namentlich  mit  coutrolirt 
nnd  approMrt  würde.  Sne  solche  Arbeit,  die  in  der  That  Epoche  machen 
wttrde,  kiinnfe  ah»  r,  wie  nun  einmal  die  Verhältni.sse  liegen,  nur  durcli  Unter- 
stützung aus  öfteutlichen  Mitteln  zu  Stande  kommen,  worauf  wol  für  lange 
Zeit  lüeht  sn  rechnen  sein  wird,  da  unsere  Staaten  ihr  Geld  Ar  andere  Dinge 
brauclien.  "Sl&n  sieht  aber,  dass  eine  Encyklopä<lie  der  Pädagogik,  welche  den 
derzeitigen  Stand  der  Theorie  und  Praxis  des  Erziebnngs-  und  Uuterrichts- 
wesens  getreulich  abspiegeln  wflrde,  Ar  Jetst  noeh  dn  nneiTeidibaree  Ideal  iat 
Und  80  müssen  wir  uns  oenn  einstweilen  mit  Geringerem  begnügen. 

Was  nun  das  hier  angezeigte  literarische  l'ntemehmen  betrifft,  so  kann  man 
demselben  a  priori  mit  gUnstigeu  Erwartumjen  entgegensehen,  da  ein  seit  Jahr- 
zehuten bewährter  MaiA  der  Wiisenschatr  und  Schule,  wie  Dr.  Lindner  ist, 
jedenfalls  ein  brauchbares  und  respectables  Werk  liefern  wird,  so  weit  dies 
eben  einem  einzelnen,  aber  wolbewanderteu  und  gründlicli  durchgebildeten  Fach- 
manne möglich  ist.  Die  beiden  ersten  Liefemngen  des  Handbiäis  entspnchen 
dieser  günstigen  Erwartung  in  hohem  Masse,  nnd  Referent,  wenn  auch  nicht 
in  Allem  tuit  Dr.  Linduer  überoinstiinmeud,  erkennt  in  dem  Gebotenen  die  reife 
Frucht  tüchtiger  Wissenschaft,  reicher  Erfahrung  und  emster  Arbeit.  Möge 
also  iliese  neue  ]iädagogische Enqrklopädie  glücklich  vollendet  werden  nnd  viel- 
seitige Beachtung  finden.  D. 


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—   2  — 

ndagOglsches  Jahrbuch  1881.  Heraas^egcben  vnn  der  Wiener  pllda- 
gogischen  Geaellflchaft.  Wien  imd  Leipasig  1882,  Julius  Klinkhvdt. 
184  S.    3  M. 

Zum  vierten  Slale  legt  hier  ein  i»iida{?oj^igcher  Verein,  welcher  sich  durch 
sein  eitriges  und  harmouisclies  Zusaninunwirken  ftlr  die  Hebung  der  hlrziehuug 
und  des  Unterrichtes  benits  eine  hervornigeude  Stellung  erworben  hat,  die 
Hauptei^bnisse  seiner  Jaliresarbeit  den  weiteren  Kreisen  der  BerutV^euossen 
zur  Wi\rdigung  und  V  erwertung  vor.  Auch  dieses  neue  Jahrbu«  h  ist  ein 
sdiönes  Zeii^fnis  des  redlichen  und  ernsten  Strebens.  sowie  der  tüchtigen 
Schulung  und  reichen  Erfahrung  seiner  Trheljer.  Wir  führen  den  Inhalt  des- 
selben in  Kürze  an,  indem  wir  den  i'berschriften  der  einzelnen  Beitrüge  in 
mOg^ehst  lauippen  Avsdrflcken  jene  Erläuterungen  Mifllgen,  die  sich  uns  ans 
der  genauen  Leetftre  ergeben  haben.  I.  Vorträge  und  Abhandhinireii: 
1.  Rede  zur  Pestalozzifeier  voji  A.  Bruhns,  Pestalozzi  als  Methuiliker 
und  sefai  Binfluss  auf  lierhart;  2.  Über  die  moderne  Natur*  nnd  Weit» 
anschauniig  im  Verhält  zur  Pädagogik  vtui  K.  II Tif l(!r,  tTir  den  Dar- 
winismus, besonders  für  des.scu  Vertreter  Hiickel  im  (iegeasatÄC  zu  Virchow 
eintretend,  wogegen  im  Anhange  Dr.  Pick  vom  pä^lagogischen  Standpunkte  ans 
Widersiirnch  crh<lit:  3.  Volksschriftth tun  nnd  Pädagogik  von  A.  K<tlin. 
Wesen  und  pädagugiBche  Wichtigkeit  echter  Volksschriften  mit  specielier  Be- 
rtleksiohtignng  der  Werke  von  Berthold  Auerbach;  4.  Die  ktfrperliehe 
Ziichtignng  von  St.  Zajic.  eine  Vr?t1i<  idigung  dieses  DisciplinannitteK 
unter  der  Voraussetzung  weiser  und  massvolier  Anweudimg  desselben;  ö.  Der 
moderne  Hidehennnterrieht  von  A.  Hein,  die  gegenwftrtigen  Hlngel 
und  die  wahren  Ziele  desselben ;  r>if  ]\Ietli(ulr'  di  s  Rechtschreihunter- 
richtes  von  A.  Wawrzyk,  alle  bisherigen  Be^itrebungen  auf  diesem  (iebiete 
TOfftthrend  nnd  neneGesicAtsininkte  entwidcdnd;  7.  Die  Plastik  im  Dienste 
dos  geographischen  rnterrichtes  von  .T.  Thetter,  über  den  metho- 
diachen  Wert  und  Uber  die  Herstelltiujr  von  Eelief karten;  8.  Über  Kechen- 
unterrieht  von  Dr.  A.  J.  Piek,  Winke  sur  rationeUen  Bdiandlnngf  dieEMS 
Faches,  mit  besonderer  Rücksicht  auf  das  Rechnen  mit  entgegengesetzten 
Or(lS8en;  9.  Die  Arbeit  als  Erziehungsmittel  von  Paul  Hühner,  Vor^ 
fnhrung  der  in  der  Jngenderziehnng  anwendrann  Arbeiten  nnd  deren  itädagogisch- 
prakti-seher  Wert,  all»  aus  dem  wirklichen  Leben,  aus  der  Praxis  des  Verfa.s.sers  * 
gegriffen.  II.  Beierate  Uber  eine  Eeihe  von  p&dagogiiK:b-didaktischen .  Air 
Lehrer  wichtigen  Schriften  ans  der  Gegenwart.  III.  Das  pädagogische 
Vereinswesen  in  Ost  erreich  -  Ungarn,  eine  Revue  desselben,  endlich 
Thesen  zu  pädagogischen  Themen,  eine  schöne  Reihe  von  Ergebnutsen 
der  Verhandlungen  in  verschiedenen  Vereinen.  —  Es  versteht  sida  von  .selbst, 
dass  in  diesem  .fahrbuche  liie  und  da  auch  eine  Ansicht  zum  Ansilrncke  gelangt, 
welche  noch  streitig  ist;  aber  allenthalben  bietet  es  wichtige  nnd  grttndliclie 
Erörterungen,  frische  und  fruchtbare  Anregungen.  Und  so  wird  es  sich  seinen 
LeserlEreia  nicht  nur  erhalten,  aondem  auch  wwdtem.  D. 


Erziehiingslehre  fnr  Israclitoii  von  Lsrael  Singer,  Rabbiner  zu 
SAtoralja-TTjhely  (Ungani).  182  S.  .  geb.  1,75  M.  Za  beziehen  vom  Ver- 
fasser und  durch  alle  Buchhandlungen. 

Verfasser  betont  die  religiös-sittliche  Richtung  der  Erziehung,  daneben  aber 
aneb  die  Leibespflege  nnd  die  Anleitung  m  der  fllr  das  bflrgerliehe  Leben 

nothwendigen  Ausbildung  im  weltlichen  Wissen  und  Kennen.  Im  Hinblick  auf 
die  Wichtigkeit  des  Jugendunterrichtes  tritt  er  für  eine  bessere  St4.>llung  des 
Lelnerstandes  ein,  und  gegenfiber  den  conftsaionellen  TomrtheUen  predigt  er 
Toleranz  und  Frieden,  wobei  er  ebensowol  seinen  eigenen  Glanbensgeno.ssen  ins 
Gewissen  redet,  als  die  bekannten  antisemitischen  Bestrebungen  bekämpft.  Seine 
Hauptquellen  sind  Bibel  und  Talmud.  Wenn  das  Büchlein  znnftclist  fOr  Israe* 
liten  bestimmt  ist,  so  kann  es  doch  auch  recht  wol  von  nicht-jttdischen  Lesen 
zur  Beltilimng  ttlier  die  Pädagogik  der  Israeliten  benntst  werden.  H. 


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„Der  Eschcnbaner.   Geldrische  Dorfgeschichte  von  F.  Banernfrennd." 
Unter  (liesem  Titel  emhien  in  der  Gel(lern's(  hon  Zeitung  in  12  Capiteln 

(zwischen  doni  fi.  Januar  und  dein  7.  Milrz  1S(S2)  eine  Erzählniier  ans  dem 
Bauernlclieii  im  (ifldcihuid.  Der  ri^cntlicbe  Name  des  scliun  nichrfacli  lite- 
rarisch thälig-  geweseneu  Verfassei's,  eines  Lehrers  in  Wachteudonk  nächst 
DÜBseldorf»  tet  Fritz  Vieter. 

Wir  beirftsen  g:eluiigene  DoHgt  schichten  Ton  BerthoM  Anerimch,  August 

Silber^itf'in,  unserem  Ro.scggcr  und  mehroreu  auderen  berilhmteu  Autoren.  Und 
doch  halten  wir  es  fiir  wichtig,  neben  diesen  anerkannten  Prodacten  der  volks- 
thttmlichen  Literatur  auf  den  ..Eschenbaner"  noch  besonders  anfmerksam  zn 
machen.    Dreierlei  Gründe  bewegen  uns  hiezu. 

Erstens  sind  gerade  die  ländlichen  Verhältnisse  des  Geldwlandes  —  welches 
doch  von  jeher  eine  beträchtliche  Rolle  in  der  Oeschichte  der  Entwicklung  des 
deutschen  Volkes  spielt,  und  dem  infolge  dessen  warmes  Interesse  von  allt  ii 
Seiten  des  deutschen  Vaterlandes  entgegengebracht  winl  —  bis  jetzt  noch 
wenig  und  ungenügend  dem  grossen  Publicum  vorgeführt  worden.  Es  ist 
daher  mit  Freuden  zu  begriissen.  wenn  ein  durch  lange  Jahre  im  Lande  !©• 
btnder,  mit  allen  Mm-  und  Zustünden  desselben  genau  vertrauter  3Iaun  es 
unternimmt,  Land  und  Leute  jeuer  Hegend  uns  nach  ihrem  Charakter,  ihren 
Anschauungen  und  äusseren  Lebensverhältnissen  vorsoftlhren.  Allerdings  besteht 
zwi.schen  dem  Bauemlelion  im  Geldt-rland  und  in  so  mancher  andern  Provinz 
eine  grosse  i'bereinstimmung;  allein  iur  den  Demulogen  ist  es  auch  von  Wich- 
tigkeit, wenn  constatirt  triid,  mit  welchen  Oaven  und  ganz  speciell  in 
welchi  ii  Kii^enheiten  sich  i.  B.  die  Gelderer  verirleichen  lassen,  frerade 
durch  das  viele  (bleiche  treten  dann  die  wenigen  Unters«  hiede  de.sto  trreller  lier- 
vor  und  fuhren  den  Psychologen  und  Pädagogen  desto  leichter  zur  Ermittlung 
der  Differenzen  im  innern  Leben,  Denken  und  Fühlen  der  Bevölkemng  in 
verschiedenen  Gegenden. 

