Vorlesungen
über theoretische Physik
Hermann von Helmholtz, Otto Krigar-Menzel, Franz
Richarz. Carl Runge, Max von Laue
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Vorlesungen
über theoretische Physik
Hermann von Helmholtz, Otto Krigar-Menzel, Franz
Richarz. Carl Runge, Max von Laue
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Vorlesungen
über theoretische Physik
Hermann von Helmholtz, Otto Krigar-Menzel, Franz
Richarz. Carl Runge, Max von Laue
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Vorlesungen
über theoretische Physik
Hermann von Helmholtz, Otto Krigar-Menzel, Franz
Richarz. Carl Runge, Max von Laue
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VORLESUNGEN
ÜBER
THEORETISCHE PHYSIK
VON
H.' von HELMHOLTZ.
HERAUSGEGEBEN VON
ARTHUR KÖNIG, OTTO KRIGAR-MENZEL, FRANZ RICHARZ, CARL RUNGE.
BAND I.
ABTHEILUNG t.
EINLEITUNG ZU DEN VORLESUNGEN ÜBER THEORETISCHE PSYSIK
ARTHUR KÖNIG ukd CARL RUNGE.
LEIPZIG,
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH.
1903.
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HKRMANN von HKI.MHOLTZ.
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EINLEITUNG Zü DEN VORLESUNGEN
ÜBER
THEORETISCHE PHYSIK
>*.*VON
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h: von helmholtz.
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HERAUSGEGEBEN VON
ARTHUR KÖNIG und CARL RUNGE.
LEIPZIG,
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH.
1903.
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0
Vorwort.
Im Herbst 1893 bat Hklmholtz den Cyklus von Vorlesungen
Ober theoretische Physik mit der vorliegenden Einleitung begonnen,
die mein verstorbener Freund A. König herauszugeben übernommen
hatte. Bei seinem Tode war etwa der erste Bogen in Fahnen
gesetzt. Ich habe die Arbeit zu Ende geführt, indem ich mich,
} soweit es möglich war, an den wörtlichen Ausdruck der steno-
graphischen Nachschrift gehalten habe.
Hannover, Mai 1903.
c.
180991
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Inhalt.
Einleitung.
j-- L- Iii
S 1
1
8 2
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Eratnr Abschnitt.
IM* mpthodolofrlM^hpri PrlnciDien
1 U 1. tJ' '■' U U 1 U^, l-n*. II« II A 1 1M\.I|I1( II.
§8.
5
8 4.
7
8 5.
86.
tl
8 7.
18
8».
Die Vollständigkeit der wissenschaftlichen Erfahrungen und ihr»»
19
Zweiter Abschnitt
Die Grundlagen der mathematischen Darstellung.
8*-
Die Darstellung der Erscheinungen in Integralen und Differential-
22
§10.
Der Begriff der Gleichheit
26
9 ii.
28
8 12-
Der Begriff des Zählen» und die Gesetze der Addition
•29
818.
Die irrationalen Zahlen und die continuirlich veränderlichen GroTsen
36
8 14.
Verknüpfungen von Gröfcen zu ungleichartigen Gröfsen . . . .
40
8
41
S 16.
Die Additiou von Strecken und anderer complexer Grüfseu . . .
42
8
47
uigmzea Dy VjOO^il
EINLEITUNG.
§ 1. Die Philosophie und die Naturwissenschaften.
Zwischen Philosophie und Naturwissenschaft hatte sich in der
ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, namentlich unter dem Einflufs der
Schellin o - HuGEi/schen Identitätsphilosophie, ein wenig erfreuliches
Yerhältnifs entwickelt Die Ursache lag wesentlich in dem tief-
greifenden Gegensatz der Methoden, die einander gegenseitig ihre
Berechtigung bestritten. Die Spannung dauerte aber in ihrer ersten
Bitterkeit nicht lange. Die Naturwissenschaften erwiesen vor Jeder-
manns Augen durch eine schnell auf einander folgende Reihe glänzen-
der Entdeckungen, dafs ein gesunder Kern ungewöhnlicher Frucht-
barkeit in ihnen wohne und es konnte ihnen daher Achtung und
Anerkennung auch von ihren principiellen Gegnern nicht dauernd
versagt werden.
Dafs zu allen Zeiten die Menschen bemüht waren, eine, wenn
auch schematische Kenntnifs des ganzen Zusammenhanges des Uni-
versums zu gewinnen, ist natürlich. Da nun die Erforschung der
Thatsachen langsam geht und man andererseits in der Mathematik
sah, dafs man auf Grund der gemeinsten alltäglichen Erfahrung,
allein durch die Kraft des Denkens sehr allgemeine Gesetze finden
konnte, so versuchte man es auch auf dem Gebiete der Erforschung
naturwissenschaftlicher Gesetze mit dem sogenannten reinen Denken,
mit der Speculation.
Die Täuschungen und Irrthümer, welche auf diesem Wege
notwendiger Weise nicht zu vermeiden waren, da man Abstracta
und grammatikalische Ausdrücke als Realien behandelte und Re-
sultate der ungeprüften Erfahrung als Denknothwendigkeiten ansah,
haben eine Zeit lang die Philosophie in Verruf gebracht Doch ist
man darin viel zu weit gegangen; denn jedenfalls ist sie bei der
Kritik der Methoden auch in den Naturwissenschaften berechtigt
Wir müssen doch das Instrument untersuchen, mit dem wir arbeiten.
H. t. Hklmholtz, Theorat. Physik. Bd. I, 1. I
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2
EINLEITUNG.
§1.
Die Kritik der Methoden kann solange vernachlässigt werden,
als man sich auf die Anwendung solcher Methoden beschränken
kann, die sich bereits durch ihren Erfolg als richtig bewährt haben.
Naht sich die Forschung solchen Grenzen, wo es zweifelhaft wird,
ob die auftretenden Schwierigkeiten dem Stoffe oder der Unzuläng-
lichkeit der Methode zuzuschreiben sind, so mufs jene Kritik ein-
treten. Daher ist neuerdings auch von den Naturforschern viel über
philosophische Fragen discutirt worden. Es zeigt sich aber auch
hierbei, dafs die Besprechung einzelner sporadischer Punkte wenig
nützt; es mufs systematisch vorgegangen, untersucht und von Grund
aus aufgebaut werden.
Weil nun in der systematischen Darstellung der Physik, als
der Lehre von den allgemeinen Eigenschaften der Naturkörper, der
deshalb nicht unpassend bei den englisch redenden Völkern der
Name der „Natural Philosophy" geblieben ist, es mehr wie in irgend
einem andern Zweige der Naturwissenschaft am Orte ist, allgemeine
Gesichtspunkte an die Spitze zu stellen, so will ich hier zunächst
die allgemeinen logischen und erkenntnifstheoretischen Principien
in der wissenschaftlichen Methodik der Erfahrungswissenschaften
vortragen, obschon ich dadurch von der allgemeinen Gepflogenheit
ziemlich abweiche; denn für gewöhnlich verliert man bei dem Vor-
trage einzelner Zweige der Wissenschaften auf den Universitäten
nicht viel Worte über die logischen Grundsätze, die den Unter-
suchungen, an die man herantritt, zu Grunde liegen.
Zu meiner persönlichen Rechtfertigung möchte ich darauf hin-
weisen, dafs ich aus langer Praxis eine ausgedehnte Kenntnifs über
die zu behandelnden Probleme besitze und auch einige Erfahrung
über die leichteste Beseitigung der bei naturwissenschaftlichen Ar-
beiten auftretenden Schwierigkeiten gewonnen habe. Da die Philo-
sophen, bei denen ich mir Rath holen wollte, ihre Untersuchungen
meist erst bei dem Wissen anfangen, was bereits in Worten aus-
gedrückt werden kann und die davorliegenden Processe des Sammeins
von thatsächlicher Erfahrung meistens gar nicht oder doch nur
vom Hörensagen kennen, so habe ich mir selbst helfen und mir
die Dinge vielfach in eigener Weise zurecht legen müssen.
§ 2. Die physikalischen Wissenschaften.
Ehe wir aber zu einer näheren Darlegung der methodolo-
gischen Principien übergehen, müssen wie uns zunächst mit der
Abgrenzung und dem Inhalte derjenigen Wissenschaften beschäftigen,
§ 2. DIE PHYSIKALISCHEN WISSENSCHAFTEN. 3
zu denen die nachfolgenden Betrachtungen als Einführung zu dienen
bestimmt sind.
Die Physik können wir als die Lehre Ton den allgemeinen
Eigenschaften der Naturkörper definiren. Unter diesen allgemeinen
Eigenschaften sind hier aber nicht nur diejenigen Eigenschaften zu
yerstehen, die allen Naturkörpern ausnahmslos gemeinsam sind, son-
dern auch solche, welche nur grofsen ausgedehnten Klassen von
ihnen zukommen. Als physikalische Wissenschaften bezeichnen wir
diejenigen Wissenschaften, deren geistiges Geschäft zwar mit der
Art der geistigen Arbeit in der Physik übereinstimmt, aber sich zum
Theil nur auf eine eng begrenzte Klasse von Körpern oder manch-
mal auch nur auf bestimmte einzelne Körper und Körpersysteme be-
ziehen. So hat z. B. die Chemie die Aufgabe die besonderen Eigen-
schaften zu erörtern, durch welche sich die einzelnen Elemente oder
ihre Verbindungen von einander unterscheiden. In anderen Zweigen
der physikalischen Wissenschaften werden nicht die unterscheidenden
Eigenschaften sondern die Veränderungen besprochen, welche wir
an bestimmten einzelnen Naturkörpern oder Systemen von Natur-
körpern beobachten. Zu diesen zählt z. B. die Astronomie. Sie er-
örtert die Kräfte und die Bewegungsvorgänge, welche wir an den
Himmelskörpern wahrnehmen. Eine andere Wissenschaft, die phy-
sikalische Geographie, bespricht die Vorgänge am Erdkörper, so-
wohl solche, welche den ganzen Erdkörper, als auch diejenigen, die
nur grofse ausgedente Theile desselben betreffen. Die Meteorologie
behandelt die Erscheinungen und Vorgänge in unserer Atmosphäre.
Es sind dies also alles spezielle und gesonderte Zweige, die zur
Klasse der physikalischen Wissenschaften gehören, und die in Be-
zug auf die Methode der Behandlung mit der Physik übereinstimmen
und die man daher auch wohl als PhyBik im weitesten Sinne be-
zeichnen könnte.
Die Physik in engerem Sinne, das was wir oben als Physik
schlechthin bezeichneten ist also diejenige Wissenschaft, welche die
allgemeinen Eigenschaften der Körper oder vielmehr aller Körper
bespricht und kennen lehrt. Sie zerfällt in zwei gröfsere Abthai-
lungen, welche gewöhnlich gesondert von einander behandelt werden.
Man pHegt sie als theoretische Physik einerseits und Experimental-
physik andererseits zu bezeichnen. Beide unterscheiden sich von
einander sehr wesentlich durch die Art der geistigen Arbeit, welche
bei den Untersuchungen angewendet wird; und so lange man mehr
auf die äufserliche Art der geistigen Arbeit bei den einzelnen
Wissenschaften geachtet hat, ohne das eigentliche Wesen dieser
1*
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4
EINLEITUNG.
Arbeit genauer zu Untersachen, war man geneigt, die theoretische
Physik, die wohl auch als mathematische Physik bezeichnet wurde,
streng und scharf von der Experimentalphysik zu trennen. Prak-
tisch sondern sich in der That diese beiden Zweige der Physik oder
genauer gesprochen diese beiden Behandlungsweisen in der Physik
insofern, als von den Beobachtern und Studirenden die Einen mehr
geneigt sind, experimentelle Untersuchungen zu machen, weil sie
dazu besondere Geschicklichkeit haben, und über diejenige Art von
Phantasie verfügen, die erforderlich ist, um neue lehrreiche Experi-
mente aufzufinden, während die Anderen sich mehr bei der theore-
tischen mathematischen Seite der Arbeit befriedigt fühlen und darin
auch geschickter sind. Es ist aber nicht zu vergessen, dafs die
mathematischen Kenntnisse und die Uebung in der mathematischen
Behandlung physikalischer Aufgaben eine wesentliche Rolle für Jeden
spielen, der sich der Physik widmet, gleichviel ob er den Schwer-
punkt seiner Thätigkeit mehr dem Experiment oder der Rechnung
zuwendet.
Man wird bei weiterem Eindringen in die Physik allerdings von
rein praktischen Gesichtspunkten aus gut thun, sich darüber zu
entscheiden, ob man der einen oder der anderen Richtung folgen
will und dementsprechend der einen oder anderen Richtung mehr
Fleifs zuwenden. Doch mufs gleich von vorn herein betont werden,
dafs Experimentalphysik ganz ohne mathematische Physik eine sehr
ong begrenzte Wissenschaft ist und wenig Einsicht in den Vorgang
der physikalischen Erscheinungen giebt, während das Umgekehrte,
mathematische Physik ohne Experimentalphysik ebenfalls eine ziem-
lich lahme und unfruchtbare Wissenschaft sein würde, weil man
nicht wohl thut, Theorien über Naturvorgange zu machen, ehe man
diese Vorgänge aus eigener Anschauung kennen gelernt hat
Man pflegt bei der systematischen Darstellung [der verschiedenen
Wissenschaften gewöhnlich nicht viel Worte und Betrachtungen über
die logischen Grundsätze zu verlieren, die den Untersuchungen, an
die man herantritt, zu Grunde liegen; aber gerade bei der Physik
ist dieses doch bis zu einem gewissen Grade nothwendig.
Erster Abschnitt,
Die methodologischen Principien.
§ 3. Kritik der alten Logik.
Die Lehre vom wissenschaftlichen Denken, die Logik, ist uns,
nachdem sie von Abistoteles entwickelt worden, durch die
scholastischen Philosophen des Mittelalters Überliefert und seitdem
in der Hauptsache stehen geblieben. Sie spricht, wie oben schon
erwähnt, nur von dem Wissen insofern es in Worten ausgedrückt
ist und dieses Wissen tritt in der Form eines Urtheils auf. Ein
Urtheil erscheint grammatikalisch als Satz, der zwei Begriffe, Subject
und Prädicat verbindet Neue Urtheile werden durch Schlüsse
gewonnen.
Wir brauchen dabei einen allgemeinen Satz, den wir bezeichnen als
den Major des Schlusses, und einen speciellen Satz, den Minor, welcher
letztere sich nur auf einzelne Objecto zu beziehen braucht, sogar
unter Umständen nur auf ein einziges Object, während der Major
zu einem allgemeinen und vollkommen sicheren Schlüsse nur ge-
braucht werden kann, wenn er einen allgemeinen Satz ausdrückt,
der für alle Objecto einer gewissen Klasse giltig ist Nun wird in
der Logik, wie sie gewöhnlich als Theil der philosophischen Wissen-
schaften vorgetragen wird, über die Herkunft des Major und des
Minor gewöhnlich keine Auskunft gegeben. Es wird vorausgesetzt,
dafs dergleichen Sätze gefunden werden können, und die Auseinander-
setzungen in der Logik beziehen sich nur auf die Art der Ver-
bindung zwischen ihnen und auf die Grenzen des Schlusses, welche
man aus gegebenem Major und Minor ermitteln kann. Deshalb be-
schränkt sich die gewöhnliche Logik darauf, die Wege und Methoden
anzugeben, wie man aus gewissen bekannten und gegebenen Sätzen
neue Sätze finden, d. h. wie man den Schlufs, die Conclusio ziehen
könne ; sie giebt aber keinen Aufschlufs darüber, wie man nun zu
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6 ERSTER ABSCHNITT. § 3.
den ursprünglichen Sätzen, dem Major und dem Minor, gelangt ist.
In der Regel sind dieses ja Sätze, die durch eine andere Autorität
gegeben sind. In solchen Fällen ist die Bildung der Conclusion
niemals die Erzeugung einer neuen Wahrheit Das tritt noch klarer
hervor, wenn man überlegt, dafs der Regel nach der Major gar
nicht mit Sicherheit aufgestellt werden kann, wenn man nicht schon
weifs, dafs auch dasjenige Object, welches in dem Minor genannt
ist und welches das Subject des Minor bildet, unter den Major
gehört, und dafs der Major auch in Bezug auf dieses Subject richtig
ist Wenn man nun den Major nicht selbst aufgestellt hat, also
nicht unabhängige Quellen für die Richtigkeit des Major besitzt
wird durch den Schlafs nachher weiter nichts mehr gesagt a l ß dafs
das Object unter den Major gehört also dasselbe behauptet was man
eben vorher schon wissen mufs, ehe man überhaupt den Major auf-
stellen kann. In diesem Sinne ist auch der Name der Logik, welcher
ja ursprünglich Sprechkunst bedeutet, vollkommen gerechtfertigt
Denn in der weitaus gröfsten Mehrzahl der Fälle sind die ursprüng-
lichen Sätze, von denen man ausgeht auf schriftlichem oder münd-
lichem Wege überliefert, und die alte, gewöhnlich vorgetragene
Logik ist im Wesentlichen nichts anderes, als eine Anweisung darüber,
wie man diese Sätze richtig auszudrücken hat, sodafs sie den ver-
langten Sinn erhalten, und dafs derjenige, welcher sie verstehen
will oder soll, den richtigen Sinn mit ihnen verbindet Sie ist also
im Wesentlichen weiter nichts als eine Anweisung für den Einen,
richtig zu sprechen, für den Andern, richtigen Sinn den gesprochenen
Sätzen unterzulegen. Es kommt also in dieser ganzen Reihenfolge
von logischen Operationen nichts von Erzeugung neuer Kenntnifs
vor; während wir, in fundamentalem Unterschiede dazu in den
Naturwissenschaften Kenntnisse zu gewinnen haben, die bisher noch
nicht gewonnen sind, und welche uns kein Anderer auf seine
Autorität hin mittheilen kann. Wenigstens sind es gerade dergleichen
bis dahin unbekannte Sätze, welche den Haupttheil der Natur-
wissenschaft und ihr wichtigstes Element bilden. Daher weichen
auch die Denkoperationen, welche wir bei den Ueberlegungen in
der Naturwissenschaft auszuführen haben wesentlich ab und zeigen
einen bestimmten fundamentalen Unterschied von denjenigen Denk-
operationen, welche in der bisherigen Logik an überlieferter Weis-
heit vorgenommen werden. Es ist daher nothwendig, zunächst
einige kurze Auseinandersetzungen über das logische Geschäft zu
machen, welches wir in den naturwissenschaftlichen, physikalischen
Untersuchungen auszuführen haben.
