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Full text of "Vorlesungen über theoretische Physik"

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Vorlesungen 
über theoretische Physik 

Hermann von Helmholtz, Otto Krigar-Menzel, Franz 
Richarz. Carl Runge, Max von Laue 






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Vorlesungen 
über theoretische Physik 

Hermann von Helmholtz, Otto Krigar-Menzel, Franz 
Richarz. Carl Runge, Max von Laue 






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Vorlesungen 
über theoretische Physik 

Hermann von Helmholtz, Otto Krigar-Menzel, Franz 
Richarz. Carl Runge, Max von Laue 






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Vorlesungen 
über theoretische Physik 

Hermann von Helmholtz, Otto Krigar-Menzel, Franz 
Richarz. Carl Runge, Max von Laue 






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VORLESUNGEN 

ÜBER 

THEORETISCHE PHYSIK 



VON 

H.' von HELMHOLTZ. 

HERAUSGEGEBEN VON 

ARTHUR KÖNIG, OTTO KRIGAR-MENZEL, FRANZ RICHARZ, CARL RUNGE. 



BAND I. 

ABTHEILUNG t. 

EINLEITUNG ZU DEN VORLESUNGEN ÜBER THEORETISCHE PSYSIK 
ARTHUR KÖNIG ukd CARL RUNGE. 




LEIPZIG, 

VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH. 

1903. 



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HKRMANN von HKI.MHOLTZ. 

AuijMotnmtn im kUinr« lloriui« d« phyiikaliichm Jnauuta tu än-tin 

am '/.Juli t«9^. 



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EINLEITUNG Zü DEN VORLESUNGEN 

ÜBER 

THEORETISCHE PHYSIK 



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h: von helmholtz. 

— 

HERAUSGEGEBEN VON 

ARTHUR KÖNIG und CARL RUNGE. 




LEIPZIG, 

VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH. 

1903. 




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0 



Vorwort. 



Im Herbst 1893 bat Hklmholtz den Cyklus von Vorlesungen 
Ober theoretische Physik mit der vorliegenden Einleitung begonnen, 
die mein verstorbener Freund A. König herauszugeben übernommen 
hatte. Bei seinem Tode war etwa der erste Bogen in Fahnen 
gesetzt. Ich habe die Arbeit zu Ende geführt, indem ich mich, 
} soweit es möglich war, an den wörtlichen Ausdruck der steno- 

graphischen Nachschrift gehalten habe. 



Hannover, Mai 1903. 

c. 



180991 



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Inhalt. 





Einleitung. 








j-- L- Iii 


S 1 




1 


8 2 




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Eratnr Abschnitt. 






IM* mpthodolofrlM^hpri PrlnciDien 

1 U 1. tJ' '■' U U 1 U^, l-n*. II« II A 1 1M\.I|I1( II. 




§8. 




5 


8 4. 




7 


8 5. 






86. 




tl 


8 7. 




18 


8». 


Die Vollständigkeit der wissenschaftlichen Erfahrungen und ihr»» 








19 




Zweiter Abschnitt 






Die Grundlagen der mathematischen Darstellung. 




8*- 


Die Darstellung der Erscheinungen in Integralen und Differential- 








22 


§10. 


Der Begriff der Gleichheit 


26 


9 ii. 




28 


8 12- 


Der Begriff des Zählen» und die Gesetze der Addition 


•29 


818. 


Die irrationalen Zahlen und die continuirlich veränderlichen GroTsen 


36 


8 14. 


Verknüpfungen von Gröfcen zu ungleichartigen Gröfsen . . . . 


40 


8 




41 


S 16. 


Die Additiou von Strecken und anderer complexer Grüfseu . . . 


42 


8 




47 



uigmzea Dy VjOO^il 



EINLEITUNG. 



§ 1. Die Philosophie und die Naturwissenschaften. 

Zwischen Philosophie und Naturwissenschaft hatte sich in der 
ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, namentlich unter dem Einflufs der 
Schellin o - HuGEi/schen Identitätsphilosophie, ein wenig erfreuliches 
Yerhältnifs entwickelt Die Ursache lag wesentlich in dem tief- 
greifenden Gegensatz der Methoden, die einander gegenseitig ihre 
Berechtigung bestritten. Die Spannung dauerte aber in ihrer ersten 
Bitterkeit nicht lange. Die Naturwissenschaften erwiesen vor Jeder- 
manns Augen durch eine schnell auf einander folgende Reihe glänzen- 
der Entdeckungen, dafs ein gesunder Kern ungewöhnlicher Frucht- 
barkeit in ihnen wohne und es konnte ihnen daher Achtung und 
Anerkennung auch von ihren principiellen Gegnern nicht dauernd 
versagt werden. 

Dafs zu allen Zeiten die Menschen bemüht waren, eine, wenn 
auch schematische Kenntnifs des ganzen Zusammenhanges des Uni- 
versums zu gewinnen, ist natürlich. Da nun die Erforschung der 
Thatsachen langsam geht und man andererseits in der Mathematik 
sah, dafs man auf Grund der gemeinsten alltäglichen Erfahrung, 
allein durch die Kraft des Denkens sehr allgemeine Gesetze finden 
konnte, so versuchte man es auch auf dem Gebiete der Erforschung 
naturwissenschaftlicher Gesetze mit dem sogenannten reinen Denken, 
mit der Speculation. 

Die Täuschungen und Irrthümer, welche auf diesem Wege 
notwendiger Weise nicht zu vermeiden waren, da man Abstracta 
und grammatikalische Ausdrücke als Realien behandelte und Re- 
sultate der ungeprüften Erfahrung als Denknothwendigkeiten ansah, 
haben eine Zeit lang die Philosophie in Verruf gebracht Doch ist 
man darin viel zu weit gegangen; denn jedenfalls ist sie bei der 
Kritik der Methoden auch in den Naturwissenschaften berechtigt 
Wir müssen doch das Instrument untersuchen, mit dem wir arbeiten. 

H. t. Hklmholtz, Theorat. Physik. Bd. I, 1. I 



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2 



EINLEITUNG. 



§1. 



Die Kritik der Methoden kann solange vernachlässigt werden, 
als man sich auf die Anwendung solcher Methoden beschränken 
kann, die sich bereits durch ihren Erfolg als richtig bewährt haben. 
Naht sich die Forschung solchen Grenzen, wo es zweifelhaft wird, 
ob die auftretenden Schwierigkeiten dem Stoffe oder der Unzuläng- 
lichkeit der Methode zuzuschreiben sind, so mufs jene Kritik ein- 
treten. Daher ist neuerdings auch von den Naturforschern viel über 
philosophische Fragen discutirt worden. Es zeigt sich aber auch 
hierbei, dafs die Besprechung einzelner sporadischer Punkte wenig 
nützt; es mufs systematisch vorgegangen, untersucht und von Grund 
aus aufgebaut werden. 

Weil nun in der systematischen Darstellung der Physik, als 
der Lehre von den allgemeinen Eigenschaften der Naturkörper, der 
deshalb nicht unpassend bei den englisch redenden Völkern der 
Name der „Natural Philosophy" geblieben ist, es mehr wie in irgend 
einem andern Zweige der Naturwissenschaft am Orte ist, allgemeine 
Gesichtspunkte an die Spitze zu stellen, so will ich hier zunächst 
die allgemeinen logischen und erkenntnifstheoretischen Principien 
in der wissenschaftlichen Methodik der Erfahrungswissenschaften 
vortragen, obschon ich dadurch von der allgemeinen Gepflogenheit 
ziemlich abweiche; denn für gewöhnlich verliert man bei dem Vor- 
trage einzelner Zweige der Wissenschaften auf den Universitäten 
nicht viel Worte über die logischen Grundsätze, die den Unter- 
suchungen, an die man herantritt, zu Grunde liegen. 

Zu meiner persönlichen Rechtfertigung möchte ich darauf hin- 
weisen, dafs ich aus langer Praxis eine ausgedehnte Kenntnifs über 
die zu behandelnden Probleme besitze und auch einige Erfahrung 
über die leichteste Beseitigung der bei naturwissenschaftlichen Ar- 
beiten auftretenden Schwierigkeiten gewonnen habe. Da die Philo- 
sophen, bei denen ich mir Rath holen wollte, ihre Untersuchungen 
meist erst bei dem Wissen anfangen, was bereits in Worten aus- 
gedrückt werden kann und die davorliegenden Processe des Sammeins 
von thatsächlicher Erfahrung meistens gar nicht oder doch nur 
vom Hörensagen kennen, so habe ich mir selbst helfen und mir 
die Dinge vielfach in eigener Weise zurecht legen müssen. 

§ 2. Die physikalischen Wissenschaften. 

Ehe wir aber zu einer näheren Darlegung der methodolo- 
gischen Principien übergehen, müssen wie uns zunächst mit der 
Abgrenzung und dem Inhalte derjenigen Wissenschaften beschäftigen, 



§ 2. DIE PHYSIKALISCHEN WISSENSCHAFTEN. 3 

zu denen die nachfolgenden Betrachtungen als Einführung zu dienen 
bestimmt sind. 

Die Physik können wir als die Lehre Ton den allgemeinen 
Eigenschaften der Naturkörper definiren. Unter diesen allgemeinen 
Eigenschaften sind hier aber nicht nur diejenigen Eigenschaften zu 
yerstehen, die allen Naturkörpern ausnahmslos gemeinsam sind, son- 
dern auch solche, welche nur grofsen ausgedehnten Klassen von 
ihnen zukommen. Als physikalische Wissenschaften bezeichnen wir 
diejenigen Wissenschaften, deren geistiges Geschäft zwar mit der 
Art der geistigen Arbeit in der Physik übereinstimmt, aber sich zum 
Theil nur auf eine eng begrenzte Klasse von Körpern oder manch- 
mal auch nur auf bestimmte einzelne Körper und Körpersysteme be- 
ziehen. So hat z. B. die Chemie die Aufgabe die besonderen Eigen- 
schaften zu erörtern, durch welche sich die einzelnen Elemente oder 
ihre Verbindungen von einander unterscheiden. In anderen Zweigen 
der physikalischen Wissenschaften werden nicht die unterscheidenden 
Eigenschaften sondern die Veränderungen besprochen, welche wir 
an bestimmten einzelnen Naturkörpern oder Systemen von Natur- 
körpern beobachten. Zu diesen zählt z. B. die Astronomie. Sie er- 
örtert die Kräfte und die Bewegungsvorgänge, welche wir an den 
Himmelskörpern wahrnehmen. Eine andere Wissenschaft, die phy- 
sikalische Geographie, bespricht die Vorgänge am Erdkörper, so- 
wohl solche, welche den ganzen Erdkörper, als auch diejenigen, die 
nur grofse ausgedente Theile desselben betreffen. Die Meteorologie 
behandelt die Erscheinungen und Vorgänge in unserer Atmosphäre. 
Es sind dies also alles spezielle und gesonderte Zweige, die zur 
Klasse der physikalischen Wissenschaften gehören, und die in Be- 
zug auf die Methode der Behandlung mit der Physik übereinstimmen 
und die man daher auch wohl als PhyBik im weitesten Sinne be- 
zeichnen könnte. 

Die Physik in engerem Sinne, das was wir oben als Physik 
schlechthin bezeichneten ist also diejenige Wissenschaft, welche die 
allgemeinen Eigenschaften der Körper oder vielmehr aller Körper 
bespricht und kennen lehrt. Sie zerfällt in zwei gröfsere Abthai- 
lungen, welche gewöhnlich gesondert von einander behandelt werden. 
Man pHegt sie als theoretische Physik einerseits und Experimental- 
physik andererseits zu bezeichnen. Beide unterscheiden sich von 
einander sehr wesentlich durch die Art der geistigen Arbeit, welche 
bei den Untersuchungen angewendet wird; und so lange man mehr 
auf die äufserliche Art der geistigen Arbeit bei den einzelnen 
Wissenschaften geachtet hat, ohne das eigentliche Wesen dieser 

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4 



EINLEITUNG. 



Arbeit genauer zu Untersachen, war man geneigt, die theoretische 
Physik, die wohl auch als mathematische Physik bezeichnet wurde, 
streng und scharf von der Experimentalphysik zu trennen. Prak- 
tisch sondern sich in der That diese beiden Zweige der Physik oder 
genauer gesprochen diese beiden Behandlungsweisen in der Physik 
insofern, als von den Beobachtern und Studirenden die Einen mehr 
geneigt sind, experimentelle Untersuchungen zu machen, weil sie 
dazu besondere Geschicklichkeit haben, und über diejenige Art von 
Phantasie verfügen, die erforderlich ist, um neue lehrreiche Experi- 
mente aufzufinden, während die Anderen sich mehr bei der theore- 
tischen mathematischen Seite der Arbeit befriedigt fühlen und darin 
auch geschickter sind. Es ist aber nicht zu vergessen, dafs die 
mathematischen Kenntnisse und die Uebung in der mathematischen 
Behandlung physikalischer Aufgaben eine wesentliche Rolle für Jeden 
spielen, der sich der Physik widmet, gleichviel ob er den Schwer- 
punkt seiner Thätigkeit mehr dem Experiment oder der Rechnung 
zuwendet. 

Man wird bei weiterem Eindringen in die Physik allerdings von 
rein praktischen Gesichtspunkten aus gut thun, sich darüber zu 
entscheiden, ob man der einen oder der anderen Richtung folgen 
will und dementsprechend der einen oder anderen Richtung mehr 
Fleifs zuwenden. Doch mufs gleich von vorn herein betont werden, 
dafs Experimentalphysik ganz ohne mathematische Physik eine sehr 
ong begrenzte Wissenschaft ist und wenig Einsicht in den Vorgang 
der physikalischen Erscheinungen giebt, während das Umgekehrte, 
mathematische Physik ohne Experimentalphysik ebenfalls eine ziem- 
lich lahme und unfruchtbare Wissenschaft sein würde, weil man 
nicht wohl thut, Theorien über Naturvorgange zu machen, ehe man 
diese Vorgänge aus eigener Anschauung kennen gelernt hat 

Man pflegt bei der systematischen Darstellung [der verschiedenen 
Wissenschaften gewöhnlich nicht viel Worte und Betrachtungen über 
die logischen Grundsätze zu verlieren, die den Untersuchungen, an 
die man herantritt, zu Grunde liegen; aber gerade bei der Physik 
ist dieses doch bis zu einem gewissen Grade nothwendig. 



Erster Abschnitt, 



Die methodologischen Principien. 



§ 3. Kritik der alten Logik. 

Die Lehre vom wissenschaftlichen Denken, die Logik, ist uns, 
nachdem sie von Abistoteles entwickelt worden, durch die 
scholastischen Philosophen des Mittelalters Überliefert und seitdem 
in der Hauptsache stehen geblieben. Sie spricht, wie oben schon 
erwähnt, nur von dem Wissen insofern es in Worten ausgedrückt 
ist und dieses Wissen tritt in der Form eines Urtheils auf. Ein 
Urtheil erscheint grammatikalisch als Satz, der zwei Begriffe, Subject 
und Prädicat verbindet Neue Urtheile werden durch Schlüsse 
gewonnen. 

Wir brauchen dabei einen allgemeinen Satz, den wir bezeichnen als 
den Major des Schlusses, und einen speciellen Satz, den Minor, welcher 
letztere sich nur auf einzelne Objecto zu beziehen braucht, sogar 
unter Umständen nur auf ein einziges Object, während der Major 
zu einem allgemeinen und vollkommen sicheren Schlüsse nur ge- 
braucht werden kann, wenn er einen allgemeinen Satz ausdrückt, 
der für alle Objecto einer gewissen Klasse giltig ist Nun wird in 
der Logik, wie sie gewöhnlich als Theil der philosophischen Wissen- 
schaften vorgetragen wird, über die Herkunft des Major und des 
Minor gewöhnlich keine Auskunft gegeben. Es wird vorausgesetzt, 
dafs dergleichen Sätze gefunden werden können, und die Auseinander- 
setzungen in der Logik beziehen sich nur auf die Art der Ver- 
bindung zwischen ihnen und auf die Grenzen des Schlusses, welche 
man aus gegebenem Major und Minor ermitteln kann. Deshalb be- 
schränkt sich die gewöhnliche Logik darauf, die Wege und Methoden 
anzugeben, wie man aus gewissen bekannten und gegebenen Sätzen 
neue Sätze finden, d. h. wie man den Schlufs, die Conclusio ziehen 
könne ; sie giebt aber keinen Aufschlufs darüber, wie man nun zu 



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6 ERSTER ABSCHNITT. § 3. 

den ursprünglichen Sätzen, dem Major und dem Minor, gelangt ist. 
In der Regel sind dieses ja Sätze, die durch eine andere Autorität 
gegeben sind. In solchen Fällen ist die Bildung der Conclusion 
niemals die Erzeugung einer neuen Wahrheit Das tritt noch klarer 
hervor, wenn man überlegt, dafs der Regel nach der Major gar 
nicht mit Sicherheit aufgestellt werden kann, wenn man nicht schon 
weifs, dafs auch dasjenige Object, welches in dem Minor genannt 
ist und welches das Subject des Minor bildet, unter den Major 
gehört, und dafs der Major auch in Bezug auf dieses Subject richtig 
ist Wenn man nun den Major nicht selbst aufgestellt hat, also 
nicht unabhängige Quellen für die Richtigkeit des Major besitzt 
wird durch den Schlafs nachher weiter nichts mehr gesagt a l ß dafs 
das Object unter den Major gehört also dasselbe behauptet was man 
eben vorher schon wissen mufs, ehe man überhaupt den Major auf- 
stellen kann. In diesem Sinne ist auch der Name der Logik, welcher 
ja ursprünglich Sprechkunst bedeutet, vollkommen gerechtfertigt 
Denn in der weitaus gröfsten Mehrzahl der Fälle sind die ursprüng- 
lichen Sätze, von denen man ausgeht auf schriftlichem oder münd- 
lichem Wege überliefert, und die alte, gewöhnlich vorgetragene 
Logik ist im Wesentlichen nichts anderes, als eine Anweisung darüber, 
wie man diese Sätze richtig auszudrücken hat, sodafs sie den ver- 
langten Sinn erhalten, und dafs derjenige, welcher sie verstehen 
will oder soll, den richtigen Sinn mit ihnen verbindet Sie ist also 
im Wesentlichen weiter nichts als eine Anweisung für den Einen, 
richtig zu sprechen, für den Andern, richtigen Sinn den gesprochenen 
Sätzen unterzulegen. Es kommt also in dieser ganzen Reihenfolge 
von logischen Operationen nichts von Erzeugung neuer Kenntnifs 
vor; während wir, in fundamentalem Unterschiede dazu in den 
Naturwissenschaften Kenntnisse zu gewinnen haben, die bisher noch 
nicht gewonnen sind, und welche uns kein Anderer auf seine 
Autorität hin mittheilen kann. Wenigstens sind es gerade dergleichen 
bis dahin unbekannte Sätze, welche den Haupttheil der Natur- 
wissenschaft und ihr wichtigstes Element bilden. Daher weichen 
auch die Denkoperationen, welche wir bei den Ueberlegungen in 
der Naturwissenschaft auszuführen haben wesentlich ab und zeigen 
einen bestimmten fundamentalen Unterschied von denjenigen Denk- 
operationen, welche in der bisherigen Logik an überlieferter Weis- 
heit vorgenommen werden. Es ist daher nothwendig, zunächst 
einige kurze Auseinandersetzungen über das logische Geschäft zu 
machen, welches wir in den naturwissenschaftlichen, physikalischen 
Untersuchungen auszuführen haben. 