Zweitens  gibt  uns  Vieter  in  seinem  „Bflehenbauer"  wirklieh  ein  gelnngenes» 
sichtlich  verlässliches  Bild  des  geldrischen  BauenileVtens.  Der  „ernste  Eschen- 
bauer", sein  gehorsamer,  stiller,  ileissiger  Sohn  Hendrik,  welcher  bei  dem  ^Reiter- 
volk"  des  Kiinigs  gedient  hatte,  die  bescheidene,  sich  selbst  beherrschende,  nm- 
sichtige  Anna,  Tochter  eines  benachbarten  Kleinbauers,  welche  das  Hauswesen 
statt  der  kranken  Eschenbäueriu  zu  besorgen  hat,  vor  allem  beachtenswert 
endlich  der  alte,  treue  Hannes,  der  schon  seit  einem  halben  Jahrhundert 'am 
Eschenhofe  dient  und  ein  Glied  der  Familie  geworden  ist;  die  Gespräche  dieser 
Personen,  ihre  Anschauungen  und  Vorurtbeile,  ihre  Tugenden  und  Fehler  — 
letztere  namraUieh  anch  an  diiEelnen  Nebenpersonen,  spottsBebtijBrai  Naehbam, 
geld.stolzen  Muhmen  etc.  gezeichnet.  die  Sitten  und  (Jcbräui  he  Ix  i  fc-^tlichen 
Gelegenheiten,  die  Lieder,  weiche  in  den  verschiedensten  GemUthsstimmuugen 
gesungen  worden,  die  äussere  Lebensweise,  Bau  und  Einrichtung  der  Wohnung 
und  Wirt.schaft  —  kurz  alles  ist  mit  einer  ri\hraenswerten  Tu  ue  und  Echtheit 
gezeichnet.  —  Nur  eines  müssen  wir  au.ssetzen:  Gerado  iudem  sich  Vieter  so 
sehr  in  die  ruhige,  sich  selbst  müssigende,  jedes  ^.Über"  nnterdrilckende  Gemttths» 
und  Denkungsart  der  Landlinte  hineinlebte  und  vertiefte,  verlenite  er  ein 
wenig  die  Kunst,  dieselben  im  Momente  einer,  die  Selbstmässigung  plötzlich 
und  vollends  ttbcorwindenden  grossen  Aufregung  natnrwahr  wiedensugeben; 
e.s  i.st  dies  allerdings  .schwer  zu  treffen,  und  selbst  die  Verfasser  unserer  besten 
Dorfgeschichten  haben  es  selten  zu  Stande  gebracht.  Wir  denken  hier  au  des 
Esehenbauers  Rettung  ans  dem  Teiche  und  an  die  Teridmiig  Hendriks  ond 
Anneus  vor  der  Mutter;  wie  widthätig  sticht  in  der  letzten  Soene'das  natur^ 
wahre  Benehmen  des  alten  Hannes  ab! 

Aber  noch  aus  einem  dritten  Grunde,  der  besonders  vom  Standpunkte  der 
Volk.sbildung  und  Volkshebung  aus  wichtig  ist,  verdient  der  „Eschenbauer'* 
unsere  Gnnst  und  Aufmerksamkeit,  u.  zw.  im  vollsten  Masse.  Recensent  selber 
hat  in  diesen  Blättern  vorgeschlagen,  dass,  nm  die  geistige  Ode  der  in  geistiger 
und  sittlicher  Unwissenheit  herabkommenden  Baiiemwelt  zu  verscheuchen,  die 
Lehrer  auf  dem  Lnnde  anr^^ende  Unterhaltungen  veranstalten  und  besonders 


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TolkBthümliche  Erzähiimgen  in  einlachater  Stilart  und  mit  passender  Tendenz 
Turieseii  soUen.   So  wichtig'  uns  dneraeiti  eine  eolehe  Thfttigkeit  der  Leluw 

erscheint,  nnd  sd  schwer  sich  anderseits  diese  aus  der  lierkiimmiichen  Stagnation 
zu  einem  so  ungewuhuten  Wirken  erheben,  so  fireudig;  mUssen  wir  den  eisten 
Schritt  zum  Outen,  der,  wo  immer  es  sd,  in  der  Lebrerwelt  gemadit  wird, 
begrüssen  und  kräftigst  unterstützen.  -Und  dieser  erste  Scliritt,  den  Lehrer 
Vieter  am  Niederrhein  —  ohne  einer  Anregung  bedurft  zu  haben  — 
gewagt  hat,  übertrifft  noch  unsere  Erwartung;  wir  wünschten  und  erwarteten 
von  den  Lehrern  bU>s,  da&s  sie  volksthiimliehe  Erzählungen,  Schwänke  etr. 
vorlesen,  und  Vieter  leistet  mehr:  er  dichtet  eine  solche.  Sein  Stil  ist 
HO  einfach  uud  so  dem  Volke  abgelauscht,  dass  dieses  bei  ganz  lockerem  Zu- 
hören alles  auffossen  und  verstehen  muss.  Das  können  wenige  \'ulksschrift- 
steller;  selbst  wenn  sie  sich  aller  höher  steigenden  Reflexionen  enthalten,  wenn 
sie  sich  ganz  platt  ans  Äusserliche  halten,  bleiben  nie  doch  dureh  ihre  sehul- 
gerechten  Satzwendun^en ,  Ailjectivhäufungen,  dun  h  ihre  Partikelflickereien, 
wehhe  den  Sington  der  Rede  ersetzen  sollen,  durch  ihre  langweiligen  Satz- 
verkettungen —  „der  Umstand,  da.**«*',  „in  Hinsieht  darauf,  dass"  etc.  —  dem 
Volke  schwer  verständlich,  helfen  also  eigentlich  d<H:h  nur  den  Gebildeten,  sich 
in  ein  mehr  oder  minder  riditiir  dargestelltes  Volksthuni  hinein  zxi  jdianta- 
siren.  —  Vieters  „Eschenbauer"  ist  aber  nicht  hlos  wegen  des  Stiles,  stmdem 
auch  besonders  wegen  der  Tendenz  zum  Vorlesen  in  einer  Bauemunterhaltun^ 
geeignet.  So  mancher  ,,grote  Boer",  der  mit  verliuhlenen»  Bauernstolz  auf  die 
„Kathinhaber"  herabblickt,  wird  im  Begiinie  der  Erzählung  am  sttjlzeu  Kschen- 
liauer  seine  Freude  haben  nnd  im  Verlauf  derselben  mit  dem  Eschenbauer  — 
vor  der  Tugend  und  Tüditii^kcit  der  Kathinhaberstuchter  capit ul iren.  Wenn 
er  auch  nicht  dem  Escheubauer  nachahmt,  der  geheime,  schädliche  Bauemistolz 
ist  doeh  dnreh  die  in  der  Erzählung  wachgerufeneu  Empfindungen  uud  Ein» 
drücke  untergraben.  —  Auch  die  cij^entlich  nicht  in  den  Text  ;,'tlir.renden 
Reflexionen  über  Erziehung  der  liauerntüchter  sind  von  unserem  Staudpunkte  — 
wenn  anch  nioht  gerade  m  empfohlen  —  so  doch  auch  nieht  an  yerwerfen, 
letzteres  um  so  weniger,  als  sie  p'snude.  ])r.ikti8die  Gedanken  enthalten,  welche 
dem  Volke  eingeschärft  zu  werden  verdienen. 

mge  der  „Banemflennd''  am  Niedenrhein  nnn  neuerdings  ileissig  sammeln, 
aufzeichnen,  studiren.  boobaditen  —  wie  wir  aus  einem  seiner  Aufsätze  über  Art 
und  Sitte  des  Volkes  ersehen,  so  thut  er  dies  ja  gerne  —  um  uns  bald  wieder 
mit  einer  thnliehen,  vidleieht  sogar  noch  beseerenSnShluug  zu  überraschen!  W.N. 

Die  ti^rundieliren  der  Fliy»ik  iu  elementArer  Darstellang  fOr  das 
Selbetstndinm  bearbeitet  v<xn  Lndw.  Ballanf ,  Conreetor  an  der  Bealediole 
zu  Vai-el.  Langensalza,  Druck  und  Verlag  von  Hennann  Beyer  and  SShne. 

Schills»  1881.  Vollständig  in  10  I.ieforuiigen  k  1  M. 

Wir  haben  schon,  als  uns  die  ersten  Lieferungen  dieses  Werkes  zur  Be- 
sprechung Torlagen,  der  ubenseugung  Ansdrack  gegeben,  dass  wfr  es  in  dem- 
selben mit  einer  getliegenen  Facharbeit  zu  thun  haben,  und  die  uns  weiter  zu- 
gekommenen, nunmehr  das  Werk  ahscliliessenden  Lieferungen  haben  diese  unsere 
Meinung  nur  bestätigt.  Die  methodische  Grundlage,  welche  diese  Physik  durch« 
zieht,  das  Ankni\pfen  an  das  Experiment,  die  gründliche  Besprechung  desselben 
und  die  klare  Ableitung  der  Gesetze  sind  Vorzüge,  welche  dieses  Buch  vor  vie- 
len anderen  gleichartigen  auszeichnen;  die  mathematische  Be^lndung  ist  so 
viel  als  thunUch  bescluänkt,  doch  da,  wo  sie  nothwendig  ist,  klar  durchgeführt. 
Einen  besonderen  Vorzug  des  Buches  bilden  die  znhlreichen  sehr  gelungenen 
Blustrationeu,  welche  theils  schematische  Figuren  zur  Erläuterung  der  Voi^änge 
sind,  theils  Abbildungen  der  Bndwinungen  und  Apparate.  Die  Ausstattung  des 
Werkes  ist  eine  sehr  anerkennenswerthe.  So  wird  denn  dieses  Ruch  seinen  Zweck 
sicher  erfilllen.  den  Bedürfnissen  des  angehenden  Vülks.schullelirers  gerecht  zu 
werden  und  ihm  die  Möglichkeit  zu  bieten,  sein  etwa  noch  Ittekenhaftes  Wi&sen 
fibr  die  Zwecke  des  eigenen  physikalischen  Unterrichtes  zu  ergänzen,  ja  auch 
über  dieses  Ziel  hinaus  wird  Jedermann  Belehreudes  in  Fülle  tiuden.    C.  R.  R, 

Ver«ntworUioltür  EckUcUsur:  M.  Stein.  Buoluiruokerei  Julina  Klinkhardt,  Leij»ig. 


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1882. 


Literatnrblatt 

Beilage  zum  Paedagogium,  IV,  10. 


CJeschichte  dor  Psyeholoj^ie.  Von  Dr.  Hermann  Siebeck,  Professor 
an  der  Universität  Basel.  Ei-ster  Tlieil.  Erste  Abtheilnng-:  Die  Psychologie 
vor  Aristoteles,   Gotha  bei  Fr.  Andr.  Perthes.   284  8.    6  Mark. 