8 4-
DIE HEGRIFFE UND IHRE CONNOTATIOXEX.
7
§ 4. Die Begriffe und ihre Connotationen,
Das Ziel der physikalischen Wissenschaften müssen wir darin
sehen, die Naturerscheinungen zu begreifen. „Begreifen" aber heifet:
Begriffe bilden. Wenn wir nun die Bildung der Begriffe, die Ueber-
ordnung und Unterordnung derselben kennen lernen wollen, so giebt
uns dafür die gewöhnliche Logik folgendes Verfahren an. — Wir
fassen zunächst diejenigen Objecte zusammen, die sich in gewisser
Beziehung gleich verhalten und bestimmen durch eine Charakteristik,
die man als die Definition dieser Klasse zu bezeichnen pflegt, die-
jenigen Objecte, welche wir zu der Klasse rechnen wollen. Das
Aufstellen der Definition besteht also darin, denjenigen Complex von
Eigenschaften zu finden, welcher nothwendig bei allen Objecten der
Klasse vorhanden ist Wenn man in dieser Weise einen solchen
Complex von Eigenschaften gefunden hat, welcher allen Objecten
der betreffenden Klasse zukommt und hingegen bei allen Objecten,
die man zu anderen Klassen rechnen will, fehlt, so ist damit die
Abgrenzung dieser Klasse von Objecten von allen andern Objecten
gegeben: sie sind zu einem Begriffe zusammengefafst. Das ist die
gewöhnliche Beschreibung der Bildung der Begriffe nach den Er-
fordernissen der gewöhnlichen Logik. Nun hat aber John Stuaht
Mill auf einen wesentlichen Unterschied aufmerksam gemacht, der
zwischen den verschiedenen Merkmalen besteht, welche zu den
Definitionen des Begriffes gebraucht werden. Es tritt besonders in
den naturgeschichtlichen Wissenschaften sehr deutlich hervor, dafs
man in einer aufserordentlich grofsen Zahl von Fällen aufser den-
jenigen Merkmalen, die zur Definition einer Klasse oder einer Art,
also des Begriffes, ausreichen und nothwendig sind, noch andere
Merkmale findet, die bei allen Einzelwesen der betreffenden Art
oder Klasse vorkommen. An einem Beispiele können wir uns diese
Eigenthümlichkeit leicht klar machen. Wählen wir dazu den Be-
griff „Säugethier". Wir können die Klasse der Säugethiere dadurch
begrenzen, dafs wir definiren: „Säugethiere sind Thiere, welche
lebendig geboren und von ihren Müttern gesäugt worden sind." Da-
durch würden wir alle übrigen Thiere, alle Vögel, Amphibien u. s. w.
ausschliefsen. Nun findet sich, dafs aufser dieser Eigenthümlichkeit
ihrer Ursprungsweise und jugendlichen Ernährungsart noch eine
Reihe von anderen Eigenthümlichkeiten des anatomischen Baues
ezistirt, welche ebenfalls allen Säugethieren gemeinsam ist. Wir
finden nämlich bei allen, dafs sie warmblütig sind, dafs sie einen
doppelten Blutkreislauf haben, indem das Blut, ehe es seine ganze
8
ERSTER ABSCHNITT.
Bahn durchlaufen hat, zweimal zum Herzen zurückkehrt, dafs ferner
gewisse Eigentümlichkeiten in der Bildung der Gehörknöchelchen
und des Unterkiefergelenks bestehen, u. s. w. Alle diese gemein-
samen Eigentümlichkeiten könnten also auch als Unterscheidungs-
mittel der Säugethiere gebraucht werden, da sie den Vögeln,
Amphibien, Fischen u. s. w. nicht zukommen. Wenn demnach eine
Definition von einer Klasse, die wir mit einem gemeinsamen Namen
bezeichnen wollen, aufgestellt werden soll, so haben wir zwischen
zwei verschiedenen Arten von Merkmalen zu unterscheiden: die
eine Art ist nothwendig, aber auch ausreichend, um die Definition
zu geben, die Klasse abzugrenzen und den Namen festzustellen;
daneben kann aber auch noch eine andere Art von Merkmalen
vorkommen, welche zwar immer bei allen Individuen der betreffenden
Klasse vorhanden, aber für die Definition nicht nothwendig sind.
Wenn wir z. B. ein Thier finden, welches lebendig geboren und von
seiner Mutter gesäugt worden ist, so werden wir es für ein Säuge-
thier erklären und nicht weiter verlangen, wenigstens nicht, um den
Namen und die Klasse des Thieres festzustellen, dafs auch noch jene
anatomischen Eigenthümlichkeiten in Beziehung auf die Bildung der
Gehörknöchelchen und die Bildung des Herzens u. s. f. nachgewiesen
werden mttfsten. Stuabt Mill war der erste, welcher diese wichtige
Unterscheidung machte und also diejenigen Eigenschaften, welche
in die Definition eines Begriffes hinein gehören, und an und für sich
zusammen genommen genügend sind, die Definition festzustellen,
von den Eigenschaften trennte, die aufserdem noch immer bei den
einzelnen Wesen vorhanden sind, — die unter den Begriff gehören.
Letztere Eigenschaften bezeichnete er als die Connotationen des Be-
griffes. Dies ist nun eine sehr wesentliche und wichtige Unter-
scheidung, die eine ganz hervorragende Rolle spielt bei dem Ge-
brauch solcher begrifflichen Bestimmungen. Wenn eine solche
Connotation gefunden werden kann für diejenigen Objecto, welche
unter einen bestimmten Begriff gefalst sind, so kann man allgemeine
Urtheile bilden, z. B. in der Weise, dafs wir sagen: alle Säugethiere
besitzen mindestens drei Gehörknöchelchen, haben einen doppelten
Blutkreislauf und sind warmblütig. Hierin sind die drei Aussagen
über die Säugethiere solche Connotationen. Nun zeigt sich in
der That — und es erklärt sich auch sehr leicht, warum sich das
zeigt — , dafs bei den Classificationen, welche der Bildung der
menschlichen Sprache zu Grunde liegen und die Namengebung be-
stimmen, vorzugsweise solche Begriffe gebildet worden sind, die
Connotationen zulassen. Denn es würde uns nicht viel helfen, wenn
§ 5. DIE GATTUNGSBEGRIFFE UND DIE NATURGESETZE. 9
wir irgend welche beliebigen Definitionen aus beliebigen Merkmalen
zusammenwürfeln wollten. Wir könnten ja z. B. alle Pflanzen in
eine Klasse zusammenfassen, welche blaue Blüthen haben, und dieser
Klasse einen besonderen Namen geben. Aber die Definition einer
solchen Klasse würde keine Connotationen zulassen, denn wir könnten
Ton diesen Objecten weiter nichts Gemeinsames aussagen, als das,
was in ihrer Definition bereits aasgesagt ist, nämlich, dafs sie
Pflanzen seien und blaue Blüthen hätten. Alle allgemeinen Sätze,
welche wir in Bezug auf solche Klassen aufstellen könnten, würden
daher nothwendig tautologische Sätze sein. Wenn wir also neue
Begriffe bilden, so müssen wir suchen, solche Begriffe zu bilden,
denen wenigstens eine Connotation zukommt; anders zu verfahren
wäre sehr unnütz. Unsere Sprache ist nun schon gebildet unter
dem Einflufs dieses Gesichtspunktes; denn auch ohne streng wissen-
schaftliches Studium lernt der Mensch durch die tägliche Beobachtung
eine grofse Menge von solchen Beziehungen kennen, wio sie eben
dargelegt worden sind. Ueber diese Kenntnifs geben wir uns frei-
lieh nicht immer Rechenschaft, namentlich aber werden wir uns
nur selten bewufst, wie wir diese Kenntnifs erlangt haben. Bei
einem ruhig und verständig beobachtenden Volke mufs sich aber
ein solcher Einflufs auf die Sprache nothwendig weiter entwickeln,
und zum Theil ist es wohl hierauf zurückzuführen, dafs die civili-
sirteren Völker auch feiner ausgebildete Sprachen haben, Sprachen,
in denen mehr diejenigen Begriffe betont sind, von denen man All-
gemeines aussagen kann, also welche Connotationen haben.
§ 5. Die Gattungsbegriffe und die Naturgesetze.
Diese Art der Bildung von Begriffen ist nun in ziemlich breiter
Weise in den sogenannten naturgeschichtlichen Wissenschaften durch-
geführt. Diese beziehen sich meistentheils nur auf die Beschreibung
von Naturobjecten, die dauernd in der uns umgebenden Natur exi-
stiren, beziehlich durch die Zeugungsprocesse des thierischen Körpers
immer wieder in gleicher Form hergestellt werden, sodafs immer eine
grofse Menge von Exemplaren jeder Klasse sich vorfindet. Bei diesen
haben wir also fast nur den dauernd bestehenden Zustand zu be-
schreiben, denn erst in neuerer Zeit hat man angefangen, sich mit
den Veränderungen zu beschäftigen, welche an solchen Natarkörpern
im Laufe mehrerer Generationen vor sich gehen können. Im Gegen-
satz dazu haben es nun die physikalischen Wissenschaften überwiegend
mit Veränderungen zu thun, die sich an Naturobjecten vollziehen.
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10
ERSTER ABSCHNITT.
Wenn wir früher gesagt haben, dafs die physikalischen Wissenschaften
die allgemeinen Eigenschaften der Naturkörper zu bestimmen suchen,
so steht das mit dem hier Gesagten in keinem Widerspruch; denn
die hier betrachteten Eigenschaften der Naturkörper kommen für
uns nur zur Beobachtung, indem wir Veränderungen wahrnehmen.
Wir suchen in den physikalischen Wissenschaften zu ermitteln,
welche Veränderungen überhaupt vorkommen können und welche
äufseren Einwirkungen und Umstände vorhergehen müssen, um
solche Veränderungen hervorzubringen, oder auch, was vorhergehen
mufs, um das Eintreten von solchen Veränderungen zu verhindern.
Also das, was wir in den physikalischen Wissenschaften zusammen-
zufassen haben, wofür wir also etwas dem Geschäfte der Begriffs-
bildung bei den Naturkörpern ganz Analoges auszuführen haben,
sind Veränderungsvorgänge, die wir an den Objecten der Aufsen-
welt beobachten. Wenn wir nun aber solche Veränderungen be-
greifen wollen, so müssen wir auf sie dasselbe Verfahren anwenden,
welches wir bei der Betrachtung der Naturobjecte als praktisch er-
funden haben : wir müssen solche Fälle zu Klassen zusammenstellen,
in denen aufser den Umständen, welche zur Definition d. h. zur Ab-
grenzung der betreffenden Gruppe von Vorgängen dienen, auch noch
andere gleichartige, gemeinsame Aenderungen, d. h. in ihrem Ab-
lauf einander gleichende Veränderungen vorkommen. Es ist also
im Wesentlichen wiederum dieselbe Aufgabe, nur ist hier die sprach-
liche Bezeichnung etwas anders. Denn für eine solche Klasse,
welche eine Anzahl in gleicher Weise hervorgebrachter und ab-
laufender Veränderungen enthält, können wir einen sprachlichen
Ausdruck nur geben in der Form eines Naturgesetzes. „Zwei
schwere Körper die sich in endlicher Entfernung von einander im
Räume befinden, erleiden eine Beschleunigung und zwar jeder ein-
zelne von ihnen in der Richtung gegen den andern hin", d. h. sie
bewegen sich in dieser Richtung mit wachsender Geschwindigkeit
auf einander zu. Das ist eine Thatsache, die sich immer zeigt,
wenn keine Umstände vorhanden sind, die hindernd einwirken, z. B.
Beschleunigungen die in ganz derselben Weise von dritten Körpern
in entgegengesetzter Richtung ausgeübt werden, und eine Thatsache,
welche in dieser Form immer ausgesprochen werden kann und so-
eben auch in der Form eines Naturgesetzes ausgesprochen ist
Ebenso wie wir also in den beschreibenden Naturwissenschaften,
der Zoologie, der Botanik u. s. w. jKlassen von Naturkörpern zu Be-
griffen zusammenfassen und deren Connotationen suchen, so haben
wir in den physikalischen Wissenschaften die ganz gleiche logische
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«6.
NATURGESETZ, KRAFT UND URSACHE.
11
Aufgabe, nur dafs sie sich hier auf Vorgänge bezieht Wir haben
nämlich die Aufgabe, solche Fälle von Veränderungen und Vor-
gängen als Klassen zusammenzugreifen, bei denen aufser den be-
obachteten gleichartigen Umständen, welche der Definition des Be-
griffes entsprechen, noch regelmäßig andere Vorgänge stattfinden,
welche also den Connotationen des Begriffes analog sind.
Eine andere Gruppe von Naturvorgängen können wir zusammen-
fassen in folgendem Satz: „Ein Lichtstrahl, der durch die Grenze
zweier verschiedenartiger durchsichtiger Medien hindurchgeht, er-
leidet eine Brechung, und zwar ist die Abweichung von dem
früheren Wege gegeben durch eine bestimmte trigonometrische Be-
ziehung." Das erste der beiden angeführten Naturgesetze bezieht
sich also auf Ortsveränderungen schwerer Körper, das zweite auf
Richtungsänderungen eines Lichtstrahls. Solche Beispiele können
wir nun sehr mannigfaltig häufen, und jeden regelmässig in der
Natur eintretenden Vorgang in dieser Weise zunächst nach seinem
tatsächlichen Gehalt als Gesetz aussprechen. Wir brauchen dazu
nur die Bedingungen genau zu definiren, unter denen die betreffende
Erscheinung sich vollzieht, und dann genau anzugeben, wie der
Vorgang weiter verläuft Es wäre dieses also weiter nichts als eine
Beschreibung der thatsächlich beobachtbaren Vorgänge.
§ 6. Naturgesetz, Kraft und Ursache.
In dem sprachlichen Ausdruck weichen wir nun meistentheils
von der bisher angegebenen Formulirung der Naturgesetze ab, indem
wir Abstracta bilden und statt der Verba Substantiva einsetzen,
z. B. das erste der oben angeführten Gesetze in der Form aus-
sprechen, dafs zwischen je zwei schweren Körpern, die sich in end-
licher Entfernung von einander im Räume befinden, fortdauernd eine
Anziehungskraft von bestimmter Gröfse besteht Wir haben damit
statt der einfachen Beschreibung des Phänomens der Bewegung ein
Abstractum, die Anziehungskraft, eingeführt Wir bezeichnen damit
in der That weiter nichts, wenigstens nichts, was noch einen factischen
Sinn hat, als was auch in der blo&en Beschreibung des Phänomens
enthalten ist Wir versichern nur durch die Aufstellung des Gesetzes
in dieser Form, welches den Begriff der Kraft benutzt, auch dafs
dieses Phänomen der gegenseitigen Annäherung der beiden Körper,
sobald die Bedingungen dazu gegeben sind, in jedem Zeitmoment
eintritt.
Nun weifs man über eine solche Kraft weiter nichts Thatsäch-
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12
ERSTER ABSCHNITT.
§6.
liehe 8 anzugeben, als dafs, so oft sie wirkt, oder die Bedingungen
eintreten für ihre Wirksamkeit, das betreffende Phänomen beob-
achtet werden kann. Es ist also ein in gewissem Sinne leeres Ab-
stractum, welches aber, wenn es richtig verstanden wird, in der
That die wirklich vorkommenden Phänomene beschreibt. Anderer-
seits ist aber doch zu beachten, dafs durch die Einschiebung des
Begriffes der Kraft in die Formulirung eines Gesetzes etwas hinein
gekommen, was leicht als ein hypothetisches Element angesehen
werden kann, und was eigentlich durch die Thatsachen nicht ge-
geben. Thatsächlich hat diese Ausdrucksweise auch so lange man
sich nicht ihren Sinn völlig klar gemacht hatte mannigfachen Anstofs
erregt; sie ist vielfach in der Weise mifsverstanden worden, dafs
man dieses abstracte Substantiv die Kraft als die Bezeichnung von
irgend etwas wesentlich Existirenden aufgefafst hat, und dafs man sich
berechtigt glaubte, bestimmte Sätze über die wesentlichen Eigenschaften
der Kräfte aufzustellen, welche in der That, wenn richtig, entweder
Tautologieen waren oder nur scheinbar einen reellen Inhalt hatten.