8 4- 



DIE HEGRIFFE UND IHRE CONNOTATIOXEX. 



7 



§ 4. Die Begriffe und ihre Connotationen, 

Das Ziel der physikalischen Wissenschaften müssen wir darin 
sehen, die Naturerscheinungen zu begreifen. „Begreifen" aber heifet: 
Begriffe bilden. Wenn wir nun die Bildung der Begriffe, die Ueber- 
ordnung und Unterordnung derselben kennen lernen wollen, so giebt 
uns dafür die gewöhnliche Logik folgendes Verfahren an. — Wir 
fassen zunächst diejenigen Objecte zusammen, die sich in gewisser 
Beziehung gleich verhalten und bestimmen durch eine Charakteristik, 
die man als die Definition dieser Klasse zu bezeichnen pflegt, die- 
jenigen Objecte, welche wir zu der Klasse rechnen wollen. Das 
Aufstellen der Definition besteht also darin, denjenigen Complex von 
Eigenschaften zu finden, welcher nothwendig bei allen Objecten der 
Klasse vorhanden ist Wenn man in dieser Weise einen solchen 
Complex von Eigenschaften gefunden hat, welcher allen Objecten 
der betreffenden Klasse zukommt und hingegen bei allen Objecten, 
die man zu anderen Klassen rechnen will, fehlt, so ist damit die 
Abgrenzung dieser Klasse von Objecten von allen andern Objecten 
gegeben: sie sind zu einem Begriffe zusammengefafst. Das ist die 
gewöhnliche Beschreibung der Bildung der Begriffe nach den Er- 
fordernissen der gewöhnlichen Logik. Nun hat aber John Stuaht 
Mill auf einen wesentlichen Unterschied aufmerksam gemacht, der 
zwischen den verschiedenen Merkmalen besteht, welche zu den 
Definitionen des Begriffes gebraucht werden. Es tritt besonders in 
den naturgeschichtlichen Wissenschaften sehr deutlich hervor, dafs 
man in einer aufserordentlich grofsen Zahl von Fällen aufser den- 
jenigen Merkmalen, die zur Definition einer Klasse oder einer Art, 
also des Begriffes, ausreichen und nothwendig sind, noch andere 
Merkmale findet, die bei allen Einzelwesen der betreffenden Art 
oder Klasse vorkommen. An einem Beispiele können wir uns diese 
Eigenthümlichkeit leicht klar machen. Wählen wir dazu den Be- 
griff „Säugethier". Wir können die Klasse der Säugethiere dadurch 
begrenzen, dafs wir definiren: „Säugethiere sind Thiere, welche 
lebendig geboren und von ihren Müttern gesäugt worden sind." Da- 
durch würden wir alle übrigen Thiere, alle Vögel, Amphibien u. s. w. 
ausschliefsen. Nun findet sich, dafs aufser dieser Eigenthümlichkeit 
ihrer Ursprungsweise und jugendlichen Ernährungsart noch eine 
Reihe von anderen Eigenthümlichkeiten des anatomischen Baues 
ezistirt, welche ebenfalls allen Säugethieren gemeinsam ist. Wir 
finden nämlich bei allen, dafs sie warmblütig sind, dafs sie einen 
doppelten Blutkreislauf haben, indem das Blut, ehe es seine ganze 



8 



ERSTER ABSCHNITT. 



Bahn durchlaufen hat, zweimal zum Herzen zurückkehrt, dafs ferner 
gewisse Eigentümlichkeiten in der Bildung der Gehörknöchelchen 
und des Unterkiefergelenks bestehen, u. s. w. Alle diese gemein- 
samen Eigentümlichkeiten könnten also auch als Unterscheidungs- 
mittel der Säugethiere gebraucht werden, da sie den Vögeln, 
Amphibien, Fischen u. s. w. nicht zukommen. Wenn demnach eine 
Definition von einer Klasse, die wir mit einem gemeinsamen Namen 
bezeichnen wollen, aufgestellt werden soll, so haben wir zwischen 
zwei verschiedenen Arten von Merkmalen zu unterscheiden: die 
eine Art ist nothwendig, aber auch ausreichend, um die Definition 
zu geben, die Klasse abzugrenzen und den Namen festzustellen; 
daneben kann aber auch noch eine andere Art von Merkmalen 
vorkommen, welche zwar immer bei allen Individuen der betreffenden 
Klasse vorhanden, aber für die Definition nicht nothwendig sind. 
Wenn wir z. B. ein Thier finden, welches lebendig geboren und von 
seiner Mutter gesäugt worden ist, so werden wir es für ein Säuge- 
thier erklären und nicht weiter verlangen, wenigstens nicht, um den 
Namen und die Klasse des Thieres festzustellen, dafs auch noch jene 
anatomischen Eigenthümlichkeiten in Beziehung auf die Bildung der 
Gehörknöchelchen und die Bildung des Herzens u. s. f. nachgewiesen 
werden mttfsten. Stuabt Mill war der erste, welcher diese wichtige 
Unterscheidung machte und also diejenigen Eigenschaften, welche 
in die Definition eines Begriffes hinein gehören, und an und für sich 
zusammen genommen genügend sind, die Definition festzustellen, 
von den Eigenschaften trennte, die aufserdem noch immer bei den 
einzelnen Wesen vorhanden sind, — die unter den Begriff gehören. 
Letztere Eigenschaften bezeichnete er als die Connotationen des Be- 
griffes. Dies ist nun eine sehr wesentliche und wichtige Unter- 
scheidung, die eine ganz hervorragende Rolle spielt bei dem Ge- 
brauch solcher begrifflichen Bestimmungen. Wenn eine solche 
Connotation gefunden werden kann für diejenigen Objecto, welche 
unter einen bestimmten Begriff gefalst sind, so kann man allgemeine 
Urtheile bilden, z. B. in der Weise, dafs wir sagen: alle Säugethiere 
besitzen mindestens drei Gehörknöchelchen, haben einen doppelten 
Blutkreislauf und sind warmblütig. Hierin sind die drei Aussagen 
über die Säugethiere solche Connotationen. Nun zeigt sich in 
der That — und es erklärt sich auch sehr leicht, warum sich das 
zeigt — , dafs bei den Classificationen, welche der Bildung der 
menschlichen Sprache zu Grunde liegen und die Namengebung be- 
stimmen, vorzugsweise solche Begriffe gebildet worden sind, die 
Connotationen zulassen. Denn es würde uns nicht viel helfen, wenn 



§ 5. DIE GATTUNGSBEGRIFFE UND DIE NATURGESETZE. 9 



wir irgend welche beliebigen Definitionen aus beliebigen Merkmalen 
zusammenwürfeln wollten. Wir könnten ja z. B. alle Pflanzen in 
eine Klasse zusammenfassen, welche blaue Blüthen haben, und dieser 
Klasse einen besonderen Namen geben. Aber die Definition einer 
solchen Klasse würde keine Connotationen zulassen, denn wir könnten 
Ton diesen Objecten weiter nichts Gemeinsames aussagen, als das, 
was in ihrer Definition bereits aasgesagt ist, nämlich, dafs sie 
Pflanzen seien und blaue Blüthen hätten. Alle allgemeinen Sätze, 
welche wir in Bezug auf solche Klassen aufstellen könnten, würden 
daher nothwendig tautologische Sätze sein. Wenn wir also neue 
Begriffe bilden, so müssen wir suchen, solche Begriffe zu bilden, 
denen wenigstens eine Connotation zukommt; anders zu verfahren 
wäre sehr unnütz. Unsere Sprache ist nun schon gebildet unter 
dem Einflufs dieses Gesichtspunktes; denn auch ohne streng wissen- 
schaftliches Studium lernt der Mensch durch die tägliche Beobachtung 
eine grofse Menge von solchen Beziehungen kennen, wio sie eben 
dargelegt worden sind. Ueber diese Kenntnifs geben wir uns frei- 
lieh nicht immer Rechenschaft, namentlich aber werden wir uns 
nur selten bewufst, wie wir diese Kenntnifs erlangt haben. Bei 
einem ruhig und verständig beobachtenden Volke mufs sich aber 
ein solcher Einflufs auf die Sprache nothwendig weiter entwickeln, 
und zum Theil ist es wohl hierauf zurückzuführen, dafs die civili- 
sirteren Völker auch feiner ausgebildete Sprachen haben, Sprachen, 
in denen mehr diejenigen Begriffe betont sind, von denen man All- 
gemeines aussagen kann, also welche Connotationen haben. 

§ 5. Die Gattungsbegriffe und die Naturgesetze. 

Diese Art der Bildung von Begriffen ist nun in ziemlich breiter 
Weise in den sogenannten naturgeschichtlichen Wissenschaften durch- 
geführt. Diese beziehen sich meistentheils nur auf die Beschreibung 
von Naturobjecten, die dauernd in der uns umgebenden Natur exi- 
stiren, beziehlich durch die Zeugungsprocesse des thierischen Körpers 
immer wieder in gleicher Form hergestellt werden, sodafs immer eine 
grofse Menge von Exemplaren jeder Klasse sich vorfindet. Bei diesen 
haben wir also fast nur den dauernd bestehenden Zustand zu be- 
schreiben, denn erst in neuerer Zeit hat man angefangen, sich mit 
den Veränderungen zu beschäftigen, welche an solchen Natarkörpern 
im Laufe mehrerer Generationen vor sich gehen können. Im Gegen- 
satz dazu haben es nun die physikalischen Wissenschaften überwiegend 
mit Veränderungen zu thun, die sich an Naturobjecten vollziehen. 




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10 



ERSTER ABSCHNITT. 



Wenn wir früher gesagt haben, dafs die physikalischen Wissenschaften 
die allgemeinen Eigenschaften der Naturkörper zu bestimmen suchen, 
so steht das mit dem hier Gesagten in keinem Widerspruch; denn 
die hier betrachteten Eigenschaften der Naturkörper kommen für 
uns nur zur Beobachtung, indem wir Veränderungen wahrnehmen. 
Wir suchen in den physikalischen Wissenschaften zu ermitteln, 
welche Veränderungen überhaupt vorkommen können und welche 
äufseren Einwirkungen und Umstände vorhergehen müssen, um 
solche Veränderungen hervorzubringen, oder auch, was vorhergehen 
mufs, um das Eintreten von solchen Veränderungen zu verhindern. 
Also das, was wir in den physikalischen Wissenschaften zusammen- 
zufassen haben, wofür wir also etwas dem Geschäfte der Begriffs- 
bildung bei den Naturkörpern ganz Analoges auszuführen haben, 
sind Veränderungsvorgänge, die wir an den Objecten der Aufsen- 
welt beobachten. Wenn wir nun aber solche Veränderungen be- 
greifen wollen, so müssen wir auf sie dasselbe Verfahren anwenden, 
welches wir bei der Betrachtung der Naturobjecte als praktisch er- 
funden haben : wir müssen solche Fälle zu Klassen zusammenstellen, 
in denen aufser den Umständen, welche zur Definition d. h. zur Ab- 
grenzung der betreffenden Gruppe von Vorgängen dienen, auch noch 
andere gleichartige, gemeinsame Aenderungen, d. h. in ihrem Ab- 
lauf einander gleichende Veränderungen vorkommen. Es ist also 
im Wesentlichen wiederum dieselbe Aufgabe, nur ist hier die sprach- 
liche Bezeichnung etwas anders. Denn für eine solche Klasse, 
welche eine Anzahl in gleicher Weise hervorgebrachter und ab- 
laufender Veränderungen enthält, können wir einen sprachlichen 
Ausdruck nur geben in der Form eines Naturgesetzes. „Zwei 
schwere Körper die sich in endlicher Entfernung von einander im 
Räume befinden, erleiden eine Beschleunigung und zwar jeder ein- 
zelne von ihnen in der Richtung gegen den andern hin", d. h. sie 
bewegen sich in dieser Richtung mit wachsender Geschwindigkeit 
auf einander zu. Das ist eine Thatsache, die sich immer zeigt, 
wenn keine Umstände vorhanden sind, die hindernd einwirken, z. B. 
Beschleunigungen die in ganz derselben Weise von dritten Körpern 
in entgegengesetzter Richtung ausgeübt werden, und eine Thatsache, 
welche in dieser Form immer ausgesprochen werden kann und so- 
eben auch in der Form eines Naturgesetzes ausgesprochen ist 

Ebenso wie wir also in den beschreibenden Naturwissenschaften, 
der Zoologie, der Botanik u. s. w. jKlassen von Naturkörpern zu Be- 
griffen zusammenfassen und deren Connotationen suchen, so haben 
wir in den physikalischen Wissenschaften die ganz gleiche logische 



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«6. 



NATURGESETZ, KRAFT UND URSACHE. 



11 



Aufgabe, nur dafs sie sich hier auf Vorgänge bezieht Wir haben 
nämlich die Aufgabe, solche Fälle von Veränderungen und Vor- 
gängen als Klassen zusammenzugreifen, bei denen aufser den be- 
obachteten gleichartigen Umständen, welche der Definition des Be- 
griffes entsprechen, noch regelmäßig andere Vorgänge stattfinden, 
welche also den Connotationen des Begriffes analog sind. 

Eine andere Gruppe von Naturvorgängen können wir zusammen- 
fassen in folgendem Satz: „Ein Lichtstrahl, der durch die Grenze 
zweier verschiedenartiger durchsichtiger Medien hindurchgeht, er- 
leidet eine Brechung, und zwar ist die Abweichung von dem 
früheren Wege gegeben durch eine bestimmte trigonometrische Be- 
ziehung." Das erste der beiden angeführten Naturgesetze bezieht 
sich also auf Ortsveränderungen schwerer Körper, das zweite auf 
Richtungsänderungen eines Lichtstrahls. Solche Beispiele können 
wir nun sehr mannigfaltig häufen, und jeden regelmässig in der 
Natur eintretenden Vorgang in dieser Weise zunächst nach seinem 
tatsächlichen Gehalt als Gesetz aussprechen. Wir brauchen dazu 
nur die Bedingungen genau zu definiren, unter denen die betreffende 
Erscheinung sich vollzieht, und dann genau anzugeben, wie der 
Vorgang weiter verläuft Es wäre dieses also weiter nichts als eine 
Beschreibung der thatsächlich beobachtbaren Vorgänge. 

§ 6. Naturgesetz, Kraft und Ursache. 

In dem sprachlichen Ausdruck weichen wir nun meistentheils 
von der bisher angegebenen Formulirung der Naturgesetze ab, indem 
wir Abstracta bilden und statt der Verba Substantiva einsetzen, 
z. B. das erste der oben angeführten Gesetze in der Form aus- 
sprechen, dafs zwischen je zwei schweren Körpern, die sich in end- 
licher Entfernung von einander im Räume befinden, fortdauernd eine 
Anziehungskraft von bestimmter Gröfse besteht Wir haben damit 
statt der einfachen Beschreibung des Phänomens der Bewegung ein 
Abstractum, die Anziehungskraft, eingeführt Wir bezeichnen damit 
in der That weiter nichts, wenigstens nichts, was noch einen factischen 
Sinn hat, als was auch in der blo&en Beschreibung des Phänomens 
enthalten ist Wir versichern nur durch die Aufstellung des Gesetzes 
in dieser Form, welches den Begriff der Kraft benutzt, auch dafs 
dieses Phänomen der gegenseitigen Annäherung der beiden Körper, 
sobald die Bedingungen dazu gegeben sind, in jedem Zeitmoment 
eintritt. 

Nun weifs man über eine solche Kraft weiter nichts Thatsäch- 



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12 



ERSTER ABSCHNITT. 