Die  fiindameiitale  Wichtigkeit  der  Psycholugie  iui  Systeme  meuschliclier  £r- 
kenntnifl  wie  im  Bereidie  menschlicher  ZweckthStigkeit,  namentlich  auch  die  maB- 

irt  bende  Bedeutung  derselben  filr  die  Theorie  und  Praxis  der  Pädagogik,  würde 
llir  sich  allein  schon  hinreichen,  um  eine  eigene  Geschichte  dieser  Wissenschaft  als 
erwünscht  nnd  gerechtfertigt  erscheinen  m  lassen.  Dazu  kommt  aber,  dass  in 
der  Neuzeit  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  sehr  weitgehende  Coutroversen  und 
Reformversuche  hervorgetreten  .sind,  welche  eine  historische  Orientirung  über 
die  bisherigen  Leistungen  psychologischer  Forschung  zum  Bedürfnis  machen. 
Das  angeeeigte  Weric  nun  verspricht  diesem  Bedttrfoiase  Beehnung  zu  tn^gen, 
nnd  •iinvo]  der  kliire  und  umfassende  Plan  de.sselben,  wie  die  in  der  bis  jetzt 
vorliegenden  l'artie  hervortretende  Gründlichkeit  und  Treue  der  Ausführung 
lassen  znversichtiich  erwarten,  dass  das  eben  su  mühevolle  wie  dankenswerte 
Unternehmen  des  Vt-rtivsser^  ü;idingen  werde.  Schon  die  Einleitung,  welche 
einen  orientirenden  Überblick  Uber  die  Grundfragen,  Motive  und  Stufen  psycho- 
logischen Meinens  nnd  Denken.s  bietet,  beweist  unverkennbar,  dass  VerfesBer 
seinen  Sti'tf  ynllkoramen  beherrscht  und  mit  sidierem  (iriffe  zn  gestalten  ver- 
steht. Dies  bestätigt  dann  die  ganze  Austlihrung  des  vorliegenden  Buches, 
weldies  denEntwidielnngsgang  des  psychologischen  Denkens  von  den  geschicht- 
lich nachweisbaren  Anf^än::en  an  bis  zur  BcgrilndanL'  der  1 '-^ ychologie  aN  philo- 
sophischer DiscipUn  durch  Sokrates  und  l'lato  vortTihrt.  Maturgemäß  wird  diese 
Periode  in  zwei  Ahsehnitte  zerlegt:  das  psychologische  Deiiken..und  Forsehoi 
vor  Sokrates  (die  ersten  Jonier,  Heraklit,  Erapedokles.  der  Überjxaui^  zum 
Materialismus,  Leukipp  und  Demokrit,  Gegensatz  zwischen  Hylozoismus  nnd 
Materialismus,  die  Eleaten,  die  älteren  Pythagoreer,  Anaxagoras,  Diogenes  von 
Ai)ollouia,  die  Anfänge  der  medicinischen  Psychologie  und  die  philoHopMrenden 
Är/tc.  AnfJinge  der  Sinnesphysiologie  und  der  Erkenntnistlieorie.  Untersnchnng 
empirisch- j)sychologi8cher  Vorgänge  und  psychophysisi  her  Fiugi  ii  und  die  Be- 
grilndung  der  Psycho I^irii  als  philosophischer  Disciplin  im  Sinne  des  Dualismus 
durch  Sokrates  (zu  dem  die  S<tj)histen  den  t^bergang  bilden)  und  Plato,  dessen 
Sy.steni  mit  besonderer  (iründlichkcit  entwickelt  und  geprQft  wird.  Ein  Vor- 
blick auf  Aristoteles,  mit  welchem  die  zweite  Abtheilung  des  Werkes  beginnen 
soll,  bildet  den  Siltluss  des  vorliegenden  Buches.  Wie  sich  ans  diesen  .\n- 
deutuugen  ergibt,  hat  Verfasser  von  der  Entwickelung  der  Psychologie  im 
Orirate  abgesehen  nnd  sich  anf  jene  Beihen  und  Gruppen  philosopmscher 
Formeller  hi>-ii  lir{ii]<t ,  welche  da-^  Uenken  der  abendländischen  Völker  einerseits 
zum  Ausdruck  gebracht,  anderseits  bceiuilusst  haben.  Im  Hinblick  auf  den  der- 
zeitig Stand  der  Wissensehsit  wird  diese  Beeehränkung  voriftu^  noch  als 
iftthlich,  ja  als  vortheilhaft  betrachtet  werden  müssen,  zumal  nicht  ausgeschlossen 
ist,  dass  die  orientalischen  Anschauungen  Uber  psydudogische  Probleme,  .soweit 
de  im  IDttelalter  aof  die  abendländische  Forschung  eingewirkt  haben,  an  ge- 
höriger SteUe  in  Betracht  gezogen  werden,  wtis  Verfiusser  auch  in  Aussicht  stellt. 

Bei  seiner  «.ranzen  .\rbeit  liat  sich  derselbe  von  dem  Bestreben  leiten  lassen, 
auf  Grund  fremder  wie  eigener  Speciailbrschuug  einerseits  die  im  Laufe  der 
Zeit  hervoiyetretenen  besonderes  Gestaltungen  nnd  Bichtungen  des  psycholo- 
irischen  I''iiken><  irenau  darzustellen,  dabei  aber  anderseits  den  '^reriiren  Zu- 
siimmeuhaug  aller  in  Betracht  kommenden  Entwickeluugamomente  bestimmt 
nachzuweisen.  XThd  in  formaler  Hinsicht  suchte  Profi  Siebeck  sein  Werk  so  zu 
gestalten,  das-*  es  sowol  den  philosophischen  Fachkreisen  Befriedigung  irewiibren, 
als  auch  Uber  dieselben  hinaus  verständlich  sein  könnte,  selbstverständlich  unter 


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—   2  — 


der  Vorausäetzuug  allgemeiu  wiüüeiischattUclier  \'oibüduiig.  DeuigemäÜ  öind 
auch  die  Nechw^nngen  und  CItete  an«  denOaeU«!  swar  in  tpentk^dem  Avs- 
inaßc  heifi-t'hraclit,  aber  auf  rlas  Wo-sentliche  beschränkt  worden. 

Der  Aufaug  dieses  groß  angelegten  Werkes,  welches  bis  auf  die  Gegenwart 
fortgeflUirt  werden  soll,  ist  nneeres  Eraehteiu  dn  rttlnnlielMB  Zengnig  Ton 
fleut.scher  Gelehrsamkeit  und  Grüiidlichkeit;  niHg-e  es  dem  Vprfa.sser  gelinüren. 
sein  schwieriges  Unternehmen  zu  einem  glücklichen  Ende  zu  fuhren  and  damit 
eine  der  wichtigsten  Winenioliaften  in  das  helle  Licht  ihrer  eigenen  Gescbiehte 
an  stellen.  D. 

Wider  die  SelinlsiNirkasMn.   Von  Heinrich  SehrSer.  Wittenberf, 

Herrosö,  1882.  64  S. 

Vor  etwa  einem  Jahrzehnt  l)egannen  in  Osterreich  und  Dentschlaud  einige 
HSnner  sehr  lebhaft  für  Gründung  von  Sdiulsparkassen  zn  agitiren;  sie  fanden 

einigeu  Auliang,  namentlich  unter  Nicht-Lehrern,  vennocbt4'n  aber  nicht  das 
öffentliche  Interesse  an  ihre  Sache  zu  fesseln  und  .stießen  überdies,  namentlich 
im  Lebrerstande,  auf  zahhreiche  und  entschiedene  Gegner  derselben.  Wir  haben 
hier  keinen  Aiühss,  uns  auf  den  derzeitigen  Stand  des,  streitigen  Institutes  in 
Belgien,  Prankreich  u.  s.  w.  zu  beziehen;  bezüglich  tisterreichs  und  Deutsch- 
lands niiiss  aber  constatirt  werden,  das«  die  Agitation  für  die  Schnlsparka-ssen 
verbältuismäßig  nur  sehr  geringe  Erfolge  gehabt  hat  und  im  Ganzen  als  ge- 
sobeit^Tt  7.U  betrachten  ist.  Dies  liegt  thcils  in  den  dem  ganzen  ruteniehmen 
an  sich  eigentbilmlitben  Schwächen,  theils  darin,  da.ss  die  Vertreter  desselben 
von  Vorau.ssetzungeu  ausgingen,  welche,  vom  Auslände  entlehnt^  in  Österreich 
und  Doutsfbland  nicht  zutrctlon.  Man  kann  mit  Sicherheit  annehmen,  dass,  so 
lange  unsere  Schulen  nicht  wesentlich  umgestaltet,  so  lange  sie  insbesondere 
nicht  Stätten  materit  lieu  i^rw«  rhes  für  die  Kinder  werden  —  nnd  das  dürfte 
im  A Ilgen» einen  doch  weder  leicht  noch  wünschenswert  sein  —  in  ihnen 
auch  die  Sparkassen  keine  solide  Basis  haben.  Da  aber  einmal  ein  großer 
Linn  um  dieselben  gemacht  wurden  ist.  der  sich  noch  nicht  ganz  gelegt  hat, 
so  geziemt  es  dem  auf  die  ErsrheiTiungeu  der  Zeit  achtsamen  Schulmanne,  sich 
Klarheit  üljer  die  Intentionen  der  Apo.stel  dieser  Neuerung,  sowie  über  die 
Schwächen  und  Schattenseiten  derselben  zu  verschaffen.  Einen  sehr  guten  Be- 
helf hierzu  bietet  die  auirezeigte  Schrift  von  Schroer,  iu  welcher  alles,  was 
bisher  zu  Gunsten  der  KSchulsparkassen  vorgebracht  worden  ist,  aber  auch  die 
ihnen  entgegenstehenden  Bedenken  vorgetührt  werden  und  überdies  geneigt 
wird,  durch  weh-he  Maßnahmen  in  der  Kindcrwt  lr  jene  Tugenden  zu  ent- 
wickeln seien,  um  deren  willen  die  Freunde  der  Schulsparkassen  sich  ereifert 
haben.  Oass  SchrOer  ein  entschiedener  Oegner  derselben  ist,  seigt  sehen  der 
Titel  seiner  S<  brift :  dass  er  dazu  gute  Gründe  hat,  ergibt  sich  aus  seinen  Au*- 
einandersetznngcn,  die  wir  denn  einer  nnparteiisclien  Würdigung  emi)fehlen.  D. 

Anfailg^tirUiMle  der  alliroiiKMiicii  Zoolouri«*  tür  Schüler  und  zur  Sellist- 
beiehruug  von  Dr.  Eduard  Morse,  ehem.  Prof.  der  vergleichenden  Ana- 
tomie nnd  Zoologie  am  Bowdoin  -  College.  Antorisirte  dentsche  Aasgabe. 
Zweite  verbenerte  und  veränderte  Auflage.  Berlin  1881,  Adolf  Stnbennacli. 
Preis  1,20  M. 

Ein  eigenthUmliches  Werkchen  liegt  uns  in  diespiu  Knclu'  vor.  Ks  ist  keine 
systematische  Zoologie,  es  ist  keine  Anatomie,  auch  kt-in  Pnipiuirbnch.  und 
dennoch  enthält  es  von  jedem  ni<  ht  nur  etwas,  sondern  sogar  sehr  viul  Beach- 
tenswertes für  den  Antlinger.  Schon  die  Art  uiul  Weise  der  An^inlnum,'^  des 
Stoffes  trappirt  uns.  Mit  Schnecken  und  andereu  Weichthieren  wird  begonnen, 
zu  den  Insekten  übergegansrfii.  s 'dann  werdeu  einige  Spinneu.  Krustcr  und 
Würmer  abgehandelt,  hirrauf Wirlteltbiere  besprorhen,  und  schliesslich  wird  das 
Besprocheue,  aber  auch  nur  dieses,  in  eine  systematische  Ordnunir  gel)racht.  Der 
Sdiule  aU  solcher  dürfte  mit  einem  derartigen  Leitfaden  nicht  gedient  .'*ein,  da 
ja  Von  Einzelthieren  nnd  deren  Beschreibunir  irar  nichts  darin  enthalten  ist ;  für 
den  Lehrer  aber  sowoi  zu  seinem  eigenen  Studium  als  auch  zum  Unterrichte 
der  Schüler,  welche  im  Privatrerkehre  oder  bei  einem  nnsystematiiohen  Hana- 