In Folge davon haben in neuerer Zeit viele Physiker, denen
es darum zu thun war, nichts in die Wissenschaft hinein zu
tragen, als was reiner Ausdruck der Thatsachen war, danach ge-
strebt, auch den Ausdruck der Thatsachen so einzurichten, dafs
in ihm nichts Hypothetisches untergeschoben wäre. Es war
wohl zuerst Fabaday, der in dieser Richtung sich bemüht hat.
Faeaday hatte nicht den normalen Bildungsgang eines gelehrten
Physikers durchgemacht, sondern war durch eigene Intelligenz und
eigene Einsicht zu dem gröfsten Theil seiner Kenntnisse gekommen.
Er war ursprünglich ein armer Buchdruckerlehrling, der die Bücher,
welche er zu heften hatte, auch zu lesen begann, und dadurch seine
Kenntnisse schnell vermehrte. Späterhin kam er in Berührung mit
dem berühmten Chemiker Humphbey Davy, der sich für den offen-
bar sehr intelligenten Knaben so interessirte, dafs er ihn zunächst
als Assistenten, oder vielleicht besser gesagt, als Laboratoriumsdiener
annahm. Von dieser Stellung aus schwang sich dann Faeaday,
dem Humphbey Davy bald einen Theil seiner Vorlesungen übertrug,
zu grossem Ansehen in der Welt empor. Der Keim zu seinen
ausserordentlich bedeutenden wissenschaftlichen Entdeckungen und
besonders das Originale seiner Anschauungsweisen ist wesentlich in
dem Umstände zu suchen, dafs er den gewöhnlichen Weg der
Wissenschaft nicht kannte, sondern von Anfang an darauf angewiesen
war, sich seinen eigenen Weg für das Verständnifs der Erscheinungen
zu suchen. Es war nun Fabaday das Hypothetische, was ihm in
§6.
NATURGESETZ, KRAFT UND URSACHE
13
der Einschiebt! ng der Kräfte zu liegen schien, sehr zuwider. Dazu
kam, dafs er gewisse Eigenschaften, welche die Physiker den Kräften
beilegten, sich nicht vorstellen konnte; namentlich polemisirte er
von Anfang an gegen die Vorstellung von der Wirkung in die Ferne
durch den leeren Raum, und es gelang ihm in der That, für die-
jenigen Erscheinungen, für die er sich am meisten interessirte,
nämlich für die magnetischen und elektrischen Kräfte, eine Deutung
zu finden und auch die damit zusammenhängenden Thatsachen
nachzuweisen, welche die bis dahin angenommenen Fernkräfte für
die magnetischen und elektrischen und elektro- magnetischen Er-
scheinungen fallen liefs. Fabaday war durch diese Art seiner An-
schauung gezwungen, sich seine eigene Nomencia tur zu bilden.
Hierin war er aber nicht glücklich, denn es gelang ihm nicht, das
Wesen dessen, was er erstrebte, methodisch klar zu machen. Seine
Zeitgenossen wufsten ihm in dieser Darstellung nicht zu folgen,
und deshalb dauerte es lange, fast bis in die folgende Generation
hinein, ehe sich Mathematiker fanden, welche den Sinn von Fakaday's
Bezeichnungsweise entziffern konnten ; unter ihnen ist in erster Reihe
Maxwell, zu nennen. Neben Fabaday und Maxwell war es
namentlich Sir William Thomson (der jetzige Lord Kelvin),
welcher in der mathematischen Physik alle solche bildlichen und
abstracten Ausdrücke zu vermeiden suchte. Später hat sich diesen
auch Gustav Kirchhoff angeschlossen, der geradezu in der Vor-
rede zu seinem Lehrbuch der Mechanik sagt : Die Aufgabe der
Mechanik ist, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen voll-
ständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben. Es kommt
ihm also wesentlich nur auf eine genaue Beschreibung der Phänomene
an. Was ich nun zu diesem Ausdrucke von Kibchhoff hinzu-
fügen möchte, besteht darin, dafs nun aber die möglichst vollständige
und einfachste Beschreibung nur in der Art gegeben werden kann,
dafs man die Gesetze ausspricht, welche den Phänomenen zu Grunde
liegen. Andererseits ist aber doch zu erwähnen, dafs auch die ab-
stracto Bezeichnungsweise ihre Vortheile hat, um das Gesetz als
solches zu charakterisiren, und dafs die Bildung eines solchen Ab-
stractums mit seiner substantivischen Bezeichnung, doch auch durch
Momente gegeben ist, die ebenfalls in der Natur der Sache liegen.
Wenn wir das Gesetz als solches aussprechen, so sprechen wir eine
Erfahrung aus, von der wir voraussetzen dürfen, dafs sie sich immer
wiederholen wird, so oft die Bedingungen gegeben sind, unter denen
das betreffende Phänomen zu Stande kommen kann. Das, was das
Gesetz aussagt, tritt, wie wir wohl wissen und durch Erfahrung
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ERSTER ABSCHNITT.
§6.
jeden Augenblick bestätigen können, unabhängig von unserem Vor-
stellen ein, unabhängig von unseren Wünschen. Wir wissen, dafs
wir durch die Vorstellungen, die wir gleichzeitig haben, gar keinen
Einflufs auf den Ablauf der äufoeren Processe auszuüben im Stande
sind, und wir können daher mit einer vielfach noch gebrauchten
Terminologie der philosophischen Wissenschaft diese Thatsachen,
welche nach dem Gesetz zu Stande kommen, bezeichnen als ein
Nicht-Ich, als Etwas, was nicht von unserem Vorstellen, von unserem
Bewußtsein, von unserem Willen und unseren Wünschen abhängig
ist, was wir nur als Thatsache constatiren können, wenn es eintritt
Je genauer und eingehender unsere Untersuchung ist, desto mehr
überzeugen wir uns, dafs der Eintritt dieser Phänomene nur ab-
hängig ist von gewissen äufseren Bedingungen, aber ganz unabhängig
von den Vorgängen in unserer Seele. Wir müssen das Gesetz also
als Etwas anerkennen, was ganz unabhängig von unserem Vorstellen
und unseren Wünschen vor sich geht, und, wir müssen ferner an-
erkennen, dafs diese betreffenden Erscheinungen eintreten werden
in jedem beliebigen Augenblick, wo die Vorbedingungen gegeben
sind, so dafs diese Macht, die uns da gegenübertritt und welche
ohne unser Eingreifen und ohne unser Vorstellen solche eigentüm-
lichen Erfolge hervorrufen kann, anerkannt werden mufs als etwas
Dauerndes, was in jedem Augenblicke wirkungsbereit vorhanden ist,
und zwar als etwas Mächtiges vorhanden ist, das seine Wirkung
eventuell gegen unseren Willen und gegen unsere Wünsche durch-
setzt Darin liegt doch mehr, als in der blofsen Auffassung einer
Thatsache als Thatsache, und wir pflegen nun solche Dinge, welche
beharrlich bestehen und welche sich als mächtig erweisen und die
Aufsenwelt zwingen, ohne dafs wir selbst einzugreifen brauchen,
mit den Namen zu bezeichnen, die wir für tatsächlich bestehende
Dinge anzuwenden pflegen, und dadurch ist also, wenn wir es richtig
auffassen, die Bezeichnung einer solchen Kraft als eines dauernd
bestehenden Agens vollkommen gerechtfertigt Erst durch diese
Bezeichnungsweise ist ausgesagt dafs das Gesetz, das wir gefunden
haben, nun auch in jedem Augenblicke wirkungsbereit ist und in
jedem Augenblicke seine Macht erweisen kann. Das ist offenbar
der wesentliche Grund gewesen, weshalb die Menschen allgemein
zu der Substantiven Bezeichnung übergegangen sind und vorgezogen
haben, statt von Gesetzen von Kräften zu sprechen, obgleich dem
tatsächlichen Sinne nach, was nicht oft genug wiederholt werden
kann, der Substantive Ausdruck, bei welchem wir von einer Kraft
sprechen, die in bestimmter Weise wirkt, factisch nichts anderes
§6.
NATURGESETZ, KRAFT UND URSACHE.
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bezeichnet und keinen andern reellen Inhalt hat, als dafs wir da-
durch ausdrücken: das Gesetz wird sich zeigen in jedem Falle, wo
die Bedingungen für seine Erscheinung gegeben sind. Von diesem
hypothetischen Substantivum , als welches wir die Kraft betrachten
müssen, wissen wir weiter nichts, als dafs es in seinem Wesen liegt,
die bestimmte Wirkung hervorzubringen. Zunächst ist nun zu be-
merken, dafs wir in Folge der aufserordentlich grofsen Mannig-
faltigkeit der äufseren Erscheinungsweise auch die allerverechieden-
Bten Arten von Kräften annehmen.
Die Beschleunigung der Weltkörper gegen einander bezeichnen
wir als die Wirkungen einer Anziehungskraft, welche die schweren
Körper gegen einander ausüben; bei der Lichtbrechung reden wir
von einer Lichtbrechungskraft, die wir den durchsichtigen Körpern
zuschreiben; in anderen Fällen finden wir, dafs bestimmte Zu-
sammensetzungen von Metallen und leitenden Flüssigkeiten elek-
trische Ströme hervorbringen, und indem wir die Stärke dieser
elektrischen Ströme messen und die Bedingungen genauer bestimmen,
unter denen sie eintreten und von denen ihre Stärke abhängt,
sprechen wir von der elektro- motorischen Kraft einer galvanischen
Batterie, u. s. w. Kurz, wir nehmen also die verschiedenartigsten
Kräfte an und machen in dieser Hinsicht zunächst keine Be-
schränkung. Später, wenn wir die Kräfte im Einzelnen untersuchen,
werden wir allerdings auf besondere Betrachtungsweisen stofsen,
welche einen gewissen Zusammenhang und eine gewisse Verwandt-
schaft zwischen den einzelnen Kräften nachweisen.
Es laisst sich leicht zeigen, dafs diese Abstracta, Kraft und
Naturobjecte oder Körper, denen wir die Kraft zuschreiben, nicht
von einander getrennt werden können. Wenn wir von Bewegungs-
kräften reden, so pflegen wir das, was bewegt werden kann, einfach
als die Masse oder als die bewegliche Materie zu bezeichnen. Eine
Kraft ohne Materie hat keinen Sinn; das würde einem Gesetze ent-
sprechen, welches da von Veränderungen spräche, wo keine Objecte
wären, welche verändert werden könnten. Ein solches Gesetz würde
sich selbst widersprechen und sich selbst aufheben; und eben so
wenig würde es einen Sinn haben, von Materie ohne Kraft zu
sprechen; denn solche materiellen Gegenstände könnten keinen
Veränderungen unterworfen sein, da Veränderungen immer die
Existenz einer Kraft voraussetzen. In dieser einfachen Betrachtung
zeigt sich schon, dafs das materielle Object und die Kraft, zwei
Abstracta sind, die nicht von einander getrennt werden dürfen,
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ERSTER AB8CHNITT.
welche einen bestimmten Sinn nur in ihrer gegenwärtigen Be-
ziehung und in ihrer Vereinigung haben.
Mannigfache Irrungen sind in der Wissenschaft dadurch ent-
standen, dafs man den eigentlichen Sinn, der mit dem Worte „Kraft"
zu verbinden ist, vergafs und das, was mit einem substantivischen
Wort ausgedrückt wurde, nun auch als ein reelles Ding auffafste,
das unabhängig exisüren könnte.
Es war lange Zeit, namentlich in den physiologischen Wissen-
schaften, die Bede davon, dafs möglicherweise die „Lebenskräfte"
losgelöste Kräfte sein könnten, welche nicht von einer Materie ab-
hängen, und dafs man ebenso die Seele des Menschen als eine
Kraft betrachten könne, die an keiner Materie haftete, die also los-
gelöst wäre von den Objecten, an denen die Aenderung vor sich
gehen soll. Das hat aber, sobald man sich über die Entstehung der
Begriffe von Kraft und Materie klar ist» keinen Sinn mehr.
Man hatte bei jenen Anschauungen den ursprünglichen Sinn
der Bezeichnungsweise vergessen und betrachtete die abstracten Be-
zeichnungen als Bezeichnungen wirklicher Dinge.
Dafs dergleichen Irrthümer vorgekommen sind, und dafs daran
sich allerlei falsche und unzulässige Vorstellungen in der Entwicke-
lungsgeschichte der Wissenschaft geknüpft hatten, hat späterhin das
Mifstrauen gegen diese ganze Bezeichnungsweise hervorgerufen, und
manche, welche solche Irrthümer unbedingt vermeiden wollten, ver-
anlafst, von jeder abstracten Bezeichnung abzusehen und ihre Dar-
stellung der Naturvorgänge auf eine blofse Beschreibung auch dem
Wortlaute nach zu reduciren.
Wir haben noch eine andere Bezeichnung, die sich auf diese
Verhältnisse bezieht, freilich mit einer gewissen Modifikation der Be-
deutung. Es ist das die „Ursache". Wir bezeichnen die Kräfte
insofern, als sie als der Grund vorgestellt werden, welcher Ver-
änderungen hervorbringen kann, auch als die Ursachen der ein-
tretenden Veränderungen. Wenn wir nun die Bezeichnung „Ursache"
ihrer Etymologie nach betrachten, so finden wir, dafs mit der
Vorsatzsilbe „ur" Etwas hinter den Erscheinungen Verborgenes be-
zeichnet wird. „Sache" ist die Bezeichnung für ein dauernd
bleibendes Ding, für etwas Bestehendes. Das Wort „Ursache" würde
also seiner Etymologie nach, die hier genau mit dem Wortsinne
übereinstimmt, das Bestehende bezeichnen, was hinter den Ver-
änderungen, die wir wahrnehmen, verborgen ist, also den verborgenen
dauernd bestehend bleibenden Grund der Erscheinungen. Das
stimmt aber mit dem, was wir über den Begriff der Kraft dargelegt
§6.
NATURGESETZ, KRAFT UND URSACHE.
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haben, völlig überein; denn wir sehen, dafs die Kraft nnr deshalb
von uns als etwas dauernd Bestehendes aofgefafst werden kann,
weil sie in jedem Augenblicke bereit ist, wirkungskräftig einzu-
greifen.
In dem Begriffe des Gesetzes der Erscheinungen liegt schon alles,
was wir in diesen weiteren Benennungen hinzufügen. Durch diese
wird nur der Begriff der Dauer und der stetigen Wirkungsbereitschaft
mehr hervorgehoben. Wenn wir das Causalitätsverhältnifs für alle
Veränderungen in der Natur als nothwendig betrachten f d. h. also
annehmen, dafs jede Veränderung in der Natur ihre zureichende
Ursache haben mufs, so können wir dieses auf Grund unserer eben-
gemachten Darlegungen auch anders ausdrücken, indem wir sagen:
Alle Veränderungen in der Natur müssen gesetzlich vorgehen. Da
wir die Naturerscheinungen nur dann begreifen, wenn sie in allen
ihren Theilen gesetzlich und nur gesetzlich vorgehen, so können wir
den Satz von der Causalität auch in der Form: „Alle Naturerschei-
nungen müssen begreiflich sein" formuliren. Sobald die Gesetz-
lichkeit der Naturerscheinungen gegeben ist, dann haben wir auch
damit gesagt, dafs das Gesetz fortbesteht, wirkungsbereit in jedem
Augenblick, und wir sind berechtigt ein solches Gesetz in dem Sinne
der angegebenen Worte als Ursache für die Erscheinungen zu
bezeichnen. Der Causalität ssatz ist ein Satz, den wir eigentlich aus
der Erfahrung nicht beweisen können. Denn wenn wir nicht das
Causalitätsgesetz schon haben, so können wir aus keiner vor sich
gehenden Erscheinung schliefsen, dafe sie von einer bestimmten Ur-
sache ausgehen müsse. Wir müssen das Causalitätsgesetz schon
anwenden, um zuerst zur Vorstellung der Kraft und der Ursache
zu kommen. Es ist daher der Causalitätssatz in der That ein von
formalen Bestimmungen unseres Denkvermögens abhängiger Satz
a priori, denn wir könnten, wie gesagt, nicht zu der Vorstellung
irgend einer Ursache oder zur Anerkennung einer Ursache kommen,
wenn wir nicht an die Natur mit der Vorstellung herantreten, dafs
es immer möglich sein mufs, Ursachen zu finden. Wenn wir nun
anfangen nach Ursachen zu suchen, so finden wir zwar ein gutes
Theil von Erscheinungen, in denen wir wirklich die Ursachen be-
zeichnen und bei denen wir die vollständige und strenge Gesetz-
mäfsigkeit nachweisen können; doch mufs andererseits auch hervor-
gehoben werden, dafs unsere Kenntnifs der Naturerscheinungen noch
lange nicht so weit ist, um als empirischen Satz zu folgern: „Alle
Naturerscheinungen sind begreiflich." Wir müssen uns stets erinnern,
dafs wir bei grofsen Klassen von Naturerscheinungen, wie vor allem
H. v. Hblmholtz, Thoore». PbjriU. Bd, I, 1. 2
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ERSTKR ANSCHNITT.
bei den Erscheinungen des organischen Lebens in den Thieren und
Pflanzen, bisher noch so weit von einer vollständigen Erkenutnifs
ihrer Ursachen entfernt sind, dafs es ein sehr gewagter Schlufs sein
würde, a posteriori aus der grofsen Reihe von bereits begreifbaren
Naturerscheinungen auf die allgemeine Begreiflichkeit zu schliefsen.