§6. 



liehe 8 anzugeben, als dafs, so oft sie wirkt, oder die Bedingungen 
eintreten für ihre Wirksamkeit, das betreffende Phänomen beob- 
achtet werden kann. Es ist also ein in gewissem Sinne leeres Ab- 
stractum, welches aber, wenn es richtig verstanden wird, in der 
That die wirklich vorkommenden Phänomene beschreibt. Anderer- 
seits ist aber doch zu beachten, dafs durch die Einschiebung des 
Begriffes der Kraft in die Formulirung eines Gesetzes etwas hinein 
gekommen, was leicht als ein hypothetisches Element angesehen 
werden kann, und was eigentlich durch die Thatsachen nicht ge- 
geben. Thatsächlich hat diese Ausdrucksweise auch so lange man 
sich nicht ihren Sinn völlig klar gemacht hatte mannigfachen Anstofs 
erregt; sie ist vielfach in der Weise mifsverstanden worden, dafs 
man dieses abstracte Substantiv die Kraft als die Bezeichnung von 
irgend etwas wesentlich Existirenden aufgefafst hat, und dafs man sich 
berechtigt glaubte, bestimmte Sätze über die wesentlichen Eigenschaften 
der Kräfte aufzustellen, welche in der That, wenn richtig, entweder 
Tautologieen waren oder nur scheinbar einen reellen Inhalt hatten. 
In Folge davon haben in neuerer Zeit viele Physiker, denen 
es darum zu thun war, nichts in die Wissenschaft hinein zu 
tragen, als was reiner Ausdruck der Thatsachen war, danach ge- 
strebt, auch den Ausdruck der Thatsachen so einzurichten, dafs 
in ihm nichts Hypothetisches untergeschoben wäre. Es war 
wohl zuerst Fabaday, der in dieser Richtung sich bemüht hat. 
Faeaday hatte nicht den normalen Bildungsgang eines gelehrten 
Physikers durchgemacht, sondern war durch eigene Intelligenz und 
eigene Einsicht zu dem gröfsten Theil seiner Kenntnisse gekommen. 
Er war ursprünglich ein armer Buchdruckerlehrling, der die Bücher, 
welche er zu heften hatte, auch zu lesen begann, und dadurch seine 
Kenntnisse schnell vermehrte. Späterhin kam er in Berührung mit 
dem berühmten Chemiker Humphbey Davy, der sich für den offen- 
bar sehr intelligenten Knaben so interessirte, dafs er ihn zunächst 
als Assistenten, oder vielleicht besser gesagt, als Laboratoriumsdiener 
annahm. Von dieser Stellung aus schwang sich dann Faeaday, 
dem Humphbey Davy bald einen Theil seiner Vorlesungen übertrug, 
zu grossem Ansehen in der Welt empor. Der Keim zu seinen 
ausserordentlich bedeutenden wissenschaftlichen Entdeckungen und 
besonders das Originale seiner Anschauungsweisen ist wesentlich in 
dem Umstände zu suchen, dafs er den gewöhnlichen Weg der 
Wissenschaft nicht kannte, sondern von Anfang an darauf angewiesen 
war, sich seinen eigenen Weg für das Verständnifs der Erscheinungen 
zu suchen. Es war nun Fabaday das Hypothetische, was ihm in 



§6. 



NATURGESETZ, KRAFT UND URSACHE 



13 



der Einschiebt! ng der Kräfte zu liegen schien, sehr zuwider. Dazu 
kam, dafs er gewisse Eigenschaften, welche die Physiker den Kräften 
beilegten, sich nicht vorstellen konnte; namentlich polemisirte er 
von Anfang an gegen die Vorstellung von der Wirkung in die Ferne 
durch den leeren Raum, und es gelang ihm in der That, für die- 
jenigen Erscheinungen, für die er sich am meisten interessirte, 
nämlich für die magnetischen und elektrischen Kräfte, eine Deutung 
zu finden und auch die damit zusammenhängenden Thatsachen 
nachzuweisen, welche die bis dahin angenommenen Fernkräfte für 
die magnetischen und elektrischen und elektro- magnetischen Er- 
scheinungen fallen liefs. Fabaday war durch diese Art seiner An- 
schauung gezwungen, sich seine eigene Nomencia tur zu bilden. 
Hierin war er aber nicht glücklich, denn es gelang ihm nicht, das 
Wesen dessen, was er erstrebte, methodisch klar zu machen. Seine 
Zeitgenossen wufsten ihm in dieser Darstellung nicht zu folgen, 
und deshalb dauerte es lange, fast bis in die folgende Generation 
hinein, ehe sich Mathematiker fanden, welche den Sinn von Fakaday's 
Bezeichnungsweise entziffern konnten ; unter ihnen ist in erster Reihe 
Maxwell, zu nennen. Neben Fabaday und Maxwell war es 
namentlich Sir William Thomson (der jetzige Lord Kelvin), 
welcher in der mathematischen Physik alle solche bildlichen und 
abstracten Ausdrücke zu vermeiden suchte. Später hat sich diesen 
auch Gustav Kirchhoff angeschlossen, der geradezu in der Vor- 
rede zu seinem Lehrbuch der Mechanik sagt : Die Aufgabe der 
Mechanik ist, die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen voll- 
ständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben. Es kommt 
ihm also wesentlich nur auf eine genaue Beschreibung der Phänomene 
an. Was ich nun zu diesem Ausdrucke von Kibchhoff hinzu- 
fügen möchte, besteht darin, dafs nun aber die möglichst vollständige 
und einfachste Beschreibung nur in der Art gegeben werden kann, 
dafs man die Gesetze ausspricht, welche den Phänomenen zu Grunde 
liegen. Andererseits ist aber doch zu erwähnen, dafs auch die ab- 
stracto Bezeichnungsweise ihre Vortheile hat, um das Gesetz als 
solches zu charakterisiren, und dafs die Bildung eines solchen Ab- 
stractums mit seiner substantivischen Bezeichnung, doch auch durch 
Momente gegeben ist, die ebenfalls in der Natur der Sache liegen. 
Wenn wir das Gesetz als solches aussprechen, so sprechen wir eine 
Erfahrung aus, von der wir voraussetzen dürfen, dafs sie sich immer 
wiederholen wird, so oft die Bedingungen gegeben sind, unter denen 
das betreffende Phänomen zu Stande kommen kann. Das, was das 
Gesetz aussagt, tritt, wie wir wohl wissen und durch Erfahrung 



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14 



ERSTER ABSCHNITT. 



§6. 



jeden Augenblick bestätigen können, unabhängig von unserem Vor- 
stellen ein, unabhängig von unseren Wünschen. Wir wissen, dafs 
wir durch die Vorstellungen, die wir gleichzeitig haben, gar keinen 
Einflufs auf den Ablauf der äufoeren Processe auszuüben im Stande 
sind, und wir können daher mit einer vielfach noch gebrauchten 
Terminologie der philosophischen Wissenschaft diese Thatsachen, 
welche nach dem Gesetz zu Stande kommen, bezeichnen als ein 
Nicht-Ich, als Etwas, was nicht von unserem Vorstellen, von unserem 
Bewußtsein, von unserem Willen und unseren Wünschen abhängig 
ist, was wir nur als Thatsache constatiren können, wenn es eintritt 
Je genauer und eingehender unsere Untersuchung ist, desto mehr 
überzeugen wir uns, dafs der Eintritt dieser Phänomene nur ab- 
hängig ist von gewissen äufseren Bedingungen, aber ganz unabhängig 
von den Vorgängen in unserer Seele. Wir müssen das Gesetz also 
als Etwas anerkennen, was ganz unabhängig von unserem Vorstellen 
und unseren Wünschen vor sich geht, und, wir müssen ferner an- 
erkennen, dafs diese betreffenden Erscheinungen eintreten werden 
in jedem beliebigen Augenblick, wo die Vorbedingungen gegeben 
sind, so dafs diese Macht, die uns da gegenübertritt und welche 
ohne unser Eingreifen und ohne unser Vorstellen solche eigentüm- 
lichen Erfolge hervorrufen kann, anerkannt werden mufs als etwas 
Dauerndes, was in jedem Augenblicke wirkungsbereit vorhanden ist, 
und zwar als etwas Mächtiges vorhanden ist, das seine Wirkung 
eventuell gegen unseren Willen und gegen unsere Wünsche durch- 
setzt Darin liegt doch mehr, als in der blofsen Auffassung einer 
Thatsache als Thatsache, und wir pflegen nun solche Dinge, welche 
beharrlich bestehen und welche sich als mächtig erweisen und die 
Aufsenwelt zwingen, ohne dafs wir selbst einzugreifen brauchen, 
mit den Namen zu bezeichnen, die wir für tatsächlich bestehende 
Dinge anzuwenden pflegen, und dadurch ist also, wenn wir es richtig 
auffassen, die Bezeichnung einer solchen Kraft als eines dauernd 
bestehenden Agens vollkommen gerechtfertigt Erst durch diese 
Bezeichnungsweise ist ausgesagt dafs das Gesetz, das wir gefunden 
haben, nun auch in jedem Augenblicke wirkungsbereit ist und in 
jedem Augenblicke seine Macht erweisen kann. Das ist offenbar 
der wesentliche Grund gewesen, weshalb die Menschen allgemein 
zu der Substantiven Bezeichnung übergegangen sind und vorgezogen 
haben, statt von Gesetzen von Kräften zu sprechen, obgleich dem 
tatsächlichen Sinne nach, was nicht oft genug wiederholt werden 
kann, der Substantive Ausdruck, bei welchem wir von einer Kraft 
sprechen, die in bestimmter Weise wirkt, factisch nichts anderes 



§6. 



NATURGESETZ, KRAFT UND URSACHE. 



15 



bezeichnet und keinen andern reellen Inhalt hat, als dafs wir da- 
durch ausdrücken: das Gesetz wird sich zeigen in jedem Falle, wo 
die Bedingungen für seine Erscheinung gegeben sind. Von diesem 
hypothetischen Substantivum , als welches wir die Kraft betrachten 
müssen, wissen wir weiter nichts, als dafs es in seinem Wesen liegt, 
die bestimmte Wirkung hervorzubringen. Zunächst ist nun zu be- 
merken, dafs wir in Folge der aufserordentlich grofsen Mannig- 
faltigkeit der äufseren Erscheinungsweise auch die allerverechieden- 
Bten Arten von Kräften annehmen. 

Die Beschleunigung der Weltkörper gegen einander bezeichnen 
wir als die Wirkungen einer Anziehungskraft, welche die schweren 
Körper gegen einander ausüben; bei der Lichtbrechung reden wir 
von einer Lichtbrechungskraft, die wir den durchsichtigen Körpern 
zuschreiben; in anderen Fällen finden wir, dafs bestimmte Zu- 
sammensetzungen von Metallen und leitenden Flüssigkeiten elek- 
trische Ströme hervorbringen, und indem wir die Stärke dieser 
elektrischen Ströme messen und die Bedingungen genauer bestimmen, 
unter denen sie eintreten und von denen ihre Stärke abhängt, 
sprechen wir von der elektro- motorischen Kraft einer galvanischen 
Batterie, u. s. w. Kurz, wir nehmen also die verschiedenartigsten 
Kräfte an und machen in dieser Hinsicht zunächst keine Be- 
schränkung. Später, wenn wir die Kräfte im Einzelnen untersuchen, 
werden wir allerdings auf besondere Betrachtungsweisen stofsen, 
welche einen gewissen Zusammenhang und eine gewisse Verwandt- 
schaft zwischen den einzelnen Kräften nachweisen. 

Es laisst sich leicht zeigen, dafs diese Abstracta, Kraft und 
Naturobjecte oder Körper, denen wir die Kraft zuschreiben, nicht 
von einander getrennt werden können. Wenn wir von Bewegungs- 
kräften reden, so pflegen wir das, was bewegt werden kann, einfach 
als die Masse oder als die bewegliche Materie zu bezeichnen. Eine 
Kraft ohne Materie hat keinen Sinn; das würde einem Gesetze ent- 
sprechen, welches da von Veränderungen spräche, wo keine Objecte 
wären, welche verändert werden könnten. Ein solches Gesetz würde 
sich selbst widersprechen und sich selbst aufheben; und eben so 
wenig würde es einen Sinn haben, von Materie ohne Kraft zu 
sprechen; denn solche materiellen Gegenstände könnten keinen 
Veränderungen unterworfen sein, da Veränderungen immer die 
Existenz einer Kraft voraussetzen. In dieser einfachen Betrachtung 
zeigt sich schon, dafs das materielle Object und die Kraft, zwei 
Abstracta sind, die nicht von einander getrennt werden dürfen, 



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16 



ERSTER AB8CHNITT. 



welche einen bestimmten Sinn nur in ihrer gegenwärtigen Be- 
ziehung und in ihrer Vereinigung haben. 

Mannigfache Irrungen sind in der Wissenschaft dadurch ent- 
standen, dafs man den eigentlichen Sinn, der mit dem Worte „Kraft" 
zu verbinden ist, vergafs und das, was mit einem substantivischen 
Wort ausgedrückt wurde, nun auch als ein reelles Ding auffafste, 
das unabhängig exisüren könnte. 

Es war lange Zeit, namentlich in den physiologischen Wissen- 
schaften, die Bede davon, dafs möglicherweise die „Lebenskräfte" 
losgelöste Kräfte sein könnten, welche nicht von einer Materie ab- 
hängen, und dafs man ebenso die Seele des Menschen als eine 
Kraft betrachten könne, die an keiner Materie haftete, die also los- 
gelöst wäre von den Objecten, an denen die Aenderung vor sich 
gehen soll. Das hat aber, sobald man sich über die Entstehung der 
Begriffe von Kraft und Materie klar ist» keinen Sinn mehr. 

Man hatte bei jenen Anschauungen den ursprünglichen Sinn 
der Bezeichnungsweise vergessen und betrachtete die abstracten Be- 
zeichnungen als Bezeichnungen wirklicher Dinge. 

Dafs dergleichen Irrthümer vorgekommen sind, und dafs daran 
sich allerlei falsche und unzulässige Vorstellungen in der Entwicke- 
lungsgeschichte der Wissenschaft geknüpft hatten, hat späterhin das 
Mifstrauen gegen diese ganze Bezeichnungsweise hervorgerufen, und 
manche, welche solche Irrthümer unbedingt vermeiden wollten, ver- 
anlafst, von jeder abstracten Bezeichnung abzusehen und ihre Dar- 
stellung der Naturvorgänge auf eine blofse Beschreibung auch dem 
Wortlaute nach zu reduciren. 

Wir haben noch eine andere Bezeichnung, die sich auf diese 
Verhältnisse bezieht, freilich mit einer gewissen Modifikation der Be- 
deutung. Es ist das die „Ursache". Wir bezeichnen die Kräfte 
insofern, als sie als der Grund vorgestellt werden, welcher Ver- 
änderungen hervorbringen kann, auch als die Ursachen der ein- 
tretenden Veränderungen. Wenn wir nun die Bezeichnung „Ursache" 
ihrer Etymologie nach betrachten, so finden wir, dafs mit der 
Vorsatzsilbe „ur" Etwas hinter den Erscheinungen Verborgenes be- 
zeichnet wird. „Sache" ist die Bezeichnung für ein dauernd 
bleibendes Ding, für etwas Bestehendes. Das Wort „Ursache" würde 
also seiner Etymologie nach, die hier genau mit dem Wortsinne 
übereinstimmt, das Bestehende bezeichnen, was hinter den Ver- 
änderungen, die wir wahrnehmen, verborgen ist, also den verborgenen 
dauernd bestehend bleibenden Grund der Erscheinungen. Das 
stimmt aber mit dem, was wir über den Begriff der Kraft dargelegt 



§6. 



NATURGESETZ, KRAFT UND URSACHE. 



17 



haben, völlig überein; denn wir sehen, dafs die Kraft nnr deshalb 
von uns als etwas dauernd Bestehendes aofgefafst werden kann, 
weil sie in jedem Augenblicke bereit ist, wirkungskräftig einzu- 
greifen. 

In dem Begriffe des Gesetzes der Erscheinungen liegt schon alles, 
was wir in diesen weiteren Benennungen hinzufügen. Durch diese 
wird nur der Begriff der Dauer und der stetigen Wirkungsbereitschaft 
mehr hervorgehoben. Wenn wir das Causalitätsverhältnifs für alle 
Veränderungen in der Natur als nothwendig betrachten f d. h. also 
annehmen, dafs jede Veränderung in der Natur ihre zureichende 
Ursache haben mufs, so können wir dieses auf Grund unserer eben- 
gemachten Darlegungen auch anders ausdrücken, indem wir sagen: 
Alle Veränderungen in der Natur müssen gesetzlich vorgehen. Da 
wir die Naturerscheinungen nur dann begreifen, wenn sie in allen 
ihren Theilen gesetzlich und nur gesetzlich vorgehen, so können wir 
den Satz von der Causalität auch in der Form: „Alle Naturerschei- 
nungen müssen begreiflich sein" formuliren. Sobald die Gesetz- 
lichkeit der Naturerscheinungen gegeben ist, dann haben wir auch 
damit gesagt, dafs das Gesetz fortbesteht, wirkungsbereit in jedem 
Augenblick, und wir sind berechtigt ein solches Gesetz in dem Sinne 
der angegebenen Worte als Ursache für die Erscheinungen zu 
bezeichnen. Der Causalität ssatz ist ein Satz, den wir eigentlich aus 
der Erfahrung nicht beweisen können. Denn wenn wir nicht das 
Causalitätsgesetz schon haben, so können wir aus keiner vor sich 
gehenden Erscheinung schliefsen, dafe sie von einer bestimmten Ur- 
sache ausgehen müsse. Wir müssen das Causalitätsgesetz schon 
anwenden, um zuerst zur Vorstellung der Kraft und der Ursache 
zu kommen. Es ist daher der Causalitätssatz in der That ein von 
formalen Bestimmungen unseres Denkvermögens abhängiger Satz 
a priori, denn wir könnten, wie gesagt, nicht zu der Vorstellung 
irgend einer Ursache oder zur Anerkennung einer Ursache kommen, 
wenn wir nicht an die Natur mit der Vorstellung herantreten, dafs 
es immer möglich sein mufs, Ursachen zu finden. Wenn wir nun 
anfangen nach Ursachen zu suchen, so finden wir zwar ein gutes 
Theil von Erscheinungen, in denen wir wirklich die Ursachen be- 
zeichnen und bei denen wir die vollständige und strenge Gesetz- 
mäfsigkeit nachweisen können; doch mufs andererseits auch hervor- 
gehoben werden, dafs unsere Kenntnifs der Naturerscheinungen noch 
lange nicht so weit ist, um als empirischen Satz zu folgern: „Alle 
Naturerscheinungen sind begreiflich." Wir müssen uns stets erinnern, 
dafs wir bei grofsen Klassen von Naturerscheinungen, wie vor allem 

H. v. Hblmholtz, Thoore». PbjriU. Bd, I, 1. 2 



18 



ERSTKR ANSCHNITT. 



bei den Erscheinungen des organischen Lebens in den Thieren und 
Pflanzen, bisher noch so weit von einer vollständigen Erkenutnifs 
ihrer Ursachen entfernt sind, dafs es ein sehr gewagter Schlufs sein 
würde, a posteriori aus der grofsen Reihe von bereits begreifbaren 
Naturerscheinungen auf die allgemeine Begreiflichkeit zu schliefsen. 
Bei anderen Gruppen, z. B. den meteorologischen Erscheinungen, 
welche jetzt zwar noch nicht völlig auf ihre Ursachen zurückgeführt 
sind, ist es freilich wahrscheinlich, dafs sie sich schliefslich werden 
begreifen lassen. 