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unterrichte  Uber  Lebeiiäentwickelungen  und  Grundbegriffe  de»  Körperbaues  be* 
lehrt  werden  sollen,  bietet  das  BOcbiein  .sehr  riel  des  Interessanten.  3[an  sieht, 
der  Verfasser  hat  alles,  was  er  beschreibt,  selbst  gesehen  und  beobachtet,  und 
es  drängt  ihn,  der  Freude,  die  er  dabei  empfunden,  auch  andere  tlieilhaftig 
werden  zo  hUMen.  —  Die  vielen  Illnstrationen  tragen  einen  eigenthUmlichen 
Charakter  an  sich:  sie  sind  nämlich  nur  in  Umrissen  gezeichnet  und  wenig 
Schrat rirt;  der  Verfas.se r  will  zum  Nachzeichnen  anregen.  So  gut  dies  auch  hie 
und  da  sein  mag,  so  inOehte  es  sich  nicht  empfemeii,  ullgemein  solche 
Metbude  durchzuführen,  um  dadurch  eine  genaiiere  Kenntnis  zu  vermitteln, 
wenn  auch  der  Verfasser  meint,  dass  mau  ein  natürliches  Exemplar  oder  eine 
Figur  oft  wrgttXtig  studiren  und  doch  nur  ehie  nnvoUkoinmene  Idee  davon 
gewinnen  krmne;  wenn  .sie  aber  nur  ein  einzigesmal  nachgezeichnet  wUi-den,  so 
lohnten  die  gewonnenen  neuen  Gesichtspunkte  alle  aul'  diese  Aufgabe  verwen- 
dete Mflhe  reichlich.  —  Ee  sind,  yti»  schon  enrlhnt,  eine  Menge  interessante 
Details  in  IJezug  auf  den  Fang,  die  Aufbewahrung,  die  Untersnchung  iler 
Thiere,  Beobachtung  ihrer  Lebensweisen  u.  s.  w.,  und  zwar,  was  wir  besonders 
sehltzen,  der  gewöhnlichsten  Thierformen,  die  jedem  leicht  zugänglich  sind, 
die  bequem  in  .\(iuai  icn  und  Vivarien  zu  halten  sind.  -Vlso  Anregung  nach  jeder 
Richtung.  Belehrung  nach  vielen  Seiten  hin  bietet  das  Werkchen,  aber  es  ist 
kein  Schulbuch;  wir  glauben  gar  nicht,  dass  es  usprUuglich  ein  solches  sein 
wollte,  wenn  es  auch  anf  dem  Titelblatte  als  solches  beseiehnet  wird.  C.B.B. 

Neue  Erdkunde  für  höhere  Sehuicu  voa  Dr.  J.  J.  Egli.   IV.  ver- 
besserte  Auflage.  St  Gallen,  Haber  &  Comp.,  1881.  kL  8^  307  S. 

Egli  hat  seinem  Boche  das  altberühuite  Wort:  „Non  niulta,  sed  moltam** 
als  5[ntto  vorangestellt.  Das  ganze  Rm  li  lässt  .sich  durch  keinen  anderen  Satz 
kürzer  und  besser  charakterisiren.  Das  „Vielerlei"  spielt  nirgends  eine  so 
grosse  Bolle  wie  im  geographischen  Unterricht,  und  darum  wirkt  es  auch 
nirgends  so  schädlich  als  hier.  In  Egli's  Erdkumli'  mi'  1it  man  vorgeblich  uadi 
Eiiuelheiten,  die  ohne  inneren  Zusanmienhang  stehen.  Was  er  entwirft,  sind 
Bilder,  die  das  anf  der  Karte  Beobachtete  svsammenihssai  und  mit  schlagender 
Kürze,  in  grösster  rifHlrJvngtheit  und  Anschatilichkeit  wiedergeben.  Da»  Buch 
setzt  ebenso  sehr  einen  naturwissenschaftlich  geschulten  Lehrer  dar  Geographie 
voraus,  ab  Sehttler,  die  berdte  die  Elemente  der  Geographie  fest  eingeprägt 
haben,  und  ebenso  sehr  einen  geschickten  Methodiker,  der  aus  den  Sclulleru 
heraus  den  Inhalt  der  Karte  entwickeln  kann,  als  denkende  Schiller,  die  ihr 
Lehrbuch  nur  als  Wiederholungsbuch  zu  benutzen  brauchen.  Referent  kennt 
keinen  andern  Leitfaden,  der  Überzeugender  und  unzweideutiger  in  das  einillhrt, 
was  man  „moderne**  Auffassung  der  Schulgeogi-aphie  nennt.  — ^r. 

Wandkjirto  toii  Orosshritatiiiien  und  Irland,  herausgegeben  von 

E.  H.  Wich  mann.    Verhxg  von  Friederiohsen  in  Hamburg. 

Auf  der  genannten  Wandkarte  ist  das  Berg-  und  Tiefland  durch  Anwendung 
des  BuntfArbendmeks  markant  dargestellt,  so  dass  es  selbst  atu  weiter  Ent- 

fernung  hetra«  htct  nichts  an  Ausdruck  verliert.  Xnr  Flüsse  und  Ortscliaften 
sind  zu  massenhaft  eingetragen  und  zu  wenig  entschieden  bezeichnet.  Soll 
darum  die  Wandkarte  auch  als  Schnlwand karte  dienen,  so  muss  der  Lehrer 
vorher  die  (Irte.  die  er  mit  den  Schüleni  bespreche  will,  greller  Übermalen 
und  hcsnnlers  die  Flns-^hlufe  mit  blauer  Furl»e  so  verstärken,  dass  sie  nach 
ihrer  gau/en  Au.sdehnung  deutlich  sichtbar  aus  dem  Linieugewirr  der  Karte 
heraustreten.  Mit  dieser  Bemeiknng  sei  WichmaDns  Wand&rte  bestens  em- 
[»fohlen.  — e — . 

Lexikon  der  Kelsen  und  Entdeekniiffen  von  Dr.  Friedrich  Embacher. 
Leipzig  1882,  Bibliographisches  Institut.   1594  S.   geb.  4,50  M. 

Allen  Freundeu  der  Eni-  und  Völkerkunde  wir<l  dieses  Handbuch  der  For- 
schungsreisen willkommen  sein,  da  es  die  systematische  Geographie  in  vielen 
Stücken  ergänzt  und  in  der  wirksamsten  Weise  belebt.  Der  erste  igröGere) 
Theil  desselben  bietet  uns  in  alphabetischer  Ordnung  die  Bi<^n^phien  der  For» 


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—   4  — 

flcbungereisenden  aller  Libider  von  den  Utesten  Zeiten  bis  auf  die  Gegenwart; 

der  zAvcitc  (Tilf  incif  i  »  ntwirft  eine  Übersichtliche.  ebejifalU  bis  auf  die  Gegen- 
wart fortgeluhrte  Geschichte  der  Entdeckungsreisen  in  den  einnlnen  Erdtiieüen 
(Afrika,  Amerika,  Aneo,  Australien,  Polarre^oneu).  Überall  zeigt  sich  der 
Verfasser  ah  kundiger  Fuhrer  auf  diesem  weiten  und  interessanten  Gebiete 
menschlichen  Wissens  und  kiUmen  Heldenthums,  und  wer  sich  auf  demselben 
Orientiren  will,  dürfte  aehwerlicli  einen  beiMNii  WegwriMr  Ünden,  als  dieses 
ebenso  handliche  wie  veiehhaltige  LexiliOB  der  Bdsen  und  Entdeckungen.  H. 

Leitfaden  der  Botanik.    Für  die  unteren  Classt n  hülierer  Lehranstalten. 

Von  A.  Reiüheimer,  ord.  Lehrer  am  Eealprugymnasium  zu  BiseUweiler. 

2.  Auflage.  Freibni^  L  Breisgan,  Herdenche  Verlagsbnehhandliuig  1881. 

Der  Chnmdsats,  dass  Natoigesdiidite  und  besonders  Botanik  nur  an  lebenden 
Exemplaren  TOIgetragen  werden  soll,  wird  leider  noch  vielfarh  nieht  befolgt, 
und  Schnld  trSgt  daran  die  sclavische  Aulehnuug  au  die  Lehrbücher,  welche 
gew9hnUc!h  83rBtematiseh  geordnet  die  Oli|$eete  anfalMen  und  besehreiben.  Es 

freut  nn-.  in  vorliegendem  Leitfaden  die  alte  >'i  lial>li>ne  vt  rla>-<*'n  zu  sehen,  in- 
dem die  Püauzen  nach  ihrer  Blütezeit  geurduet  sind,  uud  überall  eine  besonders 
bänfii?  auftretende  nnd  diankteristimhe  Pflanse  im  Detail  beschrieben  ist, 
während  von  iliren  Yenvandten,  mOgen  flie  gieichzeitic:  hliilien  ndt-r  spater  zur 
Blüte  gelaugen,  nur  das  Unteisoheiaende  angeflUut  ist,  wobei  dann  stets  auf 
die  frtther  beschriebenen  Formen  hingewiesen  wird.  Dies  ist  eine  sehr  prak- 
tische und  die  Selbstthäticfkeit  der  Schüler  anregende  Lehnnetliode.  welche 
auch  vom  Keüerenteu  seit  Jahren  geübt  wird.  Überdies  sind  die  vielen  an  die 
^seinen  PflanKenformen  geknüpften  Fragen  recht  passend  gewShlt,  nnd  sie 
haben  im  Lelirlniche  den  Vortheil,  den  Schüler  hei  der  Wiederholung  auf  alle 
Punkte  aufmerksam  zu  machen,  die  iu  der  iSchuie  besprochen  wurden.  Die 
Abbildungen  sind  sehr  gut.  kSnnten  aber  etwas  reichlicher  sein.  Die  Mbrpho» 
logie  ist  der  Specialbesprechung  voransgestellt ,  was  wir  nicht  zweclunä.<Mig 
finden;  jene  würde  vielmehr  &U  Zusammenfaä.sung  an  den  Schluäs  des  Buches 
gehören.  Dagegen  ist  das  Znsammenfiusen  der  Pflanzen  zu  natürlichen  Familien 
am  richtigen  Platze  stets  angedeutet.  Die  Ausstattung  des  Werkchens  ist 
durchans  lobenswert.  C.  R.  &. 

Thomas  H.  Unxley,  Ornndzfige  der  Physiologie«  Herausgegeben 
von  Dr.  J.  Bosenthal,  Pnrf.  a.  d.  üniTersität  zn  Erlangen.  2.  yerm.  n. 
verb.  Auflage.  Leipzig,  Verlag  von  Leopold  Voss,  1881. 

Für  den  Lehrer  der  Soniatidogie  des  Menschen  ist  ein  Hilfsbuch,  welches  nur 
das  Wesentlichste  uud  das  unumstüsslich  als  wahr  Erkannte  aus  der  Physiologie 
des  Menschen  enthält,  jedenftüls  eine  recht  erwünschte  Sache,  nnd  in  dem  ▼oT' 
liegenden  Wi  rke  haben  wir  ein  solches,  das  zugleich  Lresthrieben  i-^t.  dass 
es  selbst  in  dcu  Uäudeu  reiferer  Schüler  Nutzen  stiften  kann.  Es  eutli&lt  der 
Beihe  nach  VortrSge  Aber  den  Bau  nnd  die  Verrichtungen  des  mensehHehen 
Knriii  r>.  das  Gefässsystem  nnd  den  Kreislauf,  das  Blut  nnd  die  Lynijdie.  die 
Athmuu^,  die  Quellen  des  Gewinnes  uud  Verlustes  für  das  Blut,  die  Ern&hrungs- 
thStigkett.  Bewegung.  Empfindungen  nnd  Empftndungsorgane.  Rpeciell  Aber  das 
Sehorgan,  die  Vereiuigung  von  Empfindunireu  unter  einander  nnd  mit  anderen 
Zuständen  des  Bewusstseins,  das  .Nervensystem  und  seine  Wirksamkeit,  die 
Histologie  und  den  feineren  Bau  der  Gewebe.  Viele  nnd  xwar  zum  grOmten 
Theile  sehr  gute  Abbildungen  erläutern  den  Text;  dazu  hat  der  Heransgeher 
eine  Menge  sehr  beachtenswerter  Nuten  gefügt,  so  dass  das  Buch,  unterstützt 
durch  ein  genaues  Sachregister,  ein  gutes  Nachschlagebuch  in  jsweifelhaften 
Fällen  ist.  Recht  l>eherzigenswert  ist  auch  der  IJath,  das  Studium  an  t)l)jt-«.ten 
zu  betreiben,  die  leicht  zn  beschaffen  sind,  niindich  an  thierischen  Präparate«, 
die  ja  doch,  zumal  von  höheren  Säugethicren  genommen,  im  Wesentlichen  vom 
Baue  der  menschlichen  Oi^;aiie  sich  kaum  nntendi^dak  G.  &  B. 