Bei anderen Gruppen, z. B. den meteorologischen Erscheinungen,
welche jetzt zwar noch nicht völlig auf ihre Ursachen zurückgeführt
sind, ist es freilich wahrscheinlich, dafs sie sich schliefslich werden
begreifen lassen.
§ 7. Die Hypothese als Vorstufe des Gesetzes.
Unsere Aufgabe ist also, die Gesetze der Naturerscheinungen
zu suchen. Wir haben dazu keinen anderen Weg, als dafs wir die
Naturerscheinungen beobachten. In diesen kommen nun aber die
Gesetze gewöhnlich nicht so ohne Weiteres zum Vorschein ; sondern
meistenteils sind die Umstände, unter denen die Veränderungen
in der uns umgebenden Natur vor sich gehen, so außerordentlich
verwickelt, daß wir selbst bei Experimenten, die wir zu diesem
Zwecke anstellen, nur sehr selten im Stande sind, das Gesetz in
seiner einfachsten Wirkungsweise und für die unmittelbare Wahr-
nehmung offen vor uns liegend zu erkennen.
Gewöhnlich sind wir daher darauf angewiesen, versuchsweise
Gesetze zu bilden und dann zu untersuchen, ob diese Gesetze in
allen einzelnen Fällen, die wir durch künstliches Experimentiren
herbei führen können, sich als richtig erweisen. Es ist das im
Ganzen ein langsames und mühsames Suchen; denn die erste Auf-
stellung eines Gesetzes wird immer noth wendig den Charakter der
Hypothese haben, sie kann nicht gleich absolute Sicherheit ge-
währen und bedarf einer Verification, die in den meisten Fällen
ein sehr zeitraubendes Geschäft ist Wenn also auch notwendiger
Weise der Weg der Untersuchung bei den Naturwissenschaften
durch Hypothesen hindurchfuhrt, so darf doch nie vergessen und
verkannt werden, dafs diese Hypothesen nur dazu dienen sollen, die
Anhaltspunkte für die spätere Formulirung des Gesetzes zu liefern.
Bei der Aufstellung der Hypothesen ist es immer vortheilhaft, sie
so zu bilden, daß sie für jeden einzelnen Fall, auf den wir sie an-
wenden wollen, ein ganz bestimmtes und eindeutiges Resultat geben.
Es ist ein falscher Weg, wenn man glaubt, die ursprünglichen
Hypothesen unbestimmt und allgemein halten zu können. Zur Auf-
stellung solcher Hypothesen gehört stets ein gewisser Erfindungs-
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DIE VOLLSTÄNDIGKEIT DER ERFAHRUNG.
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geist; es ist gleichsam ein Rathen, und es wird im Allgemeinen
nur Derjenige zum Ziele kommen, welcher geschickt zu rathen weifs.
Meistenteils geht das in der Weise vor sich, dafs der einzelne
Beobachter, der in einem bestimmten Abschnitt der Physik eine
Reihe von Einzelbeobachtungen macht, zunächst versucht, diese ihm
bekannten Fälle unter ein bestimmtes Gesetz probeweise zusammen-
fassen, und dann überlegt, ob noch andere ihm bereits be-
kannte Fälle, wo er den Ablauf der Erscheinungen schon gesehen
hat, existiren, die unter seine Definition fallen, d. h. in die Classe
der Fälle, auf welche sich das von ihm probeweise formulirte
Gesetz bezieht. Sodann aber werden sich meistens auch neue Fälle
angeben lassen, die unter das Gesetz gehören sollten, und deren
Erfolg noch nicht verificirt ist Diese in ihrem Erfolge bisher noch
unbekannten Fälle sind nun, soweit das möglich ist, thatsächlich
durch das Experiment herbeizuführen, um zu ermitteln, ob sie
nun auch unter das Gesetz passen. Dadurch wird aus der
methodischen und principiell richtig fortschreitenden wissenschaft-
lichen Untersuchung das hypothetische Element um so mehr heraus
geschafft, je weiter die betreffende Untersuchung ins Specielle durch-
geführt werden kann. Das Wissenschaftliche an diesem Verfahren
besteht darin, dafs wir uns möglichst vollständige Kenntnifs von der
gegebenen Classe der Naturerscheinungen zu verschaffen suchen,
theils, indem wir unmittelbar beobachten, was sich von selbst unserer
Erfahrung darbietet, theils, indem wir absichtlich noch nicht be-
obachtete Fälle herbeizuführen suchen namentlich solche, die zwar
unzweifelhaft in den Bereich des Gesetzes hineingehören, die aber
doch in irgend einer wesentlichen Beziehung von den bisher be-
obachteten uns bekannten Fällen abweichen.
§ 8. Die Vollständigkeit der wissenschaftlichen Erfahrungen
und ihre praktische Bedeutung.
Das eben geschilderte Verfahren, eine Mos probeweise aufgestellte
Hypothese als ein allgemein giltiges Gesetz nachzuweisen, geht im
Wesentlichen darauf hinaus, möglichst vollständige Kenntnifs aller
einzelnen Fälle zu suchen. Dadurch, dafs wir ein Gesetz für sie
aufstellen, haben wir nun noch den weiteren Vorteil, dafs wir eine
bestimmte Controle bekommen, theils über die Vollständigkeit in der
Uebersicht der Fälle, theils auch dafür, dals uns kein gegenteiliger
Fall der unserem Gesetze widerspricht, gleichsam durchschlüpft;
denn je mehr wir aufmerksam geworden sind auf das Gesetz, und
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ERSTER ABSCHNITT.
je mehr wir daran gewöhnt sind, das Oesetz in allen Fällen be-
stätigt zu sehen, desto auffälliger wird uns auch jeder Fall, der
der dem Gesetze widerspricht Wenn wir es mit regellosen Fällen
zu thun hätten, so würden wir leicht einen einzelnen wider-
sprechenden Fall übersehen können; aber gerade dadurch, data
wir alle uns vorkommenden Fälle mit dem Gesetz vergleichen,
werden wir mit der Zeit den höchsten Grad der Sicherheit erhalten,
dafs kein Fall existirt, der ihm widerspricht
Die echte Wissenschaft, nach richtiger Methode durchgeführt
ist in der Kenntnifs der einzelnen vorkommenden Fälle und ihres
Ausgangs aufserordentlich viel besser unterrichtet, als irgend
ein dilettantisches Wissen es sein kann, das durch Zufall sich
in der Erfahrung eines einzelnen Menschen zusammengehäuft
hat Man hört sehr oft Aöufserungen, die ganz abstruse Be-
hauptungen über das enthalten, was die Wissenschaft über ir-
gend einen gegebenen Fall aussage. Namentlich sind in der
Socialpolitik und Moralwissenschaft solche falschen und unsinnigen
Angaben über das, was die Wissenschaft angeblich behaupte und
lehre, sehr häufig. Der verborgene, nur selten klar erkannte Grund
zu solchen Irrthümern liegt in der Regel in der Verwechslung von
versuchsweise aufgestellten Hypothesen mit festerprobten Gesetzen.
Man hat vielfach die Vorstellung, dafs die Wissenschaft nur un-
gegründete Hypothesen aufstelle und sich durch diese Hypothesen
irre leiten liefse. Nach dem, was wir aber soeben von der echten
wissenschaftlichen Methode gesehen haben, ist die echte Wissen-
schaft nichts anderes, als eine methodisch und absichtlich vervoll-
ständigte und gesäuberte Erfahrung, und zwar eine Erfahrung,
welche viel vollständiger und viel sicherer ist als jede durch Zufall
zusammengekommene Erfahrung eines einzelnen nicht methodisch
verfahrenden Menschen. Eben deshalb dürfen wir auf die echte
Wissenschaft am meisten vertrauen und am meisten Wert legen.
Bei der Lösung unserer Aufgabe, die Gesetze für die einzelnen
Naturerscheinungen zu suchen, müssen wir danach streben, mög-
lichst allgemeine Gesetze zu finden, d. h. Gesetze, unter welche sich
möglichst viele einzelne Fälle begreifen lassen. Je mehr uns das
gelingt, desto weiter reicht unsere Kenntnifs im Einzelnen. Wenn
wir das Gesetz einer Classe von Erscheinungen kennen, so wissen
wir auch im Voraus anzugeben, was der Erfolg sein wird, wenn
diese oder jene Bedingungen eintreten, und in vielen Fällen werden
wir die Bedingungen sogar so wählen können, dafs der von uns
gewünschte Erfolg eintritt Die richtige Kenntnifs der Gesetze hat
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§8.
DIE VOLLSTÄNDIGKEIT DER ERFAHRUNG.
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also nicht blos einen theoretischen Werth für die menschliche Ein-
sicht und die Erkenntnils des Zusammenhanges des Gan2en, sondern
sie hat auch einen ungeheuren praktischen Werth. Unsere ganze
Herrschaft über die Natur und die Naturkräfte, wie sie sich nament-
lieh in dem letzten Jahrhundert entwickelt, folgt aus dieser Kennte
niÄ der Gesetze.
Sowie wir die Kenntnifs der Gesetze besitzen, können wir zwei
wichtige Dinge leisten, wir können erstens vorher wissen, was unter
gegebenen Umständen geschehen wird, und das ist bekanntlich die
einzig richtige Gabe der Prophezeiung, die dem Menschen gegeben
ist Jede Prophezeiung, die sich auf vollständige Kenntnifs der
Gesetze und der Umstände stützen kann, unter denen die Gesetze
im gegebenen Falle wirken können, ist zuverlässig und sagt uns
wirklich voraus, was nun geschehen wird. Zweitens sind wir — und
das ist noch wichtiger — mittelst einer solchen vorgängigen Kennt-
nifs der Gesetze in der Lage, die Naturkräfte nach unserem Willen
und unseren Wünschen für uns arbeiten zu lassen. Die ganze
Entwicklung der Industrie in der Neuzeit, und die ganze damit ver-
bundene Aenderung in der Form des menschlichen Lebens und der
menschlichen Thätigkeit, hängt wesentlich von dieser unserer Herr-
schaft über die Naturkräfte ab.
Zweiter Abschnitt.
Die Grundlagen der mathematischen Darstellung.
§ 9. Die Darstellung der Erscheinungen in Integralen und
Differentialgleichungen.
Wenn wir uns eine Uebersicht über die Einzelfalle zu ver-
schaffen suchen, welche in einem solchen allgemeinen Gesetz ein-
begriffen werden können, so finden wir, dafs eine Menge Verschieden-
heiten des Erfolges dadurch zu Staude kommen, dafe die verschiedenen
Naturkörper neben den wesentlichen Eigenschaften, die wir nicht
abändern können, sehr verschiedene Form und Gröfse haben. Diese
aber können wir in einer aufserordentlich grofsen Zahl von Fällen
nach unserer Willkür abändern, und somit dürfen wir Form und
Gröfse der Körper, die wir unseren Versuchen unterwerfen, meisten-
teils als relativ leicht veränderliche Variable betrachten. Es wird
dann unsere Aufgabe werden, uns in der Ausdrucksweise für die
Naturgesetze von den Zufälligkeiten zu befreien, welche durch die
Form und Gröfse bedingt sind. Aufserdem müssen wir aber auch
noch unabhängig zu werden suchen von der Lage im Raum und
der Dauer in der Zeit. Je mehr uns das gelingt, in desto weiterem
Umfange werden unsere Gesetze gültig sein können. Um von der
Form unabhängig zu werden, müssen wir uns bestreben, Ausdrücke
zu gewinnen, in denen die Form, in welcher die Körper auftreten,
nicht mehr vorkommt, die also gegeben sind durch die ganz all-
gemeinen Raumverhältnisse, ohne dafs wir auf eine bestimmte Form
Rücksicht zu nehmen brauchen. Es sind nun bisher zwei Wege
beschrieben worden, um sich von der Bezugnahme auf eine bestimmte
Form frei zu machen. Jeder Naturkörper kann im Allgemeinen als
ein Aggregat kleinster Theilchen angesehen werden, welche man sich
nun entweder als Punkte, sogenannte materielle Punkte, d. h. Par-
tikelchen von Massen, die so klein sind, dafs wir keine Ausdehnungen
an ihnen und auch keine Richtungen in ihnen zu unterscheiden
§ 9. INTEGRALE UND DIFFERENTIALGLEICHUNGEN. 23
brauchen, oder als körperliche Volumenelemente vorstellt, d. h. als
Volumenelemente des Raumes, die mit Materie gefüllt sind. An
einem punktförmigen Raumgebilde sind keine Seitenrichtungen zu
definiren, denn durch einen Punkt kann man unterschiedslos nach
allen Richtungen gerade Linien ziehen, während man sich bei
körperlichen Raumelementen noch ein Coordinatensystem in das
betreffende Volumen eingelagert denken kann, und wir somit in dem
Volumen bestimmte feste Richtungen unterscheiden können, die
möglicher Weise verschiedene physikalische Eigenschaften haben.
In einer grofsen, vielleicht unbegrenzten Zahl von Fällen können
wir nun die Wirkungen, welche durch ausgedehnte Körper hervor-
gebracht werden, als die Summe derjenigen Wirkungen betrachten,
die von den einzelnen materiellen Punkten in dem mit Materie ge-
fällten Räume hervorgebracht werden, d. h. wir können die von den
Körpern ausgehenden Kräfte auf solche Kräfte zurückfuhren, die
von den einzelnen materiellen Punkten ausgehen und immer nur
von der Lage je eines dieser Punkte abhängen. In anderen Fällen
aber dürfen wir das nicht. Sondern, wenn wir es versuchen wollten,
die Gesammtwirkungen in die Wirkungen von Punkten auf einander
zu zerlegen, so würden wir mit unmittelbar benachbarten Punkten
zu rechnen haben, die also beliebig kleine Entfernung von einander
besitzen, und dafür fehlt uns bisher meistenteils noch die Kenntnifs
der Gesetze, nach welchen solche nahe an einander liegenden Punkte
auf einander wirken. Wenn wir auf getrennte materielle Punkte
zurückgehen können, so ist unsere Betrachtungsweise einfacher, denn
wir haben dann nur die Wirkungen von Punkten auf einander zu
berücksichtigen, welche selbst in einer gewissen Entfernung von ein-
ander liegen.
Das sind die beiden Grenzformen, auf welche wir in unserer
Analyse der räumlichen Zusammensetzungen der Wirkungen zurück-
zugehen pflegen. In dem Umstände, dafs wir die Wirkungen aus-
gedehnter Körper auf Wirkungen von Massentheilen zurückführen
können, die sehr klein sind, oder die so weit von einander entfernt
sind, dafs man ihre Durchmesser gegen ihre Entfernungen vernach-
lässigen kann, liegt der Grund, warum die theoretische Physik über-
wiegend mathematisch wird. Wir müssen dabei nämlich Additionen
von den Wirkungen vornehmen, welche die einzelnen Punkte oder
Massenelemente des einen Körpers auf die einzelnen Punkte oder
Massenelemente des anderen Körpers ausüben. Diese Additionen
erfordern in den meisten Fällen, dafs wir Summen bilden, deren
einzelne verschwindend kleine Theile verschiedene Gröfse haben
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ZWEITER ABSCHNITT.
und namentlich von der Entfernung der Punkte, die auf einander
wirken, abhängig sind, so dafs wir Summen von einer Reihe von
Elementen zu bilden haben, die sich mit der Lage der Theilchen
ändern. Solch eine Summe wird rechnungsmäfsig immer als ein
Integral darzustellen sein; oder wenn wir das Integral auflösen
wollen, so werden wir Differenzirungen ausfuhren müssen. In den
meisten Fällen wird die Folge davon sein, dafe das Gesetz die Form
einer Differentialgleichung erhält, und dafs die Folgerung, welche
wir aus dem Gesetze herleiten wollen, sich in der Form von Inte-
gralen dieser Differentialgleichung darstellen wird. Es giebt nur
wenige Fälle, wo alle Elemente der zu bildenden Summe gleich
sind; das ist z. B. der Fall, wo wir einen ausgedehnten schweren
Körper auf eine Wage legen und der Wirkung der irdischen Schwere
aussetzen, dann ist der Mittelpunkt der Schwerwirkung ungefähr im
Mittelpunkt der Erde und er ist von allen den einzelnen Theilen
der schweren Masse, die wir abwägen wollen, so weit entfernt, dafs
wir die Unterschiede dieser Entfernungen vernachlässigen können.