§ 7. Die Hypothese als Vorstufe des Gesetzes. 

Unsere Aufgabe ist also, die Gesetze der Naturerscheinungen 
zu suchen. Wir haben dazu keinen anderen Weg, als dafs wir die 
Naturerscheinungen beobachten. In diesen kommen nun aber die 
Gesetze gewöhnlich nicht so ohne Weiteres zum Vorschein ; sondern 
meistenteils sind die Umstände, unter denen die Veränderungen 
in der uns umgebenden Natur vor sich gehen, so außerordentlich 
verwickelt, daß wir selbst bei Experimenten, die wir zu diesem 
Zwecke anstellen, nur sehr selten im Stande sind, das Gesetz in 
seiner einfachsten Wirkungsweise und für die unmittelbare Wahr- 
nehmung offen vor uns liegend zu erkennen. 

Gewöhnlich sind wir daher darauf angewiesen, versuchsweise 
Gesetze zu bilden und dann zu untersuchen, ob diese Gesetze in 
allen einzelnen Fällen, die wir durch künstliches Experimentiren 
herbei führen können, sich als richtig erweisen. Es ist das im 
Ganzen ein langsames und mühsames Suchen; denn die erste Auf- 
stellung eines Gesetzes wird immer noth wendig den Charakter der 
Hypothese haben, sie kann nicht gleich absolute Sicherheit ge- 
währen und bedarf einer Verification, die in den meisten Fällen 
ein sehr zeitraubendes Geschäft ist Wenn also auch notwendiger 
Weise der Weg der Untersuchung bei den Naturwissenschaften 
durch Hypothesen hindurchfuhrt, so darf doch nie vergessen und 
verkannt werden, dafs diese Hypothesen nur dazu dienen sollen, die 
Anhaltspunkte für die spätere Formulirung des Gesetzes zu liefern. 
Bei der Aufstellung der Hypothesen ist es immer vortheilhaft, sie 
so zu bilden, daß sie für jeden einzelnen Fall, auf den wir sie an- 
wenden wollen, ein ganz bestimmtes und eindeutiges Resultat geben. 
Es ist ein falscher Weg, wenn man glaubt, die ursprünglichen 
Hypothesen unbestimmt und allgemein halten zu können. Zur Auf- 
stellung solcher Hypothesen gehört stets ein gewisser Erfindungs- 



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DIE VOLLSTÄNDIGKEIT DER ERFAHRUNG. 



19 



geist; es ist gleichsam ein Rathen, und es wird im Allgemeinen 
nur Derjenige zum Ziele kommen, welcher geschickt zu rathen weifs. 
Meistenteils geht das in der Weise vor sich, dafs der einzelne 
Beobachter, der in einem bestimmten Abschnitt der Physik eine 
Reihe von Einzelbeobachtungen macht, zunächst versucht, diese ihm 
bekannten Fälle unter ein bestimmtes Gesetz probeweise zusammen- 
fassen, und dann überlegt, ob noch andere ihm bereits be- 
kannte Fälle, wo er den Ablauf der Erscheinungen schon gesehen 
hat, existiren, die unter seine Definition fallen, d. h. in die Classe 
der Fälle, auf welche sich das von ihm probeweise formulirte 
Gesetz bezieht. Sodann aber werden sich meistens auch neue Fälle 
angeben lassen, die unter das Gesetz gehören sollten, und deren 
Erfolg noch nicht verificirt ist Diese in ihrem Erfolge bisher noch 
unbekannten Fälle sind nun, soweit das möglich ist, thatsächlich 
durch das Experiment herbeizuführen, um zu ermitteln, ob sie 
nun auch unter das Gesetz passen. Dadurch wird aus der 
methodischen und principiell richtig fortschreitenden wissenschaft- 
lichen Untersuchung das hypothetische Element um so mehr heraus 
geschafft, je weiter die betreffende Untersuchung ins Specielle durch- 
geführt werden kann. Das Wissenschaftliche an diesem Verfahren 
besteht darin, dafs wir uns möglichst vollständige Kenntnifs von der 
gegebenen Classe der Naturerscheinungen zu verschaffen suchen, 
theils, indem wir unmittelbar beobachten, was sich von selbst unserer 
Erfahrung darbietet, theils, indem wir absichtlich noch nicht be- 
obachtete Fälle herbeizuführen suchen namentlich solche, die zwar 
unzweifelhaft in den Bereich des Gesetzes hineingehören, die aber 
doch in irgend einer wesentlichen Beziehung von den bisher be- 
obachteten uns bekannten Fällen abweichen. 

§ 8. Die Vollständigkeit der wissenschaftlichen Erfahrungen 
und ihre praktische Bedeutung. 

Das eben geschilderte Verfahren, eine Mos probeweise aufgestellte 
Hypothese als ein allgemein giltiges Gesetz nachzuweisen, geht im 
Wesentlichen darauf hinaus, möglichst vollständige Kenntnifs aller 
einzelnen Fälle zu suchen. Dadurch, dafs wir ein Gesetz für sie 
aufstellen, haben wir nun noch den weiteren Vorteil, dafs wir eine 
bestimmte Controle bekommen, theils über die Vollständigkeit in der 
Uebersicht der Fälle, theils auch dafür, dals uns kein gegenteiliger 
Fall der unserem Gesetze widerspricht, gleichsam durchschlüpft; 
denn je mehr wir aufmerksam geworden sind auf das Gesetz, und 

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20 



ERSTER ABSCHNITT. 



je mehr wir daran gewöhnt sind, das Oesetz in allen Fällen be- 
stätigt zu sehen, desto auffälliger wird uns auch jeder Fall, der 
der dem Gesetze widerspricht Wenn wir es mit regellosen Fällen 
zu thun hätten, so würden wir leicht einen einzelnen wider- 
sprechenden Fall übersehen können; aber gerade dadurch, data 
wir alle uns vorkommenden Fälle mit dem Gesetz vergleichen, 
werden wir mit der Zeit den höchsten Grad der Sicherheit erhalten, 
dafs kein Fall existirt, der ihm widerspricht 

Die echte Wissenschaft, nach richtiger Methode durchgeführt 
ist in der Kenntnifs der einzelnen vorkommenden Fälle und ihres 
Ausgangs aufserordentlich viel besser unterrichtet, als irgend 
ein dilettantisches Wissen es sein kann, das durch Zufall sich 
in der Erfahrung eines einzelnen Menschen zusammengehäuft 
hat Man hört sehr oft Aöufserungen, die ganz abstruse Be- 
hauptungen über das enthalten, was die Wissenschaft über ir- 
gend einen gegebenen Fall aussage. Namentlich sind in der 
Socialpolitik und Moralwissenschaft solche falschen und unsinnigen 
Angaben über das, was die Wissenschaft angeblich behaupte und 
lehre, sehr häufig. Der verborgene, nur selten klar erkannte Grund 
zu solchen Irrthümern liegt in der Regel in der Verwechslung von 
versuchsweise aufgestellten Hypothesen mit festerprobten Gesetzen. 
Man hat vielfach die Vorstellung, dafs die Wissenschaft nur un- 
gegründete Hypothesen aufstelle und sich durch diese Hypothesen 
irre leiten liefse. Nach dem, was wir aber soeben von der echten 
wissenschaftlichen Methode gesehen haben, ist die echte Wissen- 
schaft nichts anderes, als eine methodisch und absichtlich vervoll- 
ständigte und gesäuberte Erfahrung, und zwar eine Erfahrung, 
welche viel vollständiger und viel sicherer ist als jede durch Zufall 
zusammengekommene Erfahrung eines einzelnen nicht methodisch 
verfahrenden Menschen. Eben deshalb dürfen wir auf die echte 
Wissenschaft am meisten vertrauen und am meisten Wert legen. 

Bei der Lösung unserer Aufgabe, die Gesetze für die einzelnen 
Naturerscheinungen zu suchen, müssen wir danach streben, mög- 
lichst allgemeine Gesetze zu finden, d. h. Gesetze, unter welche sich 
möglichst viele einzelne Fälle begreifen lassen. Je mehr uns das 
gelingt, desto weiter reicht unsere Kenntnifs im Einzelnen. Wenn 
wir das Gesetz einer Classe von Erscheinungen kennen, so wissen 
wir auch im Voraus anzugeben, was der Erfolg sein wird, wenn 
diese oder jene Bedingungen eintreten, und in vielen Fällen werden 
wir die Bedingungen sogar so wählen können, dafs der von uns 
gewünschte Erfolg eintritt Die richtige Kenntnifs der Gesetze hat 



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§8. 



DIE VOLLSTÄNDIGKEIT DER ERFAHRUNG. 



21 



also nicht blos einen theoretischen Werth für die menschliche Ein- 
sicht und die Erkenntnils des Zusammenhanges des Gan2en, sondern 
sie hat auch einen ungeheuren praktischen Werth. Unsere ganze 
Herrschaft über die Natur und die Naturkräfte, wie sie sich nament- 
lieh in dem letzten Jahrhundert entwickelt, folgt aus dieser Kennte 
niÄ der Gesetze. 

Sowie wir die Kenntnifs der Gesetze besitzen, können wir zwei 
wichtige Dinge leisten, wir können erstens vorher wissen, was unter 
gegebenen Umständen geschehen wird, und das ist bekanntlich die 
einzig richtige Gabe der Prophezeiung, die dem Menschen gegeben 
ist Jede Prophezeiung, die sich auf vollständige Kenntnifs der 
Gesetze und der Umstände stützen kann, unter denen die Gesetze 
im gegebenen Falle wirken können, ist zuverlässig und sagt uns 
wirklich voraus, was nun geschehen wird. Zweitens sind wir — und 
das ist noch wichtiger — mittelst einer solchen vorgängigen Kennt- 
nifs der Gesetze in der Lage, die Naturkräfte nach unserem Willen 
und unseren Wünschen für uns arbeiten zu lassen. Die ganze 
Entwicklung der Industrie in der Neuzeit, und die ganze damit ver- 
bundene Aenderung in der Form des menschlichen Lebens und der 
menschlichen Thätigkeit, hängt wesentlich von dieser unserer Herr- 
schaft über die Naturkräfte ab. 



Zweiter Abschnitt. 



Die Grundlagen der mathematischen Darstellung. 

§ 9. Die Darstellung der Erscheinungen in Integralen und 

Differentialgleichungen. 

Wenn wir uns eine Uebersicht über die Einzelfalle zu ver- 
schaffen suchen, welche in einem solchen allgemeinen Gesetz ein- 
begriffen werden können, so finden wir, dafs eine Menge Verschieden- 
heiten des Erfolges dadurch zu Staude kommen, dafe die verschiedenen 
Naturkörper neben den wesentlichen Eigenschaften, die wir nicht 
abändern können, sehr verschiedene Form und Gröfse haben. Diese 
aber können wir in einer aufserordentlich grofsen Zahl von Fällen 
nach unserer Willkür abändern, und somit dürfen wir Form und 
Gröfse der Körper, die wir unseren Versuchen unterwerfen, meisten- 
teils als relativ leicht veränderliche Variable betrachten. Es wird 
dann unsere Aufgabe werden, uns in der Ausdrucksweise für die 
Naturgesetze von den Zufälligkeiten zu befreien, welche durch die 
Form und Gröfse bedingt sind. Aufserdem müssen wir aber auch 
noch unabhängig zu werden suchen von der Lage im Raum und 
der Dauer in der Zeit. Je mehr uns das gelingt, in desto weiterem 
Umfange werden unsere Gesetze gültig sein können. Um von der 
Form unabhängig zu werden, müssen wir uns bestreben, Ausdrücke 
zu gewinnen, in denen die Form, in welcher die Körper auftreten, 
nicht mehr vorkommt, die also gegeben sind durch die ganz all- 
gemeinen Raumverhältnisse, ohne dafs wir auf eine bestimmte Form 
Rücksicht zu nehmen brauchen. Es sind nun bisher zwei Wege 
beschrieben worden, um sich von der Bezugnahme auf eine bestimmte 
Form frei zu machen. Jeder Naturkörper kann im Allgemeinen als 
ein Aggregat kleinster Theilchen angesehen werden, welche man sich 
nun entweder als Punkte, sogenannte materielle Punkte, d. h. Par- 
tikelchen von Massen, die so klein sind, dafs wir keine Ausdehnungen 
an ihnen und auch keine Richtungen in ihnen zu unterscheiden 



§ 9. INTEGRALE UND DIFFERENTIALGLEICHUNGEN. 23 



brauchen, oder als körperliche Volumenelemente vorstellt, d. h. als 
Volumenelemente des Raumes, die mit Materie gefüllt sind. An 
einem punktförmigen Raumgebilde sind keine Seitenrichtungen zu 
definiren, denn durch einen Punkt kann man unterschiedslos nach 
allen Richtungen gerade Linien ziehen, während man sich bei 
körperlichen Raumelementen noch ein Coordinatensystem in das 
betreffende Volumen eingelagert denken kann, und wir somit in dem 
Volumen bestimmte feste Richtungen unterscheiden können, die 
möglicher Weise verschiedene physikalische Eigenschaften haben. 

In einer grofsen, vielleicht unbegrenzten Zahl von Fällen können 
wir nun die Wirkungen, welche durch ausgedehnte Körper hervor- 
gebracht werden, als die Summe derjenigen Wirkungen betrachten, 
die von den einzelnen materiellen Punkten in dem mit Materie ge- 
fällten Räume hervorgebracht werden, d. h. wir können die von den 
Körpern ausgehenden Kräfte auf solche Kräfte zurückfuhren, die 
von den einzelnen materiellen Punkten ausgehen und immer nur 
von der Lage je eines dieser Punkte abhängen. In anderen Fällen 
aber dürfen wir das nicht. Sondern, wenn wir es versuchen wollten, 
die Gesammtwirkungen in die Wirkungen von Punkten auf einander 
zu zerlegen, so würden wir mit unmittelbar benachbarten Punkten 
zu rechnen haben, die also beliebig kleine Entfernung von einander 
besitzen, und dafür fehlt uns bisher meistenteils noch die Kenntnifs 
der Gesetze, nach welchen solche nahe an einander liegenden Punkte 
auf einander wirken. Wenn wir auf getrennte materielle Punkte 
zurückgehen können, so ist unsere Betrachtungsweise einfacher, denn 
wir haben dann nur die Wirkungen von Punkten auf einander zu 
berücksichtigen, welche selbst in einer gewissen Entfernung von ein- 
ander liegen. 

Das sind die beiden Grenzformen, auf welche wir in unserer 
Analyse der räumlichen Zusammensetzungen der Wirkungen zurück- 
zugehen pflegen. In dem Umstände, dafs wir die Wirkungen aus- 
gedehnter Körper auf Wirkungen von Massentheilen zurückführen 
können, die sehr klein sind, oder die so weit von einander entfernt 
sind, dafs man ihre Durchmesser gegen ihre Entfernungen vernach- 
lässigen kann, liegt der Grund, warum die theoretische Physik über- 
wiegend mathematisch wird. Wir müssen dabei nämlich Additionen 
von den Wirkungen vornehmen, welche die einzelnen Punkte oder 
Massenelemente des einen Körpers auf die einzelnen Punkte oder 
Massenelemente des anderen Körpers ausüben. Diese Additionen 
erfordern in den meisten Fällen, dafs wir Summen bilden, deren 
einzelne verschwindend kleine Theile verschiedene Gröfse haben 



24 



ZWEITER ABSCHNITT. 



und namentlich von der Entfernung der Punkte, die auf einander 
wirken, abhängig sind, so dafs wir Summen von einer Reihe von 
Elementen zu bilden haben, die sich mit der Lage der Theilchen 
ändern. Solch eine Summe wird rechnungsmäfsig immer als ein 
Integral darzustellen sein; oder wenn wir das Integral auflösen 
wollen, so werden wir Differenzirungen ausfuhren müssen. In den 
meisten Fällen wird die Folge davon sein, dafe das Gesetz die Form 
einer Differentialgleichung erhält, und dafs die Folgerung, welche 
wir aus dem Gesetze herleiten wollen, sich in der Form von Inte- 
gralen dieser Differentialgleichung darstellen wird. Es giebt nur 
wenige Fälle, wo alle Elemente der zu bildenden Summe gleich 
sind; das ist z. B. der Fall, wo wir einen ausgedehnten schweren 
Körper auf eine Wage legen und der Wirkung der irdischen Schwere 
aussetzen, dann ist der Mittelpunkt der Schwerwirkung ungefähr im 
Mittelpunkt der Erde und er ist von allen den einzelnen Theilen 
der schweren Masse, die wir abwägen wollen, so weit entfernt, dafs 
wir die Unterschiede dieser Entfernungen vernachlässigen können. 
Wir können in diesem Falle alle Kräfte, mit denen die Erde auf 
die einzelnen Theile des Gewichtes einwirkt, als gleich grofs be- 
trachten; und wenn wir eine Summe von lauter gleich grofeon 
Elementen zu bilden haben, so brauchen wir nicht zu integriren, 
sondern können sie durch Multiplication finden. 