VeisntvwtUchet  B«daot8ari  M.  Stein.         Bvohdruekeni  Jalia«  Klinkhardt,  Leipdf. 


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literatnrblatt 

Beilage  ssuni  Paedagogimn,  IV,  IL 


Oruiidzüge  der  empirischen  Psyciiologie  und  der  Logik.  Für  die 
Hand  des  Schttlera  bearbeitet  von  J.  Helm,  Inspektor  des  k.  Schullehrer- 
Seminars  in  Sehwabacb.  Dritte,  verbesserte  Auflage  mit  10  Fiflruen.  Bam- 
berg, Bnebner,  1882.  73  S.  1,60  H. 

Der  Herr  Verfluser  cbaraktoiBirt  seinen  Leitfitden  in  iblgrader  Weise: 

vorlicffcmle  Ornndriss  Ist  aus  dem  Unterricht  hervorgegangen  und  für  den 
Unterricht  bestimmt.  £r  beschränkt  sich  deshalb  auf  die  liauptfittchlichsten 
Partien  und  setst  fita'  sdnen  Oebraiieh  die  helftnde  vnd  leitende  Hand  des 
Lehrers  voraus ....  I)as.s  das  liier  geltotene  becrifflicbe  Gedankenmaterial  nicht 
dogmatisch  gegeben  werden  darf,  sondern  im  Anschlnss  an  das  £i^iiirttnffs- 
nnd  Wissensgemet  des  Sehttlen  genetiscb  entwickelt  werden  nrass,  ist  tttr  den 
denkend-  n  Lehrer  eine  selh.st verständliehe  i)ädair')i,''ische  Fordemng.'* 

Man  kann  diese  Grundsätze  nur  billigen,  und  das  angezeigte  Büchlein  wird, 
wenn  es  den  ihnen  entsprechenden  Oetnnittcb  erftbrt,  rieb  ab  ein  ntttzlicher 
Lehrbehdf  erweisen,  zumal  es  in  seiner  neuen  Anfla<:^e  wesentlich  verbessert, 
namentlich  von  etlichen  zweifelhaften  Dogmen  beö^it  und  in  engere  Beziehung 
zum  concreten  Geistesleben  gebracht  worden  ist.  Dies  wird  um  so  mehr  ge- 
billigt werden,  als  da.s  Büchlein  für  die  Hand  von  LehramtszOglingen  bestimmt 
ist,  denen  nicht  sowol  durch  Überlieferung  speciilativer  Theorien,  als  viel- 
mehr durch  genetische  Erschließung  der  wirklichen  Vorgänge  und  Gesetze  in 
dar  nenacldiäien  Seelenentwiokelnng  gedient  ist  D. 


€tom1ith  und  ChanilLter.  Sechs  Vortiilge  von  Dr.  Hermann  Wolff, 

Doceut  der  Philosophie  an  der  TJniveisitftt  Leipzig.  Leipzig,  WoU^iang 
Gerbard,  1882.   144  S. 

Ein  geistvolles,  naturgetreues  (  t«  iiiälde  des  menschlichen  Seelenlebens.  Keine 
sterile  Schola.stik,  keine  abgel  rani  Ute  Buchgelehrsnmkeit .  keine  pedantische 
Wortklauberei,  sondern  frische  Zui^^e  aus  der  Wirklichkeit,  ei;L;oui' Beobachtungen 
nnd  Oedanken  bietet  uns  der  Verfa-sser.  Im  ersten  (einleitenden)  Vortrage 
schildert  er  zimächst  die  Macht  und  Bedeutung  von  (iemüth  und  Charakter  in 
der  Kunst,  im  realen  Leben  und  in  der  Erziehung,  welch  letztere  er  zu- 
gleich ihren  wesentüdien  Ziigen  nach  umschreibt,  worauf  er  noch  die  allge- 
meinen Grundlagen  und  Triebfedern  des  Gemüthslebens  aufzeigt.  Nun  folgt 
eine  eingehende  Charakteristik  der  einzelnen  Ciemilthsznstünde,  wie  sie  theils 
aus  dem  individuellen,  tbeils  ans  dem  socialen  und  religiöicen  Leben  entspringen. 
Eine  Skizze  der  mannigfaltigen  Modificationen  des  (iemtlthslebens  bildet 
den  Absclilu.s3  der  ersten  Keilie  von  Betrachtungen.  Hierauf  folgt  die  Erörterung 
Aber  das  Willensleben  mir  dessen  Festigung  zum  Charakter,  über  die  nut- 
teriale  Seite  oder  die  leitenden  Kotive  und  über  die  formale  Seite,  liesonden 
über  die  Freiheit  des  Willens. 

Bi  bedarf  keines  Nachweiies,  dass  die  liier  behandelten  psychologisdiNi  Mo- 
mente nicht  nur  sehr  interessant,  sondern  auch  von  weittraj^ender  T^cdeutung 
nnd  Wichtigkeit  für  alle  menschlichen  Verhältnisse  sind,  und  dass  sie  bes<mders 
auch  an  Erziehung  und  Unterricht  in  engster  Beziehung  stehen.  Das  angezeigte 
Bnrh,  welches  besonders  in  der  größeren  Partie,  vom  Gemttth sieben,  höchst 
gelungen  ist,  bietet  daher  namentlich  auch  dem  Pädagogen  einen  reichen 
Schats  fruehtbarer  Gedanken  nnd  Anregungen.  D. 


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—   2  — 


Solleu  unser«  O^jnniitsleii  bleiben,  wie  sie  sind}  Eia  pftdagog-isches 

Mahnwort  von  S.  Czekala,  Inspector  der  St  Petet-PanU-Schiile  ZU  Moskao. 
Moakao,  Alexander  Lang,  1881.  84  S. 

Auch  in  Rasalaud  fUlilt  mau  lebhaft  das  Bedürfuis  einer  Beform  der  Oym- 
imsien.  Es  machen  sich  für  dieselbe  dort  dieselben  Motive  Efcltend.  .  wie  in 
Deutschland  und  Österreich,  wozu  aber  nwh  die  bekannten  socialen  l'bel  (die 
nihilistischen  Umtriebe)  kommen ,  von  denen  der  groie  osteuropäische  Staat^- 
körjier  hfimge.snrht  ist.  und  welche  nameutlioh  in  denjenif^en  Schichten  der 
Gesellsohatt,  die  aus  höheren  Schulen  (besonders  Gymnasien;  hervorgetraugen 
rind,  ihren  Sitz  haben.  In  der  That  eröffnet  auch  der  Yer&aser  des  anu:ezeig- 
tcn  Mahnwortes  seine  Erörterungen  mit  dem  Hinweis  auf  die  erwähnten  Ka- 
lamitäten, worauf  er  die  dringende  Nothweudigkeit  einer  Refonn  der  mittleren 
Bildungsanstalten,  besonder;;  der  Gymnasien,  nachweist.  Da  dieselbcai  in  Buss- 
land im  Wcsentlichfu  nach  jireußischem  Muster  eingerichtet  sind,  so  zeiirt  der 
Vertasser  zunächst  die  fundamentalen  Gebrechen  der  pren ßisr hen  Gymnasien, 
irelehe  Oebfechen  denn  auch  auf  die  msaisohen  Nachbilder  Ubergeganu'on  sind, 
wozu  dann  aber  noch  jene  Miingel  kommen,  welche  aus  der  AcconinuMlHtion  an 
die  russischen  Verhältnisse  entsprungen  sind.  Nach  einer  scharfen  Kritik  der 
bciJteheudon  (TVinnasialverfassung  macht  Herr  Czekul.i  seine  R^formvorschläge, 
welche  im  Wesentlichen  darauf  liinanslaufen,  dass  eine  der  beiden  alten  .Sprachen 
aufzugeben,  an  deren  Stelle  eine  moderne  Sprache  als  Hauptfach  eiuzulühren, 
ferner  die  Naturwissenscliafr  in  t;rößerer  Ausdehnung  und  GiQndlichkeit  zu 
behandeln  und  überall  die  Lolninetlitule  durcliürrcifend  zu  verbe«i«ieni  sei.  Rier- 
dui-ch,  besonders  auch  durch  \'erschiebung  des  altsprachlichen  Uüt<.Trichts  bis 
znm  Beginn  des  vierten  .Tahrescursns,  werde  zugleich  eine  einheitliche 
Organisation  aller  uiitrleren  Lchran-^talfen  ermöglicht. 

Wegeu  des  uns  zur  Verfiigimg  stehenden  geringen  Raumes  müssen  wir  uns 
auf  vorstehende  kurze  Inhaltsangabe  beschränken.  Wir  bemerken  nur  noch, 
dns-^  A'erfasser  s(»wol  im  kritischen  wie  im  po^iriven  Tlieüe  seiner  Ahliandhmg 
sich  als  woluuterrichteter,  einsichtsvoller  und  geistreicher  Schulmann  bewährt, 
und  dass  seine  Schrift  rieherlich  jeden  Fachmann  lebhaft  interessir»!  wird. 
Sie  ist  ni<  ht  nur  bezüglich  der  i)rincipiellen  Fraye  der  Gymnasialreform  von 
!  hervorragender  Bedeutung,  sondern  auch  noch  dadurch  besonders  lehrreich, 
dass  sie  ein  aascbaidiches  Bild  von  einem  wichtigen  Theile  des  ntsaiflehes 
Sdiniwesens  entwirft.  H. 


Sehreib-Lese-Wandtafeln.  Prag,  F.  Tempsky,  1882.  Pnis;  4  M. 

Diese  Schreib-Lese-Wandtafeln  umfassen  18  Blätrer,  ,(ni  le  .  li  und  T.Sem 
breit,  und  sind  durch  Ministerial-Erlass  vom  lö.  April  löäl  allgemein  zuJ&süig 
eridftrt  worden. 

S'ie  sind  nach  dem  Stufenc^anure  der  Heinrieh<(  hi  ii  Fibel  geordnet  und  k".nnen 
mit  dieser  von  der  ersten  Lesestuude  an  benutzt  werden.  £s  ist  selbstverständ- 
lich, dass  dieselben  auch  neben  jeder  anderen  nach  s^nithetischer  Lehrart  ein» 
gerichteten  Fibel  .sehr  gute  Dienste  leisten.  Selbst  neben  Fibeln  analyti.soh- 
synthetischer  Lehrart  können  sie  ab  und  zu  vortheilhaft  verwendet  werden, 
namentlich  dann,  wenn  der  Lehrer  mit  AbschrelbObnngen  grtlBeren  ümfiuiges 
begimien  und  das  rii  litiire  AI)sehn  iben  ilberhaiipt  erklären  will.  Eine  sulehe 
Wandtafel  vereinigt  Lehrer  und  Schüler  zu  gemeinsamer  Arbeit.  Hätte  man 
mit  Rücksicht  auf  die  Abschreibttbungen  noch  etwa  3  Tafeln  derart  zusammen- 
gestellt, da.s.s  ein  kleines  Lesestürk  oder  Gedicht  in  vollendeter  Druckform 
vor  die  Schülerschar  gebracht  werden  könnte,  so  würden  diese  Lehrmittel 
nnstreitig  aUe  Bedtbrlbbse,  denen  sie  dienen  wollen,  gedeckt  haben.  Die 
äußere  Ausstattung  dieser  Tafeln  ist  zweckmäßig  und  lo^nswert.  Der  Druck 
ist  luäftig  und  rein.  Die  Scbreibbuclistaben  sind  allerdings  von  etwas  ver- 
alteten Dnctns,  im  Ganzen  aber  kann  man  diese  Schreib- Lese -Wandtafebi 
bestens  empfehlÖL  B.  W. 