Wir können in diesem Falle alle Kräfte, mit denen die Erde auf
die einzelnen Theile des Gewichtes einwirkt, als gleich grofs be-
trachten; und wenn wir eine Summe von lauter gleich grofeon
Elementen zu bilden haben, so brauchen wir nicht zu integriren,
sondern können sie durch Multiplication finden.
Ebenso wie die Verschiedenheit im Raum, kommt nun auch
die Verschiedenheit in der Zeit in Betracht. Wenn die auf einander
wirkenden Körper sich gegenseitig bewegen und allmählich ihre
gegenseitige Lage ändern, so wird die Wirkung während dieser Zeit
nach einem bestimmten Gesetz, das von der Bewegung abhängt, sich
ändern, und wenn wir diese Wirkungen nun während einer gewissen
Zeit zu addiren haben, so tritt uns die Aufgabe entgegen, eine con-
tinuirliche Reihe von veränderlichen Gröfsen zu summiren, was uns
wieder auf den Procefs der Integrirung fuhrt, während bei dem
umgekehrten Verfahren die Differentiirung nothwendig wird.
Die meisten Aufgaben der mathematischen Physik können wir
also nur dadurch lösen, dals wir integriren oder differenziren, und
nur in wenigen besonders einfachen Fällen, z. B. bei der Geschwindig-
keit eines frei fallenden Körpers, sind die einzelnen zu summirenden
Theile, das sind hier die Zunahmen der Fallgeschwindigkeit, welche
die Schwere hervorbringt, fortdauernd von derselben Gröfse. In
solchen einfachen Fällen ist die Aenderung in der Zeiteinheit einfach
mit der Zeit zu multipliciren. Diese verhältnifsmäfsig wenig zahl-
reichen Fälle werden besonders in der „Experimentalphysik" vor-
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§ 9. INTEGRALE UND DIFFEREN1TALGLETCHUNGEN. 25
getragen, da man hier die Methode, wie Gesetze gefunden und aus
ihnen Folgerungen gezogen werden, an solchen Fällen demonstriren
mufa, bei denen man nicht auf complicirtere und schwierigere
Rechnungsarten geführt wird, und wo die sinnliche Erscheinung und
deren Verständnis möglichst wenig durch die Schwierigkeit der
mathematischen Behandlung beeinträchtigt werden soll. Wenn man
aber zu einer vollständigen und eindringenden Kenntnifs der Gesetze
kommen will, muss man auch zu den verwickeiteren Theilen der
mathematischen Analyse seine Zuflucht nehmen, weil man sich nicht
auf den einen oder den anderen Fall beschränken kann. Stets
muss man dann die Phänomene ohne Auswahl beobachten und den
Ausdruck der aus den Beobachtungen abgeleiteten Gesetze von den
Oomplicationen zu befreien Sachen, welche durch Ausdehnung und
Bewegung der Körper hinein gebracht werden. Das ist in der Regel
aber nicht möglich, ohne dafs man bereit ist, auch in die schwierigeren
mathematischen Untersuchungen einzugehen. Ja, es ist klar, dafs
man bei wirklich vollständiger Kenntnifs der Physik bereit sein
müfste, die Gesetze an jeder noch so complicirten Combination von
Naturkörpern und ihren Bewegungen zu prüfen. Es kann sich z. B.
die Astronomie nicht die Fälle aussuchen, welche ihr erlauben,
Integrationen und Differentiationen zu vermeiden, sondern sie mufs
bereit sein, in allen durch die Umstände gegebenen, wenn auch noch
so complicirten Fällen die Rechnung durchzufuhren. Es mag hier
noch bemerkt sein, dafs vielfältig von Seiten der reinen Mathematiker
die mathematische Physik mit dem Zwecke betrieben wird und be-
trieben worden ist, interessante Beispiele für schwierige mathe-
matische Probleme zu finden und zu behandeln; wie denn auch in
der Entwickelungsgeschichte der Mathematik ein grofser Theil der
mathematischen Disciplinen sich an den Beispielen ausbildete, welche
zunächst die Physik dargeboten hat Das ist hier nicht unser
Zweck. Wir wollen hier eine möglichst klare und übersichtliche
Einsicht von den physikalischen Gesetzen, d. h. von den Grund-
gesetzen der Natur und deren Anwendung für die einzelnen Clasäen
der Naturkörper geben. Soviel wie möglich wollen wir uns dabei
an einfache Beispiele halten. Wir wollen Physik treiben, keine
Mathematik, und wollen uns den Weg so leicht machen, als es
möglich ist; es wird aber trotzdem die Vollständigkeit der zu er-
langenden Einsicht ein gewisses Eindringen in die größeren Tiefen
der mathematischen Analysis erfordern.
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ZWEI TER ABSCHNITT.
§ 10.
§ 10. Der Begriff der Gleichheit
In der ersten Definition des Naturgesetzes haben wir gesagt, ^
wir wollen Classen von Fällen suchen, in denen eine gewisse Gleich-
heit der Vorgänge stattfindet Da stolsen wir zunächst auf den
Begriff des Gleich, und es fragt sich, wo ist denn der Begriff des
Gleich hergekommen und was bedeutet er? Wenn wir ihn auf einen
gewissen Fall anwenden wollen, so müssen wir doch von vorn herein
entscheiden können, ob er für diesen Fall pafst, und um darüber
entscheiden zu können, werden wir eine Definition haben müssen. Wie
ist die Definition zu geben? Sollen wir sagen, zwei Gröfsen sind ein-
ander gleich, wenn sie für einander gesetzt werden können? Dagegen
ist einzuwenden, dafs man zwei Gröfsen niemals in allen Fällen für
einander setzen kann. Man kann zwar z. B. zwei gleiche Gewichte für
einander setzen. Wenn man das eine Gewicht von der Waage nimmt, und
das andere statt dessen darauf legt, so wird die Waage sich ebenso
einstellen, wie sie vorher eingestanden hat, und die zwei Gewichte
können also für einander gesetzt werden, insofern es Bich um Be-
obachtungen der Schwere von zwei Körpern handelt Man kann,
um ein anderes Beispiel zu nennen, zwei Körper am Thermometer
vergleichen und finden, dafs die beiden Körper gleiche Temperatur
haben, und dafs ein und dasselbe Thermometer in Berührung mit <
den beiden Körpern gleichen Stand annimmt Dann kann man in
Bezug auf die thermometrischen Angaben sagen, dafs die beiden
Körper sich gegenseitig vertreten können. Man kann zwei Flächen
in Bezug auf ihre Helligkeit vergleichen und finden, dafs bei gleicher
Beleuchtung die beiden gleich hell erscheinen und keinen Unter-
schied im Gesichtsfelde erkennen lassen. Aber in allen diesen
Fällen sind die als gleich erklärten Gröfsen nur in gewisser Be-
ziehung einander gleich. Es gehört, um über die Gleichheit zu
entscheiden, die Kenntnifs der Methode dazu, nach der die Ver-
gleichung ausgeführt werden soll Es können zwei Gewichte gleich
schwer sein, Bie können aber sehr verschiedene Temperatur und
können sehr verschiedene Helligkeit haben; die Gleichheit der
einen Beziehung läfst nicht auf Gleichheit der andern Beziehungen
schliefsen, und es wird immer noch nöthig sein, dafs wir eine
weitere Bestimmung darüber hinzufügen, in welcher Weise die beiden
Körper verglichen werden sollen. Zugleich bemerken wir, dafs die
Ungleichheit der allgemeinere Fall ist und die Gleichheit einen be-
sonderen Ausnahmsfall bildet Wir werden bei der Vergleichung
zweier Körper in der Regel die Schwere oder die Temperatur oder
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§ 10. DER BEGRIPP DER GLEICHHEIT. 27
die Helligkeit ungleich finden; aber es wird möglich sein, die Eigen-
schaften des einen Körpers so za ändern, dafs Gleichheit eintritt
Nun ergiebt sich aber noch eine nähere Bestimmung des
Begrins der Gleichheit, welche wir eigentlich als zur Definition ge-
gehörig bezeichnen können, eine Bestimmung, die sich ausdrückt
in dem gewöhnlich als erstes Axiom der Arithmetik angegebenen
Satze: Wenn zwei Gröfeen einer dritten gleich sind, so sind
sie unter sich gleich. In dieser allgemeinen unbestimmten
Fassung ist der Satz offenbar nicht richtig, sondern es kann eine
Gröfee z. B. in ihrem Gewicht einer zweiten gleich sein, und eine
dritte kann der zweiten in Bezng auf die Farbe gleich sein. Das
würde keinerlei Gleichheit zwischen der ersten und dritten be-
stimmen. Aber der Satz ist richtig und von grofeer Wichtigkeit,
wenn wir ihn auf solche Größen anwenden, die nach derselben
Beobachtungsmethode vorglichen werden. Solche GrÖfsen wollen
wir in Bezug auf die Beobachtungsmethode als gleichartig be-
zeichnen. Hier können wir dieses arithmetische Axiom eigentlich
als die Definition einer Gleichheit betrachten. Es mufs das Axiom
erfüllt sein für die Fälle, wo wir zwei Paare von GrÖfsen unter
einander als gleich anerkennen sollen. Um das zu erläutern, wollen
wir z. B. annehmen, wir würden zwei Gewichte dadurch vergleichen,
dafs wir sie auf die beiden Schalen einer Waage legen und würden
sie für gleich erklären, wenn die Waage einspielt. Man sieht
sogleich, dafs diese Definition der Gleichheit nur dann dem arith-
metischen Axiom entspricht, wenn die Waage genau gleicharmig
ist. Denn an einer ungleicharmigen Waage würde an dem längeren
Arm das Gewicht a etwas kleiner sein müssen, als das Gewicht b
an dem kürzeren Arm, wenn die beiden sich im Gleichgewicht
halten sollen. Würde nun ein drittes Gewichte in derselben Weise
mit b verglichen wie b mit a, so käme b an den längeren Arm und
e auf den kürzeren. Spielt jetzt wieder die Waage ein, so würde
sie nicht mehr einspielen können, wenn c in derselben Weise mit
a verglichen wird, wie b mit a verglichen wurde. Diese Definition
der Gleichheit durch das Einspielen einer ungleicharmigen Waage
wäre nicht zulässig, weil sie dem Axiom widerspricht, dafs zwei
Gröfsen, die einer dritten gleich sind, auch unter einander gleich
sind. In ähnlicher Weise könnte es zunächst als zweifelhaft er-
scheinen, ob man in Bezug auf die Temperaturen die Definition
der Gleichheit so geben darf, wie es oben geschah, weil die Art
wie wir einen Körper erwärmen, sehr verschieden sein kann.
Werden zwei Körper in Bezug auf die Temperatur gleich genannt.
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ZWEITER ABSCHNITT.
die so in Berührung gebracht sind, dafs die Wärme von dem
wärmeren zum kälteren übergehen kann, so ist von vorn herein
noch nicht gewifs, ob diese Definition zulässig ist Erst durch den
Versuch überzeugen wir uns, dafs ein dritter Körper, z. B. ein
Thermometer, das mit dem ersten Korper gleiche Temperatur hat,
auch mit dem zweiten in der Temperatur übereinstimmt Aber
wir würden nicht berechtigt sein, ehe wir entsprechende Experi-
mente gemacht haben, zu schliefen, dafs die Art der Erwärmung,
also z. B. durch einen chemischen Prozefs oder durch die Sonne
oder durch Reibung für die thermometrische Wirkung nicht in Be-
tracht kommt, dafs also die thermometrische Wirkung unabhängig
ist von der Art der Wärme, die wir angewendet haben. Wir
müssen anerkennen, dafs das ein empirischer Satz ist, und in der
That ist er ja im Wesentlichen nichts Anderes, als der zweite Haupt-
satz der mechanischen Wärmelehre, aus dem eine Menge anderer
Sätze hergeleitet werden. Zur Definition der Gleichheit gehört
also der Satz, dafs zwei Gröfsen, die einer dritten gleich sind, auch
unter einander gleich sind. Nur solche Untersuchungsmethoden
dürfen zur Definition der Gleichheit verwendet werden, für die das
arithmetische Axiom erfüllt ist Ob es erfüllt ist, wird durch das
Experiment entschieden.
§ 11. Verglelchung ungleichartiger Körper.
In der Natur haben wir es selten mit Fällen zu thun, wo eine
gröfsere Anzahl von Naturkörpern vollständig gleich sind. Auch
selbst wenn sie gleichartig sind, so stehen sie nicht immer in
einem solchen Verhältnisse zu einander, dafs man sie gleich setzen
kann, sondern wir haben meistentheils mit Fällen zu thun, wo in
Bezug auf die zu vergleichende Eigenschaft die einzelnen Natur-
körper gewifse Gröfsenverschiedenheiten zeigen. Den Begriff der
Gleichartigkeit hatten wir oben so definirt, dafs als gleichartig solche
Körper zu betrachten sind, welche nach derselben Methode unter
einander verglichen werden dürfen. Aber gleichartige Körper können
noch immer in der Gröfse gleich oder ungleich sein. Wir kommen
dadurch zu der Aufgabe, ungleich grofse, aber gleichartige Körper mit
mit einander zu vergleichen. Ist es möglich, eine Methode der Verglei-
chung so auszuführen, dafs man den einen Körper einem Aggregat
zweier oder mehrerer Körper gloich setzt? Zu dem Ende müssen wir
untersuchen, nach welchen Gesetzen sich zwei Körper in Bezug
auf eine Eigenschaft oder eine W T irkung zusammensetzen oder,
!
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DER BEGRIFF DES ZÄHLEXS.
29
wie Gbassmann sagt, mit einander verknüpfen lassen. Unter Ver-
knüpfung versteht Grassmann irgend eine Art der Verbindung,
sei es begrifflicher Verbindung, wie sie beim Zählen vorkommt,
oder natürlicher Verbindung, wie sie bei allerlei Arten von Zu-
sammenwirken verschiedener Körper vorkommen kann, wobei es
z. B. auf die Gröfse oder auf das Gewicht oder auf die Raum-
dimensionen oder auf mannigfaltige andere Arten des Zusammen-
wirkens ankommen kann. Man kann sagen, dafe der gröfste Teil
der Aufgaben, mit denen wir uns in der mathematischen Physik
zu beschäftigen haben, mit Arten der Zusammenfassung oder der
Verknüpfung zu thun hat, bei welcher das Resultat wie das Resultat
einer Addition durch eine Summe dargestellt wird. Wir können
uns aber nicht auf die Art der Addition beschränken, wie
sie etwa einfach dadurch gegeben wird, dafs wir zwei Haufen von
Körpern zusammenthun und durchzählen, sondern es kommen viele
verschiedene Arten der Verknüpfung vor, die sachlich von der
Zahlenaddition verschieden, aber durch dieselben Gesetze geregelt
werden. Man denke z. B. an die Zusammensetzung gerader Linien
in Bezug auf ihre Länge, oder an die Zusammensetzung von Drei-
ecken in Bezug auf ihre Fläche.
Wir setzen zwei gerade Linien in einer bestimmten Weise zu
einer dritten geraden zusammen, von der wir sagen, dafs sie der
Länge nach der Summe jener beiden gleich sei; und ebenso können
wir in einer bestimmten Weise zwei Dreiecke zu einem dritten Drei-
eck zusammensetzen, von dem wir sagen, dafs es der Fläche nach
der Summe jener beiden gleich sei. Und zahlreiche ähnliche Bei-
spiele finden sich in der theoretischen Physik, wo eine gewisse Zu-
sammensetzung der Gröfsen Addition genannt wird, weil dieselben
Gesetze erfüllt sind, die bei der Addition ganzer Zahlen gefunden
und für den Begriff der Addition als wesentlich erkannt werden.
Welches sind nun diese für den Begriff der Addition wesent-
lichen Gesetze? Sie ergeben sich am einfachsten aus dem Begriff
des Zählens.
§12. Der Begriff des Zählens und die Gesetze der Addition.
Wenn wir die Anzahl eines Haufens von Gegenständen zu be-
stimmen haben, so ist dazu nur vorauszusetzen, dafs die Gegenstände
weder eine Theilung erleiden noch mit einander verschmelzen; son-
dern dafs jeder Gegenstand eine abgesonderte Existenz besitzt und
während des Zählens behält
Es kann sich dabei um irgend welche Objecto handeln, die
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30
ZWEITER ABSCHNITT.
§ 1«.
unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nur dafs wir sie von ein*
ander müssen sondern können. Es können greifbare Dinge sein
wie Münzen, Klötze, Eier, oder nicht greifbare wie Worte oder Töne
oder Lichter, vorausgesetzt nur immer, dafs jedes einzelne von diesen
Objecten nicht mit den andern verschmelzbar ist und eine abgeson-
derte Existenz besitzt und diese während des Zählens behält
Die Anzahl der Objecte bestimmen wir in der Weise, dafs wir eins
nach dem andern absondern und von der Zahl eins angefangen jedes-
Mal die nächste ganze Zahl nennen nach ihrer Reihenfolge. Die
letzte Zahl, zu der wir auf diese Weise kommen, heifst die Anzahl
der gezählten Objecte. Die Zahlen sind im Wesentlichen nichts
anderes, als gewisse hörbare oder sichtbare oder fühlbare Zeichen,
welche weiter keine wesentlichen Eigenschaften haben, als dafs Bie
immer in einer bestimmten Ordnung wiederkehren sollen und jede
einzelne von allen anderen unterscheidbar sein soll. Dafs auf die
Art dieser Zeichen gar nichts ankommt, das zeigt sich daran, dafs
in den verschiedenen menschlichen Sprachen ganz verschiedene
Zeichen für die Zahlen gewählt worden sind. Für jedes Zeichen
ist also wesentlich zu wissen, wie das folgende Zeichen lautet oder
aussieht oder sich anfühlt. Wenn wir das wissen und wenn wir
das erste Zeichen kennen, so können wir zählen.