Ebenso wie die Verschiedenheit im Raum, kommt nun auch 
die Verschiedenheit in der Zeit in Betracht. Wenn die auf einander 
wirkenden Körper sich gegenseitig bewegen und allmählich ihre 
gegenseitige Lage ändern, so wird die Wirkung während dieser Zeit 
nach einem bestimmten Gesetz, das von der Bewegung abhängt, sich 
ändern, und wenn wir diese Wirkungen nun während einer gewissen 
Zeit zu addiren haben, so tritt uns die Aufgabe entgegen, eine con- 
tinuirliche Reihe von veränderlichen Gröfsen zu summiren, was uns 
wieder auf den Procefs der Integrirung fuhrt, während bei dem 
umgekehrten Verfahren die Differentiirung nothwendig wird. 

Die meisten Aufgaben der mathematischen Physik können wir 
also nur dadurch lösen, dals wir integriren oder differenziren, und 
nur in wenigen besonders einfachen Fällen, z. B. bei der Geschwindig- 
keit eines frei fallenden Körpers, sind die einzelnen zu summirenden 
Theile, das sind hier die Zunahmen der Fallgeschwindigkeit, welche 
die Schwere hervorbringt, fortdauernd von derselben Gröfse. In 
solchen einfachen Fällen ist die Aenderung in der Zeiteinheit einfach 
mit der Zeit zu multipliciren. Diese verhältnifsmäfsig wenig zahl- 
reichen Fälle werden besonders in der „Experimentalphysik" vor- 



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§ 9. INTEGRALE UND DIFFEREN1TALGLETCHUNGEN. 25 



getragen, da man hier die Methode, wie Gesetze gefunden und aus 
ihnen Folgerungen gezogen werden, an solchen Fällen demonstriren 
mufa, bei denen man nicht auf complicirtere und schwierigere 
Rechnungsarten geführt wird, und wo die sinnliche Erscheinung und 
deren Verständnis möglichst wenig durch die Schwierigkeit der 
mathematischen Behandlung beeinträchtigt werden soll. Wenn man 
aber zu einer vollständigen und eindringenden Kenntnifs der Gesetze 
kommen will, muss man auch zu den verwickeiteren Theilen der 
mathematischen Analyse seine Zuflucht nehmen, weil man sich nicht 
auf den einen oder den anderen Fall beschränken kann. Stets 
muss man dann die Phänomene ohne Auswahl beobachten und den 
Ausdruck der aus den Beobachtungen abgeleiteten Gesetze von den 
Oomplicationen zu befreien Sachen, welche durch Ausdehnung und 
Bewegung der Körper hinein gebracht werden. Das ist in der Regel 
aber nicht möglich, ohne dafs man bereit ist, auch in die schwierigeren 
mathematischen Untersuchungen einzugehen. Ja, es ist klar, dafs 
man bei wirklich vollständiger Kenntnifs der Physik bereit sein 
müfste, die Gesetze an jeder noch so complicirten Combination von 
Naturkörpern und ihren Bewegungen zu prüfen. Es kann sich z. B. 
die Astronomie nicht die Fälle aussuchen, welche ihr erlauben, 
Integrationen und Differentiationen zu vermeiden, sondern sie mufs 
bereit sein, in allen durch die Umstände gegebenen, wenn auch noch 
so complicirten Fällen die Rechnung durchzufuhren. Es mag hier 
noch bemerkt sein, dafs vielfältig von Seiten der reinen Mathematiker 
die mathematische Physik mit dem Zwecke betrieben wird und be- 
trieben worden ist, interessante Beispiele für schwierige mathe- 
matische Probleme zu finden und zu behandeln; wie denn auch in 
der Entwickelungsgeschichte der Mathematik ein grofser Theil der 
mathematischen Disciplinen sich an den Beispielen ausbildete, welche 
zunächst die Physik dargeboten hat Das ist hier nicht unser 
Zweck. Wir wollen hier eine möglichst klare und übersichtliche 
Einsicht von den physikalischen Gesetzen, d. h. von den Grund- 
gesetzen der Natur und deren Anwendung für die einzelnen Clasäen 
der Naturkörper geben. Soviel wie möglich wollen wir uns dabei 
an einfache Beispiele halten. Wir wollen Physik treiben, keine 
Mathematik, und wollen uns den Weg so leicht machen, als es 
möglich ist; es wird aber trotzdem die Vollständigkeit der zu er- 
langenden Einsicht ein gewisses Eindringen in die größeren Tiefen 
der mathematischen Analysis erfordern. 



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20 



ZWEI TER ABSCHNITT. 



§ 10. 



§ 10. Der Begriff der Gleichheit 

In der ersten Definition des Naturgesetzes haben wir gesagt, ^ 
wir wollen Classen von Fällen suchen, in denen eine gewisse Gleich- 
heit der Vorgänge stattfindet Da stolsen wir zunächst auf den 
Begriff des Gleich, und es fragt sich, wo ist denn der Begriff des 
Gleich hergekommen und was bedeutet er? Wenn wir ihn auf einen 
gewissen Fall anwenden wollen, so müssen wir doch von vorn herein 
entscheiden können, ob er für diesen Fall pafst, und um darüber 
entscheiden zu können, werden wir eine Definition haben müssen. Wie 
ist die Definition zu geben? Sollen wir sagen, zwei Gröfsen sind ein- 
ander gleich, wenn sie für einander gesetzt werden können? Dagegen 
ist einzuwenden, dafs man zwei Gröfsen niemals in allen Fällen für 
einander setzen kann. Man kann zwar z. B. zwei gleiche Gewichte für 
einander setzen. Wenn man das eine Gewicht von der Waage nimmt, und 
das andere statt dessen darauf legt, so wird die Waage sich ebenso 
einstellen, wie sie vorher eingestanden hat, und die zwei Gewichte 
können also für einander gesetzt werden, insofern es Bich um Be- 
obachtungen der Schwere von zwei Körpern handelt Man kann, 
um ein anderes Beispiel zu nennen, zwei Körper am Thermometer 
vergleichen und finden, dafs die beiden Körper gleiche Temperatur 
haben, und dafs ein und dasselbe Thermometer in Berührung mit < 
den beiden Körpern gleichen Stand annimmt Dann kann man in 
Bezug auf die thermometrischen Angaben sagen, dafs die beiden 
Körper sich gegenseitig vertreten können. Man kann zwei Flächen 
in Bezug auf ihre Helligkeit vergleichen und finden, dafs bei gleicher 
Beleuchtung die beiden gleich hell erscheinen und keinen Unter- 
schied im Gesichtsfelde erkennen lassen. Aber in allen diesen 
Fällen sind die als gleich erklärten Gröfsen nur in gewisser Be- 
ziehung einander gleich. Es gehört, um über die Gleichheit zu 
entscheiden, die Kenntnifs der Methode dazu, nach der die Ver- 
gleichung ausgeführt werden soll Es können zwei Gewichte gleich 
schwer sein, Bie können aber sehr verschiedene Temperatur und 
können sehr verschiedene Helligkeit haben; die Gleichheit der 
einen Beziehung läfst nicht auf Gleichheit der andern Beziehungen 
schliefsen, und es wird immer noch nöthig sein, dafs wir eine 
weitere Bestimmung darüber hinzufügen, in welcher Weise die beiden 
Körper verglichen werden sollen. Zugleich bemerken wir, dafs die 
Ungleichheit der allgemeinere Fall ist und die Gleichheit einen be- 
sonderen Ausnahmsfall bildet Wir werden bei der Vergleichung 
zweier Körper in der Regel die Schwere oder die Temperatur oder 



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§ 10. DER BEGRIPP DER GLEICHHEIT. 27 

die Helligkeit ungleich finden; aber es wird möglich sein, die Eigen- 
schaften des einen Körpers so za ändern, dafs Gleichheit eintritt 
Nun ergiebt sich aber noch eine nähere Bestimmung des 
Begrins der Gleichheit, welche wir eigentlich als zur Definition ge- 
gehörig bezeichnen können, eine Bestimmung, die sich ausdrückt 
in dem gewöhnlich als erstes Axiom der Arithmetik angegebenen 
Satze: Wenn zwei Gröfeen einer dritten gleich sind, so sind 
sie unter sich gleich. In dieser allgemeinen unbestimmten 
Fassung ist der Satz offenbar nicht richtig, sondern es kann eine 
Gröfee z. B. in ihrem Gewicht einer zweiten gleich sein, und eine 
dritte kann der zweiten in Bezng auf die Farbe gleich sein. Das 
würde keinerlei Gleichheit zwischen der ersten und dritten be- 
stimmen. Aber der Satz ist richtig und von grofeer Wichtigkeit, 
wenn wir ihn auf solche Größen anwenden, die nach derselben 
Beobachtungsmethode vorglichen werden. Solche GrÖfsen wollen 
wir in Bezug auf die Beobachtungsmethode als gleichartig be- 
zeichnen. Hier können wir dieses arithmetische Axiom eigentlich 
als die Definition einer Gleichheit betrachten. Es mufs das Axiom 
erfüllt sein für die Fälle, wo wir zwei Paare von GrÖfsen unter 
einander als gleich anerkennen sollen. Um das zu erläutern, wollen 
wir z. B. annehmen, wir würden zwei Gewichte dadurch vergleichen, 
dafs wir sie auf die beiden Schalen einer Waage legen und würden 
sie für gleich erklären, wenn die Waage einspielt. Man sieht 
sogleich, dafs diese Definition der Gleichheit nur dann dem arith- 
metischen Axiom entspricht, wenn die Waage genau gleicharmig 
ist. Denn an einer ungleicharmigen Waage würde an dem längeren 
Arm das Gewicht a etwas kleiner sein müssen, als das Gewicht b 
an dem kürzeren Arm, wenn die beiden sich im Gleichgewicht 
halten sollen. Würde nun ein drittes Gewichte in derselben Weise 
mit b verglichen wie b mit a, so käme b an den längeren Arm und 
e auf den kürzeren. Spielt jetzt wieder die Waage ein, so würde 
sie nicht mehr einspielen können, wenn c in derselben Weise mit 
a verglichen wird, wie b mit a verglichen wurde. Diese Definition 
der Gleichheit durch das Einspielen einer ungleicharmigen Waage 
wäre nicht zulässig, weil sie dem Axiom widerspricht, dafs zwei 
Gröfsen, die einer dritten gleich sind, auch unter einander gleich 
sind. In ähnlicher Weise könnte es zunächst als zweifelhaft er- 
scheinen, ob man in Bezug auf die Temperaturen die Definition 
der Gleichheit so geben darf, wie es oben geschah, weil die Art 
wie wir einen Körper erwärmen, sehr verschieden sein kann. 
Werden zwei Körper in Bezug auf die Temperatur gleich genannt. 



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28 



ZWEITER ABSCHNITT. 



die so in Berührung gebracht sind, dafs die Wärme von dem 
wärmeren zum kälteren übergehen kann, so ist von vorn herein 
noch nicht gewifs, ob diese Definition zulässig ist Erst durch den 
Versuch überzeugen wir uns, dafs ein dritter Körper, z. B. ein 
Thermometer, das mit dem ersten Korper gleiche Temperatur hat, 
auch mit dem zweiten in der Temperatur übereinstimmt Aber 
wir würden nicht berechtigt sein, ehe wir entsprechende Experi- 
mente gemacht haben, zu schliefen, dafs die Art der Erwärmung, 
also z. B. durch einen chemischen Prozefs oder durch die Sonne 
oder durch Reibung für die thermometrische Wirkung nicht in Be- 
tracht kommt, dafs also die thermometrische Wirkung unabhängig 
ist von der Art der Wärme, die wir angewendet haben. Wir 
müssen anerkennen, dafs das ein empirischer Satz ist, und in der 
That ist er ja im Wesentlichen nichts Anderes, als der zweite Haupt- 
satz der mechanischen Wärmelehre, aus dem eine Menge anderer 
Sätze hergeleitet werden. Zur Definition der Gleichheit gehört 
also der Satz, dafs zwei Gröfsen, die einer dritten gleich sind, auch 
unter einander gleich sind. Nur solche Untersuchungsmethoden 
dürfen zur Definition der Gleichheit verwendet werden, für die das 
arithmetische Axiom erfüllt ist Ob es erfüllt ist, wird durch das 
Experiment entschieden. 

§ 11. Verglelchung ungleichartiger Körper. 

In der Natur haben wir es selten mit Fällen zu thun, wo eine 
gröfsere Anzahl von Naturkörpern vollständig gleich sind. Auch 
selbst wenn sie gleichartig sind, so stehen sie nicht immer in 
einem solchen Verhältnisse zu einander, dafs man sie gleich setzen 
kann, sondern wir haben meistentheils mit Fällen zu thun, wo in 
Bezug auf die zu vergleichende Eigenschaft die einzelnen Natur- 
körper gewifse Gröfsenverschiedenheiten zeigen. Den Begriff der 
Gleichartigkeit hatten wir oben so definirt, dafs als gleichartig solche 
Körper zu betrachten sind, welche nach derselben Methode unter 
einander verglichen werden dürfen. Aber gleichartige Körper können 
noch immer in der Gröfse gleich oder ungleich sein. Wir kommen 
dadurch zu der Aufgabe, ungleich grofse, aber gleichartige Körper mit 
mit einander zu vergleichen. Ist es möglich, eine Methode der Verglei- 
chung so auszuführen, dafs man den einen Körper einem Aggregat 
zweier oder mehrerer Körper gloich setzt? Zu dem Ende müssen wir 
untersuchen, nach welchen Gesetzen sich zwei Körper in Bezug 
auf eine Eigenschaft oder eine W T irkung zusammensetzen oder, 



! 



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DER BEGRIFF DES ZÄHLEXS. 



29 



wie Gbassmann sagt, mit einander verknüpfen lassen. Unter Ver- 
knüpfung versteht Grassmann irgend eine Art der Verbindung, 
sei es begrifflicher Verbindung, wie sie beim Zählen vorkommt, 
oder natürlicher Verbindung, wie sie bei allerlei Arten von Zu- 
sammenwirken verschiedener Körper vorkommen kann, wobei es 
z. B. auf die Gröfse oder auf das Gewicht oder auf die Raum- 
dimensionen oder auf mannigfaltige andere Arten des Zusammen- 
wirkens ankommen kann. Man kann sagen, dafe der gröfste Teil 
der Aufgaben, mit denen wir uns in der mathematischen Physik 
zu beschäftigen haben, mit Arten der Zusammenfassung oder der 
Verknüpfung zu thun hat, bei welcher das Resultat wie das Resultat 
einer Addition durch eine Summe dargestellt wird. Wir können 
uns aber nicht auf die Art der Addition beschränken, wie 
sie etwa einfach dadurch gegeben wird, dafs wir zwei Haufen von 
Körpern zusammenthun und durchzählen, sondern es kommen viele 
verschiedene Arten der Verknüpfung vor, die sachlich von der 
Zahlenaddition verschieden, aber durch dieselben Gesetze geregelt 
werden. Man denke z. B. an die Zusammensetzung gerader Linien 
in Bezug auf ihre Länge, oder an die Zusammensetzung von Drei- 
ecken in Bezug auf ihre Fläche. 

Wir setzen zwei gerade Linien in einer bestimmten Weise zu 
einer dritten geraden zusammen, von der wir sagen, dafs sie der 
Länge nach der Summe jener beiden gleich sei; und ebenso können 
wir in einer bestimmten Weise zwei Dreiecke zu einem dritten Drei- 
eck zusammensetzen, von dem wir sagen, dafs es der Fläche nach 
der Summe jener beiden gleich sei. Und zahlreiche ähnliche Bei- 
spiele finden sich in der theoretischen Physik, wo eine gewisse Zu- 
sammensetzung der Gröfsen Addition genannt wird, weil dieselben 
Gesetze erfüllt sind, die bei der Addition ganzer Zahlen gefunden 
und für den Begriff der Addition als wesentlich erkannt werden. 

Welches sind nun diese für den Begriff der Addition wesent- 
lichen Gesetze? Sie ergeben sich am einfachsten aus dem Begriff 
des Zählens. 

§12. Der Begriff des Zählens und die Gesetze der Addition. 

Wenn wir die Anzahl eines Haufens von Gegenständen zu be- 
stimmen haben, so ist dazu nur vorauszusetzen, dafs die Gegenstände 
weder eine Theilung erleiden noch mit einander verschmelzen; son- 
dern dafs jeder Gegenstand eine abgesonderte Existenz besitzt und 
während des Zählens behält 

Es kann sich dabei um irgend welche Objecto handeln, die 



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30 



ZWEITER ABSCHNITT. 