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—   3  — 


GVtziuj^er,  Anfangsgründe  der  deutsehen  Spraehlehre  in  Begeln 
nnd  Aufgaben,   xm.  Anflage,  besorgt  von  Johannes  Ueyer.  Aaran, 

Sanerländer,  1881.  kl.  8«  266  S. 

ÜlmiigsluiH»  uikI  Grammatik  geht-ii  hier  Ilaml  in  Hainl;  das  ('hniiirshuch  ist 
die  ürigiiiellere  Arbeit.  Der  ^stoff  ist  nicht  in  systematischer  L'uordnung  mit- 
getheUt,  sondern,  wie  es  für  den  ersten  Unterricht  in  d«r  llvttersprache  auch 
das  veruUnftige,  fortsclireitond  vom  Leichteren  zum  Schwereren;  bei  der  Wort- 
bildung ist  auf  die  Bedeutungslehre  Gewicht  gelegt;  als  Ubungssätze  dienen 
dem  verfiMaer  selbst  ausgearbeitete  SStzchen,  die  neh  dem  Wissoukreise  der 
.  Schüler  anschmieden:  besonders  <relungen  sind  die  Tbemm  /ur  Kinübuni:  der 
Syuon^'niik,  insofern  sie  ganze  Constructionen  betriftt.  Die  lateinische  Termi- 
nologie ist  nicht  streng  dnrefagefllhrt;  so  finden  sich  in  der  S3nBtax  des  Boches 
noch  Nennsätze,  Beisätze  etc.  Ycrbes-seruiiffsriihip:  sind  die  Definitionen  der 
„Periode**,  des  Objects  (es  gibt  doch  auch  Dativ-  und  Genitivobjecte,  siehe 
Qbrigeas  Seite  90)  nnd  des  intransitiTen  Yerbnms.  Den  Artikel  omie  weiteres 
als  Attribnt  zu  fassen,  geht  denn  doch  lücht;  der  Verfiteser  llsst  ihn  nicht 
einmal  als  besondere  Wortart  gelten.  — om. 

E.  Bergold,  Prof.,  Arithmetik  und  Algebra,  nebst  einer  Geschichte 
dieser  Discipliuen  för  Gymnasien  und  Realschulen.   Karlsruhe,  H.  Bentheri 

1881.  200  S. 

Der  Herr  Verfasser  hat  nicht  nur  ein  au  sich  gatea  Lehrbuch  fUr  höhere 
Lehranstalten  geschrieben,  er  hat  sich  anch  einiges  verdienst  dadurch  erworben, 

dass  er  mit  frischem  Griff  die  ..nescliichte  der  Mathematik"  heninzi<'ht  und 
einen  Auszug  aus  derselben  uüttheilt,  den  er  theils  im  Zusammenhange!  theils 
in  Noten  dem  Texte  beiftlgt.  Eine  so  uralte  Wissenschaft  wie  die  Mathematik 

hat  auch  eine  bedeutende  (beschichte;  es  ist  die  (lesdiichte  de-i  menschlichen 
Geistes  und  der  Cnltur.  Die  hochbegabten  und  scharÜBinnigen  Männer  des 
Alterthums  und  der  letzten  Jahrhunderte  sollen  dem  werdenden  Mathematiker 
vorgeführt  werden,  er  soll  Ehrfurcht  vor  ihren  Schöpfungen  emplnden,  er  soll 
von  dem  Gedanken  durchdrungen  werden,  dass  es  der  Anstrengungen  von 
Jahrtausenden  bedurfte,  dieses  ehrwürdige  Gebäude  auf  einen  so  hohen  Grad 
der  Vollkommenheit  zu  bringen!  Namen,  wie  Pythagoras.  Piaton,  Euklides, 
Ardiimede.s.  Diophautus,  Boi'thius,  Brahmegupta,  Scipio  Ferreo.  Cardanus, 
Ferrari,  Christof  Rudolf,  Michel  Stiefel,  Vieta,  Steviu,  Napier,  Briggs,  Descartes, 
Newton,  Pascal,  Leibnitz,  Jacob  BemouiUi,  Format,  Laplace,  Euler,  Lagrange, 
Gauss  u.  a.  treten  hier  den»  Leser  entgegen.  Es  sind  die  Leuchten  der  mathe- 
matischen Wissenschaften!  Den  sonstigen  Inhalt  des  Werkes  betreffend  tiudeu 
wir  SAbschnitti .  Per  l.  Absclmitt  behandelt  die  gemeine  Arithmetik  (Zahlungs- 
gystem,  Grundrechnungsarten,  I »ecimalbrUche,  gemeine  Brttche,  Zweisatz):  der 
2.  Abschnitt  führt  uns  die  allgemeine  Arithmetik  vor;  der  3.  Abschnitt  die 
Algebra. 

Ist  die  DurchfUhnmg  dieser  Materien  auch  an  sich  gut  und  das  Ganze  mit 
Fleiß  gearbeitet,  .so  mag  es  uns  gleichwol  gestattet  sein,  einige  kleine  Be- 
merkungen an  die.'^  oder  jenes  zti  knüpfen.  So  ist  die  Division  der  Deciniai- 
briK'lii'  (  twas  umständlich  behandelt.  Wozu  wird  erst  Dividend  und  Divisur 
auf  eine  gleiclie  Anzahl  von  Decimalstelleu  gebracht?  Wozu  die  Unterscheidung, 
wenn  der  IHvisnr  grüßer  als  der  Dividend  ist,  der  Divisor  als  ganze  Zahl  auf- 
tritt, d"r  I'ividend  aber  ein  Decimalbruch  ist.  oder  umgekehrt?  Da  ist  keine 
rechte  Kinlicitüchkeit,  dafür  aber  ein  schleppendes  Ke«;ehverk.  Bei  der  ab- 
gekürzten MultipUcation  und  Division  sollte  auch  das  Wesentlichste  Uber  das 
Rechnen  mit  nncrenanen  Zahlen  gesagt  werden,  das  halten  wir  tiir  .sehr  wich- 
tig. Warum  die  Aufeinanderfolge  tler  Facti  »reu  beliebig,  d.  h.  fürs  I'roduct 
gleichgiltig  i.st,  wird  nirgends  nachgewiesen.  Und  doch  ist  die.ser  Nachweis 
besonders  dann  uothwendig,  wenn  das  <  n  ltict  der  ganzen  Zahlen  verlassen  wird. 

Becht  ^ut  ist  der  Begriff  der  unendlich  grulien  und  unendlich  kleinen  Zahl 
ttemplificurt  und  daran  anschlieBend  das  Rechnen  mit  solchen  Zahlen  erwfihnt,  « 


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—   4  — 

insofern  man  auf  eine  bestimmte  o(ler  unbcstiiunite  Form  kommt.  Zum  Zahlen- 
tbeuretischen  >väre  zu  bemerkea,  (Uum  die  Aufsiuchuug  des  grüßten  gemeiuäcb. 
Maßes  m  swei  Zahlen,  wie  in  den  meisten  BttdMm,  so  an<ä  hier,  reeht  lang« 
nicrio-  ist.  Das  Yerfiiliren.  zu  drei  oder  mehr  &h]en,  das  g.  g.  M.  sn  finden, 
ist  wol  angedeutet,  aber  nicht  begrlüiideti 

FQr  die  Theflbaikeit  einer  ZaSl  durch  7  gibt  der  Herr  Vertoer  ibliipende 
T'osrel:  ^Eine  Zahl  ist  durch  7  theilbar.  wenn  es  die  Summe  ist,  die  man  -t- 
hält,  indem  man  die  von  rechts  nar  h  linlu  aufeinander  folgenden  Ziiiem  der 

Beihe  nach  multiplieirt  mit  -f  i.  -f-  8,  -(-  2.  —  1,  —  3,  —  2,  +1,  imd 

die  erhaltenen  Profluctf  mir  »h-n  entsprerhenden  Vorzeii  hen  addirt.  ' 

Damacli  wird  wol  niemand  die  Theilbarkeit  einer  Zahl  durch  7  untersuchen, 
sondern  offenbar  den  direeten  Versuch,  zu  dividiren,  rorziehen. 

Die  einfachste  Kegel  ist  die:  ]\ran  theile  die  Zahl  von  rechts  jjegrpu  links  in 
Gruppen  zu  je  3  Ziffern  (die  äußerste  links  kann  ein-  oder  zweiziffrig  sein), 
bilde  die  Differenz  ans  der  Summe  der  1.,  3.,  6.  Gruppe  und  der  Sname  dar 
2.,  4.,  ß.  Gruppe.  Ist  diese  Differenz  dnreh  7  theilbar,  so  ist*8  auch  die  tot- 
gdegte  Zahl. 

Naeh  dem  Beisirfele  S.  68: 

876^600,184      184  +  876  =  1060 

—  600 

060  :  7  =  80. 

Damit  ist  die  Theabaricdt  der  Zahl  sidhogestellt. 
Bei  der  Zinseszinsen- Beehnnng  sagt  der  Yerfosser  nr  Formel  K  s=  0 

(P  — » 
1  +  -iQQ  )  '  "^'^  beachte,  dass  die  Ordnungssahl  eine«  Gliedes  jener  Beihe 

den  gegebenen  Bedingungen  entsprechend  nur  eine  ganze  Zahl  sein  kamiL 
Wird  also  nach  der  (ir<)6e  des  Capital.s  in  einer  l?ruclizahl  von  Jahren  «refragt, 
so  sind  aus  diesem  Bruche  die  Ganzen  auszuscheiden,  das  augewachseue  Capital 
lllr  diese  Zeit  zu  berechnen  und  dann  durch  besondere  Rechnung  das  weiten 
Anwachsen  fiir  den  Rest  der  Zeit  zu  bestimmen  ■  Das  ist  durchaus  nicht 
nSthig,  die  obige  Formel  gilt  auch  fUr  beliebige  Bruchwerte  von  x. 

Von  den  auf  S.  110  und  121  angegebenen  Formeln  VI  und  VH  wird  bei 
Hentenborechn  untren  (^^ar  kein  Gebrauch  gemaofat,  weil  mit  mittleier  Lebens- 
dauer in  der  Praxis  nicht  gerechnet  wird. 

Zur  Wahrsoheinlicbkeits  •  Rechnu  ug  möchten  wir  uns  zum  Sehlnsse  noch  eine 
kleine  Bomerining  erlauben. 

S.  144.  Beispiel:  „In  zwei  Urnen  befinden  sich  Kugeln,  in  der  einen  ö  weiße 
nnd  7  schwarze,  in  der  andern  8  blane  und  4  grüne;  welche  Wahrseh^nliehkeit 
hat  man.  durch  einen  zunUligen  Griff  eine  grüne  Kugel,  und  welche  Wahr- 
sdieinlichkeit,  in  zwei  aufeinander  folgenden  Griffen  eine  grOne  und  eine 
weiBe  zu  bekommen?" 

14  2 

Die  Wahrscheinlichkeit,  eine  grilne  Kngcl  zu  ziehen,  ist      '  "7  —  7  • 

die.  in  zwei  aufeinander  folgenden  Griffen  eine  grüne  und  eine  weiße  zu  be- 
2      5  5 

kommen,  i(<t  — -  •        =  Allein  es  ist  nicht  angegelit-n,  ol»  die  Ordnung 

hierbei  festgesetzt  oder  willkürlich  ist,  d.  h.  ob  zuerst  grttn  und  dann  weü 
oder  umgekehrt  kommen  muss,  oder  ob  dies  gleichgUtig  sei.  In  letzteren  FUle 

6  ö 

ist  aber  die  Wahrscheinlichkeit  2  .  -gj-  =  Dieser  Umstand  sollte  her- 

vorgehoben sein. 

'^eUeicht  findet  sich  der  Verfesser  bewogen,  seinozeit  diese  wenigen  Be- 
merkungen zu  berücksichtigen.  Die  Absiclit,  seine  Leistungen  herabzusetzen, 
lag  uns  fem;  doch  es  ist  ja  alles  verbesserungsfähig,  nnd  da  das  ßuch  im 
Ganzen  tMVlich  ist,  so  haben  wir  es  um  so  HeMr  dner  gemauoen  Durchsicht 
unterzogen.  J.  H. 