So ist z. B. das Zählen ermöglicht, wenn wir festsetzen, das
erste Zeichen sei das Zeichen 1, das folgende das Zeichen 2, das
folgende 3 u. s. f., gleichgültig ob wir nun gerade diese oder irgend
welche andere unterscheidbare Zeichen wählen. Die Festsetzung,
dafs z. B. das Zeichen 4 auf das Zeichen 3 folgt, wollen wir in der
Gleichung ausdrücken:
3 + 1=4.
Das Zeichen + 1 zu 3 gefügt, soll also nur heifsen, dafs das
folgende Zeichen genommen werden soll.
Die Möglichkeit des Zählens besteht in der Fähigkeit unseres
Gedächtnisses, eine solche Reihenfolge von willkürlich gewählten
Zeichen zu behalten und zu jeder Zeit in derselben Ordnung wieder
zu produciren. Die Art der Zeichen ist dabei vollkommen gleich-
gültig.
Was nun den Begriff der Addition betrifft, so betrachten wir
zwei Gruppen von Objecten, die wir zu einer Gruppe zusammen-
fügen. Wir addiren die Anzahlen der beiden Gruppen, indem wir
die Anzahl der Objecte in der Gesammtgruppe feststellen. Das ge-
schieht dadurch, dafs wir die beiden Gruppen hinter einander abzählen.
DEK BEGRIFF DES ZÄHLENS.
31
Nachdem wir mit der einen Gruppe fertig geworden sind, zählen
wir weiter in der Reihenfolge der natürlichen Zahlen, indem wir
die Körper der andern Gruppe allmählich zu dem Haufen gezählter
Körper hinzufügen.
Besteht z. B. die erste Gruppe aus 8 Objecten und die zweite
nur aus einem Object, so ist die Addition durch die Gleichung 3 + 1 = 4
ausgedrückt, durch dieselbe Gleichung, welche die Beziehung der
beiden auf einander folgenden Zeichen definirt. Besteht dagegen
die zweite z. B. aus 4 Objecten, so zählen wir von 3 aus 4 Schritte
weiter, d. h. wir zählen die Zahlzeichen, die auf 3 folgen, und bleiben
bei dem vierten stehen. Dies Zeichen ist 7, und das Resultat
drücken wir durch die Gleichung aus 3 + 4 = 7.
Um dieses Verfahren auszuführen, brauchen wir aber keine
Gruppen von körperlichen Gegenständen zu haben, sondern wir
können das auch an rein imaginirten Vorstellungen machen, an
unseren Zahlzeichen. Wir beginnen mit derjenigen Zahl, welche
der letzten Zahl der ersten Gruppe folgt, und zählen die Zahlzeichen
von hier ab durch, bis wir die der zweiten Gruppe entsprechende
Anzahl abgezählt haben. Das letzte Zahlzeichen entspricht der
Summe der beiden Zahlen. Sei nun a das Zahlzeichen der ersten
Gruppe, b das Zahlzeichen der zweiten und * das Zahlzeichen der
Gesammtgruppe, so schreiben wir
a + b = s,
um diesen Procefs zu bezeichnen, nach dem s gefunden wird. Für
den speciellen Fall, wo b = 1 ist, geht * in die auf a folgende
Zahl über.
Wenn nun in der zweiten Gruppe die Anzahl um eins gröTser
wäre, so würde b + 1 an die Stelle von b treten. Dann würden
wir auch beim Abzählen der Zahlzeichen, die auf a folgen, um eine
Stelle weiter kommen. An die Stelle von s müfste also s + 1 treten.
Damit erhalten wir das Gesetz:
a + (b + 1) = s + 1
oder anders geschrieben:
a + (b + 1) = (a + b) + 1.
Die Klammer bedeutet dabei, dafe die Zahl gemeint ist, die
sich als Resultat der in der Klammer bezeichneten Operation ergiebt
Wir können sagen, dies Gesetz enthalte die Definition der Addition,
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in so fern es lehrt, die Summe von a und b + 1 zu finden, wenn
man die Summe von a und b schon kennt. Da die Summe a + l
durch die Definition des Zählens gegeben ist, so ist mithin durch
das Gesetz
a + {b + 1) = (a + b) + 1
die Addition vollständig definirt
Aus diesem Gesetz folgt sogleich das Allgemeinere:
a + {b + c) = [a + b) + c.
Für c « 1 geht es in das vorige Gesetz über. Nun läfet
sich zeigen, dafs, wenn rar irgend einen Werth von c das Gesetz erfüllt
ist, es auch erfüllt bleibt, wenn c + 1 an die Stelle von c tritt.
Damit ist es dann allgemein bewiesen. Wir fügen zu beiden Seiten
der Gleichung 1 hinzu. Dann müssen die beiden sich so ergeben-
den Zahlen ebenfalls einander gleich sein:
[a + {b + c)] + 1 = [(a + b) + c] + 1.
Nach der Definition der Addition aber, werden wir diese Summe
auch so bilden können, dafs wir die 1 nicht zu der ganzen Summe
hinzu addiren, sondern zum zweiten Summanden. Damit erhal-
ten wir:
a + ((b + c)+l) = {a + b) + [c + l)
und da ferner nach der Definition der Addition {b -f c) + 1 = b + (c + 1)
ist, so wird:
a + (b + (c + 1)) = (a + b) + (c + 1),
was sich nur dadurch von der Gleichung
a + (b + c) - {a + b) + c
unterscheidet, dafs c + 1 an die Stelle von c getreten ist Da die
Gleichung für c = 1 richtig ist, so mufs sie daher auch für jeden
Werth von c richtig sein.
Aufser dem Gesetz
a + [b + c) = (a + b) + c
ißt noch ein anderes für die Addition wesentlich:
DER BEGRIFF DES ZÄHLENS.
33
Wir beweisen zunächst den einfacheren Fall:
a + 1 = 1 + a.
In dem Falle, wo a = 1 ist, fällt der Unterschied der beiden
Seiten der Gleichung weg und wir erhalten die Identität 1 + 1 = 1 + 1.
Wir beweisen nun, dafs, wenn diese Gleichung für einen bestimmten
Werth von a richtig ist, sie auch für a + 1 richtig sein mufs. Aus
a+ 1 - 1 +a
folgt durch Hinzufügung Ton 1 auf beiden Seiten:
(a + 1) + 1 = (1 + a) + 1.
Nach dem ersten Gesetz der Addition ist aber:
(l+«) + l- l+ (a + l).
Folglich ergiebt sich:
{a + 1) + 1 = 1 + (a + 1).
Mit andern Worten, wenn für irgend einen Werth von a die
Gleichung a + 1 = 1 + a richtig ist, so ist sie auch für den folgen-
den Werth und damit für alle folgenden richtig. Nun ist die
Gleichung für a = 1 eine Identität; mithin ist sie für alle Werthe
von a richtig.
Nun steigen wir von der Gleichung
a + 1 = 1 + a
zu dem allgemeineren Gesetz:
a + b = b + a
auf, indem wir auch hier den Schlufs von b auf b + 1 machen. Ist
für irgend einen Werth von b die Gleichung a + b = b + a erfüllt,
so fugen wir auf beiden Seiten 1 hinzu und erhalten:
[a + b) + 1 = (* + a) + 1.
Auf der linken Seite finden wir nach dem Gesetz, dafs die
Addition definirt [a + b) + 1 = a + (b + 1), auf der rechten Seite
[b + a) + 1 = * + {a + 1).
Damit geht unsere Gleichung über in
a + [b + 1) = * + {a + 1).
H. v. Hblmholtk, Theoret. Physik. Bd. I, 1. 8
34
ZWEITER ABSCHNITT.
Nun haben wir aber eben gesehen, dafs in der Summe a + 1
die Summanden vertauscht werden können. Wir können also auch
setzen:
a + {b + 1) = b + (1 + a).
Indem wir nun wieder nach dem Definitionsgesetz auf der
rechten Seite das mittlere Glied zum ersten addiren, erhalten wir
a + [b + 1) = {b + 1) + a.
Wenn also die Gleichung a+b=b+a für eine Zahl b gilt,
so gilt sie auch für die nächst höhere Zahl b + 1 , welches auch a
sein mag. Da nun für b = 1 und beliebige Werthe von a ihre
Richtigkeit bewiesen ist, so gilt sie damit auch für beliebige Werthe
von b.
Damit sind die beiden Gesetze der Addition
1. (a + b) + c = a + (b + c)
2. a + b = b + a
aus dem Definitionsgesetz der Addition
( fl + Ä)+l=a + (Hl)
hergeleitet.
Aus dem ersten Gesetz können wir auch folgern, dafs bei einer
Summe beliebig vieler Summanden irgend eine Gruppe auf einander
folgender Summanden für sich zu einer Summe zusammengefafst
werden kann, ohne das Resultat zu ändern.
Aus den beiden Gesetzen 1 und 2 folgt ferner, dafs bei einer
Summe von beliebig vielen Summanden die Reihenfolge gleichgiltig
ist Denn nach dem ersten Gesetz können wir irgend zwei auf
einander folgende Summanden zusammenfassen, ohne das Resultat
zu verändern und nach dem zweiten Gesetz können wir sie dann
vertauschen. Durch Vertauschung eines Summanden mit dem be-
nachbarten kann man aber jeden Summanden an jede beliebige
Stelle bringen und damit die Reihenfolge der Summanden beliebig
ändern.
Die Gesetze 1 und 2 sind specielle Fälle dieser beiden all-
gemeineren Gesetze.
Bei irgend einem Process der Verknüpfung oder des Zusammen-
wirkens von Gröfsen werden wir sagen: Die Axiome der Addition
sind erfüllt, wenn das Resultat des Zusammenwirkens unabhängig
S 12. DER BEGRIFF DES ZÄHLENS. 35
ist, erstens, von der Ordnung, in welcher die Verknüpfungen der
einzelnen Paare von Gröfsen mit einander vor sich gehen, d. h. wie
diese gruppenweise zusammengefaßt werden, und zweitens von der
Reihenfolge, in der diese Verknüpfungen erfolgen.
Denken wir z. B. daran, dafs wir Gewichtsstücke auf die beiden
Waag8chaalen einer gleicharmigen Waage legen. Wir finden, dafs es
beim Einspielen der Waage ganz einerlei ist, in welcher Reihen-
folge wir die Stücke auflegen, ob z. B. die grofsen Stücke zuerst
und nachher die kleinen oder umgekehrt Und zweitens finden wir,
dafs es einerlei ist, ob wir eine Gruppe von Gewichtsstücken durch
ein ihnen gleiches ersetzen. Wir zeigen auf diese Weise durch
das Experiment, dafs das entstehende Gleichgewicht unabhängig ist
sowohl von der Art, wie wir die einzelnen Gewichte verknüpfen
und etwa gruppenweise durch ein grosseres ersetzen, als auch von
der Reihenfolge, wie wir sie auflegen. Wir zeigen mithin durch
das Experiment, dafs, wenn mehrere Gewichtsstücke gleichzeitig auf
die Waagschaale gebracht werden, die wesentlichen Merkmale der
Addition erfüllt sind.
Setzen wir gerade Linien dadurch zusammen, dafs wir Ende
an Ende legen und die Entfernung der beiden freien Enden als
Resultat der Verknüpfung ansehen. Die Entfernung ist nicht ein-
deutig bestimmt, so lange wir die Richtung beliebig lassen. Wir
machen daher die weitere Festsetzung, dafs die beiden Linien in
dieselbe Gerade gebracht werden sollen. Dann bleiben nur zwei
Möglichkeiten. Entweder liegen die freien Enden auf verschiedenen
Seiten, oder sie liegen auf der gleichen Seite der zusammengelegten
Enden. Im ersten Falle ist die Entfernung der äufseren Punkte
ein Maximum , im zweiten ein Minimum. Wir können die Defini-
tion auch so machen: Es sollen die beiden freien Enden festgehalten
werden. Dann sollen die Linien so zusammen gelegt sein, dafs der
mittlere Punkt, indem 'die anderen Enden zusammenstofsen, keine
Bewegung mehr machen. Es bleiben dann auch nur die beiden oben
erwähnten Arten der Zusammensetzung möglich. Sind nun für diese
beiden Arten die Gesetze der Addition erfüllt? Das Gesetz a + b=b + a
ist für beide Arten erfüllt; denn die Entfernung der beiden freien
Enden bleibt bei der Vertauschung der beiden Linien die gleiche.
Aber das Gesetz (a + b) + c — a + {b + c) ist nur für die eine Art
der Zusammensetzung erfüllt, wenn die zusammengelegten Enden
zwischen den freien Enden liegen. Daher kann von den beiden
Arten nur diese Art der Zusammensetzung als Addition aufgefafst
werden.
3»
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36
ZWEITER ABSCHNITT.
S 1».
Wir können farbige Lichter zusammensetzen, z. B. indem
wir dieselbe Fläche gleichzeitig beleuchten. Durch das Ex-
periment läfst sich feststellen, dafs die Gesetze der Addition
dabei erfüllt sind. Wir nennen die Lichter gleich, wenn sie die
gleiche Helligkeit und Farbe haben und überzeugen uns durch das
Experiment, dafs sie bei der Zusammensetzung gruppenweise durch
ein ihnen gleiches Licht ersetzt werden können, und daß die Reihen-
folge der Zusammensetzung beliebig geändert werden kann, ohne
das resultirende Licht in Farbe und Helligkeit zu ändern. Man
ist daher berechtigt zu sagen, dafs die Lichter addirt werden.
Ebenso kann man die Widerstände von Leitungsdrähten für elek-
trische Ströme addiren, indem man die Leitungsdrähte der Länge
nach an einander fügt und den Strom durch die ganze Länge
hindurch gehen läßt Andrerseits können wir auch die Leitungs-
fähigkeit der Drähte addiren, indem wir sie nämlich parallel mit
einander zu einem dickeren Leiter verbinden. Die resultirende
Leitungsfähigkeit sind wir berechtigt, die Summe der Leitungs-
fahigkeiten der einzelnen Drähte zu nennen. Dies Beispiel ist
insofern lehrreich, als die Art, wie Widerstände oder Leitungsfähig-
keiten verglichen werden, dieselbe ist, weil diese beide Gröfsen
Funktionen von einander sind. Die Leitungsfähigkeit ist der reci-
proke Wert des Widerstandes. Die Methode der Vergleichung giebt
keine Entscheidung darüber, welche von zwei ungleichen Gröfsen
die gröfsere ist Denn Widerstand und Leitfähigkeit z. B. bewegen
sich ja entgegengesetzt Der gröferen Leitfähigkeit entspricht der
kleinere Widerstand. Erst die Methode der Addition bestimmt
auch den Begriff des Kleiner und Gröfser. Fast bei allen physi-
kalischen Gröfsen ist es zunächst nötig, Zusammensetzungen zu
suchen, die als eine Addition bezeichnet werden können, bei denen also
das Resultat der ganzen Zusammenfassung von der Zusammen-
fassung in Gruppen und von der Reihenfolge, in welcher wir die
einzelnen Gröfsen zusammenfassen unabhängig ist.
§ 13. Die irrationalen Zahlen und die continuirlich veränder-
lichen Gröfsen.
Sobald wir für bisher unbekannte Arten von Gröfsen die
Methode ihrer Addition gefunden haben, so erlangen wir dadurch
die Kenntnifs einer gröfsen Reihe von Eigenschaften, von allen
solchen Eigenschaften, die unmittelbar aus den Axiomen der Addition
fliefsen. Wir können dann auch gleiche Gröfsen derselben Art
IRRATIONALE UND CONTINUIKLICHE GROSSEN.
87
addiren und kommen dadurch auf den Begriff einer Anzahl von
gleichen Gröfsen, die zusammengefügt ein Ganzes bilden. In diesem
Falle ist aber das Ganze als die Summe einer Reihe gleich großer
Stücke zu betrachten, und solche Größen pflegen wir dann dadurch
zu bezeichnen, dafs wir die Anzahl der Stücke und die Art der
Einheitsgröfse, d. i. die Art der gleichen Einzelstücke, welche wir
zusammengefügt haben, angeben. Dadurch kommen wir auf den
Begriff der benannten Zahlen. Sobald die Einheitsgröfse als bekannt
vorausgesetzt werden kann, genügt eine Zahl, um eine gleich-
artige Gröfse zu bezeichnen. Wir können dadurch z. B. jedem An-
dern, der weife, wie schwer ein Grammstück ist, jedes beliebige Ge-
wicht definiren und genau beschreiben, und zwar so beschreiben, dafs
er, wenn er will, es wieder herstellen und wieder auffinden kann.