§ 1«. 



unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nur dafs wir sie von ein* 
ander müssen sondern können. Es können greifbare Dinge sein 
wie Münzen, Klötze, Eier, oder nicht greifbare wie Worte oder Töne 
oder Lichter, vorausgesetzt nur immer, dafs jedes einzelne von diesen 
Objecten nicht mit den andern verschmelzbar ist und eine abgeson- 
derte Existenz besitzt und diese während des Zählens behält 
Die Anzahl der Objecte bestimmen wir in der Weise, dafs wir eins 
nach dem andern absondern und von der Zahl eins angefangen jedes- 
Mal die nächste ganze Zahl nennen nach ihrer Reihenfolge. Die 
letzte Zahl, zu der wir auf diese Weise kommen, heifst die Anzahl 
der gezählten Objecte. Die Zahlen sind im Wesentlichen nichts 
anderes, als gewisse hörbare oder sichtbare oder fühlbare Zeichen, 
welche weiter keine wesentlichen Eigenschaften haben, als dafs Bie 
immer in einer bestimmten Ordnung wiederkehren sollen und jede 
einzelne von allen anderen unterscheidbar sein soll. Dafs auf die 
Art dieser Zeichen gar nichts ankommt, das zeigt sich daran, dafs 
in den verschiedenen menschlichen Sprachen ganz verschiedene 
Zeichen für die Zahlen gewählt worden sind. Für jedes Zeichen 
ist also wesentlich zu wissen, wie das folgende Zeichen lautet oder 
aussieht oder sich anfühlt. Wenn wir das wissen und wenn wir 
das erste Zeichen kennen, so können wir zählen. 

So ist z. B. das Zählen ermöglicht, wenn wir festsetzen, das 
erste Zeichen sei das Zeichen 1, das folgende das Zeichen 2, das 
folgende 3 u. s. f., gleichgültig ob wir nun gerade diese oder irgend 
welche andere unterscheidbare Zeichen wählen. Die Festsetzung, 
dafs z. B. das Zeichen 4 auf das Zeichen 3 folgt, wollen wir in der 
Gleichung ausdrücken: 

3 + 1=4. 

Das Zeichen + 1 zu 3 gefügt, soll also nur heifsen, dafs das 
folgende Zeichen genommen werden soll. 

Die Möglichkeit des Zählens besteht in der Fähigkeit unseres 
Gedächtnisses, eine solche Reihenfolge von willkürlich gewählten 
Zeichen zu behalten und zu jeder Zeit in derselben Ordnung wieder 
zu produciren. Die Art der Zeichen ist dabei vollkommen gleich- 
gültig. 

Was nun den Begriff der Addition betrifft, so betrachten wir 
zwei Gruppen von Objecten, die wir zu einer Gruppe zusammen- 
fügen. Wir addiren die Anzahlen der beiden Gruppen, indem wir 
die Anzahl der Objecte in der Gesammtgruppe feststellen. Das ge- 
schieht dadurch, dafs wir die beiden Gruppen hinter einander abzählen. 



DEK BEGRIFF DES ZÄHLENS. 



31 



Nachdem wir mit der einen Gruppe fertig geworden sind, zählen 
wir weiter in der Reihenfolge der natürlichen Zahlen, indem wir 
die Körper der andern Gruppe allmählich zu dem Haufen gezählter 
Körper hinzufügen. 

Besteht z. B. die erste Gruppe aus 8 Objecten und die zweite 
nur aus einem Object, so ist die Addition durch die Gleichung 3 + 1 = 4 
ausgedrückt, durch dieselbe Gleichung, welche die Beziehung der 
beiden auf einander folgenden Zeichen definirt. Besteht dagegen 
die zweite z. B. aus 4 Objecten, so zählen wir von 3 aus 4 Schritte 
weiter, d. h. wir zählen die Zahlzeichen, die auf 3 folgen, und bleiben 
bei dem vierten stehen. Dies Zeichen ist 7, und das Resultat 
drücken wir durch die Gleichung aus 3 + 4 = 7. 

Um dieses Verfahren auszuführen, brauchen wir aber keine 
Gruppen von körperlichen Gegenständen zu haben, sondern wir 
können das auch an rein imaginirten Vorstellungen machen, an 
unseren Zahlzeichen. Wir beginnen mit derjenigen Zahl, welche 
der letzten Zahl der ersten Gruppe folgt, und zählen die Zahlzeichen 
von hier ab durch, bis wir die der zweiten Gruppe entsprechende 
Anzahl abgezählt haben. Das letzte Zahlzeichen entspricht der 
Summe der beiden Zahlen. Sei nun a das Zahlzeichen der ersten 
Gruppe, b das Zahlzeichen der zweiten und * das Zahlzeichen der 
Gesammtgruppe, so schreiben wir 

a + b = s, 

um diesen Procefs zu bezeichnen, nach dem s gefunden wird. Für 
den speciellen Fall, wo b = 1 ist, geht * in die auf a folgende 
Zahl über. 

Wenn nun in der zweiten Gruppe die Anzahl um eins gröTser 
wäre, so würde b + 1 an die Stelle von b treten. Dann würden 
wir auch beim Abzählen der Zahlzeichen, die auf a folgen, um eine 
Stelle weiter kommen. An die Stelle von s müfste also s + 1 treten. 
Damit erhalten wir das Gesetz: 

a + (b + 1) = s + 1 
oder anders geschrieben: 

a + (b + 1) = (a + b) + 1. 

Die Klammer bedeutet dabei, dafe die Zahl gemeint ist, die 
sich als Resultat der in der Klammer bezeichneten Operation ergiebt 
Wir können sagen, dies Gesetz enthalte die Definition der Addition, 



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in so fern es lehrt, die Summe von a und b + 1 zu finden, wenn 
man die Summe von a und b schon kennt. Da die Summe a + l 
durch die Definition des Zählens gegeben ist, so ist mithin durch 
das Gesetz 

a + {b + 1) = (a + b) + 1 

die Addition vollständig definirt 

Aus diesem Gesetz folgt sogleich das Allgemeinere: 

a + {b + c) = [a + b) + c. 

Für c « 1 geht es in das vorige Gesetz über. Nun läfet 
sich zeigen, dafs, wenn rar irgend einen Werth von c das Gesetz erfüllt 
ist, es auch erfüllt bleibt, wenn c + 1 an die Stelle von c tritt. 
Damit ist es dann allgemein bewiesen. Wir fügen zu beiden Seiten 
der Gleichung 1 hinzu. Dann müssen die beiden sich so ergeben- 
den Zahlen ebenfalls einander gleich sein: 

[a + {b + c)] + 1 = [(a + b) + c] + 1. 

Nach der Definition der Addition aber, werden wir diese Summe 
auch so bilden können, dafs wir die 1 nicht zu der ganzen Summe 
hinzu addiren, sondern zum zweiten Summanden. Damit erhal- 
ten wir: 

a + ((b + c)+l) = {a + b) + [c + l) 

und da ferner nach der Definition der Addition {b -f c) + 1 = b + (c + 1) 
ist, so wird: 

a + (b + (c + 1)) = (a + b) + (c + 1), 

was sich nur dadurch von der Gleichung 

a + (b + c) - {a + b) + c 

unterscheidet, dafs c + 1 an die Stelle von c getreten ist Da die 
Gleichung für c = 1 richtig ist, so mufs sie daher auch für jeden 
Werth von c richtig sein. 
Aufser dem Gesetz 

a + [b + c) = (a + b) + c 
ißt noch ein anderes für die Addition wesentlich: 



DER BEGRIFF DES ZÄHLENS. 



33 



Wir beweisen zunächst den einfacheren Fall: 

a + 1 = 1 + a. 

In dem Falle, wo a = 1 ist, fällt der Unterschied der beiden 
Seiten der Gleichung weg und wir erhalten die Identität 1 + 1 = 1 + 1. 
Wir beweisen nun, dafs, wenn diese Gleichung für einen bestimmten 
Werth von a richtig ist, sie auch für a + 1 richtig sein mufs. Aus 

a+ 1 - 1 +a 

folgt durch Hinzufügung Ton 1 auf beiden Seiten: 

(a + 1) + 1 = (1 + a) + 1. 

Nach dem ersten Gesetz der Addition ist aber: 

(l+«) + l- l+ (a + l). 

Folglich ergiebt sich: 

{a + 1) + 1 = 1 + (a + 1). 

Mit andern Worten, wenn für irgend einen Werth von a die 
Gleichung a + 1 = 1 + a richtig ist, so ist sie auch für den folgen- 
den Werth und damit für alle folgenden richtig. Nun ist die 
Gleichung für a = 1 eine Identität; mithin ist sie für alle Werthe 
von a richtig. 

Nun steigen wir von der Gleichung 

a + 1 = 1 + a 
zu dem allgemeineren Gesetz: 

a + b = b + a 

auf, indem wir auch hier den Schlufs von b auf b + 1 machen. Ist 
für irgend einen Werth von b die Gleichung a + b = b + a erfüllt, 
so fugen wir auf beiden Seiten 1 hinzu und erhalten: 

[a + b) + 1 = (* + a) + 1. 

Auf der linken Seite finden wir nach dem Gesetz, dafs die 
Addition definirt [a + b) + 1 = a + (b + 1), auf der rechten Seite 
[b + a) + 1 = * + {a + 1). 

Damit geht unsere Gleichung über in 



a + [b + 1) = * + {a + 1). 

H. v. Hblmholtk, Theoret. Physik. Bd. I, 1. 8 



34 



ZWEITER ABSCHNITT. 



Nun haben wir aber eben gesehen, dafs in der Summe a + 1 
die Summanden vertauscht werden können. Wir können also auch 
setzen: 

a + {b + 1) = b + (1 + a). 

Indem wir nun wieder nach dem Definitionsgesetz auf der 
rechten Seite das mittlere Glied zum ersten addiren, erhalten wir 

a + [b + 1) = {b + 1) + a. 

Wenn also die Gleichung a+b=b+a für eine Zahl b gilt, 
so gilt sie auch für die nächst höhere Zahl b + 1 , welches auch a 
sein mag. Da nun für b = 1 und beliebige Werthe von a ihre 
Richtigkeit bewiesen ist, so gilt sie damit auch für beliebige Werthe 
von b. 

Damit sind die beiden Gesetze der Addition 

1. (a + b) + c = a + (b + c) 

2. a + b = b + a 
aus dem Definitionsgesetz der Addition 

( fl + Ä)+l=a + (Hl) 

hergeleitet. 

Aus dem ersten Gesetz können wir auch folgern, dafs bei einer 
Summe beliebig vieler Summanden irgend eine Gruppe auf einander 
folgender Summanden für sich zu einer Summe zusammengefafst 
werden kann, ohne das Resultat zu ändern. 

Aus den beiden Gesetzen 1 und 2 folgt ferner, dafs bei einer 
Summe von beliebig vielen Summanden die Reihenfolge gleichgiltig 
ist Denn nach dem ersten Gesetz können wir irgend zwei auf 
einander folgende Summanden zusammenfassen, ohne das Resultat 
zu verändern und nach dem zweiten Gesetz können wir sie dann 
vertauschen. Durch Vertauschung eines Summanden mit dem be- 
nachbarten kann man aber jeden Summanden an jede beliebige 
Stelle bringen und damit die Reihenfolge der Summanden beliebig 
ändern. 

Die Gesetze 1 und 2 sind specielle Fälle dieser beiden all- 
gemeineren Gesetze. 

Bei irgend einem Process der Verknüpfung oder des Zusammen- 
wirkens von Gröfsen werden wir sagen: Die Axiome der Addition 
sind erfüllt, wenn das Resultat des Zusammenwirkens unabhängig 



S 12. DER BEGRIFF DES ZÄHLENS. 35 

ist, erstens, von der Ordnung, in welcher die Verknüpfungen der 
einzelnen Paare von Gröfsen mit einander vor sich gehen, d. h. wie 
diese gruppenweise zusammengefaßt werden, und zweitens von der 
Reihenfolge, in der diese Verknüpfungen erfolgen. 

Denken wir z. B. daran, dafs wir Gewichtsstücke auf die beiden 
Waag8chaalen einer gleicharmigen Waage legen. Wir finden, dafs es 
beim Einspielen der Waage ganz einerlei ist, in welcher Reihen- 
folge wir die Stücke auflegen, ob z. B. die grofsen Stücke zuerst 
und nachher die kleinen oder umgekehrt Und zweitens finden wir, 
dafs es einerlei ist, ob wir eine Gruppe von Gewichtsstücken durch 
ein ihnen gleiches ersetzen. Wir zeigen auf diese Weise durch 
das Experiment, dafs das entstehende Gleichgewicht unabhängig ist 
sowohl von der Art, wie wir die einzelnen Gewichte verknüpfen 
und etwa gruppenweise durch ein grosseres ersetzen, als auch von 
der Reihenfolge, wie wir sie auflegen. Wir zeigen mithin durch 
das Experiment, dafs, wenn mehrere Gewichtsstücke gleichzeitig auf 
die Waagschaale gebracht werden, die wesentlichen Merkmale der 
Addition erfüllt sind. 

Setzen wir gerade Linien dadurch zusammen, dafs wir Ende 
an Ende legen und die Entfernung der beiden freien Enden als 
Resultat der Verknüpfung ansehen. Die Entfernung ist nicht ein- 
deutig bestimmt, so lange wir die Richtung beliebig lassen. Wir 
machen daher die weitere Festsetzung, dafs die beiden Linien in 
dieselbe Gerade gebracht werden sollen. Dann bleiben nur zwei 
Möglichkeiten. Entweder liegen die freien Enden auf verschiedenen 
Seiten, oder sie liegen auf der gleichen Seite der zusammengelegten 
Enden. Im ersten Falle ist die Entfernung der äufseren Punkte 
ein Maximum , im zweiten ein Minimum. Wir können die Defini- 
tion auch so machen: Es sollen die beiden freien Enden festgehalten 
werden. Dann sollen die Linien so zusammen gelegt sein, dafs der 
mittlere Punkt, indem 'die anderen Enden zusammenstofsen, keine 
Bewegung mehr machen. Es bleiben dann auch nur die beiden oben 
erwähnten Arten der Zusammensetzung möglich. Sind nun für diese 
beiden Arten die Gesetze der Addition erfüllt? Das Gesetz a + b=b + a 
ist für beide Arten erfüllt; denn die Entfernung der beiden freien 
Enden bleibt bei der Vertauschung der beiden Linien die gleiche. 
Aber das Gesetz (a + b) + c — a + {b + c) ist nur für die eine Art 
der Zusammensetzung erfüllt, wenn die zusammengelegten Enden 
zwischen den freien Enden liegen. Daher kann von den beiden 
Arten nur diese Art der Zusammensetzung als Addition aufgefafst 
werden. 

3» 



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36 



ZWEITER ABSCHNITT. 



S 1». 



Wir können farbige Lichter zusammensetzen, z. B. indem 
wir dieselbe Fläche gleichzeitig beleuchten. Durch das Ex- 
periment läfst sich feststellen, dafs die Gesetze der Addition 
dabei erfüllt sind. Wir nennen die Lichter gleich, wenn sie die 
gleiche Helligkeit und Farbe haben und überzeugen uns durch das 
Experiment, dafs sie bei der Zusammensetzung gruppenweise durch 
ein ihnen gleiches Licht ersetzt werden können, und daß die Reihen- 
folge der Zusammensetzung beliebig geändert werden kann, ohne 
das resultirende Licht in Farbe und Helligkeit zu ändern. Man 
ist daher berechtigt zu sagen, dafs die Lichter addirt werden. 
Ebenso kann man die Widerstände von Leitungsdrähten für elek- 
trische Ströme addiren, indem man die Leitungsdrähte der Länge 
nach an einander fügt und den Strom durch die ganze Länge 
hindurch gehen läßt Andrerseits können wir auch die Leitungs- 
fähigkeit der Drähte addiren, indem wir sie nämlich parallel mit 
einander zu einem dickeren Leiter verbinden. Die resultirende 
Leitungsfähigkeit sind wir berechtigt, die Summe der Leitungs- 
fahigkeiten der einzelnen Drähte zu nennen. Dies Beispiel ist 
insofern lehrreich, als die Art, wie Widerstände oder Leitungsfähig- 
keiten verglichen werden, dieselbe ist, weil diese beide Gröfsen 
Funktionen von einander sind. Die Leitungsfähigkeit ist der reci- 
proke Wert des Widerstandes. Die Methode der Vergleichung giebt 
keine Entscheidung darüber, welche von zwei ungleichen Gröfsen 
die gröfsere ist Denn Widerstand und Leitfähigkeit z. B. bewegen 
sich ja entgegengesetzt Der gröferen Leitfähigkeit entspricht der 
kleinere Widerstand. Erst die Methode der Addition bestimmt 
auch den Begriff des Kleiner und Gröfser. Fast bei allen physi- 
kalischen Gröfsen ist es zunächst nötig, Zusammensetzungen zu 
suchen, die als eine Addition bezeichnet werden können, bei denen also 
das Resultat der ganzen Zusammenfassung von der Zusammen- 
fassung in Gruppen und von der Reihenfolge, in welcher wir die 
einzelnen Gröfsen zusammenfassen unabhängig ist. 

§ 13. Die irrationalen Zahlen und die continuirlich veränder- 
lichen Gröfsen. 

Sobald wir für bisher unbekannte Arten von Gröfsen die 
Methode ihrer Addition gefunden haben, so erlangen wir dadurch 
die Kenntnifs einer gröfsen Reihe von Eigenschaften, von allen 
solchen Eigenschaften, die unmittelbar aus den Axiomen der Addition 
fliefsen. Wir können dann auch gleiche Gröfsen derselben Art 



IRRATIONALE UND CONTINUIKLICHE GROSSEN. 