VmatmrllMMr  BedMiMir:  IL  Stvia.         Bsolidnieka«!  Julia«  Kliakharit,  Latprig. 


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s.p««w  yteratnrblatt 

Beilage  zum  Faedagogium,  IV,  12. 


Atlas  der  Alpenfloni,  bereits  in  Nr.  4  diea«8  Blattes  besprochen,  woranf  vir 

verweisen.  Die  ims  seither  zugekommenen  neuen  Liefeniniren  enthalten  fast 
dorchaas  recht  geluDffene,  ja  geradezu  plastisch  aussehende  Abbildungen.  Wir 
sdien  »itlreiite  viaäSjfmaag  ier  FMuetasung  des  sehSiiniWalm  entgegen. 

a  B.  B. 

Die  Naturgeschichte  des  Cajus  Pliiiius  Secuiidus.  Ins  Deutsche 
übersetzt  und  mit  Anmerkungen  versehen  von  Pi-of.  Dr.  (i.  C.  Wittstein 
in  Mflnchen.  Leipzig,  Gressner  &  Schramm. 

Dieses  gediegene,  schon  in  seinem  Anlange  Ton  vns  mit  Frende  begrttBte 

Werk  (vgl.  Jahrg.  TTI.  Nr.  6  d.  BL)  ist  bis  zur  9.  Lieferung  furtgeschritten. 
Über  den  Inhalt  der  neuen  Lidinwigen  etwas  zu  sagen,  halten  wir  für  Uber- 
flttssig,  kSnnen  jedoch  die  Bemerkung  nicht  nnterdrSeken,  dass  wir  beim 

Durohstuflircn  uns  Uberzeugten,  dass  Pliniiis.  wie  so  mancher  andere  Ciassiker 
des  Alterthums,  zu  wenig  gewürdigt  wird,  indem  in  vielen  Partien  seines 
Werkes  neben  mancherlei  uns  alleMings  yeraltet  und  nahezu  absurd  £r;<chei- 
nendem  eine  Menge  von  Wahrln  iti  n  vorkommen,  auf  deren  Entdeckung  unsere 
Zeit  sicli  viel  einbildet.  Die  Alten  haben  oft  durch  ruhisres  Nachdenken  That- 
saciieu  erklärt,  welche  wir  durch  Experimente  nur  bestätigen  künnen.  Die 
zahlreichen  Anmerkungen  des  Herausgebers  helfen  auch  dem  minder  Bewan- 
derten über  viele  Schwierigkeiten  hinweg,  die  sonst  die  fließende  und  correcte 
Übersetzung  bieten  könnte.  Diese  Anmerkungen  sind  theils  geographische, 
theils  historische,  theils  natnrwissenschaftliche;  zum  Verständnisse  erscheinen 
besonders  jene  wertvoll,  welche  auf  andere  Stellen  des  Autors  hinweisen.  Die 
Ausstattung  ist  eine  TorzügUche.  C.  B.  B. 

Teehnlk  der  Experimentalehemle.  Anleitung  zur  AnsfOhrong  chemi- 
scher Experimente  beim  Unterrichte  an  niederen  und  hölieren  Schulen.  Fftr 
Lehrer  und  Stadirende  von  Dr.  Bodolf  Arendt   Leipzig,  Verlag  von 

Leopold  Voss, 

Von  diesem  von  uns  schon  in  seinen  ersten  zwei  Lieferungen  gewOrdigten 
Werke  ist  nun  nach  Vollendung  des  ersten  Bandes  vom  zweiten  Bande  die 
1.  und  2.  Lieferung  erschienen.  Die  Vorzüge  des  Werkes  stelle  sich  immer 
mehr  heraus.  Schfine  und  deutliche  Abbildungen  der  cliemischen  Experimente, 
ja  selbst  mancher  in  den  Bereich  der  Experimentali)hysik  gehörigen  Vt-rsuche 
machen  n^bet  einem  klaren  und  leichtverständlichen  Texte  jedermann  das  EX" 
perimentiren.  .sowol  in  den  dazu  nothwendigen  Vorbereitungen  als  in  der  Aus- 
lührung,  wahrhaft  leicht.  Nirgends  sind  die  für  den  Experimentator  und  llir 
das  Auditorium  nothwcndigen  Vorsichtsmaürogeln  ttbergangen.  Besonders  be- 
lehrond  sind  uucli  dif  stiichiometrischen  Bestimmungen.  Viel  Interessantes  für 
den  Mineralogen  enthalt  das  in  der  zweiten  Lieferung  begonnene  Capitel  von 
den  „Sabm".  Die  Ansetattung  des  Werkes  ist  TorzQglioh.  C.  B.  B. 

tirundriss  der  anorffaiiiseheii  Chemie  mit  Einschaltimg  zalüreicher 
Repetitionsfraireii  und  stöchinnietrischer  Aufgaben  für  mittlere  niid  höhere 
Schulen  und  Li  lirei'spniiuare.  Von  Dr.  Rudolf  Arendt.  2.  verb.  Auflage 
mit  62  in  den  Text  eiugednickten  Holzschnitten.  Leipzig,  Verlag  von 
Leopold  Voss,  188L  Fnis  4  ICark. 


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—   2  ~ 


Wir  haben  bei  anderer  Gelepeulieit  den  Verfasser  als  einen  tüchtigen  Tln'ore- 
tiker  der  Methodik  der  Cheniif  irt  würditrt  und  sehen  in  dem  vorliegenden 
Werke  die  jnaktisclH!  Anwenduiii;  -rintr  (iriiiid>ätze.  Ju-r  erste  oder  metho- 
dische Theil  des  Buclies  ist  nach  inductiver  Lehmietlin<h'  durchgeführt.  Ein 
Versuch  geht  stets  voraus,  so  diiss  er  liir  den  Schüler  das  Ubject  der  Beob- 
achtung bildet;  aus  dem  Versuche  leitet  sich  der  SchtÜer,  durch  den  Lebrer 
gefl\hrt,  dm  Ergebnis  ab.  Auf  den  methodischen  fulut  s<ulann  ein  systema- 
tischer Theil,  au  welchen  sich  theoretische  Schlussbetrachtungen  anreihen, 
welche  die  constanten  Atomgewichte,  Atom-  und  MoleculaigröBe.  mehrere 
chemische  Theorien  und  als  Aiilmng  eine  kurze  P.espn>ohnnc  der  Sjieotralanaljrse 
enthalten.  —  l;^r  Mittelschulen  ist  die  Anlage  des  Buches  etwas  weitgehend, 
es  iat  daher  sehr  anerkennenswert,  dass  dar  Yerfiuner  selbst  jene  AbKhnitte 
nnd  Flangraphe  bezeichnet,  welche  ohne  Srhäditrnnir  <hs  methodischen  Zn- 
sammenhuiges  in  solchen  Schulen  Übergangen  werden  können.  Die  an  die 
einzelnen  iUiscIinitte  angefügten  Bepetitions&agen  sbid  iOt  Lehrer  nnd  Sehlkler 
gleich  'ivertvoll:  auch  die  zahlreichen  Aufgaben  erhöhen  den  Wert  des  Buches 
bedeutend ,  wobei  noch  der  Umstand  in  die  Wagschale  tällt,  dass  es  sehr  gut 
ist,  dass  die  leichteren  von  den  schwierigeren  Aufgaben  dnrch  den  Dmdc 
unterschieden  sind.  Die  in  den  Text  gednickten  Abbildungen  sind  recht  gut 
ausgeführt,  nnd  überhaupt  ist  die  Ausstattung  des  Werkes  eine  sehr  nette. 
AQmi  Fachgenossen  sei  deshalb  das  Buch  angelegentlichst  enpfohlai. 

C>  S*  fi« 

Meyers  Faell-Loxika.    1.  Lexikon  der  allgemeinen  Weltgeschichte 

von  Dr.  K.  Hermann.     2.  Lexikon  der  Geschichte  des  Alterthnms 

nnd  der  alten  Geographie  von  Dr.  Heinrieh  Peter.   Leipzig,  Biblio- 

graphiachea  Inatitat,  1882. 

Auch  die  beiden  genannten  Lexika  werden  wie  die  bereits  erschienenen 
durch  ilir  bequemes,  handliches  Format,  durch  die  geschickte  Auswahl  des 
Stoffes  und  die  für  den  ersten  Moment  vollkommen  ausreichende  Breite  in  der 
Kehandlung  desselben  in  kürzester  Zeit  ein  nur  ungern  vermisstes  l.'tensil  des 
Schreibtisches  bilden.  Die ,  biographische  Form  der  Darstellung  sowie  die  in 
Zusammenhang  gegebenen  Übersichten  über  die  Geschichte  der  einzelnen  Staaten, 
VlHker,  ja  Städte  lassen  das  Lexikon  der  allgemeinen  Weltgeschichte 
hesnuders  Lehrern  willkommen  erscheinen,  ähnlich  wie  dem  Zeitungsleser  die 
Vom  uatioualliberalen  Standpunkte  geschriebenen  eingehenden  Biographien 
historischer  Persönlichkeiten  der  Gegenwart  Eine  zweite  Auflage  könnte  eine 
Übersicht  der  Entwickelung  des  Pnpstthnms  nnd  des  englischen  Verfassungs- 
lebeus  nachtragen  und  hier  und  da  auch  einiges  in  formeller  Beziehung  ver- 
bessern (vergl.  z.  B.  den  Artikel  „Conaiü").  —  Das  Lexikon  der  Geaehichte 
des  Alterthnms  ist  Studirendcn  7u  empfehlen,  denen  es  weisen  seiner  ]^nik- 
tischen  Einrichtung  bei  der  Lectüre  der  alten  Classiker  gute  l'ituste  leisten 
wird.  Es  enthält  neben  den  specicU  historischen  Artikeln  auch  die  Biographien 
der  classischen  Schriftsteller  nnd  eine  erschöpfende  Darstellung  der  alten  Ge«»- 

Sraphie.  Da  in  der  Aulfassung  vieler  antiker  Persönlichkeiten  und  That.-;acht  n 
[einnngBverscbi^enheiten  unter  den  Gelehrten  herrschen,  dürfte  es  sich  oi:;- 
pfehlen,  auch  die  strittigen  Punkte  jedesmal  /u  bezeichnen,  damit  das  Bach 
an  Brauchbarkeit,  besonders  für  den  Lehrer,  noch  mehr  gewönne.  W. 

J.  Helmes,  Professor  am  Gymnasium  zu  Celle  a.  D.  Die  Elemeutar-Maihe- 
matik  nach  den  Bedttrftaiasen  dea  Untenichta  streng  wisaenBcbaflUch  dar> 
gestellt  Dritter  Band:  Die  ebene  Trigonometrie*  Zweite  Auflage. 
Hannover,  Hahn,  1881.   249  Seiten.   2,40  M. 

Das  vorliegende  Buch  zeichnet  sich  ans  durch  (Gründlichkeit  nnd  Klarheit 
des  Vortlages  nnd  dnrch  Fülle  des  Stoffes  m  jeder  Beziehung,  namentlich  auch 


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—  3  — 

durch  die  JleiJge  und  ilbersiehtliche  Zusammenfassung  der  Aufgaben  und  thueh 
die  Mittheilung  seltener  historischer  Nachrichten,  welche  weit  über  die  Schule 
hinaiis  zu  interessiren  vermögen.  Es  verdient  daher  eine  hervorraiiende  Be- 
achtung gegenüber  irielen  fthnlichen  Titebi,  welche  den  Maikt  nnbegehrt 
IIb  erll  Uten. 