Und zwar sind wir nicht gebunden an eine Reihe von Gröfsen,
welche durch ganze Zahlen repräsentirt werden, sondern wir können
Stücke definiren, deren Gröfsen sich wie irgend zwei ganze Zahlen
zu einander verhalten, indem wir jedes von ihnen durch dieselbe
passend gewählte Einheit ausdrücken. Dadurch wird also die Möglich-
keit, die Naturgesetze auszusprechen, aufserordentlich erweitert, und
es ist deshalb die Rückführung der Beschreibung von Gröfsen auf
Einheitsgröfsen und auf die ganzen Zahlen und deren Verhältnisse
ein aufserordentlich wichtiger Schritt
Nun ist hier eine Schwierigkeit zu erwähnen. Bei vielen
Gröfsenarten der Natur können wir Stücke von jeder beliebigen
Gröfse als zählbare Gegenstände herstellen und damit beliebige
Gröfsenverhältnisse durch zwei verschieden gröfse Stücke thatsächlich
zur Darstellung bringen. So können wir das bei Gewichten thun, wir
können es thun, wenn es sich um Längen handelt und bei vielen
andern Gröfsen. Aber wir können nicht behaupten, dafs das Gröfsenver-
hältnifs immer durch ganze Zahlen wiedergegeben werden kann. Die
Construction der Diagonale eines Quadrates z. B. giebt uns schon einen
Fall, wo das Längenverhältnifs zur Quadratseite nicht durch ganze
Zahlen ausgedrückt werden kann. Wir nennen das ein irrationales
Verhältnifs. Um ein irrationales Verhältnifs durch ganze Zahlen zu
bezeichnen, helfen wir uns dadurch, dafs wir Brüche mit immer
gröfserem Zähler und Nenner suchen, die dem wirklichen Verhält-
nifs immer näher und näher kommen.
So giebt uns die Arithmetik eine Reihe von Methoden, um dem
Längenverhältnifs der Diagonale zur Quadratseite, d. i. dem Werthe
y2 durch Verhältnisse von ganzen Zahlen so nahe zu kommen, wie
wir wollen. Wenn nach dem rationalen Verhältnifs aus der Quadrat-
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ZWEITER ABSCHNITT.
§ 13.
seile eine Länge construirt würde, so würde sie mit der Länge der
Diagonale so genau übereinstimmen, als wir nur wollen.
Die Schwierigkeit liegt hier nur in der Bechenoperation. Dafs
in der Natur Diagonalen der Quadrate existiren, das ist ja keine
Frage, und ebenso können sich andere irrationale Verhältnisse bei
bestimmten physikalischen Untersuchungen uns darbieten. Die
Schwierigkeit oder die Unmöglichkeit besteht hier nicht in dem
wirklichen Vorkommen solcher Gröfsen und Gröfsenverhältnisse,
sondern in der Unvollkommenheit unserer Methoden, die wirklichen
Gröfsenverhältnisse anzugeben.
Aehnlich verhält es sich mit der viel diskutirten Frage über
die Existenz continuirlicher Gröfsen. Wir werden sehen, dafs uns
gleich die ersten Untersuchungen über physikalische Wirkungen von
Kräften dazu führen, Gesetze der Bewegung aufzusuchen, und dafs
wir uns eine Bewegung eines materiellen Punktes nicht wohl anders
vorstellen können, als dafs der Punkt continuirlich ohne Lücke die
Reihe der Punkte durchläuft, welche auf seinem Wege liegen, und
zwar, ohne jemals einen noch so kleinen Zwischenraum zu über-
springen. Es liegt sogar eigentlich schon in dem Begriff und
in der Vorstellung der Bewegung eines Punktes, dafs wir mit
einem solchen Gedanken eines von einem Punkte zu einem ent-
fernten überspringenden Körpers nichts anzufangen wissen. Wenn
ein Körper sich durch den Baum bewegen soll, so haben wir dabei
den Begriff und verlangen, diesen Begriff festzuhalten, dafs das
identisch derselbe Körper sei, der nach einander in die verschiedenen
Punkte des Weges hinein kommt, und diese Identität des bewegten
Körpers ist für unsere Vorstellung nur fafsbar, wenn ein allmählicher
Uebergang vorhanden ist Wenn der Uebergang durch eine con-
tinuirliche Beihe von Baumpunkten hindurch stattfindet, so ist durch
die Nachbarschaft der Punkte die Voraussetzung schon angebahnt,
dafs es derselbe Körper sein kann, der nach einander durch die
verschiedenen Punkte hindurch geht Dagegen bei einem Punkte,
der intermittirend seine Bahn durchliefe und bald an der einen
Stelle, im nächsten Augenblicke an einer davon entfernten Stelle
wäre, bei einem solchen würden wir niemals in unserer Vorstellung
anerkennen, dafs es derselbe Punkt ist Denn wir würden gar keine
Kennzeichen uns auch nur vorstellen können, wodurch der Punkt
als identisch gegeben wäre.
Andererseits wird der Begriff der Continuität auch durch die
Vorstellung verlangt, daß wir durch eine Fläche einen Baum ab-
schliefsen können und durch eine Linie eine Fläche abgrenzen
§ 13.
IRRATIONALE UND CONTINUIRLICHE GROSSEN.
39
können; denn eine solche Begrenzung eines Fl&chenstückes würden
wir niemals ausfuhren können durch eine Reihe von einander ge-
trennter Punkte, die in der Fläche liegen, sie mögen noch so nahe
an einander sein.
Diese Vorstellungen zwingen uns dazu, auch die Existenz con-
tinuirlich sich ändernder Gröfsenverhältnisse anzunehmen. Nun hat
es keine Schwierigkeit, von solchen continuirlich sich ändernden
Gröfsen stetig sich ändernde Functionen zu bilden. Diese stellen
dann auch continuirlich sich ändernde Gröfsen dar.
Wenn z. B. für einen Werth der unabhängigen Veränder-
lichen x die Function gröfser als 2, für einen anderen Werth da-
gegen kleiner als 2 wäre, so würden wir einen Werth von x finden
können, für welchen die Function den Werth 2 hat D. h. strenge
genommen finden wir ein beliebig kleines Intervall von x, für das
die Function beliebig wenig von 2 verschieden ist Das Intervall
wird zugleich mit der Abweichung von 2 beliebig klein. Bei einer
stetigen Function genügt es, dafs sie für jeden rationalen Werth
der unabhängigen Veränderlichen x eines Intervalls definirt sei, um
für jeden Werth des Intervalls mit beliebiger Genauigkeit berechnet
werden zu können. In der Physik haben wir es nur mit solchen
Functionen zu thun, obgleich man sehr wohl mathematische Aus-
drücke bilden kann, die in keinem Intervall stetige Functionen defi-
niren, trotzdem sie für jeden rationalen Werth von x wohl definirt
sind.
So ist z. B.:
eine Summe, die für jeden rationalen Werth von x einen bestimmten
endlichen Werth hat Sind m und n irgend zwei ganze Zahlen
und setzt man x « m/n, so ist von a - n ab jedes Glied der Reihe
gleich Null, weil alxn für o^n nothwendig ein ganzes Vielfaches
von n ist Es besteht dann also der Ausdruck aus einer endlichen
Anzahl von Gliedern und hat einen bestimmten endlichen Werth.
Für einen irrationalen Werth von x kann dagegen keines der
Glieder wegfallen. Die Reihe bleibt unendlich und es läßt sich
zeigen, dafs sie keinen bestimmten Werth annimmt.
40
ZWEITER AB8CHNITT.
% 14. Verknüpfungen von Gröfsen zu ungleichartigen
Gröfsen.
Eine benannte Zahl bildeten wir als die Summe einer gewissen
Anzahl gleicher physikalischer Größen. Das heifst also, wir haben
ein Product, in dem der eine Factor eine physikalische Gröfse ist,
die wir als Einheit bezeichnen. Der andere Factor ist eine reine
Zahl Alle diese Gröfsen lassen eine additive Verbindung zu, die
immer wieder Gröfsen der gleichen Art liefert Nun giebt es aber
in vielen Fällen auch Methoden, um auf andere Art aus gegebenen
Gröfsen andere abzuleiten, die nicht gleichartig sind.
So können wir z. B. aus Grundlinie und Höhe eines Rechteckes,
also aus zwei Langen, seine Fläche berechnen. Die Anzahl der
Quadratcentimeter, welche die Fläche F hat, finden wir als das
Product der Centimeter, die in der Grundlinie L und der Höhe R
enthalten sind:
F=L.R.
Ebenso kann ein Volumen als das rechnungsmäfsige Product
aus drei Linien dargestellt werden.
Wir finden auf diese Weise Gleichungen zwischen ungleich-
artigen benannten Zahlen. Sobald solche Gleichungen nur eine
Gröfse enthalten, deren Benennung bisher noch nicht definirt ist,
so kann man sie benutzen, um die Definition der Benennung zu
finden.
Der erste Schritt ist gewöhnlich der, zu erkennen, dafs
eine benannte Gröfse einem aus anderen benannten Gröfsen zusammen-
gesetzten Ausdruck proportional ist, und dann mufs man sich sagen,
dafs die Proportionalität in eine Gleichung verwandelt werden kann,
wenn man einen passenden Proportionalitätsfactor einfuhrt Der
Proportionalitätsfactor kann uns nun eine neue benannte Gröfse
liefern.
So hat man z. B. beim specifischen Gewicht zunächst nur die
Thatsache, dafs bei demselben Stoff die Masse dem Volumen pro-
portional ist Dann fuhrt man den Begriff der Dichtigkeit ein, die
man definirt durch das Verhältnifs zwischen der Gesammtmasse
und dem Volumen des Körpers. Die Dichtigkeit wird dadurch zu
einer physikalischen Gröfse, deren Einheit durch die Einheiten der
Masse und das Rauminhaltes gegeben ist
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DIE ABSOLUTEN EINHEITEN.
41
In den verschiedenen physikalischen Gesetzen kommen nun sehr
mannigfaltige Zusammensetzungen dieser Art vor. Und es werden
dadurch neue Größen eingeführt, deren Einheiten bisweilen in ziem-
lich complicirter Weise aus den ursprünglichen Einheiten zusammen-
gesetzt werden.
§ 15. Die absoluten Einheiten.
Nun besteht eine der ersten und wichtigsten Aufgaben der
theoretischen Physik darin, die Bewegungen eines materiellen Punktes
zu beschreiben.
Die Lage eines solchen Punktes im Räume ist durch 3 Co-
ordinaten gegeben. Als Coordinaten kann man allerlei geometrische
Gebilde benutzen.
Eine einfache Methode besteht darin, daJs man die senkrechten
Abstände von drei zu einander senkrechten Ebenen zur Bestimmung
der Lage im Baume benutzt Man kann die Bewegung eines Punktes
dadurch darstellen, dafs man angiebt, welche Coordinaten er in jedem
Zeitmoment haben soll. Wenn man auch die Einwirkung von Kräften
darstellen will, so zeigt sich, dafs man noch eine weitere Gröfse, die
Masse haben mufs, welche den Widerstand der Trägheit gegen die
einwirkenden Kräfte darstellt und daher zu einer vollständigen Be-
schreibung des Vorganges gebraucht wird.
Nun hat man im Laufe der Zeit immer mehr Beziehungen
zwischen den Bewegungen eines Körpers und den Übrigen physika-
lischen Eigenschaften der Körper kennen gelernt Sobald wir einen
Einflufs einer physikalischen Eigenschaft auf die Bewegung eines
materiellen Punktes von gegebener Masse wahrnehmen, so können
wir die Eigenschaft durch den Einfluß auf die Bewegung messen
und damit ihre Einheit auf die Einheiten von Masse, Länge und
Zeit zurückführen, durch welche wir die Bewegung des materiellen
Punktes beschreiben. Wir nennen diese drei die absoluten Einheiten.
Sie zeichnen sich dadurch aus, dafs sie genau reproducirt und
tiberliefert werden können und daher allgemein und genau be-
kannt sind.
Als Einheit für die Zeit benutzt man bei kürzer dauernden
Vorgängen meistentheils die Secunde. Für die Länge wird das
metrische System benutzt, für Versuche, die in kleinem Maafsstabe
ausgeführt werden, meistentheils das Centimeter oder wohl auch das
Millimeter, für gröfsere Dimensionen das Meter, oder wenn sie sich
über größere Teile der Erdoberfläche erstrecken, das Kilometer und
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ZWEITER ABSCHNITT.
* 16.
noch gröfsere Längen. Endlich für die Masse braucht man meisten-
teils das Gramm oder das Centigramm oder auch gröfsere Einheiten
je nach der Gröfse der Körper, mit denen man zu operiren hat
Die gewählten Einheiten brauchen bei der Definition einer auf
Masse, Länge und Zeit bezogenen Gröfee nicht angegeben zu werden,
weil die Beziehung für irgend welche Einheiten dieselbe bleibt So
ist z. B. die Kraft gesetzt gleich einer Masse multiplicirt mit einer
Länge und dividirt durch das Quadrat einer Zeit: M.L / T*. Je nach
der Wahl der Einheiten richtet sich die Einheit der Kraft Wird
z. B. statt des Gramm das Kilogramm gesetzt so wird die Einheit
der Kraft dadurch 1000 Mal so grofs, die Zahl, welche irgend eine
Kraft in den gewählten Einheiten mifst, wird also 1000 Mal so
klein. In der Gleichung
Kraft = * Gramm . Centimeter / (Secunde) 1
haben wir nur Gramm — x /iooo Kilogramm einzusetzen und erhalten
daraus
Kraft = x/ 1000 Kilogramm . Centimeter / (Secunde) 1
Das Analoge gilt für die Aenderung der Länge oder der Zeit.
Wenn statt der Secunde die Minute gewählt wird, so wird damit
die Einheit der Kraft 3600 Mal kleiner. Die Zahl dagegen, welche
irgend eine Kraft in den gewählten Einheiten mifst, wird damit
3600 Mal gröfser. In der Gleichung
Kraft = x Gramm . Centimeter / (Secunde) 2
haben wir einfach Secunde = '/eo Minute einzusetzen und erhalten
Kraft = 3600 x Gramm . Centimetor / (Minute) 1 .
statt der Zahl x haben wir in der neuen Einheit also die Zahl 3600 .r,
während die neue Krafteinheit Gramm . Centimeter / (Minute)* gleich
Vseoo Gramm . Centimeter / (Secunde)' ist
§ 16. Die Addition von Strecken und anderer complexer
Gröfsen.
Die Gesetze der Addition lassen sich auch für Complexe un-
gleichartiger Gröfsen festhalten. Wir addiren dabei die gleichartigen
Gröfsen, so dafs unter der Summe von Complexen ungleichartiger
Gröfsen der Complex der Summen gleichartiger Gröfsen verstanden
DIE COMPLEXE ADDITION.
43
wird. Eine Oleichuog, die besagt, dafe zwei Complexe zusammen-
genommen einem dritten gleich seien, bedeutet also nichts anderes,
als dafc alle in den ersten beiden Complexen enthaltenen Gröfsen
derselben Art zusammen genommen gleich sind der in dem dritten
Complex enthaltenen Gröfse derselben Art. Die Gleichung fafst
daher nur in eine Gleichung zusammen, was wir in mehreren
Gleichungen ausdrücken, indem wir die gleichartigen Gröfsen addiren.
Arithmetisch betrachtet ist also der Unterschied nur formal.
Physikalisch aber giebt es Beispiele solcher complexen Addition,
die nicht nur als formale Erweiterung des Additionsbegrines erscheint,
weil die ungleichartigen Gröfsen wirklich zu einer neuen Gröfse
zusammengesetzt werden. Die Lehre von der geometrischen Addition
der Strecken, wie sie zuerst H. Grassmann entwickelt hat, liefert
einen solchen Fall complexer Addition. Unter einer geometrischen
Strecke versteht Grassmann die gerade Verbindung von einem An-
fangspunkt zu einem Endpunkte, wobei aber nicht blos die Länge
der Strecke in Betracht kommt, sondern auch die Richtung, so dafe
wir zwei Strecken nur gleich setzen dürfen, wenn sie gleiche
Länge und auch gleichzeitig gleiche Richtung haben. Die Additions-
regel für solche Strecken spricht Grassmann in der folgenden Weise
aus. Wenn eine zweite Strecke zu der ersten addirt werden soll,
so setzt man den Anfangspunkt der zweiten Strecke an den End-
punkt der ersten, und construirt nun die Strecke, die vom Anfangs-
punkt der ersten Strecke zum Endpunkt der zweiten läuft. Sie
wird «als die geometrische Summe der beiden Strecken bezeichnet
Zunächst läfst sich zeigen, dafs die Ordnung, in welcher wir
die Strecken zusammenfügen, keinen Einflufs auf die Summe hat
Fig. 1. Fig. 2.
Wenn wir von demselben Anfangspunkt anfangen uud nun zuerst
die zweite Strecke zeichnen und daran die erste abtragen, so gelangen
wir zu demselben Punkt wie im ersten Fall (Fig. 1). Die beiden
Constructionen zusammen bilden die Figur eines Parallelogramme«,
dessen eine Diagonale die geometrische Summe der beiden Strecken
ist Damit ist das eine Gesetz der Addition a + b «= b + a für diese
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ZWEITER ABSCHNITT.