87 



addiren und kommen dadurch auf den Begriff einer Anzahl von 
gleichen Gröfsen, die zusammengefügt ein Ganzes bilden. In diesem 
Falle ist aber das Ganze als die Summe einer Reihe gleich großer 
Stücke zu betrachten, und solche Größen pflegen wir dann dadurch 
zu bezeichnen, dafs wir die Anzahl der Stücke und die Art der 
Einheitsgröfse, d. i. die Art der gleichen Einzelstücke, welche wir 
zusammengefügt haben, angeben. Dadurch kommen wir auf den 
Begriff der benannten Zahlen. Sobald die Einheitsgröfse als bekannt 
vorausgesetzt werden kann, genügt eine Zahl, um eine gleich- 
artige Gröfse zu bezeichnen. Wir können dadurch z. B. jedem An- 
dern, der weife, wie schwer ein Grammstück ist, jedes beliebige Ge- 
wicht definiren und genau beschreiben, und zwar so beschreiben, dafs 
er, wenn er will, es wieder herstellen und wieder auffinden kann. 
Und zwar sind wir nicht gebunden an eine Reihe von Gröfsen, 
welche durch ganze Zahlen repräsentirt werden, sondern wir können 
Stücke definiren, deren Gröfsen sich wie irgend zwei ganze Zahlen 
zu einander verhalten, indem wir jedes von ihnen durch dieselbe 
passend gewählte Einheit ausdrücken. Dadurch wird also die Möglich- 
keit, die Naturgesetze auszusprechen, aufserordentlich erweitert, und 
es ist deshalb die Rückführung der Beschreibung von Gröfsen auf 
Einheitsgröfsen und auf die ganzen Zahlen und deren Verhältnisse 
ein aufserordentlich wichtiger Schritt 

Nun ist hier eine Schwierigkeit zu erwähnen. Bei vielen 
Gröfsenarten der Natur können wir Stücke von jeder beliebigen 
Gröfse als zählbare Gegenstände herstellen und damit beliebige 
Gröfsenverhältnisse durch zwei verschieden gröfse Stücke thatsächlich 
zur Darstellung bringen. So können wir das bei Gewichten thun, wir 
können es thun, wenn es sich um Längen handelt und bei vielen 
andern Gröfsen. Aber wir können nicht behaupten, dafs das Gröfsenver- 
hältnifs immer durch ganze Zahlen wiedergegeben werden kann. Die 
Construction der Diagonale eines Quadrates z. B. giebt uns schon einen 
Fall, wo das Längenverhältnifs zur Quadratseite nicht durch ganze 
Zahlen ausgedrückt werden kann. Wir nennen das ein irrationales 
Verhältnifs. Um ein irrationales Verhältnifs durch ganze Zahlen zu 
bezeichnen, helfen wir uns dadurch, dafs wir Brüche mit immer 
gröfserem Zähler und Nenner suchen, die dem wirklichen Verhält- 
nifs immer näher und näher kommen. 

So giebt uns die Arithmetik eine Reihe von Methoden, um dem 
Längenverhältnifs der Diagonale zur Quadratseite, d. i. dem Werthe 

y2 durch Verhältnisse von ganzen Zahlen so nahe zu kommen, wie 
wir wollen. Wenn nach dem rationalen Verhältnifs aus der Quadrat- 



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38 



ZWEITER ABSCHNITT. 



§ 13. 



seile eine Länge construirt würde, so würde sie mit der Länge der 
Diagonale so genau übereinstimmen, als wir nur wollen. 

Die Schwierigkeit liegt hier nur in der Bechenoperation. Dafs 
in der Natur Diagonalen der Quadrate existiren, das ist ja keine 
Frage, und ebenso können sich andere irrationale Verhältnisse bei 
bestimmten physikalischen Untersuchungen uns darbieten. Die 
Schwierigkeit oder die Unmöglichkeit besteht hier nicht in dem 
wirklichen Vorkommen solcher Gröfsen und Gröfsenverhältnisse, 
sondern in der Unvollkommenheit unserer Methoden, die wirklichen 
Gröfsenverhältnisse anzugeben. 

Aehnlich verhält es sich mit der viel diskutirten Frage über 
die Existenz continuirlicher Gröfsen. Wir werden sehen, dafs uns 
gleich die ersten Untersuchungen über physikalische Wirkungen von 
Kräften dazu führen, Gesetze der Bewegung aufzusuchen, und dafs 
wir uns eine Bewegung eines materiellen Punktes nicht wohl anders 
vorstellen können, als dafs der Punkt continuirlich ohne Lücke die 
Reihe der Punkte durchläuft, welche auf seinem Wege liegen, und 
zwar, ohne jemals einen noch so kleinen Zwischenraum zu über- 
springen. Es liegt sogar eigentlich schon in dem Begriff und 
in der Vorstellung der Bewegung eines Punktes, dafs wir mit 
einem solchen Gedanken eines von einem Punkte zu einem ent- 
fernten überspringenden Körpers nichts anzufangen wissen. Wenn 
ein Körper sich durch den Baum bewegen soll, so haben wir dabei 
den Begriff und verlangen, diesen Begriff festzuhalten, dafs das 
identisch derselbe Körper sei, der nach einander in die verschiedenen 
Punkte des Weges hinein kommt, und diese Identität des bewegten 
Körpers ist für unsere Vorstellung nur fafsbar, wenn ein allmählicher 
Uebergang vorhanden ist Wenn der Uebergang durch eine con- 
tinuirliche Beihe von Baumpunkten hindurch stattfindet, so ist durch 
die Nachbarschaft der Punkte die Voraussetzung schon angebahnt, 
dafs es derselbe Körper sein kann, der nach einander durch die 
verschiedenen Punkte hindurch geht Dagegen bei einem Punkte, 
der intermittirend seine Bahn durchliefe und bald an der einen 
Stelle, im nächsten Augenblicke an einer davon entfernten Stelle 
wäre, bei einem solchen würden wir niemals in unserer Vorstellung 
anerkennen, dafs es derselbe Punkt ist Denn wir würden gar keine 
Kennzeichen uns auch nur vorstellen können, wodurch der Punkt 
als identisch gegeben wäre. 

Andererseits wird der Begriff der Continuität auch durch die 
Vorstellung verlangt, daß wir durch eine Fläche einen Baum ab- 
schliefsen können und durch eine Linie eine Fläche abgrenzen 



§ 13. 



IRRATIONALE UND CONTINUIRLICHE GROSSEN. 



39 



können; denn eine solche Begrenzung eines Fl&chenstückes würden 
wir niemals ausfuhren können durch eine Reihe von einander ge- 
trennter Punkte, die in der Fläche liegen, sie mögen noch so nahe 
an einander sein. 

Diese Vorstellungen zwingen uns dazu, auch die Existenz con- 
tinuirlich sich ändernder Gröfsenverhältnisse anzunehmen. Nun hat 
es keine Schwierigkeit, von solchen continuirlich sich ändernden 
Gröfsen stetig sich ändernde Functionen zu bilden. Diese stellen 
dann auch continuirlich sich ändernde Gröfsen dar. 

Wenn z. B. für einen Werth der unabhängigen Veränder- 
lichen x die Function gröfser als 2, für einen anderen Werth da- 
gegen kleiner als 2 wäre, so würden wir einen Werth von x finden 
können, für welchen die Function den Werth 2 hat D. h. strenge 
genommen finden wir ein beliebig kleines Intervall von x, für das 
die Function beliebig wenig von 2 verschieden ist Das Intervall 
wird zugleich mit der Abweichung von 2 beliebig klein. Bei einer 
stetigen Function genügt es, dafs sie für jeden rationalen Werth 
der unabhängigen Veränderlichen x eines Intervalls definirt sei, um 
für jeden Werth des Intervalls mit beliebiger Genauigkeit berechnet 
werden zu können. In der Physik haben wir es nur mit solchen 
Functionen zu thun, obgleich man sehr wohl mathematische Aus- 
drücke bilden kann, die in keinem Intervall stetige Functionen defi- 
niren, trotzdem sie für jeden rationalen Werth von x wohl definirt 
sind. 

So ist z. B.: 

eine Summe, die für jeden rationalen Werth von x einen bestimmten 
endlichen Werth hat Sind m und n irgend zwei ganze Zahlen 
und setzt man x « m/n, so ist von a - n ab jedes Glied der Reihe 
gleich Null, weil alxn für o^n nothwendig ein ganzes Vielfaches 
von n ist Es besteht dann also der Ausdruck aus einer endlichen 
Anzahl von Gliedern und hat einen bestimmten endlichen Werth. 
Für einen irrationalen Werth von x kann dagegen keines der 
Glieder wegfallen. Die Reihe bleibt unendlich und es läßt sich 
zeigen, dafs sie keinen bestimmten Werth annimmt. 



40 



ZWEITER AB8CHNITT. 



% 14. Verknüpfungen von Gröfsen zu ungleichartigen 

Gröfsen. 

Eine benannte Zahl bildeten wir als die Summe einer gewissen 
Anzahl gleicher physikalischer Größen. Das heifst also, wir haben 
ein Product, in dem der eine Factor eine physikalische Gröfse ist, 
die wir als Einheit bezeichnen. Der andere Factor ist eine reine 
Zahl Alle diese Gröfsen lassen eine additive Verbindung zu, die 
immer wieder Gröfsen der gleichen Art liefert Nun giebt es aber 
in vielen Fällen auch Methoden, um auf andere Art aus gegebenen 
Gröfsen andere abzuleiten, die nicht gleichartig sind. 

So können wir z. B. aus Grundlinie und Höhe eines Rechteckes, 
also aus zwei Langen, seine Fläche berechnen. Die Anzahl der 
Quadratcentimeter, welche die Fläche F hat, finden wir als das 
Product der Centimeter, die in der Grundlinie L und der Höhe R 
enthalten sind: 

F=L.R. 

Ebenso kann ein Volumen als das rechnungsmäfsige Product 
aus drei Linien dargestellt werden. 

Wir finden auf diese Weise Gleichungen zwischen ungleich- 
artigen benannten Zahlen. Sobald solche Gleichungen nur eine 
Gröfse enthalten, deren Benennung bisher noch nicht definirt ist, 
so kann man sie benutzen, um die Definition der Benennung zu 
finden. 

Der erste Schritt ist gewöhnlich der, zu erkennen, dafs 
eine benannte Gröfse einem aus anderen benannten Gröfsen zusammen- 
gesetzten Ausdruck proportional ist, und dann mufs man sich sagen, 
dafs die Proportionalität in eine Gleichung verwandelt werden kann, 
wenn man einen passenden Proportionalitätsfactor einfuhrt Der 
Proportionalitätsfactor kann uns nun eine neue benannte Gröfse 
liefern. 

So hat man z. B. beim specifischen Gewicht zunächst nur die 
Thatsache, dafs bei demselben Stoff die Masse dem Volumen pro- 
portional ist Dann fuhrt man den Begriff der Dichtigkeit ein, die 
man definirt durch das Verhältnifs zwischen der Gesammtmasse 
und dem Volumen des Körpers. Die Dichtigkeit wird dadurch zu 
einer physikalischen Gröfse, deren Einheit durch die Einheiten der 
Masse und das Rauminhaltes gegeben ist 



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DIE ABSOLUTEN EINHEITEN. 



41 



In den verschiedenen physikalischen Gesetzen kommen nun sehr 
mannigfaltige Zusammensetzungen dieser Art vor. Und es werden 
dadurch neue Größen eingeführt, deren Einheiten bisweilen in ziem- 
lich complicirter Weise aus den ursprünglichen Einheiten zusammen- 
gesetzt werden. 

§ 15. Die absoluten Einheiten. 

Nun besteht eine der ersten und wichtigsten Aufgaben der 
theoretischen Physik darin, die Bewegungen eines materiellen Punktes 
zu beschreiben. 

Die Lage eines solchen Punktes im Räume ist durch 3 Co- 
ordinaten gegeben. Als Coordinaten kann man allerlei geometrische 
Gebilde benutzen. 

Eine einfache Methode besteht darin, daJs man die senkrechten 
Abstände von drei zu einander senkrechten Ebenen zur Bestimmung 
der Lage im Baume benutzt Man kann die Bewegung eines Punktes 
dadurch darstellen, dafs man angiebt, welche Coordinaten er in jedem 
Zeitmoment haben soll. Wenn man auch die Einwirkung von Kräften 
darstellen will, so zeigt sich, dafs man noch eine weitere Gröfse, die 
Masse haben mufs, welche den Widerstand der Trägheit gegen die 
einwirkenden Kräfte darstellt und daher zu einer vollständigen Be- 
schreibung des Vorganges gebraucht wird. 

Nun hat man im Laufe der Zeit immer mehr Beziehungen 
zwischen den Bewegungen eines Körpers und den Übrigen physika- 
lischen Eigenschaften der Körper kennen gelernt Sobald wir einen 
Einflufs einer physikalischen Eigenschaft auf die Bewegung eines 
materiellen Punktes von gegebener Masse wahrnehmen, so können 
wir die Eigenschaft durch den Einfluß auf die Bewegung messen 
und damit ihre Einheit auf die Einheiten von Masse, Länge und 
Zeit zurückführen, durch welche wir die Bewegung des materiellen 
Punktes beschreiben. Wir nennen diese drei die absoluten Einheiten. 
Sie zeichnen sich dadurch aus, dafs sie genau reproducirt und 
tiberliefert werden können und daher allgemein und genau be- 
kannt sind. 

Als Einheit für die Zeit benutzt man bei kürzer dauernden 
Vorgängen meistentheils die Secunde. Für die Länge wird das 
metrische System benutzt, für Versuche, die in kleinem Maafsstabe 
ausgeführt werden, meistentheils das Centimeter oder wohl auch das 
Millimeter, für gröfsere Dimensionen das Meter, oder wenn sie sich 
über größere Teile der Erdoberfläche erstrecken, das Kilometer und 



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42 



ZWEITER ABSCHNITT. 



* 16. 



noch gröfsere Längen. Endlich für die Masse braucht man meisten- 
teils das Gramm oder das Centigramm oder auch gröfsere Einheiten 
je nach der Gröfse der Körper, mit denen man zu operiren hat 

Die gewählten Einheiten brauchen bei der Definition einer auf 
Masse, Länge und Zeit bezogenen Gröfee nicht angegeben zu werden, 
weil die Beziehung für irgend welche Einheiten dieselbe bleibt So 
ist z. B. die Kraft gesetzt gleich einer Masse multiplicirt mit einer 
Länge und dividirt durch das Quadrat einer Zeit: M.L / T*. Je nach 
der Wahl der Einheiten richtet sich die Einheit der Kraft Wird 
z. B. statt des Gramm das Kilogramm gesetzt so wird die Einheit 
der Kraft dadurch 1000 Mal so grofs, die Zahl, welche irgend eine 
Kraft in den gewählten Einheiten mifst, wird also 1000 Mal so 
klein. In der Gleichung 

Kraft = * Gramm . Centimeter / (Secunde) 1 

haben wir nur Gramm — x /iooo Kilogramm einzusetzen und erhalten 
daraus 

Kraft = x/ 1000 Kilogramm . Centimeter / (Secunde) 1 

Das Analoge gilt für die Aenderung der Länge oder der Zeit. 
Wenn statt der Secunde die Minute gewählt wird, so wird damit 
die Einheit der Kraft 3600 Mal kleiner. Die Zahl dagegen, welche 
irgend eine Kraft in den gewählten Einheiten mifst, wird damit 
3600 Mal gröfser. In der Gleichung 

Kraft = x Gramm . Centimeter / (Secunde) 2 

haben wir einfach Secunde = '/eo Minute einzusetzen und erhalten 

Kraft = 3600 x Gramm . Centimetor / (Minute) 1 . 

statt der Zahl x haben wir in der neuen Einheit also die Zahl 3600 .r, 
während die neue Krafteinheit Gramm . Centimeter / (Minute)* gleich 
Vseoo Gramm . Centimeter / (Secunde)' ist 

§ 16. Die Addition von Strecken und anderer complexer 

Gröfsen. 

Die Gesetze der Addition lassen sich auch für Complexe un- 
gleichartiger Gröfsen festhalten. Wir addiren dabei die gleichartigen 
Gröfsen, so dafs unter der Summe von Complexen ungleichartiger 
Gröfsen der Complex der Summen gleichartiger Gröfsen verstanden 



DIE COMPLEXE ADDITION. 



43 



wird. Eine Oleichuog, die besagt, dafe zwei Complexe zusammen- 
genommen einem dritten gleich seien, bedeutet also nichts anderes, 
als dafc alle in den ersten beiden Complexen enthaltenen Gröfsen 
derselben Art zusammen genommen gleich sind der in dem dritten 
Complex enthaltenen Gröfse derselben Art. Die Gleichung fafst 
daher nur in eine Gleichung zusammen, was wir in mehreren 
Gleichungen ausdrücken, indem wir die gleichartigen Gröfsen addiren. 
Arithmetisch betrachtet ist also der Unterschied nur formal. 

Physikalisch aber giebt es Beispiele solcher complexen Addition, 
die nicht nur als formale Erweiterung des Additionsbegrines erscheint, 
weil die ungleichartigen Gröfsen wirklich zu einer neuen Gröfse 
zusammengesetzt werden. Die Lehre von der geometrischen Addition 
der Strecken, wie sie zuerst H. Grassmann entwickelt hat, liefert 
einen solchen Fall complexer Addition. Unter einer geometrischen 
Strecke versteht Grassmann die gerade Verbindung von einem An- 
fangspunkt zu einem Endpunkte, wobei aber nicht blos die Länge 
der Strecke in Betracht kommt, sondern auch die Richtung, so dafe 
wir zwei Strecken nur gleich setzen dürfen, wenn sie gleiche 
Länge und auch gleichzeitig gleiche Richtung haben. Die Additions- 
regel für solche Strecken spricht Grassmann in der folgenden Weise 
aus. Wenn eine zweite Strecke zu der ersten addirt werden soll, 
so setzt man den Anfangspunkt der zweiten Strecke an den End- 
punkt der ersten, und construirt nun die Strecke, die vom Anfangs- 
punkt der ersten Strecke zum Endpunkt der zweiten läuft. Sie 
wird «als die geometrische Summe der beiden Strecken bezeichnet 

Zunächst läfst sich zeigen, dafs die Ordnung, in welcher wir 
die Strecken zusammenfügen, keinen Einflufs auf die Summe hat 




Fig. 1. Fig. 2. 