Der  Verf.  nennt  sein  Buch  ein  „Lehrbuch-,  in  welchem  der  Schüler  den 
Unterrichtsstoff  in  vollständig  ausgearbeiteter  Form  so  dargestellt  findet,  wie 
er  ihn  schließlich  sich  aneignen  und  behalten  soll.  Wir  haben  aläo  hier  im 
Gegensätze  zu  den  häufig  .«ehr  oberflächlich  aufgeführten  LeitfKden  ein  Buch 
vor  uns,  welches  den  behandelten  Stoß"  einer  vollständigen  Dnrcbarbeitung  unter- 
zieht, uml  welches  ferner  eine  .soUhe  Menge  Unterrichts-Material  liefert,  dass 
dasselbe  in  täncni  Curüiis  nicht  aufgearbeitet  werden  kann. 

Das  Biu'li  gliedert  sich  in  die  Goniometrie  in  Bezug  auf  si)it7.e  Winkel  nebst 
der  Auflösung  rechtwinkeliger  und  gleichschenkliger  Dreiecke,  femer  in  die 
Goniometrie  filr  Winkel  in  allen  Quadranten  nebst  der  Auflösung  schiefwinke- 
b'ger  Dreiecke,  und  endlieh  in  einen  Anhaiii:;.  l-r  wieder  in  drei  Abschnitte 
zerfUUt:  deren  erster  behandelt  die  Anwendung  der  Trigonometrie  auf  Aufjg;aben 
der  Planimetrie,  der  praktischen  (teometrie  imd  der  Physik;  der  zweite  den 
(lebraiH'h  des  Hilfswinkels  für  Herstellung  der  Gauss'schen  Ldgarithmen  und 
zur  Auflösung  quadratischer  und  kubischer  Gleichungen;  der  dritte  die  Auf- 
lösungen von  Dreiecken  nach  dem  Almagest  des  Ptolomäus. 

Zu  loben  ist  der  reiche  Inhalt  des  Burhes:  wir  fanden  in  demselben  gebam- 
melt, waä  uus  bisher  nur  als  au  verschiedenen  Orten  zerstreut  bekauut  war, 
und  das  Herrwlieben  des  Wesentlich«!  der  Sache;  fo  dieser  Besiehun^  wollen 
wir  besonders  dem  §  90  Anerkennung  zhUph.  w.  lf  hrr  die  Dreiecks- Auflösung 
in  allen  FäUra  auf  zwei  Gieichungeu  übereiustiuuueuder  form  zurückführt. 
Dagegen  kSnnten  wir  uns  mit  der  Zatheihmg  der  Goniometrie  nieht  einrer- 
standen  erklären.  Die  Einheit  der  Form  wird  zerstört,  un<l  dies  ist  entschieden 
ein  didaktischer  Fehler;  zugleich  entstehen  unnötliige  Wiederholungen,  und  es 
wird  ein  zeitravhendee  Hemmsuchen  yeranlasst.  Die  scbwRchste  Stelle  des 
Buches  ist  die  goiiioiiietrisclie  Auflösung  von  Gleichungen.  Schon  bei  den  qua- 
dratischen Gieichungeu  wird  die  an  sich  ziemlich  ein£Eu;he  Sache  durch  eine  er- 
müdende Weitlftufigkeit  in  die  Breite  geTiogen.  Die  Auflösung  der  kubischen 
Glei<  liiiiitren  wird  auf  nenn  Seiten  nach  einer  Methode  dargelegt,  welche  dem 
Verlasser  zwar  nicht  allein  angehört,  aber  noch  wenig  bekaiint  ist.  Diese 
Methode  entbehrt  nicht  des  wissenschaftliehen  Interesses,  wol  aber  der  prak- 
tischen Y»»rweudbarkeit,  denn  sie  erfordert  zwei  Hilfsmittel,  welche  unter  sich 
und  mit  der  Unbekannten  nicht  in  einfacher  Beziehung  stehen.  Wir  möchten 
dodi  bei  den  quadratischen  Gleichungen  eine  etwas  gedrilngtere  Form  empfehlen, 
und  bei  den  kubisdien  Gleichungen  ratheu,  die  „herkömmliche  Auflösung  des 
ineducibleu  Falles*'  an  die  erste  Stelle  zu  setzen.  H.  £. 

Kunz,  Aus  dunklen  Tiefen  zum  Sonnenliclit.  Berichte  Uber  die 
Ausgrabunsren  der  Neuzeit.  Leipzig  und  Herlin.  Spamer.  1882.  (194  S.) 

£s  ist  schade,  dass  der  Autor  seinem  Buche  einen  äo  ge;>chmacklosen,  bom- 
bastischen Titel  Torangestellt  hat.  Haneher  konnte  von  der  Art  des  Titdt  auf 

die  Art  des  Buches  schließen  und  dasselbe  ungelesen  lassen.  T'nd  das  verdiente 
es  keinenfalls;  denn  es  berichtet  iu  ebenso  klarer  als  gewissenhafter  Weise 
Uber  jene  so  mnzig  dastehenden  Ausgrabungen  auf  dem  Boden  Griechenlands, 
Kleinasiens  und  Italiens,  welche  in  den  letzten  zehn  Jahren  unteriK  niiiien  wurden 
und  Uber  welche  uus  bislang  nur  hüchst  kostspielige  und  umfangreiche  wissen- 
schalUiche  W«rke  genane  Kunde  verschafft  haben.  Dasu  kommt  noch,  dase 
dem  Buche  Cd  Illustrationen  beigegeben  sind.  die.  den  großen  Originalwerken 
entlehnt,  Uber  hundert  der  aufgedeckten  Objecto  bildlich  darstellen.  Von  diesen 
Ausgrabungen  sprechen  noch  nicht  die  Kunstgeschichten,  und  es  wird  wol  noch 
gennune  Zeit  währen,  ebe  ein  zweiter  Winckolmanu  die  Stellung  der  meisten 
und  wichtigsten  innerhalb  des  Kähmens  der  £ntwickelung  der  griechisch-orienta- 


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_   4  — 


Iis.  Ik'u  Kunst  Mird  unantastbar  oruirt  haben.  Obwol  den  weiteren  Kreisen  zu- 
meiüt  nur  durch  lückenhafte  Zeitungsberichte  Kenntnis  tou  ihrer  Art  gebracht 
wurde,  nehmen  sie  jetzt  schon  das  Interesse  der  GebQdeten  vollauf  in  Absprach. 
Ein  zusammenfassender,  an  die  Originalwerke  sich  anschließender,  illnstrirter 
Bericht,  wie  ihn  das  vorii^nde  Buch  bietet,  kommt  daram  thattfchlicb  einem 
Bedürfnis  eutgegen. 

Das  Buch  von  Kunz  zerflUlt  in  neun  Capitel  und  behandelt  im  (^pitel  I  und 
II  die  Ausgrabungen  Sehliemanns  in  Mykenii  und  Trnja.  die  Anffinduna:  der 
Gräber  der  Pclopiden  (Ai^amenmons  und  seiner  Familie Vj  sowie  des  Schatzes 
des  Priaini>>  wie  Schlieniaun  vermuthet);  femer  im  Gap.  III  die  englieehea 
von  Lciyard,  Botta  und  Honnuzd  {geleiteten  Ausgrabungen  der  Pala,struiuen  von 
■  Niuive  und  Umgebung  und  dieivun  L'esnola  mit  ebensoviel  Umsicht  als  Schlau* 
heit  geführte  Durchsuchung  der  Ruinen  und  Grftber  anf  Cypern  (Gap.  TV), 
dann  (im  Cap.  Vi  die  Resultate  der  beiden  von  Österreich  ausgesandten  Expe- 
ditionen nach  Samothrake,  endlich  im  Cap.  VI  die  alle  Erwartungen  Uber- 
treffenden deutseben  Auslobungen  in  Olympia  (ISSSSeulptnien,  Im  Bronse, 
696  Inschriften.  2935  Münzen  etc.).  Daran  reüit  sich  in  ebenbürti^n  r  Weise 
(Cap.  VII)  die  Erzählung  von  der  Auffindung  d^  Zeusaltars  in  Pergamum, 
dessen  groBartiirer  Fries  soeben  im  Berliner  Museum  «nammengeetetlt  wild 
und  der  neben  der  Schliemamiscben  Sehenkuni?  die  Hauptstadt  des  deutschen 
Kelchs  zu  einer  Centrale  der  autiken  Kunst  mit  eiuem  Schlage  erhoben  hat.  — 
Cap.  VIII  schildert  die  jüngsten  Ausgrabungen  in  Pompeji  und  Cap.  IX  die 
von  Bismarck  ins  „Werk  gesetzte  Expedition  der  Prof.  Sepp  nnd  H.  Prutz  zur 
Auffindung  und  Übertragung  der  Gebeine  Friedrich  Barbarossas  ans  Tyrns 
nach  Deutschland.  — om — 

Bnrmayer,  Einfilhruii?  in  die  deiitselie  09tter>  nnd  Helden- 

nge.    Niü-nberg,  Korn.  (56  S.)  Preis  80  Pf. 

Das  Bnrblein  iimfht  den  Versuch,  die  »;:ermanische  Götter-  und  Heldensage 
auf  ihre  ursprüngliche  Bedeutuug  zurückzuführen.  Es  fasst  die  erste  als  Alle- 
gorisirung  der  Vorgänge  in  der  Natur  auf,  insbesondere  des  Xaturlebens  im 
Kreisläufe  des  Taijes  und  der  Xaelif.  des  Sommers  und  des  Winters.  Indem 
der  Verfasser  dem  Mythus  dessen  Deutung  gegenüberstellt,  von  Zeit  zu  Zeit 
anch  Iftngrere  erUftrende  Bemerkungen  einsenaitet,  gibt  er,  im  Anscblusse  an 
Simrock.  (trimm  und  Hahn  (Sagwisseuschaftliche  Studien\  ein  klares  Bild  beider. 
Viele,  die  z.  B.  den  altgermanischen  Erzählungen  von  der  Entstehung  der  Welt 
ratblos  gegenttbersteheo«  kOnnoi  hier  bequeme  Bddirong  ilnden.  8.  18  ist  eil 


Bilder  zur  deutsclieii  Oescliiehte.    (Zweite  Sammlung.)    30  Blätter, 
(gr.  Fol.)  Dresden,  Meiuhold  &  Söhne.    Preis  18  Mark. 

Die  vorliegeuden  Tafeln.  Holzschnitte  in  jener  derbkräftigen  Planier,  wie  sie 
Dürer  liebte  und  in  neuerer  Zeit  von  Schnorr  v.  Carolifidd  in  seiner  Bibel  und 
nm  AUr.  liethel  in  seinem  Todtentanz  mit  (JliU-k  erneuert  wurde,  wollen  jene 
Ergänzung  der  Lücken  sein,  die  bei  der  Benutzung  der  „ersten  Sammlung-  im 
Unterrichte  gefühlt  wurden.  Die  Bilder  sind  Reproductionen  berülimterOemSide 
von   Schwind,   Trenkwald,   Pletseli.   Bendemann.   Steinle.  Cam])- 
hausen  und  anderen  Meistern.  Die  aus  der  iiltereu  Geschichte  erscheinen,  weil 
rie  in  Carttmmanier  gezeichnet  sind  und  Liebt-  und  Färbenefiecte  ignoriren, 
viel  plastischer  uls  dir  ans  der  neuesten  (teschichte.  Fi\r  {'ist erreichisrhe  Schulen 
eignet  sich  wegen  des  Inhalts  höchstens  eine  Auswahl  aus  der  Sammlung. 

Der  beigegebene  erlSntemde  Text  Ten  Reiehardt  (63  S.  Preis  76  Pf.)  be«ehi«{bt 
aumeist  uiii  (  in  paar  Strichen  den  rics^enstand  des  Bildes,  erzählt  dann  in  popu- 
lärer, schlichter  Weise  den  Verlauf  der  dargestellten  Handlung  tmd  wird  in 
derTbat  dem  Gesehicbtslebrer  eine  ..gern  gesehene  Handreichung*'  sein.  W. 


VerantwortUclior  Bciiactcur;  iL  Stein.  Bucbdruckerei  Julius  Klinkhurdt,  Leipiic^ 


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