Zusammensetzung Ton Strecken bewiesen. Eben so läfst sich das
andere Gesetz (a + b) + c = a + {b + c) beweisen. Wenn wir zuerst
die Strecke 1 und 2 zusammensetzen und zu ihrer geometrischen
Summe eine dritte Strecke 3 geometrisch addiren, so gelangen wir
zu demselben Punkt, wie wenn wir zu der ersten Strecke die geo-
metrische Summe der zweiten und dritten geometrisch addiren
(Fig. 2).
Läfst man nur Strecken von zwei einander entgegengesetzten
Richtungen zu, so erhalt man eine geometrische Darstellung der
positiven und negativen Zahlen.
Läfst man aufser diesen Strecken auch noch Strecken von zwei
andern einander entgegengesetzten Richtungen zu, so lassen sich durch
geometrische Addition einer Strecke der ersten Art und einer Strecke der
zweiten Art alle Strecken zusammensetzen, die einer Ebene parallel
sind. Diese bilden damit eine geometrische Darstellung der complexen
Zahlen. Der reelle Theil der complexen Zahl entspricht der Strecke
der einen Art, der imaginäre Teil der der andern Art Die com-
plexe Zahl selbst entspricht der Strecke, die aus den beiden Strecken
durch geometrische Addition gebildet wird. Die Summe von irgend
welchen complexen Zahlen bildet man algebraisch, indem man die
reellen Theile für sich und die imaginären Theile für sich addirt
Geometrisch läuft dies auf die geometrische Addition der ent-
sprechenden Strecken hinaus. Denn jede Strecke läfst sich als
geometrische Summe zweier Strecken jener beiden Arten darstellen.
Nun kann man nach den Gesetzen der geometrischen Addition die
Summanden beliebig vertauschen und damit alle Strecken der einen
Art für sich und alle Strecken der anderen Art für sich addiren.
Das ist dann aber genau das algebraische Verfahren. In dieser
Weise hat Gauss die Deutung der complexen Gröfsen eingeführt
Er bezeichnet eine complexe Zahl mit
* + y » ,
wo x und y die beiden Strecken verschiedener Richtung bestimmen.
Denken wir uns alle Strecken von einem Punkt aus abgetragen,
den wir zum Anfangspunkt der Coordinaten machen, so können
x und y als die Coordinaten des Endpunktes der Strecke aufgefafst
werden. Die j-Axe giebt dabei die Richtung der Strecken an, die
dem reellen Theil entsprechen, die y-Axe dagegen die Richtung der
Strecken, die dem imaginären Theil entsprechen.
In dem speciellen Fall, wo wir diese Strecken senkrecht auf
§ 16.
DIE COMPLEXE ADDITION.
45
einander wählen, wird, wenn r die Länge der Strecke und ce
ihren Richtungswinkel bedeutet:
x = r cos a y = r sin a,
und damit
x + i y = r . (cos u -f »sin «),
oder auch:
x -f ty = r.<?' a .
In dieser Form ist die Mulüplication und Division coniplexer
Zahlen am einfachsten auszuführen, deren Besprechung wir indessen
hier übergehen. Die geometrische Addition ist nicht beschränkt
auf Strecken, die einer Ebene parallel sind, sondern ist ebenso gut
auf Strecken anwendbar, die ganz beliebig im Räume gerichtet
sein können. Jede Strecke im Räume können wir als geometrische
Summe von drei Strecken darstellen, deren Richtungen drei beliebig
festgesetzten Richtungen gleich oder entgegengesetzt sind. Nur
dürfen die drei festen Richtungen nicht einer Ebeue parallel sein.
In dieser Weise stellt sich eine Strecke im Räume als ein
Complex von drei ungleichartigen Gröfsen dar. Und ähnlich wie
die Strecken in der Ebene auf die complexen Zahlen mit zwei
Einheiten führen, so führen die Strecken im Räume auf complexe
Zahlen mit drei Einheiten. Das Rechnen mit solchen Zahlen ist
in der Quaternionentheorie von Hamilton begründet worden.
Dieselbe Art von Addition, wie wir sie für die Strecken definirt
haben, kann auf eine ganze Anzahl von Gröfsen angewendet werden.
Und zwar gilt das nicht nur von Gröfsen, die ihrer Definition
nach schon durch Strecken dargestellt werden, wie z. B. Kräfte und
Geschwindigkeiten; sondern auch von Gröfsen, die ganz andern
Gebieten der Physik angehören. Man kann z. B. zwei Lichter ver-
schiedener Farbe und Intensität mischen. Man denke sich dieselbe
Fläche von beiden Lichtern beleuchtet Dann bezeichnet man die
Farbe und die Intensität, unter der die Fläche bei der gleich-
mäfsigen Beleuchtung mit zwei Lichtern erscheint, als die Misch-
farbe. Diese Mischfarbe kann man als die Summe der Farben
bezeichnen, mit der jedes einzelne Licht die Fläche beleuchtet.
Es läfst sich nämlich zeigen, dafs man gleich aussehende Lichter
auf sehr verschiedene Weise durch Mischung herstellen kann. So
läfst sich z. B. Weifs zusammensetzen aus Scharlachroth und Grünblau,
oder aus Schwefelgelb und bläulichen Violett, oder aus Karminroth
und Grün. Die verschiedenen Arten von Weifs, die durch Mischung
46
ZWE1TEK ABSCHNITT.
8 16.
verschiedener Lichter gewonnen werden, sind übrigens in ihren
physikalischen Eigenschaften zum Theil sehr verschieden; so z. B.
wirkt ein Weifs, das aus Violett und Gelb zusammengesetzt ist,
aufserordentlich stark auf gewöhnliche lichtempfindliche Platten und
markirt sich in Photographien als ein sehr helles Licht, während
Scharlachroth und Blaugrün eine schwache Wirkung hat Die
Bestandteile haben eben in den verschiedenen Fallen ganz
verschiedene Wellenlangen, und wenn sie durch Diffraction zer-
legt werden, so bekommen wir ganz verschiedene Farbenerschei-
nungen. Dennoch lä&t sich für die physiologische Wirkung
auf das Auge der Satz aufstellen, wie er von Gbassmann formulirt
wurde, dafs gleich aussehende Lichter, die also aus sehr ver-
schiedenen Bestandteilen bestehen können, gemischt gleich aus-
sehende Mischungen geben. Dabei ist die Reihenfolge der Mischung
für das Resultat gleichgültig. Damit ist die Berechtigung gegeben,
die Farbenmischung als Addition aufzufassen; und es zeigt sich, dafs
es eine complexe Addition ist, ähnlich der der Strecken im Räume.
Man kann jede Farbe als Mischung aus drei Grundfarben zusammen-
setzen, die man mit gewissen Intensitäten zu nehmen hat. Jede
Grundfarbe mit ihrer Intensität bildet eine benannte Zahl und der
Complex der drei ungleichartigen benannten Zahlen stellt die
betreffende Mischfarbe dar. Die Zusammensetzung zweier beliebigen
Farben zu einer dritten läuft algebraisch auf die Addition der
beiden Intensitäten jeder der drei Grundfarben hinaus, geradeso wie
die geometrische Addition zweier Strecken im Räume algebraisch
auf die Addition der Zahlen hinausläuft, welche jede der drei
Componenten definiren.
Ein anderes Beispiel solcher Addition bildet die Schwerpunkts-
constraction von irgend welchen Massen, wenn wir uns jedes Mal
im Schwerpunkt die ganze Masse vereinigt denken.
Gewöhnlich werden die Farbenmischungen durch Schwerpunkte-
constructionen anschaulich dargestellt Man läfst den drei Grund-
farben die Ecken eines Dreiecks entsprechen und ihren Intensitäten
die Massen, die in diesen drei Punkten liegen sollen. Der resul-
tirenden Mischfarbe entspricht dann der Schwerpunkt der drei
Massen und der Intensität entspricht die Summe der Massen.
Jeder Masse, die man sich in irgend einem Punkte der
Dreiecksfläche denkt, entsprechen auf diese Weise drei Massen in
den drei Punkten als deren geometrische Addition man die erste
Masse auffassen kann.
§ 17. ZUSAMMENSETZUNG VON DREHUNGEN. 47
§ 17. Zusammensetzung von Drehungen.
Von den Zusammensetzungen, denen wir in der Physik be-
gegnen, folgen keineswegs alle den Gesetzen der Addition. Es
wird gut sein, auch ein Beispiel einer Zusammensetzung näher zu
untersuchen, die man nicht als Addition auffassen kann.
Wir betrachten die Drehungen eines festen Körpers um irgend
welche Axen. Wir wollen ihn uns als Kugel vorstellen, die die
Freiheit hat, sich um ihren Mittelpunkt zu drehen. Dabei ver-
schiebt sich ihre Oberfläche in sich selbst, welche Bewegungen sie
auch ausführen mag. Bei irgend einer Drehung der Kugel bleiben
die Endpunkte des Durchmessers, um den sie sich dreht, liegen.
Alle übrigen Punkte der Oberfläche beschreiben dagegen Kreise,
deren Mittelpunkte auf der Drehungsaxe liegen.
Sei a ein Endpunkt der ersten Drehungsaxe, b ein Endpunkt
der zweiten Drehungsaxe (Fig. 3). Es
möge ß der Punkt der Kugelober-
fläche sein, der durch die erste Dre-
hung in den Punkt b übergeht und
a der Punkt der Kugeloberfläche, in
den durch die zweite Drehung der
Punkt a übergeht. Wir verbinden a
mit ß, a mit b, b mit « durch gröfste
Kreise. Bei der ersten Drehung geht ^ 8 "
dann der Kreisbogen aß in ab über, bei der zweiten Drehung
wird b a in b cc Ubcrgctührt.
Die Aufgabe ist nun, die beiden hinter einander angebrachten
Drehungen durch eine Drehung zu ersetzen. Um die Drehungsaxe
zu finden, müssen wir einen Punkt suchen, dessen Ort durch die
beiden Drehungen nicht verändert wird, der also durch die erste
Drehung aus seiner Lage gebracht und durch die zweite Drehung
in diese Lage wieder zurückgeführt wird Diesen Punkt finden wir
dadurch, dafs wir durch a und b gröfste Kreise legen, die den
Drehungswinkel ßab und den Drehungswinkel aba halbiren. Der
Schnittpunkt y dieser gröfsten Kreise ist der gesuchte Punkt Denn
wenn wir die erste Drehung ausführen, die Drehung um a, so wird
der Bogen aß in ab übergehen und der Punkt y wird dabei über
den Bogen ab hinweg nach y l rücken. Der Punkt y l mnfs so
liegen, dafs der Winkel y ay 1 von dem Bogen ab halbirt wird. Denn
ay t mufs zu ab gerade so liegen wie ay zu aß, und daher muß
der Winkel y x ab gleich dem Winkel y aß und damit gleich dem
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ZWEITEE ABSCHNITT.
Winkel y ab sein. Zugleich bleibt bei der Drehung die Entfernung
des Punktes y von dem Drehungspol a ungeändert, so dafs
ya = y x a
sein mufs.
Verbindet man nun y mit y x durch den Bogen eines gröfsten
Kreises, so wird er durch den Bogen ab senkrecht halbirt Denn ist S
der Schnittpunkt, so müssen die Dreiecke aSy und a8y x congruent
sein, weil zwei Seiten und der eingeschlossene Winkel übereinstimmen.
Daraus folgt, dafs auch die Dreiecke y 8b und y x Sb congruent sind,
weil die Seiten y x d und y d gleich sind, die Seite b d beiden Drei-
ecken gemeinsam ist und die Winkel bei d als rechte Winkel über-
einstimmen. Daraus folgt, dafs by x = by und dafs auch der Winkel
y x by durch den Bogen a b halbirt wird. Bei der zweiten Drehung,
der Drehung um b, wird demnach der Punkt y, wieder in den Punkt y
zurückgeführt Denn der Bogen, in den by x durch die Drehung
übergeht, mufs ebenso zu b a liegen wie by x zu b a, d. h. er mufs
den Winkel abtt halbiren. Da zugleich die Entfernung des Punktes y x
von dem Drehungspol b bei der Drehung ungeändert bleibt, so
muß in y übergehen. Durch die beiden Drehungen zusammen
genommen bleibt also der Punkt y an seiner Stelle. Folglich mufs
die Lagenänderung der Kugel auch durch eine Drehung um den
zu y gehörigen Durchmesser bewirkt werden können.
Um auch den dazu nötigen Drehungswinkel anzugeben, braucht
man nur zu bemerken, dafs der Punkt a in a übergeht und damit
der Bogen y a in ya. Der Drehungswinkel ist also a y u d. i., gleich
dem doppelten des Supplements von ayb. Die Pole a und b denken
wir uns so gewählt, dafs der Sinn der Drehung derselbe ist. Das
läfst sich immer erreichen, weil bei der Drehung um einen Durch-
messer der Sinn der Drehung für die beiden Pole entgegensetzt ist
Unter dieser Voraussetzung ist auch der Drehungssinn um den Pol y
derselbe. Wenn wir die Reihenfolge der Drehungen umkehren und
erst um b, dann um a drehen, so wird der Punkt y x durch die beiden
Drehungen zusammen nicht geändert Denn die erste Drehung
um b führt den Punkt y x nach y, während die zweite Drehung
um a ihn wieder nach y x zurückbringt Bei Vertauschung der beiden
Drehungen erhalten wir also eine andere Drehungsaxe, die das
Spiegelbild der ersten Drehungsaxe in Bezug auf die Ebene des
Kreises ab ist Um auch den Drehungswinkel zu finden, haben wir
das Spiegelbild von a in Bezug auf dieselbe Ebene zu bilden.
Ist a' das Spiegelbild, so geht der Bogen y x «' in y, a über. Wir
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§ 17. ZUSAMMENSETZUNG VON DREHUNGEN. 49
erkennen ans der Symmetrie der Figur, dafs der Drehungswinkel
bei der Drehung um y x derselbe ist, wie bei der Drehung um y.
Durch die Vertaugchung der Reihenfolge der beiden Drehungen
wird also die Gesammtdrehung nothwendiger Weise eine andere. Der
Unterschied wird aber sehr klein, wenn die Drehungen sehr klein
sind. Denn dann fallen y und y x sehr nahe zusammen. Drehungen
um endliche Winkel und verschiedene Axen befolgen also bei ihrer
Zusammenfassung nicht das Gesetz der Addition
a + b = b + a.
Wir können deshalb diese Art der Zusammensetzung nicht als
eine Addition auflassen. Erst wenn die Winkel unendlich klein
werden, sind die Gesetze der Addition erfüllt Handelt es sich also
um Zusammensetzung von Drehungsgeschwindigkeiten, wo wir nur
die unendlich kleinen Winkel zu betrachten brauchen, die einem
unendlich kleinen Zeittheilchen entsprechen, so können wir diese
als Addition betrachten ebenso wie die geometrische Addition von
Strecken. Es läfst sich in der That zeigen, dafs die geometrische
Construction bei der Zusammensetzung von Drehungsgeschwindig-
keiten sich so ausfuhren läfst, dafs sie auf die geometrische Addition
von Strecken hinausläuft Bezeichnen nämlich a und b die beiden
Drehungswinkel um die Pole bei a und b (Fig. 3), so haben wir in
dem sphärischen Dreieck ayb nach dem Sinussatz die Gleichung
sin (a y) / sin {b y) - sin (a / 2) / sin (b / 2).
Für unendlich kleine Winkel fällt y in den Bogen a b und die
Gleichung läfst sich schreiben:
sin(ay)/sin(dy) = a/*.
Aus dieser Gleichung ergiebt sich die folgende Construction
für die Axe y. Auf den beiden Radien, die vom Mittelpunkt der
Kugel nach den Punkten a und b fuhren,
trägt man Längen auf, die den unendlich
kleinen Drehungswinkeln a und b proportional
sind. Die so entstehenden beiden Strecken
addirt man geometrisch. Die resultirende
Strecke giebt die Lage der Axe y (Fig. 4.)
Denn die Winkel, die diese Strecke mit den
Componenten bilden, bestimmen sich durch dieselbe Proportion
sin [a y) : sin (6 y) = a : b.
H. v. Hxijimoltz , Tbeoret Phyrtk. B4. 1, 1. 4
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50 ZWEITER ABSCHNITT. § 17.
Durch dieselbe Construction erhalten wir auch den unendlich
kleinen Winkel der zusammengesetzten Drehung. Denn bezeichnet
mau ihn mit y, so ist sin y / 2 wie oben erwähnt gleich sin <$zayb (Fig. 3).
Mithin ist
sin (a b) : sin [a y) : sin {b y) = sin y / 2 : sin a f 2 : sin * / 2,
was für unendlich kleine Winkel Übergeht in
Bin (a b) : sin (a y) : sin(/ b) = y : a : b.
Die Lange der resultirenden Strecke y (Fig. 4) ist also zugleich ein
Mafs für den resultirenden unendlich kleinen Drehungswinkel.
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