Wenn wir von demselben Anfangspunkt anfangen uud nun zuerst 
die zweite Strecke zeichnen und daran die erste abtragen, so gelangen 
wir zu demselben Punkt wie im ersten Fall (Fig. 1). Die beiden 
Constructionen zusammen bilden die Figur eines Parallelogramme«, 
dessen eine Diagonale die geometrische Summe der beiden Strecken 
ist Damit ist das eine Gesetz der Addition a + b «= b + a für diese 



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44 



ZWEITER ABSCHNITT. 



Zusammensetzung Ton Strecken bewiesen. Eben so läfst sich das 
andere Gesetz (a + b) + c = a + {b + c) beweisen. Wenn wir zuerst 
die Strecke 1 und 2 zusammensetzen und zu ihrer geometrischen 
Summe eine dritte Strecke 3 geometrisch addiren, so gelangen wir 
zu demselben Punkt, wie wenn wir zu der ersten Strecke die geo- 
metrische Summe der zweiten und dritten geometrisch addiren 
(Fig. 2). 

Läfst man nur Strecken von zwei einander entgegengesetzten 
Richtungen zu, so erhalt man eine geometrische Darstellung der 
positiven und negativen Zahlen. 

Läfst man aufser diesen Strecken auch noch Strecken von zwei 
andern einander entgegengesetzten Richtungen zu, so lassen sich durch 
geometrische Addition einer Strecke der ersten Art und einer Strecke der 
zweiten Art alle Strecken zusammensetzen, die einer Ebene parallel 
sind. Diese bilden damit eine geometrische Darstellung der complexen 
Zahlen. Der reelle Theil der complexen Zahl entspricht der Strecke 
der einen Art, der imaginäre Teil der der andern Art Die com- 
plexe Zahl selbst entspricht der Strecke, die aus den beiden Strecken 
durch geometrische Addition gebildet wird. Die Summe von irgend 
welchen complexen Zahlen bildet man algebraisch, indem man die 
reellen Theile für sich und die imaginären Theile für sich addirt 
Geometrisch läuft dies auf die geometrische Addition der ent- 
sprechenden Strecken hinaus. Denn jede Strecke läfst sich als 
geometrische Summe zweier Strecken jener beiden Arten darstellen. 
Nun kann man nach den Gesetzen der geometrischen Addition die 
Summanden beliebig vertauschen und damit alle Strecken der einen 
Art für sich und alle Strecken der anderen Art für sich addiren. 
Das ist dann aber genau das algebraische Verfahren. In dieser 
Weise hat Gauss die Deutung der complexen Gröfsen eingeführt 
Er bezeichnet eine complexe Zahl mit 

* + y » , 

wo x und y die beiden Strecken verschiedener Richtung bestimmen. 
Denken wir uns alle Strecken von einem Punkt aus abgetragen, 
den wir zum Anfangspunkt der Coordinaten machen, so können 
x und y als die Coordinaten des Endpunktes der Strecke aufgefafst 
werden. Die j-Axe giebt dabei die Richtung der Strecken an, die 
dem reellen Theil entsprechen, die y-Axe dagegen die Richtung der 
Strecken, die dem imaginären Theil entsprechen. 

In dem speciellen Fall, wo wir diese Strecken senkrecht auf 



§ 16. 



DIE COMPLEXE ADDITION. 



45 



einander wählen, wird, wenn r die Länge der Strecke und ce 
ihren Richtungswinkel bedeutet: 

x = r cos a y = r sin a, 

und damit 

x + i y = r . (cos u -f »sin «), 

oder auch: 

x -f ty = r.<?' a . 

In dieser Form ist die Mulüplication und Division coniplexer 
Zahlen am einfachsten auszuführen, deren Besprechung wir indessen 
hier übergehen. Die geometrische Addition ist nicht beschränkt 
auf Strecken, die einer Ebene parallel sind, sondern ist ebenso gut 
auf Strecken anwendbar, die ganz beliebig im Räume gerichtet 
sein können. Jede Strecke im Räume können wir als geometrische 
Summe von drei Strecken darstellen, deren Richtungen drei beliebig 
festgesetzten Richtungen gleich oder entgegengesetzt sind. Nur 
dürfen die drei festen Richtungen nicht einer Ebeue parallel sein. 

In dieser Weise stellt sich eine Strecke im Räume als ein 
Complex von drei ungleichartigen Gröfsen dar. Und ähnlich wie 
die Strecken in der Ebene auf die complexen Zahlen mit zwei 
Einheiten führen, so führen die Strecken im Räume auf complexe 
Zahlen mit drei Einheiten. Das Rechnen mit solchen Zahlen ist 
in der Quaternionentheorie von Hamilton begründet worden. 

Dieselbe Art von Addition, wie wir sie für die Strecken definirt 
haben, kann auf eine ganze Anzahl von Gröfsen angewendet werden. 
Und zwar gilt das nicht nur von Gröfsen, die ihrer Definition 
nach schon durch Strecken dargestellt werden, wie z. B. Kräfte und 
Geschwindigkeiten; sondern auch von Gröfsen, die ganz andern 
Gebieten der Physik angehören. Man kann z. B. zwei Lichter ver- 
schiedener Farbe und Intensität mischen. Man denke sich dieselbe 
Fläche von beiden Lichtern beleuchtet Dann bezeichnet man die 
Farbe und die Intensität, unter der die Fläche bei der gleich- 
mäfsigen Beleuchtung mit zwei Lichtern erscheint, als die Misch- 
farbe. Diese Mischfarbe kann man als die Summe der Farben 
bezeichnen, mit der jedes einzelne Licht die Fläche beleuchtet. 
Es läfst sich nämlich zeigen, dafs man gleich aussehende Lichter 
auf sehr verschiedene Weise durch Mischung herstellen kann. So 
läfst sich z. B. Weifs zusammensetzen aus Scharlachroth und Grünblau, 
oder aus Schwefelgelb und bläulichen Violett, oder aus Karminroth 
und Grün. Die verschiedenen Arten von Weifs, die durch Mischung 



46 



ZWE1TEK ABSCHNITT. 



8 16. 



verschiedener Lichter gewonnen werden, sind übrigens in ihren 
physikalischen Eigenschaften zum Theil sehr verschieden; so z. B. 
wirkt ein Weifs, das aus Violett und Gelb zusammengesetzt ist, 
aufserordentlich stark auf gewöhnliche lichtempfindliche Platten und 
markirt sich in Photographien als ein sehr helles Licht, während 
Scharlachroth und Blaugrün eine schwache Wirkung hat Die 
Bestandteile haben eben in den verschiedenen Fallen ganz 
verschiedene Wellenlangen, und wenn sie durch Diffraction zer- 
legt werden, so bekommen wir ganz verschiedene Farbenerschei- 
nungen. Dennoch lä&t sich für die physiologische Wirkung 
auf das Auge der Satz aufstellen, wie er von Gbassmann formulirt 
wurde, dafs gleich aussehende Lichter, die also aus sehr ver- 
schiedenen Bestandteilen bestehen können, gemischt gleich aus- 
sehende Mischungen geben. Dabei ist die Reihenfolge der Mischung 
für das Resultat gleichgültig. Damit ist die Berechtigung gegeben, 
die Farbenmischung als Addition aufzufassen; und es zeigt sich, dafs 
es eine complexe Addition ist, ähnlich der der Strecken im Räume. 
Man kann jede Farbe als Mischung aus drei Grundfarben zusammen- 
setzen, die man mit gewissen Intensitäten zu nehmen hat. Jede 
Grundfarbe mit ihrer Intensität bildet eine benannte Zahl und der 
Complex der drei ungleichartigen benannten Zahlen stellt die 
betreffende Mischfarbe dar. Die Zusammensetzung zweier beliebigen 
Farben zu einer dritten läuft algebraisch auf die Addition der 
beiden Intensitäten jeder der drei Grundfarben hinaus, geradeso wie 
die geometrische Addition zweier Strecken im Räume algebraisch 
auf die Addition der Zahlen hinausläuft, welche jede der drei 
Componenten definiren. 

Ein anderes Beispiel solcher Addition bildet die Schwerpunkts- 
constraction von irgend welchen Massen, wenn wir uns jedes Mal 
im Schwerpunkt die ganze Masse vereinigt denken. 

Gewöhnlich werden die Farbenmischungen durch Schwerpunkte- 
constructionen anschaulich dargestellt Man läfst den drei Grund- 
farben die Ecken eines Dreiecks entsprechen und ihren Intensitäten 
die Massen, die in diesen drei Punkten liegen sollen. Der resul- 
tirenden Mischfarbe entspricht dann der Schwerpunkt der drei 
Massen und der Intensität entspricht die Summe der Massen. 

Jeder Masse, die man sich in irgend einem Punkte der 
Dreiecksfläche denkt, entsprechen auf diese Weise drei Massen in 
den drei Punkten als deren geometrische Addition man die erste 
Masse auffassen kann. 



§ 17. ZUSAMMENSETZUNG VON DREHUNGEN. 47 

§ 17. Zusammensetzung von Drehungen. 

Von den Zusammensetzungen, denen wir in der Physik be- 
gegnen, folgen keineswegs alle den Gesetzen der Addition. Es 
wird gut sein, auch ein Beispiel einer Zusammensetzung näher zu 
untersuchen, die man nicht als Addition auffassen kann. 

Wir betrachten die Drehungen eines festen Körpers um irgend 
welche Axen. Wir wollen ihn uns als Kugel vorstellen, die die 
Freiheit hat, sich um ihren Mittelpunkt zu drehen. Dabei ver- 
schiebt sich ihre Oberfläche in sich selbst, welche Bewegungen sie 
auch ausführen mag. Bei irgend einer Drehung der Kugel bleiben 
die Endpunkte des Durchmessers, um den sie sich dreht, liegen. 
Alle übrigen Punkte der Oberfläche beschreiben dagegen Kreise, 
deren Mittelpunkte auf der Drehungsaxe liegen. 

Sei a ein Endpunkt der ersten Drehungsaxe, b ein Endpunkt 
der zweiten Drehungsaxe (Fig. 3). Es 
möge ß der Punkt der Kugelober- 
fläche sein, der durch die erste Dre- 
hung in den Punkt b übergeht und 
a der Punkt der Kugeloberfläche, in 
den durch die zweite Drehung der 
Punkt a übergeht. Wir verbinden a 
mit ß, a mit b, b mit « durch gröfste 
Kreise. Bei der ersten Drehung geht ^ 8 " 

dann der Kreisbogen aß in ab über, bei der zweiten Drehung 
wird b a in b cc Ubcrgctührt. 

Die Aufgabe ist nun, die beiden hinter einander angebrachten 
Drehungen durch eine Drehung zu ersetzen. Um die Drehungsaxe 
zu finden, müssen wir einen Punkt suchen, dessen Ort durch die 
beiden Drehungen nicht verändert wird, der also durch die erste 
Drehung aus seiner Lage gebracht und durch die zweite Drehung 
in diese Lage wieder zurückgeführt wird Diesen Punkt finden wir 
dadurch, dafs wir durch a und b gröfste Kreise legen, die den 
Drehungswinkel ßab und den Drehungswinkel aba halbiren. Der 
Schnittpunkt y dieser gröfsten Kreise ist der gesuchte Punkt Denn 
wenn wir die erste Drehung ausführen, die Drehung um a, so wird 
der Bogen aß in ab übergehen und der Punkt y wird dabei über 
den Bogen ab hinweg nach y l rücken. Der Punkt y l mnfs so 
liegen, dafs der Winkel y ay 1 von dem Bogen ab halbirt wird. Denn 
ay t mufs zu ab gerade so liegen wie ay zu aß, und daher muß 
der Winkel y x ab gleich dem Winkel y aß und damit gleich dem 




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48 



ZWEITEE ABSCHNITT. 



Winkel y ab sein. Zugleich bleibt bei der Drehung die Entfernung 
des Punktes y von dem Drehungspol a ungeändert, so dafs 

ya = y x a 

sein mufs. 

Verbindet man nun y mit y x durch den Bogen eines gröfsten 
Kreises, so wird er durch den Bogen ab senkrecht halbirt Denn ist S 
der Schnittpunkt, so müssen die Dreiecke aSy und a8y x congruent 
sein, weil zwei Seiten und der eingeschlossene Winkel übereinstimmen. 
Daraus folgt, dafs auch die Dreiecke y 8b und y x Sb congruent sind, 
weil die Seiten y x d und y d gleich sind, die Seite b d beiden Drei- 
ecken gemeinsam ist und die Winkel bei d als rechte Winkel über- 
einstimmen. Daraus folgt, dafs by x = by und dafs auch der Winkel 
y x by durch den Bogen a b halbirt wird. Bei der zweiten Drehung, 
der Drehung um b, wird demnach der Punkt y, wieder in den Punkt y 
zurückgeführt Denn der Bogen, in den by x durch die Drehung 
übergeht, mufs ebenso zu b a liegen wie by x zu b a, d. h. er mufs 
den Winkel abtt halbiren. Da zugleich die Entfernung des Punktes y x 
von dem Drehungspol b bei der Drehung ungeändert bleibt, so 
muß in y übergehen. Durch die beiden Drehungen zusammen 
genommen bleibt also der Punkt y an seiner Stelle. Folglich mufs 
die Lagenänderung der Kugel auch durch eine Drehung um den 
zu y gehörigen Durchmesser bewirkt werden können. 

Um auch den dazu nötigen Drehungswinkel anzugeben, braucht 
man nur zu bemerken, dafs der Punkt a in a übergeht und damit 
der Bogen y a in ya. Der Drehungswinkel ist also a y u d. i., gleich 
dem doppelten des Supplements von ayb. Die Pole a und b denken 
wir uns so gewählt, dafs der Sinn der Drehung derselbe ist. Das 
läfst sich immer erreichen, weil bei der Drehung um einen Durch- 
messer der Sinn der Drehung für die beiden Pole entgegensetzt ist 
Unter dieser Voraussetzung ist auch der Drehungssinn um den Pol y 
derselbe. Wenn wir die Reihenfolge der Drehungen umkehren und 
erst um b, dann um a drehen, so wird der Punkt y x durch die beiden 
Drehungen zusammen nicht geändert Denn die erste Drehung 
um b führt den Punkt y x nach y, während die zweite Drehung 
um a ihn wieder nach y x zurückbringt Bei Vertauschung der beiden 
Drehungen erhalten wir also eine andere Drehungsaxe, die das 
Spiegelbild der ersten Drehungsaxe in Bezug auf die Ebene des 
Kreises ab ist Um auch den Drehungswinkel zu finden, haben wir 
das Spiegelbild von a in Bezug auf dieselbe Ebene zu bilden. 
Ist a' das Spiegelbild, so geht der Bogen y x «' in y, a über. Wir 



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§ 17. ZUSAMMENSETZUNG VON DREHUNGEN. 49 

erkennen ans der Symmetrie der Figur, dafs der Drehungswinkel 
bei der Drehung um y x derselbe ist, wie bei der Drehung um y. 

Durch die Vertaugchung der Reihenfolge der beiden Drehungen 
wird also die Gesammtdrehung nothwendiger Weise eine andere. Der 
Unterschied wird aber sehr klein, wenn die Drehungen sehr klein 
sind. Denn dann fallen y und y x sehr nahe zusammen. Drehungen 
um endliche Winkel und verschiedene Axen befolgen also bei ihrer 
Zusammenfassung nicht das Gesetz der Addition 

a + b = b + a. 

Wir können deshalb diese Art der Zusammensetzung nicht als 
eine Addition auflassen. Erst wenn die Winkel unendlich klein 
werden, sind die Gesetze der Addition erfüllt Handelt es sich also 
um Zusammensetzung von Drehungsgeschwindigkeiten, wo wir nur 
die unendlich kleinen Winkel zu betrachten brauchen, die einem 
unendlich kleinen Zeittheilchen entsprechen, so können wir diese 
als Addition betrachten ebenso wie die geometrische Addition von 
Strecken. Es läfst sich in der That zeigen, dafs die geometrische 
Construction bei der Zusammensetzung von Drehungsgeschwindig- 
keiten sich so ausfuhren läfst, dafs sie auf die geometrische Addition 
von Strecken hinausläuft Bezeichnen nämlich a und b die beiden 
Drehungswinkel um die Pole bei a und b (Fig. 3), so haben wir in 
dem sphärischen Dreieck ayb nach dem Sinussatz die Gleichung 

sin (a y) / sin {b y) - sin (a / 2) / sin (b / 2). 

Für unendlich kleine Winkel fällt y in den Bogen a b und die 
Gleichung läfst sich schreiben: 

sin(ay)/sin(dy) = a/*. 

Aus dieser Gleichung ergiebt sich die folgende Construction 
für die Axe y. Auf den beiden Radien, die vom Mittelpunkt der 
Kugel nach den Punkten a und b fuhren, 
trägt man Längen auf, die den unendlich 
kleinen Drehungswinkeln a und b proportional 
sind. Die so entstehenden beiden Strecken 
addirt man geometrisch. Die resultirende 
Strecke giebt die Lage der Axe y (Fig. 4.) 
Denn die Winkel, die diese Strecke mit den 
Componenten bilden, bestimmen sich durch dieselbe Proportion 

sin [a y) : sin (6 y) = a : b. 

H. v. Hxijimoltz , Tbeoret Phyrtk. B4. 1, 1. 4 




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50 ZWEITER ABSCHNITT. § 17. 

Durch dieselbe Construction erhalten wir auch den unendlich 
kleinen Winkel der zusammengesetzten Drehung. Denn bezeichnet 
mau ihn mit y, so ist sin y / 2 wie oben erwähnt gleich sin <$zayb (Fig. 3). 
Mithin ist 

sin (a b) : sin [a y) : sin {b y) = sin y / 2 : sin a f 2 : sin * / 2, 
was für unendlich kleine Winkel Übergeht in 

Bin (a b) : sin (a y) : sin(/ b) = y : a : b. 

Die Lange der resultirenden Strecke y (Fig. 4) ist also zugleich ein 
Mafs für den resultirenden unendlich kleinen Drehungswinkel. 



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